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German Pages [398] Year 2021
Jan P. Beckmann
Autonomie Aktuelle ethische Herausforderungen der Gesellschaft
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495823903
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B
Jan P. Beckmann Autonomie
VERLAG KARL ALBER
A
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Jan P. Beckmann
Autonomie Aktuelle ethische Herausforderungen der Gesellschaft
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Jan P. Beckmann Autonomy Current ethical challenges facing society Current bioethical debates are overshadowed by two difficulties in particular: on the one hand, by the lack of clarity in the concept of human autonomy – this is a matter of individual ethical questions, above all the beginning and end of human life. On the other hand, the shift of individual knowledge to anonymous collective subjects in the face of an increasing economization of the health care system threatens the medical ethos of helping and healing. These and other problems are illuminated in this volume in detail and according to the current state of discussion.
The Author: Jan P. Beckmann, born 1937, studied philosophy in Bonn and Munich, teaching at Yale 1968–70 and Oxford 1983, from 1979 to 2003 professor of philosophy at the FernUniversität Hagen. 2014 Honorary Dr. med. (Univ. Duisburg-Essen).
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Jan P. Beckmann Autonomie Aktuelle ethische Herausforderungen der Gesellschaft Aktuelle bioethische Debatten werden vor allem von zwei Schwierigkeiten überschattet: zum einen von der Unklarheit des Begriffes menschlicher Autonomie – hier geht es um individualethische Fragen, vor allem um Beginn und Ende menschlichen Lebens. Zum anderen bedroht die Verschiebung individueller Wissensträgerschaft zum anonymen Kollektivsubjekt angesichts einer zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens das ärztliche Ethos des Helfens und Heilens. Diese und weitere Problemstellungen werden in dem vorliegenden Band ausführlich und nach aktuellem Diskussionsund Wissensstand erörtert.
Der Autor: Jan P. Beckmann, geb. 1937, Studium der Philosophie in Bonn und München, Lehrtätigkeiten in Yale 1968–70 und Oxford 1983, von 1979 bis 2003 Professor für Philosophie an der FernUniversität Hagen. 2014 Dr. med. h. c. (Univ. Duisburg-Essen).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49173-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82390-3
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Meinen Enkelkindern David, Jonathan, Lea und Clara herzlich zugeeignet.
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Vorwort
Am Anfang steht wie stets ein Wort des Dankes: an die Ärztinnen und Ärzte, die an dem seit über zwei Jahrzehnten am Institut für Philosophie der FernUniversität angebotenen und vom Unterzeichneten bis vor kurzem geleiteten »Weiterbildenden Studienangebot Medizinische Ethik« erfolgreich teilgenommen haben und von denen er über die Jahre hinweg viel über die Wirklichkeit heutigen Arzt- und Ärztin-Seins in Klinik und Praxis gelernt hat. Dank gilt sodann den Instituts-Kolleginnen und -Kollegen sowie den Philosophie-Studierenden, die den Emeritus auch nach 17 Jahren immer noch geduldig in Forschung und Lehre seines Amtes walten lassen. Ein herzlicher Dank gilt auch meiner Frau, die mir seit über einem halben Jahrhundert in meinen wissenschaftlichen Unternehmungen Mut macht, und schließlich meinen Enkeln David, Jonathan, Lea und Clara für die stets überaus willkommene fröhliche Ablenkung. Hagen, FernUniversität, Institut für Philosophie im Frühjahr 2020
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Inhaltsübersicht
Einführung
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Kapitel I. Über Autonomie und Menschenwürde. Zur Klärung der beiden Fundamentalbegriffe menschlicher Grundverfasstheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Autonomie als vom Menschen nicht trennbare Grundverfasstheit und Selbstbestimmung als deren nicht immer ungehinderte Manifestierbarkeit. – Wesensmerkmale des Würdebegriffs. Kapitel II. Wissensträgerschaft: Vom autonomen Subjekt zum 45 anonymen Kollektiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft – Universitäten als wissenschaftliche Bildungs- oder als reine Ausbildungsstätten? – Verfügungs- versus Orientierungswissen. Kapitel III. Unsicherheiten hinsichtlich des menschlichen Lebensbeginns und Lebensendes vor dem Hintergrund des Autonomieverständnisses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Fortschritte der Reproduktionsmedizin und die Frage nach dem Lebensbeginn des Menschen – Beispiel: PID – Die Frage nach dem Lebensende angesichts des sog. Hirntodkriteriums. Kapitel IV. Formen und Probleme individueller autonomiebasierter Selbstbestimmung angesichts wachsender Möglichkeiten der modernen Medizin. . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Das Recht auf Erstellung von Patientenverfügungen unter besonderer Berücksichtigung der Autonomie des Menschen – Zu Grundlage und Umsetzung der gesetzlichen Regelung (2009) der Patientenverfügung aus ethischer Sicht: Neue Möglichkeiten, bleibende Probleme. 11 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Inhaltsübersicht
Kapitel V. Über den Umgang des autonomen Menschen mit Sterben und Tod. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Menschliche Endlichkeit als mögliche Freiheitserfahrung und die Unvermeidlichkeit des Todes – Über das Recht auf ein Sterben in Würde – Autonomie und Selbsttötung – Suizidassistenz – Das Sterbehilfegesetz von 2015 – Zur Rolle des Gewissens. – Die Entscheidung des BVerfG. Kapitel VI. Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung im Gesundheitswesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Globalisierung und Ethik – Zur Rationierungsdebatte im Gesundheitswesen – Ressourcenallokation in der Medizin – Solidarität und Mitleid. Kapitel VII. Ethische Fundierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Gibt es auf der Basis des Autonomiegedankens eine gemeinsame Ethik für Mensch und Tier? Statt eines Nachwortes: ›Fortschritt‹ ? – Eine kritische Anfrage. .
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Einleitung
Spätestens seit der Aufklärung heißt es vom Menschen, er sei autonom, Herr seiner selbst, zeit seines Lebens Inhaber des Rechts auf Selbstbestimmung und seitens Dritter unverfügbar. Unklar ist jedoch vielfach, ob ›Autonomie‹ einen Status oder eine Fähigkeit meint und ob der Einzelne diesen Status oder diese Fähigkeit von sich her oder aufgrund externer Zuschreibung besitzt. Strittig ist, ob auch das Neugeborene, der Altersdemente, der Schwerkranke oder der geistig Behinderte, weil sich ihre Autonomie oft nicht hinreichend manifestieren lässt, autonom ist. Lässt Autonomie möglicherweise Grade oder ein Auf und Ab zu? Semantische Klarheit und begriffliche Konstanz des Autonomieverständnisses sind spätestens angesichts akuter ethischer gesellschaftlicher Herausforderungen, insbesondere im Bereich des Gesundheitswesens, dringend vonnöten, deutliche Antworten gleichwohl vielfach schwierig, die unmittelbaren Konsequenzen nachhaltig. Wie steht es z. B. angesichts der raschen Entwicklungen in den Wissenschaften um das individuelle nach Wissen strebende Subjekt: Ist es noch autonom oder muss es inzwischen zunehmend anonymen Wissenskollektiven weichen? Wie steht es hierzulande um die Universitäten, die immer weniger Bildungsstätten zu sein scheinen und immer deutlicher zu reinen Ausbildungseinrichtungen werden? Wie ist angesichts wissenschaftlicher Entwicklungen in den Bio-Wissenschaften, z. B. in der Reproduktionsmedizin, mit der Unsicherheit in der Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens umzugehen? Hilft diesbezüglich der Rückgriff auf den Gedanken der Autonomie? Wenn ja: Wieweit spielt Autonomie auch in Bezug auf das Ende menschlichen Lebens eine Rolle, denkt man etwa an das Hirntodkriterium? Und: Wie kann der Einzelne sein Recht, seinen Willen für den Fall des Verlustes der eigenen Entscheidungsfähigkeit im Voraus verbindlich festzulegen, mit Sicherheit zur Geltung bringen? Und vor allem: Wie kann auch der Sterbende seine Autonomie wahren und in Würde 13 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Einleitung
sterben? Schließlich: Unter welchen Voraussetzungen sind Suizid und die Beihilfe dazu auf der Grundlage der Autonomie rechtfertigungsfähig? Zu derartigen individualethischen Fragen treten kollektivethische hinzu: Wie steht es um die Respektierung menschlicher Autonomie angesichts einer globalisierten Welt? Welche Folgen für das autonome Individuum hat die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens? Und last but not least: Kann es im Blick auf die Autonomie des Menschen angesichts seines Umgangs mit den Tieren eine gemeinsame Ethik für Mensch und Tier geben? Was schließlich bedeutet »Fortschritt«? Mit der vorstehenden Nennung aktueller ethischer Herausforderungen der Gesellschaft behauptet der Verfasser weder, damit seien die Herausforderungen ausgewählt, noch es gäbe keine weiteren aktuellen Herausforderungen, insbesondere im Gesundheitswesen, wie Genom-Editierung mittels CRISPR-Cas9, Schaffung von Organoiden mithilfe von humanen induzierten pluripotenten Stammzellen (hiPS), Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Big Data, MenschMaschine-Interaktion, etc. Doch bevor man sich mit diesen und weiteren sich abzeichnenden Herausforderungen und ihren ethischen Implikationen beschäftigt, ist eine Auseinandersetzung mit den schon seit Längerem bestehenden und im Folgenden behandelten Herausforderungen angezeigt. Neues wird erst durch Vergewisserung des bereits Bestehenden angemessen beurteilbar. In den genannten Fragen geht es nicht nur um wissenschaftliche Sachverhalte, sondern vielfach auch, wenn nicht gar in erster Linie um gesellschaftliche Einstellungen. Dies gilt insbesondere vom Verhältnis der heutigen Gesellschaft zu den Wissenschaften. Einerseits fordert die moderne Gesellschaft von den Wissenschaften ständig nachhaltige Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen. Andererseits mehren sich in derselben Gesellschaft die Stimmen, die den Wissenschaften Grenzen setzen möchten. So bestehen angesichts der exponentiell sich entwickelnden Möglichkeiten etwa der Biowissenschaften in der gegenwärtigen Gesellschaft Unsicherheiten, ja Dissense, die eine gesicherte Orientierung des Einzelnen ebenso bedrohen wie die erforderliche Zukunftsplanung seitens der Gesellschaft. Zeit also, sich über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft erneut Gedanken zu machen. Voraussetzung ist allerdings, Unklarheiten hinsichtlich der beiden Fundamentalnormen der Menschenwürde und der Autonomie zu beseitigen und zentrale Werte wie Selbst14 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Einleitung
bestimmung, Solidarität und Gewissen begrifflich zu präzisieren und in ihrer Anwendung sachlich zu fokussieren. Über allem gilt: Man kann nicht über Autonomie schreiben, ohne die Autonomie der Mitmenschen zu achten. Daher geht es im Folgenden um eines nicht: um Belehrung oder gar um Stigmatisierung Andersdenkender. Vielmehr dienen die nachfolgenden Darlegungen und Überlegungen dem alleinigen Zweck, durch die Analyse moralischer Qualitäten von Handlungsmöglichkeiten, die in der gegenwärtigen Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, dem Einzelnen sachliche und argumentative Orientierungshinweise zu geben, auf dass er sich ein eigenes Urteil bilden und dasselbe in die ethische Diskussion der Gesellschaft einbringen kann.
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Kapitel I Über Autonomie und Menschenwürde. Zur Klärung der beiden Fundamentalbegriffe menschlicher Grundverfasstheit.
1. Autonomie und Selbstbestimmung 1.1 Zur gängigen Vorstellung von Autonomie und gewissen Schwierigkeiten 1.2 Formale Merkmale des Autonomiebegriffs 1.3 Inhaltliche Merkmale des Autonomiebegriffs 1.4 Das Verhältnis von Autonomie und Selbstbestimmung 2. Menschenwürde 2.1 Zur Herkunft des Menschenwürdebegriffs 2.2 Religiöser Hintergrund 2.3 Philosophischer Hintergrund 2.4 Exkurs zur Unantastbarkeit der Menschenwürde 2.5 Formale Merkmale des Menschenwürdebegriffs 2.6 Folgen für die Verwendung des Menschenwürdebegriffs 3. Das Verhältnis zwischen ›Menschenwürde‹ und ›Autonomie‹
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I · Über Autonomie und Menschenwürde
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Autonomie und Selbstbestimmung
1.1 Zur gängigen Vorstellung von Autonomie und gewissen Schwierigkeiten Die gängige Vorstellung von ›Autonomie‹ ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Erstens wird ›Autonomie‹ häufig als Ausdruck uneingeschränkter Emanzipation des Individuums von tradierten Vorstellungen oder als Stichwort für ein angeblich uneingeschränktes »Herr-Sein im eigenen Hause« oder als »gesellschaftliche und/oder moralische Ungebundenheit« verstanden. Derartige Autonomieverständnisse verkennen die fundamentale anthropologische Bedeutung und die soziale Struktur dieses Begriffs, in die jedermann eingebunden ist. Für schrankenlose Selbstbestimmung ist da kein Platz. Autonomie stellt, wie zu zeigen sein wird, eine anthropologische Grundverfasstheit mit wichtigen Auswirkungen auf die Sozialität des Menschen dar. Danach besteht die Autonomie des Einzelnen gerade nicht darin, dass er sich ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen selbst bestimmt; vielmehr schließt die Autonomie des einen den Respekt vor der Autonomie des anderen notwendig ein. Denn: Autonom ist jeder Mensch; Autonomie stellt insoweit eine die Menschen miteinander verbindende Verfasstheit dar. Der Gedanke der Autonomie enthielte einen inneren Widerspruch, ließe man seine mitmenschliche Dimension außer Acht. Zweitens: Wenn nicht die Termini ›Autonomie‹ und ›Selbstbestimmung‹ gleich miteinander identifiziert werden, so gilt doch einer weit verbreiteten Vorstellung zufolge Erstere als eine Funktion der Letzteren. Motto: Je mehr Selbstbestimmung, desto mehr Autonomie. Diese Vorstellung spielt in ethischen Debatten nicht nur eine gewichtige Rolle, sie hat auch den Vorzug, dass mit ihrer Hilfe schwierige moralische Fragen vergleichsweise einfache Antworten finden: je weniger Selbstbestimmung, desto weniger Autonomie und desto mehr Fürsorge. 1 Versteht man unter Autonomie die Fähigkeit, Vgl. Eibach, U.: Vom Paternalismus zur Autonomie des Patienten? Medizinische Ethik im Spannungsfeld zwischen einer Ethik der Fürsorge und einer Ethik der Autonomie, in: Zeitschrift für Medizinische Ethik 43/3 (1997), S. 215–231. S. a. Merks, K.-W.: Autonomie: Selbstbestimmung und Fürsorge. In: May, A. T. / Charbonnier, K. (Hg.): Patientenverfügungen – Unterschiedliche Regelungsmöglichkeiten zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge. Münster 2005, 19–35.
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Autonomie und Selbstbestimmung
die eigenen Rechtsverhältnisse unter gleichzeitigem Respekt vor den Mitmenschen zu regeln, dann gelten Menschen, die dazu aus Gründen ihres jugendlichen Alters oder alters- oder krankheitsbedingter Umstände wegen nicht in der Lage sind, nicht oder nur eingeschränkt als autonom. Letzteres spielt insbesondere am Lebensende eine wichtige Rolle: Je näher dem Tode, desto möglicherweise geringer die Autonomie; umso wichtiger die Fürsorge um den sterbenden Menschen. Bei näherer Betrachtung zeigen sich freilich Schwierigkeiten. Denn: Autonomie zur Funktion von Selbstbestimmung zu machen, heißt ein Doppeltes: Erstens: ›Autonomie‹ wird als Fähigkeit verstanden bzw. von Fähigkeiten abhängig gemacht. ›Autonom‹ ist demnach der starke, gesunde, selbstbewusste, unabhängige Mensch, im Unterschied zum schwachen, kranken, seiner selbst unsicheren, von der Mitwelt abhängigen Menschen. Zweitens: ›Autonomie‹ wird als stufbar angesehen: Je stärker, selbstbewusster und unabhängiger ein Mensch, desto mehr Autonomie; je schwächer, unsicherer und abhängiger, desto weniger Autonomie. Demnach erscheint das Neugeborene noch nicht autonom, der Altersschwache kaum noch autonom, der hochgradig geistig Behinderte zeitlebens nicht autonom und schließlich der Narkotisierte auf dem OP-Tisch temporär nicht autonom. So ist in Kliniken und Altersheimen häufig zu hören, der Kranke bzw. Heiminsasse sei altersund/oder krankheitsbedingt in seiner »Autonomie mehr oder weniger stark eingeschränkt« und man müsse dieses »Defizit« durch vermehrte Fürsorge zu »kompensieren« suchen. Ein derartiges Autonomieverständnis kann zu zwei Schwierigkeiten führen: zum einen dazu, dass man möglicherweise nur eingeschränkt auf die Wünsche und Vorstellungen eines »in seiner Autonomie eingeschränkten« Menschen hört und damit Gefahr läuft, ihn fremdzubestimmen; und sodann, dass man es mit dem Mitmenschen zwar gut meint, aber objektiv gegen seinen Willen handelt, weil man sich der rechtlich erforderlichen und ethisch gebotenen Legitimation durch den aktuellen oder dokumentierten Willen auch des alten und kranken Menschen nicht hinreichend vergewissert. Will man derartige Missverständnisse vermeiden, gilt es, sich die formalen und die inhaltlichen Merkmale von ›Autonomie‹ näher anzusehen. 2 Das Folgende enthält Übernahmen aus: Beckmann, J. P.: On the Meaning and Some Contexts of the Term ›Autonomy‹. A Conceptual Investigation. In: Synthesis Phi-
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1.2 Formale Merkmale des Autonomiebegriffs a) Selbstgesetzlichkeit, nicht Selbstgesetzgebung Die Herkunft des Terminus ›Autonomie‹ (von griech. autós = selbst und nómos = Gesetz) macht unmittelbar deutlich, dass ›autonomía‹ wörtlich nicht ›Selbstgesetzgebung‹, sondern ›Selbstgesetzlichkeit‹ bedeutet. Dieselbe besteht nicht etwa nur dann noch nur insoweit, als der Mensch sie faktisch in Anspruch nimmt, sondern unabhängig davon immer, und dies vom Lebensanfang an bis zum Lebensende. ›Autonomie‹ ist keine Handlung, sondern ein Sein, ›Selbstgesetzlichkeit‹ eben, und nicht ›Selbstgesetzgebung‹. 3 Dasselbe gilt vom Gegenbegriff ›Heteronomie‹ : Auch er stellt keine Handlung, sondern ein Sein dar: Fremdgesetzlichkeit, nicht Fremdgesetzgebung. Den Menschen als fremdgesetzlich anzusehen, hieße, ihn ausschließlich als Objekt, niemals als Träger von Eigengesetzlichkeit zu betrachten. Es sei nicht übersehen, dass Kant, der Vater des neuzeitlichen Autonomie-Konzepts, in Abweichung von der hier vertretenen Auffassung von Autonomie als Verfasstheit und nicht als Tätigkeit durchaus von »Selbstgesetzgebung« spricht, z. B. im Kontext seiner Auffassung vom Menschen als Vernunft- und zugleich als Freiheitswesen, »denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe«. 4 Als sittliches Wesen ist der Mensch »nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung« unterworfen. Lt. kategorischem Imperativ soll der Mensch ohne Rücksicht auf Zwecke und Neigungen »rein aus der Gesetzlichkeit des Willens selber« handeln. 5 Dieselbe ist im »Grundsatz« des kategorischen Imperativs angelegt, welchen Kant auch »das Prinzip der Autonomie des Willens« nennt. 6 Doch als »oberstes Prinzip der Sittlichkeit« besteht die Autonomie des Willens nicht etwa aus Hand-
losophica (Zagreb) 59/1 (2016), 89–99, und ders.; Autonomie und Selbstbestimmung auch am Lebensende. Überlegungen aus ethischer Sicht, in: Welsh, C. et al. (Hg.): Autonomie und Menschenrechte am Lebensende. Frankfurt/M. 2016, 27–43. 3 Auch die ansonsten informative Untersuchung von Hildt, E.: Autonomie in der biomedizinischen Ethik. Frankfurt/New York 2006 übernimmt die gängige Herleitung von griech. ›autonomìa‹ = ›Selbstgesetzgebung‹/›Selbstbestimmung‹ (S. 49). 4 Kant, I.: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. In: Kant, I.: Gesammelte Schriften. Hg. von der Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (sog. Akademie-Ausgabe, im Folgenden AA) IV, 450. 5 a. a. O. (Fn. 4). 6 a. a. O. (Fn. 4).
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lungen, sondern liegt denselben logisch voraus. Kant nennt Autonomie daher auch eine »Beschaffenheit des Willens«. Mit einem Wort: Autonomie ist nach Kant als »Prinzip des Willens« eine Norm, keine Fähigkeit. Indem Kant Autonomie auf die Vernunft- und Freiheitsausstattung des Menschen gründet, versteht auch er Autonomie als Verfasstheit und nicht als Handlung, denn weder die Vernunftausstattung des Menschen noch seine Freiheit sind Ergebnisse von Handlungen, sondern deren notwendige Voraussetzung. Auch wenn der Mensch von seiner Vernunft und Freiheit aktuell keinen Gebrauch macht oder machen kann, verfügt er dennoch über beides; denn er ist nicht erst dann vernünftig, wenn er vernünftig handelt, und nicht erst dann frei, wenn er frei handelt, sondern er ist beides von sich her. Sodann: b)
Autonomie ist keine Eigenschaft, sondern eine Eigentümlichkeit des Menschen. Mit dem Dargelegten eng verbunden ist die Art und Weise der Beziehung zwischen Mensch und Autonomie: Dieselbe ist keine Eigenschaft, sondern eine Eigentümlichkeit des Menschen. Autonomie kann einem Menschen weder zukommen noch kann sie ihm abgehen, und zwar deswegen nicht, weil der Mensch Autonomie nicht besitzt, sondern weil er autonom ist. Als Selbstgesetzlichkeit ist Autonomie nichts Akzidentelles, sondern etwas dem Menschen Wesenseigentümliches, ohne das er schlechterdings nicht denkbar ist. Die Lateiner nennen dies ein proprium, das niemals fehlen kann, im Unterschied zum accidens, das einem Menschen zukommen, ihm aber auch abgehen kann. Bestes Beispiel hierfür ist die Wesenseigentümlichkeit des Menschen, endlich zu sein. Es gibt keinen Menschen, der nicht endlich wäre, so wie es niemanden geben kann, der nicht autonom wäre. Daher: c)
Autonomie meint keine Fähigkeit oder Leistung, sondern eine Verfasstheit. Wie des Menschen Endlichkeit ist auch Autonomie keine Fähigkeit, sondern ebenfalls eine Verfasstheit. Des ungeachtet hat noch vor kurzem die Mehrheit des Deutschen Ethikrates festgestellt, dass Autonomie »die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen« sei, »aus eigenen Stücken vernünftige Erwägungen anzustellen, mit anderen Personen Gründe für Handlungen auszutauschen und Entscheidungen verant-
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I · Über Autonomie und Menschenwürde
wortlich zu treffen«. 7 Dass ein derartiges Autonomieverständnis, träfe es zu, wie gesagt einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung von der Autonomie ausschießen würde – Neugeborene, Kleinkinder, Schwerkranke, Altersdemente und stark Behinderte – scheint entweder übersehen oder hingenommen. Dabei sei unbestritten, dass Angehörige der genannten Gruppen faktisch oder temporär möglicherweise nicht in der Lage zum Vernunftgebrauch sind noch sich mit anderen über die Gründe für ihre Handlungen austauschen können; doch liegt das nicht an fehlender Autonomie, sondern an der transitorisch oder umständehalber eingeschränkten Möglichkeit, ihre Autonomie durch entsprechende Handlungen zu manifestieren. Der immer wieder anzutreffende Irrtum, Autonomie sei als eine Fähigkeit oder Leistung zu begreifen, würde wie gesagt Menschen, die dazu noch nicht, nicht mehr oder zu bestimmten Zeiten nicht in der Lage sind, vom menschlichen Wesensmerkmal der Selbstgesetzlichkeit ausschließen. Davor bewahrt die Betreffenden das Verständnis von Autonomie als vom Menschen nicht trennbare Verfasstheit. Da es dazu keiner Fähigkeit oder Leistung bedarf, kann es auch keine »Überforderung durch Autonomie« 8 geben. Autonomie stellt keine wie auch immer geartete Forderung dar, sondern ein Sein. Folge: d)
Als notwendige Verfasstheit lässt der Begriff der Autonomie kein Mehr oder Weniger zu. Die Autonomie des Menschen lässt, weil notwendige Verfasstheit, naturgemäß kein Mehr oder Weniger zu. Der Mensch ist vom ersten Atemzug an bis zum letzten in vollem Sinne autonom, in jeder seiner Zustände und Situationen stets und ausnahmslos selbstgesetzlich, mag er auch kontingenterweise hier und da nicht selbstgesetzgebend sein. Hier wird deutlich, warum die häufig anzutreffende Rede, der alte Mensch, der Heiminsasse oder der Kranke sei in seiner Autonomie »eingeschränkt«, logisch unmöglich ist. Eine WesenseigenDeutscher Ethikrat (Hg.): Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus. Berlin 2016, 38. 8 So die Befürchtung einiger Mitglieder der seinerzeitigen Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages (2004). Vgl. »Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages ›Ethik und Recht der modernen Medizin‹ zur rechtlichen Verankerung der Patientenverfügungen«, in: Bundestags-Drucksache 15/3700, 9 f. – Eine »zunehmende« Autonomie, von der z. B. die Bundesärztekammer (Ärzteblatt 1997, B 1065) sprach, kann es nach der Logik des hier dargelegten Autonomieverständnisses ebenfalls nicht geben. 7
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Autonomie und Selbstbestimmung
tümlichkeit gestattet logisch kein Mehr oder Weniger. Wie wichtig gerade dieses formale Merkmal der Autonomie für ethische Analysen ist, wird unmittelbar evident, wenn man an die im ärztlichen wie im pflegerischen Bereich häufig vorkommende Vorstellung denkt, man müsse die »verminderte« oder gar »fehlende« Autonomie des Patienten oder Heimbewohners durch verstärkte Empathie oder Fürsorge »ersetzen« oder »kompensieren«. So wichtig Empathie und Fürsorge sind: beide setzen den Respekt vor der Autonomie des Menschen voraus und sind nur legitimierbar durch den Respekt vor der Unverfügbarkeit, weil Selbstgesetzlichkeit jedes Menschen. Zugleich wird hier ein weiteres formales Merkmal von Autonomie deutlich: das des Miteinanders der Menschen. e)
Autonomie ist relational: Sie isoliert nicht die Menschen voneinander, sondern verbindet sie miteinander. Autonomie drückt zugleich eine Beziehung zwischen den Menschen aus, weil der Respekt vor der Selbstgesetzlichkeit des einen vom Respekt vor der Selbstgesetzlichkeit des anderen nicht zu trennen ist. ›Autonomie‹ ist somit gerade nicht Ausdruck eines isolierten Individualismus, als die sie nicht selten hingestellt wird (»Mein Bauch gehört mir!«, »Ich bin Herr im eigenen Haus!« u. ä.), sondern im Gegenteil Garant der Verbundenheit der Menschen untereinander und ihrer Gemeinschaftlichkeit. Dank ihres relationalen Charakters verbindet ›Autonomie‹ das jeweilige Subjektsein der Menschen miteinander zum ›wir‹. In diese soziale Struktur ist jedermann eingebunden. Insofern gilt: f) Alle Autonomie impliziert Begrenzung. Autonomie als anthropologisches Prinzip und Selbstbestimmung als Manifestation desselben beziehen sich damit auf die Verfasstheit des Einzelnen als durch Dritte grundsätzlich nicht verfügbares Subjekt eigenen Tuns und Lassens. Da dieselbe Verfasstheit allen Menschen unterschiedslos zueigen ist, schließt der Autonomiegedanke notwendig den Respekt vor dem Mitmenschen und seiner Subjekthaftigkeit und prinzipiellen Unverfügbarkeit ein. So hat alle Autonomie des Individuums ihre natürliche Grenze an der Autonomie des Mitmenschen. Schon Kant, der Vater dieses Gedankens, hat alle Autonomie immer zugleich als Selbstbegrenztheit verstanden. 9 9
Vgl. Kants Rede von der »Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Be-
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I · Über Autonomie und Menschenwürde
Hier wird ein siebtes formales Merkmal von Autonomie deutlich: Autonomie verbindet die Menschen nicht nur miteinander, sondern bindet jeden Einzelnen an den Respekt vor dem Mitmenschen. Sie stellt eben keinen individuellen Anspruch dar, sondern ist eine allgemeine Pflicht. g)
Autonomie ist kein Recht, sondern ein den Menschen mit Notwendigkeit kennzeichnendes Prinzip. Man könnte versucht sein, Autonomie als eine Art »Abwehrrecht« gegen staatliche Willkür zu begreifen; dem steht jedoch im Wege, dass jeder Mensch, wie gesagt, eigengesetzlich ist, seine Autonomie mithin nicht auf Ansprüchen beruht, sondern dieselben allererst möglich macht. Niemand kann einem Mitmenschen Autonomie nehmen oder absprechen, da sie, wie dargelegt, eine vom Menschen nicht trennbare Verfasstheit darstellt. Was ggf. einklagbar ist, ist die Inanspruchnahme der Manifestation dieser Verfasstheit durch Selbstbestimmung, welche ein Recht ist und daher wie alle Rechte im Fall der Missachtung Gegenstand gerichtlicher Klärung sein kann. Dass im Unterschied hierzu menschliche Autonomie kein Recht, sondern ein Prinzip ist, zeigt sich darin, dass es sich logisch um einen obersten, unbedingten Satz handelt, der seinerseits Bedingung für ihm Untergeordnetes ist. Die Selbstgesetzlichkeit des Menschen ist eine unbedingte, ihre Manifestation durch Selbstbestimmung eine bedingte. Diesen sieben formalen Kennzeichen von Autonomie stehen drei inhaltliche Merkmale zur Seite.
1.3 Inhaltliche Merkmale des Autonomiebegriffs Dass der Mensch von sich her autonom ist, manifestiert sich in den Merkmalen seines Ansichseins, seines Subjektseins und seiner Selbstzweckhaftigkeit bzw. seines Unverfügbarseins. a)
Autonomie bezieht sich auf das Ansichsein des Menschen, nicht jedoch auf ein Fürsichsein. Das Ansichsein des Menschen hat seinen Grund darin, dass er von sich her ist, was er ist. Das bedeutet nicht, dass er etwa zugleich nur ding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein«. Kant, I.: AA (Fn. 4) IV, 440.
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Autonomie und Selbstbestimmung
für sich da wäre. Dem steht Autonomie als Selbstgesetzlichkeit im Wege, die, wie gezeigt, relational und damit notwendig mit der Selbstgesetzlichkeit des Mitmenschen verbunden ist. Das Ansichsein des Menschen besteht darin, was er von sich selbst her immer schon ist: einmalig, individuell, selbstgesetzlich. Sein Nicht-Fürsichsein hingegen zeigt sich darin, dass er nicht allein ist, sondern in einem Wesensbezug zum Mitmenschen steht. In seinem Ansichsein erfährt sich der Mensch als Individuum, in seinem Nicht-Fürsichsein hingegen als ein dem Mitmenschen Gleicher. Besonders deutlich zeigt sich dies im Subjektsein. b) Autonomie ist vom Subjektsein des Menschen nicht zu trennen. Der Mensch ist Subjekt seines Tuns und Lassens. Erfahrbar ist dies für ihn durch das Subjektsein des Mitmenschen, den er niemals zum reinen Objekt machen darf. Gerade hierin zeigt sich in besonderer Deutlichkeit der oben dargelegte relationale Charakter von Autonomie, für welche der Bezug zum Mitmenschen unabdinglich ist. Auch in Bezug auf das Subjektsein eines jeden Menschen gilt das formal von der Autonomie Festgestellte: Der Mensch ist auch dann Subjekt, wenn er aktuell dies nicht durch Tun oder Lassen manifestiert. Grund hierfür ist der Umstand, dass Subjektsein eine Verfasstheit und keine Leistung darstellt, ein Sein und kein Handeln. Damit eng verbunden ist das dritte inhaltliche Merkmal: c)
Kennzeichen der Autonomie ist die Selbstzweckhaftigkeit und daraus folgend die Unverfügbarkeit des Menschen seitens Dritter. Dass der Mensch von sich her ist und Subjekt seines Tuns und Lassens ist, bestimmt sein Sein; dass er einer Totalverfügung gegen seinen Willen durch Dritte entzogen bleiben muss, ein Sollen. Nach Kant ist dies darin begründet, dass der Mensch »Zweck an sich selbst« ist, d. h. von sich her Zweck ist und nicht in toto genere fremden Zwecken unterworfen werden darf. 10 Jedweder Versuch der Fremdverzweckung des Einzelnen seitens Dritter scheitert an der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen. Mit einem Wort: Autonomie bedeutet Selbstsein unter den Bedingungen der Anerkennung des Selbstseins aller Mitmenschen. Dies ist der Grund, warum Klarheit
Vgl. Kant, I.: »Der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst …«. Kant, I.: AA IV, 440 (Fn. 4).
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I · Über Autonomie und Menschenwürde
über den Autonomiebegriff gerade in sozialen Kontexten so wichtig ist.
1.4 Das Verhältnis von Autonomie und Selbstbestimmung a)
Die Unterscheidung zwischen Autonomie und Selbstbestimmung ist unumgänglich. Die skizzierten sieben formalen Merkmale von Autonomie – Selbstgesetzlichkeit, Eigentümlichkeit, Verfasstheit, Nichtstufbarkeit, Relationalität, Selbstbegrenzung und Prinzipiencharakter – sowie die drei inhaltlichen Merkmale – Ansichsein, Subjektsein und Selbstzweckhaftigkeit/Unverfügbarkeit – erfordern eine wichtige Unterscheidung, und zwar diejenige zwischen Autonomie einerseits und ihrer Manifestation durch Selbstbestimmung andererseits, ungeachtet des Umstandes, dass beides eng miteinander verbunden ist. b)
Selbstbestimmung ist ein intentionaler Willensakt des autonomen Subjekts. Selbstbestimmung ist die Manifestation von Autonomie qua Selbstgesetzlichkeit durch Selbstgesetzgebung, dies allerdings, wie gesagt, unter der Bedingung der Beachtung der Selbstgesetzlichkeit der Mitmenschen. Wie der Terminus ›Selbstbestimmung‹ besagt, bestimmt das autonome Subjekt sich selbst und nicht jemand anderen, und es tut dies selber. Selbstbestimmung enthält mithin einen Doppelaspekt: Das eigene Selbst ist gleichermaßen Subjekt wie Objekt des Bestimmungsaktes. Fehlt Ersteres, ist der Mensch der Gefahr der Fremdbestimmung ausgesetzt; fehlt Letzteres, praktiziert der Einzelne seinerseits ggf. seinen Mitmenschen gegenüber Fremdbestimmung. Im ersten Fall wird das sich selbstbestimmende Subjekt als heteronom behandelt, im zweiten Fall macht es seinen Mitmenschen heteronom und damit zum reinen Objekt. c)
Autonomie ist gegenüber Selbstbestimmung logisch wie ursächlich vorgängig. Das Verhältnis menschlicher Autonomie qua notwendiger Verfasstheit und der Manifestation derselben beruht darauf, dass die genannte Eigentümlichkeit logisch und ursächlich ihrer Manifestierbarkeit notwendig vorausgeht: Nicht weil und wenn der Mensch über sich selbst zu bestimmen vermag, ist er autonom, sondern weil er auto26 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Autonomie und Selbstbestimmung
nom ist, besitzt er das Recht, über sich selbst zu bestimmen. Das hat seinen Grund darin, dass Autonomie, wie gesagt, kein Recht, sondern ein Prinzip ist, das anthropologische Prinzip eben, dass jeder Mensch unabhängig von Umständen oder Fähigkeiten um seiner selbst willen zu respektieren ist. Auch wenn der Mensch sein Selbstbestimmungsrecht aus kontingenten Gründen nicht in Anspruch nimmt oder nehmen kann, bleibt er unverändert autonom; auch verbleibt das Selbstbestimmungsrecht bei ihm; ein Recht ist schließlich nicht von seiner Inanspruchnahme abhängig. Der Unterschied zwischen Autonomie und Selbstbestimmung ist insoweit kategorialer Natur: Autonomie gehört zur Kategorie dessen, was ist, Selbstbestimmung zur Kategorie dessen, was sein soll. Die Logik zwischen beidem ist die zwischen Bedingung und Bedingtem: Selbstgesetzlichkeit gibt es auch ohne faktische Manifestation derselben, diese aber nicht ohne jene. Autonomie kann daher nicht, wie dargelegt, zur Funktion von Selbstbestimmung gemacht werden. Dies wäre nur möglich, wenn man zur Fähigkeit erklärte, was den Menschen ausmacht. Doch der Mensch ist nicht identisch mit dem Potenzial, das er besitzen mag. Eine Identifikation des Menschen mit dem, was er hat oder kann, verstellt den Blick nicht nur auf den gesunden, starken, seiner selbst gewissen Menschen, sondern einmal mehr auf den kranken, schwachen, an sich selbst möglicherweise zweifelnden Menschen. Die vorstehend betonte Unterscheidung zwischen Autonomie und ihrer Manifestation durch Selbstbestimmung soll die formale und kategoriale Differenz beider deutlich machen, nicht aber den Sinnzusammenhang zwischen beiden aufheben, der darin besteht, dass alles getan werden muss, um die autonome Verfasstheit des Menschen auch für ihn selbst und seine Mitmenschen manifestierbar zu machen und so gut es geht zu erhalten. In seiner Autonomie ist der Mensch untrennbar mit seinem Mitmenschen verbunden, die Manifestation dieser Verbindung durch Selbstbestimmung ist ohne Bezug zur Gemeinsamkeit schlechterdings nicht möglich. Jeder Einzelne ist autonom, aber sobald er dies durch Selbstbestimmung manifestiert, wird deutlich, dass er nicht der Einzige ist. In und ob seiner Autonomie erfährt der Einzelne, dass er in wesentlicher Hinsicht wie der andere ist. Folge: Respekt vor dem anderen als Ausdruck des Respekts vor sich selbst. Grundlage hierfür ist dasjenige, was man bekanntlich ›Menschenwürde‹ nennt. So kann es nicht verwundern, dass zentrale 27 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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Merkmale menschlicher Autonomie wie Eigengesetzlichkeit, Subjekthaftigkeit und Selbstzweckhaftigkeit/Unverfügbarkeit sich, wie sich zeigen wird, auch bei der Bestimmung des menschlichen Würdebegriffs wiederfinden. Dies gilt in augenfälliger Weise von dem Umstand, dass wie die Autonomie auch die Menschenwürde kein Zuerkennungsprodukt darstellt, sondern eine Anerkennungswirklichkeit. M. a. W.: Autonomie und Menschenwürde verdanken ihre Geltung nicht erst ihrem Anerkanntsein; sie sind vielmehr bereits aufgrund ihres Seins das, was sie sind: vom Menschen nicht trennbare Verfasstheiten. Wie sich dies im Falle der Menschenwürde darstellt, sei im Folgenden gezeigt.
2.
Wesensmerkmale der Menschenwürde
2.1 Zur Herkunft des Menschenwürdebegriffs Das Verständnis zentraler Begriffe einer humanen Kultur wird durch die Zeitläufe, vor allem durch aktuelle Entwicklungen in Wissenschaft, Technik, Politik und Wirtschaft stets aufs Neue herausgefordert. 11 Seit es z. B. der Medizin möglich ist, in die natürlichen Prozesse sowohl des beginnenden wie des zu Ende gehenden Lebens einzugreifen, gilt dies in besonderem Maße für das Verständnis des Begriffs der Würde. Ist es mit der Würde des Menschen vereinbar, wenn man seine vorgeburtliche Entstehungsform folgenreich dem Gestaltungswillen Dritter unterwirft? Ist die Art und Weise des Umgangs mit Sterbenden in Anbetracht der gewachsenen Möglichkeiten der modernen Medizin, Leben ohne den ausdrücklichen Auftrag von Sterbenden zu verkürzen oder zu verlängern, mit ihrer Würde vereinbar? Wie steht es um die neuen Eingriffsmöglichkeiten in das Genom eines Menschen, wie um die neuen Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz? Der Respekt vor der Menschenwürde bildet in allen diesen Fällen nicht nur die Richtschnur, sondern die absolut höchste
Vgl. die »Charta der Vereinten Nationen« vom 26. Juni 1945, in der angesichts der Verbrechen Nazi-Deutschlands vom »Glauben an fundamentale Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person« die Rede ist. Siehe auch die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« vom 10. Dezember 1948, in deren Präambel von der »angeborenen Würde« des Menschen sowie in Satz 1 des Art. 1 davon gesprochen wird, dass alle Menschen »gleich an Würde« sind.
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Wesensmerkmale der Menschenwürde
Norm 12 ethisch rechtfertigungsfähigen Handelns. Andererseits wird bereits vom Respekt vor der ›Menschenwürde‹ gesprochen, wenn es um die Notwendigkeit der Beachtung von unbestreitbar fundamentalen Rechten wie denjenigen auf Unterkunft, Arbeit, Bildung und Freizeit geht. 13 Eine Vergewisserung über den Würdebegriff erscheint umso dringlicher angesichts der nachgerade ebenso vagen wie inflationären Verwendung dieses Begriffs. 14 So wird vielfach unterschiedslos nicht nur von der Würde des Menschen, sondern auch von derjenigen der Tiere gesprochen. 15 Im Deutschen Bundestag ist von der »Würde des Hohen Hauses« die Rede. 16 Da gibt es die »würdige« Abschiedsfeier eines verdienten Professors, der lange Jahre »in Amt und Würden (!)« gearbeitet hat, oder den »Würdenträger« bei feierlichen Versammlungen, aber auch das »würdevolle« Auftreten bei Trauerreden. Hier ist kritisch zu fragen, ob es sich in den gen. Beispielen für ›Würde‹ um eine vom Menschen untrennbare Verfasstheit oder um eine bestimmte Respektforderung handelt. Konkret: Ist in den genannten Fällen ein Sein oder ein Verhalten gemeint, welches ›angemessen‹, ›ehrenvoll‹, ›anständig‹ etc. zu sein hat? Was dem Würdebegriff über seine Vagheit und häufige Nennung hinaus nachgerade schadet, ist seine Verwendung in moralischen Disputen und vor allem in ethischen Diskursen zum Zweck des Argumentersatzes oder der abrupten Beendigung der jeweiligen Debatte: Was als »gegen die Menschenwürde« apostrophiert wird, gilt als Tabu und daher als nicht weiter debattierbar. 17 Das hat zwei zu beachtende Folgen: Zum einen die Gefahr einer Sinnentleerung
Die in der neuesten Publikation des Ethikrates zu Eingriffen in die menschliche Keimbahn vorgenommene Subsumierung der Menschenwürde unter den Begriff »ethische Orientierungsmaßstäbe« dürfte dem Menschenwürdeverständnis kaum gerecht werden. Vgl. Deutscher Ethikrat (Hg.), Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Stellungnahme. Berlin 2019, 111. 13 Das Folgende enthält Übernahmen aus Beckmann, J. P.: Autonomie und Selbstbestimmung auch am Lebensende, in: Welsh, C. et al. (Hg.) (Fn. 2) 2017, 27–43. 14 Vgl. Birnbacher, D.: Gefährdet die moderne Reproduktionsmedizin die menschliche Würde? In: Leist, A. (Hg.): Um Leben und Tod. Frankfurt/M. 1990, 266–281. 15 Vgl. die gründliche Studie von Baranzke, H.: Würde der Kreatur? Würzburg 2002. 16 C. Schmidt spricht gar von der »Würde des Staates«, in: ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939. Berlin 1940, 125. 17 Vgl. Birnbacher, D.: »Menschenwürde – abwägbar oder unabwägbar?«, in: Kettner, M. (Hg.): Biomedizin und Menschenwürde. Frankfurt/M. 2004, 249–271. 12
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des Würdebegriffs infolge unbedachten und unangemessenen Gebrauchs, und zum anderen eine Instrumentalisierung des Würdebegriffs, der zu einer Art »Kampfbegriff« in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung zu werden beginnt. Ist er solches erst einmal geworden, droht seine fundamentale Bedeutung verloren zu gehen. Angesichts dieser und ähnlicher Verwendungsweisen des Würdebegriffs wird unabweisbar, dass der Einzelne, aber vor allem auch die Gesellschaft als Ganze sich stets erneut vergewissern müssen, was in einer sich ständig verändernden Welt unter dem für Recht und Moral grundlegenden Begriff der (Menschen-)Würde zu verstehen ist, um einer »Menschenwürde-Skepsis« 18 zu entgehen. Nun ist es keineswegs so, dass es nicht gute Gründe gäbe, neben dem Menschen etwa auch Tieren eine »Würde« zuzusprechen; desgleichen, dass bestimmte negative Lebensbedingungen menschlichen Daseins nicht »menschenwürdig« genannt werden könnten bzw. müssten. So geht es im Folgenden nicht darum, den Tieren »Würde« abzusprechen, noch darum, inakzeptable Lebensbedingungen nicht als das zu bezeichnen, was sie sind: nämlich des Menschen unwürdig. Wohl hingegen geht es im Folgenden um die Frage, ob trotz derartiger Verwendungen die Eindeutigkeit des Würdebegriffs erhalten bleiben kann. Der Beitrag der Philosophie zu derartigen Fundamentalfragen menschlicher Existenz besteht in einer kritischen Analyse der normativen Grundlagen und in der praxistauglichen Klärung der zugrundeliegenden Begriffe. Insofern derartige Begriffe vielfach auch moralische Implikationen und Konsequenzen besitzen, müssen dieselben in die philosophische, speziell in eine ethische Prüfung einbezogen werden, mit deren Hilfe der normative Anspruch von Handlungen bzw. ihrer Unterlassung argumentativ geprüft wird. In Bezug auf den Menschenwürdebegriff stellen sich drei Fragen: Erstens: Was bedeutet der Begriff der ›Würde‹ ? Zweitens: Auf wen oder was ist er anwendbar? Drittens: Was folgt aus dieser Anwendbarkeit?
Vgl. Birnbacher, D.: Menschenwürde-Skepsis. In: Joerden, J. C. et al. (Hg.): Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin 2013, 159–175.
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2.2 Religiöser Hintergrund Seit es in Gen. 1, 26/7 heißt, dass »Gott sprach: Lasset uns den Menschen machen als unser Abbild« 19 und in Gen. 5, 1 »Als Gott den Menschen schuf, machte er ihn Gott ähnlich«, hat man aus religiöser Sicht die Würde des Menschen in seiner ›Gottesebenbildlichkeit‹ gesehen. 20 Damit verbunden ist der Auftrag an den Menschen, über die Erde und alles auf ihr »zu herrschen« (Gen. 1, 27). Bemerkenswert ist, dass dies im Neuen Testament zu einer Zukunftserwartung wird. So heißt es in 1 Kor. 15, 49: »Wie wir nach dem Bild des Irdischen gestaltet wurden, so werden wir auch nach dem Begriff des Himmlischen gestaltet werden«: Menschenwürde, weil von Gott auserwählt und zum ewigen Leben geboren. Das ist ein in höchstem Maße zu beachtendes Würdeverständnis, zumal es nicht nur inhaltlich klar, sondern auch hinsichtlich seiner Anwendung universal ist, weil unterschiedslos alle Menschen betreffend. Gleichwohl sind es vor allem zwei Hindernisse, die einer philosophischen Übernahme des religiösen Würdeverständnisses im Wege stehen: zum einen der Umstand, dass dasselbe auf Prämissen beruht, die nur dem Glaubenden zugänglich sind; Philosophie aber muss sich beschränken auf Argumente, die für jedermann zugänglich und einsichtig sind; zum anderen das Hindernis – und das trifft das philosophische Würdeverständnis im Kern –, dass die religiös verstandene Würde eine zuerkannte, (von Gott) verliehene Würde ist. Denn was immer man aus Sicht der natürlichen Vernunft unter ›Menschenwürde‹ versteht: Sie ist nicht verliehen, sondern kommt jedem Menschen von ihm selbst her zu. Während die religiös begründete Menschenwürde aus einem ihr externen Grund beachtet werden muss: aus Gehorsam nämlich gegenüber Gott, ist die philosophisch begründete Menschenwürde um ihrer selbst willen zu achten. Grundlage hierfür ist nicht die Gotteskindschaft, sondern das Menschsein. Dazu gleich mehr. Nun sind glaubensunabhängige Würde-Verständnisse jedoch entweder nur ex negativo bestimmt, wie der juristische, oder analytisch komplex, wie der philosophische. So weiß der Jurist zwar, wann die Würde des Menschen verletzt ist, nämlich dann, wenn er Alle Bibelzitate aus der (revidierten) Einheitsübersetzung. Freiburg 2017. Wobei die Frage, ob der Mensch Abbild Gottes ist (›eikon tou theou‹/›imago Dei‹) oder Gott ähnlich (homoiosis / similitudo), eine eher theologische ist.
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zum reinen Objekt der Willkür Dritter gemacht (»herabgewürdigt«) wird (sog. »Objektformel«); 21 nicht aber definiert er damit, was genau unter ›Würde‹ zu verstehen ist. In der Philosophie ist Würde nicht so sehr mit einem Abwehrrecht als mit einem Zugehörigkeitsrecht verbunden. So unterscheidet man zwischen der Gattungs- und der Individualwürde. Ersterer zufolge besitzt der Mensch Würde, weil er Mitglied der Gemeinschaft aller Menschen ist, Letzterer zufolge, weil er einmalig und unwiederholbar ist. Hintergrund ist die neuzeitliche Auffassung vom Menschen, ein Gleicher unter Gleichen und zugleich jeweils einmalig zu sein.
2.3 Philosophischer Hintergrund Letzteres ist der Ansatz der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Zentral ist der Gedanke I. Kants, dass die Würde des Menschen in seiner Vernunftnatur begründet ist und speziell in seiner Fähigkeit zu vernünftigem und sittlich korrektem Handeln besteht. 22 ›Menschenwürde‹ ist damit kein Zusprechungsprodukt, sondern ein Anerkennungssachverhalt, demzufolge jeder Mensch vom ersten bis zum letzten Atemzug (1.) als Zweck an sich selbst und (2.) als Subjekt seines Tuns und Lassens zu gelten hat und zugleich (3.) ob seiner Selbstgesetzlichkeit (»Autonomie«) prinzipiell unverfügbar und jedweder Fremdbestimmung (»Heteronomie«) entzogen ist. Diese drei Merkmale sind weder leistungs- noch anerkennungsabhängig; vielmehr besitzen sie aus sich heraus Geltung. 2.3.1 Wesensmerkmale des Menschenwürdebegriffs in Anlehnung an Kant In Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« heißt es: Der Mensch hat keinen (äußeren) Preis, sondern einen (inneren) Wert, d. i. Würde. 23 Diese beruht darauf, wie im voraufgegangenen Ab-
Vgl. Herdegen, M.: Kommentar zu Art. I Abs. 1 GG. in: Maunz, T./Dürig, G. et al.: Grundgesetz. Kommentar. München 2003, Rn 1–114. 22 Vorwegnahmen dieser Vorstellung finden sich etwa bei Cicero, der in seiner Schrift ›De officiis‹ (I, 105 f.) die Würde des Menschen in seiner Ausstattung als Vernunftwesen sieht, im Unterschied zu den Tieren. 23 Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS). AA III, 78 (Fn. 4). 21
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schnitt über die Autonomie dargelegt, dass »der Mensch als Zweck an sich selbst (nicht: für sich selbst! JPB), nicht bloß als Mittel existiert.« Darin besteht seine Würde. Grundlage der Würde ist nach Kant die Autonomie des Menschen, wörtlich wie dargelegt: seine Selbstgesetzlichkeit. Diese bedeutet nicht schrankenlose Willkür, sondern Selbstbegrenzung: nämlich sich selbstgegebenen Gesetzen zu unterwerfen, und zwar nach Maßgabe des kategorischen Imperativs (K. I.): »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«. 24 Für den vorliegenden Zusammenhang noch deutlicher ist die sog. Menschheitsformel des K. I.: »Handle so, dass Du die Menschheit, sowohl in Deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«. 25 Nach Kant ist Würde tief in der Personalität des Menschen verankert: »Allein der Mensch, als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher ist er nicht bloß Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann«. 26 Nach Kant hat »im Reich der Zwecke … alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde«. Die Würde des Menschen, so bringt Kant es auf den Punkt, besteht darin, »allgemein gesetzgebend« zu sein, »obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein«. 27 Autonomie ist daher »der Grund der Würde«. 28 Zu den drei Wesensmerkmalen der Menschenwürde im Einzelnen:
24 25 26 27 28
Kant, I.: GMS AA II, 52 (Fn. 4). Kant, I.: GMS, AA IV, 429 (Fn. 4). Kant, I.: Metaphysik der Sitten I, 569 f.; vgl. II, § 11. AA VI, 434 f. (Fn. 4). Kant, I. a. a. O. (Fn. 4). GMS AA III, 62 (Fn. 4).
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2.3.2 Die Eigengesetzlichkeit des Menschen Die Würde des Menschen besteht zum ersten darin, eigenen Gesetzes zu sein, d. h. niemals die Tatsache seiner Existenz Dritten gegenüber ausweisen zu müssen. Es ist dies das philosophische Pendant des eingangs genannten religiösen Würdeverständnisses, wonach der Mensch Gottes ist. Demgegenüber besteht die Eigengesetzlichkeit des Menschen darin, dass sein Sein ein von-sich-her-Sein ist. 2.3.3 Der Subjektstatus des Menschen Dass jeder Mensch Subjekt seines eigenen Tuns und Lassens ist und niemals zum reinen Objekt des Willens Dritter werden kann, ohne seiner Unverfügbarkeit verlustig zu gehen, hat seine Wurzel in seinem Personsein und seiner Vernunftausstattung. Schon der spätlateinische Philosoph und Logiker Boethius hat dies in seiner berühmten Definition der Person zum Ausdruck gebracht: »persona est naturae rationabilis individua substantia« 29 – »Person meint die individuelle Substanz einer vernunftfähigen Natur«: vernunftfähig, nicht schon notwendig vernünftig! Es ist des Menschen Vernunftfähigkeit, nicht erst seine Vernunfttätigkeit, welche Grundlage seiner Würde ist; ›Vernunft‹ meint hier Ausstattung, nicht notwendig deren Gebrauch. Sie ist Eigentümlichkeit des Menschen, unabhängig von ihrer Inanspruchnahme durch seine tatsächlichen Leistungen. Hier liegt einer der zentralen Gründe, warum Menschenwürde jedermann ohne Rücksicht auf Fähigkeiten oder Leistungen von ihm selbst her zueigen ist, dem Neugeborenen ebenso wie dem Altersdementen. 2.3.4 Selbstzweckhaftigkeit und Unverfügbarkeit des Menschen »Zweck an sich selbst zu sein« heißt, niemals zum reinen Mittel des Willens Dritter gemacht werden zu können. Die Achtung vor der so verstandenen Würde jedes Menschen verbietet es, ihn je fremdem Willen (etwa seitens der sozialen Umgebung, der Ärzte oder der Gesellschaft als Ganzer) zu unterwerfen, in welcher guten Absicht auch Boethius, A. M. S.: Contra Eutychen et Nestorium 1–3; dt. in: ders., Die theologischen Traktate. Hamburg 1988, 74. Vgl. Beckmann, J. P.: Über die Bedeutung des Person-Begriffs im Hinblick auf aktuelle medizin-ethische Probleme. In: ders. (Hg.): Fragen und Probleme einer medizinischen Ethik. Berlin/New York 1996, 279–306, bes. 286 f.
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immer. Einen Menschen z. B. in seinem letzten Lebensabschnitt und insbesondere einen Sterbenden, zumal wenn er nicht mehr ansprechbar ist, als reines Objekt ärztlich-pflegerischer Maßnahmen zu behandeln, ohne sich an seinen früheren Vorstellungen zu orientieren, hieße gegen den Respekt vor seiner Menschenwürde zu verstoßen. Eng damit verbunden ist das Merkmal der Unverfügbarkeit des Menschen seitens Dritter. Unverfügbarkeit hindert nicht, dass wir Menschen über einander permanent verfügen, so wie der Autor des hier Dargelegten derzeit über die geschätzte Aufmerksamkeit seiner Leser und Leserinnen verfügt. Wohl aber heißt Unverfügbarkeit, dass über den Einzelnen seitens Dritter niemals in toto genere verfügt werden kann und darf, wie die schon genannte »Objektformel« der Juristen besagt. 30 Dies ist darin begründet, dass der Mensch »Zweck an sich selbst«, d. h. von sich her Zweck ist. 31
2.4 Exkurs zur Unantastbarkeit menschlicher Würde Im Blick auf die genannten drei Wesensmerkmale menschlicher Würde stellt sich die Frage, ob ihre in Art. I GG genannte Unantastbarkeit normativer oder deskriptiver Natur ist: Darf die Würde des Menschen nicht angetastet werden oder kann sie es nicht? Historisch, d. h. angesichts der furchtbaren Verbrechen Nazi-Deutschlands, allem voran am jüdischen Volk, wird man an die normative Bedeutung der Unantastbarkeit der Würde denken: Menschliche Würde darf niemals angetastet werden. Dafür scheint auch der Nachsatz des Art. I GG zu sprechen, in welchem es heißt: »Sie (= die Würde) zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« – eine deutlich normative Bestimmung. Auch logisch spricht alles zugunsten eines normativen Verständnisses der Unantastbarkeit menschlicher Würde, denn wenn sie nicht angetastet werden darf, setzt dies doch logisch zwingend voraus, dass sie – leider – grundsätzlich antastbar ist. Letzteres aber ist in Anbetracht der drei genannten Wesensmerkmale menschlicher Würde gerade nicht möglich: Selbstzweckhaftigkeit, Subjekthaftigkeit und Unverfügbarkeit stellen als solche
Dürig, G., in Mauz. Th. / Dürig (Fn. 21), Rn. 21 f. Vgl. Kant, I.: »Der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst […]«. In: Kant, I.: AA, I, 440 (Fn. 4).
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keine normativen, sondern faktische Bestandteile des Würdebegriffs dar. Gründe: • Nicht wenn seine Selbstzweckhaftigkeit geachtet wird, ist der Mensch Zweck an ihm selbst, sondern weil er Zweck an ihm selbst ist, muss seine Selbstzweckhaftigkeit beachtet werden. Ähnlich die beiden anderen Merkmale: • Nicht wenn der Mensch als Subjekt seines Tuns und Lassens geachtet wird, besitzt er diesen Status, sondern weil er diesen Status besitzt, muss er als Subjekt geachtet werden. Schließlich: • Nicht wenn des Menschen Unverfügbarkeit geachtet wird, ist er unverfügbar, sondern weil er unverfügbar ist, muss dies beachtet werden. Vor den genannten logischen Fehlern schützt eine wichtige Unterscheidung, scil. die zwischen menschlicher Würde als einem von ihm untrennbaren Status auf der einen und der Pflicht zur Achtung desselben auf der anderen Seite. Anders gesagt: Die Logik des Verhältnisses zwischen faktischer und normativer Unantastbarkeit ist die zwischen Sein und Verpflichtung. Die Würde ist eine niemandem zu nehmende, vom Menschen nicht trennbare notwendige Verfasstheit, die unverändert bleibt, auch wenn ihr der geschuldete Respekt bedauerlicherweise versagt werden kann. Das sieht auch das Verfassungsgericht so: In der sog. »Lebenslang-Entscheidung« aus dem Jahr 2004 heißt es: »Selbst durch unwürdiges Verhalten geht sie /die Menschenwürde, JPB/ nicht verloren, sie kann niemandem genommen werden.« 32
2.5 Formale Merkmale des Menschenwürdebegriffs Will man uneigentliche oder gar äquivoke Verwendungen des Würdebegriffs vermeiden, sollte man sich die folgenden formalen Besonderheiten des Würdebegriffs vor Augen halten: 1) Menschenwürde ist unterschiedsinvariant und zugleich zuerkennungsavers. ›Würde‹ ist unabhängig von Geschlecht, Herkommen, sozialer Stellung und was sonst noch die Menschen voneinander unterscheiden mag, noch verdankt sie sich, darauf ist schon im Unterschied zur religiös verstandenen Würde hingewiesen worden, 32
BVerfG 87, 209, 228 vom 5. 2. 2004.
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einer woher auch immer stammenden Zuerkennung. Würde stellt keine Auszeichnung dar, sondern ein Sein. Niemand »verdankt« seine Würde anderen, sondern jeder bringt sie von sich aus mit. Der Mitmensch ist insofern kein Fremder, sondern ein Gleicher, denn er besitzt ebenfalls von sich aus Würde, ungeachtet aller individuellen Unterschiede. Würde ist unterschiedslos jedem Menschen zu eigen und zwar von ihm selbst her und nicht von dritter Seite zugesprochen. Sodann: ›Würde‹ ist keine Eigenschaft (accidens), sondern eine Eigentümlichkeit (proprium) des Menschen. Aus dem Dargelegten folgt, dass Würde einem Menschen weder zukommen noch abgehen kann, und zwar deswegen nicht, weil er immer schon in ihrem Besitz ist: Der Mensch ist von sich her würdig. Die Logik des Würdebegriffs erlaubt daher keine Redewendungen wie wir sie etwa aus dem akademischen Kontext kennen, wo jemandem aufgrund seiner wissenschaftlichen Leistungen z. B. die Würde eines Doktors zuerkannt oder im Plagiatsfall aberkannt wird. Des Weiteren: Als notwendige Verfasstheit kann ›Würde‹ nicht von Fähigkeiten oder Leistungen abhängig sein. Begriffe man ›Würde‹ als Fähigkeit oder Leistung, wären das Neugeborene, der zunehmend dement werdende Greis, der zeitweise Narkotisierte oder der geistig schwer Behinderte nicht oder nur eingeschränkt Träger der Menschenwürde, weil möglicherweise zu einer solchen Leistung noch nicht oder nicht mehr oder temporär nicht oder kaum je in der Lage. Eine Bindung der Menschenwürde an Fähigkeiten oder Leistungen würde den Einzelnen, der zu derartigen Leistungen nicht oder nur ansatzweise in der Lage ist, Diskriminierungen aussetzen und ihn damit in seiner Würde tangieren. 33 Davor bewahrt die Genannten das Verständnis von ›Würde‹ als vom Menschen nicht trennbare Verfasstheit. ›Würde‹ stellt keine wie auch immer geartete Anforderung dar, sondern ein Sein. Sie bezieht sich auf das Ansichsein des Menschen, welches seinen Grund darin hat, dass er von sich her ist, was er ist. Das bedeutet nicht, dass er etwa auch für
So auch der Beschluss des BVerG vom 20. 10. 1992 (BVerfG 89, 209 (228)), wonach Menschenwürde auch demjenigen zueigen ist, »der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann.«
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sich wäre. Dem steht die Würde als allgemeine Verfasstheit im Wege, die, wie sich zeigen wird, relational und zugleich notwendig mit der Würde des Mitmenschen verbunden ist. Als Verfasstheit ist ›Würde‹ naturgemäß nicht stufbar. Bei einer notwendigen Verfasstheit des Menschen ist ein Mehr oder Weniger logisch unmöglich. Jeder Mensch ist vom Beginn bis zum Ende seines Daseins in vollem Sinne Träger der Würde, in jeder seiner Zustände und Situationen. 34 Hinsichtlich seiner Verfasstheit als Träger der Menschenwürde ist und kann niemand ›würdiger‹ oder ›weniger würdig‹ sein. Das lässt die Logik dieses Begriffs schlechterdings nicht zu. Sodann: ›Würde‹ ist relational: Sie isoliert nicht die Menschen voneinander, sondern verbindet sie miteinander. Seine Verfasstheit als notwendig und immer Träger der Menschenwürde grenzt den Einzelnen keineswegs von seinen Mitmenschen ab; im Gegenteil: Würde verbindet die Menschen miteinander. Grund: Die Würde des einen hat in der Würde des anderen ihre notwendige Bedingung. In der Würde des Einzelnen ist die Würde aller Menschen anwesend. Dieselbe ist allen Menschen unterschiedslos zu eigen, mit der Folge, dass ihre Nichtbeachtung oder gar Verletzung eine Nichtbeachtung oder Verletzung der Würde aller Menschen darstellt. Hintergrund: ›Würde‹ ist kein Recht, sondern ein den Menschen mit Notwendigkeit auszeichnendes Prinzip. Wäre Würde ein Recht, könnte sie wie alle Rechte verletzt und anschließend eingeklagt werden. Beides ist jedoch deswegen nicht möglich, weil Würde, wie dargelegt, ein den Menschen mit Notwendigkeit auszeichnendes Prinzip darstellt. Das Prinzipienhafte ist darin beschlossen, dass er von sich her Würde besitzt. Des ungeachtet stellt die Respektierung der Menschenwürde ein Recht dar, das leider verletzt, missachtet oder verkannt und damit wie jedes Recht eingeklagt werden kann. 35 Auch hier zeigt sich wiederum eine elementare kategoriale Differenz: ›Menschenwürde‹ ist ein Prinzip, ›Lebensschutz‹ hingegen ein
D. Birnbacher diskutiert neben der Nichtabstufbarkeit als weitere Merkmale den »Egalitarismus« und den »Speziesismus« der Menschenwürde. vgl. Birnbacher, D.: Menschenwürde – abwägbar oder unabwägbar? (Fn. 17), 249–271. 35 Vgl. Kaufmann, P. et al. (Hg.): Humiliation, Degradation, Dehumanization: Human Dignity Violated. Dordrecht 2010. 34
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Recht. Letzteres kann verletzt, eingeklagt, restituiert werden; Erstere hingegen ist, wie dargelegt, nach Art. I GG »unantastbar«, unabhängig davon, dass der ihr geschuldete Respekt bedauerlicherweise missachtet, unterlassen oder verkannt werden kann. Das ändert jedoch nichts an ihrem Status als anthropologisches Prinzip. Wer die Menschenwürde infrage stellte, würde gleichsam sein eigenes Menschsein infrage stellen. Mit einem Wort: ›Würde‹ bedeutet Selbstsein unter den Bedingungen der Anerkennung des Selbstseins aller Mitmenschen. Das zuletzt Gesagte hat eine wichtige Konsequenz: Zwischen Würde als Statusprinzip und dem schuldigen Respekt ihr gegenüber besteht, wie im Falle der Autonomie, eine kategoriale Differenz: Würde gehört zur Kategorie dessen, was ist, ihre Anerkennung zur Kategorie dessen, was geschehen muss. Die Logik zwischen beidem ist die zwischen Bedingung und Bedingtem: Menschenwürde gibt es auch ohne ihre faktische Anerkennung, diese aber nicht ohne jene. Würde ist absolut und ausnahmslos abwägungsunzugänglich. ›Menschenwürde‹ ist nicht ein Wert oder eine Norm unter anderen, auch nicht ein hoher Wert oder eine hohe Norm unter anderen hohen Werten oder Normen, sondern das normative Fundamentalmerkmal menschlicher Existenz. Es ist daher weder logisch noch sachlich möglich, Würde gegen andere Normen abzuwägen. Dies entspricht der These I. Kants von der Entgegensetzung von Wert und Preis: Preise lassen sich »verrechnen«; die Menschenwürde hingegen ist für jegliche Art von »Verrechnung« unzugänglich. Schwierigkeiten entstehen, wenn man die Würde des Menschen zur Funktion etwa seines Lebensschutzes macht. Zwar ist der Schutz menschlichen Lebens ein hohes Rechtsgut unserer Verfassung (Art. 2 GG), doch steht dasselbe unter »Gesetzesvorbehalt«: In Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG heißt es: »In diese Rechte (i. e. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit; Recht auf Freiheit der Person) darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden«. Damit gilt der Schutz des Lebens im Unterschied zur Menschenwürde nicht uneingeschränkt (vgl. Bundeswehr, Notwehr- bzw. Selbstverteidigungsrecht, straffreie Abtreibung), während die Würde des Menschen, wie dargelegt, unbedingt und ausnahmslos gilt, d. h. gegenüber keiner anderen ethischen Norm abgewogen werden kann, selbst nicht gegen die Fundamentalnorm des Lebensschutzes. So wäre es ein Würde39 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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verstoß, würde man einen schwerkranken Menschen oder einen Sterbenden gegen seinen erklärten Willen zum Weiterleben zwingen. 36 Hinzukommt: Wäre Menschenwürde eine Funktion des Lebensschutzes, dann gäbe es keine über den Tod hinausgehende Verpflichtung zum Respekt vor dem Verstorbenen. Ein solcher auch post mortem geltender Respekt aber ist untrennbar mit der Menschenwürde verbunden.
2.6 Folgen für die Verwendung des Menschenwürdebegriffs Die Besonderheit des Würdebegriffs liegt nun darin, dass bei seiner Verwendung alle drei oben genannten Wesensmerkmale, i. e. Eigengesetzlichkeit, Subjektstatus und Selbstzweckhaftigkeit, konjunkt, d. i. gemeinsam geachtet werden müssen, da sie miteinander untrennbar verbunden sind. Auf die Tiere trifft auch das Merkmal der Selbstzweckhaftigkeit zu, nicht freilich die Merkmale der Eigengesetzlichkeit und des Subjektstatus. Im Sinne der notwendigen Gemeinsamkeit der drei Merkmale des Würdebegriffs wäre also seine Anwendung auf Tiere insofern uneigentlich. Auf die sog. »Würde des Hohen Hauses« trifft erkennbar keines der drei Merkmale zu, die Anwendung des Würdebegriffs ist in diesem Fall das, was die Logiker eine Äquivokation nennen: gleicher Wortlaut, doch unterschiedliche Bedeutung. Im Lichte der drei genannten Wesensmerkmale des Menschenwürdebegriffs ist deutlich, dass er ausschließlich für Menschen gilt. Das schließt nicht aus, auch nicht-menschlichen Lebewesen einen Respektstatus zu attestieren: Auch Tiere sind Zweck an sich selbst, und ob sie so ohne weiteres für den Menschen verfügbar sind, bedarf gründlicher Analyse. 37 Mit Sicherheit gilt der dargelegte Würdebegriff dagegen nicht von Dingen noch von immateriellen Sachverhalten – welcher Art auch immer. Ein Haus, und sei es der Deutsche Bundestag, hat keine Würde im Sinne von Eigengesetzlichkeit, Subjekthaftigkeit und Selbstzweckhaftigkeit. Wie aber steht es mit dem Verhältnis des Würdebegriffs zu den Menschenrechten, wenn Würde, wie dargelegt, kein Recht, sondern ein anthropologisches Prinzip darstellt? 36 37
Näheres s. unten Kap. V. Näheres s. unten Kap. VII.
40 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Wesensmerkmale der Menschenwürde
Der Mensch kann nicht werden, was er bereits ist: nämlich Träger der Menschenwürde zu sein. Und da, wie dargelegt, Menschenwürde kein Recht ist, sondern ein vom Individuum untrennbarer Status, kann dieser Status auch nicht zu den Menschenrechten gehören, ungeachtet fundamentaler Gemeinsamkeiten wie der Universalität ihrer Geltung und des Egalitarismus ihrer Anwendung. Menschenwürde ist nicht eines unter den Menschenrechten, sondern sie ist notwendiges Fundament der Menschenrechte. 38 Das Fundament kann man nicht einklagen, wohl aber das darauf Gegründete: Menschenrechte sind einklagbar, Menschenwürde ist es nicht. Einklagbar ist desungeachtet der Mangel an Respekt vor der Menschenwürde. So verstanden geht die Menschenwürde den Menschenrechten voraus und bildet deren Grundlage. Würde ist die Bedingung der Möglichkeit für die Beanspruchung wie zugleich für die Beachtung fundamentaler Menschenrechte. Den Grund hierfür hat schon Thomas von Aquin genannt: »Dignitas significat bonitatem alicuius propter seipsum« 39 – »›Würde‹ meint jemandes Gutsein um seiner selbst willen«. Dies ist zugleich die Grundlage für die Menschenrechte. Menschenwürde meint zugleich, jedweder Ausweispflicht des eigenen Daseins enthoben zu sein. Einem Menschen die genannte Subjektqualität abzusprechen oder ihn zu verpflichten, die Tatsache seiner Existenz zu rechtfertigen, stellt einen unbezweifelbaren Verstoß gegen den schuldigen Respekt vor der Menschenwürde dar. Das eigentliche Potenzial des Würdebegriffs liegt in seiner kriteriellen Leistungsfähigkeit: So schwierig es sein mag, ihn inhaltlich in einer über die Zeiten hinweg allgemein akzeptierten Weise zu füllen, so eindeutig ist die genannte kriterielle, gegenüber Raum und Zeit invariante Funktion. Kein Mensch kann sich und die anderen ohne massiven Selbstwiderspruch anders denn als Subjekt denken, das zugleich jeglicher Ausweispflicht für das Faktum seiner Existenz enthoben ist. Wenn, wie dargelegt, die Würde des Menschen im Zusammen von Eigengesetzlichkeit, Subjektstatus und Selbstzweckhaftigkeit be-
Vgl. die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen von 1948 und die »Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte« der UNESCO von 2005. – vgl. die profunde Untersuchung von v. Engelhardt, H. D.: Leitbild Menschenwürde. Frankfurt / München / New York 2011. 39 Thomas de Aquino, Scriptum super libros Sententiarum, lib. III, dist. 35, qu. 1, a. 4. Ed. Mandonnet, P., Paris 1929. 38
41 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
I · Über Autonomie und Menschenwürde
steht, dann ist die Nähe zur Fundamentalverfasstheit der Autonomie unübersehbar.
3.
Das Verhältnis zwischen ›Menschenwürde‹ und ›Autonomie‹
Wenn Kant Autonomie als »Grund der Menschenwürde« 40 bezeichnet, dann setzt er nicht beide Begriffe in eins, sondern stellt eine logische Verbindung her: Begründungsbasis menschlicher Würde ist des Menschen Autonomie, seine Selbstgesetzlichkeit. Dieser Gedanke schafft keine Abhängigkeit zwischen beiden, so als besäße der Mensch nur dann Würde, weil er autonom ist und umgekehrt. Er ist ja, wie dargelegt, immer und von sich her selbstgesetzlich und Träger der Würde. Angesichts der genannten formalen Merkmalsübereinstimmungen fragt sich freilich, ob Menschenwürde und Autonomie nicht schlechterdings miteinander identisch sind. Dem steht der Umstand im Wege, dass Autonomie, wie dargelegt, immer schon Begrenzung einschließt: durch die Autonomie des Mitmenschen nämlich. Anders die Menschenwürde: In ihr ist die gemeinsame Würde der Menschheit als solcher beschlossen. Beide Begriffe schließen den Bezug zum Mitmenschen notwendig ein, nur jeweils auf eigene Weise: Autonomie des Einzelnen als durch die Autonomie des Mitmenschen begrenzt, die Würde des Einzelnen hingegen als in der Würde der Menschheit eingeschlossen. Gleichwohl lassen sich die grundlegenden Verwandtschaftsmerkmale der Menschenwürde und der Autonomie gewissermaßen als die beiden Seiten »ein und derselben Münze« verstehen: Das eine gibt es nicht ohne das andere, ungeachtet des Umstandes, dass das eine nicht vollständig im anderen aufgeht. Die Würde des Einzelnen ist, wie dargelegt, untrennbar mit der Würde seiner Mitmenschen verbunden. Ganz ähnlich die Autonomie des Menschen, die nicht von der Autonomie des Mitmenschen zu trennen ist. Es ist daher nicht von ungefähr, dass die jüngste »Deklaration von Genf« des Weltärztebundes im Jahre 2017 in den Wortlaut des ärztlichen Gelöbnisses erstmals – und dies an prominenter Stelle –
40
Kant, I.: GMS AA III, 62 f. (Fn. 4).
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Das Verhältnis zwischen ›Menschenwürde‹ und ›Autonomie‹
eingefügt hat: »Ich werde die Autonomie und Würde meiner Patientin und meines Patienten respektieren.« 41
68. Generalversammlung, Chicago 14. Okt. 2017. Dt. Übersetzung: Bundesaerzte kammer.de/ …/user…/Deklaration_von_Genf_DE_2017, pdf.
41
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https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Kapitel II Vom autonomen Subjekt zu anonymen Kollektiven. Der Prozess der tendenziellen Verlagerung der Wissensträgerschaft. 1. Auf dem Weg zur Wissensgesellschaft 1.1 Wissen und Meinen 1.2 Wissensträgerschaft: vom individuellen Subjekt u. Experten zum anonymen Kollektiv 2. Die heutigen Universitäten: Bildungs- oder reine Ausbildungsstätten? 2.1 Die Universität als Stätte der Wissensproduktion unter Marktbedingungen? 2.2 Statt egalitär elitär? 2.3 Remedur mit Hilfe von »Elite«-Universitäten? 2.4 Standardisierung der Lehrinhalte? 2.5 Ausbildung statt Bildung? 2.6 Marktgängigkeit oder Marktfähigkeit? 2.7 Die Universität als permanente Selbstreform 3. Grenzziehung als wissenschaftliches Erfordernis 3.1 Zur Rolle des Experimentierens 3.2 Grenzziehung auf dem Feld der Ethik 3.3 Vergleichzeitigung von wissenschaftlicher Forschung und ethischer Analyse 4. Orientierungswissen 4.1 Orientierungswissen und Rationalität 4.2 Vom Umgang mit Aporien 4.3 Vermittlung mithilfe von Orientierungswissen 4.4 Rationalität 4.5 System-, Zweck- und Wertrationalität 5. Hindernisse 5.1 Von der Gefahr des Zurückbleibens der Anthropologie 5.2 Drei überkommene Paradigmen
45 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
II · Vom autonomen Subjekt zu anonymen Kollektiven
6. 6.1 6.2 6.3 6.4 7.
Formen der Institutionalisierung ethischer Diskurse Ethikkommissionen und Ethik-Konsile Vom Gesetzgeber vorgeschriebene Ethik-Kommissionen Bürgerkonferenzen Wissenschaft und ethische Konsensbildung Fazit
46 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Auf dem Weg zur sogenannten »Wissensgesellschaft«
Bevor die besonderen gesellschaftlichen Herausforderungen zu thematisieren sind, die den Einzelnen als Träger der Menschenwürde und als autonom betreffen, ist ein kritischer Blick auf die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft vonnöten. Dies gilt allem voran von der Frage, ob sich der Einzelne angesichts des Entwicklungstempos der Wissenschaften noch als Träger von Wissen erfährt, und sodann von der Bedeutung der heutigen Universitäten für die Produktion von Wissen im Allgemeinen und von Formen der Institutionalisierung ethischer Diskurse im Besonderen und schließlich von der Wissensträgerschaft vor dem Hintergrund des Zusammenhangs zwischen sog. ›Orientierungswissen‹ und Rationalität.
1.
Auf dem Weg zur sogenannten »Wissensgesellschaft«
Die wohl wichtigste Voraussetzung für die Schaffung von Orientierung liegt darin, dass der Einzelne als autonomes Wesen sich nicht nur als Objekt gesellschaftlicher Entwicklungen erfährt, sondern sich vor allem als Subjekt von Wissen weiß. Die traditionelle Form der Wissensträgerschaft seitens des individuellen Subjekts ist jedoch seit geraumer Zeit durch die aufkommende Wissensgesellschaft bedroht, in der zunehmend der Experte und nachfolgend eine tendenzielle Anonymisierung der Wissensträgerschaft Platz greifen, mit der Folge, dass der Einzelne sich hinsichtlich gesellschaftlicher und speziell ethischer Herausforderungen vielfach ein eigenes Urteil gar nicht erst zu bilden vermag. Nicht zufällig korrespondiert dies mit dem Druck auf die Universitäten als den traditionellen Stätten des selbstbestimmten Wissenserwerbs, die heutzutage weniger Bildung denn Ausbildung vermitteln, und dies unter Marktbedingungen. Dem skizzierten Sachverhalten sei im Folgenden in sechs Schritten nachgegangen: 1. durch einen kritischen Blick auf das Verhältnis des einzelnen Wissensträgers zur sog. Wissensgesellschaft, 2. durch einen ebensolchen Blick auf die gegenwärtige Situation der deutschen Universität zwischen Bildung und Markt, 3. durch Analyse der Rolle der Grenzziehung als wissenschaftlichen Erfordernisses, 4. durch Vorstellung der Art und Bedeutung des sog. »Orientierungswissens«, das die Voraussetzung für den Umgang mit Verfügungswissen bildet, 47 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
II · Vom autonomen Subjekt zu anonymen Kollektiven
5. 6.
durch Analyse von Hindernissen des Umgangs mit ethischen Fragen, und schließlich durch Vorstellung dreier Formen der Institutionalisierung ethischer Diskurse. 1
1.1 Wissen und Meinen Der Mensch, so der wohlbekannte Einleitungssatz der Aristotelischen ›Metaphysik‹, ist ein Wesen, das »von Natur aus wissen will«. 2 Aristoteles hat dies als eine ebenso selbstverständliche wie komplexe Bedürfniskonstante der menschlichen Natur betrachtet: selbstverständlich, weil jeder Mensch tagtäglich an sich selbst und aus seiner Umgebung erfährt, dass alles Handeln ein Wissen voraussetzt, Wissenserwerb mithin nottut; komplex weil, wie Aristoteles sagt, Wissen nicht ganz so einfach erlangt, gleichwohl aber stets erstrebt wird. Damit deutet der Stagirite an, dass Wissen kein ein für alle Mal abschließbares Resultat, sondern einen Prozess darstellt, der überdies alle Anzeichen eines irrtumsexponierten Versuches an sich trägt. Hiergegen ließe sich einwenden, dass es der Prozess des Wissens ist, der Versuchscharakter haben mag, nicht aber das Ergebnis dieses Prozesses, das Wissen selbst. Doch so richtig es ist, zwischen Wissen als Prozess und Wissen als Ergebnis zu unterscheiden, so lässt sich doch der Charakter der Suche und des Versuches nicht allein dem Ersteren vindizieren. Vielmehr ist auch das Wissen als Ergebnis menschlichen Suchens immer noch der Möglichkeit des Irrtums ausgesetzt, fallibel, wie Charles S. Peirce, der Vater des Pragmatismus, es formuliert hat, 3 bzw. falsifizierbar, so Karl Popper, der führende Vertreter des Kriti-
Das Folgende stellt Ausarbeitungen zweier Publikationen des Vf.s dar: Beckmann, J. P.: Wissen, Rationalität und Orientierungswissen. Zum konsensfähigen Umgang mit aktuellen Debatten, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 14 (2009), 5–21 sowie Beckmann, J. P.: Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, in: Friesen, H. / Berr, K. (Hg.): Angewandte Ethik im Spannungsfeld von Begründung und Anwendung. Frankfurt/Bern/New York 2004, 75–88. 2 Aristoteles Metaphysik I, 980a21. 3 Vgl. Peirce, Ch. S.: Pragmatism (1905), in: ders. Collected Papers 5.411–5.437, hg. v. Ch. Hartshorne u. P. Weiss. Harvard UP. Cambridge, Mass. 1974; dt.: Was heißt Pragmatismus?, in: Texte der Philosophie des Pragmatismus, hg. v. E. Martens. Stuttgart 1975, 99–127 und Ch. S. Peirce, Fallibilism, Continuity and Evolution, in: Collected Papers 1. 141–175. 1
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Auf dem Weg zur sogenannten »Wissensgesellschaft«
schen Rationalismus. 4 Eben deshalb bedarf alles Wissen sowohl als Prozess als auch als Ergebnis der Orientierung, d. h. der Angabe des Koordinatensystems, innerhalb dessen es Ansprüche stellen und Ansprüchen genügen kann. Dabei gilt es, sich gegen das Meinen zur Wehr zu setzen. Im Unterschied zum Meinen, welches wahr oder falsch sein kann, tritt Wissen stets mit dem Anspruch auf, richtig zu sein; »falsches« Wissen gilt logisch insofern als eine contradictio in adjecto. Zwar kann sich Wissen im Nachhinein als Irrtum erweisen, doch dann ist es von vornherein kein Wissen gewesen. So manches, was als Wissen ausgegeben wird, ist kein solches, sondern nur ein Meinen. Der Wissensnachweis bedarf intersubjektiv zugänglicher und überprüfbarer Begründungen und Beweise. Wissen ist mit Gewissheit, Meinen mit Wahrscheinlichkeit verbunden. Meinungen kann man anderen lediglich vortragen; nur das Wissen resp. die Gründe dafür ist anderen wirksam zugänglich zu machen. Wenn jemand sagt, er meine, dass x, können wir ihm vertrauen. Doch erst wenn er sagt, er wisse, dass x, geht es nicht um individuelles Vertrauen, sondern um die intersubjektive Überprüfbarkeit von Gewissheitsansprüchen. Meinen ist situativ bezogen, Wissen ist explikativ offen. 5 Wenn jemand Wissen hat, dann kann dies nicht auf ihn beschränkt sein; man muss ihn vielmehr als einen solchen betrachten, der Mitglied der Gemeinschaft der das Gleiche Wissenden ist. Für ein Nichtmitglied solcher Wissensgemeinschaften hingegen bleibt die Wissensträgerschaft anonym.
1.2 Wissensträgerschaft: vom Individuum über den Experten zum anonymen Kollektiv Auch wenn i. d. R. eine Gesamtheit von Individuen Wissen anstrebt und Träger von Wissen ist, so ist und bleibt es doch der Einzelne, der als das eigentliche Subjekt von Wissen anzusehen ist. An dieser Überzeugung hat sich über die Jahrhunderte hinweg wenig geändert, nur Popper, K. (1935), Logik der Forschung. Wien, Kap. 4, 67–86. In seinem Werk »Die beiden Grundfragen der Erkenntnistheorie«, 2. verb. Aufl. Tübingen 1994, XXI, verweist Popper betr. ›Fallibilismus‹ auf Peirce. 5 Vgl. Stegmüller, W.: Glauben, Wissen und Erkennen, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 10 (1956) 516 f.; ders.: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 1965, 615 f. 4
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II · Vom autonomen Subjekt zu anonymen Kollektiven
dass das Wissen immer spezieller und komplexer geworden und damit immer weniger dem Einzelnen in vollem Umfang zugänglich ist. Letzteres ist besonders augenfällig im Zusammenhang mit der Entwicklung der Naturwissenschaften seit Beginn der Neuzeit der Fall: Das Wissen eines Galileo Galilei, eines Johannes Kepler oder eines Isaak Newton ist zwar als solches immer noch ganz im Aristotelischen Sinne Ausdruck des Wissenwollens des Einzelnen. Doch es sind nur wenige Individuen, denen dieses Wissen zugänglich ist, der Gesellschaft als der Gesamtheit der Individuen bleibt es weitgehend verborgen. Was sich jedoch seit Beginn der Neuzeit herausbildet, ist der Experte. Verständlich ist der Experte mehr und mehr nur den anderen Experten, und so bilden sich mit zunehmender Ausdifferenzierung der Wissenschaften in der Neuzeit Gruppen von Individuen, die über ein gemeinsames Expertenwissen verfügen, sog. Scientific Communities. Die altehrwürdige »Royal Society« des 17. Jahrhunderts in England oder die Berliner »Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften« seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sind leuchtende Beispiele für dieses Paradigma. 6 Bezogen auf den Wissenszugang seitens der Gesellschaft bilden sie Substrukturen, welche sich zwischen dem nach Wissen strebenden Individuum auf der einen und der Gesellschaft auf der anderen Seite etabliert haben. In der Gegenwart haben sich – einer Priesterkaste ähnlich, die das Heilige in einer für den normalen Sterblichen nicht, zumindest nicht unmittelbar, zugänglichen Weise verwaltet –, die wissenschaftlichen Experten und Scientific Communities zwischen den Individuen und der Gesellschaft etabliert. Tendenz: die Errichtung der sog. ›Wissensgesellschaft‹. Die Stelle des einzelnen wissen-wollenden Subjekts des Aristoteles übernimmt zunehmend die Wissensgesellschaft, gleichsam als kollektives Subjekt. Folge: Der Einzelne sieht sich immer weniger einbezogen in den Wissensprozess und erfährt sich immer häufiger vor vollendete Tatsachen gestellt. Er erfährt die sog. Wissensgesellschaft als eine solche, in der das Wissen-Wollen des Individuums zunehmend durch ein Wissen-Müssen des Kollektivs verdrängt zu werden droht. Dagegen wehrt sich das Individuum: Es will an der Entscheidung darüber, was Wissen ist und was nicht, beteiligt werden. Die Situation verkompliziert sich noch dadurch, dass
Royal Academy (London 1660 ff.) und Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften (Berlin 1770 ff.).
6
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Die heutigen Universitäten: Bildungs- oder Ausbildungsstätten?
die traditionellen Stätten der Wissensproduktion, die Universitäten, inzwischen zunehmend unter sachfremden Druck geraten.
2.
Die heutigen Universitäten: Bildungs- oder Ausbildungsstätten?
2.1 Die Universität als Ort der Wissensproduktion unter Marktbedingungen Die universitären Rahmenbedingungen der Schaffung neuen Wissens haben sich in Deutschland in den vergangenen 50 Jahren dramatisch verändert. 7 Das deutsche Hochschulsystem, traditionell geprägt durch die Ideen der Freiheit der Wissenschaftler und der Einheit von Forschung und Lehre sowie durch die Sicherheit staatlicher Alimentation, befindet sich heute in einem Umbruchprozess bisher nicht gekannten Ausmaßes: (1) Wie die Universitäten als ganze geraten auch die Dozenten zunehmend unter den Druck fremder Zwecksetzungen. Forschung wird hochgradig abhängig von nicht-öffentlichen Drittmitteln. Da die Forschung ständig evaluiert wird, sind viele Forscher gezwungen, ihre Forschungsziele eher evaluierungs- und drittmittelorientiert denn individuell und unabhängig zu wählen. (2) Infolge des zunehmenden Rückzugs der öffentlichen Hand werden Forschung und Lehre zwangsläufig den Gegebenheiten des Marktes und damit den Bedürfnissen und Interessen der Wirtschaft ausgesetzt. (3) Die Idee der Einheit von Forschung und Lehre gerät mehr und mehr unter Druck, viele Universitäten drohen zu reinen Lehreinrichtungen zu werden, während die Forschung in außeruniversitäre Einrichtungen abwandert bzw. auf wenige »Elite-Universitäten« konzentriert wird. (4) Es wird vorwiegend nach fachlicher Ausbildung gefragt, personale Bildung und damit die Berücksichtigung des wissen-wollenden Individuums treten in den Hintergrund. Zum Folgenden vgl. Beckmann, J. P.: Das deutsche Universitätssystem im Aufbruch – wohin? Einige Beobachtungen und Überlegungen zur Frage seiner Zukunftsfähigkeit. In: Voigt, K.-I. et al. (Hg.): Wissenschaft als Beruf und Berufung. FS für Horst Albach. Göttingen 2016, 13–20.
7
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II · Vom autonomen Subjekt zu anonymen Kollektiven
(5) Das neue Studiensystem führt, zumindest auf der BachelorEbene, in nicht unerheblichem Maße zur Standardisierung von Wissensinhalten und lässt der individuellen Ausgestaltung des Wissenserwerbs des Studierenden wenig Raum. (6) Hinzukommt, dass die permanente Prüfungssituation der modularisierten Curricula kaum Zeit für individuelle wissenschaftliche Wege während des Studiums lässt. Mit einem Wort: An die Stelle der Universität als unabhängiger Institution mit Freiheitsspielraum für den Einzelnen bei gleichzeitiger Äquidistanz gegenüber Markt und Staat tritt die Universität als Wirtschaftsbetrieb, dessen Wissensangebote sich – und das möglichst kurzfristig – rentieren sollen.
2.2 Statt egalitär elitär? Bisher waren die Universitäten hierzulande in wesentlichen Merkmalen einander gleichgestellt bzw. miteinander vergleichbar: gleiche bzw. vergleichbare Qualifikation der Lehrenden, gleiche Zugangsvoraussetzungen für die Studierenden, gleiche Studiengänge und Examina, gleiche Abschlüsse. Im Vergleich mit ausländischen, insbesondere im Unterschied zu den hierzulande viel gepriesenen englischen und US-amerikanischen Top-Universitäten, war das deutsche Universitätssystem bisher nicht elitär, sondern egalitär. Das beginnt sich radikal zu ändern. Man nehme das Beispiel Forschung, seit Wilhelm von Humboldt bekanntlich konstitutives Merkmal des deutschen Universitätssystems. Schaut man sich zwei der vor geraumer Zeit an deutsche Forscher verliehenen Nobelpreise an, so fällt Dreierlei auf: (1) Beide Nobelpreisträger waren nicht Lehrstuhlinhaber an einer Universität, sondern entstammten renommierten außeruniversitären Forschungsinstitutionen: Der Chemie-Nobelpreisträger Prof. Gerhard Ertl war der ehemalige Leiter des Fritz-Haber-Instituts in Berlin, der Physik-Nobelpreisträger Prof. Grünberg arbeitete am Forschungszentrum Jülich in Nordrhein-Westfalen. (2) Beide haben den Nobelpreis jeweils für Grundlagenforschungen erhalten: Prof. Ertl mit Untersuchungen zum Mechanismus der industriellen Ammoniaksynthese, Prof. Grünberg mit Arbeiten über das magnetische Verhalten von Eisen- und Chromober52 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Die heutigen Universitäten: Bildungs- oder Ausbildungsstätten?
flächen. Auch wenn man heute weiß, dass beide Grundlagenforschungen äußerst wichtige Anwendungsfelder gefunden haben, so war dies doch zu Beginn alles andere als sicher. Prof. Grünbergs Arbeiten z. B. – lange Zeit eher als eine ebenso spezielle wie dem Anschein nach anwendungsferne Sonderforschung betrachtet – haben sich ganz plötzlich als zukunftsweisend für die gesamte Computerindustrie erwiesen, weil auf ihrer Grundlage auf immer kleineren Flächen immer mehr Daten gespeichert werden können. Das alles war nicht vorherzusehen und es ist auch nicht vorhergesehen worden. (3) Beide Forscher hätten weder unter dem gegenwärtigen universitären Lehr- und Administrationsverpflichtungsdruck noch unter der Erwartung, unmittelbar Anwendungsfähiges erforschen zu müssen, ihre grundlegenden Arbeiten durchführen können. Die Jagd nach schnell umsetzbarem Anwendungswissen übersieht die in der Geschichte der Wissenschaften immer wieder vorkommende Nichtvorhersehbarkeits- bzw. Überraschungssituation nahezu vollständig. Angesichts der zunehmenden Abwanderung der Spitzenforschung in außeruniversitäre Forschungseinrichtungen wie die Max-Planck-Institute und des zu Lasten der Grundlagenforschung gehenden Drucks auf die anwendungsorientierte Forschung mit ihren erhofften schnell umsetzbaren Resultaten und der wachsenden Abhängigkeit der Forschung von der Einwerbung von Industriegeldern gerät Alexander von Humboldts (1767–1835) Ideal der »Einheit von Forschung und Lehre« an den Universitäten zunehmend unter Druck. Der »Ausweg« scheint eine Privilegierung weniger Universitäten zu Lasten einer angemessenen Finanzierung der übrigen Hochschulen zu sein. Dies sucht die Politik zu fördern, und zwar mit Mitteln, die geeignet sind, an die Stelle der bisherigen Gleichheit der Universitäten eine Hierarchisierung einzuführen: hier die Ausbildungsstätten, dort die Forschungszentren.
2.3 Remedur mit Hilfe von »Exzellenz-Universitäten«? Weil Politik und die Landes-Ministerien die Universitäten in Deutschland generell nicht mehr finanziell angemessen ausstatten können oder wollen, versucht man es seit geraumer Zeit mit sogenannten »Exzellenz-Universitäten« à la Oxford und Cambridge, 53 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
II · Vom autonomen Subjekt zu anonymen Kollektiven
Harvard, Stanford, Princeton und Yale. Da diese Universitäten bekanntlich über viel Geld verfügen, folgert man, ihre wissenschaftliche Exzellenz könne nur oder zumindest vornehmlich an diesem vielen Geld liegen, und zieht daraus wiederum den Schluss: Wenn man wenigstens einigen deutschen Universitäten sehr viel Geld gibt, dann werden sie umgehend zu deutschen Oxfords und Yales. Übersehen wird, dass z. B. weder Oxford noch Yale 8 gleichsam von heute auf morgen zu »Elite«-Universitäten geworden sind. Vielmehr kann man anhand ihrer Geschichte gut studieren, wie erst langsam und über einen langen Zeitraum hinweg Fakultät um Fakultät stetig immer besser geworden ist. Exzellenz stellt offenbar kein durch viel Geld kurzfristig erzielbares, sondern ein durch wissenschaftliche Anstrengung über längere Zeiträume gewachsenes Ergebnis dar. Das deutsche Konzept der »Exzellenzinitiative zur Förderung von Wissenschaft und Forschung« (2005/6 ff.) hingegen, seit 2017/8 »Exzellenzstrategie« 9 genannt, ist gleich zwei Irrtümern ausgesetzt: erstens dem Fehler anzunehmen, man müsse nur einfach viel Geld in einzelne Universitäten stecken, um zu derartigen Exzellenz-Einrichtungen zu kommen, und zweitens dem Fehler, man könne auf einen Schlag gleich eine ganze Universität zur »Elite-Universität« umwandeln. Fakt ist, dass man in den in Deutschland bisher ausgewählten »Elite-Universitäten« zwar ohne Zweifel eine Reihe von ExzellenzFakultäten auszeichnet, gleichzeitig aber auch das an diesen Universitäten ebenfalls vorhandene Normalmaß in den übrigen Fakultäten fördert. Auf der anderen Seite erhielten Universitäten, die schon immer Exzellenz-Fakultäten vorzuweisen hatten, wie etwa die Bonner Universität 10 mit einer Mathematischen Fakultät von Weltruf, oder Köln mit einer der führenden Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland, anfangs keine entsprechende »Elite«-Förderung. Die Beispielreihe ließe sich fortsetzen: von Münster über Hamburg, Hannover, Frankfurt bis nach Würzburg: Jede dieser Universitäten ver-
Der Vf. kennt beide Universitäten aus eigener Lehr- und Forschungserfahrung (als Ass’t Prof., Yale, Dept. of Philosophy 1967–70 und als Visiting Professor, Oxford Trinity Term 1986). 9 Jahresvolumen (2019): 533 Mio. Euro, davon 148 Mio. Euro für die »Exzellenz-Universitäten«. 10 Inzwischen in das neueste Förderprogramm 2019 ff. unter die »Exzellenz-Universitäten« aufgenommen. 8
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Die heutigen Universitäten: Bildungs- oder Ausbildungsstätten?
fügt über die eine oder andere (häufig über mehrere) ExzellenzFakultäten, die aber infolge der Konzentration der Gelder auf nur wenige »Elite«-Universitäten in den Fördersegen nicht eingeschlossen werden. Es gibt aber in Deutschland bisher keine durchgehend ›mittelmäßigen‹ oder ›guten‹ Universitäten, es gibt nur Universitäten mit jeweils sehr guten und weniger auffallenden Fakultäten. Das wird sich ändern: Universitäten mit guten Fakultäten, die aber nicht das Glück haben, zu den »Elite-Universitäten« gezählt zu werden, werden es in Zukunft sehr viel schwerer haben angesichts der ihnen in immer geringerem Maße zufließenden Mittel. Der ›Preis‹ für die Konzentration der Fördergelder auf wenige Universitäten wird tendenziell eine forschungsmäßige ›Ausblutung‹ der Mehrheit der übrigen Universitäten sein. Dabei könnte man wiederum von Amerika lernen: Der ›Preis‹ für die »Top Ten« in den USA sind die 973 mehr oder weniger unbekannten Colleges und Kleinuniversitäten, von denen niemand spricht, die aber brav und zuverlässig den amerikanischen Bedarf an Akademikern sichern, wie sich denn die USA – und ähnlich England – die Spitzenuniversitäten nicht zuletzt deswegen leisten können, weil die übrigen Hochschulen dafür sorgen, dass es genügend akademisch ausgebildete Fachleute gibt. Pointiert formuliert: Der Preis für die Exzellenz einiger weniger Universitäten ist das Mittelmaß der Mehrheit der übrigen. Mittelfristige Folgen sind die Entkoppelung der Einheit von Forschung und Lehre und die Einengung der Forschungsvielfalt durch zunehmende Abhängigkeit von staatlicher wie nicht-staatlicher Drittmittelforschung Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich sollen alle Universitäten auch in Zukunft Forschung betreiben, nicht nur der notwendigen Basis für die Lehre wegen, sondern auch und vor allem in Hinblick auf wirtschaftlich Umsetzbares. Nur: Wenn neben den begrenzten Mitteln seitens des Staates zunehmend die Wirtschaft die Forschungsgelder vergibt, dann werden naturgemäß die Bedürfnisse und Interessen der Wirtschaft die Wahl der Forschungsschwerpunkte beeinflussen. Folge: Die Universitäten werden tendenziell Wirtschaftsforschungsinstitutionen. Langfristig sich als wichtig erweisende Grundlagenforschungen kann sich manche Universität kaum mehr leisten, denn dafür braucht es Vertrauen, Risikobereitschaft – und viel Kapital. Stattdessen werden die Universitäten gezwungen, kurzfristig erfolgreich erscheinende Forschung zu bevorzugen. Das kann sich übrigens relativ schnell auch zum Nachteil der Wirtschaft auswirken. 55 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
II · Vom autonomen Subjekt zu anonymen Kollektiven
Um Letzteres zu vermeiden sollte die Wirtschaft ihre Forschungsgelder der »Deutschen Forschungsgemeinschaft« anvertrauen und die DFG sollte, wie bisher schon, weiterhin unter strengen wissenschaftlichen Kriterien die förderungswürdigen Projekte auszeichnen, sei es in der Grundlagen-, sei es in der Anwendungsforschung. Auf diese Weise wäre gewährleistet, dass das Marktinteresse, das in der Regel stark an kurzfristigen Erfolgen orientiert ist, nicht das allein ausschlaggebende Interesse ist. Grundlagenerkenntnisse, wie sie die beiden genannten Nobelpreisträger herausgefunden haben, dürften ansonsten in Zukunft wohl kaum mehr erzielt, weil nicht hinreichend gefördert werden. Außerdem würden Projekte (»Cluster«) und nicht ganze Universitäten gefördert werden.
2.4 Standardisierung der Lehrinhalte? Das an den deutschen Universitäten bzw. Fakultäten im Rahmen des sog. Bologna-Prozesses seit 2003 nachgerade im Hauruckverfahren eingeführte Bachelor-/Master-System entspringt dem Gedanken, überschaubare, zeitlich geraffte und international vergleichbare Studienabschlüsse zu schaffen, so dass der Akademiker von morgen seinen Bachelor beispielsweise in Edinburgh und seinen Master in Palermo erwerben kann. Doch um welchen Preis? Die Bachelor- und Master-Studiengänge müssten demnach hoch standardisierte Studieninhalte zum Gegenstand haben. Insbesondere in manchen Bachelor-Studiengängen wüsste dann über kurz oder lang jeder und jede ein und dasselbe. Individuelle Selbstständigkeit, persönliche Neugier, gar das Wagnis, wissenschaftlich eigene Wege zu gehen – das alles würde nicht honoriert resp. drohte auf der Strecke zu bleiben. Und wenn alle Studierenden dasselbe lernen sollen, dann müssten auch alle Dozenten dasselbe unterrichten. Es gehört keine prophetische Gabe dazu vorauszusagen, dass dies auf die Dauer zu einer Regression in die Mittelmäßigkeit führen dürfte. Schon jetzt zieht sich mancher Institutsleiter und Lehrstuhlinhaber zunehmend aus dem Bereich der Pflichtveranstaltungen der Bachelor-Studiengänge zurück und überlässt das Feld jungen Nachwuchswissenschaftlern, die sich ihrerseits infolge übermäßiger Belastung in der Lehre kaum oder nur mit Mühe durch Forschungsleistungen für eine Professur qualifizieren können. Angesichts der zunehmenden Schwierigkeit, die nötigen Mittel für Forschung und Lehre auswärts einzuwerben, sowie der Ver56 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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suchung, nur nachgefragte Studiengänge zu fördern und weniger nachgefragte nicht mehr finanzieren zu können, vor allem aber angesichts der zunehmenden Orientierung an umsetzbarem, marktorientiertem Verwendungswissen sind die Universitäten derzeit damit beschäftigt, so genannte Leitbilder zu entwickeln, die mit Humboldts Idee von der »Einsamkeit und Freiheit« des individuellen Lehrenden und des Studierenden und der »Einheit von Forschung und Lehre« immer weniger zu tun haben. Letzteres hat vor allem für die Geisteswissenschaften Folgen: Von ihnen wird nicht mehr das ›Abenteuer des Geistes‹, sondern das gesellschaftlich Relevante und wirtschaftlich Umsetzbare verlangt. Am ehesten werden sich darauf die Sozialwissenschaften einstellen, da sie wegen ihrer vielfach empirischen Ausrichtung zumindest den Anschein gesellschaftlicher Relevanz und wirtschaftlicher Bedeutung erwecken können. Den klassischen Geisteswissenschaften – Literatur, Sprachen und Geschichte, oft wird auch die Philosophie dazugerechnet – wird dies kaum gelingen, es sei denn, sie geben ihre wissenschaftliche Identität auf. Die Universität als Ort des Ungeplanten, des Unzeitgemäßen und der intellektuellen Aufsässigkeit infolge der Individualität der Wissensträger wird zunehmend der Vergangenheit angehören. Stattdessen wird das den Universitäten von ihrem traditionellen Selbstverständnis her innewohnende Erneuerungspotenzial wirtschaftlich funktionalisiert und das wissen-wollende Individuum vom austauschbaren Durchschnittsakademiker abgelöst. Das alles hat auch folgenreichen Einfluss auf die universitäre Lehre.
2.5 Ausbildung statt Bildung? Wenn heute Staat und Politik die Universitäten fremden Zwecksetzungen zu unterwerfen versucht sind, so geschieht dies nach Gesetzen, die im Konflikt stehen mit den Regeln wissenschaftlichen Handelns und der Tradition universitärer Freiheit – einer Freiheit nicht der Institution, sondern autonomer Individuen, der Lehrenden und Lernenden. Beiden ist es um fundierte Ermöglichung von wissenschaftlichem Denken zu tun, der Politik hingegen um die wählerwirksame Verwirklichung von Erfolgen, der Wirtschaft um profitable Marktresultate. Begünstigt und verstärkt wird die Gefahr der Fremdverzweckung der Universität heute durch je eine interne und eine externe Ursache: intern durch die zunehmende De-Subjektivierung 57 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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und Anonymisierung der Wissensträgerschaft; extern durch finanzielle Abhängigkeiten. Doch Wissenschaft setzt, wie dargelegt, individuelle Subjekte als Wissensträger voraus. Die Universität hat die zentrale Aufgabe, dem ständig erweiterten Wissen gleichsam das Subjekt zu sichern bzw. ggf. wieder zurückzugeben, und mehr noch: das wieder eingesetzte Wissenssubjekt in seiner Autonomie und Selbstbestimmung zu stärken. Doch ist dies mit reiner Wissensvermittlung zu leisten? Diesbezüglich beruft man sich in Deutschland gerne auf das anglo-amerikanische Universitätssystem als großes Vorbild. Es lohnt sich, einmal einen näheren Blick darauf zu werfen. In anspruchsvollen anglo-amerikanischen Bachelor-Studiengängen geht es darum, intellektuelle Disziplin zu fördern, nicht, zumindest nicht in erster Linie, auf eine spätere berufliche oder fachliche Karriere vorzubereiten. Ziel der BA-Studien z. B. an Englands Spitzenuniversitäten ist nicht die Vermittlung breiten, möglichst alle Inhalte eines Faches umfassenden Wissens, sondern, wie es z. B. im »Oxford University Handbook« heißt, »to produce people who understand how to think like philosophers, politicians or economists rather than merely knowing about the subjects«, 11 also die Studierenden dazu anzuleiten, wie Philosophen, Politiker oder Ökonomen denken zu können statt lediglich Fachwissen zu erwerben. Der Studierende soll, bevor er Arzt, Richter, Ingenieur oder Naturwissenschaftler wird, sich in verschiedene Methoden wissenschaftlichen Arbeitens einüben »in order to ensure exposure to a variety of ideas and ways of thinking« – zum Zwecke der Exposition gegenüber einer Vielfalt von Ideen und Denkweisen. 12 Dabei soll die Kombination mehrerer Disziplinen zur geistigen Beweglichkeit (»flexibility of mind«) 13 beitragen. Auch an den Elite-Universitäten in den USA steht bereits im Undergraduate-Bereich die formale Ausbildung im Vordergrund. Statt Wissensinhalte vorzuschreiben, ist der einzelne Student an-
So der BA Philosophy, Politics & Economy (PPE). Vgl. Oxford University Handbook 1967, 13, 384. 12 So soll der Studierende im ersten Studienjahr (»Freshman«) seine Kurse auf ein breites Spektrum von Disziplinen verteilen, um sich so einer Vielfalt von Ideen und Methoden auszusetzen, auch wenn es in der zweiten Hälfte der Undergraduate Studies darum geht, ein Hauptfach (»major«) oder für besonders Begabte ein Doppelhauptfach (»double major«) zu wählen. 13 ibid. 11
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gehalten, »to design his own program of study«, 14 sein Studienprogramm selbst und damit eigenverantwortlich zu gestalten – ganz im Sinne des Theoretikers der Idee der Universität im angelsächsischen Bereich des 19. Jahrhunderts, des »englischen Humboldts« John Henry Cardinal Newman (1801–1890), der forderte: »Das Wesen (universitärer Ausbildung) besteht in der Formung des Geistes« (»mental formation«). 15 Nicht praktisch verwertbares Wissen also, sondern »freies« Wissen und formale Bildung von Individuen sollen vermittelt werden. Die Universität ist nicht einfach der Ort von Wissenschaft und Forschung, sondern der Bildung junger Menschen durch Wissenschaft und Forschung. Die Ausbildung bezieht sich nicht auf kanonisierte Inhalte, sondern orientiert sich an den Bedürfnissen und Interessen des Einzelnen. Die »liberal arts education«, historische Nachfolgerin des mittelalterlichen Programms der »artes liberales«, der »freien Künste«, ist in einem dreifachen Sinne eine »freie« Erziehung: frei von vorgeschriebenem Standardwissen, frei vom Marktdruck unmittelbarer Verwendbarkeit und frei für die Bedürfnisse des Individuums. Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Universitätskonzeptionen ist Wilhelm von Humboldt und Cardinal Newman gemeinsam die Betonung der Freiheit der Wissenschaft, Humboldt insbesondere gegenüber politischen, Newman stärker gegenüber dogmatischen Einschränkungen. Doch während für Humboldt die Sache, nämlich die Idee der Einheit von Forschung und Lehre, im Mittelpunkt steht, nimmt bei Newman das sich methodisch qualifizieren wollende Individuum die zentrale Stelle ein. Während man die deutsche Universität von Anfang an in gewissem Sinne eine Forschungseinrichtung mit angehängter Lehre nennen kann, ist die englische und amerikanische Universität im Undergraduate-Bereich wesentlich eine Lehr-
Vgl. Bulletin des »Yale College Programs of Study« 1968/9, 3: »One of the distinguishing features of liberal education is that it has no single definition. Rather, therefore, than prescribing which specific courses must be taken by all students, Yale College requires that each student design his own program of study, suited to his particular needs and interests, from a multitude of courses available to college students within a university«. Vgl. ibid., p. 4: The student »is encouraged to design his own program for himself«. 15 Cardinal Newman, J. H.: The Idea of a University, Preface XXV. Washington 1999. Nach Newman besteht »der erste Schritt auf dem Weg der Verstandesbildung darin …, dem Geist des Studierenden den Begriff der Wissenschaft, der Methode und Ordnung, des Grundsätzlichen und der Systematik, der Regel und der Ausnahme, des Reichtums und der Harmonie fest einzuprägen«. ibid. 9. 14
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einrichtung vor dem Hintergrund der Forschung. 16 In beiden geht es um die Qualifizierung von Individuen zu Wissensträgern. Es ist nachgerade die Distanz der Zielsetzung gegenüber kurzfristigen »Markterfordernissen« seitens der genannten englischen und US-amerikanischen Ausbildungsziele auf der Undergraduate Ebene, welche einer der Gründe für den Erfolg dieser Universitäten ist. Eine »passgenaue«, »marktkonforme« »Produktion-nach-Maß« von Studierenden bzw. Bachelor-Abschlüssen ist weder an den englischen noch an den amerikanischen Top-Universitäten Kennzeichen anspruchsvoller universitärer Grundausbildung. Stattdessen wird die seit der Antike bestehende Einsicht verwirklicht, dass der Terminus »wissenschaftlich« in erster Linie einen Modus der Methode und nicht eine feststehende Menge von Inhalten bezeichnet und insoweit individuelles Können meint, sich selbständig und anspruchsvoll mit Fragen und Problemen zu befassen. Zukunftsfähigkeit durch Methodentraining könnte man dies nennen, oder auch Vorbereitung auf berufliche Flexibilität.
2.6 Marktgängigkeit oder Marktfähigkeit? Im Laufe ihrer immerhin über 800-jährigen Geschichte haben die europäischen Universitäten immer wieder vor der Situation gestanden, sich als Kaderschmieden für festgelegte Laufbahnen selbst (miss-) zu verstehen oder von anderen (miss-) verstanden zu werden. Jahrhunderte lang sind es Kirchen und Landesfürsten gewesen, die derartige Erwartungen an die Universitäten herangetragen haben; in unseren Tagen sind es Staat und Politik, die dies tun; in Zukunft wird es mehr und mehr der Markt sein. Wie auch immer: Marktgängigkeit mag ein Wunsch sein, doch da man den Markt von morgen noch nicht kennt, kann Marktgängigkeit nicht das Hauptkriterium für die Festlegung der universitären Aufgaben in Forschung und Lehre sein. In Das schon zitierte Yale College Program of Study definiert eine Lehrveranstaltung wie folgt: »A course is simply a group of students examining a particular subject under the direction of someone who has studied it before«. l. c., p. 1. Hier steht die Gruppe der Studierenden im Mittelpunkt; sie, nicht der Dozent, ist Trägerin des Untersuchungsprozesses; der Dozent ist aufgrund des Umstandes, dass er den Gegenstand schon kennt, der Leiter. In Deutschland hingegen würde das Äquivalent zu obiger Aussage lauten: »Ein Kurs ist ein bestimmter Lehrinhalt, den der professorale Kursleiter erarbeitet hat und der von den Studierenden gelernt werden muss«.
16
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Wirklichkeit gilt es, nachhaltige Professionalisierung anstelle kurzfristiger Berufsbezogenheit zu erreichen. Spätestens seit es in vielen Einzelwissenschaften einen immer schnelleren Umschlag (»turn over«) bisherigen Wissens in neues Wissen gibt, ist nicht die Kenntnis standardisierter und kanonisierter Wissensinhalte, sondern der Erwerb und die Verbesserung methodisch reflektierter Etablierung von Wissen angesagt. Disziplinarität statt Doktrinalität könnte man dies in Anlehnung an den mittelalterlichen Sprachgebrauch nennen. 17 Denn: »Die Universität hat die Aufgabe, die Wahrheit in der Gemeinschaft von Forschern und Schülern zu suchen«, so Karl Jaspers zu Beginn seiner 1946 angesichts der nationalsozialistischen Katastrophe und des Versagens auch der deutschen Universität erschienenen Überarbeitung seiner erstmals 1923 veröffentlichten Schrift »Die Idee der Universität«. 18 Wirkliche Gemeinschaft kann es nur unter Freien geben. Was Wahrheit angeht, so ist Jaspers überzeugt, dass damit die Suche nach der Wahrheit gemeint ist, nicht ihr Besitz. Dazu bedarf es der Freiheit der Lehrenden wie der Lernenden. Marktkonformität kann hierzu nicht als Kriterium dienen, denn der Markt ist nicht wahrheits-, sondern seiner Natur nach erfolgsorientiert. Das Zurichten wissenschaftlichen Wissens und universitärer Lehre unter dem alleinigen oder auch nur vorrangigen Kriterium des Marktes kommt nicht nur einem Selbstmissverständnis der Universität gleich, es ist zugleich der schlechteste aller Dienste, den die Universität dem Markt anbieten kann. Denn der Markt braucht Disziplin, nicht Doktrin, er braucht Menschen, die nicht nur Wissen erworben, sondern auch und vor allem gelernt haben, wie man neues Wissen generiert. Es ist nachgerade die Besonderheit der Idee der Universität als einer Gemeinschaft diszipliniert suchender Individuen gegenüber den wechselnden Bedürfnissen des Marktes, die die Universität so aktuell für den Markt macht. Auch der Markt nämlich würde sich selbst missverstehen, wollte er sich doktrinell verstetigen; auch er muss ganz im Gegenteil offen sein für zukünftige Entwicklungen.
Schon in der ausgehenden Antike und vor allem im Mittelalter war der Unterschied zwischen dem methodisch kontrollierten Wissenserwerb (»disciplina«) und dem Resultat desselben (»doctrina«) wohlbekannt. Das doktrinelle, mit Autorität behauptete Wissen stand und steht dem disziplinären, mit Könnerschaft etablierbaren Wissen, gegenüber. 18 Jaspers, K.: Die Idee der Universität. Vorwort. Berlin & Heidelberg 1946. 17
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2.7 Die Universität als permanente Selbst-Reform Indem man zu allen Zeiten versucht hat, sich die Universität nach irgendwelchen externen »Bedürfnissen« zurechtzurichten, hat man das stets »Reform« genannt. Doch die Universität kann man nicht durch Beschränkungen von außen »reformieren«, ohne ihre Idee zu zerstören. Die Universität ist selbst ihre permanente Reform, ihr Wesen besteht darin, sich selbst Grenzen zu setzen. Dabei vollzieht sich ihr Verhältnis zur Tradition in Form einer Rezeption durch Transformation. Von außen herangetragene Beschränkungen universitärer Freiheit sind ausnahmslos begründungspflichtig, sie bedeuten vielfach nicht Aufbruch, sondern Abbruch, nicht autonome Selbst-, sondern heteronome Fremdbestimmung. Einzig die Autonomie und Freiheit des Individuums ermöglichen den Aufbruch ins Unbekannte. Experimentieren ist gleichsam das »Atmen« der Universität, dabei erforderliche Grenzziehungen durch kritische wissenschaftliche Selbstkontrolle sind nachgerade ein Grundmerkmal derselben. Wissenschaftler experimentieren mit dem Ein- und Abgrenzen und ziehen dabei ständig neue Grenzen. Zugleich tun sie dies innerhalb von Grenzen: Man kann nicht wissenschaftlich mit Grenzen experimentieren, ohne selber Grenzen einzuhalten. Nur: Die Grenzen, mit denen Wissenschaft experimentiert, von denjenigen zu unterscheiden, innerhalb derer sie experimentiert, bildet eine der schwierigsten Herausforderungen an die Wissenschaftlergemeinschaft. Sie muss sich ihr gleichwohl stellen. Um dies zu können, muss sie beides voneinander zu unterscheiden wissen. 19
3.
Grenzziehung als wissenschaftliches Erfordernis
Dass die Idee der Universität und ihrer Freiheit mit der Idee der Grenzziehung eng verbunden ist, hat zunächst und zuvorderst seinen Grund im Konzept von Wissen und Wissenschaft selbst: Grenzziehung bildet eine der Voraussetzungen von Wissenschaft. Das beginnt mit dem Begriff, der de-finiert, also ein- und abgegrenzt werden muss. Ohne »auf den Begriff gebracht worden zu sein« ist nichts wissenschaftsfähig, d. h. kann nichts zum Gegenstand von Wissenschaft Das Folgende geht auf einen unveröffentlichten Vortrag des Verfs. im Kontext der 550-Jahrfeier der Universität Freiburg am 20. 9. 2007 zurück.
19
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Grenzziehung als wissenschaftliches Erfordernis
werden. Hegel hat dies auf den Punkt gebracht: »Etwas ist nur in seiner Grenze und durch seine Grenze das, was es ist«. 20 Es handelt sich hierbei freilich um eine Einsicht, die sich bereits bei den Anfängen wissenschaftlichen Fragens und Suchens bei den Griechen findet: Sokrates insistierte bekanntlich in seinen Gesprächen mit seiner »Was ist …« – Frage auf genaue Bestimmungen des Diskussionsgegenstandes. Mit Recht nennt ihn sein »Enkelschüler« Aristoteles »den Entdecker des Logischen«, 21 für den der ›lógos‹, der logische Gedanke, und das ›horízein‹, das Begrenzen, untrennbar miteinander verbunden sind. Etwas bestimmen heißt seither ein Zweifaches: es eingrenzen und abgrenzen; Ersteres, um die Besonderheiten herauszustellen, Letzteres, um es von Anderem unterscheiden zu können. Erst wissenschaftliche Grenzziehung ermöglicht Erkenntnis. Heute setzen Politik, Gesetze, finanzielle Engpässe und wirtschaftliche Erwartungen den Universitäten und den in ihnen Tätigen Schranken. Schranken sind nicht dasselbe wie Grenzen: Grenzziehungen ermöglichen Wissenschaft, Schranken behindern sie. Grenzen sind intrinsisch und natürlich, Schranken extrinsisch und willkürlich. Grenzen werden gezogen, um Identität zu stiften und wahren. Auf die individuelle Freiheit der Universitätsangehörigen übertragen: Schranken, wer immer sie errichtet, knebeln, Grenzen hingegen, gewissenhaft und verantwortungsvoll gezogen, eröffnen den Blick auf neue Möglichkeiten. Wenn heute Staat und Politik die Universitäten und ihre Mitglieder fremden Zwecksetzungen zu unterwerfen suchen, so geschieht dies nach Gesetzen, die im Konflikt stehen mit den Regeln wissenschaftlichen Handelns und dem Ethos universitärer Selbstkritik: Der Universität ist es, wie gesagt, um verantwortbare Ermöglichung von Wissen zu tun, der Politik um die wählerwirksame Verwirklichung von Erfolgen. Ersteres setzt die Möglichkeit der Freiheit und die Fähigkeit des Experimentierens voraus, Letzteres beides eher nicht. Zu Ersterem causa brevitatis ein kurzer Hinweis.
20 21
Hegel, G. W.: Enzyklopädie der Wissenschaften 3 § 92. Aristoteles, Metaphysik I, 6; 987b2 ff.
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3.1 Zur Rolle des Experimentierens Wissenschaftliche Erkenntnis heißt: Aufbruch ins Zukünftige und zugleich Ungewisse. Dies hat mit Experimentieren 22 zu tun. Dasselbe geht alles andere als planlos vor. Schon Francis Bacon, der Vater des neuzeitlichen Empirismus, hat die – unwissenschaftliche – experientia vaga von der eigentlich wissenschaftlichen Erfahrung, der experientia scientifica, unterschieden: Diese schreitet planvoll vom bisher Bekannten zum Unbekannten voran, während jene gleichsam »im Nebel herumstochert«, so Bacon. 23 Wenn es im Deutschen heißt, Erfahrungen würden »gemacht«, so ist damit keineswegs gemeint, man stelle Erfahrungen her. Ganz das Gegenteil ist der Fall: Erfahrungen stoßen einem zu, überraschen einen, sei es positiv oder negativ. Anders die im Wortsinn gemachten, d. h. planmäßig – etwa durch Instrumente oder Versuchsreihen – gesuchten bzw. herbeigeführten Erfahrungen. Kriterium ist das Experiment: Es wird, wie es bei Bacon heißt, »kunstvoll ausgedacht«, 24 heute würde man sagen: lege artis angewendet. Bloße Erfahrung verdankt sich dem Zufall, methodisch etablierte dem wissenschaftlichen Experiment. Das Experiment stellt, so die geläufige Metapher, eine »Anfrage des Wissenschaftlers an die Natur« dar. 25 Dabei müssen sich Experimente jederzeit und von jedem in der Sache Kundigen reproduzieren lassen. Hier wird deutlich, dass sie über den Einzelnen hinausgehen: Das wissenschaftliche Experiment ist seiner Natur nach eine Angelegenheit aller an experimentell etablierten Erfahrungen und den darauf möglicherweise aufbauenden Erkenntnissen Beteiligten, eben der Scientific Community. Niemand vermag als Einzelner allein und nur für sich Experimente durchzuführen: entweder deswegen nicht, weil er in den »Wellen«
Zum Folgenden vgl. den Art. ›Experiment‹ von G. Frey im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2, Sp. 868–70. Basel 1976. 23 Bacon, F.: Novum Organon / Neues Organon. Lat.-dt. in 2 Bd. hg. von W. Krohn. Hamburg 1990, 49. 24 »secundum artem excogitata«. Bacon, F.: Instauratio magna / Große Erneuerung der Wissenschaften. Lat./dt. hg. von R. Nölle. Hamburg 2008, 138. 25 Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der »Antwort« herrscht unter den Wissenschaftstheoretikern Dissens: Die einen (die Induktionisten und Empiristen) behaupten, aus einer hinreichenden Anzahl von Experimenten mit gleichem Ausgang ließen sich Verallgemeinerungen ableiten; die anderen (die Anti-Induktionisten und AntiEmpiristen) stellen eben dies radikal in Frage: Experimente besitzen lediglich Findungs- und Bestätigungscharakter, keine Begründungsfunktion. 22
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Grenzziehung als wissenschaftliches Erfordernis
subjektiver Erfahrung unterginge, 26 oder deswegen nicht, weil er seine Resultate als Einzelner nicht zu bestätigen vermöchte. Experimentieren ist nicht nur ein planvolles Tun, es ist zugleich eine gemeinsame Unternehmung. Beides aber setzt autonome Individuen und eine Gemeinsamkeit der verwendeten Prinzipien und geteilten Annahmen voraus – Prinzipien und Annahmen, die dem einzelnen Forscher vorausgehen und gleichsam apriorischer Natur sind. Kant hat es wie folgt auf den Punkt gebracht: »Die Vernunft (sieht) nur das (ein), was sie selbst nach ihrem Entwerfen hervorbringt, dass sie mit Principien ihrer Urtheile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nöthigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse … Die Vernunft muss mit ihren Principien, nach denen allein übereinstimmende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen lässt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt«. 27
Als logische, semantische und wissenschaftstheoretische Forderung ist denn auch die Grenzziehung in den Wissenschaften seit jeher akzeptiert. Anders steht es mit der Frage, wie weit die Grenzziehung auch als ethisches Erfordernis erkannt und anerkannt ist.
3.2 Grenzziehung auf dem Feld der Ethik Wenn es, um ein Beispiel zu nennen, in der humanen embryonalen Stammzellenforschung um den Schutz menschlichen Lebens auch in seinen frühesten Formen bei gleichzeitiger Respektierung der Freiheit des Forschers geht, so bieten sich verschiedene Handlungsweisen an: 1. rechtliche Verbote, also Grenzziehung durch Gesetzeszwang; 2. selbstauferlegte Begrenzung seitens der Wissenschaftlergemeinschaft, mithin Grenzziehung in Freiheit; und schließlich 3. Überantwortung der Entscheidung an den einzelnen Wissenschaftler, also Grenzziehung durch das persönliche Gewissen des Einzelnen. Jede der drei Handlungsoptionen hat ihre eigenen Besonderheiten: 26 27
Vgl. Bacon, F.: Vorrede zur Instauratio magna (Fn. 24), 128. Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft B XIII; AA III, 10.
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(1) Grenzziehung vermittelst gesetzlichen Zwangs bedeutet genau genommen externe Beschränkung: Der Wissenschaftler sieht sich in die Schranken des Gesetzes verwiesen. Nicht seine Einsicht oder sein Gewissen sind gefragt, sondern seine Pflicht zum Gesetzesgehorsam. Entspricht er den Forderungen des Gesetzes nicht, hat er Sanktionen zu gegenwärtigen. Dabei wird ihm eine evtl. Berufung auf die Freiheit der Forschung nach Art. 5 GG nicht helfen: Wer die Forschungsfreiheit z. B. in Sachen Stammzellenforschung zu weit auslegt, setzt sich der Gefahr der Strafverfolgung aus: Das deutsche Stammzellgesetz ist in Teilen ein Strafgesetz; es legt fest, dass bestimmte Weisen des Umgangs mit humanen embryonalen Stammzellen (hES) gesetzwidrig und damit illegal und strafwürdig sind. Grenzziehung durch gesetzlichen Zwang hat freilich den unbestreitbaren Vorzug der Effektivität: Strafbarkeit betrifft alle und hat eine abschreckende Wirkung. Doch ist der Preis hierfür hoch: Nicht dem Gewissen des einzelnen Forschers noch dem Ethos der Scientific Community wird die Kraft der Grenzziehung zugetraut; vielmehr tritt Zwang an die Stelle des Vertrauens auf die Kraft des wissenschaftlichen Ethos bzw. des Gewissens des einzelnen Forschers. Dabei wird leicht übersehen, dass nicht alles, was legal, also gesetzlich nicht untersagt ist, eo ipso auch legitim, d. h. ethisch zulässig ist. Zum Misstrauen gegenüber den Wissenschaftlern tritt das Missverständnis im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Legalität und Legitimität hinzu. (2) Im Unterschied hierzu gibt es die selbstauferlegte Begrenzung infolge des Ethos der Wissenschaftlergemeinschaft. Sie bedeutet den freiwilligen Verzicht auf ein extensives Austesten der Forschungsfreiheit. Die Effektivität dieser Lösung steht und fällt mit der Frage, ob die Scientific Community sich geschlossen daran hält oder nicht. Falls sie es tut, tritt an die Stelle des Gesetzeszwangs das Ethos freiheitlicher Selbstbegrenzung. Die Wissenschaftlergemeinschaft legt fest, ob und wenn ja, welche Formen etwa der hES-Forschung ihrem Ethos widersprechen, mithin illegitim sind, und welche nicht. Die selbstauferlegte Begrenzung seitens der Wissenschaftlergemeinschaft hat den Vorzug, dass der Wissenschaft nicht nur Verantwortung zugetraut wird, sondern auch und vor allem, dass sie ihre ureigene Doppelaufgabe, Wissen und Gewissen miteinander zu verbinden, selbständig – und nicht nur am Gängelband von Gesetz, Parlament 66 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Grenzziehung als wissenschaftliches Erfordernis
und Politik – wahrnehmen kann. Dies hat freilich ebenfalls seinen Preis: Was tun, wenn das Ethos der Scientific Community versagt? Das Versagen auch der Wissenschaft im 3. Reich ist und bleibt eine bedrückende Erinnerung. (3) Eine Überantwortung der Entscheidung an den einzelnen Wissenschaftler hat zur Folge, dass das individuelle Gewissen im Mittelpunkt steht. Das Gewissen des Einzelnen entscheidet, ob und wenn ja, welche Weisen der hES-Forschung für den einzelnen Forscher mit seinem Gewissen vereinbar sind. Dies hat den Vorzug größtmöglicher Liberalität, aber den doppelten Nachteil der Irrtumsexposition von Individuen und der möglichen Relativierung des Ethos der Wissenschaft. Im Fall der Stammzellenforschung z. B. hat man sich in Deutschland bekanntlich für die erstgenannte Option, die Gesetzeslösung und damit gleichsam für den »Zwang zur Ethik« entschieden, indem der Gesetzgeber festgelegt hat, wie, d. h. in welchen Grenzen der einzelne Forscher die Abwägung zwischen dem Respekt vor dem Schutz des Embryos auf der einen und der Inanspruchnahme des Rechts auf Forschungsfreiheit auf der anderen Seite vorzunehmen hat. Ein »Gesetzeszwang zur Ethik« ist insofern gegeben, als im Rahmen der Überprüfung des Antrags auf Einfuhr und Verwendung von hES vom Forscher verlangt wird, den Nachweis der Erfüllung vom Gesetzgeber genau festgelegter Kriterien zu erbringen. 28 Zweifellos geht es in unserem Beispiel beim Schutz auch der frühen Formen menschlichen Lebens auf der einen und der Freiheit der Forschung auf der anderen Seite um ethisch-rechtliche Normen von unbestreitbarer Fundamentalität, deren Beachtung nicht dem Belieben des Einzelnen überantwortet werden kann. Gleichwohl ist zu fragen, ob der Gesetzeszwang unter dem Gesichtspunkt, dass moralisch anspruchsvolles Handeln immer schon Freiheit und eben nicht Zwang voraussetzt, die optimale Lösung darstellt. Auch ein »Gesetzeszwang zur Ethik«, so effektiv er sein mag, schützt nicht vor neuen ethischen Herausforderungen. Dies hat seinen Grund in einem Grundmerkmal der Forschung und ihrer Aufgabe zukunftsorientierten Experimentierens: Mit jeder neuen wissenschaftlichen Erkenntnis entsteht die Pflicht für den einzelnen Wissenschaftler als Wissensträger zur erneuten Reflexion darüber, ob die bisherigen ethischen Grenzziehungen noch rechtfertigungsfähig sind oder nicht. D. h.: Auch der Geset28
§ 8 Stammzellgesetz (StZG). Näheres siehe unten unter 6.2.
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zeszwang vermag nicht die Kernaufgabe von Universität und Wissenschaft zu ersetzen, die darin besteht, stets in Wahrnehmung ihrer Freiheit sich selbst Grenzen zu setzen und nicht sich externe Beschränkungen auferlegen zu lassen.
3.3 Vergleichzeitigung von wissenschaftlicher Forschung und ethischer Analyse Nicht nur der Einzelne, auch die Wissenschaften bedürfen des Dialogs mit der Ethik, wollen sie sich nicht selbst missverstehen. Denn die Wissenschaften sind nicht wertfrei, sie bilden keinen »ethikfreien Raum«. Die Ansicht, erst werde geforscht und erkannt und dann sei nach den Grenzen zu fragen und ggf. Grenzziehungen vorzunehmen, ist überholt, sie beruht auf einem vormodernen Verständnis von Wissenschaft als einem (ethisch) neutralen Umgang mit der Natur, welche sich ihrerseits schon wehren wird, wenn etwas »zu weit geht«. Die Natur ist kein Subjekt, sie kann sich nicht »wehren«; insbesondere nicht, seit der Mensch sowohl die Bausteine der Materie als auch die Baupläne des Lebens zu erfassen und zu manipulieren begonnen hat. Denn anders als Jahrhunderte zuvor entdecken die Wissenschaften nicht nur bestimmte Sachverhalte in der Natur, sondern sie suchen die Natur und damit den Menschen fortlaufend zu ändern. Gerade diesbezüglich hat die beschriebene Tendenz der De-Subjektivierung des Wissensträgers zur Folge, dass gewichtige Zusammenhänge für den Einzelnen im Dunkeln bleiben. Dass die Philosophie, deren traditionelles Wappentier die Eule der Minerva ist, gleichsam erst nach Einbruch der Dämmerung ihre Stimme erhebt, also dann, wenn das Tagesgeschehen in den Wissenschaften gelaufen ist, kann daher nicht mehr als eine zeitgemäße Vorstellung gelten. Was heute angesagt erscheint, ist eine Vergleichzeitigung des Dialogs zwischen den Wissenschaften und der Philosophie, zwischen methodisch-kontrollierter und philosophisch-ethischer Grenzziehung. Halten wir fest: (1) Wer die Universitäten und die Wissenschaftler durch externe Beschränkungen zu gängeln sucht, der beraubt sie ihres innovativen Zukunftspotenzials. Dasselbe können Universitäten und Wissenschaftler nur auf der Grundlage der Freiheit entfalten. Denn: Beschränkungen sind stets zwangsbezogen, Wissenschaft hingegen ist wesentlich neugier- und experimentorientiert. 68 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Grenzziehung als wissenschaftliches Erfordernis
(2) Marktkonformität kann nicht als Kriterium für den universitären Wissenserwerb dienen, denn der Markt ist nicht erkenntnis-, sondern seiner Natur nach erfolgsorientiert. Der Markt jedoch braucht Menschen, die nicht nur Wissen erworben, sondern auch und vor allem durch Wissen gelernt haben, selbständig neues Wissen zu generieren. (3) Die Universität ist nicht einfach der Ort von Wissenschaft und Forschung, sondern der Bildung durch Wissenschaft und Forschung – und nicht nur, wie in Deutschland traditionell üblich, für Wissenschaft und Forschung. Das setzt Neugier und Experimentierlust voraus. (4) Wer wissenschaftliche Neugier mit Grenzenlosigkeit gleichsetzt, übersieht das Ethos der Grenzziehung. Dasselbe beruht darauf, wissenschaftliche Neugier und Experimentierfreudigkeit stets einer doppelten Kontrolle zu unterziehen: der wissenschaftlichen, welche fragt, unter welchen Bedingungen und innerhalb welcher Grenzen eine bestimmte Methode und ein bestimmtes Ergebnis Geltung beanspruchen können, und der ethischen, welche prüft, ob eine gegebene wissenschaftliche Methode oder Einsicht mit Recht Anspruch auf Förderung des Humanum und damit auf Moralität erheben kann. (5) Von einer »Moralisierung« von Wissenschaft trennt das Ethos der Grenzziehung der Umstand, dass dasselbe nicht von außen an die Wissenschaft herangetragen wird, sondern ihr immanent ist: Wissenschaft bedarf genau genommen nicht der Grenzziehung, sie ist permanente Grenzziehung. Daher kann man die Universität nicht durch Beschränkungen von außen »reformieren«, ohne ihre Idee zu zerstören. Die Universität ist selbst ihre permanente Reform. (6) Ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für das Ethos der Grenzziehung bildet die heutige Entwicklung der zunehmenden Ersetzung des konkreten individuellen Wissenssubjekts infolge einer wachsenden De-Subjektivierung und Anonymisierung der Wissensträgerschaft durch die sog. »Wissensgesellschaft«, die sich Schritt für Schritt etabliert und die sich durch das bestimmt, was die Wissenschaften als anonymes Kollektivsubjekt sagen. Damit beantwortet sich die Frage, wie man mit Grenzen experimentieren und zugleich innerhalb von Grenzen verbleiben kann: indem man begreift, dass mit jeder neuen Erkenntnis neue Grenzen – wissenschaftliche wie ethische – offenkundig werden. Ziel ist die Eta69 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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blierung von Verfügungswissen. Dazu aber bedarf es eines vorausgehenden Orientierungswissens. 29
4.
Orientierungswissen
Die Zeiten, in denen man vom 6. (Einschulung) bis zum 26. Lebensjahr (erster akademischer Abschluss) lernt, um das Erlernte dann 40 Jahre beruflich zu verwenden, sind spätestens seit dem schnellen turn over des Wissens in vielen Disziplinen endgültig vorbei. Für die Zukunft ist weniger fachliche Ausbildung denn formale Bildung angesagt. Studierende müssen anhand der Analyse der Probleme von heute lernen, sich auf die Lösung der Probleme von morgen durch flexible Professionalisierung vorzubereiten. Man fixiert sich nicht auf einen Markt, der sich zum Zeitpunkt des Studienabschlusses möglicherweise schon wieder verändert hat, sondern bereitet sich durch selbstbestimmtes paradigmatisches Lernen auf z. T. unerwartete künftige Herausforderungen und Aufgaben vor. Dauerhafte Professionalisierung von Individuen statt kurzfristiger Berufsfeldbezogenheit von Kadern könnte man dies nennen. Wenn sich nun aber die Wissensträgerschaft, wie zu befürchten ist, vom einzelnen Subjekt zunehmend auf die anonyme Wissensgesellschaft verlagert, dem Wissen mithin das individuelle Subjekt abhanden zu kommen droht, stellt sich in einer demokratischen, offenen, sich als aufgeklärt verstehenden Gesellschaft die Frage, wie mit der Anonymisierung der Wissensträgerschaft umzugehen ist. Eine angemessene Antwort hierauf ist nur möglich, wenn dem Bürger neben Wissen Orientierung angeboten werden kann. Dazu bedarf es in verstärktem Maße der Etablierung von sog. »Orientierungswissen«. Was ist damit gemeint? Der Begriff der ›Orientierung‹ entstammt der Geographie und meint dort bekanntlich das sich Zurechtfinden in einem Koordinatensystem. Klassisches Beispiel hierfür ist die seit I. Newton und G. W. Leibniz 30 diskutierte Frage nach der Absolutheit bzw. Relationalität Vgl. Mittelstraß, J.: Für und wider Wissenschaftsethik, in: ders.: Wissen und Grenzen. Philosophische Studien. Frankfurt/M. 2001, 75 ff. 30 Vgl. Clarke, S.: A Collection of Papers which passed between the late learned Mr. Leibniz and Dr. Clarke in the years 1715/1716, relating to the Principles of Natural Philosophy and Religion. London 1717; dt.: Clarke, S.: Der Briefwechsel mit G. W. Leibniz von 1715/1716. Hamburg 1990. 29
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des Raumes (und der Zeit), die u. a. mit dem Problem verbunden ist, ob es im Raum ausgezeichnete ›Orte‹ zwecks Orientierung gibt. Eine derartige Orientierungsmöglichkeit setzt naturgemäß einen Orientierungs-»punkt« voraus, etwa als Anhaltspunkt oder Horizont, durch den bzw. innerhalb dessen Orientierung möglich ist. Philosophisch meint der Begriff ›Orientierung‹ ein Zweifaches: zum einen ein Sich-Einstellen auf etwas und zum anderen ein SichRichten nach etwas. Sich orientieren heißt, sich zurechtzufinden suchen, sich zu bemühen, einen Überblick zu erhalten und/oder Anhaltspunkte für die Klärung selbstgesetzter Ziele zu gewinnen. Dies kann wiederum durch zwei ganz unterschiedliche Ausgangsereignisse ausgelöst sein: zum einen durch ein Sich-nicht-(mehr)-Auskennen, ein nicht mehr Weiterwissen als Folge dessen, was man seit alters her ›Aporien‹ nennt; zum anderen durch ein Sich-nicht-mehrmit-dem-Widerstreit-abfinden-wollen. Beides verstärkt sich infolge der traditionellen und immer noch vorherrschenden Vorliebe des nach Wissen strebenden Individuums für das Sichtbare und Einsehbare. Dies zeigt sich schon im Vorherrschen visueller Begrifflichkeit: So geht das deutsche Wort ›Wissen‹ auf die indogermanische Wurzel vid = sehen (vgl. lat. videre) zurück. Das, was von sich her sichtbar ist, das E-vidente, gilt als das eigentlich Wissbare. Im abendländischen Denken hat man in Bezug auf das Wissen stets diesen eidetischen, visuellen Charakter besonders betont. Wissen bedeutet demnach, Einsichten (!) gewinnen bzw. besitzen; das Evidente ist dasjenige, das jedermann, der zu sehen imstande ist, zugänglich ist. Doch Einsicht findet sich naturgemäß stets auf Seiten des Subjekts, Evidenz hingegen stets auf Seiten des Objekts. So kann jemand sagen: »Ich habe folgende Einsicht«, nicht aber: »Ich habe folgende Evidenz«. Einsicht ist ein Zustand von Subjekten, Evidenz hingegen eine Eigenschaft von Sachverhalten. Doch worin gründet der Zusammenhang zwischen Orientierungswissen und Vernunfthaftigkeit bzw. Rationalität?
4.1 Orientierungswissen und Rationalität Der sachliche Zusammenhang zwischen Orientierungswissen und Rationalität wird deutlich, wenn man sich das Folgende vergegenwärtigt: Orientierungswissen ist im Unterschied zum wissenschaftlichen Wissen nicht vom Subjekt als seinem Träger ablösbar. Das hat seinen 71 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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Grund darin, dass dem Orientierungswissen untrennbar ein Selbstbezug zu eigen ist: Es ist seiner Natur nach reflexiv; man orientiert sich; Orientierungswissen gibt dem wissenschaftlichen Wissen mithin das Subjekt zurück. Hinzu kommt: Anders als wissenschaftliches Wissen, das sich als Verfügungswissen präsentiert, stellt das Orientierungswissen ein Anleitungswissen dar. Während das Verfügungswissen seiner Natur nach partikular und objektbezogen ist, erweist sich das Anleitungswissen als universal und subjektbasiert. Im orientierenden Anleitungswissen tritt an die Stelle des anonymen Wissenschaftssubjekts das sich seiner selbst vergewissernde individuelle Subjekt. Alles Wissen ist daher in der einen oder anderen Weise auf Orientierungswissen angewiesen. Es ist Aufgabe des Orientierungswissens, die Einheit der Vernunft angesichts der Vielheit des Verfügungswissens einzufordern bzw. zu sichern. Dazu bedarf es der Fähigkeit zum Umgang mit Aporien. 31
4.2 Vom Umgang mit Aporien Der aus dem Griechischen stammende Ausdruck ›aporía‹ 32 meint wörtlich das Fehlen eines Durchgangs und in übertragenem Sinne den Mangel eines Auswegs aus einer sachlichen Schwierigkeit bzw. aus der daraus resultierenden Situation der Verlegenheit oder Ratlosigkeit. Aporien treten gewöhnlich dann auf, wenn es in einer gegebenen Fragestellung mehrere Antwortansätze gibt, die je für sich genommen konsistent erscheinen, miteinander aber nicht vereinbar sind, bei gleichzeitigem Fehlen eines überzeugenden Arguments dafür, welchem Lösungsansatz der Vorzug vor den anderen gebührt. Als Reaktion auf Aporien haben sich in der Geschichte des Denkens schon früh drei Ansätze entwickelt: (a) zum einen die Skepsis, für die Aporien eine Art Selbstzweck darstellen, sodann (b) die Heuristik, für die Aporien eine im wesentlichen methodische Funktion besitzen, und schließlich (c) die Systematik, für die Aporien konstruktive Elemente im Umgang mit einander widerstreitenden TheoDas Folgende enthält Übernahmen aus Beckmann, J. P.: Art. ›Aporie‹, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. I, Sp. 849–850. Freiburg 1994. 32 von griech. póros = die Furt, der Durchgang; plus Alpha privativum = wörtlich »Weglosigkeit«, d. h. das Fehlen einer Furt, eines Durchgangs. 31
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rien enthalten. Aus Sicht der Skepsis erweisen sich Aporien als unvermeidlich, für die Heuristik wirken sie methodenstimulierend, und im Hinblick auf die Systematik sind sie konstruktiv. Für alle drei Weisen lassen sich Beispiele aus der Philosophiegeschichte anführen. So bleiben die antiken skeptischen Aporetiker bei der »Gleichgewichtung der Gründe« 33 stehen, ja sehen darin das bestmöglich Erreichbare. Anders Sokrates, für den die Situation des in Verlegenheit Geratens (aporéuein) den ersten Schritt zur Befreiung von vermeintlichem Wissen bildet. 34 Die Aporie ist hier nicht Endzweck, sondern Ausgangspunkt philosophischen Fragens. Folgerichtig sucht Sokrates seine Gesprächspartner in aporetische Situationen zu bringen. Einen Schritt weiter geht Aristoteles, der die »Gleichheit konträrer Argumentationen« 35 als Anlass zu verstärkter Suche nach einer Lösung betrachtet. Aporien sind hier weder Endzweck noch Ausgangspunkt, sie sind notwendige Durchgangsstationen philosophischen Denkens, wie Aristoteles in der Aporienexposition im III. Buch seiner ›Metaphysik‹ deutlich macht. Eine für die philosophische Systematik konstitutive Funktion schließlich kommt der Aporie in den Spätdialogen Platons (z. B. im ›Sophistes‹ und ›Parmenides‹) 36 zu, in denen die Schwierigkeiten der Ideenlehre und die Dialektik von Einheit und Vielheit offengelegt werden. Die methodische und systematische Bedeutung von Aporien ist im Anschluss an Kants Kritizismus erst wieder im Denken des 20. Jahrhunderts wirksam geworden. Als »reine Problemwissenschaft« (Nicolai Hartmann) hat die Aporetik die Aufgabe, diesseits aller Theorie und in enger Verbindung mit der Phänomenologie die »Unstimmigkeiten des Gegebenen« 37 festzustellen und so an die Schwelle zum Bereich der Theorien heranzuführen. Aporien sollen nicht vermieden, sie sollen vielmehr gesucht werden, denn sie sind keine vortheoretischen Unstimmigkeitsfeststellungen, sondern theorienimmanente Fundamentalprobleme. In diesem Sinne ist Gottfried Martin für ein »aporetisch-dialektisches Verständnis der Vielheit der Standpunkte« 38 eingetreten. Vielheit stelle keinen Mangel, sondern »isosthéneia tôn lógon«: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, IX, 61. Übers. v. O. Apelt. Hamburg 1998. 34 Vgl. Platon, Menon 84a ff. 35 »isótes enantíon logismôn«: Aristoteles, Topica VI, 6. 36 Platon, Parmenides 131e ff.; Sophistes 256a ff. 37 Hartmann, N.: Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. Berlin 1966, 36–40. 38 Martin, G.: Allgemeine Metaphysik. Berlin 1965, 326 f. 33
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einen Vorzug der Philosophie dar, der es angesichts der Unmöglichkeit, endgültige Antworten zu geben, darum zu tun sein muss, die Vielheit der Problemlösungsvorschläge reflektierend miteinander zu vermitteln. Die Aporetik macht damit ernst mit dem Umstand, dass im Falle einander widerstreitender Wissensansprüche keiner vor dem möglichen Nachweis seines Falschseins sicher ist. Das sokratische »Ich bin in Verlegenheit« und das Wittgensteinsche »Ich kenne mich nicht aus« bleiben insoweit Grundsituationen des Philosophierens bzw. Grundformen philosophischer Problemstellungen. 39 Hier setzt der Gedanke der Vermittlung aufgrund von Orientierungswissen an.
4.3 Vermittlung mit Hilfe von Orientierungswissen So heißt es z. B. bei Kants Zeitgenossen Moses Mendelssohn: Sobald Vernunft und Spekulation sich trennen, bedarf es der Orientierung. 40 Kant antwortet darauf mit seinem berühmten Aufsatz »Was heißt, sich im Denken orientieren«? Für den Königsberger ist das Sich-Orientieren das Gefühl eines »der Vernunft eigenen Bedürfnisses«, insbesondere beim Gebrauch der praktischen Vernunft. »Sich im Denken überhaupt orientieren, heißt: sich bei der Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben bestimmen«. 41 Orientierung ist nicht nur ein Vernunftbedürfnis, sondern stellt zugleich ein Recht der Vernunft dar. Reiner Vernunftglaube, so Kant, ist »der Wegweiser oder Kompass, wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientieren, der Mensch von gemeiner, doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg, sowohl in theoretischer als praktischer Absicht, dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann; und dieser Vernunftglaube ist es auch, der jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung zum Grunde Vgl. zur Aporetik auch: Specht, E. K.: Wittgenstein und das Problem der Aporetik. In: Heidemann, I. / Specht, E. K. (Hg.), Einheit und Sein (FS Gottfried Martin). Köln 1966, 309–322 und Waldenfels, B.: Das sokratische Fragen. Aporie, Elenchos, Anamnesis. Meisenheim 1961. 40 Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes (1785). Berlin 1974, 35. 41 Kant, I.: Was heißt, sich im Denken orientieren? (1768), A 304; AA VIII, 136. 39
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gelegt werden muss«. 42 Die Vernunft bedarf der Orientierung immer dann, wenn sich Erkenntnisse nicht einstellen. Orientierung hat wesentlich eine Vermittlungsfunktion, nach Kant zwischen Religion und Philosophie, bei Moses Mendelssohn zwischen Vernunft und Spekulation. Heute hingegen wird der Orientierungsbegriff stärker in der Vermittlung zwischen Philosophie und den Wissenschaften aktuell. Es bedarf angesichts der vielfältigen, exponentiell fortschreitenden Erkenntnisse der Wissenschaften immer wieder der Orientierung im Sinne des Versuchs einer einheitlichen Weltsicht oder auch »Weltorientierung«. 43 Das, so M. Heidegger, gilt auch von der »Notwendigkeit einer prinzipiellen Orientierung der Philosophie«. 44 Dazu, und das ist der Grund für die vorstehenden Ausführungen zum Orientierungswissen und zur Aporetik, ist die Sicherung des Individuums als Wissenssubjekt unersetzbar.
4.4 Rationalität ›Rationalität‹ ist seit der Antike bekanntlich ein Definitionsmerkmal des Menschen. Aristoteles hat den Menschen als ›ánthropos lógon échon‹, lat. ›animal rationale‹, als »vernunftbegabtes Lebewesen« bestimmt. Rationalitätsausstattung ist das entscheidende Differenzkriterium zwischen Mensch und Tier. Im Übergang von der Antike zum Mittelalter wird dieser Gedanke durch Manlius Severinus Boethius eng mit dem Verstehen des Menschen als Person verbunden: »persona est rationabilis naturae individua substantia« – Person ist die individuelle Substanz einer vernunftfähigen Natur. 45 Hier zeigt sich ein subtiler, aber wichtiger Unterschied: Während Aristoteles das
Kant, I. (Fn. 41), 321; AA VIII, 143. Zum Begriff ›Weltorientierung‹ vgl. den gleichnamigen Artikel von W. Stegmaier in: Ritter, G. et al. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Sp. 498– 507. Basel 2004. 44 Orientierung, so Heidegger weiter, ist »System als übersichtliche Ordnung und ordnende Charakterisierung der verschiedenen Gebiete und Werte des Lebens und Bezeichnung ihres Zusammenhangs«. M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation. Einführung in die phänomenologische Forschung (WS 1921/2). Ges.-Ausg. II, 61. Stuttgart 1985, 15, 39 f., 43 f. 45 Boethius, A. M. S.: Contra Eutychen et Nestorium 1–3; dt. in: ders., Die theologischen Traktate. Hamburg 1988, 74. 42 43
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Faktum des Vernunfthabens (lógon échon) herausstellt, spricht Boethius von einer vernunftfähigen (rationabilis) Natur. 46 Nun bedeutet ›rationalitas‹, von Lateinisch ›ratio‹, ursprünglich ›Rechnung‹, entsprechend dem Griechischen Verbum ›logízesthai‹ = ›rechnen‹. Der rechnende Verstand kalkuliert, bilanziert, vergleicht, wägt ab. 47 ›Rational‹ denkt bzw. handelt, wer sich dabei nicht nur an eigenen Überzeugungen, Erfahrungen, Wertvorstellungen etc. orientiert, sondern sich wesentlich nach verallgemeinerbaren, intersubjektiv nachprüfbaren Vorstellungen, Erfahrungen und Werten der menschlichen Gemeinschaft richtet. Gleichwohl ist von ›Rationalität‹ in z. T. höchst unterschiedlicher Weise die Rede. Die Unterschiedlichkeit lässt sich in zwei Gruppen aufteilen: auf der einen Seite in die Rationalitätsansprüche theoretischer, auf der anderen Seite in diejenigen praktischer Natur. In der Theorie geht es mithilfe dieses Terminus um Problemlösungsstrategien, sei es unter Systembedingungen, sei es unter formallogischen Folgerichtigkeitskriterien, sei es unter Wertorientierungen. In der Praxis geht es mithilfe der ›Rationalität‹ um Effizienz-, Verständigungs- und/oder Entscheidungsaspekte. Die Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten des Begriffs der ›Rationalität‹ scheint, wie Herbert Schnädelbach es ausdrückt, »die Vernunft verdrängt« 48 zu haben. Denn die Vernunft stellt an sich kein
Die Unterscheidung zwischen vernunfthaft (rationalis) und vernunftfähig (rationabilis) findet sich anschließend bei Augustinus: Vernunfthaft ist nach ihm dasjenige, »was sich der Vernunft (ratio) bedient«, während ›rationabilis‹ dasjenige bezeichnet, was »mit Vernunft getan oder gesagt ist« (Augustinus, Werke Band 8, Spalte 52 ff.). Diese augustinische Unterscheidung hat sich nicht durchgehalten, das Mittelalter hat sich ausschließlich an der Aristotelischen Bestimmung des Rationalen im Sinne des lógon échein orientiert. Das Vernunfthafte ist Kennzeichen des menschlichen Geistes. So heißt es im 14. Jh. etwa bei Wilhelm von Ockham: »›rationale‹ … importat determinate animam intellectivam« – »der Ausdruck ›rational‹ bezeichnet bzw. bestimmt die vernunftbegabte Seele.« Die vernunftbegabte Seele ist für Ockham das, was man ›Rationalität‹ nennt: rationalitas est idem quod anima intellectiva. W. v. Ockham, Opera Philosophica. St. Bonaventure/NY 1974, Bd. III, 302. 47 H. Lenk und H. F. Spinner zählen nicht weniger als 22 »Rationalitätstypen«. Vgl. Lenk, H./ Spinner, H. F.: Rationalitätstypen, Rationalitätskonzepte und Rationalitätstheorien im Überblick. Zur Rationalismuskritik und Neufassung der ›Vernunft‹ heute, in: Stachowiak, H. (Hg.): Pragmatik. Handbuch des pragmatischen Denkens. Bd. 3, 1989, 1–31. Vgl. Mittelstraß, J.: Wissenschaft als Lebensform. Frankfurt/M. 1982, 7 f., 30. 48 Schnädelbach, H.: Zur Dialektik der historischen Vernunft, in: Poser, H. (Hg.): Wandel des Vernunftbegriffs. Berlin 1981, 21. 46
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Vielfaltsphänomen dar. Es fragt sich, wie die Einheit der Vernunft angesichts der Vielfalt von Rationalität sicherzustellen ist.
4.5 System-, Zweck- und Wertrationalität Heute vorherrschend sind drei Rationalitätstypen: System-, Zweckund Wertrationalität. Systemrationalität orientiert sich weitgehend innersystemisch: Es ist ihr nach S. Gosepath um »rationales Verhalten in der optimalen Adaptation an die Umgebung oder in einem Funktionszusammenhang eines beliebigen Systems« 49 zu tun. Rational ist demnach, was innerhalb eines gegebenen Systems kohärent ist. Bekanntestes Beispiel hierfür ist die naturwissenschaftliche Rationalität. Ihr Kennzeichen ist eine starke Betonung des Methodischen, 50 am bekanntesten in der Methode von Versuch und Irrtum (trial and error). 51 Systemrationalität geht mit dem Begriff der Wahrheit zurückhaltend um: Wissenschaftliches Wissen muss frei von Zweifeln sein, aber es kann niemals als allem Zweifel enthoben, als unbezweifelbar gelten. Dies gilt allemalen von empirisch gegründetem Wissen: Die entsprechenden Feststellungen dürfen nicht falsch, aber sie müssen prinzipiell falsifizierbar sein. Im Unterschied zur Systemrationalität ist Hauptmerkmal der Zweckrationalität das Abwägen von Zweck-Mittel-Beziehungen. Rational ist demnach, was in einer angemessenen Zweck-Mittel-Relation steht. Dieselbe ist immer dann gegeben, wenn zur Erreichung eines Zwecks das am wenigsten nachteilige bzw. risikoreiche Mittel gewählt und eingesetzt wird. Hier spielen Entscheidungen unter Risiko eine zentrale Rolle. Zweckrationalität ist infolgedessen überwiegend konsequenzialistisch geprägt. Wertrationalität schließlich geht es um die Orientierung an grundlegenden Werten wie Menschenrechten oder Verfassungsnormen, eine für ethische Analysen naturgemäß besonders wichtige Form der Rationalität. Systemrationalität zielt auf Kohärenz im Denken, Zweckrationalität auf Konsistenz im
Gosepath, S.: Artikel ›Rationalität, Rationalisierung‹, III. Analyt. Philosophie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 8, 62. Basel 1992. 50 Vgl. Rolke, L.: Art. ›Rationalität, Rationalisierung‹, II, in (Fn. 49), 60. 51 Vgl. Rolke, L.: Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie 1978, 106. 49
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Handeln und Wertrationalität auf Insistenz auf die Geltung von Werten ab. Nun kann es nicht darum gehen, Kohärenz im Denken, Konsistenz im Handeln und Insistenz auf Werte gegeneinander auszuspielen, denn der Mensch ist als denkendes, handelndes und Normen verpflichtetes Wesen mit allen drei Forderungen gleichermaßen konfrontiert. Insgesamt lässt sich daher festhalten: Es ist Aufgabe der Orientierung bzw. des Orientierungswissens, die Einheit der Vernunft angesichts der Vielheit des Verfügungswissens einzufordern bzw. zu sichern. Nach einer Orientierung Ausschau halten heißt mithin zu fragen, wie der Einzelne wieder 1. zum Wissensträger werden und 2. zu einer kohärenten und 3. zu einer folgenverantwortlichen Urteilsfindung gelangen kann. Mit einem Wort: Es geht um die Wiedereinsetzung des individuellen autonomen Wissenssubjekts. Um auf die eingangs genannte De-Subjektivierung des Wissens zurückzukommen: Entscheidend ist, dass Orientierungswissen im Unterschied zum wissenschaftlichen Wissen nicht vom Subjekt als seinem Träger ablösbar ist, da ihm, wie gesagt, untrennbar ein Selbstbezug zu eigen ist. Seine zentrale Aufgabe besteht darin, den Einzelnen in den Stand zu versetzen, sich selbst nicht nur als gleichsam externen Beobachter, sondern als aktiven Teilnehmer gegenwärtiger wissenschaftlicher und speziell ethischer Debatten zu begreifen. Dabei stößt er freilich zwangsläufig auf zwei Problemkreise: zum einen, dass nahezu alle aktuellen bioethischen Debatten infolge unterschiedlicher Rationalitätsmodelle auf Kohärenzprobleme stoßen; sodann, dass Orientierungswissen folgensensibel ausfallen muss. Eine derartige Profilierung von Orientierungswissen in Form der Selbstvergewisserung, der Kohärenzprüfung und der Folgensensibilität seitens des individuellen Wissenssubjekts bedarf freilich, soll es zur Entschärfung gesellschaftlicher Konflikte kommen, der Universalisierung. Rational handelt nicht schon der seinen eigenen Überzeugungen folgende Einzelne, sondern erst derjenige, der sich davon zugunsten universalisierbarer Orientierungen zu lösen versteht. Oder in den Worten von J. Habermas. »Rational nennen wir eine Person, die ihre Handlungen mit Bezugnahme auf bestehende normative Kontexte rechtfertigen kann (…)« und dies nur dann, »wenn sie eine reflexive Einstellung (…) einnehmen kann«. 52 Dies heißt im Klartext, zit. nach Lenk, H. / Spinner, H. F.: Rationalitätstypen (Fn. 47): Pragmatik Bd. III, 17.
52
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dass der Einzelne seine Wissensorientierungen unter die Forderung der Verallgemeinerbarkeit stellen muss. Was die Debatten in der heutigen Wissensgesellschaft angeht, so müssen dieselben über das von den Wissenschaften angebotene Verfügungswissen hinaus das in der Gesellschaft vorhandene Orientierungswissen einbeziehen. Erst universalisierbares Orientierungswissen ist geeignet, angesichts der Vielheit der Rationalitätsmodelle die Einheit der Vernunft zu sichern und auf dieser Grundlage zu Konsensen zu gelangen. Der reflexive, kohärenzbezogene und folgenverantwortliche Charakter von Orientierungswissen wird sich dabei als äußerst hilfreich erweisen. Hilfreich nicht zuletzt deswegen, weil aller Wissenserwerb dem Zweifel ausgesetzt ist und bleibt. Im Alltag eher lästig und unbeliebt, spielt der Zweifel in Wissenschaft und Forschung eine konstruktive Rolle: Zwar sollen wissenschaftliche Erkenntnisse zweifelsfrei sein, doch können sie niemals unbezweifelbar genannt werden. Der Zweifel ist insoweit nicht der Feind der Wissenschaft, sondern ganz im Gegenteil ihr Movens. »dubitando enim ad inquisitionem venimus« – »durch Zweifeln nämlich gelangen wir zur Untersuchung«, so schon vor 900 Jahren der mittelalterliche Logiker und Philosoph Petrus Abaelardus. 53 In diesem Sinne gilt es, stets Zweifelsfreiheit anzustreben und zugleich fortdauernde Bezweifelbarkeit auszuhalten. Bleibt die Frage nach dem letztendlichen Bezugspunkt allen Orientierungswissens. Diesbezüglich gilt es, auf Hindernisse aufmerksam zu machen.
5.
Hindernisse
5.1 Von der Gefahr des Zurückbleibens der Anthropologie Während die Wissenschaften, vor allem die Bio-Wissenschaften, rasant voranschreiten, werden das Leben im Allgemeinen und das Bild vom Menschen im Besonderen zunehmend rätselhaft. So sind etwa die Möglichkeiten des Eingreifens in das Werden pränatalen menschlichen Lebens derart gestiegen, dass das herkömmliche Bild vom Menschen als eines vulnerablen Lebewesens dem Anschein der AntiPetrus Abaelardus, Sic et non. Prologus. Hg. von Boyer, Ch. / McKeon, R. Chicago 1976, 19.
53
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quiertheit ausgesetzt ist. Kaum hat man sich fragen können, wie das Bild vom Menschen aussieht, wenn er mit Hilfe der Transplantation von fremden Zellen, Geweben oder ganzen Organen am Leben erhalten werden kann, da wird dieses Bild des Menschen erneut herausgefordert angesichts der Möglichkeiten des Eingreifens in seine Entstehung unter den Bedingungen der modernen Reproduktionsmedizin. 54 In besonderer Weise deutlich wird die Kluft zwischen dem traditionellen Menschenbild auf der einen und heutigen technischen Handlungsoptionen auf der anderen Seite angesichts etwa des im Tiermodell längst etablierten Verfahrens des Klonierens, d. h. der gezielten Herstellung erbidentischer Kopien von Individuen sowie der erwartbaren Möglichkeiten des Eingreifens in das individuelle Genom mit Hilfe der somatischen Gentherapie oder gar in das Genom zukünftiger Generationen mit Hilfe der Keimbahnintervention. Erstmals scheint der Mensch vor der Situation zu stehen, die Bedingungen der biologischen Existenz der Species homo sapiens sapiens nach Maßgabe eigener Zwecksetzungen manipulieren zu können. Zwar hat er dies immer schon versucht, doch besteht das Neue darin, dass diese Manipulationen der freien, autonomen Entscheidung der Betroffenen entzogen werden können. Die Anthropologie, so scheint es, droht hinter der Wissenschaftsentwicklung zurückzubleiben. Was sich schließlich über die Jahrhunderte allmählich, im Ergebnis jedoch radikal verändert hat, ist dasjenige, was alles menschliche Handeln immer schon begleitet hat, die Frage nämlich, ob der Mensch darf, was er kann. Zu den Zeiten des Aristoteles überwog das Dürfen vielfach das Können: Die Möglichkeiten eines Eingreifens in das Leben im Allgemeinen und in das des Menschen im Besonderen waren in der Antike noch so unentwickelt, dass die Frage, die sich heute ständig stellt, ob nämlich das Menschenbild hinter der Wissensentwicklung zurückbleibt, in dieser Form kaum auftreten konnte. Das ist heute anders: Täglich erfährt man aufs Neue, dass die Wissenschaft Handlungsoptionen etabliert, die ein Können eröffnen, das weit über das Dürfen hinausgeht. Folge: Beständiges Grenzziehen tut not. Wie aber lassen sich Grenzen ziehen, wenn, wie angedeutet, die Anthropologie hinter der Wissenschaftsentwicklung zurückbleibt und das Können um ein Vielfaches das Dürfen übersteigt?
54
Näheres siehe unten Kap. III.
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Hindernisse
5.2 Drei überkommene Paradigmen Ein erster Schritt dürfte darin bestehen, drei traditionelle Paradigmen als überholt zu erkennen und von ihnen Abschied zu nehmen: a) Erst Wissenschaft, dann Wertereflexion? Im Hinblick auf das erste »paradigm lost« geht es darum zu erkennen, dass die traditionelle konsekutive Weise des Verständnisses des Verhältnisses von Wissenschaft und Wertediskussionen seitens der Gesellschaft, welches darin besteht, dass zunächst die Wissenschaft etwas etabliert und anschließend die Gesellschaft dazu kritisch Stellung nimmt, verabschiedet werden muss. Dieses Paradigma ist deswegen nicht mehr angemessen, weil die Wissenschaften, die noch nie einen wertfreien Raum bildeten, heute mehr denn je auf die Stellungnahme der Gesellschaft zu möglichen Forschungsplänen angewiesen sind, denn alle Forschung ist naturgemäß an die Gesellschaft und ihre Wertvorstellungen rückgebunden. Dies erfordert, dass an die Stelle des Nacheinanders von wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlicher ethischer Reflexion das Miteinander beider und ggf. – das Beispiel etwa der der sog. Gen-Chirurgie zeigt dies – die gesellschaftlich-ethische Wertereflexion der wissenschaftlichen Entwicklung vorangehen muss. b) Ethik ohne Anthropologie? Überholt ist sodann die Vorstellung, ethische Reflexion sei ohne vorherige Vergewisserung über das zugrundeliegende Bild vom Menschen sinnvoll. Die Frage danach, was der Mensch darf, setzt immer schon Klarheit darüber voraus, wer und was der Mensch ist. Wie weit eine solche Vorschaltung der Anthropologie vor die Ethik die Gefahr »naturalistischer Fehlschlüsse« 55 mit sich bringt, indem aus einem Sein unmittelbar ein Sollen gefolgert wird, bedarf im konkreten Einzelfall gründlicher Prüfung. Des ungeachtet nicht mehr adäquat ist der traditionelle Gedanke, über ethische Normen könne man weitgehend unabhängig vom dahinterstehenden Menschenbild diskutieren. Die Fragen, was der Mensch darf, tun muss und nicht tun darf, stehen unter den Bedingungen dessen, was der Mensch ist und als wen oder was er sich begreift. Dies freilich nicht dergestalt, dass aus des Menschen Sein unmittelbar ein Sollen folgte, wohl aber so, dass 55
Vgl. Moore, G. E.: Principia Ethica. Cambridge UP 1903, 38.
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die Art und Weise, wie sich der Mensch selbst entwirft, auf die Konsequenzen für sein Dürfen, Müssen und Nicht-Dürfen hin geprüft werden muss. c) Vernachlässigung epistemischer Aspekte Schließlich ist eine dritte herkömmliche Sicht einer gründlichen Revision zu unterziehen: In der öffentlichen Debatte wird immer noch zu wenig beachtet, dass ethische Fragestellungen eine vorherige Vergewisserung über den epistemischen Status des Fragegegenstandes voraussetzen. 56 So ist, um ein Beispiel zu nennen, in der Frage nach der Zulässigkeit und den Grenzen der sich abzeichnenden Möglichkeiten humangenetischer Diagnostik von nicht unerheblicher Bedeutung, ob und wenn ja in welcher Weise man sich zuvor über den Wissensstatus genetischen Wissens Klarheit verschafft hat. 57 Betrachtet man – und dies ist die derzeit überwiegende Ansicht – genetisches Wissen von Krankheitsdispositionen als seiner Struktur nach dem herkömmlichen, an Symptomen orientierten ärztlichen Diagnosewissen ähnlich, wird man die Frage nach der Zulässigkeit und den Grenzen der Etablierung gentestbasierten Wissens anders angehen, als wenn man der Feststellung folgt, dass genetisches Wissen einen vom traditionellen symptomorientierten Diagnosewissen durchaus zu unterscheidenden Status besitzt. Dabei spricht manches für Letzteres. So ist das gentestbasierte Wissen auf der einen Seite dem herkömmlichen symptombezogenen Wissen darin unterlegen, dass Letzteres eine konkrete manifestierte Erkrankung betrifft und somit eine Basis für die Therapie bietet; andererseits ist das gentestbasierte Wissen dem traditionellen ärztlichen Diagnosewissen darin überlegen, dass es die genetischen Voraussetzungen für Erkrankungsmöglichkeiten mehr oder weniger weit vor ihrer Manifestation erkennbar machen kann. Während sich das traditionelle Diagnosewissen an Symptomen und damit an empirisch zugänglichen Manifestationen von Krankheit orientiert, hebt das gentestbasierte Diagnosewissen auf zwar nur wahrscheinliches, unter Umständen jedoch voraussagbares Wissen ab. Hier zeigt sich ein nicht unerheblicher Unterschied, der das traditionelle Verständnis von Gesundheit und Krankheit stark Näheres siehe Beckmann, J. P.: Ethische Herausforderungen der modernen Medizin. Freiburg 2009, 175 f. 57 Vgl. Beckmann, J. P. Autonomie und Krankheitsrelevanz, in: Bartram, C. R. et al.: Humangenetische Diagnostik. Berlin/Heidelberg/New York 2000, 126–148. 56
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Formen der Institutionalisierung ethischer Diskurse
zu verändern begonnen hat: Für den gentestbasierten Ansatz ist auch der Gesunde gewissermaßen potenziell ein Kranker: Er ist ein Gesunder at a known risk. Was die genannte neue Sicht auf das Verhältnis zwischen Ethik und Wissenstheorie angeht, so gilt es hier freilich, die Gefahr vorschneller Schlussfolgerungen frühzeitig zu erkennen: Keineswegs folgt aus dem epistemischen Status neuer Handlungsoptionen automatisch eine Handlungsnorm. Eine solche lässt sich vielmehr, wie sonst auch, nur aus Zusatzannahmen herleiten. Solche Zusatzannahmen lassen sich nicht aus dem wissenschaftstheoretischen noch näherhin aus dem epistemischen Bereich ableiten, sie können und müssen aus dem anthropologischen Bereich, aus dem des Bildes vom Menschen, stammen. Wenn nicht zu einem konsensfähigen Bild vom Menschen zurückgefunden wird, dürfte sich das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft kaum justieren lassen. Wie bedeutsam es ist, dass ethische Analyse und Reflexion den Wissenschaften nicht folgen darf, sondern ihnen vorangehen muss, und wie sehr die Ethik dabei auf eine anthropologische und wissenstheoretische Grundsatzreflexion angewiesen ist, zeigt ein Blick auf sich allmählich entwickelnde institutionelle Formen des Diskurses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in Deutschland.
6.
Formen der Institutionalisierung ethischer Diskurse
Deutschland, so scheint es, war eine Zeit lang speziell in der bioethischen Diskussion eine »verspätete Nation«: Spät, wenngleich umso gründlicher, wurde hierzulande erst seit Mitte der neunziger Jahre z. B. das sog. Hirntodkriterium intensiv diskutiert, 58 nachdem es zuvor bereits 30 Jahre lang in der Westlichen Welt – und damit auch in Deutschland – als materiales Todeskriterium rechtlich und medizinisch anerkannt und angewandt worden war. Im Falle der Embryonalen Stammzellenforschung waren es immerhin nur drei Jahre nach Etablierung dieses Verfahrens, als in Deutschland eine bis heute dauernde intensive Debatte einsetzte. 59 Verspätungen dieser Art rufen bei manchem ausländischen Beobachter Verwunderung hervor, desVgl. die im nachfolgenden Kap. III, Fn. 77 genannten Autoren Hoff, J. / in der Schmitten, J. (Hg.) (1994); Oduncu, F. (1998) und Spittler, J. F. (2003). 59 Deutsche Forschungsgemeinschaft (2001); Enquete Kommission des Deutschen 58
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II · Vom autonomen Subjekt zu anonymen Kollektiven
gleichen die Gründlichkeit, mit der man in Deutschland über anderswo längst Akzeptiertes intensiv diskutiert. Vor allem im Hinblick auf die Institutionalisierung ethischer Diskurse erweist sich Deutschland bis vor kurzem als verspätet: In Frankreich z. B. gibt es seit langem ein Nationales Ethik-Komitee (»Comité consultatif national d’éthique pour les sciences de la vie et de la santé«), in Schweden seit 1985 einen »Statens medicins-etiska rad«, in Italien seit 1990 ein »Comitato nazionale per la bioetica«, in England seit 1993 das »Nuffield Council on Bioethics« und – um zwei Beispiele aus dem außereuropäischen Bereich zu nennen – in den USA seit 1995 die »National Bioethics Advisory Commission«, in Indien seit 1996 das »Central Ethical Committee of the Indian Council for Medical Research«. EU-weit existiert bereits seit 1991 die »European Group on Ethics in Science and Technologies«. In Deutschland hingegen sind erst 1998 vom Deutschen Bundestag eine »Enquete-Kommission ›Recht und Ethik der modernen Medizin‹« und erst 2001 vom damaligen Bundeskanzler G. Schröder ein »Nationaler Ethikrat« – inzwischen auf gesetzlicher Grundlage etabliert und »Deutscher Ethikrat« genannt – eingerichtet worden. Auch sog. Bürgerdialoge gibt es in Deutschland erst seit 2001, als in Dresden die erste dieser Veranstaltungen stattfand, und zwar zum »Streitfall Gendiagnostik«. Derartige Einrichtungen existieren z. B. in Dänemark bereits seit 1989 (zur Kartierung des menschlichen Genoms), in den Niederlanden seit 1993 (transgene Tiere; Forschung zur Humangenetik; Klonen), in den USA seit 1986 (zur Organtransplantation) und in England seit 1996 (Planung im öffentlichen Gesundheitsdienst). 60 Nun muss Verspätung nicht als solche von Nachteil sein, kann man doch in der Zwischenzeit von den anderen gelernt haben. Doch mehren sich die Anzeichen dafür, dass eine derartige Kombination von Zögerlichkeit und Gründlichkeit wie hierzulande auch mit den im Vorausgegangenen dargelegten Veränderungen im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft zu tun hat.
Bundestages »Recht und Ethik der modernen Medizin« (2001/2002); Nationaler Ethikrat (2001). 60 alle Angaben nach Fuchs, M.: Nationale Ethikräte. Hintergründe, Funktionen, Arbeitsweisen im Vergleich. Berlin 2005.
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Formen der Institutionalisierung ethischer Diskurse
6.1 Ethik-Kommissionen und Ethik-Konsile Die Gesellschaft verfügt auch in Deutschland bereits über einige institutionelle Formen des ethischen Diskurses biowissenschaftlicher Entwicklungen. So gibt es im Bereich der Medizin als zentralem Bereich der Bio-Wissenschaften bekanntlich seit längerem Ethik-Kommissionen, denen wissenschaftliche Forschungsvorhaben am Menschen zuvor zur Begutachtung vorgelegt werden müssen. Die bei den Landesärztekammern und Medizinischen Fakultäten der Universitäten angesiedelten Ethik-Kommissionen sind eine ständige Einrichtung, die darauf achtet, dass Forschung am und mit dem Menschen nach rechtfertigungsfähigen Maßstäben erfolgt, wobei die sog. »Helsinki-Deklaration« sowie das »Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes« samt ihren jeweiligen Folgeerklärungen 61 entscheidende Maßstäbe liefern. Weit weniger häufig, aber ebenfalls als Dauereinrichtung, gibt es sodann Klinische Ethik-Konsile, welche sich naturgemäß weniger mit forschungs- denn mit therapiebezogenen Vorhaben beschäftigen. Als Drittes gibt es – in Deutschland erst seit geraumer Zeit – Zentrale Ethik-Kommissionen auf nationaler Ebene, die, wie die EnqueteKommission »Ethik und Recht der Medizin« des 13. Deutschen Bundestages, die Legislative oder, wie der »Deutsche Ethikrat«, sowohl Legislative wie Exekutive in zentralen ethischen Fragen und vor wichtigen Entscheidungen sachlich beraten sollen. Relativ neu ist die Enquete-Kommission »Künstliche Intelligenz – gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche Potenziale.« 62
6.2 Vom Gesetzgeber vorgeschriebene Ethik-Kommission Etwas völlig Neuartiges in diesem Bereich gibt es in Deutschland seit dem 1. Juli 2002, als der Bundestag erstmals ein Gesetz beschlossen hat, das die Einbeziehung ethischer Analyse in ein rechtliches Verfahren durch eine eigens dafür geschaffene Kommission, die schon erwähnte »Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellenforschung« »Helsinki-Deklaration« (Helsinki 1974) und Folgeerklärungen (Tokyo, Venedig, Honkong, Somerset West, etc., zuletzt Fortaleza/Brasilien 2013; »Genfer Deklaration« bzw. das »Genfer Gelöbnis« des Weltärztebundes 1948 ff., zuletzt Chicago 2017. 62 Konstituierende Sitzung am 27. 9. 2018. 61
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(ZES), zwingend vorschreibt. Gemeint ist das »Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen« (Stammzellengesetz – StZG) vom 29. Juni 2002. 63 Es handelt sich rechtstechnisch, wie schon bei den bisherigen gesetzlichen Regelungen des Embryonenschutzes, um ein Verbotsgesetz mit Erlaubnisvorbehalt. Danach sind Einfuhr und Verwendung humaner embryonaler Stammzellen (hES), die im Grundsatz nach wie vor durch das Embryonenschutzgesetz verboten sind, im Ausnahmefall dann erlaubt, wenn es sich erstens »um Stammzellen handelt, die vor dem 01. 01. 2002 im Herkunftsland aus solchen Embryonen gewonnen wurden, die im Wege der medizinisch unterstützten extrakorporalen Befruchtung (in-vitro-Fertilisation, IVF) zum Zwecke der Herbeiführung einer Schwangerschaft erzeugt worden sind, aber aus Gründen, die nicht an den Embryonen selbst liegen, endgültig nicht mehr für diesen Zweck verwendet wurden« (sog. »Stichtag« 64); wenn zweitens »die nach dem Recht des Herkunftslandes dazu berechtigten natürlichen Personen nach Aufklärung ihre Einwilligung in die Verwendung der Embryonen zur Stammzellengewinnung gegeben haben«; wenn drittens »für die Überlassung der Embryonen zur Stammzellengewinnung kein Entgelt oder sonstiger geldwerter Vorteil gewährt worden ist«, und wenn schließlich viertens »der Einfuhr oder Verwendung sonstige gesetzliche Vorschriften, insbesondere solche des Embryonenschutzes, nicht entgegenstehen«. 65 Über das Vorliegen der vier genannten formalen Bedingungen befindet eine eigens dafür zuständige Genehmigungsbehörde (damit beauftragt ist das Robert-Koch-Institut in Berlin). Sofern die Genehmigungsbehörde das Vorliegen dieser Bedingungen bejaht, muss ein Forschungsvorhaben, das sich mit zu importierenden hES beschäftigen soll, der genannten, vom Gesetzgeber vorgeschriebenen »Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung« vorgelegt werden zwecks Überprüfung erstens der Hochrangigkeit 66 der Forschungsziele, zweitens des Nachweises, dass die im Forschungsvorhaben vorBundesgesetzblatt Jg. 2002 Teil 1 Nr. 42, 2277–2280. Um der Forschung in Deutschland Zugang zu den neueren, nicht mehr durch Verwendung tierischer Nährlösungen kontaminierten Zelllinien zu verschaffen, wurde der ursprüngliche Stichtag 1. 1. 2002 durch Beschluss des Bundestages vom 11. 4. 2008 auf den 1. 5. 2007 verlegt. 65 § 4 Abs. 2/2 StZG. 66 § 5 Abs. 1 StZG. 63 64
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gesehenen Fragestellungen »so weit wie möglich bereits in in-vitroModellen mit tierischen Zellen oder (in vivo) in Tierversuchen vorgeklärt worden sind« 67, und drittens der Prüfung, ob »die Forschung mit anderen als embryonalen Stammzellen keine gleichwertigen Ergebnisse für die im Forschungsvorhaben vorgesehenen Fragestellungen erwarten lässt«. 68 Erst wenn die Ethik-Kommission das Vorliegen dieser Bestimmungen mit positivem Ergebnis überprüft hat, können Einfuhr und Verwendung der beantragten embryonalen Zelllinien für das Forschungsvorhaben genehmigt werden. Die genannte und von der Bundesregierung seither jeweils für 3 Jahre berufene »Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellenforschung« besteht aus neun Sachverständigen der Fachrichtungen Medizin (3), Biologie (2) sowie Ethik und Theologie (jeweils 2), wobei für jedes Mitglied ein Stellvertreter oder eine Stellvertreterin berufen wird. 69 Die Mitglieder und ihre Stellvertreter/Innen sind in ihrer Kommissionsarbeit vollständig unabhängig und an keinerlei Weisungen gebunden. 70 Es handelt sich hier mithin um eine im Gesetz verankerte Ethik-Kommission, Ethik erhält hier erstmals eine gesetzlich vorgeschriebene Beratungs- und Entscheidungsbefugnis. 71
6.3 Bürgerkonferenzen Den genannten Ethikkommissionen ist bei aller Unterschiedlichkeit eines gemeinsam: Sie sind durch Experten besetzt; der sog. »normale« Bürger kommt in ihnen nicht vor. Das mag in der Natur der Sache liegen und insofern kaum vermeidbar erscheinen. Problematisch aber wird es, wenn es den ethischen Diskurs in der Gesellschaft ersetzen soll. Besondere Aufmerksamkeit verdient daher, was – wie eingangs erwähnt – im Ausland schon seit längerem erprobt wird: die Institu§ 5 Abs. 2 StZG. § 5 Abs. 3 StZG. Zu den drei Kriterien vgl. Beckmann, J. P.: Die Kriterien der Hochrangigkeit, der hinreichenden Vorklärung und der »Alternativlosigkeit« nach § 5 StZG aus ethischer Sicht, in: Bundesgesundheitsblatt H. 51/9 (2008), 954–960. 69 Der Verf. war von 2002–2017 Mitglied dieser Kommission. 70 § 8 Abs. 3 StZG. 71 Zur Frage des Verhältnisses zwischen Recht und Ethik im Zusammenhang mit dem Stammzellgesetz vgl. Beckmann, J. P.: Ethik nach Vorgaben des Gesetzes? Überlegungen zur Aufgabe der Ethik gem. §§ 5 & 6 StZG, in: Amelung, K. et al. (Hg.): Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie (FS H.-L. Schreiber). Heidelberg 2003, 593–602. 67 68
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tion sogenannter »Bürgerkonferenzen«, Foren also, auf denen der einzelne Bürger zu Wort kommt. Im Idealfall werden derartige Konferenzen nicht durch staatliche oder andere Organisationen ins Leben gerufen, sondern verdanken sich der freien Initiative der Bürger. In Deutschland hat eine solche Konferenz erstmals im Jahre 2001 in Dresden unter der Bezeichnung »Bürgerkonferenz: Streitfall Gendiagnostik« nach dem Vorbild der dänischen Konsensuskonferenzen stattgefunden. Eingeladen hatte das Dresdner Hygiene-Museum. Als Mitwirkende wurden auf der Basis eines randomisierten Verfahrens 19 Bundesbürger ausgewählt, wobei auf eine ausgewogene Verteilung der beiden Geschlechter sowie auf eine differenzierte Verteilung der verschiedenen Altersgruppen geachtet wurde. Gegenstand waren die Themen »Gentests für die Gesundheitsvorsorge«, »Präimplantationsdiagnostik« und »Pränatale Diagnostik«. Zentrale Ausgangsfrage war: »Was ist gut für den Menschen, was schadet ihm?« Zu den drei genannten Themen haben die beteiligten Bürgerinnen und Bürger Sachverständige eingeladen, die sie über die jeweiligen fachwissenschaftlichen Hintergründe unterrichten sollten, da man herausfinden wollte, »welche Möglichkeiten unser Leben freier gestaltet, welche uns neuen Zwängen unterwirft und welche gar in das Leben anderer eingreifen«. 72
6.4 Wissenschaft und ethische Konsensbildung In Bezug auf die moralischen Bewertungen der durch die Wissenschaften etablierten Handlungsoptionen sind Autonomie und Wissensträgerschaft des Einzelnen gefordert, der sich ein Urteil zu bilden versucht, um es anschließend in den Diskurs der Gesellschaft einzubringen. Die Moralkompetenz der Individuen resp. der Gesellschaft als ganzer steht der Professionskompetenz der Experten gegenüber; diese ist in jene eingebettet und muss sich an jener ausrichten. In der Balance gehalten wird dieses Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft jedoch nur dann, wenn sich beide erneut und in verstärkter Weise hinsichtlich des Menschenbildes verständigen, mit Hilfe dessen die erforderlichen Grenzziehungen zwischen legitimer und illegitimer Anwendung der von den Wissenschaften etablierten
72
Deutsches Hygiene-Museum Dresden (Hg.) (2001), 13.
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Handlungsoptionen im Konsens mit der Gesellschaft vorgenommen werden können. Hierzu bedarf es einer Intensivierung sogenannter Bürgergespräche, darüber hinaus eines Ausbaus der Diskussionen zwischen den Bürgern und ihren Repräsentanten im Parlament und damit einer engeren Verzahnung der Gesellschaft mit den politischen Entscheidungsinstanzen. Notwendige Voraussetzung für alles dies ist allerdings eine nachhaltige Verbesserung des Informationsflusses zwischen den Wissenschaften und der Öffentlichkeit, wobei in stärkerem Maße als bisher darauf zu achten ist, dass die Medien ihrer Informationsverpflichtung nachkommen und nicht durch tendenziöse Berichte die öffentliche Meinung manipulieren, sondern stattdessen durch Sachlichkeit den mündigen Bürger in der Ausübung seiner autonomiebasierten Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit stärken. Im Lichte des Dargelegten verdienen insbesondere das sog. »Expertenmodell« und das sog. »Bürgermodell« Beachtung: das Expertenmodell, weil mit seiner Hilfe das nötige Sachwissen und die Information an die Öffentlichkeit transportiert werden und so eine stärker sachgegründete Entscheidung ermöglicht wird; und das Bürgermodell, weil auf diesem Wege die Bürger und Bürgerinnen unmittelbar in die Willensbildung einbezogen werden. Lediglich ergänzend kann man darüber hinaus auch das sog. »Stakeholder-Modell« ins Auge fassen, mit Hilfe dessen Gruppen- bzw. Interessenkonflikte auf eine geordnete Weise ausgetragen werden können. Bei alledem ist jedoch zu beachten, dass ethische Fragen anders als politische nicht durch Mehrheitsentscheidungen beantwortet werden können. Nicht die Mehrheit, sondern das Gewicht einschlägiger Argumente ist für ethische Entscheidungen maßgebend. Was einer Mehrheitsentscheidung zugeführt werden kann, ist nicht die ethische Analyse als solche, sondern die anschließende Gewichtung und Umsetzung derselben. Dabei gilt freilich, dass auch einem liberalen Umgang mit der Gewichtung ethischer Analysen unhintergehbare ethische Schranken gesetzt sind: Menschenwürde, Autonomie und Menschenrechte. Unbedingte Voraussetzung hierfür ist die Erinnerung an den Menschen als ein grundsätzlich unverfügbares, selbstbestimmtes, doch vulnerables Lebewesen. So unabdinglich das jeweilige Sachwissen ist, ohne welches gesellschaftliche Debatten in die Irre gehen, so bildet Sachwissen lediglich die notwendige Bedingung für einen konsensorientierten Diskurs. Denn Wissen allein – selbst wenn es ein gemeinsames ist – 89 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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ermöglicht noch keine Konsensfindung, welche jedoch die Voraussetzung für gemeinsames Handeln darstellt. Vielmehr bedarf es über das Sachwissen hinaus, wie dargelegt, der Orientierung, genauer: eines Orientierungswissens, welches in der Frage, wie Sachwissen zu Konsensen führen und in gemeinsames Handeln umgesetzt werden kann, rationale Anhaltspunkte und Entscheidungshilfen vermittelt. Entscheidend vor allem aber ist angesichts der tendenziellen Anonymisierung der Akteure wissenschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Prozesse die Wiedereinsetzung des Einzelnen als Träger von Wissen und Bewertungen, denn dies hat Folgen für viele der gegenwärtigen ethischen Debatten, vor allem auf dem Feld der bio-medizinischen Ethik wie beispielsweise betr. Stammzellenforschung, Reproduktionsmedizin, Gewebe- und Organtransplantation, aber auch in Bezug auf den Bereich der Ökonomie, insbesondere der Globalisierungsproblematik. Den entsprechenden Debatten ist aller Verschiedenartigkeit zum Trotz eines gemeinsam: die Notwendigkeit nicht nur einer rationalen Austragung der Argumente pro und contra, sondern darüber hinaus der orientierenden Ausrichtung der Debatten auf grundlegende Konsense.
7.
Fazit
Fassen wir das Dargelegte kurz zusammen: (1) Die seit geraumer Zeit zu beobachtende Transformation in eine Wissens- bzw. Wissenschaftsgesellschaft führt tendenziell zu einer Verlagerung der Wissensträgerschaft vom individuellen Subjekt zum anonymen Kollektivsubjekt. Folge: In das von den Wissenschaften produzierte Verfügungswissen und seine Verwendung vermag der Einzelne immer weniger Einblick zu gewinnen, geschweige denn darauf Einfluss zu nehmen. (2) Die genannte Tendenz zu einer Anonymisierung der Wissensträgerschaft zieht Aporien und Vermittlungsnotwendigkeiten nach sich, mit denen rational nicht ohne Orientierungswissen umgegangen werden kann. (3) Es ist das Orientierungswissen, welches geeignet ist, dem Einzelnen seine Wissensträgerschaft zurückzugeben, indem es die Momente der Selbstbezüglichkeit und Selbstvergewisserung menschlichen Wissens anspricht. Der Einzelne vermag sich
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Fazit
durch Orientierungswissen wieder als denjenigen zu erfahren, der er ist: »Träger universaler Orientierungen und Werte«. 73 (4) Es ist Aufgabe des Orientierungswissens, die Einheit der Vernunft angesichts der Vielheit der Rationalitätstypen einzufordern bzw. zu sichern. Mit einem Wort: Auf der Grundlage des Orientierungswissens vermag der Einzelne sich mit der erforderlichen Sicherheit sowohl an der kollektiven Etablierung von Verfügungswissen als auch an der notwendigen normativen Analyse des Folgewissens zu beteiligen. Dies ist für ihn als autonomes Wesen von fundamentaler Bedeutung. Wie dies im Einzelnen aussieht, soll das folgende Kapitel zeigen, in dem es um den durch neuere bio-wissenschaftliche Entwicklungen herausgeforderten Umgang mit der Problematisierung einer jahrhundertealten Selbstverständlichkeit geht: um die Frage nach dem Beginn und dem Ende menschlichen Lebens.
73
Mittelstraß, J.: Wissenschaft als Lebensform. Frankfurt/M. 1982, 8.
91 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Kapitel III Unsicherheiten hinsichtlich des menschlichen Lebensbeginns und Lebensendes vor dem Hintergrund des Autonomieverständnisses Problemstellung Teil 1: Zur Frage nach dem Lebensbeginn des Menschen 1. Vorgeburtlicher Lebensbeginn 1.1 Rechtliche Bestimmungen 1.2 Unterschiedliche Zugänge der Bestimmung des menschlichen Embryos 1.3 Fehlende Klarheit 2. Die Frage nach dem Lebensbeginn des Menschen vor dem Hintergrund der rechtlichen Gleichsetzung des Embryos in vitro und in utero; das Beispiel PID 2.1 Definition und Verfahren der PID 2.2 Das Präimplantationsgesetz (PräimpG) 2.3 Ethische Analyse der PID 2.4 Ergebnisse 2.5 Fazit 2.6 Kohärenzprobleme 3. Zur Frage des Lebensbeginns zwischen Nidation und Geburt 3.1 Entwicklung als Mensch oder zum Menschen? 3.2 Der Embryo zwischen staatlichem Schutz und dem Respekt vor dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. Beispiel: der sog. »Bluttest« 3.3 Ethik und straffreie Abtreibung 4. Grundriss eines Lösungsvorschlages: Von der Ontologisierung des Embryos zur Prozessanalyse 4.1 Vom Verständnis des Embryos als feststehender Realität zum Embryo als Prozessbegriff 4.2 Grundsätzlicher Einwand: statt Wesensbestimmung reiner Nutzenkalkül? 5. Fazit 93 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
Teil 2: Ethische Probleme der Frage nach dem Lebensende des Menschen angesichts des sog. Hirntodkriteriums 1. Einführung 1.1 Zum medizinisch-rechtlichen Hirntodkriterium 1.2 Das Hirntodkriterium aus Sicht der Philosophie 2. Zur ethischen Debatte um das Hirntodkriterium 3. Hirntodkriterium und menschliche Autonomie 3.1 Der Zusammenhang zwischen Todesverständnis und Hirntodkriterium 3.2 Anthropologische Hintergründe der Debatte um das Hirntodkriterium 3.3 Logik des Zusammenhangs zwischen Hirntodkriterium und Autonomie 4. Grundriss eines Lösungsvorschlages 4.1 Von der Wesensbestimmung des menschlichen Lebensendes zur pragmatischen Umgangsanalyse 4.2 Genereller Einwand: statt Wesensbestimmung Nutzenkalkül 5. Fazit 6. Epilog: Autonomie und Widerspruchslösung
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Problemstellung
Problemstellung Der bekannte Königsberger Philosoph Immanuel Kant »lebte vom 22. April 1724 bis zum 12. Februar 1804.« Traditionsgemäß und heute noch benennt man auf diese Weise Beginn und Ende des Lebens eines Menschen: durch Angabe der Daten seiner Geburt und seines Todes. Diese jahrhundertealte Selbstverständlichkeit ist jedoch inzwischen infolge neuerer und neuester bio-medizinischer Entwicklungen mit Unklarheiten und damit verbundenen Unsicherheiten konfrontiert. Was den Lebensbeginn angeht, so lassen Fortschritte der Pränatalmedizin, vor allem aber die neuen von den Wissenschaften etablierten Möglichkeiten von Einblicken und Eingriffen auf dem Feld der Reproduktionsmedizin Zweifel daran aufkommen, ob das Leben eines Menschen wirklich erst mit seiner Geburt beginnt oder nicht vielmehr bereits mit seinem fetalen (»werdender Mensch«) oder gar seinem embryonalen Werden (»embryonaler Mensch«) begonnen hat, von der extrakorporalen Existenz als Embryo in vitro (»Mensch von Anfang an«) einmal abgesehen. Ähnliche Unsicherheiten gibt es in Bezug auf des Menschen Ende. Lange Zeit galt der kardiale Arrest mit nachfolgendem Sauerstoffausfall (Hypoxie) des Gehirns oder der nicht mehr behandelbare Infarkt oder Schlaganfall mit nachfolgendem Herzversagen als sicheres Todeskriterium. Doch haben die Fortschritte der Intensivmedizin in den vergangenen Jahrzehnten, insbesondere die Möglichkeiten apparativer Revitalisierung und Erhaltung der Herz-Kreislauffunktion im Falle des kardialen Arrests, Zweifel oder zumindest Unsicherheiten ausgelöst, ob die genannten Vorgänge sichere Zeichen für das Ende des Menschen sind. Andererseits: Obwohl seit nunmehr über einem halben Jahrhundert in der Westlichen Welt der vollständige Ausfall des gesamten Hirns als sicheres Todeskriterium gilt, wird von manchem immer noch angenommen, in diesem Zustand sei lediglich das Hirn als ein Organ unter den anderen Organen unwiderruflich ausgefallen, nicht aber der Mensch bereits tot. Dies sei erst der Fall, wenn sämtliche Organe ausgefallen seien. Die genannten Zweifel und die von ihnen ausgehenden Unsicherheiten bedürfen nicht nur wissenschaftlicher Aufklärung, sondern hinsichtlich ihrer normativen Implikationen ebenso auch ethischer Analyse. Nun handelt es sich in beiden Fällen, den erwähnten pränatalen Handlungsmöglichkeiten einerseits und dem Hirntodkriterium ande95 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
rerseits, um medizinische Sachverhalte, über die zu urteilen die Philosophie mangels Kompetenz nicht befugt ist. Andererseits setzt eine fundierte Beschäftigung mit den ethischen Implikationen des Umgangs mit den neuen vorgeburtlichen Handlungsoptionen und dem evidenzbasierten Todeskriterium die Berücksichtigung der betreffenden medizinisch-naturwissenschaftlichen Sachverhalte voraus. Vor diesem Hintergrund sind die normativen Aspekte unterschiedlicher Sichtweisen betreffend Anfang und Ende des menschlichen Lebens zu identifizieren und die jeweilige argumentative Begründung sowie ihre normative Geltung aus ethischer Sicht zu prüfen. Dabei geht es entsprechend dem wissenschaftlichen Verständnis von Ethik als Analyse moralischer Ansprüche darum, die argumentativen Gewichtungen herauszuarbeiten, evtl. Inkohärenzen deutlich zu machen und die Begründung des Anspruchs auf Moralität der jeweiligen Pro- bzw. Contra-Sicht kritisch zu prüfen.
Teil 1: Zur Frage nach dem Lebensbeginn des Menschen 1.
Vorgeburtlicher Lebensbeginn
Traditionell und auch heute weiterhin anerkannt gilt als Lebensbeginn eines Menschen die Vollendung seiner Geburt. Dieselbe markiert den Beginn seiner eigenständigen und personalen Existenz und begründet zugleich seine Mitgliedschaft in der menschlichen Gemeinschaft. Erst nach abgeschlossener Geburt wird das Neugeborene in das Personenstandsregister eingetragen, 1 womit zugleich die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt. 2 Obwohl noch eine ganze Weile von der Umwelt, insbesondere seiner Mutter abhängig, gilt der Säugling als Mensch wie jeder andere. Rechtssubjekte sind Personen; dieselben sind Träger von Rechten, sie besitzen die Fähigkeit, Rechte und Pflichten wahrzunehmen (daher der Terminus »Rechts-
§§ 21, 54 ff. BGB. § 1 BGB. Zivilrechtlich ist die Vollendung der Geburt maßgeblich, strafrechtlich u. U. bereits der Beginn des Geburtsvorgangs.
1 2
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Vorgeburtlicher Lebensbeginn
fähigkeit«), unabhängig davon, ob sie diese Fähigkeit de facto bereits manifestieren (können).
1.1 Rechtliche Bestimmungen Wie aber steht es mit der Frage nach dem menschlichen Lebensbeginn, wenn das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der seinerzeitigen Abtreibungsgesetzgebung bereits dem menschlichen Embryo ab dem Zeitpunkt seiner Nidation Anteil an der Menschenwürde zuspricht? 3 Kann es einen solchen Anteil an der Menschenwürde auch ohne Mensch-Sein im Sinne des Geborenen geben? Oder muss man feststellen, dass der genannte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts durch Feststellung auch vorgeburtlicher Menschenwürde den Beginn des menschlichen Lebens im Unterschied zur bisherigen Tradition vorverlegt hat? Schon im Jahre 1975 hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass ein Embryo »als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung« steht und Träger der Menschenwürde nach Art. 1 sowie Inhaber des Grundrechts auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes ist. 4 In der Abtreibungsentscheidung vom 18. 5. 1993 hat das BVerfG im Zusammenhang mit der Fristenlösung diese Position bekräftigt. 5 Nun hat das Bundesverfassungsgericht nicht gesagt, der Embryo sei Mensch im Sinne geborenen eigenständigen, personalen Menschseins, so dass eingenistete Embryonen bereits Träger von Rechten im Sinne der genannten Rechtsfähigkeit wären; vielmehr hat das BVerfG dem Embryo von Rechtswegen einen Status in der Form einer notwendigen Eigenschaft zuerkannt. Wie oben im Kapitel über die Menschenwürde dargelegt, stellt dieselbe kein Recht dar, sondern einen vom Menschen nicht trennbaren Fundamentalstatus. Die Feststellung der Menschenwürde auch des Ungeborenen leitet sich aus der Schutzverpflichtung des Staates ab: Der Staat ist lt. Grundgesetz Art. 2 Abs. 1 auf den Schutz des Lebens verpflichtet. Doch ist das Lebensrecht des Nasciturus vom Lebensrecht des Geborenen dadurch unterschieden, dass bei Ersterem das Werden, bei Letzterem hingegen das Sein zu schützen ist. Da der Nasciturus noch keine Person ist, ist 3 4 5
Urteil des BVerfG vom 28. 5. 1993; AZ: 2BvG 2/90. in seiner Entscheidung vom 25. 2. 1975. BVerfG 88, 203.
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III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
diese Schutzverpflichtung der Gattungs-, nicht der Individualwürde zuzuordnen. Es ist die zunehmende Nähe zur Geburt, die dem Nasciturus einen wachsenden Respekt vor seiner zukünftigen Individualwürde sichert. Sobald die Möglichkeit selbständiger Existenz näher rückt, kennt das deutsche Recht allerdings einen Sachverhalt, bei dem zwar nicht schon der Embryo, wohl aber der Fetus dem Geborenen gleichgestellt ist, d. h. nicht als, wohl aber wie ein Geborener behandelt wird: im Erbrecht. Danach ist das Ungeborene hinsichtlich der Erbfolge den geborenen Kindern eines Paares rechtlich gleichgestellt, 6 d. h. das Ungeborene ist so zu behandeln, als hätte es zum Zeitpunkt der Erbfolge, obwohl noch nicht geboren, bereits wie ein Geborener gelebt. Wenn aber der menschliche Fetus rechtlich unter bestimmten Umständen wie ein Geborener behandelt wird, warum dann nicht auch bereits der Embryo? Hier ist – zumindest für ethische Analysen – begriffliche Klarheit vonnöten.
1.2 Unterschiedliche Zugänge der Bestimmung des menschlichen Embryos Hinsichtlich der Bestimmung des menschlichen Embryos lassen sich drei verschiedene Angänge unterscheiden: ein speziesbasierter, ein im Wesentlichen zell- bzw. molekularbiologisch verstandener und ein entwicklungsbezogener Ansatz. 1.2.1 Die speziesbasierte Sicht auf den menschlichen Embryo Hauptmerkmal der speziesbasierten Sicht auf den menschlichen Embryo ist die Unterscheidung von Lebensbeginn als Artzugehörigkeit einerseits und Lebensbeginn als einer personalen Fähigkeit zur eigenständigen, wenn auch anfangs und auch später vielfach von den Mitmenschen abhängigen Existenz als Geborener andererseits. Auf unser Eingangsbeispiel angewandt: Immanuel Kants Leben im Sinne eigenständiger und personaler Existenz hat nicht schon neun Monate vor seiner Geburt begonnen, sondern erst mit seiner Geburt am 22. 4. 1724, ungeachtet des Umstandes, dass er bereits vor seiner Geburt als Nasciturus der Spezies homo sapiens sapiens zuzuordnen 6
BGB § 1923 Abs. 2.
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Vorgeburtlicher Lebensbeginn
war. Die Feststellung vorgeburtlicher humaner Artzugehörigkeit stellt jedoch lediglich eine bestimmte Gemeinsamkeit mit den Geborenen fest: die Zugehörigkeit zur Spezies ›Mensch‹ nämlich. Hauptschwierigkeit der speziesbasierten Sicht auf den Embryo und damit auf den Lebensbeginn ist der Umstand, dass damit das Verständnis menschlichen Lebens wie denn von Leben überhaupt auf den im Wesentlichen taxonomischen Sachverhalt der Spezieszughörigkeit reduziert erscheint. Letztere aber indiziert nicht Leben oder gar den Lebensbeginn, sondern lediglich die Stellung in einem Ordnungssystem. Diesem Manko sucht die zell- bzw. molekularbiologische Sichtweise zu begegnen. 1.2.2 Die zell- bzw. molekularbiologische Sicht auf den Embryo Für diese Sichtweise stellt die intrauterine Entwicklung von der Nidation der befruchteten Eizelle bis zur Geburt einen im Wesentlichen zell- oder molekularbiologischen Sachverhalt dar. Es handelt sich gemäß dieser Sichtweise zwar nicht um irgendwelche Zellen, sondern um solche mit speziell menschlicher DNA. So hat der Gesetzgeber im Rahmen des 1990 beschlossenen Embryonenschutzgesetzes (ESchG) festgelegt: »Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an …«. 7 Das ESchG spricht vom Embryo mithin bereits vor der Nidation, und zwar vom Augenblick der Fusion der Kerne an 8 und unterscheidet insoweit nicht zwischen dem extrakorporalen und somit pränidativen menschlichen Embryo in vitro und dem innidierten, dem Embryo in utero. Entscheidend ist für den Gesetzgeber vielmehr die erfolgte Vereinigung von Ei- und Samenzelle bzw. die Bildung der Doppelhelix. Hier liegt mithin eine zellbiologische Definition des menschlichen Embryos vor. Auch das Stammzellgesetz von 2002 (StZG) sieht die erfolgte Vereinigung von Ei- und Samenzelle, die sog. »Fusion der Kerne«, 9 welche die Grundlage für die tatsächliche bzw. zumindest mögliche weitere Entwicklung bilden, als Embryo an, fasst aber darüber hinaus jede »einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vor7 8 9
Embryonenschutzgesetz (ESchG) vom 13. 12. 1990 (BGBl I, S. 2746), § 8, Abs. 1. ebda. Die PID wird im ESchG übrigens nicht genannt. Stammzellgesetz vom 28. 6. 2002 (BGBl I, S. 2277).
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liegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag«, 10 ebenfalls als Embryo auf. Entscheidendes Merkmal ist die Totipotenz. Hier liegt mithin im Unterschied zum ESchG eine molekularbiologische Definition des Embryos vor. Der Zusammenhang der beiden Embryo-Definitionen des ESchG von 1990 und des StZG von 2002 und beider Verhältnis zur traditionellen medizinischen Auffassung vom Embryo als befruchteter menschlicher Eizelle ab deren Einnistung im Körper der Frau ist wissenschaftlich wie rechtlich nicht unproblematisch, wird doch der menschliche Lebensbeginn aus dem Bereich der faktischen Entwicklung rechtlich in den reiner Potenzialität vorverlegt. Die Schwierigkeit einer rein zell- bzw. molekularbiologischen Sicht auf den Embryo besteht vor allem darin, dass sie den extrakorporalen und den eingenisteten Embryo unter ein und dieselbe Definition zwingt und damit die Menschwerdung nicht notwendig zum Definitionsmerkmal macht, da der Embryo in vitro noch nicht und möglicherweise nie Anteil an der Menschwerdung hat, sei es, dass er, weil »überzählig« (IVF), nicht implantiert wird, sei es, dass er, weil genetisch nicht lebensfähig (PID), nicht für eine Implantation ausgewählt wird. Hier verspricht die entwicklungsbezogene Sichtweise auf den Embryo größere Klarheit. 1.2.3 Die entwicklungsbezogene Sicht auf den Embryo Bedenkt man, dass der Mensch zeit seines Lebens ein Werdender ist, dann liegt es näher, als Lebensbeginn den Beginn seines Werdens anzusehen. Dieser Beginn kann nicht mit der Geburt gleichgesetzt werden, denn bei Geburt ist der Mensch bereits in entscheidender Hinsicht ein Gewordener, der i. d. R. eine 9-monatige Entwicklung hinter sich hat. Diese Entwicklung verdankt er nicht nur seinen genetischen Anlagen, sondern in besonderer Weise auch dem Ausgetragenwerden durch eine Frau, seine Mutter. Zwischen der Schwangeren und dem Embryo hat ab Einnistung ein beständiger Austausch stattgefunden; die Rede ist von einem »embryo-maternalen Dialog«. 11 StZG § 3. Zum Ganzen vgl. Rager, G.: Gibt es Grenzen in der frühen Entwicklung des Menschen? In: ZSchr. f. Lebensform 4/120 (2016). Siehe auch ders. (Hg.): Beginn, Personalität und Würde des Menschen. Freiburg 3. Aufl. 2009.
10 11
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Die zentrale Schwierigkeit der entwicklungsbezogenen Sichtweise des Embryos und damit des Lebensbeginns des Menschen wird jedoch deutlich, wenn es etwa im Deutschen, Englischen, Italienischen etc. von einer Schwangeren heißt, sie »erwarte« ein Kind. Bedeutet dies: Die Schwangere erwartet, dass sich in ihrem Körper ein Embryo bzw. ab dem 3. Schwangerschaftsmonat ein Fetus als Kind oder zu einem Kind entwickelt? Im ersten Fall bezeichnet ›Kind‹ den Träger der intrauterinen Entwicklung, im zweiten Fall das erwartete Ergebnis derselben. Nun könnte man sagen, der Begriff des Erwartens setze gerade nicht voraus, dass das Objekt der Erwartung bereits vor dem Eintritt des erwarteten Ereignisses existiert. Erwartet man z. B. Gäste, so gilt der Ausdruck ›Gast‹ erst mit dem Eintreffen der Eingeladenen; ein evtl. verhinderter Eingeladener ist genaugenommen kein Gast. Dem steht im Wege, dass auch der verhinderte Gast ein Jemand ist, so dass – wenn man denn überhaupt das Erwarten eines Kindes mit dem Erwarten von Gästen vergleichen kann –, das von der Schwangeren Erwartete zwar noch nicht Kind im üblichen Sinne des eigenständigen jungen Menschen ist, doch durchaus schon als Kind im Sinne der Familienzugehörigkeit betrachtet werden kann. Gleichwohl bleibt eine gewisse Unsicherheit, ob der Ausdruck ›Kind‹ in beiden Fällen dieselbe Bedeutung hat. Nun könnte man einwenden, Definitionen des menschlichen Embryos seien das eine und die Frage nach dem Lebensbeginn des Menschen sei etwas anderes: Ersteres betreffe den wissenschaftlichen Umgang mit den vorgeburtlichen Entwicklungsmöglichkeiten bzw. dem pränidativen Status möglicher Menschwerdung auf der einen, Letzteres hingegen die personale und eigenständige Existenz des Geborenen auf der anderen Seite. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass Klarheit darüber bestehen muss, was bzw. wer denn eigentlich das Definiendum ist: der potenziell werden könnende, der faktisch werdende oder der geborene Mensch? Und wenn alles dies im Spiel ist, wie sich das Menschwerdungspotenzial, die intrauterine Menschwerdung und das Mensch-Sein des Geborenen zueinander verhalten?
1.3 Fehlende Klarheit Die durch Auslassung der Nidation mögliche rechtliche Gleichstellung des extrakorporalen mit dem eingenisteten Embryo lässt die Frage nach dem Lebensbeginn als unbeantwortbar erscheinen. Denn 101 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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die speziesbezogene ist mit der entwicklungsbezogenen Sichtweise nicht vereinbar, weil Erstere schon als gegeben annimmt, was Letztere nur als möglich ansieht, und beide Sichtweisen mit der zell- bzw. molekularbiologisch genannten nicht, weil dieselbe sowohl aus spezies- wie aus entwicklungsbezogener Sicht als minimalistisch erscheint. Oder eint die drei Positionen doch etwas? Schaut man sich die beiden oben zitierten Embryo-Bestimmungen des ESchG und des StZG noch einmal genauer an, so ist in beiden Gesetzestexten von einer »befruchteten, entwicklungsfähigen menschlichen Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an« die Rede, ferner von jeder »einem Embryo entnommenen totipotenten Zelle …, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.« 12 D. h.: Von der befruchteten Eizelle bzw. der dieser gleichgestellten totipotenten Zelle sagt der Gesetzgeber, beide besäßen zwar das Potenzial der Entwicklung zu einem Menschen, von dessen Realisierung aber nur »bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen« gesprochen werden könne. Damit attestiert der Gesetzgeber dem Embryo in vitro zwar das Potenzial zur Menschwerdung, macht ihn damit jedoch noch nicht zum Menschen; denn dazu bedarf es notwendigerweise, wie der Gesetzgeber ausdrücklich betont, des »Vorliegens weiterer Voraussetzungen«, womit ausschließlich die erfolgreiche Nidation und die Austragung durch eine Frau gemeint sein können. Damit entfällt jedoch die Möglichkeit, schon den extrakorporalen Embryo als Menschen zu bezeichnen (»Mensch von Anfang an« 13), denn derselbe verfügt nicht oder möglicherweise nie über die »dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen«. Damit ist keine der drei zuvor beschriebenen Sichtweisen auf den extrakorporalen Embryo anwendbar: die speziesbezogene nicht wegen fehlender Spezieszugehörigkeit, die zell- bzw. molekularbiologische nicht wegen noch nicht möglicher zellulärer Interaktion mit einem mütterlichen Körper, und die entwicklungsrelevante nicht wegen noch nicht gegebener »weiterer Voraussetzungen«. Auch eine Vergegenwärtigung, was genau der deutsche GesetzEmbryonenschutzgesetz (ESchG) § 8, Abs. 1. – Dass. im Stammzellgesetz (StZG) § 3 Satz 4. 13 So der Titel einer Broschüre des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz (1996). 12
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geber definiert, hilft die Schwierigkeiten vermeiden, ob es sich beim extrakorporalen Embryo bereits um einen Menschen handelt: Definiendum ist nämlich jeweils nicht der Mensch, sondern die erfolgte Vereinigung von Ei- und Samenzelle, die sog. »Befruchtung«. 14 Gegenstand der Definition ist mithin nicht der Beginn des Lebens des Menschen, sondern der Abschluss eines (zell- bzw. molekular-)biologischen Prozesses, der gleichwohl des besonderen Respekts und Schutzes bedarf, weil er bei »Vorliegen weiterer Voraussetzungen« zum Menschen führen kann. Somit ist festzuhalten, dass die Auffassung zumindest vom extrakorporalen Embryo als »Mensch von Anfang an« von der bisherigen Gesetzgebung nicht gedeckt ist. Wenn der Gesetzgeber gleichwohl bereits die befruchtete menschliche Eizelle bzw. die darin vorhandenen totipotenten Zellen unter den besonderen Schutz des Grundgesetzes stellt, ohne darin bereits »embryonale Menschen« zu erblicken, so deswegen, weil diese frühen Vorstufen menschlichen Werdenkönnens im Falle ihrer Inanspruchnahme seitens der wissenschaftlichen Forschung oder aus Gründen assistierter Reproduktion eines besonderen Schutzes und Respekts bedürfen. Der Gesetzgeber reagiert damit insbesondere auf die neueren Einsichts- und Eingriffsmöglichkeiten, welche die Reproduktionsmedizin in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen hat (IVF, PID) und weiterhin zu schaffen im Begriff ist (z. B. die sog. Genom-Editierung mithilfe der CRISPR-Cas9-Methode). Hätte der deutsche Gesetzgeber mit seinen obengenannten Embryo-Bestimmungen wirklich »embryonale Menschen« 15 gemeint, hätte er sich fragen lassen müssen, warum er den maßgeblichen Anteil der Frau bzw. der werdenden Mutter an der Menschwerdung außer Acht gelassen hätte. Eine derartige Veräußerlichung der Rolle der Schwangeren hätte bedeutet, die Frau allenfalls als den »Ort« der Menschwerdung, nicht aber als die (Mit-)Ursache derselben anzusehen. 16 Näheres siehe Günther, H.-L. / Taupitz, J. / Kaiser, P.: Embryonenschutzgesetz. Juristischer Kommentar mit medizinisch-naturwissenschaftlichen Einführungen. Stuttgart 2008, 271, Nr. 3. 15 So die Ev. und die Kath. Kirche in einem gemeinsamen Schreiben vom 28. 01. 2002. 16 Für die Unterscheidung der Frau als einer Art »Herkunftsort« des Menschen einerseits oder als (Mit-)Ursache des Menschen andererseits finden sich bereits in der Bibel jeweilige Belege. So heißt es in der lateinischen Vulgata-Übersetzung: »… misit Deus Filium suum factum ex muliere …« – »Gott schickte seinen aus einer Frau entstandenen Sohn …« (Gal. IV,4); Die Bibel. Altes und Neues Testament. Freiburg/Basel/ Wien 1980 (Einheitsübers. S. 1312). Im Buch Hiob hingegen heißt es: »homo natus de muliere«, »der Mensch ist von der Frau geboren« (Hiob 14, 1; Einheitsübersetzung, 14
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Dass der deutsche Gesetzgeber den extrakorporalen Embryo nicht zum Menschen erklären, sondern ihn der Menschwerdungsmöglichkeit wegen vor Missbrauch und fehlendem Respekt vor seinem Lebensrecht schützen will, hat zugleich den Effekt, dass eine Reihe von Weisen des Umgangs mit ihm nicht zu logischen Widersprüchen und Inkohärenzen führen kann. Dies gilt vom Verfahren der natürlichen Empfängnisverhütung ebenso wie von der IVF und der PID. Wäre bereits der nichteingenistete Embryo Mensch, dann würden Frauen, die ihr Recht auf reproduktive Selbstbestimmung mithilfe mechanischer Mittel (Antinidativa) in Anspruch nehmen, weil sie die Chemie der Pille nicht vertragen, permanent »embryonale Menschen« in ihrem Körper töten. Im Verfahren der in-vitroFertilisierung würde man durch die Hinnahme von nicht zur Übertragung in den Uterus einer Frau gelangenden Embryonen (sog. »überzähligen Embryonen«) aus Reproduktionszwecken den Tod von »embryonalen Menschen« billigend in Kauf nehmen und im Verfahren der PID schließlich durch die Aussonderung von Embryonen, die eine dem Leben entgegenstehende genetische Disposition aufweisen, »embryonalen Menschen« die Möglichkeit des Geborenwerdens versagen. Das hieße: zum Zweck der Ermöglichung künftig lebensfähig Geborener das Lebensrecht von »Menschen im Embryonalzustand« zu opfern – eine naturgemäß ethisch nicht zu rechtfertigende Folge. Das Dargelegte sei am Beispiel der jüngsten Gesetzgebung auf diesem Felde noch einmal überprüft: an der gesetzlichen Regelung der Präimplantationsdiagnostik (PID) aus dem Jahre 2015.
2.
Die Frage nach dem Lebensbeginn des Menschen vor dem Hintergrund der rechtlichen Gleichsetzung des Embryos in vitro und in utero; das Beispiel PID.
Vorliegende Thematik 17 steht formal im Kontext von Recht und Moral, normativ mithin von Legalität und Legitimität. Was Letzteres S. 593), d. h. die Frau ist nicht einfach »Ort« der Menschwerdung, sondern wesentlich (Mit-)Ursache des Menschen. 17 Das Folgende geht auf einen Vortrag des Vf.s vom 20. 2. 2015 im Rahmen der Tagung des »Instituts für Angewandte Ethik« in Bad Dürkheim zurück, erschienen in: Brudermüller, G. / Seelmann, K. (Hg.): Erzwungene Selbstverbesserung? Würzburg 2017, 9–29.
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betrifft, so ist sie von gesetzlichem Zwang frei und gehört zu dem Bereich der für Moral erforderlichen Freiheit. Die Kritiker des pränidativen Verfahrens der sog. Präimplantationsdiagnostik (PID) sehen darin im Wesentlichen drei Probleme: 18 (1) eine Verletzung der Menschenwürde: Durch die Auswahl menschlichen Lebens werde dasselbe vollständig fremder Zwecksetzung unterworfen; (2) einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot: Durch die bei der PID erfolgende Nichtwahl genetisch schwer belasteter Embryonen würden bestimmte Erscheinungen unzweifelhaft menschlichen Daseins, nämlich Behinderungen, diskriminiert; (3) den fehlenden Respekt vor der Norm, dass menschliche Existenz jeglicher Ausweisverpflichtung und damit auch Fremdbeurteilung entzogen bleiben muss. Die Befürworter der PID sehen hingegen in diesem Verfahren unter normativen Gesichtspunkten (1) einen Ausdruck für den Respekt vor dem Recht der Frau auf reproduktive Selbstbestimmung, (2) eine Sicherung des Entstehens von Leben ohne ein dem Leben entgegenstehendes genetisches Hindernis und (3) eine Möglichkeit der Verhinderung schweren Leides für Schwangere und ihre Leibesfrucht infolge einer Fehl- oder Totgeburt oder einer (Spät-)Abtreibung. Der genannte Dissens bedarf nicht nur eines gesellschaftlichen Kompromisses, sondern zuvor ethischer Analyse: Es sind die normativen Grundlagen der PID-Gesetzgebung zu identifizieren und ihre argumentative Begründung und ihre normative Geltung aus ethischer Sicht zu prüfen. Dabei geht es entsprechend dem wissenschaftlichen Verständnis von Ethik im Folgenden nicht darum, in Bezug auf das Verfahren der PID für ein Pro oder Contra zu werben, sondern darum, die argumentativen Gewichte herauszuarbeiten und die Begründung des jeweiligen Anspruchs auf Moralität der Pro- bzw. Contra-Sicht auf die PID kritisch zu sichten. Dies geschieht der bewährten Methodik ethischer Analyse folgend in drei Schritten: erstens durch Prüfung der Legitimität der Zielsetzung der betreffenden Handlungsoption, im Vorliegenden der PID; zweitens durch Analyse der Rechtfertigungsfähigkeit der angewandten Mittel derselben und schließlich drittens durch Abwägung der Hinnehmbarkeit der (mut18
Vgl. Rager, G. (2009) (Fn. 11), 15 ff.
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maßlichen) Folgen. Im vorliegenden Fall führt dies zu den drei folgenden Fragen: (1) Wie steht es um die Legitimität der der PID-Gesetzgebung zugrunde liegenden Zielsetzung? (2) Wie sieht die Rechtfertigungsmöglichkeit des von der PID-Gesetzgebung erlaubten Verfahrens aus? (3) Wie stellen sich die – mutmaßlichen – Folgen der PID-Gesetzgebung aus ethischer Sicht dar?
2.1 Definition und Verfahren der PID Unter ›Präimplantationsdiagnostik‹ 19 versteht man medizinisch die zellbiologische und molekulargenetische Prüfung künstlich erzeugter Embryonen vor der Übertragung in den Uterus einer Frau auf genetisch bedingte schwere, frühzeitig ausbrechende und nicht therapiefähige und i. d. R. tödliche Erbkrankheiten und Chromosomenanomalien. Da noch keine Schwangerschaft vorliegt, fällt die PID (noch) nicht unter den Begriff der ›Pränataldiagnostik‹. Als diagnostisches Verfahren kann die PID an Blastomeren, d. h. an 3 oder 4 Tage alten Embryonen erfolgen. Da jedoch sämtliche Zellen der Blastomere bis zum Abschluss des 8-Zellstadiums totipotent sind, werden auf diese Weise durch eine PID Zellen zerstört, aus denen ggf. Individuen entstehen können. In Deutschland ist eine PID an Blastomeren daher nach § 8 Abs. 1 des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) verboten. 20 Dem ist auch aus ethischer Sicht beizupflichten: Was auf ethisch unproblematischem Wege erreicht werden kann, darf nicht auf einem Weg angegangen werden, der gravierenden ethischen Problemen ausgesetzt ist. Eine PID ist nämlich auch im Blastozysten-Stadium (sog. Blastozystenbiopsie an Zellen des Trophoblasts), d. h. am 5 oder 6 Tage alten Embryo und somit jenseits des 8-Zellstadiums möglich, wenn die Zellen mit Sicherheit nicht mehr totipotent, sondern nur noch pluripotent sind, aus ihnen mithin kein individuelles Leben mehr entstehen kann. Sodann: Die PID ist ihrer Natur nach auf das Vgl. die – allerdings relativ weite – PID-Definition des Klinischen Wörterbuchs von Pschyrembel, 262. Aufl. Berlin/New York 2010: »Entnahme und Untersuchung einer Zelle eines durch IVF entstandenen Embryos vor der Übertragung in die Gebärmutter; Ziel ist der Transfer von Embryonen ohne ererbte Gendefekte.« 20 »Gesetz zum Schutz von Embryonen« (ESchG) vom 13. 12. 1990 (BGBl I, 2746), geändert am 23. 10. 2001 (BGBl I, 2702). Vgl. ebda. § 2 Abs. 1 und § 6 Abs. 1. 19
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vorausgegangene Verfahren der in-vitro-Fertilisation (IVF) angewiesen, doch teilt sie mit diesem nicht die Behandlung wegen ungewollter Kinderlosigkeit, sondern hat die Ermöglichung einer Schwangerschaft zum Ziel, die zur Geburt eines lebensfähigen Kindes führt.
2.2 Das Präimplantationsgesetz (im Folgenden: PräimpG) 21 Die gesetzliche Regelung der PID hat der Deutsche Bundestag am 7. 7. 2011 in Form einer Änderung des Embryonenschutzgesetzes vom 13. 12. 1990 vorgenommen, und zwar durch Einfügung eines neuen § 3a. Abs. 1 dieses Paragraphen verbietet genetische Untersuchungen am extrakorporalen menschlichen Embryo im Grundsatz. Ausnahme: lt. § 3a Abs. 2 Satz 1 ist eine solche Untersuchung dann nicht rechtswidrig, wenn ein »hohes Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit für die Nachkommenschaft« vorliegt. Nach § 3a Abs. 2 Satz 2 handelt ebenfalls »nicht rechtswidrig«, wer eine PID vornimmt, wenn eine »schwerwiegende Schädigung des Embryos mit hoher Wahrscheinlichkeit einer Tot- oder Fehlgeburt« festgestellt wird. Abs. 3 legt drei Wirksamkeitsvoraussetzungen fest: (1) Beratung und schriftliche Einwilligung der Frau. Norm: Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau. (2) Kein Einwand seitens der zuständigen Ethikkommission. Norm: Schutzpflicht eines allgemeinen Rechtsgutes wie des menschlichen Lebens in jeder seiner Formen. (3) Durchführung in einem lizensierten Zentrum. Norm: Verantwortung des Staates für geregelte Verfahren sowie Vermeidung von Missbrauch. Abs. 5 bestimmt: Kein Arzt darf zu einer PID oder der Mitwirkung daran gezwungen werden (sog. Gewissensklausel). 22 Norm: Respekt vor der Gewissensentscheidung des Arztes zwecks Sicherung des BGBl. I, 2228, in Kraft getreten am 8. 12. 2011. Grundlage war der Gesetzentwurf der Abgeordneten U. Flach, P. Hintze, C. Reimann et al. vom 12. 4. 2011 mit dem Titel »Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik«. Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 17/5451. 22 PräimpG § 3a Abs. 5. BT-Drucksache 17/5451 S. 4. Eine derartige Klausel findet sich auch im Kontext des legalen Schwangerschaftsabbruchs; vgl. »Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten« (Schwangerschaftskonfliktgesetz, SchKG) vom 27. 7. 1992, zuletzt geändert am 22. 12. 2011. § 12 Abs. 1 lautet: »Niemand ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken«. 21
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Respekts vor seiner Autonomie und seinem Selbstbestimmungsrecht. Aus ethischer Sicht enthebt dies den Arzt freilich nicht der Pflicht, sicherzustellen, dass ein Berufskollege gefunden wird, der eine legale PID (analog zum legalen Schwangerschaftsabbruch) mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Diese aus ethischer Sicht wichtige Hilfsverpflichtung des Arztes fehlt im PräimpG. Gesetzlicher Ort des PräimpG ist das ESchG. Es ist, wie der Name sagt, wesentlich bestimmt durch die Norm des Schutzes des Embryos vor Schaden und Missbrauch. Es verbietet die Herstellung von Embryonen zu nicht-reproduktiven Zwecken sowie die Vornahme von Handlungen am extrakorporalen Embryo, die seiner Weiterentwicklungsmöglichkeit im Wege stehen. Da, wie oben dargelegt, gem. Legaldefinition auch der extrakorporale Embryo, ja sogar jede totipotente Zelle gesetzlich als Embryo gilt, trifft auch auf beide dieselbe Schutznorm zu.
2.3 Ethische Analyse der PID 2.3.1 Normative Grundlagen Lt. Begründung der Präimplantationsgesetzgebung ist Ausgangspunkt für den Gesetzgeber die staatliche »besondere Verantwortung für den Schutz des geborenen und des ungeborenen Lebens« sowie für den »Schutz von Frauen vor schweren körperlichen und seelischen Belastungen im Hinblick auf die Schwangerschaft sowie die Vermeidung von Spätabbrüchen«. 23 Auch gilt es, durch eine »begrenzte Zulassung der PID den individuellen Freiheitsanspruch auf der einen und den Schutz allgemeiner Rechtsgüter durch den Staat auf der anderen Seite … zu einem gerechten Ausgleich« zu bringen. 24 Hinsichtlich der Paare spricht die Gesetzesbegründung von der »verantwortungsvollen Ausübung ihres Grundrechts auf Fortpflanzungsfreiheit, ohne dass damit die moralische Position derjenigen, die die PID strikt ablehnen, abgewertet oder für unhaltbar erklärt würde«. 25 Hier stellt sich die Frage, ob der pränidative Embryo unter den Begriff des ›ungeborenen Lebens‹ zu subsumieren ist, und wenn ja, ob es sich demnach bereits beim extrakorporalen Embryo um ein 23 24 25
Begründung PräimpG, Teil A. BT-Drucksache 17/5451, 2. ebda. Teil A. Allgemeiner Teil II; BT-Drucksache 17/5451, 7. ebda.
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›Ungeborenes‹ handelt. Der Alternativentwurf I nennt die PID eine »vorgeburtliche Untersuchung«, obwohl dieselbe, wie es weiter heißt, »vor Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter« 26 erfolgt. Es ist die bereits genannte Gleichsetzung sowohl im ESchG wie im StZG von pränidativem und innidiertem Embryo, die dazu führt, dass man auch im Falle der PID vom Schutz des ungeborenen Lebens spricht. Die Schutzpflicht gegenüber Geborenen wird hier, obwohl per IVF hergestellte Embryonen noch nicht implantiert sind und damit noch keine künftige Mutter gefunden haben, auch auf mögliche zukünftige Kinder ausgedehnt. Zugleich anerkennt der Gesetzgeber seine Schutzpflicht gegenüber Frauen vor schweren körperlichen und seelischen Belastungen. Auch akzeptiert er die Berechtigung des Wunsches von Paaren nach einem lebensfähigen Kind, zumal dann, wenn die Frau »bereits ein schwer krankes, vielleicht schon verstorbenes Kind gehabt hat oder nach einer Pränataldiagnostik … eine Abtreibung hat vornehmen lassen«. 27 Es geht dem Gesetzgeber normativ mithin um Sicherung folgender Zielsetzungen: (1) Vermeidung bisheriger Rechtsunsicherheit und Herstellung der Rechtssicherheit für Ärzte und betroffene Paare; (2) Ausräumung verfassungsrechtlicher Bedenken gegen die Verunmöglichung für »einschlägig vorbelastete Paare …, eigene genetisch gesunde Kinder zu bekommen«; 28 (3) Festlegung der Voraussetzungen für eine straffreie PID »in Ausnahmefällen«; (4) Vermeidung von möglichen späteren Schwangerschaftsabbrüchen; (5) Vermeidung von Missbrauch; (6) Vermeidung des Widerspruchs zwischen einem u. U. straffreien Abbruch nach § 218a und einem strafbewehrten Umgang mit einem Embryo, der nicht seiner Weiterentwicklung dient (§ 8 ESchG). Schon der BGH hatte in seinem Urteil vom 6. 07. 2010 festgestellt, »dass die PID zur Entdeckung schwerer genetischer Schäden des künstlich erzeugten Embryos nach geltendem Recht unter bestimmten Voraussetzungen straffrei« sei. 29 Zugleich hat der BGH ausdrück26 27 28 29
Alternativentwurf I. BT-Drucksache 17/5450, 4. BT-Drucksache 17/5451, 2. ebda., 3. BGH vom 6. Juli 2010 (5 StR 386/09; NJW 2010, 579).
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lich darauf hingewiesen, »dass es widersprüchlich wäre, einerseits die belastenden Schwangerschaftsabbrüche nach § 218a Abs. 2 des Strafgesetzbuches straffrei zu stellen und andererseits die PID, die auf einem weitaus weniger belastenden Weg dasselbe Ziel verfolgt, bei Strafe zu untersagen«. 30 2.3.2 Zur Legitimität der Zielsetzung der PID Der Gesetzgeber sah sich vor die Herausforderung gestellt, dass einerseits »ein absolutes PID-Verbot … gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot verstoßen« 31 würde und dass andererseits die PID zwecks Vermeidung von Missbrauch auf bestimmte Fälle zu beschränken sei, und zwar auf die Fälle schwerer »Erbkrankheiten oder Schädigungen, die zu einer Fehl- bzw. Totgeburt führen könnten«. Ergebnis ist ein Gesetz, das formal als Verbots-Gesetz mit Erlaubnisvorbehalt gestaltet ist. D. h.: Es verbietet die PID im Grundsatz, stellt sie aber im Einzelfall unter strengen Auflagen straffrei. Die ethische Legitimität dieser Zielsetzung bemisst sich am Gelingen des Ausgleichs zwischen den Normen (1) der Verantwortung des Staates für den Schutz auch des ungeborenen Lebens; Grundlage ist das Recht auf Leben nach Art. II Abs. 2 Satz 1 GG; und (2) des Schutzes von Frauen vor schweren seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen und (3) der möglichen Vermeidung von Schwangerschaftsabbrüchen und vor allem von Spätabbrüchen. Diese Zielsetzungen wären von dem (in der Abstimmung mit 248 Stimmen unterlegenen) Alternativentwurf I, 32 der ein vollständiges Verbot der PID vorsah, nicht zu erreichen gewesen. Als normative Basis hierfür war vorgetragen worden, die Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben »wäre willkürlich und daher ethisch nicht tragbar«. 33 Einer derartigen Unterscheidung stehen in der Tat Fundamentalnormen im Wege: 1. der Respekt vor menschlichem Leben in jeder seiner Formen sowie 2. die Unmöglichkeit, die
ebda. Gesetzesbegründung, Teil A. Allgemeiner Teil II; BT-Drucksache 17/5451, 7. 32 Alternativentwurf I: Göring-Eckart, K. / Kauder, V. / Kober, P. et al.: »Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der Präimplantationsdiagnostik«. BT-Drucksache 17/5450. 33 ebda., 3. 30 31
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Entscheidung über den »Wert« eines Lebens Dritten anheimzustellen. Hinzukommt 3. speziell in Deutschland die bleibende Verpflichtung, niemals eine Unterscheidung vorzunehmen, die zur Grundlage des nationalsozialistischer Verbrechen gehörte. In der Sache beruht die Begründung des Alternativentwurfs I gleichwohl auf einem logischen bzw. medizinischen Irrtum: Es geht in der PID nicht um die Vermeidung von angeblich »lebensunwertem Leben«, sondern um die Frage, wie mit der hohen Wahrscheinlichkeit lebensunfähigen Lebens umzugehen ist. Der (in der Abstimmung mit 58 Stimmen unterlegene) Alternativentwurf II, 34 der dem Bemühen um einen Kompromiss zwischen dem Mehrheitsentwurf und dem vorgenannten Alternativentwurf I galt, d. h. in der Sache zwischen einer nicht streng genug erscheinenden Erlaubnis und einem generellen Verbot der PID, hatte ein Verbot der PID mit strenger Ausnahme vorgeschlagen, wobei dieselbe auf die Vermeidung einer Schwangerschaft zu beschränken sei, die mit »einer hohen Wahrscheinlichkeit zu Fehl- oder Totgeburten oder zum Tod des Kindes im ersten Lebensjahr führen kann«, während das Kriterium schwerer Erbkrankheiten wegen der Gefahr einer Ausweitung der Indikationsstellung abzulehnen sei. 35 Als normative Basis wurde die Sicherung gegen missbräuchliche Erweiterung und weil anders eine »Begrenzung dauerhaft unmöglich« und stattdessen eine »Ausweitung auf immer mehr Krankheiten« 36 zu befürchten sei, angeführt. Aus ethischer Sicht überzeugt dieser II. Alternativentwurf wegen seiner Klarheit: Totgeburten bzw. der genetisch bedingte frühe Tod eines Kindes sind zu vermeiden. Schwierig dagegen die Pragmatik des Umgangs mit der Begrenzung auf den genetisch bedingten Tod des Neugeborenen im ersten Lebensjahr – eine auch im Falle genetisch bedingter Lebensunfähigkeit medizinisch nicht immer eindeutige Festlegung, die eine Verhältnisbestimmung gegenüber dem Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau erforderlich macht. Die Zielsetzung der PID, nämlich die Ermöglichung einer
Alternativentwurf II: Röspel, R. / Hinz, P. / Meinhardt, P. et al.: »Entwurf eines Gesetzes zur begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik«. BT-Drucksache 17/5452. 35 ebda., 2. 36 ebda. 34
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Schwangerschaft, die zur Geburt eines lebensfähigen Kindes führt, beruht, wie gesagt, ethisch auf der Grundlage des Respekts vor dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht der Frau und ihres Rechts auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) auch in Fragen der Reproduktion einerseits sowie auf der Schutzpflicht des Staates, Schaden sowohl für die Frau als auch für entstehendes menschliches Leben zu vermeiden andererseits. Da ein Ausgleich zwischen beiden Rechtsgütern bzw. ethischen Normen erforderlich ist, spricht für die Legitimität der Zielsetzung der PID, dass der Gesetzgeber sich am Prinzip »so viel Freiheit wie möglich und so viel Einschränkung wie nötig« orientiert hat. Unbedingt notwendig erschien ihm die Sicherung der Freiheit der Frau, ihr reproduktives Selbstbestimmungsrecht wahrzunehmen; ebenso unbedingt erforderlich erschien ihm der Schutz werdenden Lebens durch eine strenge Einschränkung der PID auf die kleine Zahl von Fällen, in denen eine genetische Disposition vorliegt, die der Lebensfähigkeit des künftigen Kindes im Wege steht oder die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Fehl- oder Totgeburt führt. Einschränkung war darüber hinaus geboten, weil eine Nutzung der PID etwa zwecks Geschlechtswahl ohne Krankheitsbezug mit der Pflicht zur Nichtdiskriminierung unvereinbar gewesen wäre. Und wenn in einigen Ländern als weiteres Ziel der PID neben der Geschlechtswahl die Erzeugung sog. »Retterbabys« genannt wird, so ist auch diese Zielsetzung deswegen ethisch nicht legitimierbar, weil zusätzlich zur Diskriminierung (»social sexing«, »family balancing«) eine Instrumentalisierung (»Retterbabys«) von Embryonen vorliegt. 37 Die Legitimität der Zielsetzung der Präimplantationsgesetzgebung erscheint angesichts des vom Gesetzgeber gesuchten Ausgleichs zwischen den beiden Normen des Respekts vor dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht der Frau einerseits und der staatlichen Lebensschutzverpflichtung andererseits, die zu den Grundnormen unserer Verfassung gehören, kaum bestreitbar. Freilich reicht die Legitimität der Zielsetzung einer Handlungsoption allein nicht zur Bestimmung ihrer moralischen Qualität aus; dazu bedarf es darüber hinaus – neben der Prüfung der Tragbarkeit der
Allen drei Gesetzentwürfen gemeinsam ist denn auch die Ablehnung der PID zwecks Geschlechtswahl, Erreichen bestimmter genetischer Eigenschaften oder sog. »Retterbabys«.
37
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(mutmaßlichen) Folgen – der Rechtfertigungsfähigkeit der zur Erreichung der betr. Zielsetzung eingesetzten Mittel. 2.3.3 Zur Rechtfertigungsfähigkeit der von der Präimplantationsgesetzgebung erlaubten Mittel Eine PID ist notwendig mit einer Auswahlhandlung verbunden. Ziel ist die Wahl eines Embryos, der nicht Träger genetisch bedingter Anlagen zu schweren, nicht therapiefähigen und vielfach tödlichen Erkrankungen oder zu Tot- oder Fehlgeburten ist. Damit notwendig verbunden ist die Nichtwahl von Embryonen, die Träger derartiger genetischer Anlagen sind. Der hierfür gelegentlich verwendete Ausdruck »verwerfen« 38 erscheint angesichts seiner emotionalen Prägung nicht zweckdienlich: Die dem Verfahren der PID folgende Wahl unterliegt dem Kriterium der Lebensfähigkeit und nicht dem subjektiven Urteil über Lebensqualität noch dem der Diskriminierung oder gar Abqualifizierung von Behinderung. Gleichwohl bleibt die Frage, ob der menschliche Embryo ethisch überhaupt einer Auswahl zugänglich gemacht werden darf. Die ethische Beurteilung dieser Frage ist erkennbar abhängig von der Sichtweise des oben diskutierten Status des extrakorporalen Embryos und seines darauf gründenden Schutzanspruches. 39 Betrachtet man bereits den extrakorporalen Embryo als Menschen, mithin nicht als ein »Etwas«, das unter weiteren Voraussetzungen zum Menschen werden kann, sondern als »Jemanden«, der bereits Mensch ist, steht er unter dem Schutz allen menschlichen Lebens. 40 Daher der Einwand der Kritiker, es gehe bei der PID im Grunde um einen »selektiven Blick« 41 und nachfolgend um ein »(Aus-)Sortieren« 42, »Selektionieren« oder »Eliminieren« mensch-
Dieser Ausdruck findet sich beispielsweise im Alternativentwurf I; BT-Drucksache 17/5450, 6 ff. 39 Vgl. zum Folgenden Beckmann, J. P., Ethische Herausforderungen der modernen Medizin. Freiburg 2009, 21–62. 40 Begründet wird dies durch die 4 sog. SKIP-Argumente. Vgl. hierzu Damschen, G. / Schönecker, D. (Hg), Der moralische Status menschlicher Embryonen. Pro und Contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potenzialitätsargument. Berlin/New York 2003. 41 Verbotsvotum einiger Ethikrat-Mitglieder in der Stellungnahme des Ethikrates S. 112; vgl. ebda. 116. 42 so der Alternativentwurf I; BT-Drucksache 17/5450, S. 9. 38
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licher Wesen, gar um »unzumutbare Menschen« oder um »Menschen auf Probe«. 43 Nun ist der Respekt vor der Würde des extrakorporalen Embryos als Mensch gegen den Respekt vor dem reproduktiven Selbstbestimmungsrecht der Frau niemals abwägungsfähig: Menschenwürde ist, wie oben in Kap. 1 dargelegt, als rechtliche wie als ethische Fundamentalnorm ihrer Natur nach abwägungsavers. Die Ansicht, schon die befruchtete menschliche Eizelle sei vor und unabhängig von ihrer Einnistung Mensch, macht mithin ein ausnahmsloses Verbot der PID, wie es der obengenannte Alternativantrag I und das Minderheitsvotum des Ethikrates vorsahen, 44 zwingend notwendig. Die Überzeugung, schon der extrakorporale menschliche Embryo sei bereits Mensch, stößt freilich, wie gesagt, auf Schwierigkeiten: (1) Da ist zum einen das Problem eines doppelten Reduktionismus: Der pränidative Embryo wird in seinem Menschsein mittels einer einzigen Eigenschaft, noch dazu einer solchen rein molekularbiologischer Natur, der Totipotenz, definiert. Der Embryo ohne Nidation vermag sich jedoch nicht von sich aus zu einem Geborenen zu entwickeln; »erst durch die Einnistung in die Gebärmutterschleimhaut findet er die erforderliche Umgebung«: 45 Nur so kann es zu dem erforderlichen embryo-maternalen Austausch kommen, der im gelingenden Fall zur Geburt eines Menschen führt. 46 Auch wird der Anteil der Frau an der Entstehung menschlichen Lebens nicht angemessen berücksichtigt, denn die totipotente Zelle ist auf die für sie notwendige maternale Umgebung angewiesen; »der Embryo in vitro hat aus sich heraus kein Potenzial der Entwicklung«, so die Feststellung des Ethikrates. 47
Vgl. Maio, G.: »Es gibt keine unzumutbaren Menschen«: www.blick.ch/news/ schweiz/medizinethiker-warnt-vor-gentests-an-embryos-es-gibt-keine-unzumut baren-menschen-id2426265 (zuletzt aufgerufen am 09. 09. 2019). Ähnlich der Alternativentwurf I; BT-Drucksache 17/5450, S. 7, wo davon die Rede ist, dass »die gezielte Auswahl von Embryonen … die Menschenwürde (Art I Abs. 1 GG)« berühre. 44 Alternativentwurf I; BT-Drucksache 17/5450, S. 2. – vgl. Stellungnahme des Ethikrates (Fn. 45), 111 ff. 45 Deutscher Ethikrat: Präimplantationsdiagnostik. Stellungnahme. Berlin 2011, 54. 46 Im Einzelnen bedarf es weiterer, z. T. noch nicht abgeschlossener naturwissenschaftlicher, näherhin embryologischer und gynäkologischer Forschungen, um entscheiden zu können, ob sich der eingenistete Embryo als Mensch entwickelt oder erst zum Menschen wird. 47 Stellungnahme des Ethikrates (Fn. 45), 54. 43
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(2) Sodann spielte in der Diskussion des Parlamentes erneut die Unvereinbarkeit der Sichtweise des extrakorporalen Embryos als Mensch mit den schon genannten gesetzlich nicht untersagten und längst von der Gesellschaft akzeptierten Umgangsweisen mit dem menschlichen Embryo wie im Fall der IVF eine Rolle: Wenn bereits der extrakorporale menschliche Embryo Mensch ist, dann ist das Verfahren der IVF – selbst in seiner strengen deutschen Variante 48 – ein solches, das zum Zweck der Entstehung von Menschen den Untergang von Menschen infolge der Nichtvermeidbarkeit von sog. »überzähligen« 49 Embryonen billigend in Kauf nehmen würde. Ebenso würden, wie bereits dargelegt, Frauen, die ihr reproduktives Selbstbestimmungsrecht nicht hormonell regeln können, weil sie die entsprechenden chemischen Wirkstoffe nicht vertragen, sondern zu mechanischen Mitteln (Diaphragma, Pessar) oder zu medizinischen Maßnahmen (Ausspülung, Ausschabung) Zuflucht nehmen müssen, durch Verhinderung ggf. der Nidation befruchteter Eizellen in ihrem Körper ständig Menschen töten. 50 Auch würde der extrakorporale Embryo stärker geschützt als der – seiner Geburt unvergleichbar nähere – Embryo in situ, dessen Leben durch eine unter bestimmten Bedingungen straffreie Abtreibung bedroht ist. Das letztgenannte Argument wurde von den Unterstützern des Alternativentwurfs I wie auch von einigen Mitgliedern des Ethikrates nicht akzeptiert. Sie sehen aus drei Gründen keinen Wertungswiderspruch: Zum einen seien PID und (legale) Abtreibung nicht miteinander vergleichbar, weil diese im Rahmen der Schwangerschaft, jene hingegen außerhalb der Schwangerschaft stattfindet; auch hätten Schwangerschaftsabbrüche keinen selektiven Charakter; vor allem sei der (legale) Schwangerschaftsabbruch Folge eines Konfliktes, die
nämlich »nur so viele Embryonen /zu generieren/, wie in einem Zyklus übertragbar« sind (sog. »Dreier-Regelung« des ESchG § 1 Abs. 3) und die übrigen Eizellen im sog. »Vorkernstadium« zu belassen, in dem sie noch nicht als Embryonen gelten. 49 Im Alternativentwurf I; BT-Drucksache 17/5450, 7, ist von »überschüssigen« Embryonen die Rede, ein auch in Anführungsstrichen nicht-deskriptiver Ausdruck für nicht zur Implantation gelangende IVF-Embryonen, die in der Literatur üblicherweise »überzählig« (in englischen Texten »supernumerous«) genannt werden. 50 Die genannten pränidativen Verfahren einer Nidationsvermeidung unterfallen nicht dem Verbot nach § 8 ESchG. 48
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PID hingegen nicht. 51 Diese drei Argumente vermögen freilich nicht zu überzeugen: Vergleichsgrundlage von straffreier PID und legalem Schwangerschaftsabbruch ist der Umgang mit dem Embryo: Im ersten Fall wird er im Hinblick auf genetisch bedingte schwere Schädigungen hin untersucht und ggf. nicht implantiert, im zweiten Fall wird er abgetrieben. Sodann beruht auch die Inanspruchnahme der PID durchaus auf einer Konfliktsituation: derjenigen nämlich, wie gezeigt, zwischen dem Recht auf reproduktive Selbstbestimmung der Frau und der Gefahr der Austragung eines genetisch bedingt nicht lebensfähigen Feten. Und selbst Selektion kommt im Bereich von Schwangerschaftsinterventionen vor: beim selektiven Fetozid zwecks Rettung eines Feten auf Kosten seines Zwillings. Die genannten Schwierigkeiten vermeidet die bereits diskutierte andere Sicht auf den Status des extrakorporalen Embryos, bei der weniger das »artspezifische« als das »individualspezifische Leben« 52 im Vordergrund steht. Diese Sichtweise betrachtet den noch nichteingenisteten Embryo, wie oben gezeigt, noch nicht als Mensch, sondern als ein Entwicklungsstadium, das unter weiteren unbedingt erforderlichen Voraussetzungen zum Menschen werden kann. 53 Folge: In diesem Stadium gilt der extrakorporale Embryo noch nicht als Rechtssubjekt und als Träger der Menschenwürde, ungeachtet des Umstandes, dass ihm als möglicherweise zum Menschen WerdenKönnendem Respekt geschuldet ist. Dieser Respekt aber ist gegen das reproduktive Selbstbestimmungsrecht der Frau bzw. eines Paares aus ethischer Sicht abwägbar, und zwar deswegen, weil hier nicht die Menschenwürde (des Embryos) gegen das autonomiebasierte Selbstbestimmungsrecht der Frau abgewogen wird, sondern der zwar schon beginnende, aber infolge der noch nicht erfolgten Nidation noch eingeschränkte Lebensschutz des Embryos gegen das reproduktive Selbstbestimmungsrecht der Frau, mit der Folge, dass sein noch in den Anfängen stehender Lebensschutz hinter dem Schutzanspruch
Alternativentwurf I; BT-Drucksache 17/5450, S. 8. Auch der Alternativentwurf II bestreitet eine Konfliktlage als Grundlage für eine PID; vgl. BT-Drucksache 17/5452, S. 5. – Vgl. dagegen die Stellungnahme des Ethikrats (Fn. 45), 118–120. 52 So die Formulierung in der Stellungnahme des Ethikrates (Fn. 45), 45 ff., bes. 58. 53 Im Gesetzentwurf ist in Bezug auf den IVF-Embryo vom »zukünftigen Kind« die Rede. BT-Drucksache 17/5451, S. 2. In der Gesetzesbegründung S. 7 wird von einem »von dem Paar gezeugten Kind« gesprochen. Der Alternativentwurf II hingegen kennt die Reihung ›Embryo –Fötus – Kind‹. BT-Drucksache 17/5452, 6 u. 7. 51
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der Frau zurückstehen kann. 54 Diese Sicht auf den extrakorporalen Embryo lässt eine Zulassung der PID unter strengen Voraussetzungen als rechtlich zulässig und ethisch rechtfertigungsfähig erscheinen, 55 so dass das Recht von Paaren nach Art. 6 Abs. 1, 2 GG, sich um Nachwuchs zu bemühen, auch das Recht einschließt, wenn möglich lebensfähigen Nachwuchs zu bekommen. Die Entscheidung der Frage der Rechtfertigungsfähigkeit der von der PräimpG erlaubten Mittel der PID hängt mithin offensichtlich von der Sicht auf den humanen, insbesondere den moralischen Status des extrakorporalen Embryos ab: Ist derselbe bereits Mensch, scheitert die Rechtfertigungsmöglichkeit, denn der Mensch darf nie zum reinen Mittel gemacht werden. Gilt derselbe jedoch noch nicht als Mensch, sondern als Träger eines bestimmten Entwicklungspotenzials hin zum späteren Menschsein, so kann der auch ihm geschuldete Respekt zum Gegenstand einer Abwägung zugunsten der Suche nach einem Embryo gemacht werden, der zu einer Schwangerschaft führt, die nicht von der genetisch bedingten Gefahr einer Totgeburt oder eines schweren, nicht therapiefähigen und u. U. tödlichen Leidens bedroht ist. Bleibt die Notwendigkeit der ethischen Prüfung der Tragbarkeit der (mutmaßlichen) Folgen der Straffreiheit einer unter strengen Bedingungen erfolgenden PID. 2.3.4 Zur Hinnehmbarkeit der vorhersehbaren Folgen Selbst wenn sich eine Handlungsoption in ihrer Zielsetzung als legitim und die hinsichtlich der zur Erreichung dieser Zielsetzung eingesetzten Mittel unter bestimmten Voraussetzungen sich als rechtfertigungsfähig erweisen, bleibt doch die Frage der Tragfähigkeit der – vorhersehbaren oder zumindest mutmaßlichen – Folgen. Dieselben könnten sich im Falle des PräimpG in dreierlei Hinsicht einstellen: zum ersten in Bezug auf die vermutete Erwartung von Paaren wie seitens der Gesellschaft als ganzer auf eine reproduktionsmedizinische sog. »Perfektionierung« des Nachwuchses; sodann im Hinblick auf die Diskriminierung von Behinderten; und schließlich hinsichtlich der Möglichkeit eines »Dammbruches«. Hierzu im Einzelnen:
Vgl. Stellungnahme des Ethikrates (Fn. 45), 55. Vgl. »Stellungnahme der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz zur Präimplantationsdiagnostik« aus dem Jahr 2007, S. 11.
54 55
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a) »Perfektionierung« des Nachwuchses? Eine grundlegende Besorgnis der Unterstützer des Alternativentwurfes I ging dahin, die PID verstärke »Tendenzen, die den Menschen ganz und gar Leistungs- und Nützlichkeitsanforderungen unterwerfen«. 56 Auch gehe es um die Ermöglichung der Geburt gesunder Kinder. 57 Nun ist der Wunsch künftiger Eltern nach einem gesunden Kind ebenso natürlich wie für die Indikation zur PID uneinschlägig: Denn im PräimpG geht es, wie gesagt, nicht um gesunden, sondern um lebensfähigen Nachwuchs. Insofern geht der Vorwurf, mithilfe der PID werde zwischen »lebenswertem« und »lebensunwertem« Leben unterschieden und es werde auf dieser Grundlage entschieden, »welches Leben gelebt werden darf und welches nicht«, 58 in die Irre. Logisch liegt hier, wie bereits gesagt, eine Verwechslung der Begriffe ›lebensfähig‹ und ›lebenswert‹ vor. Es geht in der PID nicht um ein Urteil über den sog. »Lebenswert« eines extrakorporalen Embryos, sondern um die Untersuchung der genetischen Voraussetzungen seiner Lebensfähigkeit. Dies ist der Grund, warum die drei vom Gesetzgeber genannten Voraussetzungen der Straffreiheit einer PID – neben der informierten Zustimmung der Frau, der Zustimmung der Ethikkommission und der Vornahme der PID in einem lizensierten medizinischen Zentrum –, lauten, dass eine »hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwerwiegende Erbkrankheit« vorliegt oder »eine schwerwiegende Schädigung des Embryos, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird«, zu erwarten ist. 59 Jedwede Bewertung von Leben seitens Dritter wäre mit dem Schutz und Respekt vor menschlichem Leben im fundamentalen Konflikt. Nicht die Bewertung von Leben, sondern die Ermöglichung von Leben ist Ziel einer legalen PID. Der Einwand, »jede Abgrenzung Alternativentwurf I; BT-Drucksache 17/5450, 9. ebda., S. 2. Auch in der Gesetzesbegründung, A. Allgemeiner Teil i, Abs. 1; BTDrucksache 17/5451, 7, ist von einem »gesunden Kind« die Rede. Auch das für ein Verbot der PID eintretende Votum einiger Ethikrat-Mitglieder spricht vom »Wunsch nach einem gesunden Kind«, obwohl der Gesetzgeber die PID nicht zwecks Ermöglichung gesunder, sondern nur im Falle schwerstgeschädigter oder lebensunfähiger Embryonen zulässt. 58 Alternativentwurf I; BT-Drucksache 17/5450, S. 3. Des Weiteren ist S. 9 von der Gefahr einer zukünftigen Einteilung von »Krankheiten und Behinderungen in lebenswerte und lebensunwerte Kategorien« die Rede. Im abweichenden Ethikrat-Votum ist davon die Rede, die PID erfordere und ermögliche »eine Wertbestimmung des Menschen durch den Menschen«. Stellungnahme des Ethikrats, (Fn. 45), 148. 59 PräimpG § 3 Abs. 1. 56 57
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des ›Lebenswertes‹ aufgrund einer prognostizierten Lebenserwartung« sei »willkürlich und daher ethisch nicht tragbar«, 60 geht mithin an Absicht und Wortlaut des PID-Gesetzes von vornherein vorbei. Bleibt der Einwand, es gehe bei der PID um die Feststellung von »von den Eltern nicht erwünschten Eigenschaften« 61 von IVF-Embryonen. Doch unter den Begriff »nicht-erwünschte Eigenschaft« lassen sich genetisch bedingte Lebensunfähigkeit oder die »hohe Wahrscheinlichkeit von Fehl- und Totgeburten« begreiflicherweise nicht subsumieren. b) Diskriminierung von Behinderten? Ungleich ernster ist die Besorgnis zu nehmen, die PID werde selbst in ihrer legalen Form zu einer Diskriminierung von Behinderten führen, dies zumindest hinsichtlich der Weise »emotionaler zwischenmenschlicher Anerkennung« 62 derselben. Die Akzeptanz der Vielfalt menschlichen Lebens – und dazu gehört auch behindertes Leben – ist ein hohes Rechtsgut und gründet ethisch auf der Menschenwürde. Nun hat sich in den Ländern, in denen die PID schon seit geraumer Zeit zulässig ist, eine Zunahme der Diskriminierung von Behinderten bisher nicht feststellen lassen, während die »Erfahrungen zeigen, dass die Zulassung der PID unter strengen Auflagen eine verantwortungsvolle medizinische Diagnose ermöglicht und hohe ethische Kriterien erfüllt«. 63 Auch lassen sich die beiden genannten Kriterien einer straffreien PID nach Maßgabe des deutschen PräimpG – hohe Wahrscheinlichkeit genetisch bedingter Lebensunfähigkeit oder von Totund Fehlgeburten – nicht unter den Begriff der »Behinderung« subsumieren. Eine solche läge erst vor, wenn auch die Wahrscheinlichkeit spätmanifestierender genetisch bedingter schwerer Krankheiten zur Grundlage einer PID gemacht würde, was jedoch weder nach Maßgabe des PräimpG noch des Gendiagnostikgesetzes 64 zulässig wäre. Stattdessen geht es dem Gesetzgeber nicht um die Verhinderung behinderter, sondern um eine solche lebensunfähiger Existenzweisen und damit auch nicht um eine neue Eugenik. Alternativentwurf I; BT-Drucksache 17/5450, 3. ebda., 6. 62 Abweichendes Ethikrat-Votum (Fn. 45), 150. 63 Begründung des Gesetzesentwurfs. BT-Drucksache 17/5451, 7. 64 Vgl. § 15 »Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen« (Gendiagnostikgesetz, GenDG) vom 31. 7. 2009. BT-Drucksachen 16/10532 u. 17/10582 (BGBl I, 2529, 3672). 60 61
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Dennoch ist die Befürchtung verständlich, die vor allem dem Alternativentwurf I zugrunde lag, dass eine Erlaubnis der PID selbst unter strengen Voraussetzungen zu einer schleichenden Erosion gesellschaftlicher Akzeptanz von Menschen mit Behinderung führen könne und dass auf diese Weise das Nichtdiskriminierungsgebot nach Art 3 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt werde. 65 Doch wie bereits dargelegt, gilt die PID in der strengen, vom deutschen Gesetzgeber erlaubten Form nicht der Vermeidung behinderten Lebens, sondern derjenigen lebensunfähigen Lebens. 66 Lebensunfähigkeit ist jedoch keine Behinderung, ungeachtet des Umstandes, dass manche Behinderung eine deutliche Lebenseinschränkung darstellen kann. Diesen Sachverhalt gilt es gesellschaftlich nicht nur »als Ausdruck menschlicher Vielfalt« 67 zu respektieren, sondern den davon Betroffenen darüber hinaus mit Zuwendung, Hilfestellung und schützender Förderung zu begegnen. Normative Grundlage ist der Respekt vor der Menschenwürde, der sich darin zeigt, dass man den Mitmenschen ungeachtet seiner Besonderheiten als »seinesgleichen« betrachtet und somit im Respekt vor seiner Würde die eigene Würde (wieder-)erkennt. Der Sachverhalt der notwendigen Verbindung der Würde aller Menschen hat den Gesetzgeber veranlasst, die Voraussetzungen einer PID im strengen Einzelfall gesetzlich so präzise wie möglich zu festzulegen. c) Schleichende Erweiterung der PID-Indikation? Ernst zu nehmen sind Befürchtungen, es könne zu einer schleichenden Ausweitung der PID-Fälle kommen (»Dammbruchargument«) angesichts der Gesetzesformulierung vom Risiko einer »schwerwiegenden Erbkrankheit.« Infrage kommen hierfür Chromosomenstörungen, monogen bedingte Erbkrankheiten, Translokationen, Aneuploidien und speziell Krankheiten wie beispielsweise die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne. Einer befürchteten Ausweitung hat jedoch der Gesetzgeber nicht nur durch die beiden genannten Voraussetzungen einen Riegel vorgeschoben, sondern auch durch die Vorschrift, dass eine Zulassung zur PID (a) den medizinischen Nachweis entsprechender genetischer Veranlagungen zumindest
Alternativentwurf I; BT-Drucksache 17/5450, 2 u. 7. Auch der Alternativentwurf II nennt als – allerdings alleiniges Kriterium für die Zulassung einer PID – »die (Über-)Lebensfähigkeit des Embryos«. BT-Drucksache 17/ 5452, 5. 67 Alternativentwurf I (Fn. 65), 9. 65 66
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eines der beiden Partner sowie (b) die Befassung durch eine eigens dafür qualifizierte Ethikkommission verlangt.
2.4 Ergebnisse 2.4.1 Gemeinsamkeiten von Befürwortern und Kritikern der Präimplantationsgesetzgebung Dem Umstand, dass das PräimpG als Verbots-Gesetz mit Erlaubnisvorbehalt die PID im Grundsatz verbietet, sie jedoch zugleich unter strengen Auflagen straffrei stellt, entspricht ethisch, dass die PID aus Gründen des Respekts vor menschlichem Leben weder als eine Art »Qualitätskontrolle« oder Weise der »Geschlechtswahl« zum Zwecke des »family balancing« noch als Methode der Eigenschaftswahl nach Wunsch legitimierbar ist, sondern ausschließlich als Verfahren, ein mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretendes Leid von Frauen und Paaren infolge genetisch bedingter Lebensunfähigkeit ihres Nachwuchses nicht erst nach der Nidation durch legale Abtreibung oder gar Spätabtreibung verhindern zu können, sondern bereits vor der Übertragung eines Embryos in die Gebärmutter. Dies gilt einmal mehr für Frauen bzw. Paare, die schon einmal ein Kind infolge einer schweren genetisch bedingten, bisher nicht therapiefähigen Erkrankung haben frühzeitig sterben sehen oder deren Kind genetisch bedingt tot zur Welt gekommen ist. 68 Setzt man die von den Gegnern wie von den Befürwortern zugrunde gelegten Normen in eine Beziehung zueinander, so zeigen sich Gemeinsamkeiten wie Differenzen. So ist das von den Gegnern der PID angeführte Instrumentalisierungsverbot auch in der Besorgnis der Befürworter präsent, dass die Gesellschaft eine Frau nicht zwingen kann, sich einen Embryo transferieren zu lassen, von dem zuvor wissbar ist, dass er Träger einer genetischen Disposition zu einer schweren, derzeit nicht therapiefähigen und zu einem frühen Tode führenden Krankheit oder zu einer Totgeburt ist. Normative Gemeinsamkeiten stehen insbesondere hinter dem von den PID-Gegnern angemahnten Respekt vor der Menschenwürde, verletzt es doch eben die Würde der Frau, sie ohne PID der Möglichkeit eines SchwanVgl. Stellungnahme des Ethikrates (Fn. 45), 81: »Die PID eröffnet einen Weg, das Trauma eines Schwangerschaftsabbruchs zu vermeiden, mit dem ein bereits weit entwickeltes menschliches Lebewesen vernichtet würde«.
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gerschaftsabbruchs oder sie und den Fetus einer enorm belastenden Spätabtreibung auszusetzen, zumal dann, wenn die Frau vielleicht schon eine genetisch bedingte Fehl- oder Totgeburt erleben musste. Differenzen hingegen scheinen sich im Diskriminierungsverbot der PID-Gegner einerseits und der normativen Verwendung des Wunsches nach Ermöglichung des Entstehens von Leben ohne schwerste, dem Leben entgegenstehende Behinderung andererseits zu zeigen. Was Ersteres angeht, so wird man ein Logik- und ein Tatsachenargument nicht außeracht lassen können. Nach den Regeln der Logik lässt die Verhinderung von »künftig x« nicht zwangsläufig auf eine Diskriminierung von »derzeit x« schließen. Konkret: Dass mit Hilfe der PID Familien, in denen es bereits Neugeborene mit schwersten, nicht therapiefähigen und zu einem frühen Tod führenden Krankheiten gegeben hat, ein von einem solchen Schicksal freien Nachwuchs ersehnen, impliziert keine Diskriminierung lebender Behinderter, ganz abgesehen davon, dass eine zum baldigen Tode führende genetische Disposition etwas völlig anderes ist als eine mit dem Leben kompatible Behinderung. Gemeinsame Normen ermöglichen entsprechende Konsense, normative Differenzen erfordern die gemeinsame Suche nach Grenzziehungen. 69 So verpflichtet der Gegnern wie Befürwortern gemeinsame Respekt vor der Menschenwürde, eine evtl. PID niemals an totipotenten, sondern, wenn überhaupt, dann ausschließlich an pluripotenten Zellen durchzuführen. Sodann ist der Einzelfallcharakter einer PID unbedingt zu beachten, jedwedes Screening (etwa auf Aneuploidie) ist zu vermeiden. Schließlich und vor allem sind wissenschaftsbasierte Kriterien zu etablieren, die eine zulässige von einer unzulässigen PID sicher unterscheiden lassen. Dieselben müssen die Schwere der Krankheitsdisposition, das Fehlen von Therapiemöglichkeiten und das Leidensmaß des bisher bekannten Verlaufs einer derartigen Krankheit berücksichtigen. Die Frage des Erfülltseins dieser Kriterien ist von einer eigens für die PID-Zulassung eingerichteten Kommission aus unabhängigen Fachleuten aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Recht und Ethik festzustellen. Zugleich sind den hier genannten Eingrenzungs-Kriterien Ausgrenzungs-Kriterien an die Seite zu stellen: Eine PID zum Zweck der Geschlechtsauswahl oder für die Erzeugung sog. »Rettungsgeschwister« stellt einen VerVgl. Beckmann, J. P.: Zur PID-Debatte, in: Ärztezeitung Nr. 70 vom 15./16. 4. 2011, 2.
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stoß gegen das Gebot des Respekts vor der Unverfügbarkeit auch frühen menschlichen Lebens dar und erscheint insoweit ausnahmslos rechtfertigungsunfähig. 2.4.2 Gesellschaftlicher Druck auf Schwangere durch das Verfahren der PID? Die gesetzliche Regelung einer Prüfung extrakorporaler IVF-Embryonen auf die Anlage zu schweren, dem Leben entgegenstehenden hereditären Fehlbildungsdispositionen mit nachfolgender Selektion davon nicht betroffener Embryonen erscheint bei strenger Beachtung der Vorschriften nicht geeignet, gesellschaftlichen Druck auf Frauen bzw. Paare mit Wunsch nach einem lebensfähigen Kind auszuüben. Einer derartigen Gefahr steht schon der für die Frau beschwerliche Weg zur PID über die IVF im Wege. Vor allem aber ist es die Zielsetzung des PräimpG, in dem es, wie dargelegt, nicht darum geht, behindertes, sondern ein dem Leben im Wege stehendes Geborenwerden zu verhindern. Auch dient die PID, so wie der Gesetzgeber sie geregelt hat, nicht der »Verbesserung« des menschlichen Nachwuchses, sondern der Vermeidung zwangsläufigen schweren Leides. Sozialer Druck würde erst entstehen, wenn die PID zu Zwecken des EmbryoScreenings missbraucht würde; doch eben dies und ähnliches ist durch das PID-Gesetz ausgeschlossen.
2.5 Fazit Der Gesetzgeber hat durch das PräimpG einen Ausgleich zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung herzustellen gesucht. Dies liegt ganz in der Tradition des auf die neuzeitliche Aufklärung zurückgehenden Staatsverständnisses, wonach der Staat sein Gewaltmonopol dazu einsetzen muss, die Freiheitsrechte des Einzelnen zu sichern und zugleich eine mögliche Verletzung der Freiheitsrechte der Mitmenschen zu verhindern. Dies wird daran deutlich, dass die PID im konkreten Einzelfall bei Vorliegen der gesetzlichen Bestimmungen zwar straffrei ist, aber damit niemals zu einer gesetzlichen Vorschrift für alle gemacht werden kann. Da man eine PID unter strengen Voraussetzungen straflos vornehmen darf, aber nicht vornehmen muss, wird sowohl die Freiheit derjenigen respektiert, die im Rahmen der vom Gesetzgeber erlaubten PID Ge123 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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brauch machen, als auch derjenigen, die dieses Verfahren, weil in ihren Augen unerlaubterweise mit »embryonalen Menschen« umgehend, als unzulässig betrachten. Beides entspricht zudem einer Kultur des Respekts vor dem autonomiebasierten reproduktiven Selbstbestimmungs- und Entscheidungsrecht der Frau, dem Leben entgegenstehende hereditär bedingte Risiken ihres Nachwuchses zu vermeiden, aber auch die Freiheit in Anspruch zu nehmen, dieselben bewusst einzugehen, eine Freiheit, der die Gesellschaft in stärkerem Maße als bisher die notwendige Anerkennung und Unterstützung zuteilwerden lassen muss. Was die normativen Grundlagen der in Deutschland seit 2011 bestehenden gesetzlichen Regelung angeht, so haben sich bei einer Gegenüberstellung der lt. Gesetz eingeschränkten Erlaubnis der PID mit einem vollständigen PID-Verbot die folgenden Asymmetrien gezeigt: (1) Das Gesetz ermöglicht die Entscheidung der Frau, eine PID vorzunehmen oder sie nicht vorzunehmen – ein PID-Verbot nimmt der Frau diese Entscheidungsmöglichkeit. (2) Das PräimpG ermöglicht die Vermeidung der physischen und psychischen Belastung durch evtl. spätere Schwangerschaftsabbrüche – ein PID-Verbot nimmt eben diese in Kauf. (3) Das PräimpG respektiert die Gewissensentscheidung der Frau auch in Fragen der Reproduktion – das PID-Verbot zwingt der Frau (und der Gesellschaft als ganzer) die rechtliche und moralische Gleichsetzung des extrakorporalen mit dem eingenisteten Embryo und infolgedessen die gleiche Schutzpflicht auf. (4) Im PräimpG geht es als Verbotsgesetz mit Erlaubnisvorbehalt um eine strenge Restriktion des PID-Verfahrens – das PID-Verbot ordnet das reproduktive Selbstbestimmungsrecht der Frau ausnahmslos dem Lebensschutzrecht des extrakorporalen Embryos unter. (5) Das PräimpG respektiert nicht nur die Gewissensentscheidung der Frau, sondern auch diejenige der an einer PID beteiligten Ärzte – das PID-Verbot lässt den Ärzten keine Möglichkeit, evtl. lebensunfähiges Leben zu vermeiden. Das PräimpG dient angesichts dieser Asymmetrien einem gesellschaftlichen Kompromiss, der in seinem Kern darin besteht, Selbstbestimmungsrecht und Entscheidungsfreiheit der Frau auch in Fragen der Reproduktion mit einem möglichst hohen Schutz des werdenden menschlichen Leben vereinbar zu machen. Dies darf auch aus 124 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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ethischer Sicht als eine legitime und rechtfertigungsfähige Entscheidung gelten, da sie die Bedingung aller moralischen Zurechenbarkeit, die Freiheit des Einzelnen unter gleichzeitiger Sicherung der Freiheit des Mitmenschen, schützt und unterstützt. Eines hat der Gesetzgeber freilich nicht entschieden und wohl auch nicht entscheiden können: ob das Beispiel PID impliziert, dass bereits der extrakorporale menschliche Embryo Mensch oder erst auf dem Wege dorthin ist. 70 Ähnliches gilt von seinem moralischen Status. Für die ethische Analyse könnte hier ein Wechsel von einem ontologischen zu einem eher pragmatischen Verständnis des Embryos in der Petrischale hilfreich sein: 71 Nicht wer oder was er ist, sondern wie kohärent das Bild vom Menschen aussieht, wenn bereits der extrakorporale Embryo im Verfahren der PID als Mensch gilt, diese Weise des Menschseins jedoch in dem Bemühen um Lebensfähigkeit des Embryos zum Gegenstand einer Auswahl gemacht wird. Es ist unmittelbar einsichtig, dass der Gesetzgeber durch das PräimpG niemals den Menschen einem Auswahlverfahren mit z. T. negativem Ausgang aussetzen konnte noch ausgesetzt hat, sondern ein bestimmtes Prozess-Stadium, das unter günstigen Umständen zu einem Geborenen führt, unter ungünstigen Umständen jedoch, nämlich im Fall einer dem Leben entgegenstehenden genetischen Besonderheit, zu einer Totgeburt oder zu einem nach der Geburt nicht vermeidbaren Sterben führen kann. Ethisch gesehen will der Gesetzgeber mit dem PräimpG zu lebensfähiger Menschwerdung verhelfen und muss in Verfolgung dieses Zieles den Abbruch eines nichtlebensfähigen Menschwerdungsprozesses hinnehmen.
2.6 Kohärenzprobleme Zu den Aufgaben philosophischer Analyse von Handlungsoptionen wie derjenigen der PID gehört neben der Analyse der ethischen auch eine solche der logischen Implikationen. Konkret: Es geht um die Belt. Stellungnahme des Ethikrats (Fn. 45), 38, ist »der verfassungsrechtliche Status des Embryos in vitro … nicht streitfrei zu bestimmen«. 71 Näheres vgl. Beckmann, J. P.: Ontologische Status- oder pragmatische Umgangsanalyse? Zur Ergänzungsbedürftigkeit des Fragens nach dem Seinsstatus des extrakorporalen frühen menschlichen Embryos in ethischen Analysen, in: Maio, G. et al. (Hg.): Der Status des extrakorporalen menschlichen Embryos in ethischen Analysen. Stuttgart-Bad Cannstadt 2007, 275–304. 70
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wahrung von Kohärenz, im vorliegendem Fall der Kohärenz der Kritik am Verfahren der PID mit den als legal deklarierten und als legitim akzeptierten gesellschaftlichen Praktiken der Verhinderung der Einnistung von Embryonen sowie des Schwangerschaftsabbruchs. Diesbezüglich gilt es in einem liberalen Rechtsstaat, im Falle von Einschränkungen des autonomiebasierten Selbstbestimmungsrechts und der persönlichen Freiheit die Prinzipien der Alternativlosigkeit, der Verhältnismäßigkeit, der Angemessenheit und vor allem der Beweispflicht nicht des Einzelnen, sondern des Staates zu beachten. Man kann nicht widerspruchsfrei die Freiheit der Schwangeren zu einem unter bestimmten Voraussetzungen erlaubten Abbruch akzeptieren und zugleich durch ein PID-Verbot in das reproduktive Selbstbestimmungsrecht noch nicht Schwangerer eingreifen. Hinzukommt: Angesichts des dargelegten und offenbar fortbestehenden Dissenses über den humanen, genauer: den moralischen Status des frühen extrakorporalen und damit pränidativen Embryos in vitro, der für die einen bereits Mensch ist, für die anderen hingegen die Möglichkeit erhalten kann, bei ungehinderter Entwicklung, d. h. nach Übertragung in die Gebärmutter einer Frau, zum Menschen zu werden, gilt es, nicht nur aus Gründen der Ethik, sondern auch aus solchen der Logik auf Kohärenz mit der rechtlichen, ethischen und gesellschaftlich akzeptierten Praxis des bisherigen Umgangs mit dem pränidativen Embryo zu achten. 72 Diese Praxis reicht von der Akzeptanz der »Spirale« und der sog. »Pille danach«, welche Embryonen im Körper der Frau in unbekannter Zahl die Nidation und damit die Möglichkeit der Weiterentwicklung verwehren, bis hin zur Inkaufnahme sog. »überzähliger« Embryonen aus IVF-Verfahren, die infolge einer plötzlichen Erkrankung der Frau nicht transferiert werden können, weil eine Schwangerschaft möglicherweise medizinisch kontraindiziert ist. Ein vollständiges PID-Verbot müsste bereits die Nutzung von Antinidativa ebenso wie die IVF gleichermaßen unter Strafe stellen. Einer derartigen Konsequenz entgeht nur, wer auch bei der PID den Embryo als das ansieht, als was er offenbar auch bei der Anwendung von Antinidativa oder im Falle der »Überzähligkeit« bei der IVF gilt: Siehe auch Beckmann, J. P.: Zur Frage begrifflicher Klarheit und praxisbezogener Kohärenz in der gegenwärtigen Stammzelldebatte, in: Hilpert, K. (Hg.): Forschung contra Lebensschutz? Der Streit um die Stammzellforschung. Freiburg/Basel/Wien 2009, 60–75.
72
126 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Zur Frage des Lebensbeginns zwischen Nidation und Geburt
als nur bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen das Potenzial zur Menschwerdung besitzend. Die Gesellschaft muss sich eingestehen, dass der Embryo in vitro bei allem Respekt vor seinem auf die Möglichkeit der Menschwerdung angelegten Status noch nicht als Mensch angesehen werden kann, ungeachtet seiner Schutzwürdigkeit wegen seines Menschwerdungspotenzials.
3.
Zur Frage des Lebensbeginns zwischen Nidation und Geburt
3.1 Entwicklung als Mensch oder zum Menschen? Bleibt die Frage der Annahme des menschlichen Lebensbeginns zwischen Nidation des Embryos und der Geburt des Fetus. Entwickelt sich der eingenistete Embryo als Mensch oder zum Menschen? Tradition und gleichermaßen auch Intuition, aber auch die beiden christlichen Kirchen sagen: Es ist vom Beginn der Nidation an ein Mensch, der sich in Richtung Geburt entwickelt. Dagegen sind bisherige Gesetzgebung und gesellschaftliche Praxis nur vor dem Hintergrund der Annahme widerspruchsfrei zu verstehen, wenn die Antwort lautet: Es handelt sich beim intrauterinen Embryo um einen Entwicklungsprozess, der i. d. R. mit der Geburt eines Menschen zum Abschluss kommt; statt von einer Entwicklung des Menschen ist daher von einer solchen zum Menschen zu sprechen. Schauen wir uns diese Alternative an drei Beispielen für den Umgang mit dem vorgeburtlichen Embryo seitens Gesetzgebung und gesellschaftlichem Diskurs einmal näher an: an der gegenwärtigen Diskussion um den sog. »Bluttest«, an der Frage der legalen Abtreibung und an der Problematik der Spätabtreibung.
3.2 Der Embryo zwischen staatlichem Schutz und dem Respekt vor dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. 3.2.1 Beispiel: der sog. »Blut-Test« Die seit 2012 existierende Möglichkeit der Schwangeren, sich durch einen nichtinvasiven (Blut-)Test das Recht auf Wissen über mögliche 127 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
genetische Besonderheiten (Trisomien 13, 18, 19 oder 21) zu verschaffen, kollidiert für denjenigen, der den Embryo bereits ab Nidation als Menschen ansieht, zwangsläufig mit dem Gebot des Lebensschutzes, sofern es im Falle eines positiven Testergebnisses zu einer Abtreibung kommen kann. Für denjenigen hingegen, der den frühen Embryo als auf dem Wege zum Menschen betrachtet, erscheint eine Abwägung zwischen seinem zwar beginnenden, aber noch nicht vollständigen Lebensschutz einerseits und dem Respekt vor der Unverfügbarkeit und Freiheit der Schwangeren andererseits möglich. »Beginnender Lebensschutz« heißt: Schützbar ist noch nicht das Leben des Menschen, wie wir es bei den Geborenen kennen, sondern der Lebensentwicklungsprozess, der zu diesem Ziel führt. Ethisch und rechtlich möglich ist die Abwägbarkeit dieses Prozesses angesichts der hohen normativen Bedeutung der Autonomie der Schwangeren, deren Verwirklichung durch Selbstbestimmung gleich ein doppeltes Recht einschließt: erstens das Recht, sich zugunsten des Wissens oder des Nichtwissens hinsichtlich des Embryos in ihrem Körper zu entscheiden, zweitens das Recht des selber darüber Entscheiden-Dürfens, ob sie im Falle des Nachweises einer Trisomie die Schwangerschaft beenden lassen oder im Wissen um die Trisomie fortsetzen möchte. Der Abtreibungsmöglichkeit wegen wird der Bluttest von manchem kritisiert, der Möglichkeit einer Bejahung auch eines behinderten Kindes wegen von nicht wenigen begrüßt, ist doch erst infolge der Möglichkeit des Bluttestes eine bewusste Entscheidung zugunsten eines Kindes etwa mit Down-Syndrom möglich. Diesbezüglich muss freilich die Gesellschaft noch in weit deutlicherer Weise einer Mutter bzw. einem Paar mit von Trisomie betroffenem Kind Hilfe und Unterstützung zukommen lassen als dies bisher der Fall ist. Statt das Recht der Schwangeren auf die Entscheidung zwischen Wissen und Nichtwissen infrage zu stellen oder durch Verweigerung eines Bluttests als gesetzlicher Leistung der Krankenkassen die weniger Zahlungskräftigen zu diskriminieren, sollte die Gesellschaft den Schwangeren, die sich im Wissen um einen Embryo mit einer Trisomie zugunsten der Fortsetzung ihrer Schwangerschaft entscheiden, mehr Mut machen. Wenn man, wie die gegenwärtige Gesellschaft, davor zurückschreckt, eine Schwangere zu zwingen, einen Fetus mit Trisomie in jedem Fall auszutragen, dann muss dieselbe Gesellschaft alles für das Recht einer Schwangeren tun, sich für oder gegen die Fortsetzung ihrer Schwangerschaft zu entscheiden und ihr in beiden Fällen zur Seite stehen. 128 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Zur Frage des Lebensbeginns zwischen Nidation und Geburt
Wenn im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion des sog. »Bluttests« die Frage nach einem vertretbaren Ausgleich zwischen dem Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren einerseits und dem Schutz des Embryos andererseits steht, so setzt dies voraus, dass beides gegeneinander überhaupt abwägbar ist und dies setzt erkennbar voraus, dass der Embryo noch nicht Mensch, wenn auch auf dem Weg dorthin ist. Ist er bereits Mensch, dann dürfte es kaum möglich sein, sein Weiterleben, zumal angesichts seiner Vulnerabilität, so ohne weiteres dem Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht seiner werdenden Mutter unterzuordnen. Gilt der Embryo hingegen als zum Menschen Werdender, dann kann eine derartige Abwägung unter bestimmten Umständen in Betracht kommen. Beiläufig sei hinzugefügt, dass zu prüfen ist, (1) ob die Gesellschaft einer Schwangeren den Zugang zum Wissen um evtl. genetische Besonderheiten des Embryos dadurch verweigern kann, dass sie den Test als Kassenleistung ausschließt und (2) ob man unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten hinnehmen darf, dass ein solcher Wissenszugang nur Privatversicherten oder Begüterteren zusteht, die die Testkosten von ihrer PKV erstattet bekommen oder ggf. aus eigener Tasche finanzieren können. Hinzu kommt: Dass der Bluttest als Kassenleistung kontrovers diskutiert wird, während die Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) und die vor allem für den Embryo riskante Chorionzottenbiopsie längst als Kassenleistung anerkannt sind, zeigt, wie wichtig es ist, in ethischen Analysen auf Kohärenz zu achten. Auch ist die zentrale Frage, wie die Gesellschaft mit behinderten Mitmenschen umgeht, von der Art und Weise, wie sie mit der Frau umgeht, die vor der Entscheidung steht – ob sie von der Möglichkeit eines pränatalen Tests Gebrauch macht oder nicht, und wenn ja, ob sie ihre Schwangerschaft fortsetzt oder ggf. nicht – weder in der Sache noch in der ethischen Analyse zu trennen. Der gesellschaftliche Umgang mit dem eingenisteten Embryo ist naturgemäß ein Umgang mit einer Frau gemeinsam mit dem von ihr abhängigen Embryo bzw. Fetus, den die Gesellschaft nicht unter Missachtung der Würde und des autonomiebasierten Selbstbestimmungsrechts der Frau gleichsam »adoptieren« kann. Stattdessen muss die Gesellschaft einer Schwangeren Perspektiven der Hilfe eröffnen und ihr ggf. Mut machen, einen Embryo z. B. mit Down-Syndrom bewusst auszutragen. Wird hier der Unterschied zwischen dem Angang vom Was des Embryos zum Wie, von der Realität dessen, was er ist, zur Wirklichkeit dessen, wie er weiter werden kann, deutlich? Das würde bedeu129 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
ten, dass in dem Bemühen um die Sicherstellung der Freiheit der Frau nicht das Was des Embryos im Vordergrund steht, sondern die Fortsetzung oder die Nichtfortsetzung seines Werdens. 3.2.2 Beispiel 2: Embryoschutz und straffreie Abtreibung Letzteres zeigt sich besonders deutlich in der ethischen Analyse des Schwangerschaftsabbruchs. Diesbezüglich gehen Recht und Ethik verschiedene Wege. Das beginnt damit, dass der Gesetzgeber nicht den Respekt vor der Autonomie der Schwangeren in den Vordergrund stellt, sondern den Schutz des Embryos, der sog. Leibesfrucht, und diesen Schutz nicht im Zivil-, sondern im Strafrecht regelt. 73 Auch das Abtreibungsgesetz ist rechtsdogmatisch ein Verbotsgesetz mit Erlaubnisvorbehalt: Der Schwangerschaftsabbruch ist grundsätzlich verboten außer (1.) wenn sich die Frau die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht zuzumuten vermag, (2.) der Embryo nicht älter als drei Monate ist und (3.) eine vorhergegangene ärztliche Beratung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 durch eine Bescheinigung nachgewiesen wird und (4.) der Abbruch von einem Arzt vorgenommen wird. Als Begründung für die Straffreiheit führt der Gesetzgeber nicht das autonomiebasierte Selbstbestimmungsrecht der Frau an, sondern eine ärztliche Indikation, wonach der Abbruch »unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren … angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann«. 74 Normative Grundlage ist nicht die Autonomie der Frau, sondern die Schutzpflicht des Staates gegenüber der Schwangeren wie gegenüber dem Embryo, die nur unter den genannten vier Voraussetzungen zugunsten des Lebensschutzes der Frau und zu Lasten desjenigen des Embryos abgewogen werden darf. Wie die Praxis des unter bestimmten Voraussetzungen straffreien Abbruchs zeigt, gilt der Lebensschutz nicht absolut; er ist vielmehr gegen andere Normen abwägbar, im Falle des Schwangerschaftsabbruchs gegen die Abwehr von Gefahren für das Leben oder schwerwiegenden Beeinträchtigungen des körperlichen oder see73 74
§ 2018 StGB. StG § 218a Satz 2.
130 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Zur Frage des Lebensbeginns zwischen Nidation und Geburt
lischen Gesundheitszustandes der Frau. Doch: Den Lebensschutz des einen Menschen (hier der Schwangeren) bejahen und den Lebensschutz des anderen (hier des Embryos oder Fetus), sofern er bereits als Mensch betrachtet wird, im Konfliktfall zur Disposition zu stellen, stellt einen offensichtlichen Widerspruch dar. Lässt sich dieser Widerspruch mit dem Hinweis auf die in unserer Rechtsordnung geregelten ausnahmsweisen Abwägungen menschlichen Lebensschutzes lösen? Man betrachte die folgenden Beispiele • Im Falle eines tätlichen Angriffs auf das Leben eines Menschen darf der Angegriffene den Respekt vor dem Schutz des Lebensrechts des Angreifers dann hintanstellen, wenn dies die einzige Möglichkeit effektiver Gefahrenabwehr ist. • Ähnlich der Soldat bei der Verteidigung seines Landes: Ist der gegnerische Angriff nicht anders abzuwehren als durch Töten des Gegners, dann gilt dies als rechtmäßig und ethisch rechtfertigungsfähig. Doch lässt sich das auf die ethische Behandlung eines Embryos in utero übertragen? Er ist doch kein mutwilliger Angreifer, der es auf das Leben eines anderen Menschen, hier: der Schwangeren, abgesehen hat! Die Antwort aus ethischer Sicht muss lauten: Eine Rechtfertigung des legalen Aborts wäre auf dieser argumentativen Basis ethisch unmöglich. Ethisch möglich wird eine Abwägung des Lebensschutzrechts des Embryos allenfalls dann, wenn dieselbe gegenüber der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren vorgenommen wird und der Schutz des Lebensrechts des Embryos nur möglich wäre, wenn man sich seitens des Staates und der Gesellschaft über den Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht eines Menschen – hier der Schwangeren, die sich nach reiflicher Überlegung und pflichtgemäßer Beratung die Fortsetzung ihrer Schwangerschaft nicht zumuten kann – hinwegsetzte und wenn man den Lebensschutz des Embryos als Schutz seines Werdens versteht, im Unterschied zum Lebensschutz des Geborenen als Schutz seines Seins. Wenn jedoch der Embryo in utero nach Maßgabe des Verfassungsgerichts nicht nur ein Lebensschutzrecht besitzt, sondern auch und zuvorderst Anteil an der Menschenwürde hat, dann wird man den straffreien Abbruch infrage stellen müssen, ihn zumindest als illegitim und logisch widersprüchlich ansehen müssen: Denn anders als der Lebensschutz, der wie gesagt unter strengen Voraussetzungen in unserem Rechtssystem abwägungsfähig ist, ist die Würde des 131 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
Menschen, weil von ihr selbst her dem Menschen zu eigen, wie in Kap. 1 dargelegt, ausnahmslos abwägungsunzugänglich. Mit einem Wort: Das Abtreibungsrecht leidet, stellt man das Was des Embryos in den Mittelpunkt und schreibt man dem Embryo in utero bereits den aktuellen Besitz und nicht etwa nur den künftigen Anspruch auf Menschenwürde zu, statt den Prozesszustand zu beachten, in dem er sich befindet, nämlich bei ungehinderter Fortsetzung seiner Austragung zum Geborenen werden zu können, an einem unüberwindbaren Widerspruch. Aus ethischer Sicht erweist sich das bisherige Vorgehen des Gesetzgebers mithin in doppelter Hinsicht als problematisch: zum einen deswegen, weil eine Frau, die sich zur Fortsetzung ihrer Schwangerschaft nach reiflicher Überlegung außerstande sieht, grundsätzlich von Strafe bedroht und damit potentiell kriminalisiert wird, es sei denn die vier genannten Voraussetzungen für Straflosigkeit sind erfüllt; gleichwohl bleibt der Abbruch rechtswidrig; und sodann deswegen, weil der Gesetzgeber nicht auf die Fundamentalnormen der Menschenwürde und der Autonomie der Frau zurückgreift, sondern ihren Lebensschutz in den Mittelpunkt stellt. Konkret: Der Gesetzgeber sagt nicht, dass es gegen die Würde der Frau verstieße, wenn man sie zur Fortsetzung einer Schwangerschaft, zu der sie sich außerstande sieht, zwänge, noch dass dies mit dem Respekt vor ihrer Autonomie und Unverfügbarkeit nicht zu vereinbaren wäre, sondern dass dies mit der staatlichen Pflicht zum Lebensschutz nicht vereinbar wäre. Auf der anderen Seite, und das ist für den vorliegenden Zusammenhang mit der Frage nach dem Wie des Umgangs mit dem eingenisteten menschlichen Embryo entscheidend, sagt der Gesetzgeber auch nicht, dass das Leben des Embryos jedweder Abwägung entzogen sei. Im Gegenteil: Im Konfliktfall geht für ihn der Lebensschutz der Frau zu Lasten des Lebensschutzes des Embryos vor. Dies ist logisch nur dann widerspruchsfrei, wenn der Staat den eingenisteten menschlichen Embryo nicht als Menschen, sondern als im noch unabgeschlossenen Prozess des zum Menschen Werdens ansieht, also nicht sein Was, sondern sein Wie in den Mittelpunkt stellt. 3.2.3 Beispiel 3. Der sog. Spätabbruch: Lebensschutz der Frau vor Schutz des Fetus Doch kann das zuletzt Gesagte auch im Falle des Spätabbruchs für den Lebensschutz des Fetus gelten, vor allem ab der 24. Schwanger132 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Zur Frage des Lebensbeginns zwischen Nidation und Geburt
schaftswoche, wenn der Fetus auch außerhalb des Körpers der Frau unter Umständen lebensfähig ist? Muss nicht an die Stelle des Lebensschutzes des Werdenden im Falle des auch außerhalb des mütterlichen Körpers u. U. lebensfähigen Fetus der Lebensschutz des möglicherweise Mensch Gewordenen treten? Die Antwort kann nur ein klares ›Ja‹ sein. Diese Weise des Lebensschutzes des Fetus ist nur deswegen gegen den Schutz der Schwangeren abwägbar, weil er 1. nur die Möglichkeit seines Überlebens nach Spätabtreibung zum Gegenstand haben kann, und wenn 2. die Fortsetzung der Schwangerschaft für die Frau lebensbedrohlich ist und wenn sie 3. der Spätabtreibung zustimmt.
3.3 Fazit Überblickt man die drei vorgenannten Weisen des Bezugs zum Embryo bzw. Fetus – den Bluttest mit nachfolgend möglicher Abtreibung, die Regelung der bedingt straffreien Abtreibung in den ersten Monaten und das Verfahren der Spätabtreibung bei Gefahr für das Leben der Schwangeren –, so erscheint aus der Was-Sicht auf den Embryo bzw. Fetus als Menschen aus ethischer Sicht keines der drei Verfahren als ethisch rechtfertigungsfähig: der Bluttest nicht, weil er zuungunsten des Embryos ausgehen kann, die straffreie Abtreibung nicht, weil die natürliche Vulnerabilität des Embryos den Schutz seines Lebens in den Mittelpunkt zu stellen verlangt, und die Spätabtreibung nicht, weil es einen logischen Widerspruch darstellt, das Leben eines Menschen durch Tötung eines anderen, der auch noch wehrlos ist, retten zu wollen. Gibt es eine Möglichkeit der Vermeidung der vorgenannten Schwierigkeiten bzw. Widersprüche? Die eingangs gestellte Kernfrage, ob es sich beim eingenisteten Embryo um eine Entwicklung als Mensch oder um eine solche zum Menschen handelt, beruht trotz ihres Alternativcharakters auf einer gemeinsamen Annahme: derjenigen nämlich, dass es in beiden Fällen um das Was des Embryos geht. Dementsprechend thematisieren beide den Lebensanfang als Frage nach einem Subjekt, einem Träger – kurz: nach einem Sein, welches der intrauterinen Entwicklung zugrunde liegt. So vorzugehen ist eine ebenso übliche wie naheliegende Weise des Angangs an erklärungsbedürftige Phänomene, und dies in den Wissenschaften, denen es um Definitionen des Was eines Phänomens zu tun ist, ebenso wie im Alltag, wo es um die Verständigung 133 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
über Phänomene geht. Für den Ansatz bei der Was-Frage stellt der eingenistete Embryo und anschließend der Fetus eine Realität dar, an der Prozesse ablaufen. Im Terminus ›Realität‹ steckt das neulateinische ›realitas‹, welches sich aus dem lateinischen ›res‹ ableitet; ›res‹ meint ›Sache‹, ›Gegenstand‹, ›Ding‹ usw., ›Realität‹ steht mithin für ›Dinglichkeit‹. Doch während viele unserer Nachbarsprachen nur diesen einen Ausdruck ›reality‹, ›réalité‹ bzw. ›realtà‹ kennen, gibt es im Deutschen einen auf den ersten Blick gleichbedeutenden zweiten Terminus: ›Wirklichkeit‹. Während ›Realität‹ sich wie gesagt von einem Substantiv herleitet, stammt ›Wirklichkeit‹ von einem Verb, nämlich ›wirken‹. Auch wenn man im Deutschen beide Termini häufig als Synonyma verwendet, lassen sich doch mit ihrer Hilfe zwei ganz unterschiedliche Sachverhalte kennzeichnen: ›Realität‹ bezieht sich auf ein Was, einen wie immer gearteten Gegenstand, während ›Wirklichkeit‹ sich auf ein Wie, einen Prozess bezieht. Damit eröffnet sich die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen einem Prozessträger einerseits und dem Prozess selbst andererseits. Auf die Frage nach dem vorgeburtlichen Embryo/Fetus angewandt bedeutet dies: seiner Realität nach stellt er ein Was dar, seiner Wirklichkeit dagegen ein Wie, einen Prozess. Im ersten Fall ist der Embryo/Fetus ein etwas, an dem ein Prozess abläuft, im zweiten Fall hingegen ist er der Prozess selbst. Für die Verfechter der Position vom »Menschen vom Anfang an« bzw. vom »embryonalen Menschen« ist der Embryo bereits Mensch, mithin eine Realität; für die Vertreter der konkurrierenden Position hingegen wird er zum Menschen im Sinne eines Wirkens, einer Wirklichkeit. Ob eine solche Seins- versus Prozessunterscheidung geeignet ist, die Schwierigkeiten mit der Embryo-Bestimmung zu vermeiden bzw. die genannten Widersprüche aufzulösen, sei im Folgenden geprüft.
4.
Grundriss eines Lösungsvorschlages: von der Ontologisierung des Embryos zur Prozessanalyse.
Angesichts des vermutlich fortdauernden Dissenses in der Frage nach dem Anfang des Menschen einerseits und der Notwendigkeit einer Antwort auch aus ethischer Sicht andererseits erscheint ein Wechsel im Zugang zum Embryo hilfreich: von der ontologisierenden Sichtweise zu einer prozessbasierten Analyse. Statt also weiterhin zu fragen und zu streiten, was der Embryo ist, gilt es zu fragen, wie mit den 134 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Grundriss eines Lösungsvorschlages
unterschiedlichen Prozesszuständen des Embryos umzugehen ist. Der methodische Wechsel besteht darin, in der normativen Analyse anstelle von »Was ist …« zu fragen »Wozu wird …«. Konkret: Was folgt für die Frage nach dem Lebensanfang des Menschen, wenn man nicht das Sein des Embryos in der Vordergrund stellt, sondern denselben als Prozess versteht?
4.1 Vom Verständnis des Embryos als feststehender Realität zum Embryo als Prozessbegriff. Ethische Analysen im Gesundheitsbereich haben zwei Voraussetzungen: erstens die Berücksichtigung der zugrundeliegenden medizinisch-naturwissenschaftlichen Sachverhalte und zweitens die Sicherung logischer Kohärenz der betreffenden gesellschaftlichen Praxis. Erst auf dieser Basis lässt sich ethisch-argumentativ der Anspruch auf Moralität entsprechender Handlungsoptionen prüfen, wobei, wie gezeigt, der Ansatz bei Was-Fragen und den darauf aufbauenden ontologischen Festlegungen nicht selten zu dauerhaften Dissensen führt, während der Ausgang von Prozess-Stadien ein höheres Konsenspotenzial besitzt. So könnte das Motto der Frage aktueller ethischer Debatten über den vorgeburtlichen Anfang menschlichen Lebens lauten: Nicht was der Embryo ist, sondern zu was er werden kann, ist die für die ethische Analyse entscheidende Ausgangsfrage. Zur Erinnerung: Als die für ethische Analysen des Umgangs mit der Frage nach dem vorgeburtlichen Lebensbeginn des Menschen zentralen Normen haben sich gezeigt: der Respekt vor der Menschenwürde und der Schutz werdenden menschlichen Lebens. Normenkonflikte entstehen beim pränidativen Embryo zwischen dem Respekt vor ihm und dem Recht der Frau, schwanger oder nicht schwanger zu werden, und im Fall des eingenisteten Embryos im Hinblick auf seinen Lebensschutz und dem reproduktiven Selbstbestimmungsrecht der Frau. Im Hinblick auf den extrakorporalen Embryo haben sich im Falle seiner Gleichstellung mit dem Embryo im Körper der Frau normative Kohärenzprobleme aufgetan, und zwar im Rahmen von Verfahren wie der IVF – Ermöglichung neuen menschlichen Lebens unter Hinnahme sog. »überzähliger« Embryonen ohne Weiterlebenschance –, und der PID – Embryoselektion zum Zwecke der Ermöglichung lebensfähigen Nachwuchses unter Hinnahme der Selektion genetisch stark beeinträchtigter, weil nicht 135 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
lebensfähiger Embryonen. Unklarheiten der rechtlichen Embryo-Bestimmungen, vor allem aber der fortdauernde gesellschaftliche Dissens hinsichtlich einer Wesensbestimmung des Embryos legten daher nahe, anstelle einer ontologischen Was-Definition eine prozessbasierte Analyse seines Wie vorzunehmen, deren ethisch grundlegende Frage lautet: Welche Pflichten resultieren aus welchem Prozessmoment des extrakorporalen, des pränidativen und des eingenisteten menschlichen Embryos? Auf diese Weise wird entscheidend, dass dem extrakorporalen Embryo die Mutter, dem pränidativen Embryo die Aufnahme in den Körper einer zukünftigen Mutter und dem Embryo in utero die den Geborenen kennzeichnende selbständige Existenz fehlt. So könnte das Motto der Frage aktueller ethischer Debatten über den Anfang menschlichen Lebens lauten: Nicht was der Mensch vor seiner Geburt ist, sondern in welchem Prozess-Stadium er sich jeweils befindet, d. h. zu wem er wird bzw. bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen werden kann, stellt die für ethische Analysen des vorgeburtlichen Lebensanfangs entscheidende Frage dar. Der Ansatz beim Wie erspart die genannten Widersprüche des Ansatzes beim Was des Embryos bzw. Fetus. Da nun aber alle drei Weisen des Umgangs mit dem Embryo bzw. Fetus, wenn auch unter strengen Bedingungen, rechtlich möglich bzw. straffrei sind, lässt sich das ethisch nicht auf der Basis des Was, sondern nur unter Berücksichtigung des Wie, des jeweiligen Prozess-Stadiums rechtfertigen, in welchem er sich befindet: im Fall des Bluttestes aufgrund des Beginns eines Prozesses mit der immer noch vorhandenen Möglichkeit des Scheiterns; im Falle der legalen Abtreibung als Prozess zwar zunehmender, aber noch nicht gänzlich gegebener Sicherheit der Annäherung an das Geborenwerden, und im Falle der Spätabtreibung wegen der Nähe zur Prozessvollendung durch die Geburt bei Lebensgefahr für die Schwangere. D. h.: In keinem dieser Prozess-Stadien ist der Embryo bzw. Fetus bereits Mensch im Sinne des Geborenen, aber er nähert sich dem Menschsein: als eingenisteter Embryo im Abstand von bis zu 9 Monaten, als Fetus in immer größer werdender Nähe. Damit steigt infolge größer werdender Nähe zum Geborenwerden der Anspruch auf den Würderespekt und Lebensschutz, um mit der Geburt sein volles Maß zu erreichen. Der Ansatz beim Wie erspart die genannten Widersprüche des Ansatzes beim Was des Embryos bzw. Fetus. Stattdessen lässt eine prozessbasierte Konzeption des Embryos ethische Debatten um den 136 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Grundriss eines Lösungsvorschlages
rechtfertigungsfähigen Umgang mit ihm eher konsensuell erscheinen als der Versuch einer Wesensbestimmung des Embryos, welche die genannten Unterschiede nicht beachtet oder nicht für beachtlich zu halten vermag. Die Wesensbestimmung des Embryos schreibt fest, während die Prozessauffassung differenziert.
4.2 Grundsätzlicher Einwand: statt Wesensbestimmung reiner Nutzenkalkül? Der vorstehend vorgetragene Wechsel von einer ontologischen Wesensbestimmung hin zu einer prozessbasierten Sicht auf den Embryo muss sich freilich mit dem Einwand auseinandersetzen, er sei rein utilitaristischer Natur, ordne also die Sachanalyse einem Nutzenkalkül unter. Konkret: Man sehe vom Wesen des Embryos ab und löse ihn in diverse Prozess-Stadien auf, um mit ihm relativ ungehindert verfahren zu können. Dieser Einwand verdient angemessene Beachtung. Er leidet allerdings an einem sachlichen Defizit. So geht es der prozessbasierten Sicht auf den menschlichen Embryo ja gerade nicht darum, ihn nutzenorientiert zu definieren. Ganz im Gegenteil: So unterschiedlich Embryo-Definitionen sind: Sie haben allesamt gemeinsam, dass ihnen ethisch der Schutzgedanke und damit eine hohe ethische Norm zugrunde liegt. Nur hat sich gezeigt, dass dieser Schutzgedanke nicht kohärent angewendet wird: mal dient er der Verhinderung von Missbrauch, mal dem Respekt vor werdendem menschlichen Leben; mal gilt er dem Embryo lediglich in bestimmten Formen, mal soll er dem Embryo in allen seinen Erscheinungsformen gelten. Hinzu kommt die Gefahr der Ausblendung der Rolle der Frau. Wir haben bereits gesehen, dass die Rede vom extrakorporalen Embryo als »Mensch von Anfang an« die elementare Bedeutung der Frau für die Menschwerdung vollständig außer Betracht lässt, während die Rede vom Embryo, der sich einzunisten sucht, als »embryonalem Menschen« der Frau, die ihr reproduktives Selbstbestimmungsrecht nur durch Antinidativa wahrnehmen kann, das fortgesetzte Töten von Menschen in ihrem Körper unterstellt. Des Weiteren ist dargelegt worden, dass eine Frau, die sich die Fortsetzung ihrer Schwangerschaft nach reiflicher Überlegung nicht zutraut und die Schwangerschaft abbricht, als Straftäterin kriminalisiert wird und nur unter bestimmten Voraussetzungen straflos bleibt. Den Respekt vor dem menschlichen Em137 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
bryo aber darf aus ethischen Gründen nicht durch die Herabsetzung der Frau und ihres autonomiebasierten Selbstbestimmungsrechts erkauft werden.
5.
Fazit
Jede Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Lebensbeginn hat sozusagen ihren »Preis«. Wer schon den extrakorporalen Embryo zu den Menschen zählt (»embryonaler Mensch«), hält a) den Beitrag der Frau für die Menschwerdung für nicht konstitutiv und nimmt hin, dass b) die IVF aus Reproduktionszwecken in Form nicht zur Übertragung in den Körper einer Frau gelangender sog. »überzähliger Embryonen« den Untergang von Menschen einschließt sowie dass c) das Verfahren der PID zum Zweck der Auswahl lebensfähiger Embryonen das Verwerfen von genetisch behinderten Menschen toleriert, und dass d) zu Forschungszwecken aus »überzähligen Embryonen« durch Entnahme von Stammzellen Menschen die weitere Entwicklung verwehrt wird, und schließlich, dass e) Frauen, die ihre Familienplanung mithilfe von Antinidativa regeln, Menschen in ihrem Körper töten. Mit einem Wort: Wer den Beginn des Lebens des Menschen bereits vor der Einnistung des Embryos im Körper einer Frau ansetzt, der setzt sich nicht nur über naturwissenschaftliche, näherhin gynäkologische und embryologische Tatsachen hinweg, sondern muss die Verfahren der IVF, PID und der embryonalen Stammzellenforschung sowie den Einsatz von Nidationshemmern wegen mangelnden Respekts vor dem Schutz menschlichen Lebens ausnahmslos verbieten. Ein Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland jedoch, der die Verfahren der IFV, PID und der embryonalen Stammzellenforschung hingegen unter bestimmten Bedingungen erlaubt bzw. straffrei stellt, kann den Lebensbeginn des Menschen nicht widerspruchsfrei bereits beim extrakorporalen Embryo ansetzen. Wer stattdessen das Leben des Menschen mit der erfolgten Einnistung des Embryos im Körper der Frau beginnen lässt, der muss zwischen zwei grundverschiedenen Weisen menschlicher Existenz unterscheiden: zwischen dem Menschen, der als Embryo in utero 138 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Fazit
»Teil« eines anderen Menschen, nämlich der Schwangeren, ist, und dem Menschen mit der selbständigen Existenz des Geborenen. Doch kann es Menschen geben, die »Teil« eines anderen Menschen sind? Oder ist die Frage nach dem Beginn des Lebens des Menschen von der Frage zu unterscheiden, wann ein Prozess seinen Anfang nimmt, der nach erfolgreichem Durchlaufen einer Reihe für die Menschwerdung notwendiger Prozessstufen nach i. d. R. neun Monaten zum Geborenen wird und damit den individuell-personalen Lebensbeginn des Menschen markiert, wie wir ihn seit je her kennen? Das Dargelegte ist keine Antwort auf die Frage, wann naturwissenschaftlich, insbesondere medizinisch das Leben des Menschen beginnt, wohl aber eine Analyse der ethischen Implikationen der drei verschiedenen Annahmen über den Lebensbeginn, sei der Embryo bereits extrakorporal Mensch, sei er es durch Nidation im Erstkontakt mit seiner künftigen Mutter oder sei er durch die erfolgreiche Geburt zum Menschen geworden. Ersteres führt zu Inkohärenzen mit rechtlich erlaubten und gesellschaftlich mehrheitlich akzeptierten Verfahren, das zweite zu Wertungswidersprüchen im Recht (legale Abtreibung) und erst das dritte zur Vereinbarkeit mit den bereits vorhandenen gesetzlichen Regelungen betreffend embryonale Stammzellenforschung, Anticonceptiva, Antinidativa, IVF, PID und legale Abtreibung. Ethische Analyse zeigt sich in der vorliegend diskutierten Fragestellung nach dem Anfang des Menschen nicht als zwingend abschließend, sondern als durch Aufklärung Freiheit ermöglichend. Der Einzelne hat die Freiheit, das Leben mit der Vereinigung von Eiund Samenzelle beginnen zu lassen. Nur muss er dann die aufgezeigte Folge hinnehmen, dass der Anteil der Frau an der Menschwerdung entgegen einschlägigen embryologischen und gynäkologischen Erkenntnissen entweder gar keine Rolle spielt oder sich darauf beschränkt, lediglich der Ort der Menschwerdung zu sein und nicht ihre wesentliche Mitursache. Außerdem muss er mit den Widersprüchen leben, dass aus seiner Sicht die Embryonenforschung mit Menschen experimentiert, dass Nidationshemmer Menschen töten, dass im Verfahren der IVF »überzählige« Menschen entstehen und kryokonserviert werden und dass bei der PID Menschen »aussortiert« werden – Widersprüche zu vom Gesetzgeber jeweils unter bestimmten Voraussetzungen straffrei gestellten Verfahren, die aus seiner Sicht allesamt verboten werden müssten. Der hier vorgeschlagene Wechsel von einer Wesensbestimmung 139 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
des Embryos unabhängig vom Stadium, in welchem er sich jeweils befindet, zu einem Prozessbegriff des Embryos, für den der jeweilige Kontext von konstitutiver Bedeutung ist, soll die aufgezeigten Kohärenzprobleme vermeiden und gleichzeitig dem Embryo in jedem seiner Prozess-Stadien angemessenen Schutz und Respekt sichern. Wie aber steht es mit der Frage nach dem Ende menschlichen Lebens? Das soll uns im Folgenden beschäftigen.
140 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Einführung
Teil 2: Ethische Probleme der Frage nach dem Lebensende des Menschen angesichts des sog. Hirntodkriteriums 1.
Einführung
1.1 Zum medizinisch-rechtlichen Hirntodkriterium Als das Ende des Lebens des Menschen gilt nach wie vor sein Tod. Kriterium für dessen Eintritt ist finales (Multi-)Organversagen oder der Zusammenbruch des Herz-Kreislaufsystems, d. h. der nicht mehr behebbare Herzstillstand und in dessen baldiger Folge der Ausfall des gesamten Hirns infolge fehlender Sauerstoffversorgung. Diese Reihenfolge kann aber auch umgekehrt eintreten: kardialer Arrest infolge vollständigen Ausfalls sämtlicher Hirnfunktionen, also des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Im Unterschied zum kardialen Arrest jedoch, der unter bestimmten Umständen reversibel ist, d. h. apparativ rückgängig gemacht werden kann, ist der vollständige Ausfall des gesamten Hirns irreversibel. Die Diagnose des Hirntodes ist nur unter intensivmedizinischen Bedingungen möglich, weil nur dann die natürliche medizinische Folge des anschließenden Ausfalls der Herz-/Kreislauffunktionen apparativ verhinderbar ist. Die Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls muss von zwei neurologisch vorgebildeten Ärzten unabhängig voneinander und unabhängig von evtl. Transplantationszwecken aufgrund detaillierter Vorschriften des sog. »Hirntodprotokolls« 75 erfolgen und nach 24 Stunden wiederholt werden. Auch wenn diese Feststellung naturgemäß erst nach dem bereits eingetretenen Tod erfolgen kann, markiert sie medizinisch und rechtlich den Tod des Menschen. Folge: Das Hirntodkriterium besagt, dass Amt und Aufgabe der Ärzte beendet sind, denn es ist rechtlich unzulässig, an einem Verstorbenen weitere medizinische oder sonstige Handlungen, die nicht seiner würdigen Bestattung dienen, vorzunehmen. Einzige Ausnahme: Der Verstorbene hat zu Lebzeiten festgelegt, dass er post mortem seine Organe zum Zwecke der Lebensrettung und Vgl. Wiss. Beirat der Bundesärztekammer: Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes. 3. Fortschreibung 1997. In: Dt. Ärzteblatt 95, H. 30 vom 24. 7. 1998; A-1861. – vgl. 4. Fortschreibung vom 30. 1. 2015.
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Lebenserhaltung von Mitmenschen zur Verfügung stellt. Ist dies nicht geschehen und liegt auch keine ausdrückliche Ablehnung einer solchen Spende vor, entscheiden in Deutschland die nächsten Anverwandten (sog. »erweiterte Zustimmungslösung«) 76 – ein angesichts der Gefahr postmortaler Fremdbestimmung ethisch nicht unproblematisches Verfahren, und zwar insofern, als sich die Verwandten – für die Ärzte i. d. R. unerkennbar – über zu Lebzeiten des Spenders von ihm zwar nicht dokumentierte, aber durchaus geäußerte Einstellungen hinwegsetzen können, sei es, dass die Verwandten trotz ihres Wissens, dass der Verstorbene nie Einwände gegen eine post mortem erfolgende Organentnahme geäußert hat, eine solche ablehnen, sei es, dass die Verwandten im Wissen, dass der Verstorbene Vorbehalte gegen eine Organentnahme nach seinem Tode gehabt oder gar geäußert hat, einer postmortal erfolgenden Organentnahme dennoch zustimmen. In beiden Fällen liegt eine rechtlich wie ethisch nicht hinnehmbare Missachtung der auch nach dem Tode eines Menschen fortgeltenden autonomiebasierten Persönlichkeitsrechte vor.
1.2 Das Hirntodkriterium aus Sicht der Philosophie Das Hirntodkriterium, genauer: die wissenschaftliche Feststellung des irreversiblen Funktionsausfalls des gesamten Hirns, ist in der Westlichen Welt seit nunmehr mehr als einem halben Jahrhundert als sicheres Todeskriterium anerkannt. Gleichwohl wird es – vor allem in der deutschen Öffentlichkeit – immer wieder kontrovers diskutiert. Philosophisch ist hier ein Vierfaches zu beachten: 1. der wissenschaftstheoretische Status des Terminus ›Hirntod‹, 2. die Logik des Bezugs zur Transplantationsmedizin, 3. die anthropologische Deutung und 4. die ethischen Implikationen desselben. zu 1.: Der wissenschaftstheoretische Status des Hirntodkonzeptes ist der eines evidenzbasierten medizinisch-naturwissenschaftlichen und zugleich rechtlichen Kriteriums und nicht etwa der einer Wesensbeschreibung des Todes. Mit anderen Worten: Das Hirntodkriterium besagt nicht, was der Tod ist, sondern, dass er inzwischen eingetreten ist; er benennt also nicht eine Wesensdefinition, sondern ein Ereignis. Denn was der Tod für den Menschen bedeutet, kann nicht allein aufgrund rein naturwissenschaftlich-medizinischer Para76
§ 4 Transplantationsgesetz (TPG).
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meter gesagt oder gar entschieden werden, wohl hingegen, wann er eingetreten ist. 77 zu 2.: Was die Logik dieses Kriteriums angeht, so ist die Feststellung des Hirntodes nicht nur im Falle einer nachfolgenden postmortalen Organentnahme ein sicheres Todeskriterium, sondern unabhängig davon. Apparative Möglichkeiten der weit fortgeschrittenen Intensivmedizin dürfen, wie gesagt, bei Feststellung des vollständigen Funktionsausfalls des gesamten Hirns weder ärztlich noch rechtlich fortgesetzt werden. D. h.: Die Hirntodfeststellung ist zwar die rechtlich notwendige Voraussetzung für eine evtl. Organentnahme; doch ist nicht jede Hirntoddiagnostik mit einer Organentnahme verbunden. In Deutschland z. B. sterben von jährlich ca. 850.000 Menschen etwa 50.000 unter intensivmedizinischen Bedingungen, davon sind aber nur ca. 5.000 potenzielle Organspender, während bei den übrigen 45.000 aus Respekt vor der Totenruhe die kreislauferhaltenden Apparate unmittelbar abgeschaltet werden müssen. Eine post mortem erfolgende Organentnahme ist insofern der Sonderfall der Hirntodfeststellung, die intensivmedizinische Situation hingegen der Normalfall. zu 3.: Anthropologisch stellt der Tod des Menschen ein Phänomen dar, das bekanntlich historisch, gesellschaftlich, kulturell und nicht zuletzt religiös überformt ist. Betrachtet man den Menschen nicht dualistisch als eine Art ›Körper-Geist-Kompositum‹, sondern als körperlich-geistige Einheit, so ist die Voraussetzung eben dieser Einheit mit dem irreversiblen Ausfall des gesamten Gehirns – im Unterschied zum kardialen Arrest, der wie gesagt u. U. reversibel ist – unwiederbringlich entfallen, ungeachtet des Umstandes, dass einzelne Organfunktionen infolge apparativer Unterstützung künstlich über einen gewissen Zeitraum hinweg an ihrer natürlichen Dekomposition gehindert werden können. zu 4.: Ethisch bedeutsam daran ist, dass die Ärzteschaft mit dem Hirntodkonzept ein sicheres Kriterium dafür an der Hand hat, dass bei Nachweis des vollständigen Funktionsausfalls des gesamten Gehirns, wie gesagt, Aufgabe und Amt des Arztes beendet sind und weiZu den einzelnen Aspekten des Hirntodkonzepts vgl. Spittler, J. F.: Der Hirntod – Tod des Menschen. Grundlagen und medizinische Gesichtspunkte, in: Ethik in der Medizin 7 (1995), 128–145. – Ders.: Gehirn, Tod und Menschenbild. Stuttgart 2003. – siehe auch die Beiträge zum Thema »Hirntod – Tod des Menschen?« in: Universitas 4 (1995). – Zum Zusammenhang mit der Transplantationsmedizin vgl. Oduncu, F.: Hirntod und Organtransplantation. Göttingen 1998.
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teres ärztliches Handeln – außer im Falle vorheriger Zustimmung des Verstorbenen oder seiner Angehörigen zu einer Organentnahme – unärztlich und unethisch wäre.
2.
Zur ethischen Debatte um das Hirntodkriterium
Diesbezüglich ist zu unterscheiden zwischen einer prinzipiellen und einer faktischen Form der Hirntodkritik. Während die prinzipielle Kritik des Hirntodkriteriums den Menschen gleichsam »auf sein Hirn reduziert« sieht, hebt die faktische Kritik hervor, der vollständige Funktionsausfall des gesamten Hirns könne kein sicheres Todeskriterium sein, weil z. B. hirntote Schwangere unter bestimmten Bedingungen den Fetus zumindest noch für eine kurze Zeit weiter »austragen« könnten. »Tote« bzw. Leichen, so noch kürzlich die ›Tagespost‹ anlässlich der Fortsetzung der Schwangerschaft bei einer Hirntoten, »können keine Schwangerschaften fortsetzen.« 78 Was hier nicht unterschieden wird, ist der Umstand, dass der Ausdruck »Leiche« normalerweise den Prozess der Verwesung bezeichnet; dieser natürliche Prozess ist aber im Falle der künstlichen, durch Apparate aufrechterhaltenen Herz-Kreiskauffunktion sistiert. Dies ändert nichts am rechtlichen noch am medizinischen Status des Verstorbenen, doch wird für eine bestimmte Zeit der natürliche Prozess der Verwesung verhindert. Ähnlich erklären sich gelegentlich auftretende Phänomene wie das sog. »Lazarus-Syndrom«, womit von außen evozierte reflektorische Bewegungen gemeint sind, die der medizinische Laie leicht für einen intentionalen Akt halten und damit irrtümlich als personales Lebenszeichen ansehen kann. Nach medizinisch-wissenschaftlicher Auskunft handelt es sich jedoch nicht um ein personales Geschehen des Körpers eines lebenden Menschen, sondern um Nebeneffekte künstlicher Aufrechterhaltung der Kreislauffunktionen am an sich toten Körper. Aus Sicht der philosophischen Anthropologie haben die Hirntodkritiker dann Recht, wenn man, etwa im Gefolge René Descartes’, den Menschen in eine – den Naturgesetzen unterworfene – res extensa, den raum-zeitlichen Körper einerseits, und eine – dem Reich der Freiheit angehörende – res cogitans, den Geist andererseits, »aufteilt«. Unter dieser Sicht stellt der vollständige Ausfall des Gesamt78
Tagespost vom 16. 12. 19, S. 1.
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Zur ethischen Debatte um das Hirntodkriterium
hirns gleichsam das Ende des Geistes, nicht aber schon dasjenige des Körpers und damit noch nicht dasjenige des ganzen Menschen dar, zumindest solange nicht, wie es maschinell gelingt, bestimmte Körperfunktionen vor dem natürlichen Prozess der Dekomposition der Leiche zu schützen. Die Hirntodkritiker verkennen nicht, dass der vollständige Funktionsausfall des gesamten Hirns eine wie auch immer geartete Rückkehr in ein bewusstes menschliches Leben ausschließt. Sie bezweifeln jedoch, dass damit auch die biologische Existenz des Menschen beendet sei. Nun ist das eine Zeit lang Fortdauern bestimmter zellbiologischer Prozesse allerdings auch bei Begrabenen bekannt; dennoch wird niemand behaupten, man begrübe Noch-Lebende, wenn man nicht auf das endgültige Aufhören aller zellulären Prozesse wartete. Zentraler ethischer Streitpunkt ist, ob die Organentnahme die vorhergegangene medizinisch-wissenschaftliche Todesfeststellung zur notwendigen Voraussetzung hat (sog. »Dead Donor Rule«) oder ob es hinreicht, dass der Spender seine entsprechende Zustimmung in einem wirksamen Organspenderausweis dokumentiert hat. Nun hat der Gesetzgeber festgelegt, dass vor einer Organentnahme der Tod »nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen«, 79 festgestellt worden ist. Ethisch basiert dies auf der Norm des Lebensschutzes, die von dritter Seite nicht ohne Not infrage gestellt oder zum Gegenstand einer Abwägung mit anderen Normen gemacht werden darf. Demgegenüber vertreten Hirntodkritiker, dass die medizinische Hirntoddiagnostik nicht den Tod des Menschen festzustellen vermag; dennoch könne man Organe entnehmen, weil nur noch biologisches Leben vorhanden, das personale Leben hingegen erloschen sei. Der Dead Donor Rule bedürfe es daher nicht; entscheidend sei die vorher freiwillig erfolgte und dokumentierte Zustimmung des Spenders aus bewusster Lebenszeit. Die ethische Norm des Respekts vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrechts des Organspenders überrage ethisch den möglichen Vorwurf einer Tötungshandlung infolge Organentnahme. 80 TPG § 3 Abs. 1 Nr. 2. In § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG ist vom Nachweis des endgültigen Ausfalls aller Hirnfunktionen die Rede. 80 Der damalige Erzbischof von Köln, Kardinal Joachim Meisner (†), hat in einem hirntodkritischen Beitrag mit dem Titel »Wann trennen sich Leib und Seele?« in der »Frankfurter Allgemeinen« festgestellt, es gelte »die Frage zu behandeln, ob dann, wenn der Hirntod nicht der Tod des Menschen ist, Organspende möglich bleibt, ohne 79
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Hierzu ist zu sagen, dass – einmal unterstellt, der Respekt vor dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht des Menschen schließe auch den Respekt vor seinem Recht auf Selbsttötung ein 81 – dies nicht einschließt, dass daran Dritte ursächlich beteiligt werden dürften. Eben dies aber ist bei einer Organentnahme bei einem per hypothesim Noch-Lebenden der Fall: Es wäre eine Organentnahme mit Todesfolge, und da daran die Ärzte ursächlich beteiligt sind, eine Tötungshandlung seitens der Ärzte; genauer – die vorherige dokumentierte Zustimmung des Organspenders vorausgesetzt – ein Akt der Tötung auf Verlangen – nach § 217 StGB bekanntlich eine Tötungsstraftat. Ethisch verwickelt sich die Begründung hierfür unvermeidbar in den logischen Widerspruch, dass ein und dieselbe ethische Norm – hier die des Respekts vor dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht auch in Bezug auf das eigene Leben – einerseits zur ethischen Grundlage erklärt, andererseits aber durch Instrumentalisierung der Ärzte verletzt wird. So selbstredend es jedermann freisteht, das evidenzbasierte wissenschaftliche Hirntodkriterium für seine Person nicht anzuerkennen, so kann er gleichwohl unter dieser Voraussetzung kein Organspender werden. Wie gesagt, Ethik vermag nicht zu entscheiden, was der Tod ist, wohl aber argumentativ zu prüfen, wie die Frage der Moralität des Umgangs mit ihm unter normativen Aspekten zu beurteilen ist. Hier liegt der zentrale Grund, warum sich analog zur prozessbasierten Lebensanfangsdiskussion anstelle einer ontologischen Wesensbestimmung des Todes bei ethischen Fragen eine pragmatische Umgangsanalyse nahelegt. Das Wesen des Todes ist zu komplex, daraus abgeleitete Ansichten zu vielfältig und teilweise kontrovers, als dass sich eindeutige Ergebnisse einstellten. Darauf wird zurückzukommen sein. Zuvor geht es darum, zu klären, ob und wenn ja inwiefern die Diskussion um das Hirntodkriterium etwas mit menschlicher Autonomie zu tun hat.
dass dann getötet wird. Hierzu hat die wissenschaftliche Debatte überzeugende Ergebnisse erbracht, die es erlauben, diese Frage zu bejahen«. FAZ vom 25. Januar 1997, 2. 81 Mehr dazu siehe unten Kap. V.
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Hirntodkriterium und menschliche Autonomie
3.
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Der Mensch lebt von dem Augenblick an, an dem er als Mensch existent ist, und er ist tot in dem Augenblick, in dem er als Mensch zu leben aufgehört hat. Entscheidend ist hier der jeweilige Zusatz ›als Mensch‹, denn Leben gibt es, wie anhand der obigen Embryo-Diskussion gezeigt, sowohl vor dem menschlichen Lebensbeginn durch Geburt als auch zellbiologisch nach dem menschlichen Ende. So wie man ganz ohne Zweifel Ei- und Samenzelle spätestens mit ihrer Verschmelzung als ›Leben‹ bezeichnet, so bleibt auch nach dem Ende des Menschen im Verstorbenen bis zum Untergang der letzten Zelle noch für eine geraume Zeit ›Leben‹ im biologischen Sinn. Subsumiert man jedoch diese Formen zellulären Lebens unter den Begriff des Lebens des Menschen, so reduziert man den Menschen wesentlich auf einen biologischen Prozess.
3.1 Der Zusammenhang zwischen Todesverständnis und Hirntodkriterium Im gegenwärtigen, vor allem in Deutschland andauernden Disput um das evidenzbasierte medizinisch-wissenschaftliche Todeskriterium spielt die mangelnde Unterscheidung zwischen ›Leben‹ im zellulären und organischen Sinne einerseits und ›Leben‹ im personalen menschlichen Sinne andererseits eine erhebliche Rolle. Ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt der Umstand, dass Leben und Tod des Menschen nicht immer als eine strenge begriffliche Disjunktion beachtet werden. Eben hierzu aber zwingt die Logik. Der Mensch lebt entweder oder er ist tot, tertium non datur. Desungeachtet wird von manchem Hirntodkritiker die Behauptung aufgestellt, man müsse so etwas wie einen »dritten« Status annehmen, da der Hirntote zwar Nachfolgendes geht ursprünglich auf eine kurze schriftliche Stellungnahme des Vfs. im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestags am 25. 09. 96 zum Gesetzentwurf und den Anträgen zum Transplantationsgesetz (Drs. 13/2926, Drs. 13/4114 und 13/4368) zurück. Vgl. Protokoll der X. Sitzung des Ausschusses für Gesundheit vom 25. 9. 1996. Eine ausführliche Ausarbeitung, die in weiten Teilen hier übernommen ist, findet sich in: Beckmann, J. P.: Hirntodkriterium und menschliche Autonomie aus philosophischethischer Sicht, in: Schulz, J. / Vormbaum, Th. (Hg.): Festschrift für Günter Bemmann zum 70. Geburtstag. Baden-Baden 1997, 18–36.
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nicht mehr normales menschliches Leben darstelle und in ein solches auch nicht mehr zurückkehren könne, andererseits aber auch noch nicht definitiv tot sei. 83 Diese Argumentation leidet nicht nur an der mangelnden Unterscheidung zwischen menschlich-personalem und biologisch-zellulärem Leben, sie unterscheidet auch nicht zwischen Leben des Menschen und den über den Tod des Menschen hinaus für eine geraume Zeit fortdauernden biologischen Prozessen in seinem Körper. Auch in der Leiche, die wir zu Grabe tragen, laufen noch bestimmte zelluläre Prozesse ab, nur ist es nicht mehr Leben des Menschen, sonst würden wir, wie gesagt, ihn nicht zu Grabe tragen dürfen. Es geht in der Diskussion um Leben und Tod des Menschen genaugenommen nicht um die Frage, wann der Mensch tot ist, sondern um das Kriterium, mit Hilfe dessen wir Leben und Tod gesichert voneinander unterscheiden können. Traditionell und außerhalb der Notfall- und Intensivmedizin ist dies auch heute noch der Zusammenbruch des Herz-Kreislauf-Systems, äußerlich auch für den medizinischen Laien erkennbar am Ausfall von Herzschlag und Puls sowie am Ausbleiben der Atmung, sofern auch durch sofort eingeleitete Intensivmaßnahmen nicht behebbar. Diese traditionelle Todeswahrnehmung ist jedoch durch Entwicklungen und Fortschritte der Notfall- und Intensivmedizin seit den 50er Jahren insoweit um ihre Eindeutigkeit gebracht worden, als der Zusammenbruch des HerzKreislauf-Systems, wie gesagt, unter bestimmten Umständen rückgängig gemacht werden kann. 84 Dagegen ist anders als der Herzstillstand der Hirntod, wie ebenfalls gesagt, irreversibel, auch wenn das im Unterschied zum Herzstillstand nicht durch bloße Wahrnehmung feststellbar ist. So kommt es, dass bei Notfällen – seien es Unfälle, seien es plötzlich auftretende lebensbedrohliche Erkrankungen – der Notarzt vor Ort selbst dann eine Wiederherstellung der Herz-/KreisSelbst von Ärzten kann man gelegentlich hören, der Hirntote sei kein »Ganztoter«, sondern ein »lebender Organismus, der bestimmte Fähigkeiten verloren hat … Erst die Transplantation tötet«, so die Leserzuschrift eines Prof. Dr. med. in der Süddeutschen Zeitung Nr. 154 vom 6./7. Juli 2019, 18. 84 Diese Feststellung ist auch insoweit von Bedeutung, als in der gegenwärtigen Diskussion von Hirntodgegnern immer wieder unterstellt wird, die Ärzte, speziell die Transplantationsmediziner hätten das Hirntodkriterium zum Zwecke der Organerhalts »erfunden«. Dies widerlegt sich schon dadurch, dass Entdeckung und Praxis der Hirntoddiagnostik bereits vor der modernen Organtransplantation weit fortgeschritten waren. Das Hirntodkonzept ist ein Produkt der Intensiv- und Notfallmedizin, nicht der Transplantationsmedizin. 83
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lauffunktion vornimmt, wenn er Anlass zu nachhaltigem Zweifel am Hirnstatus des Patienten oder Unfallopfers hat. Hier lautet mit Recht die Maxime ›in dubio pro vita‹, im Zweifel zugunsten der Annahme des Lebens. Wird anschließend in der Klinik aufgrund eines exakt vorgeschriebenen komplizierten Verfahrens 85 ein inzwischen eingetretener vollständiger Funktionsausfall des Gesamthirns festgestellt, dann ergibt sich für die ärztliche Kunst ein Zustand, in welchem dieselbe keinerlei Möglichkeiten mehr hat, Leben im Sinne eines Lebens des Menschen zu restituieren. Die Medizin vermag lediglich – und auch das nur in begrenzter Zeit – mit Hilfe der Fortsetzung der apparativen Unterstützung der Vitalfunktionen den Körper des Hirntoten an der natürlicherweise eintretenden Dekomposition der Leiche zu hindern. Da es sich um einen Toten handelt, sind die Ärzte rechtlich gezwungen und medizinisch gehalten, die Apparate abzustellen; dies stellt nicht etwa eine Handlung mit Todesfolge dar, sondern geschieht aus Respekt vor einem Toten. Der Hirntod dient mithin als Kriterium für den zuvor eingetretenen Tod des Menschen. 86 Ein Kriterium ist nicht dasselbe wie eine Definition: 87 Ein Kriterium dient der Feststellung des Gegebenseins eines Sachverhalts; eine Definition dagegen schafft allererst den Sachverhalt, für den sie gilt. Folgerichtig wird der Verstorbene mit Hilfe des Hirntodkriteriums nicht für tot erklärt, sondern es wird sein inzwischen eingetretener Tod festgestellt. Der gängige Vorwurf, die Mediziner »definierten« mit Hilfe des Hirntodkriteriums den Tod, 88 verkennt die methodologische Funktion von Kriterien, welche ihrer Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer: Kriterien des Hirntodes – Entscheidungshilfen zur Feststellung des Hirntodes. Dt. Ärzteblatt 79 (1982) 35–41, fortgeschrieben ebda. 83 (1986) 2940–46 und 88 (1991) B-2855–60. Vgl. auch Haupt, W. F./Schober, O./Angstwurm, H./Kunze, K.: Die Feststellung des Todes durch den irreversiblen Ausfall des gesamten Gehirns – (»Hirntod«) – Wertigkeit technischer Methoden zur Bestätigung der klinischen Zeichen. Dt. Ärzteblatt 90 (1993) B-222225. 86 Vgl. zum Ganzen Schwarz, M. / Bonelli, J. (Hg.): Der Status des Hirntoten – Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens. Wien/New York (Springer) 1995, insbes. den Beitrag von Pöltner, G.: 125–146. 87 Vgl. Birnbacher, D.: Einige Gründe, das Hirntodkriterium zu akzeptieren. In: Hoff, J. / in der Schmitten, J. (Hg.): Wann ist der Mensch tot? Reinbek 1994, 28–40; dies., Definitionen, Kriterien, Desiderate. In: Universitas 50 (1995) 343–356. 88 Vgl. Jonas, H.: Gehirntod und menschliche Organbank. Zur pragmatischen Umdefinierung des Todes. In: Ders., Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt/M 1985, 219–241, hier 233. 85
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Natur nach anders als Definitionen keine Sachverhalte konstituieren, sondern lediglich das Gegebensein derselben konstatieren. Kriterium und dasjenige, was mit seiner Hilfe unterschieden wird, sind zweierlei. Das Hirntodkriterium und der Tod sind nicht nur methodologisch, sondern auch faktisch zweierlei: Der Tod ist das Ereignis, das Hirntodkriterium der Maßstab zur Feststellung dieses Ereignisses. Die Ereignisfeststellung setzt das vorherige Eingetretensein des Ereignisses voraus und ist insofern von ihm zu unterscheiden. Hirntoddiagnostik ist ihrer Natur nach mithin keine Diagnostik an einem Sterbenden, sondern an einem Toten. So exakt die Todesdiagnostik ist, so kann sie doch nur das zuvor Eingetretensein des Todes, nicht aber den genauen Zeitpunkt des Todes bestimmen. Insoweit erweist sich die vielgestellte Frage »Wann ist der Mensch tot?« 89 als äußerst ungenau, wenn nicht irreführend: Es geht medizinisch (im Unterschied zum Recht) nicht um den Augenblick des Todes, sondern um das wissenschaftsbasierte Kriterium, mit dessen Hilfe der Tod des Menschen zweifelsfrei festgestellt werden kann. Im Lichte der genannten Logik des Zusammenhangs zwischen Hirntodkriterium und Todesdefinition wird deutlich, dass man nicht nur aus methodologischen und semantischen Gründen zwischen beidem unterscheiden, sondern darüber hinaus feststellen muss, dass das Hirntodkriterium keine Definition des Todes ist, wohl aber eine Todesdefinition zur Voraussetzung hat. Darin unterscheidet sich das Hirntodkriterium in keiner Weise vom traditionellen Herztodkriterium: Auch dieses setzt eine definitorische Bestimmung dessen voraus, wofür es ein Kriterium ist. Die entsprechende Definition lautete und lautet noch immer: Ist ein Herzstillstand trotz aller Bemühungen um Reanimation nicht reversibel, so galt und gilt der Tod des Menschen als eingetreten, obwohl wir heute wissen, dass der vollständige Funktionsausfall des Gesamthirns den kardialen Arrest um einige Minuten überdauert. Der Funktionsausfall des Gehirns und derjenige des Herzens stehen in einem wechselseitigen Zusammenhang, in welchem die Medizin freilich, wie gesagt, nur von einer Seite eingreifen kann: Sie kann den Funktionsausfall des Herzens unter gewissen Umständen umkehren, nicht hingegen den des Gehirns. Gelingt es, den Funktionsausfall des Herzens innerhalb weniger Minuten zu restituieren, bleibt das Gehirn erhalten und somit der Mensch ein Vgl. den gleichnamigen von J. Hoff und J. in der Schmitten herausgegebenen Sammelband: Wann ist der Mensch tot? Reinbek 1994.
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Lebender. Gelingt die Wiederbelebung des Herzens jedoch erst nach dem irreversiblen Absterben des Gehirns, so ist der Mensch verstorben, die Revitalisierung der Herz-Kreislauf-Funktion ist nichts anderes als die apparative Sistierung der normalerweise nach dem Tode des Menschen eintretenden Dekomposition der Leiche. Letzteres wollen die Hirntodkritiker jedoch nicht gelten lassen. Sie behaupten, mit dem irreversiblen Funktionsausfall des Gehirns sei das Sterben des Menschen zwar in ein unaufhaltsames terminales Stadium eingetreten, aber noch nicht durch den Tod des Menschen beendet. Wenn, wie gezeigt, das Hirntodkriterium keine Todesdefinition ist, wohl aber eine solche voraussetzt, so ist zu klären, was hier definiert wird und was nicht. Die Antwort hierauf ist weder neu noch besonders schwierig. Definiert wird, wie seit Jahrhunderten im Falle des Herztodkriteriums, das Ende des Lebens des Menschen als Menschen, nicht das Ende aller biologischen Funktionen im Körper des Toten. Mit Sicherheit nicht Gegenstand dieser Todesdefinition ist der menschliche Tod als Sinnkonstrukt. Schon immer hat der Mensch über seine biologische Endlichkeit hinaus dem Tod einen bestimmten Sinn gegeben, wobei die Bandbreite dieser Sinngebung von der christlich-jüdisch-islamischen Vorstellung, der Tod sei das Tor zum eigentlichen Leben, über den Gedanken vom Weiterleben des Toten in der Erinnerung der Lebenden bis hin zur These vom Tod als der absoluten Absurdität menschlichen Lebens reicht. Es versteht sich von selbst, dass weder das traditionelle Herztod- noch das gegenwärtige Hirntodkriterium irgendeine dieser Sinndeutungen zur Voraussetzung hat. Es ist unschwer erkennbar, dass die Entscheidung darüber, welche Sichtweise korrekt ist, nicht nur von begrifflichen, sondern auch und in besonderer Weise von anthropologischen Voraussetzungen abhängt. Hinter der Annahme, der künstlich in seinen Vitalfunktionen erhaltene Körper eines Hirntoten sei ein noch nicht verstorbener und damit ein noch lebender Mensch, steht eine andere Konzeption vom Menschen als hinter derjenigen, nach welcher der Hirntod bzw. der trotz aller Bemühungen nicht mehr reversible kardiale Arrest den Tod des Menschen anzeigt. Die Frage nach dem Bild des Menschen ist traditionell eine zentrale Frage der philosophischen Anthropologie.
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3.2 Anthropologische Hintergründe der Debatte um das Hirntodkriterium Aus anthropologischer Sicht lässt sich die gegenwärtige Argumentation der Kritiker des Hirntodkonzepts durch die drei folgenden Überlegungen wiedergeben: (1) Gegen die Annahme, der Hirntote sei ein toter Mensch, spricht die äußere Wahrnehmung: es fehlen die klassischen Todeszeichen wie sich entwickelnde Hypothermie, Leichenflecken und Muskelstarre; der künstlich beatmete Körper des Hirntoten ist von dem eines Schwerstkranken für den medizinischen Laien äußerlich schwer zu unterscheiden. (2) Der Mensch ist nicht nur ein denkendes, fühlendes und wollendes, sondern auch ein biologisches Wesen. Mit dem Funktionsausfall des Gesamthirns ist die physiologische Voraussetzung des Ersteren, nicht aber schon des Letzteren entfallen. Also handelt es sich um einen noch nicht gestorbenen, sondern um einen noch lebenden Menschen. (3) Wer den vollständigen Funktionsausfall des Gesamthirns und damit den Fortfall der physiologischen Voraussetzungen für Denken, Fühlen und Wollen mit dem Tod des Menschen gleichsetzt, vertritt ein »hirnorganhierarchisches Menschenbild«. 90 Das erste Argument ist kein im engeren Sinne anthropologisches, sondern ein erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretisches. Mit ihm wird behauptet, die äußere Wahrnehmung könne sich über wissenschaftlich überprüfbare Sachverhalte hinwegsetzen. Dass der Mensch in den Wissenschaften, aber auch im Alltag ständig Wahrnehmungen durch Wissen korrigieren muss, wird hierbei außer Acht gelassen. 91 Eine intensive Auseinandersetzung verlangen hingegen die beiden anderen Argumente, weil hinter ihnen unterschiedliche Bilder vom Menschen stehen. Die klassische, auf Aristoteles zurückgehende und bis zum Beginn der Neuzeit vorrangig vertretene anthropologische Grundkonzeption betrachtet den Menschen als eine zentral sich Terminus in der Begründung zum Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Transplantationsgesetz vom 15. 11. 1995. Deutscher Bundestag, Drucksache 13/2926, 11. 91 Zur Frage, ob der Körper des Hirntoten ›Leiche‹ genannt werden kann, vgl. Spittler, J. F.: Sterbeprozess und Todeszeitpunkt. Die biologischen Phänomene und ihre Beurteilung aus medizinischer Sicht. In: Medizinethische Materialien. Zentrum für Medizin. Ethik Bochum 1996, Heft 112, 3 f. 90
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Hirntodkriterium und menschliche Autonomie
selbst organisierende und steuernde leiblich-geistige Einheit. Nach Aristoteles unterscheidet sich der Mensch von den Pflanzen, welche lediglich ein vegetatives, und den Tieren, welche neben dem vegetativen ein sensomotorisches Lebensprinzip besitzen, dadurch, dass er über beides hinaus eine geistig-leibliche Einheit besitzt, welche sich selbst zentral organisiert und steuert. Aristoteles sagt ausdrücklich, dass einzelne Teile des menschlichen Körpers für sich genommen nichts bedeuten: »So ist der Finger eines Lebewesens nicht in jedem Zustande Finger: als toter ist er es nur dem Namen nach«. 92 Erst im Zusammen des als selbsttätige und selbstgesteuerte psycho-somatische Einheit verstandenen Menschen ist der Finger das, was das Wort bezeichnet. Über zwei Jahrtausende später ist es Kant, der ebenfalls den menschlichen Finger als ein Beispiel für die integrative Einheit des Menschen nennt: »Wo ich empfinde, da bin ich. Ich bin ebenso unmittelbar in der Fingerspitze wie in dem Kopfe …«. 93 Was Aristoteles und Kant in dieser Frage verbindet, ist die Überzeugung, dass der Mensch eine von innen heraus sich selbst steuernde Einheit darstellt, deren einzelne »Teile«, wie Organe, Glieder, Zellen o. ä., nur infolge zentraler Steuerung das Leben eines Menschen sichern. Entfällt die zentrale Steuerung, zerbricht die Einheit, mit der Folge, dass der Finger nicht mehr Finger und die Hand nicht mehr Hand und a fortiori der Körper nicht mehr der Leib eines Menschen ist. Der Grundgedanke, dass der Mensch eine sich selbst steuernde Einheit darstellt, ist durchaus mit den Selbstorganisationstheorien der heutigen Biologie kompatibel, wonach Lebewesen autopoietische, d. h. sich selbst herstellende und leitende Systeme darstellen, welche nicht von außen fremd-, sondern von innen heraus eigengesteuert sind. 94 Das Besondere an diesem Konzept der Selbstorganisation liegt darin, dass jede Einzelfunktion nur aus der Sicht des Ganzen als zum System gehörig bezeichnet werden kann (vgl. »Der Finger ist nur ein Finger, wenn er sich am Körper eines lebenden Menschen befindet«). Dies hindert nicht, dass es Einzelfunktionen gibt, deren Ausfall das System verträgt oder kompensiert; doch es gibt Funktionen, deren irreversibler Ausfall zum Zusammenbruch der Selbstorganisation Aristoteles, Metaphysik VII, 10; 1035b 24/25. Kant, I: Akademieausgabe II, 324 f. 94 Vgl. Eigen, M. / Schuster, P.: The Hypercycle. A Principle of Natural Self Organisation. 1979. – s. a. Eigen, M.: Stufen zum Leben. Frankfurt/M. 1987. – Maturana, H. R. / Varela, F. J.: Autopoietic Systems. A Characteristic of the Living Organism. Urbana, Ill. 1975. 92 93
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des Systems und damit zum Zerbrechen der Einheit des Ganzen führt. Dass die klassische Konzeption vom Menschen und die moderne Selbstorganisationstheorie in wesentlichen Aspekten miteinander kompatibel sind, liegt nicht zuletzt an einer gemeinsamen Gegnerschaft, derjenigen nämlich gegen dualistische Auffassungen vom Menschen. Aristoteles hatte damit insofern zu tun, als sein Lehrer Platon eine radikale Trennung vertreten hat zwischen dem Bereich des eigentlich Seienden, den Ideen, welchen die Seele des Menschen angehört, und dem Bereich des nur abgeleiteten Seienden, zu dem der menschliche Körper zählt. 95 Auch Kant und mit ihm die Philosophie der Neuzeit bis in die Gegenwart hinein musste sich mit einem Dualismus auseinandersetzen, diesmal nicht platonischer, sondern cartesischer Provenienz. Danach ist der Mensch, wie gesagt, ein Wesen, welches qua Körper der durch die Gesetze der Natur mit Notwendigkeit bestimmten Welt der ausgedehnten Dinge (res extensae) und qua Geistwesen der durch Freiheit gekennzeichneten Welt der Geistwesen (res cogitantes) angehört. So problematisch die anthropologischen Implikationen des cartesischen Dualismus inzwischen geworden sind, so wenig darf man übersehen, dass er die neuzeitlichen Wissenschaften vom Menschen, vor allem die Medizin, zunächst nachhaltig gefördert hat. Denn erst die »Aufteilung« des Menschen in ein dem Prinzip der Freiheit verpflichtetes Geist- und ein den Naturgesetzen unterliegendes Körperwesen erlaubte es, ersteres zu respektieren und gleichwohl letzteres wie eine Maschine anzusehen und zu inspizieren. Die so gewonnenen Erkenntnisse über die naturkausal verlaufenden Prozesse im menschlichen Körper haben zur Entdeckung von pathologischen Abweichungen und vielfach zu Therapien zwecks deren Heilung geführt. Der Preis hierfür ist jedoch ein Denken, welches das Äußere des Menschen, seine Körperlichkeit, nicht mehr als Ausdruck eines Inneren, seines Personseins, und das Innere nicht mehr als Bedingung für das Äußere zu begreifen vermag. Am Ende ist des Menschen Geist, wie der englische Philosoph Gilbert Ryle es ausgedrückt hat, nur noch eine Art »Gespenst in der Maschine«. 96 Hat man den Menschen erst einmal in Körper und Geist auseinanderdividiert, fällt es schwer, ihn als eine ursprüngliche Einheit zu denken. 95 96
Vgl. Platon, Phaidon 74a ff. und Politeia 509b ff. Ryle, G.: The Concept of Mind. London 1949, 15 f.
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Hirntodkriterium und menschliche Autonomie
Obwohl der cartesische Dualismus heute als verfehltes, zumindest als nicht mehr brauchbares anthropologisches Modell gilt, 97 wirkt er unterschwellig fort. In der Hirntoddebatte zeigt sich dies deutlich in der immer wieder zu beobachtenden Zuweisung des Gehirns zum geistigen und der übrigen Organe zum körperlichen »Teil« des Menschen. Nun ist nachweisbar physiologische Voraussetzung für alle geistigen Äußerungen des Menschen wie Denken, Fühlen und Wollen das Gehirn. Gleichwohl wird man physiologische Voraussetzungen nicht mit anthropologischen Manifestationen in eins setzen können. Zwar denkt der Mensch mit Hilfe seiner Gehirnzellen, ohne dass doch deswegen beides, Gehirnzellen und Denken, miteinander identisch wäre. Dass der Hirntote nie wieder denken, fühlen, wahrnehmen oder etwas wollen kann, heißt nicht, dass nur seine geistige Existenz erloschen ist, seine physische aber noch vorhanden wäre. Solches ließe sich nur vor dem Hintergrund des Dualismus behaupten. Der Hirntote, dessen Vitalfunktionen künstlich konserviert werden, vermag nicht nur nicht mehr zu denken, zu fühlen und zu wollen, er vermag auch im Sinne eines bewussten intentionalen Aktes keinen Finger mehr zu krümmen, keine Hand mehr zu erheben, seinen Kopf nicht mehr zu bewegen. Entsprechende Bewegungen wie z. B. das schon erwähnte sog. ›Lazarus-Syndrom‹ (die bei Hirntoten u. U. evozierbare scheinbare ›Umarmung‹) sind nichts anderes als automatische spinale Reflexe. 98 Letzteren etwa als ›Umarmung‹ zu deuten, hieße eine Intentionalität unterstellen, wie sie bei Lebenden üblich, bei einem Hirntoten aber grundsätzlich nicht mehr möglich ist. Sieht man genau hin, dann führt die These der Hirntodkritiker, der Hirntote sei ein noch Lebender, geradewegs in den Dualismus, den man vermeiden möchte. Denn indem man den Status des Hirntoten, welcher sich der artifiziell, d. h. von außen aufrechterhaltenen Vitalfunktion des Körpers verdankt, als den eines noch lebenden Menschen bezeichnet, führt man eine Art reduzierten menschlichen Daseins, eine ›existentia minima‹, eine Art ›Minimalleben‹ ein. Die künstlich durch externe Apparaturen gestützte Interaktion einzelner Für die Kritik am cartesischen Dualismus wichtig und folgenreich ist I. Kants Kritik der reinen Vernunft, insbesondere die ›transzendentale Dialektik‹, A 333 ff. Hinsichtlich der Dualismuskritik im 20. Jh. vgl. Ryle, G.: op. cit. (Fn. 96), 45 f. 98 Zur neurologischen Bewertung vgl. Angstwurm, H.: Der Tod des Gehirns als sicheres Todeszeichen des Menschen. In: Politische Studien 46 (1995), 60–67, hier 62. – Ders., Der vollständige und endgültige Hirnausfall (Hirntod) als sicheres Todeszeichen des Menschen. In: Hoff, J. / in der Schmitten, J. (Hg.), (Fn. 89), 41–50. 97
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III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
Organe bei gleichzeitigem vollständigem und irreversiblem Gehirnausfall konstituiert jedoch keinen Menschen, es sei denn, man löst die Einheit des Menschen auf und lässt ihn gleichsam zwei Tode sterben, erst den »geistigen« Hirntod und anschließend den »körperlichen« Tod. Nun behaupten ihrerseits die Hirntodkritiker einen Dualismus der Hirntodbefürworter, indem sie unterstellen, das Hirntodkriterium als Todeskriterium orientiere das Bild des Menschen einseitig an seiner Geistigkeit 99 resp. an der organischen Basis derselben, am Gehirn. Doch der Mensch besteht nicht aus zwei Bereichen oder »Teilen«, noch ist seine Geistigkeit in einem Organ »lokalisierbar«. Vor dieser Art Dualismus ist das Hirntodkriterium gefeit, besagt es doch, dass mit dem vollständigen Funktionsausfall des Gesamthirns die selbstgesteuerte Einheit des Menschen unwiederbringlich zerbrochen ist. Was übrig bleibt, ist nicht eine ›Restform‹ menschlicher Existenz, sondern ein sich normalerweise auflösender Körper, welcher mit Hilfe von Apparaten für eine bestimmte Zeit an der natürlichen Dekomposition gehindert werden kann. 100 Es ist diese nicht-dualistische Konzeption des Hirntods als des Zerbrechens der Einheit des Menschen, welche zugleich sicherstellt, dass tief Komatöse und Langzeitapalliker eindeutig und unmissverständlich zu den Lebenden gehören.
3.3 Logik des Zusammenhangs zwischen Hirntodkriterium und Autonomie. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der menschlichen Autonomie zu. Wie das bisher Dargelegte hat deutlich werden lassen, wird das Hirntodkriterium unterschiedlich, ja gegen99 In der Begründung zum obengen. Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Fn. 90) als »Geistigkeitstheorie« bezeichnet; vgl. Drs. 13/2926, S. 12. Ähnlich seinerzeit Kardinal Meisner in seinem Beitrag »Wann trennen sich Seele und Leib« in der FAZ vom 25. 1. 1997: »Wenn manche den Menschen über seinen Geist, sein Bewusstsein, seine Intelligenz definieren, dann liegt in der Tat nahe, im irreversiblen Ausfall der gesamten Hirnfunktionen ohne weiteres den Tod des Menschen zu sehen.« 100 Die Hirntodkritiker nennen diesen Ansatz eine »biologische ›Ganzheitstheorie‹«. Vgl. die Begründung des Antrags BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Fn. 90), 12. Wie zuvor mit der Bezeichnung »Geistigkeitstheorie« wird auch hier genau das zuvor unterstellt, was anschließend kritisiert wird. Denn indem die Ganzheitstheorie eine »biologische« genannt wird, erscheint sie als eine Teilsicht des Menschen. Doch eben das ist die Ganzheits- oder Einheitssicht des Menschen gerade nicht.
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Hirntodkriterium und menschliche Autonomie
sätzlich aufgefasst. Für die große Mehrheit der Ärzteschaft der Westlichen Welt ist es ein sicheres Kriterium für die Todesfeststellung; für manchen medizinischen Laien hingegen stellt der vollständige Funktionsausfall des Gehirns zwar einen bedeutsamen Punkt im Sterbeprozess dar, doch bedeutet er noch nicht den endgültigen Todeseintritt, mit der Folge, dass der Hirntote als ein wenn auch sterbender, so doch noch lebender Mensch erscheint. Gleichwohl sind nicht wenige Menschen der Meinung, es bedürfe zur Organentnahme gar nicht des Hirntodkriteriums als eines materialen Todeskriteriums; vielmehr reiche dasselbe als formales Entnahmekriterium vollkommen aus: Das Hirntodkriterium zeige zwar nicht den Tod des Spenders an, wohl aber einen todesnahen Zustand, von dem es kein Zurück in ein bewusstes Leben gebe. Letzteres hat unmittelbare Folgen für den logischen Status des Umgangs mit der Autonomie des Menschen. Für die Hirntodbefürworter geht es um die Frage, wie dem Respekt vor der postmortal weiterwirkenden Autonomie des Menschen entsprochen werden kann; für die Hirntodkritiker geht es dagegen um die Frage, wie diesem Respekt in einem Zustand entsprochen werden kann, in welchem sämtliche Voraussetzungen einer Manifestation von Autonomie unwiederbringlich entfallen sind. Aus der Sicht der Hirntodbefürworter gestaltet sich die Logik des Verhältnisses zwischen Todeskriterium und Autonomie dahingehend, dass der vollständige Funktionsausfall des Gehirns respektive seine nach den strengen Vorschriften der Hirntoddiagnostik erfolgende Feststellung die notwendige Bedingung, nicht aber schon die hinreichende Bedingung für eine Organexplantation darstellt. Danach kommt die menschliche Autonomie in diesem Zusammenhang gar nicht erst zum Zuge, wenn nicht zuvor der Tod zweifelsfrei festgestellt worden ist. D. h. der Tod ist die notwendige Bedingung der Möglichkeit dafür, dass lebensnotwendige Organe überhaupt einer zu Lebzeiten autonom verfügten Freigabe zur Explantation zugänglich gemacht werden können. Der Tod ist eben nicht schon die hinreichende Bedingung; diese ist, wie gezeigt, erst dann erfüllt, wenn entweder eine prämortal gegebene Einverständnisverfügung vorliegt oder aber durch die nächsten Anverwandten glaubhaft bekundet wird, dass eine Explantation im Sinne des Verstorbenen liegt respektive seiner zu Lebzeiten geäußerten Auffassung zumindest nicht widersprechen würde. Damit ist das logische Verhältnis zwischen dem Hirntod als Todeskriterium und der menschlichen Autonomie dasjenige zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung: die hinrei157 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
chende setzt das Vorliegen der notwendigen Bedingung voraus und erlaubt deren Umsetzung. Logisch gesprochen liegt also eine einfache Subjunktion vor von der Art: Wenn der Tod zweifelsfrei festgestellt ist, dann kann eine zuvor gegebene oder nachträglich eruierte autonomiebasierte Zustimmung zum Zuge kommen, andernfalls nicht. Der Tod ist mithin die ›conditio sine qua non‹, die notwendige Bedingung, die autonom gegebene Zustimmung hingegen die ›conditio per quam‹, die hinreichende Bedingung. Letzteres mag für denjenigen, der den Respekt vor der Autonomie des Menschen sehr hoch ansetzt, wie eine Hintansetzung von Autonomie hinter das Lebensschutzprinzip erscheinen. Dem ist zu entgegnen, dass ein solcher Eindruck nur dann gerechtfertigt wäre, wenn es wirklich noch Leben gäbe, das zu schützen wäre. Das aber ist per definitionem aufgrund des rechtlich wie medizinisch als Todeskriterium geltenden Hirntodkriteriums ja nicht der Fall. Dass die gesicherte Todesfeststellung als notwendige Bedingung dem Autonomierespekt vorausgehen muss, liegt nicht an einer Hintansetzung der Letzteren, sondern ganz im Gegenteil an der hohen Stellung auch der postmortal weiterwirkenden Autonomie und ihrer dokumentierten oder verbürgten prämortalen Manifestation – insoweit ähnlich dem testamentarisch verfügten Willen eines Verstorbenen. Anders sieht die Logik des Zusammenhangs zwischen Hirntodkriterium und Autonomie dann aus, wenn der Hirntod kein materiales Todes-, sondern lediglich ein formales Explantationskriterium ist. In diesem Falle ist nicht der Tod Bedingung, sondern lediglich ein bestimmter Status im Leben des Menschen. Dieser Status hat jedoch keine materiale, sondern nur eine formale Funktion, d. h. sein Bedingungscharakter ist gebunden an eine andere, eine materiale Bedingung: an die Zustimmung des Organspenders. Seine Zustimmung ist die notwendige Bedingung, sie ist die Voraussetzung für das Greifen der hinreichenden Bedingung, des Zustandes nach Ausfall aller Hirnfunktionen. Eine Gegenüberstellung des jeweiligen Verhältnisses zwischen Hirntod und Autonomie verdeutlicht erneut, dass der Punkt, wo sich die Wege unvermeidlich trennen, in der Auffassung des logischen Status des Hirntodkriteriums liegt. Ist dasselbe materiales Todeskriterium, so gelangt die postmortal weiterwirkende Autonomie des Menschen voll zum Zuge: Eine Widerspruchsverfügung oder aber Unklarheit über die Lebenssicht des Verstorbenen machen eine Explantation ethisch inakzeptabel, eine Einwilligungsverfügung respek158 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Hirntodkriterium und menschliche Autonomie
tive seine von den Angehörigen bestätigte nicht ablehnende frühere Lebenseinstellung lassen eine Explantation als ethisch zweifellos rechtfertigungsfähig erscheinen. Dagegen zeigt der Blick auf die Logik der Beziehung zwischen dem Hirntod als nur formalem Explantationskriterium und menschlicher Autonomie, dass man einerseits das Grundrecht auf Leben nach Art. 2, Abs. 2 GG ex hypothesi über den Hirntod hinaus ausdehnen, dieses Grundrecht aber infolge der Autonomie des Menschen zugleich wieder aufheben muss. Dieser fundamentale Widerspruch hat zur Folge, dass derjenige, der unter Rekurs auf seine Autonomie verfügt, dass er im Falle seines Hirntodes sich zwar noch nicht als verstorben betrachtet, gleichwohl aber den Ärzten erlaubt, ihn zu explantieren und damit, wie gezeigt, seinen Tod ursächlich herbeizuführen, sich selbst seiner autonomen Möglichkeiten beraubt. Ein derartiger Widerspruch lässt sich nur dann vermeiden, wenn man dem Einzelnen in einer pluralistischen Gesellschaft zwar die Sinndeutung des Todes nach wie vor freistellt, nicht aber die Entscheidung darüber, wann sein Leben beendet ist. Denn so unterschiedlich die Sinndeutungen des Todes unter den Menschen sind, so eindeutig ist infolge der biologischen Gemeinsamkeiten das Ende des Menschen. Alle Versuche, den Status des Körpers nach dem vollständigen Ausfall aller Gehirnfunktionen und vor dem Abbruch der künstlichen Unterstützung der Vitalfunktionen als eine Art »dritten Zustand« oder als »Schwebezustand« 101 auszuweisen, führen unvermeidlich in den aufgezeigten Widerspruch. Eine derartige Verwischung der Grenze zwischen menschlichem Leben und Tod führt darüber hinaus, wie gesagt, zu Verunsicherungen hinsichtlich des Zustandes von tief Komatösen, Langzeitapallikern und anderen: Gerade das Hirntodkriterium als materiales Todeskriterium sichert, wie gezeigt, den Status dieser Menschen als unzweifelhaft lebender Menschen. Der Zusammenhang zwischen Hirntodkriterium und menschlicher Autonomie erweist sich insoweit keineswegs als ein spezieller, nur auf die Frage postmortaler Organexplantationen begrenzter Zusammenhang. Er betrifft vielmehr weit darüber hinaus den Umgang mit den Möglichkeiten der heute weit fortgeschrittenen Intensivmedizin, für die es ein prinzipieller Unterschied ist, ob das Abstellen 101 Von letzterem sprach der seinerzeit vorgelegte Antrag der Abgeordneten E. von Klaeden et al., Bundestags- Drucksache 13/6591, S. 3.
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III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
der Apparate erfolgt bzw. erfolgen muss, weil Menschen infolge des vollständigen Ausfalls der Gehirnfunktion Verstorbene sind, oder weil sie für die Hirntodkritiker trotz des irreversiblen Ausfalls des Gesamthirns als noch nicht verstorben und damit als noch lebend gelten, mit der Folge dass das Abstellen der die Vitalfunktionen aufrechterhaltenden Apparate eine ursächliche Herbeiführung des Todes darstellt. Angesichts dieser Konsequenz die Bestimmung des Todes als des Endes des Lebens des Menschen eine »offene Frage« 102 bleiben zu lassen, erscheint aus logischer Sicht als widersprüchlich, aus anthropologischer Sicht als verfehlt und aus ethischer Sicht als inakzeptabel: Die Logik der Begriffe ›lebend‹ und ›tot‹ duldet kein Drittes, die Anthropologie kennt den Menschen nur entweder als lebend oder als tot, und die Ethik kennt keinen moralischen Status des ›zwar nicht mehr in vollem Sinne Lebend-, aber zugleich auch noch nicht ganz Totseins‹. Ein Eingriff in einen sterbenden Menschen ist naturgemäß ein Eingriff in einen Lebenden, der auch durch dessen Zustimmung prinzipiell nicht rechtfertigungsfähig wird, denn menschliche Autonomie schließt nicht das Recht auf Tötungserlaubnis aufgrund der Aktivität Dritter ein. Nur wenn das Hirntodkriterium materiales Todeskriterium bleibt, kann menschliche Autonomie sich auch nach dem Tod ungehindert manifestieren, sei es zugunsten, sei es zuungunsten einer Organspende.
4.
Grundriss eines Lösungsvorschlages
4.1 Von der Wesensbestimmung des menschlichen Lebensendes zur pragmatischen Umgangsanalyse Wie schon bei der Frage nach dem Lebensanfang des Menschen sei auch in Bezug auf die Debatte um sein Lebensende ein Methodenwechsel geprüft: im vorliegenden Fall von einer ontologisierenden Sichtweise hin zu einer pragmatischen Umgangsanalyse. Statt also weiterhin zu fragen und zu streiten, wann der Mensch endet, gilt es zu fragen, wie wir uns als Menschen verstehen, wenn der Mensch nach dem vollständigen Ausfall des gesamten Gehirns als verstorben gilt oder dies erst nach dem zusätzlichen nicht mehr behebbarem Herz-Kreislaufzusammenbruch der Fall ist? Wie schon in der Lebens102
l. c.
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Grundriss eines Lösungsvorschlages
anfangsfrage besteht der methodische Wechsel darin, in der normativen Analyse anstelle von »Was ist …« zu fragen »Was folgt, wenn …«. Konkret: Was folgt für das heutige Selbstverständnis des Menschen, wenn man sein Ende nicht als biologisches Zuendesein, sondern als ein personales Nichtmehrsein begreift? Ein solcher Ausgang von Fragen nach den Implikationen besitzt infolge des notwendigen Rückbezugs auf das Selbstverständnis der Fragenden ein hohes Konsenspotenzial, da ihnen niemand ausweichen kann. Wenn das Hirntodkriterium anstelle einer Ontologisierung des Menschen in körperhafte res extensa und geistige res cogitans einer faktischen Umgangsanalyse unterzogen wird, indem es auf das Bild vom Menschen als eines körperlich-geistigen Einheitswesens bezogen wird, dann bedeutet dies, dass der Einzelne sich gegenüber dem Hirntodkriterium affirmativ oder ablehnend verhalten kann; er hat mithin die Freiheit, es zu akzeptieren oder nicht zu akzeptieren. Macht er von dieser Entscheidungsfreiheit dahingehend Gebrauch, dass er das Hirntodkriterium anerkennt, so hat er erneut eine Freiheit, z. B. die, sich für oder gegen eine postmortale Organspende zu entscheiden. Entscheidet er sich jedoch gegen das Hirntodkriterium als Todeskriterium, dann freilich hat er in ethischer Sicht diese Freiheiten nicht, d. h. keine Möglichkeit zu einer post mortem-Spende seiner Organe, denn aus seiner Sicht des auch nach vollständigem Funktionsausfall des gesamten Hirns noch Weiterlebens würde er den Ärzten ja, wie dargelegt, eine strafbare Tötungshandlung nach § 217 StGB ansinnen und ggf. seinen Angehörigen im Falle der »Erweiterten Zustimmungslösung« die Beihilfe dazu. Es geht mithin nicht mehr um das Was des Hirntodkriteriums, ob es nun den Tod bedeutet oder nicht, sondern um das Wie, das es eröffnet: sich nämlich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen und darin nicht nur eine unabwendbare Notwendigkeit zu erblicken, sondern zugleich das vorhandene Freiheitspotenzial zu entdecken und ggf. zu realisieren. Das Hirntodkriterium wandelt sich insofern vom Angst machenden medizinischen Was zur befreienden Handlungsoption am Lebensende. Mit einem Wort: Das Hirntodkriterium eröffnet Möglichkeiten der Manifestation menschlicher Autonomie.
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III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
4.2 Genereller Einwand: statt Wesensbestimmung Nutzenkalkül Wie schon hinsichtlich der Frage nach dem menschlichen Lebensanfang der Übergang von der Wesensdefinition des Embryos zur prozessbasierten Sicht dem Einwand reinen Nutzenkalküls ausgesetzt war, so auch der hier vorgeschlagene Wechsel von einem dualistischen zu einem integrativen Verständnis des Menschen: Man bestimmt das Todeskriterium um der Möglichkeiten willen, im Falle des irreversiblen Ausfalls des Gesamthirns die Apparate abstellen bzw. evtl. zuvor Organe entnehmen zu können. Dieser nicht selten anzutreffende Einwand leidet allerdings an sachlichen und insbesondere an logischen Defiziten: Die Naturwissenschaften »erfinden« nicht, sondern sie finden. Das Hirntodkriterium ist nicht zum Zweck postmortaler Organgewinnung »erfunden« worden, wie immer wieder von Kritikern behauptet wird, sondern Resultat von Fortschritten der Intensivmedizin, die es ermöglichen, auch bei vollständigem Funktionsausfall des gesamten Hirns den ihm notwendig folgenden Zusammenbruch des Herz-Kreislauf-Systems künstlich, d. h. apparativ für unbestimmte Zeit aufzuschieben. Das Hirntodkriterium gründet sich ethisch mithin nicht auf den Nutzenkalkül der Organgewinnung, sondern auf den Respekt vor dem auch über den Tod hinauswirkenden autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht eines Menschen, der damit auch die Freiheit des Sichin-ein-Verhältnis-Setzens zur eigenen Endlichkeit besitzt. 103
5.
Fazit
Bemüht man sich, auch hinsichtlich des Umgangs mit dem Hirntodkriterium die zugrundeliegenden medizinisch-naturwissenschaftlichen Sachverhalte und die Sicherung logischer Kohärenz der betreffenden gesellschaftlichen Praxis aufeinander zu beziehen, so wird deutlich, dass der Ausgang von Wesensbestimmungen nahezu zwangsläufig zu dauerhaften Dissensen führt, während der Ansatz bei Umgangsanalysen ein hohes Konsenspotenzial besitzt. So könnte das Motto der Frage aktueller ethischer Debatten über das Ende menschlichen Lebens lauten: Nicht was der künstlich beatmete Körper nach Feststellung des vollständigen Funktionsausfalls 103
Mehr dazu s. unten Kap. V.
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Epilog: Autonomie und Widerspruchslösung
des gesamten Gehirns darstellt, sondern wie wir mit ihm umgehen müssen, ist die für ethische Analysen des Lebensendes entscheidende Frage. Zwar bleibt in diesem Fall die Frage nach dem Was des Hirntodkriteriums vermutlich weiterhin kontrovers, während das Wie sich als normativ durchaus zugänglich erweist: als Zeichen menschlicher Endlichkeit mit einem autonomiegegründeten Freiheitspotenzial.
6.
Epilog: Autonomie und Widerspruchslösung
Was das jüngst im Zusammenhang mit der Parlamentsdebatte um die Widerspruchslösung vorgebrachte Argument vom »Automatismus« postmortaler Organentnahme im Falle eines fehlenden Widerspruchs angeht, so erfordert gerade der Respekt vor der Autonomie des Menschen, dass – falls keine prämortal verfügte Zustimmung oder Ablehnung vorliegt – eine letztlich nicht negative Einstellung des Verstorbenen zur Organentnahme nicht automatisch wie eine Ablehnung behandelt wird. Vielmehr ist es angesichts des Freiheitspotenzials der Autonomie vernünftig anzunehmen, dass die inzwischen in der Bevölkerung vorhandene Kenntnis, dass die postmortale Organspende Leben retten und bewahren hilft, ein Schweigen des Einzelnen dazu nicht automatisch als Ablehnung zu deuten ist. Liegt nämlich keine Verfügung des Verstorbenen vor, so ist dies nach Maßgabe des Prinzips des Respekts vor dem post mortem fortwirkenden Persönlichkeitsrecht so zu deuten, dass der Verstorbene in Beanspruchung seiner Autonomie entweder die Entscheidung offengelassen oder sie den nächsten Angehörigen überlassen hat. Beiden Ausdrucksweisen menschlicher Autonomie wird in ethisch einwandfreier Weise dadurch Rechnung getragen, dass der zu befragende nächste Verwandte sein Verhalten danach ausrichtet, ob es im Sinne des Verstorbenen ist, von der Einspruchsmöglichkeit Gebrauch zu machen oder nicht. Widerspricht der nächste Verwandte unter Berufung auf den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen, so ist die hinreichende Bedingung für eine Organexplantation nicht erfüllt; widerspricht er nicht, so gilt sie als erfüllt. Ebenso wie die Dokumentation pro oder contra postmortale Organspende Ausdruck der Autonomie eines Menschen ist, so auch das Offenlassen dieser Alternative: Es überlässt die Mitwirkung an der Entscheidung den nächsten Angehörigen; dies allerdings nicht in dem Sinne, dass dieselben ihren 163 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
III · Unsicherheiten hinsichtlich des Lebensbeginns und Lebensendes
eigenem Willen an die Stelle des Verstorbenen setzen dürfen, sondern wahrheitsgemäß den Ärzten berichten müssen, ob der Verstorbene zu Lebzeiten Einwände gegen eine Entnahme geäußert hat. Dies gilt naturgemäß ausschließlich für Erwachsene, niemals für Kinder. Jugendliche können zwar ab 14 eine postmortale Organspende wirksam ablehnen, 16-Jährige derselben ebenso wirksam zustimmen. Doch in keinem Fall darf man ein Schweigen von Kindern und Jugendlichen zur Organspende als Zustimmung werten. Dasselbe gilt von Menschen mit eingeschränkter Einsichts- oder Entscheidungsfähigkeit. Aus Sicht der Autonomie als der vom Menschen untrennbaren Verfasstheit der Selbstgesetzlichkeit ist mithin nicht nur ein dokumentiertes ›Ja‹ oder ›Nein‹ zur Organspende Ausdruck von Selbstbestimmung, sondern im Falle von Erwachsenen ebenso die Entscheidungsenthaltung. Wenn im Todesfall die zu wahrheitsgemäßen Informationen verpflichteten Verwandten nicht von Bedenken oder gar Ablehnung einer Organspende berichten, dann entspricht es dem Autonomierespekt, das Schweigen des Betroffenen als Zustimmung zu verstehen. Dass der Mensch die Manifestation seiner Autonomie nicht nur durch Schweigen, sondern einmal mehr durch Dokumentation seines in die Zukunft fortwirkenden Willens zeigen kann, ist Gegenstand des nachfolgenden Kapitels.
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Kapitel IV Formen und Probleme individueller autonomiebasierter Selbstbestimmung angesichts wachsender Möglichkeiten der modernen Medizin. 1.
Das Recht auf Erstellung von Vorausverfügungen unter besonderer Berücksichtigung der Autonomie des Menschen 1.1 Einführung 1.2 Zum anthropologischen Hintergrund 1.3 Besonderheiten 1.4 Autonomie und Vertrauen 2. Zu Grundlage und Umsetzung der gesetzlichen Regelung (2009) der Patientenverfügung aus ethischer Sicht: neue Möglichkeiten – bleibende Probleme. 2.1 Vorbemerkung 2.2 Fragestellung 2.3 Medizinische Einschlägigkeit 2.4 Zum Verhältnis zwischen Bevollmächtigtem / Betreuer und dem behandelndem Arzt 2.5 Medizinische Indikation und die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Bevollmächtigtem/Betreuer aus ethischer Sicht 2.6 Zur Rolle des Betreuungsgerichts 2.7 Fazit Appendix: Beispiel für eine Patientenverfügung
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IV · Formen und Probleme individueller autonomiebasierter Selbstbestimmung
Zu den nachhaltigsten Herausforderungen menschlicher Autonomie und Selbstbestimmung gehören Unklarheiten und Dissense in der gegenwärtigen Gesellschaft hinsichtlich der Frage eines adäquaten Umgangs mit zentralen ethischen Fragen für den Fall der Nichtmehransprechbarkeit und Entscheidungsunfähigkeit des Menschen. Wie ist in diesem Fall angesichts der enorm entwickelten Möglichkeiten der modernen Medizin hinsichtlich der Möglichkeiten einer Verlängerung wie einer Verkürzung menschlichen Lebens umzugehen? Beginnen wir mit dem autonomiebasierten Recht auf Vorherbestimmung des Willens des Menschen in Form einer Patientenverfügung (im Folgenden PV).
1.
Das Recht auf Erstellung von Vorausverfügungen unter besonderer Berücksichtigung der Autonomie des Menschen.
1.1 Einführung Dass das autonome Individuum seinen Willen für den Fall der Nichtmehransprechbarkeit verbindlich festlegen und dokumentieren kann, ist inzwischen allgemein bekannt. Dass und wie dies rechtlich abgesichert ist, scheint hingegen nicht jedermann bewusst, nimmt man die immer noch als Minderheit wahrnehmbare Zahl derjenigen in den Blick, die eine Patientenverfügung erstellt haben. Dabei geht es nach wie vor rechtlich wie ethisch darum, dass ärztliche und pflegerische Maßnahmen, vom Notfall abgesehen, ausnahmslos der vorherigen ausdrücklichen informierten Zustimmung des entscheidungsfähigen Patienten bedürfen (»informed consent«) und dass dies auch für den Fall der Nichtmehransprechbarkeit gilt. Das »3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts« vom 1. 9. 2009 (sog. »Patientenverfügungsgesetz«) regelt dies auf unmissverständliche Weise einschließlich des Falls, dass man sich durch eine derartige Vorabverfügung des eigenen Willens irreversibel selbst schadet. Grundlage ist der Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Vor diesem Hintergrund erhebt sich die Frage nach der Grenze staatlicher Lebensschutzverpflichtung sowie nach der Aufgabe von Bevollmächtigten und Betreuern. 1 1
§ 223 StGB. – Das Folgende stellt eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines
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Das Recht auf Erstellung von Vorausverfügungen
Wenn seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in Medizin, Recht und Ethik der Patientenwille und seine Berücksichtigung aufgrund des Respekts vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht des Individuums immer deutlicher in den Vordergrund getreten sind, so stellt dies zum einen ein – etwas verspätetes – Erbe der Aufklärung dar und zum anderen eine Folge der durch die medizinischen Wissenschaften etablierten, ständig sich erweiternden ärztlichen Handlungsalternativen, deren Wahl die Mitsprache und Mitentscheidung des Patienten unumgänglich macht. Was Ersteres angeht, so meint ›Aufklärung‹ nicht nur Befreiung des Individuums von Fremdbestimmung, sondern auch und vor allem das Bewusstsein seiner Selbstgesetzlichkeit vor dem Hintergrund seiner »Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«, wie Kant, einer der Väter der Aufklärung, es formuliert hat. 2 Diese Selbstbefreiung – und das wird oft übersehen – kann nicht stellvertretend vorgenommen werden; vielmehr muss ein jeder sich dieser Aufgabe selber annehmen, denn der Einzelne ist Subjekt seines eigenen Tuns und Lassens nicht erst dank der anderen, sondern von ihm selbst her. Was die durch die medizinischen Wissenschaften etablierten, ständig sich erweiternden ärztlichen Handlungsalternativen moderner Medizin angeht, so muss sich der heutige Patient – und da jedermann jederzeit Patient werden kann – muss sich jedermann aus seiner auch medizinbezogenen Unmündigkeit zu befreien suchen; schließlich hat der viel kritisierte ärztliche Paternalismus und Maternalismus sein Pendant im unaufgeklärten patientenseitigen »Infantilismus.« 3 Das Recht des Patienten auf Aufklärung durch den Arzt erfährt insbesondere bei schweren chronischen Erkrankungen und im Prozess des Sterbens infolge der hoch entwickelten Möglichkeiten intensivmedizinischen und operativen Eingreifens immer größere Bedeutung, vor allem dann, wenn die Fortdauer des Lebens nur um den Preis einer vom Patienten ausdrücklich nicht gewünschten schweren gleichnamigen Beitrags des Verf.s in der Zeitschrift für medizinische Ethik 59/H. 3 (2013), 179–190 dar. – Die Ausführungen des Verf.s zum Thema PV in seiner Monographie über »Ethische Herausforderungen der modernen Medizin« (Freiburg 2009, 450–489) werden im Folgenden auf der Grundlage des PatVerfG von 2009 fortgesetzt und erweitert. 2 vgl. Kant, I.: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: ders., Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe (AA), Bd. VIII. Berlin 1912 (ND 1968). 3 vgl. Beckmann, J. P.: Ethische Herausforderungen der modernen Medizin. Freiburg 2009, 450 ff.
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IV · Formen und Probleme individueller autonomiebasierter Selbstbestimmung
Beeinträchtigung seiner Lebensqualität möglich ist. Die Situation verschärft sich im Falle der Nicht- bzw. Nichtmehransprechbarkeit des Patienten. Während der Arzt stets den Willen und die Entscheidungen eines entscheidungsfähigen Patienten respektieren muss, und dies selbst dann, wenn dieselben objektiv irrig und zum Nachteil für dessen Wohl und Leben ausfallen, wachsen dem Arzt beim entscheidungsunfähigen Patienten besondere Verpflichtungen zu. Dabei ist es freilich nicht so, als erweitere sich das ärztliche Behandlungsrecht in dem Maße, wie die Entscheidungsfähigkeit des Patienten abnimmt: Beim entscheidungsunfähigen Patienten hat der Arzt vielmehr, falls vorhanden, dessen Vorausverfügungen zu beachten, sofern dieselben formal korrekt (Volljährigkeit, Schriftlichkeit) und inhaltlich einschlägig sind. 4 Nun können Patientenverfügungen, aber auch Bevollmächtigungen und Betreuungsverfügungen Reaktionen auf ganz unterschiedliche Sachverhalte sein: auf eine Medizin, die immer mehr kann; oder auf ein Gesundheitswesen, in dem sich der Patient weitgehend anonymisiert vorkommt; oder auf eine Gesellschaft, in der sich der Einzelne als zunehmend isoliert erfährt; oder allem voran auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. So verschiedenartig diese Reaktionen sind: Gemeinsam ist ihnen die Exposition gegenüber der Möglichkeit, eines Tages krankheits- und/oder altersbedingt den eigenen Willen nicht mehr äußern zu können. Niemand kann eine derartige Situation für sich ausschließen; viele lassen daher die familiale oder soziale Umgebung ihre Wünsche für diese Situation wissen, manche legen dieselben auch mündlich fest, doch noch immer zu wenige tun dies in professioneller Form durch Erstellen einer PV. Dabei hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen für eine wirksame und verbindliche Willensbekundung für den Fall zukünftiger Unfähigkeit, in Untersuchungen, Pflegehandlungen oder ärztliche Eingriffe aus freier Entscheidung einzuwilligen oder damit nicht einverstanden zu sein, längst geschaffen. 5 Einer der Gründe für die Zurückhaltung im Umgang mit den Möglichkeiten der Vorausverfügung des eigenen Willens mag die Näheres siehe Frewer, A. / Fahr, U. / Rascher, W. (Hg.): Patientenverfügung und Ethik. Beiträge zur guten klinischen Praxis, in: Jahrbuch für Ethik in der Klinik, Bd. 2. Würzburg 2009, sowie Vetter, P. / Marckmann, G.: Gesetzliche Regelung der Patientenverfügung: Was ändert sich in der Praxis?, in: ÄBW 2009, 09: 370–374. 5 Vgl. 3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsgesetzes (BtÄndG, sog. Patientenverfügungsgesetz) § 1901a Abs. 1. 4
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für den medizinischen und juristischen Laien nicht einfache Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften sein, aber auch der Zweifel an der Werthaftigkeit solcher Vorausverfügungen: Sind dieselben nicht Ausdruck des Misstrauens gegenüber der heutigen Medizin oder der Hilflosigkeit gegenüber Anonymisierungstendenzen des Gesundheitswesens oder der sozialen Isolierung oder fehlender Sinnerfahrung menschlicher Endlichkeit? Im Folgenden sollen zentrale Aspekte des Rechts 6 gesundheitsbezogener Vorausverfügungen des eigenen Willens aus ethischer Sicht analysiert werden, ›Ethik‹ verstanden als argumentative Analyse der Frage des Begründetseins moralischer Ansprüche. Zuvor gilt es einen kurzen Blick auf einen zentralen anthropologischen Aspekt zu werfen und anschließend die normative Basis der gesetzlichen Sicherung einer Patientenverfügung herauszustellen, um vor diesem Hintergrund den moralischen Anspruch des Begründetseins solcher Vorausverfügungen und ihrer Grenzen erkennbar zu machen.
1.2 Zum anthropologischen Hintergrund 1.2.1 »Falsches Menschenbild«? Von Anfang an hat man der Patientenverfügung ein »falsches Menschenbild« 7 attestiert, wobei nicht immer klar war, ob damit gemeint ist, dass die Möglichkeit einer Vorausverfügung hinsichtlich künftiger medizinischer Behandlungen faktisch nicht der Wirklichkeit des heutigen Menschen entspreche, oder dass sich darin ein in sich verfehltes normatives Bild vom Menschen zeige. Ersteres stellt eine empirische Behauptung dar, Letzteres eine normative. Empirisch zeigt sich der heutige Mensch hinsichtlich seiner biologischen Existenz deutlicher denn je als ein verletzliches und unvollkommenes Wesen, das zunehmend Einblicke in genetisch bedingte Risiken und phäno-
3. BtÄndG (Fn. 5) § 1904 Abs. 2 und 3. Siehe den seinerzeitigen »Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Dt. Bundestages ›Ethik und Recht der modernen Medizin‹ zur rechtlichen Verankerung von Patientenverfügungen«, in: Bundestagsdrucksache 15/3700, 39 f. – Vgl. Beckmann, J. P.: Selbstbestimmung versus Lebensschutz? Zum Zwischenbericht der Enquetekommission »Ethik und Recht der modernen Medizin« des Deutschen Bundestages zur rechtlichen Verankerung von Patientenverfügungen, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 10 (2005), 56–86.
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typische Gefährdungen beunruhigen. Normativ hingegen bietet sich seit der Aufklärung vor zweieinhalb Jahrhunderten das Bild eines seiner selbst bewussten, entscheidungsfähigen und -freudigen Individuums, das seine Angelegenheiten selber zu regeln beansprucht. Grundlage hierfür ist der Gedanke der Autonomie bzw. die Norm des Respekts vor ihrer Manifestation durch Selbstbestimmung. Da diese Verfasstheit, wie oben in Kap. I dargelegt, allen Menschen unterschiedslos zueigen ist, schließt der Autonomiegedanke notwendig den Respekt vor dem Mitmenschen und seiner Subjekthaftigkeit und prinzipiellen Unverfügbarkeit ein. ›Autonomie‹ ist, wie ebenfalls bereits dargelegt, gerade nicht Ausdruck eines isolierten Individualismus, als die sie immer wieder hingestellt wird, sondern im Gegenteil Garant der Sozialität des Menschen. 1.2.2 Drei Einwände Gegen die Manifestation der Autonomie des Menschen durch Erstellung einer PV ist früh das Bedenken der »Überforderung« 8 geäußert worden. Nun lässt die Logik des Begriffs der Autonomie als anthropologische Verfasstheit und nicht etwa als Leistung Derartiges nicht zu. Was hingegen möglicherweise als »Überforderung« angesehen werden kann, ist ihre Manifestierbarkeit im konkreten Einzelfall; dies vor allem hinsichtlich der drei folgenden Aspekte: Erstens sind die medizinischen Situationen, in denen die PV gelten soll, i. d. R. schwer vorhersehbar; zweitens sind die erforderlichen fachlichen Kenntnisse seitens des Verfügenden oft nicht oder nicht hinreichend vorhanden, und drittens und vor allem kann der zukünftige tatsächliche Wille eines Menschen naturgemäß nicht bekannt sein. zu 1: Die Vorhersehbarkeit zukünftiger medizinischer Situationen hängt zumindest teilweise von den zum Zeitpunkt der PV-Erstellung bereits vorhandenen gesundheitlichen Einschränkungen oder bekannten Krankheitsrisiken ab. Indem der Verfügende sich darüber Klarheit verschafft, unter welchen Voraussetzungen und innerhalb welcher Grenzen er bei Vorliegen solcher vorhersehbarer medizinischer Situationen Behandlungswünsche oder -ablehnungen dokuSo der seinerzeitige (in der vorausgegangenen Fn. 7 genannte) »Zwischenbericht des Dt. Bundestages«. Vgl. dagegen die Stellungnahme des Ethikrates vom 2. 6. 2005: Patientenverfügung – Ein Instrument der Selbstbestimmung. In: May, A. T. / Charbonnier, K. (Hg.): Patientenverfügungen. Münster 2005, 19–35.
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mentieren möchte, kann er dieselben durchaus festlegen. Auch kann er verfügen, dass angesichts vergleichbarer medizinischer Situationen entsprechend gehandelt wird. zu 2: Hinsichtlich medizinischer Grundkenntnisse, die für adäquate Situationsbeschreibungen erforderlich sind, kann sich der Verfügende sinnvollerweise mit seinem Hausarzt oder einem anderen Arzt seines Vertrauens in Verbindung setzen, wohl wissend, dass eine laienhafte Beschreibung medizinischer Situationen, für welche die PV gelten soll, deren Wirksamkeit einschränken oder gar gefährden kann. Die Möglichkeit, dass eine PV medizinisch unprofessionell ausfällt, kann jedoch nicht als grundsätzliches Argument gegen diese Form der Vorausverfügung des eigenen Willens gelten, ungeachtet der Notwendigkeit, die Bevölkerung auf diese Schwierigkeit nachhaltig aufmerksam zu machen. zu 3: In der Tat vermag niemand seinen zukünftigen aktuellen Willen mit Sicherheit vorherzusehen. Des ungeachtet vermag jedermann ihn dennoch im Voraus festzulegen, wie Lebensentscheidungen wie Eheschließung, Berufswahl oder Ähnliches zeigen. Es handelt sich in diesen Fällen nicht um ein Wissen des zukünftigen Willens, sondern um das Wollen des jetzigen Willens für die Zukunft. Genaugenommen legt man nicht seinen künftigen Willen fest, sondern die künftige Geltung des jetzigen Willens. Eine PV sagt mithin nichts aus über den Willen, den der Verfügende in Zukunft aktuell hätte, wäre er ansprechbar und entscheidungsfähig, sondern über den Willen, den er im Voraus für verbindlich erklärt hat. Welchen »aktuellen Willen« ein nicht mehr entscheidungsfähiger Patient zum Zeitpunkt der Wirksamkeit seiner PV hat oder haben würde, ist daher müßig zu fragen, und wenn, dann allenfalls mithilfe von Spekulationen zu beantworten – unter erhöhter Gefahr des Irrtums und einer daraus folgenden Fremdbestimmung. Eine wirksame PV hat rechtlich daher aus sich heraus und im Vorhinein Geltung und bindende Wirkung für die Zukunft.
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1.3 Besonderheiten 1.3.1 Der zweifache Preis einer Vorausverfügung des Willens durch eine PV Das zuletzt Dargelegte hat freilich einen zweifachen Preis: Der erste und folgenreichere besteht darin, dass der Verfügende anders als im entscheidungsfähigen Zustand bei Entscheidungsunfähigkeit keine Möglichkeit mehr hat, eine mögliche Änderung seines Willens anzuzeigen. Der Verzicht hierauf ist eine unvermeidbare Folge des autonomiebasierten Selbstbestimmungsrechts, das auch für die Zukunft Geltung beansprucht. Der Gesetzgeber hat insofern mit der Verrechtlichung der PV zugleich das Recht des Einzelnen auf das Risiko der Selbstschädigung eingeräumt. Es ist daher zwar nicht notwendig, doch durchaus sinnvoll, wenn der Verfügende ausdrücklich vermerkt, er wünsche nicht, dass man ihm in den beschriebenen medizinischen Situationen oder in ähnlichen Situationen fürsorglich einen anderen (putativ »aktuellen«) Willen unterstellt. Die andere, kaum mindere Folge einer PV besteht in der Unvermeidbarkeit eines Verzichts auf medizinische Fortschritte, die dem Verfügenden in Zukunft helfen könnten, zum Zeitpunkt der Verfügung aber noch nicht etabliert und bekannt waren – ein angesichts der schnellen Abfolge medizinischer Fortschritte nicht zu vernachlässigender Umstand. Zwar kann demselben in gewissem Maße dadurch Rechnung getragen werden, dass man seine PV in nicht zu langen zeitlichen Abständen mithilfe ärztlichen Rates den inzwischen etablierten medizinischen Errungenschaften anpasst; doch es bleibt das Risiko ungewollten, aber als Preis für die Vorausverfügung hingenommenen Schadens. Das Dargelegte zeigt, wie wichtig es ist, zwischen der Willensäußerung und der Willensgeltung zu unterscheiden: Erstere erfolgt im Voraus, Letztere gilt in der Zukunft. Der Verzicht auf eine Änderung des eigenen Willens bei Entscheidungsunfähigkeit sowie auf eine Teilnahme am in Zukunft möglicherweise erreichten medizinischen Fortschritt stellt einen hohen Preis für die Inanspruchnahme des Vorausverfügungsrechts dar; dies insbesondere in Anbetracht der Notwendigkeit der Hinnahme eines möglicherweise aufschiebbaren, aber wegen der Vorausfestlegungen nicht mehr vermeidbaren Todes. Dass selbst diese mögliche Folge das Recht der Verfügenden auch aus ethischer Sicht nicht einschränken kann, geht aus der Bedeutung von 172 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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Autonomie als dem Schutz vor Fremdbestimmung sowie aus dem Selbstbestimmungsrecht hervor. Doch bleibt zu fragen, ob damit nicht in unzulässiger Weise die Pflicht der Mitmenschen, der Gesellschaft und des Staates zur Hilfe und zum Lebensschutz tangiert wird. 1.3.2 Gegenstand staatlicher Schutzpflicht: das Leben oder die Freiheit des autonomen Individuums? Den Einzelnen vor Gefahren einer Selbstschädigung mit Todesfolge zu schützen und die staatliche Lebensschutzverpflichtung zu wahren war und ist das Hauptbedenken der Befürworter einer Reichweitenbeschränkung des Vorausverfügungsrechts auf Fallkonstellationen, in denen das »Grundleiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf« genommen hat, mithin auf den eigentlichen Sterbeprozess. 9 Es ist jedoch zu fragen, ob (1.) der Einzelne die Pflicht hat, mithilfe der Medizin ein in seinen Augen nicht mehr erträgliches Leben zu verlängern und ob (2.) die Schutzpflicht des Staates so weit geht, im Zweifel das Leben auch gegen den Willen des Einzelnen zu schützen, oder nicht vielmehr darin besteht, seine Freiheit vor Fremdbestimmung zu garantieren. Nun darf ein einwilligungsfähiger Patient jederzeit eine lebensrettende medizinische Maßnahme verweigern, ohne dass ihm damit eine suizidale Absicht unterstellt werden kann. Dasselbe Recht durch eine Vorausverfügung in Anspruch zu nehmen kann man dem Menschen nicht für den Fall der Entscheidungsunfähigkeit verwehren. Denn anders als der Suizident zielt er nicht auf seinen Tod ab, sondern nimmt ihn lediglich als in seinen Augen unvermeidbar hin; 10 entscheidend sind Freiverantwortlichkeit und Freiwilligkeit des Patientenwunsches, bei Entscheidungsunfähigkeit seine wirksame PV. Zwar bedarf es für den Fall, dass eine »Maßnahme medizinisch angezeigt ist und die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund des Unterbleibens oder des Abbruchs der Maßnahme stirbt«, der Genehmigung des Betreuungsgerichts, doch ist die Genehmigung zu erteilen, wenn dies »dem Willen des Betreuten ent-
»Zwischenbericht« (Fn. 7), 59/60. Vom Straftatbestand der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) unterscheidet dies die sog. ›Tatherrschaft‹, die nicht bei Dritten, sondern beim Verfügenden selbst liegt. Enthält die PV hingegen die Aufforderung zur aktiven Suizidassistenz oder gar zur Tötung auf Verlangen, so ist dies auch aus ethischer Sicht ex ante unvertretbar. Näheres weiter unten unter Nr. 2.
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spricht«. 11 Der Gesetzgeber hat damit dem Einzelnen zugestanden, seinen eigenen Lebensschutz im Konfliktfall seinem Selbstbestimmungsrecht zu unterwerfen (»salus ex voluntate suprema lex esto«) und damit insofern eine Begrenzung der staatlichen Lebensschutzpflicht vorgenommen. Rechtlich-ethische Grundlage sind die Normen der Menschenwürde und der Autonomie sowie speziell das allgemeine Persönlichkeits- und das Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Die Folge ist, dass Arzt und Gesellschaft ggf. hinnehmen müssen, dass ein Patient verstirbt, obwohl medizinisch wirksame Maßnahmen erfolgreicher Lebensrettung gegeben sind, und zwar deswegen, weil der aufgeklärte entscheidungsfähige Patient dieselben ablehnt. Dass dies im Falle der Entscheidungsunfähigkeit in gleicher Weise auch vom vorausverfügten Willen gilt, hat der Gesetzgeber klar zum Ausdruck gebracht, indem das Betreuungsgericht, außer im genannten Fall des § 1904, nicht einzuschalten ist, wenn zwischen Betreuer (bzw. Bevollmächtigtem) und Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die Nichtvornahme einer medizinisch möglichen Maßnahme »dem Willen des Betreuten entspricht«. 12 Die Gleichstellung des Patienten, der für den Fall seiner Entscheidungsunfähigkeit eine Vorausverfügung seines Willens vorgenommen hat, mit dem Patienten, der aktual entscheidungsfähig ist, stellt das entscheidend Neue am Patientenverfügungsgesetz dar. Setzt sich der Arzt über eine eindeutige Verfügung hinweg, so erfüllt er genauso wie bei einem einwilligungsfähigen Patienten u. U. den Tatbestand strafbarer Körperverletzung. 13 Das Selbstbestimmungsrecht wirkt mithin auch über den Zustand aktiver Inanspruchnahme seitens des Individuums fort in Situationen eingeschränkter Einsichts- und fehlender Einwilligungsfähigkeit hinein.
3. BtÄndG (Fn. 5) § 1904 Abs. 2 und 3. 3. BtÄndG (Fn. 5) § 1904 Abs. 4. Nach Abs. 5 gilt dies auch für den Bevollmächtigten. 13 § 223 StGB; siehe auch § 823 Abs. 1 BGB. 11 12
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1.3.3 Bevollmächtigter, Betreuer und Betreuungsgericht: kein Urteilsrecht über die Berechtigung einer wirksamen PV, sondern die Pflicht, dieselbe zur Geltung zu bringen. Dass es dem Gesetzgeber aus Respekt vor dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht um die Gleichstellung des Rechts des Einwilligungsunfähigen mit demjenigen des Entscheidungsfähigen geht, 14 zeigt auch die Regelung der Aufgaben von Bevollmächtigten, Betreuern und Betreuungsgerichten: Für alle drei gilt, »dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung« 15 zu verschaffen. Bevollmächtigter und Betreuer dürfen mithin nicht etwa ihren eigenen Willen an die Stelle des Verfügenden setzen noch zulassen, dass dies Dritte tun. Nur für den Fall, dass die Aussagen in der PV uneindeutig sind oder wenn sich Arzt und Bevollmächtigter bzw. Betreuer über die Einleitung einer Maßnahme oder deren Fortsetzung oder Einstellung nicht einig sind oder wenn, wie gesagt, bei Befolgung der PV Lebensgefahr besteht, ist das Betreuungsgericht einzuschalten. Doch wie schon beim Bevollmächtigten und Betreuer geht es auch bei Gericht nicht um die Berechtigung des vorausverfügten Patientenwillens, sondern um die korrekte Auslegung desselben. Das Gericht muss, wie gesagt, immer dann zustimmen, »wenn die Einwilligung, die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung dem Willen des Betreuten entspricht«. 16 Entscheidend aus ethischer Sicht ist, dass der Verfasser einer PV auf die Respektierung dieser Norm seitens Dritter und der Gesellschaft als ganzer vertrauen kann. Diesbezüglich zeigt sich einmal mehr der relationale bzw. soziale Charakter menschlicher Autonomie, in diesem Fall in der untrennbaren Verbindung mit der Norm des Vertrauens zwischen den Menschen. Auf diesen Zusammenhang
Bereits am 17. 3. 2003 hat der XII. Zivilsenat des BGH in einem Grundsatzbeschluss von der PV »als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts« eines entscheidungsunfähigen Patienten gesprochen. XII ZB 2/03; Entscheidungen des BGH in Zivilsachen, Bd. 154, 205. 15 3. BtÄndG (Fn. 5) § 1901a Abs. 1. 16 3. BtÄndG (Fn. 5) § 1904 Abs. 4. Nicht eindeutig geklärt im Gesetz ist die Frage, ob einer per PV vorausverfügten Ablehnung einer medizinischen Handlungsoption auch dann stattzugeben ist, wenn das Therapieangebot des Arztes begründete Aussicht auf eine Heilung oder zumindest Besserung hat. Nimmt man die Situation des entscheidungsfähigen Patienten als Maßstab, wird man die Frage bejahen: ohne informierte Zustimmung keine Legitimität ärztlichen Handelns. Naturgemäß gilt dies auch für die PV, doch dürfte dies die Gerichte noch das eine oder andere Mal beschäftigen. 14
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sei anschließend eingegangen; dies nicht zuletzt deswegen, weil lange Zeit und manchmal immer noch behauptet wird, die PV sei Ausdruck fehlenden Vertrauens der Patienten gegenüber ihren Ärzten.
1.4 Autonomie und Vertrauen Entgegen der eingangs genannten Befürchtung des Misstrauens sind PV und Vertrauen konstitutiv aufeinander verwiesen. Auch das hat bei näherem Hinsehen mit dem Verständnis von Autonomie zu tun. Während dieselbe, wie in Kap. I gezeigt, eine anthropologische Verfasstheit darstellt, handelt es sich beim Vertrauen um menschliches Verhalten; insofern befinden sich beide zwar formal auf unterschiedlichen kategorialen Ebenen; desungeachtet gibt es wichtige Gemeinsamkeiten: Ähnlich der Autonomie als humanem proprium und ihrem Pendant in Form des Selbstbestimmungsrechts eignet auch dem Vertrauen ein Doppeltes: Relationalität auf der einen und Intentionalität auf der anderen Seite. Vertrauen herrscht zwischen Menschen 17 und es besteht notwendig in einer Absicht. Beides hat ethische Implikationen: 18 Zum semantischen Feld von Zutrauen und Verlässlichkeit, aber auch der Sicherheit gehörig, impliziert Vertrauen Pflichten, und zwar auf beiden Seiten der betreffenden Beziehung: aufseiten des Vertrauen Schenkenden die Verpflichtung, es zu bewahren, und aufseiten des Vertrauen Erfahrenden die Pflicht, sich seiner würdig zu erweisen. Vertrauen heißt, jemandem Anerkennung schenken. Und: Ähnlich einer PV ist auch Vertrauen zukunftsbezogen und stets mit Erwartungen verbunden. Lassen sich Autonomie und Vertrauen trotz ihrer kategorialen Differenz miteinander verbinden? Mit Sicherheit dann nicht, wenn man meint, das eine könne eine Art ›Kompensation‹ für ein Fehlen des anderen sein. Wie sollte auch ein anthropologisches Prinzip wie Autonomie Kompensation für einen Mangel an einer Haltung wie Vertrauen sein, und umgekehrt? Autonomie und Vertrauen können nur unter Beachtung ihrer formalen Unterschiedlichkeit miteinander verbunden werden. So ist in der Arzt-Patient-Beziehung das VertrauAuch Selbstvertrauen ist relational: Vertrauen zu sich selbst. Im Englischen existiert noch eine etymologische Nähe zwischen Vertrauen (›trust‹) und Trost (›trost‹). Vgl. Oxford Dictionary. Oxford/London/Glasgow 1971, vol. II, 432.
17 18
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en des Patienten darauf gerichtet, dass der Arzt das Richtige tun werde. Hierzu zählt allem voran die vertrauensvolle Erwartung, dass der Arzt bei seinem Tun das Selbstbestimmungsrecht des Patienten respektiert. Autonomierespekt ist mithin Grundlage allen Vertrauens und kann insoweit nicht Kompensation für den Fall mangelnden Respekts sein. Dies hat zwei wohl zu unterscheidende Aspekte: (1) Der Patient vertraut sich seinem Arzt an und Arzt wie Patient respektieren das autonomiebasierte Selbstbestimmungsrecht des jeweils anderen: In beidem zeigt sich der relationale Aspekt von Autonomie und Vertrauen. (2) Arzt und Patient vertrauen einander; darin liegt der intentionale Aspekt beider: Der Patient vertraut auf seine Heilungsmöglichkeiten, der Arzt auf das Vorhandensein des entsprechenden Willens seines Patienten. Der erstgenannte Aspekt bleibt bei Entscheidungsunfähigkeit des Patienten in vollem Umfang wirksam, der zweitgenannte hingegen unterliegt einer natürlichen Phasenverschiebung: Gegenstand des Vertrauens des Patienten mit einer PV ist, dass der zukünftige Arzt den Willen respektiert, den der Verfügende zeitlich mehr oder weniger lange zuvor festgelegt hat. Hier wird deutlich, dass die Ungleichzeitigkeit von Willensfestlegung und Behandlungssituation sich einzig auf den Vertrauensaspekt bezieht, keineswegs hingegen auf den Autonomierespekt. Denn die Verfasstheit als autonomes Wesen hängt nicht von Entscheidungsfähigkeit oder ähnlichem ab und ändert sich daher auch nicht mit der Entscheidungsunfähigkeit. Der formale Grund hierfür liegt in dem Umstand, dass Vertrauen notwendig ein (intentionales) Objekt besitzt, während Autonomie ein unveränderlicher Status des Menschen ist. Jener ist zeit- und situationsabhängig, dieser ist zeitlos. Autonomie ist zu respektieren, Vertrauen zu praktizieren. Ärztliches Handeln ohne Respekt vor des Patienten Autonomie wäre ethisch rechtfertigungsunfähig; doch ohne des Patienten Vertrauen auf den Arzt wäre es nicht verwirklichbar. Autonomie verbindet die Menschen miteinander, Vertrauen verstärkt dies. Führt man sich manche Ängstlichkeit von Familienmitgliedern und die nicht seltene Ratlosigkeit von Ärzten vor Augen, welche Möglichkeiten heutiger Medizin im Fall der Entscheidungsunfähigkeit dem Willen des Patienten entsprechen, dann möchte eine PV eher als Akt der Rücksichtnahme denn als ein solcher des Misstrauens erscheinen; einer Rücksichtnahme, die ihrerseits eine neue Form von Vertrauen offenbart, indem der Verfügende Familie und Ärzteschaft darauf ver177 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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trauen lässt, dass sie durch Befolgen der PV nichts anderes tun als seinen Willen zu respektieren. Doch damit sind noch nicht alle Fragen der PV angesprochen, wie sich im Folgenden zeigen wird. Zu klären ist nämlich noch die Frage, wie sich die normative Grundlage des PatVfgG in der Praxis aus ethischer Sicht im Einzelnen verwirklichen lässt?
2.
Zu Grundlage und Umsetzung der gesetzlichen Regelung (2009) der Patientenverfügung aus ethischer Sicht: neue Möglichkeiten – bleibende Probleme? 19
2.1 Vorbemerkung Inzwischen ist ein Jahrzehnt vergangen, seit der Deutsche Bundestag am 18. Juni 2009 nach intensiver und teilweise auch kontroverser Diskussion das schon mehrfach genannte »3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts« verabschiedet hat, welches das Recht auf die Errichtung einer – und den Umgang mit einer – Patientenverfügung für den Fall der Entscheidungsunfähigkeit regelt. Es gilt im Folgenden, diese gesetzliche Regelung der PV und die Frage ihrer praktischen Umsetzungsmöglichkeiten einer kritischen Analyse zu unterziehen. Dabei kann es nicht um eine Rekapitulierung der – sattsam bekannten – Pro- und Contra-Argumente aus der Debatte vor dem damaligen Parlamentsbeschluss gehen, sondern um die Doppelfrage, (1.) in welcher Hinsicht man auch aus ethischer Sicht von einem Fortschritt bzw. von Vorteilen der gesetzlichen Absicherung der PV sprechen kann, und (2.) welche alten und/oder neuen Probleme gleichwohl noch zu lösen sein werden. Denn einerseits schafft dieses seit dem 1. September 2009 in Kraft getretene Gesetz ein deutlicheres Maß an Sicherheit für alle Beteiligten, allen voran für den Verfügenden, aber auch für Bevollmächtigte bzw. Betreuer sowie für Ärzte und Familienmitglieder; andererseits wäre es möglicherweise ein folgenreicher Irrtum, würde man mit der seither erreichten rechtlichen Absicherung der PV die Frage nach einem angemessenen Umgang mit
Überarbeitete Fassung eines gleichnamigen Beitrags des Verf.s zum Themenschwerpunkt ›Patientenverfügungen‹, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 15 (2010), 141–241, hier 141 und 221–241.
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Gesetzliche Regelung (2009) der Patientenverfügung aus ethischer Sicht
dem nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten als abschließend beantwortet ansehen. Hinsichtlich der rechtlichen Regelungen 20 hat der Gesetzgeber einzelne von der seinerzeitigen interdisziplinären Arbeitsgruppe »Patientenautonomie am Lebensende« des Bundesjustizministeriums erarbeitete Empfehlungen wie die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts und den Verzicht auf eine Reichweitenbegrenzung übernommen, anderes, nicht minder Wichtige wie die von der AG vorgeschlagene Ergänzung des § 216 StGB, das Unterlassen oder Beenden lebenserhaltender Maßnahmen, sofern dasselbe auf Wunsch des Patienten geschieht, aus dem Strafbarkeitsbereich des § 216 StGB herauszunehmen, hingegen nicht übernommen. Ähnlich steht es um die Frage der Unmittelbarkeit der Bindungswirkung einer einschlägig formulierten Verfügung für den Arzt sowie um das Verhältnis zwischen ärztlicher Indikation und PV und nicht zuletzt um das Problem der Berücksichtigung des Willens einwilligungsunfähiger Minderjähriger. Was die Grundfrage nach dem Mehr an Rechtssicherheit angeht, so ist das letzte Wort über die Volljährigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung noch nicht gesprochen. Als schwierig dürfte sich auch der Umgang mit dem Bestimmtheitserfordernis hinsichtlich der Festlegung der Krankheitssituationen erweisen, für die eine PV gelten soll. Hinzukommt die Frage, ob die Betreuerbestellung stets erforderlich ist. Aus medizinischer Sicht 21 geht es um die Bewältigung der Spannung zwischen den enorm gestiegenen interventionellen Möglichkeiten der modernen Medizin einerseits und dem immer deutlicher werdenden Bedürfnis vieler Menschen, auch bei schwerer Krankheit und im Sterbeprozess ihren Willen artikulieren bzw. denselben ggf. durch eine PV im Voraus festlegen zu können. Hilfreich sind die Bestimmungen über die Verknüpfung der PV mit der Bevollmächtigtenernennung, die Zuständigkeiten von Betreuern und des Betreuungsgerichts, die Präzisierungspflicht des Verfügenden hinsichtlich der Situationsangaben, die jederzeitige Widerrufbarkeit sowie die Freiheit, keine PV zu errichten. Unsicherheiten hingegen existieren immer noch im Falle eines vom Patienten verfügten Verbots weiterer Vgl. die Beiträge zur PV seitens der Juristen K. Kutzer und J. Taupitz im Jahrbuch für Wiss. u. Ethik 15 (2010), 143–154 und 155–177. 21 Vgl. die Beiträge der Mediziner von F. Salomon, Chr. Müller-Busch und G. Maio zur PV im Jahrbuch für Wiss. u. Ethik (Fn. 20), 179–192, 193–209 und 210–219. 20
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Nahrungs- und Flüssigkeitsgabe und im Hinblick auf den Verzicht auf möglicherweise lebenserhaltende Maßnahmen. Eine Schlüsselrolle spielt die medizinische Indikation, deren rein physiologische Begründung schon lange nicht mehr für eine ausreichende Begründung einer medizinischen Maßnahme ausreicht. Kommunikation und Dialog sind gefragt: Eine formal korrekte und für die aktuelle Situation einschlägige PV stellt die Fortsetzung der Kommunikation zwischen Patient und Arzt unter veränderten Bedingungen dar, wie denn überhaupt die Arzt-Patient-Beziehung das grundlegende Strukturmodell auch für den Umgang mit Vorausverfügungen bleibt. Nur wenn beide Seiten zu Worte kommen kann ermittelt werden, wie genau medizinische Möglichkeiten gerade am Lebensende mit der Autonomie und dem Selbstbestimmungswillen des Patienten zu vereinbaren sind. Schließlich geht es darum, die gesetzliche Absicherung des Rechts der Errichtung einer PV unter dem Aspekt der Ethikkultur der neuzeitlichen Aufklärung und ihrer Betonung der Selbstgesetzlichkeit und Unverfügbarkeit des Menschen zu sehen. Der eigentliche Fortschritt der rechtlichen Absicherung der PV liegt wesentlich darin, dass die Schutzpflicht des Staates aus ethischer Sicht letztlich erfordert, die Freiheit des Bürgers zu schützen, derartige Vorausverfügungen mit gesetzlich abgesicherter Bindungswirkung für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit im Voraus zu verfassen, statt ihm Vorschriften zu machen, wie er mit den Möglichkeiten der modernen Medizin umzugehen habe.
2.2 Fragestellung Das bereits vorgestellte »Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts« vom 29. 7. 2009, 22 wie bisher vereinfacht »Patientenverfügungsgesetz« (PatVfgG) genannt, welches »Rechts- und Verhaltenssicherheit für alle Beteiligten« 23 schaffen soll, ist auf viel Zustimmung, teilweise jedoch auch auf Kritik und Skepsis gestoßen. Viel Aufmerksamkeit hat die vom Gesetzgeber vorgenommene Fundierung auf den »Grundsatz der Achtung des SelbstbestimmungsBGBl. I 2286. Vgl. den Entwurf der Abgeordneten Stünker, J./ Kauch, M. et al., der mit Änderungen vom 15. Mai 2009 (BT- Drs. 16/13314, Buchstabe a) zur Beschlussempfehlung wurde (BT-Drs. 16/8442).
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rechts« 24 gefunden, welches das Recht auf eine wirksame, für den Arzt verbindliche Vorausfestlegung des Patientenwillens für den Fall der Entscheidungsunfähigkeit einschließt. Doch neben gewisser Kritik an dieser normativen Präferenz ist es vor allem die allgemeine Skepsis, ob das Erstellen einer professionellen Patientenverfügung mit ihren fachmedizinischen und formalrechtlichen Anforderungen nicht den sog. »Durchschnittsbürger« überfordert, und die spezielle Skepsis von medizinischer Seite hinsichtlich der praktischen Durchführbarkeit, die Beachtung verdienen. 25 Hauptkritikpunkt von kirchlicher Seite ist lt. dem damaligen Vorsitzenden der EKD Bischof W. Huber »die Balance zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge« 26 und lt. dem seinerzeitigen Vorsitzenden der Dt. Bischofskonferenz Erzbischof R. Zollitsch »die einseitige Betonung der Selbstbestimmung des Patienten«. 27 Beiden Stellungnahmen liegt die gemeinsame Annahme zugrunde, dass das autonomiebasierte Selbstbestimmungsrecht des Menschen auf derselben normativen Stufe steht wie die pflegerische Fürsorge. Dabei wird jedoch übersehen, dass formal Selbstbestimmung ein Recht ist und Fürsorge eine Pflicht darstellt, und inhaltlich, dass beide nicht auf derselben Stufe stehen, sondern in der Rangordnung von Fundament und Folge: Fürsorge setzt Selbstbestimmungsrespekt voraus, nicht umgekehrt. Die Berechtigung der Fürsorge wie ihr Maß sind ethisch von der Zustimmung des Umsorgten abhängig, wie sich zeigen wird. Im Folgenden geht es um Fragen der Umsetzung einer PV aus ethischer Sicht, wobei ein derartiges Vorhaben eine erneute Vergewisserung hinsichtlich der ethischen Grundlage des PatVfgG voraussetzt. Denn es ist eines, die normative Fundierung dieses Gesetzes zu begreifen, und ein anderes, dieselbe in die Praxis umzusetzen; Ersteres bedarf ggf. ethischer (und rechtstheoretischer) Reflexion, Letzteres ärztlicher Hilfestellung. So lässt sich die doppelte Zielsetzung des Folgenden in die Frage zusammenfassen: Wie lässt sich die norBT-Drs. (Fn. 23), Buchstabe a, 4. vgl. Stünker, J., Selbstbestimmung bis zum Lebensende. Die Reform der Patientenverfügung, in: Deutsche Richter-Zeitung. August/September 2008, 248/9. 25 Der seinerzeitige Präsident der BÄK Prof. Hoppe hat in seiner Rede auf dem Deutschen Ärztetag am 11. 5. 2010 festgestellt: »Nun ist das neue Betreuungsrechtsänderungsgesetz zwar in Kraft, aber ob es wirklich hilfreich ist, ist zweifelhaft.« 26 So die Presseerklärung der EKD vom 19. Juni 2009, die im Übrigen »keine Verbesserung gegenüber der bisherigen Rechtslage« zu erkennen vermag. 27 lt. Domradio.de vom 18. 6. 2009. 24
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mative Grundlage des PatVfgG in der Praxis aus ethischer Sicht verwirklichen? 28 Wie unsere Rechtsordnung räumt auch unsere Ethikkultur seit der neuzeitlichen Aufklärung dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen einen entscheidenden Rang ein. Im Hinblick auf ärztliche Therapiemaßnahmen bedeutet dies, dass der Arzt ggf. hinnehmen muss, dass sein Patient verstirbt, obwohl medizinisch wirksame Maßnahmen erfolgreicher Lebensrettung und Lebensverlängerung gegeben sind, »nur« weil der aufgeklärte entscheidungsfähige Patient dieselben ablehnt. Denn: Niemand ist verpflichtet, ein durch schwere Krankheit gezeichnetes Leben fortzusetzen oder ein zu Ende gehendes Leben verlängern zu lassen, nur weil dies medizinisch möglich wäre. 29 Der vieldiskutierte Gedanke einer Begrenzung der Reichweite des Vorausverfügungsrechts auf Fallkonstellationen, in denen das »Grundleiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf« 30 angenommen hat, so dass der Lebensschutz mithin nur dann dem Selbstbestimmungsrecht untergeordnet wäre, wenn das Leben nicht mehr wirksam geschützt werden kann, ist vom Gesetzgeber aus guten Gründen nicht übernommen worden. Doch die seit längerem – und teilweise immer noch – diskutierte Frage lautet: Kann dies im Falle der Entscheidungsunfähigkeit in gleicher Weise auch vom vorausverfügten Willen gelten? Das neue PatVfgG gibt hierauf eine Antwort. Der vom Gesetzgeber betonten Prävalenz des Vorrangs des Selbstbestimmungsrechts im Zweifel auch vor dem Lebensschutz wird immer wieder – und das dürfte trotz der neuen Gesetzgebung auch weiterhin geschehen – entgegengehalten, dass derartige Der Vf. ist den Mitgliedern des ehemaligen philosophisch-medizinischen Arbeitskreises des Allg. Krankenhauses in Hagen, insbesondere der Vors. Richterin a. D. am OLG Hamm, Frau Dr. iur. Anne Figge-Schoetzau, für wertvollen fachlichen Rat zu Dank verpflichtet. 29 Vgl. »Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung«, in: Deutsches Ärzteblatt 101 (2004), B 1076–1077. Dazu: Beckmann, J. P., Ethische Herausforderungen der modernen Medizin. Freiburg 2009, Teil IV, 422–442. 30 so der seinerzeitige Beschluss des XII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 17. 3. 2003; NJW 2003, 1588, desgl. der Vorschlag der Mehrheit der EnqueteKommission »Ethik und Recht der modernen Medizin« des XV. Deutschen Bundestages im »Zwischenbericht Patientenverfügungen« vom 13. 9. 2004 (BT-Drs. 15/ 3700). Vgl. dazu Beckmann, J. P.: Selbstbestimmung versus Lebensschutz?, in: Honnefelder, L. / Sturma, D. (Hg.): Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 10. Berlin 2005, 55–86, bes. 66 f. 28
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›schematische‹ Lösungen dem Einzelfall einfach nicht gerecht werden können. 31 Schon in den »Überlegungen zum Umgang mit Patientenverfügungen aus evangelischer Sicht« der EKD aus dem Jahre 2005 hieß es: »Es steht kaum zu erwarten, dass allgemeine Regeln gefunden werden, die jeden Einzelfall hinreichend erfassen können.« Man könne daher »nicht davon ausgehen, (…) mit Rechtsbestimmungen alle Einzelfälle im Detail zu erfassen«. 32 Auch in den »Empfehlungen der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung« heißt es im Vorwort: »Die Vielfalt möglicher Situationen, in die ein Mensch geraten kann, macht es schwierig, eine Vorausbestimmung treffend zu artikulieren«. 33 Hinter derlei Bedenken steht ein Missverständnis im Hinblick auf das Verhältnis zwischen allgemeiner Regelung und konkretem Einzelfall: Es wird unterstellt, dass angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass jeder Einzelfall einmalig ist, die Subsumierbarkeit unter eine allgemeine Regel immer und naturgemäß inadäquat sein muss. Das Verhältnis zwischen Einzelfall und allgemeiner Regel ist aber nicht das der Subsumption des Ersteren unter die Letztere, sondern das des Übergangs aus der normativen in die faktische Ebene. Ein solcher Übergang ist seiner Natur nach inkongruent, weil kategorial different. Das entscheidend Neue am PatVfgG ist im Effekt die bereits genannte rechtliche Gleichstellung des Patienten, der für den Fall seiner Entscheidungsunfähigkeit eine Vorausverfügung seines Willens vorgenommen hat, mit dem Patienten, der aktual voll entscheidungsfähig ist. Gestützt auf sein Selbstbestimmungsrecht legt der Verfügende mit einer PV im Voraus fest, welchen ärztlichen und pflegerischen Maßnahmen er in welchen Situationen seine Zustimmung gibt bzw. versagt. Gemäß PatVfgG hat der nicht mehr entscheidungsfähige Patient, der für die aktuelle Gesundheitssituation, in der er sich befindet, eine eindeutige und einschlägige Vorausverfügung geschaffen hat und bei dem ernstzunehmende Hinweise, dass er seinen Willen inzwischen geändert hätte, fehlen, dieselben Rechte wie Vgl. den Entwurf der Abgeordneten W. Zöller, H. G. Faust et al., BT-Drs. 16/13314, Buchstabe c. 32 Vgl. die »Überlegungen zum Umgang mit Patientenverfügungen aus evangelischer Sicht« der EKD aus dem Jahre 2005, 22 f. 33 »Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis«, in: Deutsches Ärzteblatt 107 / H. 18, A 877–882 vom 7. Mai 2010. 31
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IV · Formen und Probleme individueller autonomiebasierter Selbstbestimmung
der entscheidungsfähige Patient: auf die Respektierung seiner Willensentscheidung. Eine Nichtbeachtung durch den Arzt erfüllt, wie gesagt, den rechtlichen Tatbestand strafbarer Körperverletzung. 34 Das Selbstbestimmungsrecht wirkt mithin auch über den Augenblick der aktiven Inanspruchnahme seitens des Individuums fort in Situationen zukünftig eingeschränkter Einsichts- und fehlender Einwilligungsfähigkeit hinein. Der Gesetzgeber hat mit dem PatVfgG anerkannt, dass dies rechtlich sicherzustellen ist. Entscheidend ist, dass die PV im Zustand uneingeschränkter Entscheidungsfähigkeit verfasst worden ist, in Schriftform vorliegt und nicht nur die Wertvorstellungen und Wünsche des Verfügenden klar formuliert, sondern auch die gesundheitlichen Situationen, für die diese Wünsche gelten sollen, mit hinreichender Deutlichkeit beschreibt. Aus dem Skizzierten wird aber auch deutlich, dass die Umsetzung des Gesetzes nicht unerhebliche Anforderungen an die Beteiligten stellt: • allem voran an den Patienten, der sich für die Abfassung einer PV entscheidet: Er muss erstens seine Wertvorstellungen und Wünsche deutlich artikulieren und zweitens die gesundheitlichen Situationen (z. B. schweres inkurables Leiden, Verlust der Kommunikationsfähigkeit, Demenz, Sterbephase etc.), für die seine Verfügung gelten soll, so umfassend wie möglich und so präzise wie nötig beschreiben. Ersteres setzt eine Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit voraus, Letzteres dürfte dem medizinischen Laien i. d. R. kaum ohne ärztliche Beratung angemessen gelingen; • sodann an den behandelnden Arzt, der prüfen muss »welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesundheitszustand und die Prognose des Patienten indiziert ist«, 35 • sowie an den Bevollmächtigten bzw. Betreuer, der zusammen mit dem behandelnden Arzt diese Maßnahme »unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die nach § 1901a zu treffende Entscheidung« erörtern muss, 36 • und last but not least an die Angehörigen, denen zwar bei Klarheit des Zutreffens der Verfügung vielfach belastende Entscheidungen abgenommen werden, die aber andererseits im Fall der Einschlägigkeit der Verfügung und des Fehlens von Anzeichen 34 35 36
§ 223 StGB; s. auch § 823 Abs. 1 BGB. § 1901b Abs. 1 BGB. ebda.
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für eine Willensänderung des Patienten das entsprechende pflichtgemäße Handeln von Bevollmächtigtem/Betreuer und Arzt hinnehmen müssen. Eine adäquate Erfüllung des Genannten erfordert ein erhöhtes Maß an Sachinformation, Aufklärung und ggf. Hilfe, den über 200 Musterverfügungen im Netz zum Trotz. 37 Auch wäre es ein folgenreicher Irrtum, würde man glauben, mit der Verrechtlichung der PV seien alle diese Fragen ein für alle Mal beantwortet. Das hat seine Ursache nicht nur in der Einmaligkeit eines jeden Einzelfalls, sondern mehr noch in möglichen Unklarheiten hinsichtlich der normativen Grundlage des PatVfgG. 2.2.1 Zur normativen Grundlage des PatVfgG Die vom Gesetzgeber vorgenommene Fundierung des Rechts des Einzelnen auf Erstellung (bzw. der Nichterstellung) 38 einer PV auf den Respekt vor der Autonomie und das Selbstbestimmungsrecht des Menschen 39 stellt sich im Lichte des eingangs Dargelegten wie folgt dar: 40 ›Autonomie‹, so ist in Kap. I ausgeführt worden, besteht nicht Aus der Fülle von PV-Mustern seien die des Bundesjustizministeriums (www.bmj. bund.de) sowie des Bayerischen Ministeriums der Justiz (www.justiz.bayern.de) genannt. Auch einzelne Landesärztekammern bieten brauchbare Muster für die individuellen Bedürfnisse und Vorstellungen des Verfügenden an, z. B. die Ärztekammer Hamburg (www.aerztekammer-hamburg.de/patienten/patientenverfuegung.pdf). Es empfiehlt sich für den einzelnen Patienten jedoch dringend, bei Verwendung von PV-Mustern auf eine genaue Formulierung der persönlichen Wertvorstellungen, der (Nicht-)Behandlungswünsche sowie der Situationen zu achten, für die PV gelten soll. Vgl. Kielstein, R. / Sass, H.-M., May, A., Die persönliche Patientenverfügung. Ein Arbeitsbuch zur Vorbereitung mit Bausteinen und Modellen. Bochum (6. überab. Aufl.) 2010. Vgl. auch die Beiträge in: Frewer, A. / Fahr, U. / Rascher, W. (Hg.): Patientenverfügung und Ethik. Beiträge zur guten klinischen Praxis. Jahrbuch für Ethik in der Klinik, Bd. 2. Würzburg 2009 sowie Vetter, P. / Marckmann, G.: Gesetzliche Regelung der PV: Was ändert sich in der Praxis?, in: ÄBW 2009, 09: 370–374. 38 § 1901a Abs. 4, Satz 1: »Niemand kann zur Errichtung einer PV verpflichtet werden«. 39 Schon im Bericht der Abgeordneten U. Granold, W. Stünker et al. vom 27. 5. 09, heißt es, dass »der Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen gebietet …, die Zahl der rechtlichen Voraussetzungen für eine wirksame PV möglichst gering zu halten und so die Abfassung wirksamer Patientenverfügungen für jedermann so leicht wie möglich zu machen«. BT-Drs. 16/13314, 21/2. 40 Zum Folgenden vgl.: Beckmann, J. P. (1998): Patientenverfügungen: Autonomie und Selbstbestimmung vor dem Hintergrund eines im Wandel begriffenen Arzt-Patienten-Verhältnisses, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 44/2 (1998), 143–156. 37
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darin, dass sich das Individuum ohne Rücksicht auf den Mitmenschen grenzenlos selbst bestimmt, sondern darin, unter Wahrung des Respekts vor der Autonomie des Mitmenschen auch im Gesundheitsbereich Festlegungen vorzunehmen, die seinen Willen für den Fall krankheits- und/oder altersbedingter Nichtmehransprechbarkeit oder fehlender Entscheidungsfähigkeit dokumentieren. ›Autonomie‹, so das Resümee, stellt eine notwendige Verfasstheit des Menschen dar, Selbstbestimmung ist deren Manifestation und impliziert insoweit notwendig Selbstbindung, 41 wie es Kants ›kategorischer Imperativ‹ auf den Punkt gebracht hat. 42 Die zentrale Bedeutung menschlicher Autonomie hinsichtlich der PV besteht nun darin, dass sie auf dem moralischen Subjektsein des Menschen beruht, d. h. auf der Eigentümlichkeit jedes Menschen, von ihm selbst her Akteur und Urheber des eigenen Tuns und Lassens zu sein. 43 Der Subjektstatus des autonomen Individuums ist wiederum nicht abhängig vom faktischen Zustand noch von irgendwelchen Fähigkeiten desselben, sondern gilt davon unabhängig von jedermann und zu jeder Zeit. Einen Menschen ohne oder gar gegen seinen Willen vollständig fremdzubestimmen, ihn in toto genere den Zwecksetzungen Dritter zu unterwerfen, hieße ihn seines moralischen Subjektstatus, seines Er-selbst-Seins und damit seiner ausnahmslosen Unverfügbarkeit durch Dritte zu berauben und ihn zu einem reinen Etwas-Sein zu machen (»Objektverbot«); zugleich wäre dies ein Verstoß gegen seine vom Grundgesetz geschützte Menschenwürde. 44 Denn wie die SelbstWiederabgedruckt in: Schockenhoff, E. et al. (Hg.): Medizinische Ethik im Wandel. Grundlagen – Konkretionen – Perspektiven. Stuttgart 2005, 287–299. 41 Vgl. Kants Rede von der »Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein«. AA IV, 440. 42 »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«. Kant, I., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS), BA 66; der kategorische Imperativ ist nach Kant das »Prinzip der Autonomie« (Fn. 41), 83. 43 Das hier vorgestellte Autonomieverständnis lässt die häufig anzutreffende Rede von durch Alter und/oder Krankheit »verminderter Autonomie« oder von »Autonomiegraden« nicht zu: Vgl. dagegen Rothhaar, M. / Kipke, R., Die Patientenverfügung als Ersatzinstrument. Differenzierung von Autonomiegraden als Grundlage für einen angemessenen Umgang mit Patientenverfügungen, in: Frewer, A. / Fahr, U. / Rascher, W. (Hg.): Patientenverfügung und Ethik. Beiträge zur guten klinischen Praxis. Jahrbuch für Ethik in der Klinik, Bd. 2. Würzburg 2009. 44 Die Charta der UN vom 26. 6. 1945 spricht von »Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit«, die »Allg. Erklärung der Menschenrechte vom 10. 12. 1948 in Art. 1
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gesetzlichkeit hat auch die Menschenwürde, wie dargelegt, nichts mit intellektuellen Fähigkeiten oder gesellschaftlichen Leistungen des Einzelnen zu tun, sondern kommt jedem unabhängig von alledem vom Beginn seines Lebens an bis zu seinem Ende von ihm selbst her zu. Ärztliche, pflegerische und familiäre Fürsorge stellen insoweit nicht Kompensation für angeblich eingeschränkte oder nicht mehr vorhandene Patientenautonomie dar, sondern sind Antworten auf die Nöte des autonomen, d. h. grundsätzlich als Zweck an ihm selbst (nicht für ihn selbst!) zu respektierenden Patienten. Vor dem Hintergrund des Dargelegten gilt es zu prüfen, wie und in welchem Umfang der Gesetzgeber im neuen PatVerfG das autonomiebasierte Selbstbestimmungsrecht des Patienten umsetzt, der für den Fall der Entscheidungsunfähigkeit eine PV verfasst hat. 2.2.2 Fragen der Umsetzung des PatVfgG aus ethischer Sicht a) Wirksamkeitsvoraussetzungen Wirksamkeitsvoraussetzungen einer PV sind lt. PatVfgG neben der Einwilligungsfähigkeit bei Abfassung der PV formal (1.) Volljährigkeit und (2.) Schriftlichkeit und inhaltlich (3.) medizinische Einschlägigkeit. Nun erscheint es auch aus ethischer Sicht selbstverständlich, dass der Verfasser einer PV, der damit für den Fall seiner in Zukunft möglicherweise eintretenden Entscheidungsunfähigkeit seinen Willen vorab erklärt, zum Zeitpunkt der Abfassung der PV uneingeschränkt entscheidungs- bzw. einwilligungsfähig ist. Doch gilt das nur für Erwachsene? b) Volljährigkeit Als aus ethischer Sicht problematisch erscheint die gesetzliche Festlegung auf Volljährigkeit 45 und damit die Ausgrenzung einwilligungsfähiger Minderjähriger, die lt. Gesetz keine wirksame PV verfassen können. Mag die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts Jugendlicher aus rechtlicher Sicht in Übereinstimmung mit der generellen Bedeutung der gesetzlichen Volljährigkeit noch möglich sein, davon, dass alle Menschen »gleich an Würde« geboren seien, und das GG stellt in Art. 1 fest: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Lt. G. Dürig ist »die Menschenwürde … getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird«. G. Dürig zu Art. 1 GG in: Maunz, Th. / Dürig, G.: Kommentar zum Grundgesetz. München 1958. 45 § 1901a Abs. 1 Satz 1 BGB.
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so ist gleichwohl speziell im Gesundheitsbereich die Gefahr einer Verletzung des Respekts vor der Autonomie junger Menschen durch Fremdbestimmung nicht gebannt. Lehnt ein Minderjähriger, der trotz seines jugendlichen Alters in der Lage ist, die Vorzüge und Risiken einer ärztlichen Maßnahme einzuschätzen, dieselbe bei voller Einsichtsfähigkeit ab, so ist dies mit Rücksicht auf die Unverfügbarkeit der Person für die Ärzte aus ethischer Sicht deswegen verbindlich, weil ein sich darüber Hinwegsetzen die betreffende ärztliche Maßnahme u. U. zu einer der menschlichen Autonomie und Würde fundamental entgegenstehenden Zwangsbehandlung machen würde. Das PatVfgG scheint aus ethischer Sicht insoweit hinter den längst erreichten Stand der Respektierung des Willens auch Heranwachsender zurückzufallen. Dass bei Minderjährigen in Gesundheitsfragen der gesetzliche Vertreter (i. d. R. die Eltern) die Entscheidungsgewalt besitzt, stellt aus ethischer Sicht kein Recht (»elterliche Gewalt«), sondern eine Pflicht dar, die Pflicht nämlich, derartige Entscheidungen nicht auf den eigenen Willen, sondern unter Respektierung der Unverfügbarkeit auch Minderjähriger auf deren Willen und Wohl zu gründen. Schon längst gilt im Falle einwilligungsfähiger Minderjähriger deren möglicher Protest gegen einen ärztlichen Eingriff aus ethischer Sicht als ein ernstzunehmender und ggf. ärztlicherseits zu befolgender Wunsch. Dies bedeutet, die Willensäußerung des Minderjährigen in dem Maße wirksam werden zu lassen, wie Einsichtsund Einwilligungsfähigkeit der Betreffenden gegeben sind und wie hoch der Schweregrad der gesundheitlichen Folgen im Falle der Ablehnung seitens des Minderjährigen nach ärztlichem Urteil einzuschätzen ist. Ist der Schweregrad vergleichsweise gering und sind die Folgen vertretbar, wird man schon dem jungen Minderjährigen folgen müssen. Je nach ansteigendem Schweregrad und Nachlassen der Vertretbarkeit der Folgen wird man das Alter des Minderjährigen berücksichtigen müssen, gemäß der Maxime: je älter, desto eher, je jünger, desto eher nicht. So stellen auch die schon genannten Empfehlungen der BÄK fest, dass »solche Äußerungen … bei der Entscheidungsfindung im Kontext mit den Befugnissen der sorgeberechtigten Eltern bei der ärztlichen Behandlung des minderjährigen Patienten mit wachsender Reife zu beachten« – genauer hätte es heißen müssen: zu achten – sind. 46 Hinsichtlich der ethisch problematischen Bindung des Rechts einer Vorausverfügung an die Volljährig46
s. o. Fn 29, A 878.
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keit ist nicht auszuschließen, dass auch die Rechtsprechung sich in naher Zukunft dieser Frage annehmen wird bzw. annehmen muss, geht es doch neben der Frage der Verhältnismäßigkeit zuvorderst um den nötigen Respekt vor der Autonomie auch des Minderjährigen und seinem Selbstbestimmungsrecht. c) Schriftlichkeit Die Vorschrift der Schriftform ist unter Sicherheitsaspekten zu begrüßen: Sie bietet einen erhöhten Schutz (a) für den Verfügenden vor Missverständnissen, (b) für den Arzt vor grundlosen Rechenschaftsforderungen und (c) für die Angehörigen vor möglicherweise gewissensbelastenden Auskünften. Das Erfordernis der Schriftlichkeit wäre jedoch in ethischer Hinsicht problematisch, würden damit mündliche Verfügungen nicht ebenfalls als Ausdruck autonomiebasierter Selbstbestimmung betrachtet. Dass mündliche Verfügungen keine PV sind, ist Ergebnis einer rechtlichen Entscheidung des Gesetzgebers; sie kann jedoch keine ethische Bewertung der Eingrenzung des Respekts vor der Autonomie sein. Die gesetzliche Vorschrift der Schriftlichkeit kann als Abwägungsergebnis zwischen den drei genannten Schutzwirkungen auf der einen und dem Autonomierespekt auf der anderen Seite zugunsten der ersteren angesehen werden. Dass der Gesetzgeber im Übrigen auch mündlichen Vorausverfügungen Bedeutung zumisst, erhellt aus den Bestimmungen des § 1901a Abs. 2, wonach im Falle fehlender Ansprechbarkeit oder Entscheidungsfähigkeit des Patienten bei Nichtvorliegen einer PV seine »Behandlungswünsche oder der mutmaßliche Wille … festzustellen sind«. Ein zuvor mündlich geäußerter Wille ist ethisch – und übrigens auch rechtlich – durchaus kein nur mutmaßlicher Wille, von dem er sich schon durch die Ausdrücklichkeit unterscheidet; er teilt mit Letzterem lediglich die gesetzliche Einordnung als Nicht-PV, ungeachtet seiner ethischen Validität als authentische Manifestation des Selbstbestimmungsrechts. Fortwirkung im Sinne des PatVfgG hat freilich nur der schriftliche Wille; liegt nur eine mündliche Willenserklärung vor, entscheidet ein anderer, nämlich der (rechtsgeschäftliche) Bevollmächtigte bzw. der (gesetzliche) Betreuer (s. unten), dies freilich im Namen des Patienten und strikt nach Maßgabe seines Willens, sofern derselbe zumindest mündlich bekannt ist; andernfalls unter Berücksichtigung seines mutmaßlichen Willens.
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2.3 Medizinische Einschlägigkeit Eine PV muss inhaltlich so formuliert sein, dass sie nicht nur den Willen des Verfügenden und seine Wertvorstellungen klar wiedergibt, sondern auch die medizinischen Situationen möglichst genau beschreibt, für die sie gelten soll, damit sie von den Ärzten richtig verstanden werden kann. 47 Gängige Formulierungen wie »keine Wiederbelebungsmaßnahmen«, »keine Schläuche«, »keine Antibiotika« u. ä. sind zu allgemein und bilden daher für die aktuelle Situation keine gesicherte Grundlage für die Willensfeststellung. Gegen das Erfordernis der Einschlägigkeit gibt es aus ethischer Sicht insoweit keine Einwände, sieht man von der Schwierigkeit der Gratwanderung zwischen (erforderlicher) hinreichender Beschreibung einerseits und (für den medizinischen Laien nahezu unmöglicher) medizinisch-wissenschaftlicher Präzision andererseits einmal ab; umso wichtiger ist die Angabe der persönlichen Wertvorstellungen des Verfügenden. Wichtig auch, dass die vom Verfügenden gemachten medizinischen Angaben ein gewisses Analogiepotenzial besitzen, dergestalt, dass von den tatsächlich gemachten medizinischen Angaben auf solche gesundheitliche Situationen geschlossen werden kann, die der Verfügende zwar nicht genannt hat, in denen aber seinem Willen entsprechend analog verfahren werden soll. Entscheidend ist schließlich, wer das Vorliegen der geforderten Übereinstimmung mit der aktuellen medizinischen Situation des entscheidungsunfähigen Patienten feststellt bzw. wie es zu einer Bewertung kommt. Diesbezüglich sieht der Gesetzgeber die Hinzuziehung eines persönlichen Bevollmächtigten bzw., falls der Verfügende einen solchen nicht ernannt und auch keine Betreuungsverfügung erlassen hat, die Bestellung eines gesetzlichen Betreuers vor.
2.4 Zum Verhältnis zwischen Bevollmächtigtem / Betreuer und dem behandelnden Arzt Von der Freiheit des Einzelnen, über eine PV hinaus auch Bevollmächtigte und Betreuer zu nominieren, ist bereits die Rede gewesen, noch nicht jedoch, wie sich beider Amt zu demjenigen des Arztes und demjenigen des Betreuungsgerichts verhält. Im PatVfgG heißt es, 47
Vgl. Lipp, V.: Patientenautonomie und Lebensschutz. Göttingen 2005, 24 f.
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dass, wenn »ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt hat, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung)«, der Betreuer (bzw. der Bevollmächtigte) prüft, »ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen«. Ist dies der Fall, so muss derselbe »dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung« verschaffen. 48 Für den Fall, dass die Aussagen in der PV hingegen uneindeutig sind oder eine Vorausverfügung gar nicht vorliegt, müssen die Ärzte und der Bevollmächtigte bzw. Betreuer den mutmaßlichen Willen feststellen. Hinsichtlich des mutmaßlichen Willens gilt nicht dasjenige, was »man« gemeinhin tut, sondern es gelten konkrete Anhaltspunkte aus früheren Äußerungen des Patienten. Hierzu sind Personen aus seiner sozialen Umgebung, nahe Angehörige, Vertrauenspersonen etc. ggf. hinzuziehen. Die Gesetzesformulierung »Angehörigen ist Gelegenheit zur Äußerung zu geben« 49 könnte freilich geeignet sein, eine zentrale ethische Norm zu verletzen, diejenige nämlich, dass Dritte grundsätzlich kein eigenes Äußerungsrecht haben, sondern einen auf Wahrheit verpflichteten Informationsauftrag hinsichtlich der ihnen bekannten Willensbekundungen des Patienten zu erfüllen haben, wie § 1901b Abs. 1 BGB festlegt. Denn: Niemand ist zur Errichtung einer PV verpflichtet, so das Gesetz ausdrücklich; 50 ethisch leitet sich auch dies vom autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen ab. Aus dem gleichen Grunde kann niemand verpflichtet werden, einen Bevollmächtigten zu ernennen; doch dazu findet sich im Gesetz nichts, gleichwohl aber darüber, dass der behandelnde Arzt, nachdem er geprüft hat, »welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist«, zusammen mit dem Bevollmächtigten bzw. Betreuer »diese Maßnahme unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die nach § 1901 a zu treffende Entscheidung« erörtert. 51 Offenbar wird vorausgesetzt, dass es entweder einen Bevollmächtigten oder eine Betreuungsverfügung sei48 49 50 51
§ 1901a Abs. 1 BGB. § 1901b Abs. 2 BGB. § 1901a Abs. 4 BGB. § 1901b Abs. 1 BGB.
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tens des Patienten gibt, oder falls weder das eine noch das andere vorliegt, dass das Betreuungsgericht einen Betreuer einsetzt. Doch: Muss das Betreuungsgericht in jedem Fall einen Betreuer ernennen? Hierbei handelt es sich nicht nur um eine rein rechtliche Frage, die vermutlich zu – nicht notwendig einheitlicher – Rechtsprechung durch die Gerichte führen wird. Ethisch stellt sich die Frage, ob es nicht eine unzulässige oder zumindest unverhältnismäßige Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Menschen bedeutet, wenn er zwar das Recht zur Erstellung einer PV hat und zugleich einen Bevollmächtigten bestellen oder eine Betreuungsverfügung errichten kann, bei Nichtbestellung derselben aber die gerichtliche Ernennung eines Betreuers hinnehmen muss. Warum deckt das autonomiebasierte Selbstbestimmungsrecht nicht auch das Recht des Verfügenden ab, dem Arzt allein die pflichtgemäße Entscheidung darüber zuzutrauen, ob die Verfügung auf die aktuelle Situation zutrifft? Und: Eine für den konkreten Fall einschlägige PV ist bereits als solche für den Arzt verbindlich. Warum bedarf es neben der PV in jedem Fall einer persönlichen Stellvertretung durch einen Bevollmächtigten oder ersatzweise eines gesetzlichen Vertreters in Form eines gerichtlich bestellten Betreuers? Zugunsten einer solchen Regelung ließe sich die Sicherung des Schutzes des Patienten anführen. Doch Schutz wovor bzw. vor wem? Warum traut der Gesetzgeber dem Arzt nicht zu, eine PV gemäß dem Patientenwillen umzusetzen, sofern derselbe für den aktuellen Krankheitszustand einschlägig ist und keine Hinweise auf eine Willensänderung vorliegen? Die Antwort des Gesetzgebers ist diesbezüglich unklar bzw. unausdrücklich. 52 Mögliche Folge: Der Arzt wird, um sich vor möglichen rechtlichen Verfahren zu schützen, versucht sein, bei fehlendem Bevollmächtigten nicht aus seiner ärztlichen Verpflichtung heraus, sondern einzig zu seinem rechtlichen Schutz sicherheitshalber häufig, wenn nicht in der Regel eine Betreuung zu beantragen, und dies selbst dann, wenn er keinerlei Zweifel an der Einschlägigkeit der PV und der Willenserklärung des Patienten hat. Abgesehen davon, dass dies zu einer erheblichen Zunahme von Anträgen beim Betreuungsgericht führen dürfte, was man noch als »Bürokratismus« hinnehmen könnte, ergeben sich aus ethischer Sicht die folgenden Probleme: (1.) Während der Zeit bis zur gerichtÄhnlich die »Empfehlungen« der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission (ZEKO), in: Dt. Ärzteblatt 107, H. 18, A 830–882, A 879.
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lichen Betreuerbestellung ist der Arzt verpflichtet, keine irreversiblen Tatbestände zu schaffen; das aber könnte, wenn auch unbeabsichtigt, ein Handeln gegen den Willen des Patienten implizieren. Eine Zwangsbehandlung ist jedoch mit dem Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten unter keinen Umständen zu vereinbaren. (2.) Sodann: Der Arzt ist u. U. gezwungen, während der gen. Zeitspanne Maßnahmen zu treffen oder zu unterlassen, die gegen seine Verpflichtung des »niemals Schadens« verstoßen; aus ethischer Sicht stellt dies ggf. eine unzumutbare Verpflichtung des Arztes dar. Nicht zuletzt (3.): Eine für die aktuelle Krankheitssituation einschlägige PV bei gleichzeitigem Fehlen von Anhaltspunkten für eine Willensänderung des Patienten dürfte auch nach Einsetzung eines Betreuers nicht anders beurteilt werden, und falls doch, müsste das Betreuungsgericht dies gem. § 1904 Abs. 3 BGB korrigieren. Fazit: Eine ausnahmslose Betreuerbestellung im Falle fehlender Bevollmächtigung dient nicht dem Schutz des Patienten, sondern demjenigen des Arztes; dies nicht nur möglicherweise zum Schaden des Patienten, sondern auch unter Hinnahme möglicher Zwangsbehandlung und damit einer nicht rechtfertigungsfähigen Verletzung des Respekts vor der körperlichen Integrität eines Menschen und seiner Autonomie, von der Belastung für das ärztliche Ethos des niemals Schadens abgesehen. Der BÄK ist daher mit Nachdruck zuzustimmen, wenn sie in ihren »Empfehlungen« feststellt: »Die Bundesärztekammer und die ZEKO sind – wie das Bundesministerium der Justiz – der Auffassung, dass eine eindeutige Patientenverfügung den Arzt direkt bindet. Sofern der Arzt keinen berechtigten Zweifel daran hat, dass die vorhandene Patientenverfügung auf die aktuelle Lebensund Behandlungssituation zutrifft, hat er auf ihrer Grundlage zu entscheiden«. 53 Bundesärztekammer und Zentrale Ethikkommission (ZEKO) (Fn. 52), 879. – vgl. Borasio, D. / Heßler, H.-J. / Wiesing, U.: Patientenverfügungsgesetz. Umsetzung in der klinischen Praxis, in: Deutsches Ärzteblatt 106, H. 40 vom 2. 10. 2009, A 1952– 1957, hier A 1954: »Eine auf die aktuellen Umstände genau zutreffende PV ist unmittelbar zu beachten, auch wenn es keinen Betreuer oder Bevollmächtigten gibt. Ein Betreuer muss wegen des Grundsatzes der Erforderlichkeit (§ 1896 Abs. 2 S. 1 BGB) in einer solchen Situation gar nicht bestellt werden, weil man ihn zur Umsetzung des Patientenwillens nicht braucht«. (…) »Die gesetzliche Neuregelung sollte nicht dazu verleiten, jetzt in allen Fällen ›vorsichtshalber‹ eine Betreuung bei Gericht anzuregen«.
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Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Frage, wie mit einer möglichen Spannung zwischen ärztlicher Zuständigkeit und der Aufgabe von Bevollmächtigten bzw. Betreuern umzugehen ist.
2.5 Medizinische Indikation und die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Bevollmächtigtem / Betreuer aus ethischer Sicht Ist die im Gesetz genannte Verpflichtung der Zusammenarbeit zwischen Arzt und Bevollmächtigtem bzw. Betreuer geeignet, die ärztliche Zuständigkeit ungebührlich einzuschränken? Voraussetzung einer Beantwortung dieser Frage ist Klarheit darüber, ob die aktuelle Krankheitssituation des Patienten von seiner PV gedeckt ist. Anamnese und Diagnose, d. h. die medizinische Feststellung der aktuellen Krankheitssituation und die Schaffung der Grundlage für die dann normalerweise folgende Indikationsstellung sind ausschließlich Sache des Arztes: nur er ist dazu befähigt und befugt. Nichtärztliche Dritte wie Angehörige, aber auch Bevollmächtigte bzw. Betreuer können und dürfen zu derartigen medizinischen Handlungen nichts beitragen; die betreffenden Pflichten, aber auch die Verantwortung dafür liegen allein beim Arzt. Gegenstand der mit dem Bevollmächtigten bzw. Betreuer gemeinsam zu entscheidenden Frage sind nicht Anamnese und Diagnose und damit die aktuelle Krankheitssituation, sondern die Frage, ob die PV darauf zutrifft bzw. dafür einschlägig ist. Gilt dies auch von der Indikation? Lt. § 1901 b Abs. 1 BGB ist dies der Fall und die »Empfehlungen« der BÄK unterstreichen dies. 54 Wie stellt sich dies aus ethischer Sicht dar? ›Medizinische Indikation‹ besitzt eine komplexe Struktur und Funktion, in welcher Ursachen (Krankheit als naturhafter Prozess) ebenso eine Rolle spielen wie Gründe (Kranksein als nichtgewolltes Ereignis) und nicht zuletzt die Entscheidung des Patienten. Die Indikation besitzt mithin eine Erhebungs-, eine Normierungs- und eine Entscheidungsfunktion. An allen drei Funktionen ist nicht nur der Arzt, sondern auch der Patient mit seiner Willensentscheidung beteiligt. Indikation beginnt aufseiten des Patienten wie des Arztes mit je einem eigenen Entwurf: Für jeden der beiden ist von Anfang an »Die Indikationsstellung und die Prüfung der Einwilligungsfähigkeit ist Aufgabe des Arztes«. Bundesärztekammer u. ZEKO (Fn. 52), A 881.
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etwas »indiziert«: für den Patienten im Sinne eines Sichzeigens, für den Arzt im Sinne eines Indizes. Der Patient zeigt etwas in seinen Augen Interventionsbedürftiges an, gibt mithin einen Willen kund; der Arzt erblickt darin Hinweise für entsprechendes Handeln. »Indikation« meint mithin keineswegs etwas rein auf die medizinische Wissenschaft Beschränktes. Auch ist Indikation nicht ausschließlich handlungsbezogen, etwa in dem Sinne von: »Weil x wegen y angezeigt ist, muss x getan werden«. Vielmehr kommt der Indikation eine, wie der Mediziner und Ethiker Klaus Gahl sagt, »Scharnierfunktion« 55 zu: zwischen dem vom Patienten Gewollten und dem vom Arzt Festgestellten. Weil Anzeigen (des Patienten) und Anzeichen (für den Arzt) vorliegen, bedarf es einer Indikationsstellung. Die Verbindung zwischen Patient und Arzt besteht bei der Erarbeitung der Indikation darin, dass zwar die Indikationsstellung allein vom Arzt vorgenommen wird, bei der Indikationsfestsetzung jedoch bereits der Rückbezug auf den Patienten und seinen Willen ins Spiel kommt, geht es doch um die gemeinsame Festlegung des Behandlungsziels (sachlich besser, wenngleich sprachlich unschön: des »Zusammenhandlungsziels«). Hinsichtlich der ›medizinischen Indikation‹ kommt mithin dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht des Patienten zentrale Bedeutung zu. Damit beantwortet sich die Frage, ob der Arzt unabhängig von der PV zunächst nach einer Indikation sucht, um anschließend zu entscheiden, ob er einen Behandlungsvorschlag anbieten kann, oder ob der Arzt von Anfang an darauf achtet, welchen Formen der Behandlung der Patient seine Zustimmung gibt und welchen er sie versagt: Da auch das Bestimmen einer Indikation ärztliches Handeln darstellt, muss ihm die Zustimmung des Patienten bzw. seines Vertreters nach Aufklärung vorausgehen. Dass jedoch eine Indikationsstellung nicht ohne patientenseitige Zustimmung legitim ist, impliziert nicht, dass Letztere in Erstere eingeht: Der Arzt erstellt die Indikation pflichtgemäß aufgrund medizinisch-ärztlicher Kriterien. Der Patient – ggf. vertreten durch seinen Bevollmächtigten bzw. Betreuer – hat zwar das Recht, der Vornahme einer medizinischen Indikationsstellung seine Zustimmung zu versagen, nicht aber das Recht, dem Arzt die medizinische Seite der Indikationsstellung vorzuschreiben. Eine Gahl, K., Indikation – zur Begründungsstruktur ärztlichen Handelns, in: Gethmann-Siefert, A. et al. (Hg.), Studien zur medizinischen Ethik. Freiburg 2005, 116 (= Bd. 2 von »Wissen und Verantwortung«, FS f. Jan P. Beckmann).
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Indikation wird ärztlicherseits erstellt, eine Behandlungsmaßnahme wird unter der Voraussetzung des informed consent des Patienten zwischen beiden vereinbart. An dieser Unterscheidung ist schon aus rechtlichen Gründen wegen der unterschiedlichen Verantwortungsbereiche von Arzt (Hilfe) und Patient (Selbstbestimmungsrecht) – etwa hinsichtlich von Haftungsfällen – festzuhalten. Gleichwohl sind beide, wenngleich ein jeder mit der ihm eigenen Kompetenz und im Rahmen der je eigenen Verantwortung, aufgerufen, gemeinsam das weitere Vorgehen zu entscheiden. 56 Bildet man diese Struktur auf die Situation des entscheidungsunfähigen Patienten mit PV ab, so wird verständlich, was es heißt: Arzt und Bevollmächtigter bzw. Betreuer prüfen gemeinsam, ob die PV eine für die aktuelle Krankheitssituation einschlägige Willenserklärung des Patienten enthält. Dessen Willenserklärung bezieht sich naturgemäß auf – gewünschte oder unerwünschte – ärztliche Maßnahmen; ergo müssen dieselben zuvor via Anamnese, Diagnose und Indikationsstellung ärztlicherseits eruiert werden. Doch wenn der Arzt daraufhin eine Indikation festsetzt und ein Behandlungsangebot unterbreitet, muss geprüft werden, ob dasselbe den in der PV festgehaltenen Wünschen des Patienten entspricht. Hier wird deutlich, was vielfach übersehen wird: PVs haben genaugenommen nicht medizinische Indikationsstellungen zum Gegenstand, sondern ärztliche Maßnahmen, »Behandlungsangebote« in der Sprache des Gesetzgebers sowie Behandlungsziele. Für den Umgang mit dem Behandlungsangebot und die Festlegung des Behandlungszieles sind Arzt und Patient bzw. im Falle von dessen Einwilligungsunfähigkeit sein Bevollmächtigter bzw. Betreuer zuständig. (Nur) bei Dissens ist das Betreuungsgericht anzurufen. Dasselbe tritt – ethisch gesehen – nicht an die Stelle des in der PV niedergelegten Patientenwillens, sondern muss eben diesem Willen, sofern für die Situation einschlägig, Geltung verschaffen.
2.6 Zur Rolle des Betreuungsgerichts Das Betreuungsgericht ist zum einen anzurufen, wenn sich Arzt und Bevollmächtigter bzw. Betreuer über die Einleitung einer Maßnahme für Einzelheiten siehe den Entscheidungsbaum in: Borasio, D. et al. (2009) (Fn. 53), 1954.
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oder deren Fortsetzung oder Einstellung nicht einig sind, 57 und zum anderen immer dann, wenn es um die Einwilligung des Bevollmächtigten bzw. Betreuers »in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff« geht, bei dem »die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet«. 58 Zwar muss das Gericht in beiden Fällen zustimmen, »wenn die Einwilligung, die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung dem Willen des Betreuten entspricht«, 59 doch fragt sich aus der Perspektive des Respekts vor dem Selbstbestimmungsrecht, warum der Gesetzgeber auch in klaren Fällen die gen. Gefahren von Zwangsbehandlungen und des Verstoßes gegen das ärztliche Ethos des niemals Schadens in Kauf nimmt. Letzteres wird besonders aktuell im Fall von lebenserhaltenden Maßnahmemöglichkeiten, denen der Patient jedoch durch seine PV die Zustimmung versagt hat. 2.6.1 Zur Frage der Notwendigkeit der Betreuerbestellung bei vom Patienten untersagten lebenserhaltenden ärztlichen Maßnahmen Vom Gesetzgeber nicht geklärt ist die Frage, ob der Arzt im Falle einer vom Patienten gewünschten Unterlassung oder Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen in jedem Fall bei fehlender Bevollmächtigung vom Gericht einen Betreuer bestellen lassen muss 60 oder ob er bei entsprechender Klarheit und Eindeutigkeit der PV dem Patientenwillen folgend handeln darf bzw. muss. Für Letzteres spricht die Verbindlichkeit einer klaren, den aktuellen Krankheitszustand des Patienten eindeutig treffenden PV, dagegen das Fehlen einer Art »Sicherheitsmaßnahme« gegen irreversible Handlungen. Der damit verbundene Tutiorismus muss sich freilich gegen die schon genannten Gefahren einer – bis zur Betreuerbestellung erfolgenden – möglichen
§ 1904 Abs. 2 BGB. § 1904 Abs. 1 u. 2 BGB. 59 § 1904 Abs. 3 BGB. 60 Das Gesetz spricht in § 1896 Abs. 2 nicht von (ausnahmsloser) Notwendigkeit, sondern von (ggf. vorliegender) Erforderlichkeit. Danach ist eine Betreuerbestellung nicht erforderlich, wenn die Angelegenheiten des Patienten durch einen Bevollmächtigten ebenso gut besorgt werden können. 57 58
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Zwangsbehandlung wappnen und u. U. einen massiven Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten hinnehmen; ethisch betrachtet wäre der Schutzgedanke des Gesetzgebers insofern mit einem Risiko der Verletzung des Respekts vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen belastet. Hinzukommt die noch schwerwiegendere Tatsache einer Zwangsbehandlung infolge des § 287 Abs. 3 des »Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit« (FamFG) vom 17. 12. 2008, wonach »ein Beschluss, der die Genehmigung nach § 1904 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Gegenstand hat, erst zwei Wochen nach Bekanntgabe an den Betreuer oder Bevollmächtigten sowie an den Verfahrenspfleger wirksam wird«, 61 ganz abgesehen vom Recht Dritter auf Überprüfung bei Verdacht auf Missbrauch. Verschlingt schon die Betreuerbestellung kostbare Zeit, so verlängert sich dies infolge von Anhörungsvorschriften, der Bestellung eines Verfahrenspflegers sowie der Einholung von Sachverständigengutachten erheblich. Während dieser Zeit müssen die Ärzte in dubio pro vita handeln und dabei möglicherweise Maßnahmen vornehmen, die der Patient in seiner PV ausdrücklich abgelehnt hat; dies alles ist ethisch im Konflikt mit dem Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht eines Menschen und insoweit letztlich zugleich eine Missachtung seiner Würde. Ungeklärt im Gesetz ist des Weiteren die Frage, ob der ablehnenden Haltung des Patienten in seiner PV auch dann stattzugeben ist, wenn das Therapieangebot des Arztes begründete Aussicht auf eine Heilung hat. Nimmt man die Situation des entscheidungsfähigen Patienten als Maßstab, wird man die Frage bejahen: ohne informierte Zustimmung keine Legitimität ärztlichen Handelns. Ob dies auch für die PV gilt, dürfte die Gerichte nachhaltig beschäftigen. Aus ethischer Sicht entscheidend dürfte dabei sein, wie die Frage zu beantworten ist, ob der Einzelne in seiner Autonomie die Hinnahme seines medizinisch vermeidbaren Todes vorab verfügen kann oder ob dies entweder mit der Schutzpflicht des Staates oder dem Selbstbestimmungsrecht der Ärzte oder mit beidem kollidiert.
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BGBl. I S. 2586.
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2.6.2 Verwischen der Grenzen gegenüber der Suizidbeihilfe oder der Tötung auf Verlangen? Enthält eine PV die Untersagung der Vornahme oder Fortsetzung lebenserhaltender Maßnahmen, so stellt sich nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch die Frage, ob dies von der Beihilfe zum Suizid und vor allem vom Straftatbestand der Tötung auf Verlangen sicher abgrenzbar ist, und falls ja, wie eine derartige Abgrenzung zu begründen ist. Der entscheidungsfähige Patient hat das Recht, seine Zustimmung zu lebenserhaltenden ärztlichen Maßnahmen rechtlich wirksam und ethisch legitim jederzeit zu verweigern. Ethische Grundlage ist, wie dargelegt, das autonomiebasierte Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Vom (ärztlich) assistierten Suizid 62 unterscheidet sich diese Situation dadurch, dass anders als beim Suizid keine Lebensverneinung, sondern eine Erlaubnisverweigerung vorliegt, ungeachtet des Umstandes, dass dieselbe mit der Hinnahme des Todes verbunden ist; der Suizident hingegen nimmt nicht seinen Tod hin, er zielt ihn bewusst an. Auch von der Tötung auf Verlangen unterscheidet sich die Weigerung eines Patienten, lebenserhaltenden Maßnahmen zuzustimmen: Nicht nur strebt er die Todesfolge nicht an, sondern nimmt sie lediglich intentione obliqua hin; vor allem instrumentalisiert er nicht den Arzt zum Zwecke einer strafbewehrten Handlung nach § 216 StGB, was einen massiven Verstoß gegen dessen Autonomie darstellen würde. Enthält die PV eine Ablehnung der Aufnahme oder der Fortsetzung lebenserhaltender Maßnahmen unter Hinnahme des Todes, so ist ihr, sofern es keinen Anlass zum Zweifel am Willen des Verfügenden gibt, deswegen zu folgen, weil sein vorausverfügter Wille unverändert fortgilt; enthält die PV hingegen den Wunsch nach Suizidassistenz oder gar nach Tötung auf Verlangen, ist dies auch aus ethischer Sicht ex ante unvertretbar. Ob das neue PatVfgG die genannte Grenzziehung mit der erforderlichen Klarheit enthält bzw. wie sich der § 1901a BGB zu § 216 StGB verhält, muss ggf. durch die Rechtsprechung geklärt werden. Eine diesbezügliche Klärung ist aus ethischer Sicht umso dringlicher, als Unklarheiten hinsichtlich des Wirksamkeitsbereichs des § 216 bei Bevollmächtigten bzw. Betreuern und vor allem bei den Ärzten zu »Vorsichts(be-)handlungen« führen können, die vom fortwirkenden Zur Frage, ob ärztliche Suizidbeihilfe u. U. als palliative Maßnahme gelten kann, vgl. de Ridder, M.: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin. München 2010.
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Willen des Patienten nicht gedeckt sind. 63 Auch ist es aus ethischer Sicht unzumutbar, dass sich Bevollmächtigte bzw. Betreuer sowie Ärzte, die sich an einen wirksam erklärten und für die Gesundheitssituation des Patienten einschlägigen Wunsch halten wollen, ihrer Verpflichtung nicht nachkommen können, weil sie sich dadurch der Gefahr einer evtl. Strafverfolgung nach § 216 StGB oder § 323c StGB aussetzen. Entscheidend sind Freiverantwortlichkeit und Freiwilligkeit des Patientenwunsches. 2.6.3 »Natürliche« vs. »nicht natürliche« Todesursache Der den Tod eines Menschen feststellende Arzt muss bekanntlich die Todesursache auf dem Totenschein vermerken. Dabei hat er die Wahl zwischen den Angaben »natürlich«, »nicht natürlich« und »unbekannt«. Als »natürlich« gilt der Tod infolge nicht mehr behandelbarer Krankheit, als »nicht natürlich« der Tod nach »Einwirkung Dritter«. Kann Letzteres auch den Fall auf Wunsch des Patienten nicht eingeleiteter Behandlungsmaßnahmen oder deren Nichtfortsetzung betreffen? Da das Sterben im Krankenhaus i. d. R. von ärztlichen Maßnahmen begleitet wird, die auf den ausdrücklichen Wunsch des Patienten entweder vorgenommen oder abgebrochen oder gar nicht erst aufgenommen werden, fiele nahezu jeder ärztlich begleitete Tod unter die Kategorie »Einwirkung Dritter« und damit »nicht natürlich«, mit der Folge evtl. nachträglicher staatsanwaltlicher Überprüfung. Es würde jedoch dem dem PatVfgG zugrunde liegenden Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten zuwiderlaufen, würde man seine Willensentscheidung post mortem indirekt einer (straf-) rechtlichen Bewertung unterziehen. Möglicherweise hilft schon eine Präzisierung des Begriffs der »Einwirkung Dritter«, der ohne eine solche Präzisierung vom pflichtgemäßen ärztlichen Handeln auf Wunsch des Patienten einerseits bis zur verbrecherischen Gewalttat andererseits zu reichen scheint. Es kann jedenfalls auch ethisch nicht angehen, dass man ein vom Patienten aktuell oder durch einschlägige PV ausdrücklich gewünschtes Sterbenlassen im Falle pflichtgemäßer ärztlicher Begleitung entweder unter einen am Merkmal der Gewalttat orientierten Begriff fallen So der Diskussionsbeitrag des Vf.s zur PV auf dem 66. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages. Stuttgart 2006, Band II/2, N. 147– 149. Freiburg 2007.
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lässt oder aber den Begriff ärztlich begleiteten Sterbens derartig entleert, dass darunter nur noch ärztliches Nichtstun fällt. Stattdessen muss – ggf. durch richterliche Gesetzesfortschreibung – klargestellt werden, dass der Respekt vor der Ablehnung der Aufnahme oder Fortsetzung lebenserhaltender Maßnahmen ärztliches Tun nicht nur nicht ausschließt, sondern dasselbe naturgemäß unvermeidlich macht: Unterlassen und Abbruch sind ihrer Natur nach Handlungen 64 und gehören, sofern dieselben auf Wunsch des Patienten geschehen, zu den ärztlichen Pflichten, auch wenn bei Erfüllung derselben der unbeabsichtigte Tod des Patienten hinzunehmen ist. Wenn der Arzt den Tatbestand einer Körperverletzung vermeidet, dann kann er sich nicht deswegen bzw. insoweit eines Tötungstatbestands schuldig machen. Es geht nicht an, das Sterbenlassen eines Menschen trotz medizinischer Möglichkeiten, die der Patient jedoch ablehnt, u. U. als Tötung durch Unterlassen einzustufen, während der eine solche Einstufung vermeidende ärztliche Eingriff wegen Fehlens der Zustimmung des Patienten als strafbare Körperverletzung nach § 223 StGB in Betracht kommt. Es ist insoweit zu bedauern, dass der Gesetzgeber sich im Rahmen des PatVerfG nicht auch der – ethisch zulässigen passiven und indirekten – ärztlichen Sterbehilfe angenommen hat. Das hat er 2015 durch das sog. »Sterbehilfegesetz« nachzuholen versucht – erfolglos, wie das soeben ergangene Urteil des BVerfG vom Februar dieses Jahres festgestellt hat. Mehr dazu im folgenden Kap. V.
2.7 Fazit Im Lichte des Dargelegten ist die Eingangsfrage »Wie lässt sich die normative Grundlage des PatVfgG in der Praxis aus ethischer Sicht verwirklichen?« dahingehend zu beantworten, dass das entscheidend Neue und Zukunftweisende dieses Gesetzes in der Gründung der gesetzlichen Verankerung der PV auf das verfassungsrechtlich verbürgte und in der ethischen Tradition der europäischen Aufklärung wur-
Näheres s. Birnbacher, D., Tun und Unterlassen. Stuttgart 1995. Dort findet sich u. a. eine Prüfung der Fragen, ob »Unterlassungen kausale Wirksamkeit« zukommt (65 ff.), ob das »Geschehenlassen eine besondere Form des Unterlassens« ist (100 ff.) und ob »die Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen als solche moralisch bedeutsam« ist (117 ff.).
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zelnde autonomiebasierte Selbstbestimmungsrecht des Menschen besteht und dies auf das rechtlich bindende Fortwirken seines vorausbestimmten Willens durch eine einschlägige PV ausgedehnt wird. Damit hat der Einzelne in der Diskussion um sein Wohl und seinen Willen auch im Fall seiner Entscheidungsunfähigkeit das letzte Wort. Ausweispflichtig sind, wie gesagt, nicht die Autonomie noch das Selbstbestimmungsrecht noch der Wille des Menschen, sondern die an ihm vorgenommenen Handlungen Dritter. Es hätte den Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen fragwürdig erscheinen lassen, hätte man dasselbe nur an aktuelle Einwilligungsfähigkeit gebunden. Die aufgezeigten, zumindest aus ethischer Sicht bestehenden Lücken, Ungenauigkeiten und Überarbeitungsnotwendigkeiten des PatVfgG in der ärztlichen Praxis – und wenn nicht anders möglich, durch die Rechtsprechung – aufzuarbeiten, stellt eine bleibende Aufgabe dar, gilt es doch, den neuzeitlichen Aufklärungsgedanken des grundsätzlich unverfügbaren Individuums unter Beachtung desselben Status des Mitmenschen zu verwirklichen und dabei zu begreifen, dass die Schutzpflicht des Staates aus ethischer Sicht letztlich nicht darin besteht, das Leben des Einzelnen im Zweifel auch ohne oder gar gegen seinen Willen zu schützen, sondern darin, die Freiheit des Einzelnen, entsprechende Entscheidungen auch im Voraus wirksam zu treffen, zu garantieren. Denn: Freiheit und Autonomie bedingen einander.
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Beispiel einer Patientenverfügung
Appendix Beispiel einer Patientenverfügung Patientenverfügung »Ich, (folgt Name), geb. am (folgt Geburtsdatum) in (folgt Geburtsort), wohnhaft in (folgen Wohnort, Straße und Hausnummer) erkläre und bestimme für den Fall, dass ich meinen Willen nicht mehr bilden oder verständlich äußern kann, das Folgende:
1.
Meine Wertvorstellungen
1.1 Autonomie und Selbstbestimmungsrecht Für mich verbindlich und leitend ist die Vorstellung vom Menschen als einem autonomen und sich selbst bestimmenden Individuum, das niemals durch Dritte – und sei es in noch so wohlwollender Absicht – fremdbestimmt werden darf und das jederzeit und ohne Angabe von Gründen ärztliche und pflegerische Maßnahmen rechtswirksam und ethisch legitim verweigern kann und darf. Dies schließt auch solche Fälle und Situationen ein, in denen meine Weigerung medizinische und/oder pflegerische Nachteile nach sich ziehen sollte; dies auch dann, wenn diese Weigerung zum Tode führt. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Selbstbestimmungs- wie das Selbstschädigungsrecht nicht nur im Zustand der Ansprechbarkeit und Entscheidungsfähigkeit gilt, sondern auch das Recht auf Vorausentscheidung darüber einschließt, welche möglichen ärztlichen und pflegerischen Maßnahmen für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit nicht meine Zustimmung finden. Auch wäre es mit meiner Vorstellung von Gerechtigkeit unvereinbar, wenn man mir bei Vorliegen der nachfolgend unter Punkt 2 beschriebenen oder diesen vergleichbaren Zuständen im Fall der Einsichts- und Entscheidungsunfähigkeit verweigerte, was man mir bei voller Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit rechtlich und moralisch nicht versagen kann und darf. Ich erwarte daher, dass meine im Folgenden wohlüberlegt und frei gegebenen Willenserklärungen als nicht nur beachtlich, sondern 203 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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als absolut verbindlich betrachtet und befolgt werden, und ich verlange, dass mir zu keinem Zeitpunkt eine Willensänderung unterstellt wird. Zuwiderhandlungen betrachte ich als Zwangsbehandlung. Auch lasse ich für meine Person die evtl. Behauptung von dritter Seite nicht gelten, ich zeigte etwa im Falle einer Demenz entgegen meiner Patientenverfügung Anzeichen des Wohlgefallens und des Lebenswillens. Sollten sich meine im Folgenden dargelegten Willensbekundungen ändern, werde ich dafür sorgen, dass dies erkennbar und früh genug zum Ausdruck kommt.
1.2 Lebensqualität und Lebensschutz Ein Leben in völliger Abhängigkeit von Dritten vermag ich mit meiner Vorstellung von Lebensqualität nicht zu vereinbaren. Ich ordne daher für meine Person im Konfliktfall den Schutz meines Lebens ausdrücklich meinem Willen unter (»salus ex voluntate«). Ich berufe mich dabei auf Art. 1 GG, der nach meinem Verständnis im Konfliktfall Art. 2 GG überragt. Dies gilt insbesondere für den Fall eines fortgeschrittenen Hirnabbauprozesses (Demenz), in welchem ich mich der Mitwelt gegenüber nicht präsentiert wissen möchte. Hierzu gehören hochgradige Vergesslichkeit mit Verblassen der eigenen Biographie und/oder Verkennung vertrauter Personen, fortgeschrittene Veränderungen von Antrieb oder Affekt oder schwere psychotische Phänomene, ständige Unruhe, Aggressivität, Wutausbrüche, illusionäre Vorstellungen, optische und akustische Halluzinationen und weitgehender oder vollständiger Verlust der Blasen- und Mastdarmkontrolle sowie der Verlust grundlegender Alltagskompetenz. Diese und vergleichbare Zustände sind mit meiner persönlichen Vorstellung von meiner Würde nicht vereinbar, und zwar auch dann nicht, wenn eines oder mehrere Symptome sich erst im mittleren Stadium befinden.
1.3 Geltung Das Gesagte soll auch dann gelten, wenn in der konkreten Situation medizinische Wissenschaft und/oder ärztliche Kunst gegenüber dem Zeitpunkt meiner hier genannten Willensbekundungen Fortschritte 204 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Beispiel einer Patientenverfügung
gemacht haben sollten, die einem Weiterleben objektiv zugutekommen könnten. Ich nehme diesen Nachteil bewusst in Kauf; ich sehe darin den Preis für das Recht der Vorausbestimmung meines Willens zwecks Vermeidung von Abhängigkeit und Fremdbestimmung.
1.4 Verpflichtung gegenüber Familie und Ärzten zur Klarheit über meinen Willen. Meine Familie und die mich behandelnden Ärzte in Zweifel oder Vermutungen hinsichtlich meiner Vorstellungen von einem erträglichen Leben geraten zu lassen, vermag ich mit meiner Überzeugung von der Verantwortung gegenüber mir selbst und meiner Mitwelt nicht zu vereinbaren.
1.5 Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht der Ärzte Sollten meine nachfolgenden Willensbekundungen einzeln oder insgesamt im Widerspruch zu den persönlichen Wertvorstellungen eines mich behandelnden Arztes stehen, so respektiere ich dies aus der unter Nr. 1 genannten Wertvorstellung heraus, verlange von dem Betreffenden jedoch, dass die Verantwortung einem Arzt übertragen wird, der meinen Willen zu respektieren imstande ist.
2.
Situationen, für die meine Willenserklärungen gelten sollen
Für den Fall, dass ich meinen Willen nicht mehr bilden und verständlich äußern kann, bestimme ich nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Recht einer Vorausverfügung des eigenen Willens bezüglich medizinischer und pflegerischer Maßnahmen das Folgende: Die im nachfolgenden Punkt 3 genannten Willenserklärungen sollen für die folgenden oder ihnen vergleichbaren Situationen als meine Verfügung gelten: – wenn ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach unabwendbar im unmittelbaren Sterbeprozess befinde, auch wenn der Todeszeitpunkt (noch) nicht absehbar ist;
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wenn ich mich im Endstadium einer schweren oder tödlich verlaufenden Krankheit befinde, ohne dass der Sterbeprozess bereits begonnen hätte; wenn ich mich in einer schweren Krankheit befinde, ohne Aussicht auf eine nachhaltige Verbesserung der Qualität meines Lebens im Sinne eines für mich erträglichen, bewussten und auf meine Umgebung bezogenen Lebens, wenn infolge einer Hirnschädigung meine Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen, Entscheidungen zu treffen und mit meiner Umwelt zu kommunizieren, nach Einschätzung zweier erfahrener Ärzte aller Wahrscheinlichkeit nach unwiederbringlich erloschen ist, unabhängig vom Sterbeprozess oder der Absehbarkeit des Todeseintritts; wenn der Verlust des Denk-, des Sprach- sowie des Erinnerungsvermögens oder anhaltende schwere Verwirrtheit oder fortgeschrittener geistiger Verfall eingetreten sind; wenn ich mich im Zustand anhaltender Bewusstlosigkeit oder des apallischen Syndroms (»Wachkoma«), Locked-in-Syndroms oder ähnlicher Krankheiten befinde; wenn bei mir direkte Hirnschädigungen (z. B. durch Unfall, Schlaganfall, Entzündungen, Tumore oder fortgeschrittene Hirnabbauprozesse u. ä.) oder indirekte Hirnschädigungen (z. B. nach Wiederbelebung, Schock oder Lungenversagen o. ä.) aufgetreten sind; wenn meine körperlich und/oder psychisch bedingte Pflegebedürftigkeit und/oder Beaufsichtigungsnotwendigkeit kontinuierlich zuzunehmen beginnt; wenn ich infolge eines fortgeschrittenen Hirnabbauprozesses (Demenz-Erkrankungen, z. B. Alzheimer) selbst mit dauernder Hilfestellung nicht mehr fähig bin, Nahrung und Flüssigkeit auf natürliche Weise zu mir zu nehmen.
Die vorgenannten Bedingungen sollen auch für vorstehend nicht ausdrücklich genannte, aber vergleichbare Krankheitszustände in derselben Weise gelten. Es ist mir bekannt, dass in den geschilderten und ihnen ähnlichen Situationen die Fähigkeit zu Empfindungen erhalten bleiben kann und dass ein Aufwachen aus derartigen Zuständen niemals mit Sicherheit auszuschließen, aber äußerst unwahrscheinlich ist. Trotz-
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dem beanspruchen meine folgenden Willensbekundungen unbedingt Geltung und sollen entsprechend respektiert werden.
3.
Willensbekundungen
In allen vorstehend unter Nr. 2 beschriebenen oder damit vergleichbaren Situationen verlange ich – keine Wiederbelebungsmaßnahmen, – keine Verständigung des Notarztes bzw. falls dennoch geschehen, unverzügliche Information desselben über meine Ablehnung jeglicher Wiederbelebungsmaßnahmen, – keine künstliche Beatmung bzw. den sofortigen Abbruch derselben, – die Unterlassung aller lebenserhaltenden Maßnahmen bzw. deren Abbruch, die lediglich meinen Zustand verlängern bzw. den Eintritt des Todes unnötig verzögern würden, – keine Dialyse bzw. die sofortige Einstellung derselben, – keine Bluttransfusionen, keine Antibiotica, – keine künstliche Ernährung über Mund, Nase oder Bauchdecke (PEG) noch über Venen, – keine Flüssigkeitszufuhr, die über das palliativmedizinisch Gebotene hinausgeht! Stattdessen wünsche ich lindernde ärztliche und pflegerische Maßnahmen sowie eine fachgerechte und wirksame Bekämpfung von Schmerzen, Luftnot, Angst, Unruhe, Erbrechen und ähnlichen Krankheitserscheinungen. Einen dadurch oder die zuvor genannten Wünsche bedingten Verlust meines Bewusstseins oder eine evtl. Verkürzung meiner Lebenszeit nehme ich in Kauf.
4.
Weitere Verfügungen
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Ich habe zusätzlich zur vorliegenden Verfügung eine Gesundheitsvollmacht erteilt (folgen Name(n) und Anschrift(en) des/ der Bevollmächtigten), der/die in allen Fragen für mich sprechen und vor allem unter Zugrundelegung meiner in Nr. 1 genannten Wertvorstellungen den unter Nr. 3 genannten Willensentscheidungen Geltung verschaffen bzw. Nachdruck verleihen sollen. 207 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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In Situationen, die in dieser Patientenverfügung nicht konkret geregelt sind, soll dieselbe als Richtschnur für die Ermittlung meines mutmaßlichen Willens maßgeblich sein. Im Zweifel soll die Information meines/r Bevollmächtigten über meinen mutmaßlichen Willen gelten. Für den Fall, dass das Betreuungsgericht eine(n) Betreuer/in bestellt, wünsche ich die Berücksichtigung einer der im Folgenden genannten mir nahestehenden Persönlichkeiten (folgen 2 oder 3 Namen und Anschriften der Gewünschten). Ich wünsche eine Begleitung meiner Krankheit und meines Sterbens, wenn irgend möglich, durch meine Familie.
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Außerdem wünsche ich, nach Möglichkeit zu Hause zu sterben.
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Ich bin post mortem Organspender und besitze einen entsprechenden Organspenderausweis bzw. ermächtige meine(n) Bevollmächtigte(n), einer ärztlichen Anfrage nach postmortalen Organentnahmen in vollem Umfang zuzustimmen. Der von mir unter den in den Punkten 2 und 3 genannten Bedingungen gewünschte Abbruch von Vitalmaßnahmen darf, falls medizinisch für den Erhalt der Organe erforderlich, bis zur Explantation suspendiert werden.
5.
Versicherung meiner Freiwilligkeit und Entscheidungsfähigkeit
Ich habe diese Verfügung im Vollbesitz meiner geistigen und psychischen Kräfte in eigener Verantwortung und ohne äußeren Zwang nach sorgfältiger Überlegung und in vollem Bewusstsein ihrer Tragweite erstellt. Dabei habe ich mich mit Ärzten und den genannten Bevollmächtigten besprochen. Vorstehende Verfügung ist – siehe die eingangs genannten Wertvorstellungen – Ausdruck meiner Autonomie und meines Selbstbestimmungsrechts. Darum wünsche ich nicht, dass mir in der konkreten Situation der Entscheidungsunfähigkeit eine Änderung meines Willens unterstellt wird. Stattdessen bitte ich, die unter Punkt 4 von mir bevollmächtigten Personen zwecks Bestätigung meines Willens bzw. verbindlicher Deutung desselben hinzuziehen.
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(folgen Orts- und Datumsangabe sowie die handschriftliche Unterschrift des Verfügenden) 65
Sicherheitshalber sollte jede einzelne Seite der PV vom Verfügenden original unterschrieben werden, unter Angabe der Seitengesamtzahl und der jeweiligen Seite.
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Kapitel V Über den Umgang des autonomen Menschen mit Sterben und Tod
1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7
Menschliche Endlichkeit als mögliche Freiheitserfahrung und die Unvermeidlichkeit des Todes Einführung Zum Todesverständnis aus philosophischer Sicht Die Vielschichtigkeit des Todesverständnisses Schwierigkeiten des Zugangs zu Sterben und Tod Der Begriff der ›Endlichkeit‹ Autonomie und das Freiheitspotenzial menschlicher Endlichkeit Schlussgedanke Über das Recht auf ein Sterben in Würde Problemhintergrund und Fragestellung Wunsch nach Autonomierespekt auch und gerade im Sterben Staatliche Pflicht zum Freiheitsschutz vor Lebensschutz? Hat der Mensch die Pflicht, sein Leben unter allen Umständen weiterzuführen? Palliativmedizin und die Ermöglichung vom Patienten gewünschten Sterbens Über das Recht auf ein Sterben in Würde unter gleichzeitiger Respektierung der Würde der Mitmenschen Autonomie und Selbsttötung Zur Fragestellung Gibt es ein Recht auf den selbstbestimmten eigenen Tod? Autonomie und Suizid Gehört der Mensch sich selbst? Menschliche Autonomie als Begründungsgrundlage für ihre Abschaffung? Rechtfertigungsmöglichkeit des Suizids aufgrund des autonomiebasierten Rechts auf Selbstbestimmung? Rechtfertigungsmöglichkeit des Suizids im speziellen Fall unerträglichen Leidens? 211 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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4. 4.1 4.2 4.3 5. 5.1 5.2 5.3
5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 6. 6.1 6.2 7. 7.1 7.2 7.3 7.4
Suizidassistenz Ist Suizidbeihilfe ethisch generell vertretbar? Ist ärztliche Suizidassistenz ethisch rechtfertigungsfähig? Verbot ärztlicher Suizidassistenz und die Frage der Tragbarkeit der Folgen Das Sterbehilfegesetz von 2015 aus ethischer Sicht Freiheit oder Verbot? Die vier Gesetzesentwürfe aus ethischer Sicht Zur Ausgangslage Gesetzentwurf I: Beibehaltung der Straffreiheit aus Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Suizidenten und der Gewissensfreiheit des Helfenden Gesetzentwurf II: Festhalten an der Straffreiheit der Suizidbeihilfe, sofern kein kommerzielles Interesse im Spiel ist Gesetzentwurf III: Ausnahmsloses Verbot jeglicher Suizidbeihilfe Gesetzentwurf IV: Neuer Straftatbestand: Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung. Das beschlossene Gesetz. Zu den normativen Grundlagen der vier Gesetzentwürfe Das beschlossene Gesetz als Kompromiss? Das Ergebnis aus ethischer Sicht: Ausblendung des ärztlichen Gewissens Exkurs über das Gewissen Das menschliche Gewissen und die Gefahr der Anonymisierung der Wissensträgerschaft Ergebnis Postskript: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 02. 20 aus ethischer Sicht Ethischer Hintergrund Ethische Analyse Menschliches Gewissen und das Recht auf freiwillige Suizidbegleitung Fazit
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Menschliche Endlichkeit als mögliche Freiheitserfahrung
1.
Menschliche Endlichkeit als mögliche Freiheitserfahrung und die Unvermeidlichkeit des Todes
1.1 Einführung ›Endlichkeit‹ teilt der Mensch mit allen anderen Lebewesen: Er ist, wie sie alle, des Todes. Doch im mutmaßlichen Unterschied zu den übrigen Lebewesen weiß der Angehörige der Spezies homo sapiens sapiens von seiner Endlichkeit und vermag sich daher ihr gegenüber in ein Verhältnis zu setzen; dies deswegen, weil der Tod ihn nicht erst am Lebensende gleichsam zufällig trifft, sondern weil der Mensch schon von Anfang an um seine Endlichkeit mit Sicherheit weiß. Dieses Wissen, so die im Folgenden zu prüfende Annahme, birgt ungeachtet der Notwendigkeit des Todes ein Freiheitspotenzial. Eine Verifikation dieser These erfordert erstens einen Blick auf das menschliche Todesverständnis, zweitens eine Verständigung über den Begriff der Endlichkeit, bevor dann drittens eine Skizze des Freiheitspotenzials menschlicher Endlichkeit folgt.
1.2 Zum Todesverständnis aus philosophischer Sicht Philosophie stellt bekanntlich den Versuch des Menschen dar, sich mithilfe seiner Vernunft über sich selbst, seinen Stand in der Welt und seine Möglichkeiten und Aufgaben aufzuklären, dies freilich innerhalb der Grenzen der Vernunft. Das gilt allemal von seiner Endlichkeit. Allerdings vermag die Philosophie dies nur in größtmöglicher Allgemeinheit zu leisten, während doch der Tod etwas höchst Individuelles darstellt. Hier zeigen sich gewisse Schwierigkeiten. Jede Beschäftigung mit dem menschlichen Tod sieht sich nämlich zu Beginn mit zwei methodischen Paradoxa konfrontiert: zum einen, dass der Mensch seinen eigenen Tod nicht kennen kann, sich aber gleichwohl über ihn aufklären muss; zum zweiten, dass der Mensch nicht sagen kann, was der Tod ist, doch klären muss, wie er mit ihm umgehen will bzw. soll. Hinzu kommt ein begriffliches Problem: Einerseits heißt es, der Mensch sei des Todes, andererseits, der Tod sei das Ende des Lebens. Jedermann kennt diese beiden Sätze. Und doch sagen sie über ein und denselben Sachverhalt etwas durchaus Verschiedenes aus: Dass der Mensch des Todes ist, stellt eine Existenzaussage dar; dass der Tod das Ende des Lebens ist, nennt hin213 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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gegen die Definitionseigenschaft des Todes. Ersteres ist der Mensch, Letzteres steht ihm bevor. Ersteres ist offen für mögliche Gestaltungen, Letzteres ist jedweder Gestaltungsmöglichkeit naturgemäß entzogen. Die genannte Existenzaussage, so die leitende These des Folgenden, eröffnet dem Menschen Möglichkeiten der Freiheitserfahrung, während die genannte Definitionseigenschaft ihn mit einer unerbittlichen Notwendigkeit konfrontiert. Denn: Der Mensch ist nicht »sterbbar«, d. h. er stirbt nicht möglicherweise, sondern er ist sterblich, d. h. es ist eine von ihm untrennbare Eigentümlichkeit, zu sterben. Diese Eigentümlichkeit stellt eine unumgängliche Notwendigkeit dar. Des ungeachtet ist zu fragen, ob sich der Mensch dazu in ein Verhältnis zu setzen imstande ist. Eine Antwort hierauf setzt Klarheit über das Todesverständnis voraus.
1.3 Die Vielschichtigkeit des Todesverständnisses Vom Tod handeln verschiedene Disziplinen auf ihre je eigene Weise. Für die Anthropologie ist der Mensch ein vulnerables Wesen und der Tod gleichsam der Höhepunkt der Verwundbarkeit; für die Medizin bedeutet der Tod das Ende ärztlichen Handeln-Könnens und -Dürfens; für die Jurisprudenz bestimmt der Tod das Ende der Person; für die Soziologie ist der Tod stets der Tod der Anderen; für die Theologie schließlich ist der Tod das »Tor zum »ewigen Leben«. Höchst unterschiedlich sind auch die Antworten der Philosophie: 1 Für Platon bedeutet der Tod die Trennung des Endlichen im Menschen, seines Körpers, vom Zeitlosen in ihm, der Seele; 2 es stirbt lediglich der Körper, nicht auch die Seele. Für seinen Schüler Aristoteles stellt der Tod hingegen das endgültige Zerbrechen der Einheit des Menschen dar. 3 Für den römischen Denker Seneca bedeutet der Tod das einmal Nichtsein-Werden des Menschen, während der späthellenistische Philosoph Epikur der Überzeugung ist, der Tod sei ein Vgl. Beckmann, J. P.: Sterben und Tod aus der Sicht der Philosophie. In: Honnefelder, L. / Streffer, C. (Hg.): Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2., 181–195. Berlin 1997 und neuerdings die umfangreiche Untersuchung von Schneider, J. H.: Der Tod stirbt. Von der Vergänglichkeit des Vergänglichen. Würzburg 2020. 2 Vgl. Platon, Phaidon 64c; s. a. 67d u. 106e; vgl. ders., Gorgias 524b. 3 Aristoteles, De motu animalium 703a28 f. 1
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Menschliche Endlichkeit als mögliche Freiheitserfahrung
Widerspruch: Solange wir sind, ist der Tod nicht da: wenn er da ist, sind wir nicht mehr. 4 Im Lateinischen Mittelalter hingegen galt, was Thomas von Aquin auf die Formel gebracht hat: »Nihil praeter Deum est infinitum actu, nec potest esse, etiam per potentiam Dei« 5 – »Nichts außer Gott ist aktual unendlich, noch kann es dies sein, selbst nicht aufgrund von Gottes Allmacht.« Unendlichkeit ist ausschließlich göttliches Attribut, alles Geschaffene hingegen ist endlich – »omne creatum est finitum«, so der Aquinate. 6 Gleichwohl gibt es die Hoffnung auf ein Leben der Seele nach der Endlichkeit. Nach Kant lässt sich Letzteres weder beweisen noch widerlegen. 7 Gleichwohl lasse sich »vom Standpunkt der praktischen Vernunft eine Fortdauer der Existenz annehmen«. Der Mensch könne sich innerlich dazu berufen fühlen, »sich durch sein Verhalten in dieser Welt … zum Bürger einer besseren, die er in der Idee hat, tauglich zu machen«. 8 Schopenhauer geht in eine andere Richtung und nennt den Tod den »eigentliche(n) inspirierende(n) Genius der Philosophie«; vom Tode hebe »alles Erkennen des Alls an.« 9 Für Heidegger schließlich ist der Tod »eine ausgezeichnete Möglichkeit des Daseins« bzw. »die äußerste Möglichkeit der Existenz des Menschen.« 10 Versucht man, methodisch eine Ordnung in derartige Antworten zu bringen, so mag hier G. Freges Unterscheidung zwischen ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ 11 helfen: ›Sinn‹ ist die Art und Weise des Gegebenseins von etwas, ›Bedeutung‹ der Bezug des betreffenden Ausdrucks. Demnach beziehen sich Aussagen wie die vorgenannten über den ›Tod‹ teils auf die Art und Weise seines Gegebenseins, teils darauf, welche Bedeutung jeweils diesem Ausdruck zugewiesen wird. Ersteres ergibt, was der Tod ist, Letzteres wie der Mensch ihn verSeneca, Ep. 34, 4. – Epikur, Epist. ad Men. 124–126; beides zit. nach Hügli, A.: Art. ›Tod‹, in: Ritter, J. et al. (Hg.): Hist. Wörterbuch d. Philosophie. Bd. 10, Sp. 1227– 1242, hier 1229. Basel 1998. 5 Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, q. 7, 2,3. Dt. Übersetzung von J. Bernhart, München 1954, Bd. I, 66. 6 op. cit. (Fn. 5) III, 7, 11; Bd. II, 260. Vgl. zum Ganzen den Artikel »endlich/unendlich« von S. Körner in: Ritter, J. et al. (Hg.): Hist. Wörterbuch der Philosophie, Bd. II, 489–491, Stuttgart 1972. 7 Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft. Transz. Dialektik 2 B1. 8 zit. nach R. Eisler, Kant-Lexikon. Hildesheim/New York 1977, 555. 9 Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung, II, Kap. 41. Werke, hg. v. E. Grisebach, Bd. 1, Leipzig 1936. 10 Heidegger, M.: Sein und Zeit, § 49. Tübingen 1960, 248. 11 Frege, G.: Funktion, Begriff, Bedeutung. hg. v. G. Patzig. Göttingen 1962, 7 ff. 4
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steht. Über den ›Sinn‹ des Begriffs des ›Todes‹ kann man sich einigen: Es ist ein Begriff und damit etwas Allgemeines. Über die ›Bedeutung‹ des ›Todes‹ hingegen ist eine Verständigung oder gar Einigung nicht so leicht. Diesbezüglich kommt das Individuum ins Spiel, das dem Tod eine jeweils eigene Bedeutung zumisst. Vor dem Hintergrund dieser Alternative lassen sich die bisherigen Antworten in eine Ordnung bringen: Während die einzelnen Wissenschaften sagen, was der Tod ist, sagen die genannten Philosophen, was er für den Menschen bedeutet.
1.4 Schwierigkeiten des Zugangs zu Sterben und Tod Der heutige gesellschaftliche Umgang mit Sterben und Tod als natürlicher Bestandteil menschlichen Lebens ist vielfach dadurch behindert, dass der unnatürliche, vermeidbare Tod vor aller Augen ist (Krieg, Verbrechen, Unglücke, etc.), während das natürliche Ende des Menschen sich hinter den Vorhängen von Altenheimen oder Intensivstationen ereignet und so allgemeiner Wahrnehmbarkeit entzogen ist. 12 Und diejenigen, die sich zuhause oft monatelang, zuweilen jahrelang um Schwerkranke und Sterbende kümmern, tun dies vielfach in aller Stille, ohne dieses Geschehen der Gesellschaft als Ganzer zugänglich zu machen. So kommt es, dass sich viele, zumal in der Anonymität der Städte, mit der Wirklichkeit von Sterben und Tod nicht auseinandersetzen können. 13 Eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Einstellung gegenüber der Endlichkeit des Menschen als einem natürlichen Bestandteil des Lebens spielen sodann die enormen Fortschritte im Umgang mit Sterben und Tod in der modernen Medizin. Ein vorzeitiges Sterben verhindern die Fortschritte der Virologie und Bakteriologie, aber z. B. auch die Implantierbarkeit von Schrittmachern, künstlichen Herzklappen und Defibrillatoren, von den Organersatztherapien ganz zu schweigen. Gestorben wird nicht selten erst dann, wenn der HighVgl. Beckmann, J. P.: Der gesellschaftliche Umgang mit Sterben und Tod aus der Sicht der Philosophie. In: Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Der gesellschaftliche Umgang mit Sterben und Tod. Bonn 1995, 71–76 (= Gesprächskreis Arbeit und Soziales Nr. 54). 13 Vgl. Beckmann, J. P. / Gethmann-Siefert, A.: Annotierte Auswahlbibliographie ›Philosophie‹ zum Thema Sterben und Tod. In: Interdisz. Nordrhein-Westf. Forschungs-AG ›Sterben und Tod‹. Opladen 1996, 296–343. 12
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Menschliche Endlichkeit als mögliche Freiheitserfahrung
Tech-Medizin die Waffen ausgegangen sind. Dabei sei nicht übersehen, dass es nicht nur die enormen Möglichkeiten der modernen Medizin sind, die den natürlichen Tod hinauszögern können, sondern auch die Ansprüche der Menschen an die Medizin, bis zum Letzten zu kämpfen. Erhebliche Schwierigkeiten bereitet auch der Umstand, dass der eigene Tod der Erlebbarkeit entzogen ist und bleibt. Im Unterschied zum Sterben kann man seinen eigenen Tod nicht erleben. Der Grund: Der Tod hat – zumindest im Indikativ – kein eigenes Subjekt: Niemand kann sagen »Ich bin tot.« Vielmehr hat der Tod nur fremde Subjekte: »Herr X ist tot, Frau Y ist tot.« Diese existenzielle Fremdheit des eigenen Todes, verbunden mit einer oftmals sozialen Fremdheit des Todes der anderen, verleitet zu einer Verfremdung des Todes überhaupt, mit der Folge, dass es umso schwieriger ist, sich mit dem Tod als dem natürlichen Ende des eigenen Lebens auseinanderzusetzen. Letzteres betrifft nicht nur das Individuum, sondern auch die Gesellschaft als Ganze. Was nottut, ist die Entwicklung und Pflege einer »Kultur von Sterben und Tod«, deren zentrale Aufgabe darin besteht, die Bedingungen heutigen Sterbens zu verbessern, vor allem durch die tatkräftige Unterstützung der Palliativmedizin, deren maßgebliche Kennzeichen die Hinnahme der Endlichkeit des Menschen und die Bemühung um die bestmögliche Erhaltung des autonomiebasierten Selbstbestimmungsrechts und erträglicher Lebensqualität auch des Sterbenden sind. 14 Denn: Sterben und Tod gehören zum Leben. Doch eben weil der Mensch wie alle Lebewesen lebt, stirbt er eines Tages. Die Re-Integration des Themas ›Sterben und Tod‹ in die Wahrnehmung des Lebens scheint heute wichtiger denn je; zu sehr gelten beide als Defekt-Ereignisse, die nicht mehr zum Leben zu gehören scheinen. Dagegen gilt es, Möglichkeiten einer positiven Einstellung zu Sterben und Tod zu verwirklichen, wohlgemerkt zum eigenen Sterben und zum eigenen Tod. Dies ist wohl zu unterscheiden von der Sinndeutung des Sterbens und des Todes der Mitmenschen. Diesbezüglich wird man sehr vorsichtig sein und nicht aus seinen eigenen Einstellungen vorschnelle Verallgemeinerungen ableiten. Denn jeder stirbt gewissermaßen seinen eigenen Tod, und es ist schlechterdings nicht möglich, zu Verallgemeinerungen von der Art Näheres vgl. Beckmann, Jan P.: Ethische Herausforderungen der modernen Medizin. Freiburg/Br. 2009, 399–496.
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zu gelangen: »So muss sich eigentlich jeder Sterbende fühlen bzw. verhalten«. Das könnte, würde man das jemand anderem ansinnen, zu einer ungewollten, in jedem Fall unerwünschten Fremdzuschreibung werden, sei dieselbe noch so wohlgemeint. Fremdzuschreibungen stehen immer in der Gefahr einer Missachtung der Autonomie und des Selbstbestimmungsrechts eines Mitmenschen. Da es aber darum geht, Sterben und Tod wieder in das Leben zu integrieren, heißt dies: Jeder Einzelne muss in seinem Leben beides als ihn bestimmende, möglicherweise Freiheiten gewährende Möglichkeiten ansehen können. Möglich wird die Re-Integration des Todes in das Leben des Einzelnen durch das Bewusstmachen seiner eigenen Endlichkeit. Denn: Endlichkeit ohne den Bezug zum Tod ist nicht denkbar. Heidegger hat diesen Sachverhalt auf den Punkt gebracht: »Nur das Freisein für den Tod gibt dem Dasein das Ziel schlechthin und stößt die Existenz in ihre Endlichkeit.« 15 Doch was ist unter ›Endlichkeit‹ genauer zu verstehen?
1.5 Zum Begriff der ›Endlichkeit‹ Wir Heutigen sind Erben zweier Vorstellungen: derjenigen, welche Endlichkeit in der nur dem Glauben und Hoffen, nicht aber dem Wissen zugänglichen Komplementärbegriff zur jenseitigen Unsterblichkeit sieht, und derjenigen, welche Endlichkeit in der nur dem Erkennen und Wissen zugänglichen mathematisch-naturwissenschaftlichen Abzählbarkeit erblickt. Die religiöse Tradition sieht sich durch die fortschreitende Säkularisierung herausgefordert; es mehren sich die Anzeichen dafür, dass aus der jenseitigen Unsterblichkeit diesseitige »Unendlichkeit« in dem Sinne wird, dass der heutige Mensch meinen könnte, die abzählbaren Tage seines Lebens würden durch die steigende Lebenserwartung infolge der Fortschritte der Medizin – z. B. im Hinblick auf die Möglichkeiten bioartifizieller Genese neuer Gewebe und Organe und der Implantierbarkeit von technischen Geräten in den menschlichen Körper – im Prinzip um eine Zahl n + 1 vermehrt werden können. So erfahren wir aus der Molekulargenetik, dass der Alterungsprozess, welcher letztendlich zu unserem Tod führt, genetisch bedingt ist und entsprechend gesteuert wird. Wir 15
Heidegger, M.: Sein und Zeit. Tübingen 1960, 384.
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Menschliche Endlichkeit als mögliche Freiheitserfahrung
verbinden damit die Erwartung, dass das von Natur aus Gesteuerte auch künstlich steuerbar sein müsse. Natürlich wissen wir, dass die Verlängerbarkeit menschlichen Lebens über die Grenzen des bisher Erfahrenen hinaus nicht Unendlichkeit und diese nicht Unsterblichkeit bedeutet. Doch aus dem Umstand, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung innerhalb unserer Jahrhunderts um mehr als zehn Jahre und innerhalb des letzten Jahrzehnts erneut um zwei Jahre erhöht hat, 16 sind wir die Erwartung abzuleiten versucht, dass sich dieser Trend – vor allem unter dem Einfluss moderner Gentechnologien – weiterhin fortsetzen wird. Dabei ist schon seit Zenons Paradoxien bekannt, dass unendliche Teilbarkeit nicht ein Unendliches voraussetzt, das teilbar wäre; Endliches kann nicht aus Unendlichem bestehen. Teilbarkeit ist eine mathematisch-logische Norm, Aus-TeilenBestehen hingegen ein empirisches Faktum. Aus dem Sein (der empirisch gegebenen Verlängerung der Lebenserwartung) auf eine Norm (Nicht-Endlichkeit) zu schließen, wäre ein naturalistischer Fehlschluss, wie umgekehrt der Schluss von der Nicht-Endlichkeit als logischer Norm auf Nicht-Endlichkeit als Faktum ein normativistischer Fehlschluss wäre. 1.5.1 Endlichkeit als Notwendigkeit und als Freiheit Auf die beiden Bedeutungen des Begriffs der ›Endlichkeit‹ ist bereits hingewiesen worden: Endlichkeit im Sinne unentrinnbarer Notwendigkeit, weil der Mensch – hora incerta – des Todes ist, und ›Endlichkeit‹ als Bewusstsein, dass das Leben des Menschen von Beginn an unter der Möglichkeit jederzeitigen Zuendeseins steht, zu dem der Einzelne sich in ein Verhältnis setzen kann, sei es auf aktive Weise, indem er sein Leben entsprechend ausrichtet, sei es in passiver Weise, indem er dies stoisch hinnimmt. Dahinter zeigen sich zwei grundsätzlich verschiedene Lebenseinstellungen: Man kann ohne Blick auf den Tod, der ja sowieso unvermeidlich und notwendig ist, leben; man kann aber auch sein Leben so einrichten, als stünde der Tod jederzeit vor der Tür. Im letzteren Fall hält man es nicht für selbstverständlich, dass der Tod ein Ereignis mit hoher Wahrscheinlichkeit erst im Alter darstellt, sondern als Möglichkeit immer präsent ist. Im ersten Fall lebt man so, als wäre das Ende noch mehr oder weniger weit entfernt; Vgl. Gesundheitsberichterstattung des Bundes vom 17. 1. 2017 sowie das StatistikPortal.
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im zweiten Fall hingegen so, wie man glaubt, vor der eigenen Endlichkeit bestehen zu können im Sinne von »Möchte ich so gelebt haben, wenn es morgen zu Ende ist?« Es ist dies ein Leben im Bewusstsein des Todes. Letzteres ist traditionell insbesondere im religiösen Kontext im Bewusstsein der Menschen lebendig. Es sind im europäischen Kulturkreis vor allem die drei Abrahamitischen Religionen des Christentums, Judentums und Islams, die Sterben und Tod nicht nur als das natürliche Ende des Menschen betrachten, sondern zugleich und zuvorderst damit eine große Hoffnung verbinden, nämlich auf ein Leben nach dem Tode. Aber auch außerhalb dieses religiösen Kontextes spielt der Begriff der Endlichkeit eine wichtige Rolle, und zwar zum einen hinsichtlich des Verhältnisses des Einzelnen zu sich selbst und zum anderen im Hinblick auf sein Verhältnis zum Mitmenschen. Beides hat seinen Grund darin, dass der Ausdruck ›Endlichkeit‹ genaugenommen nicht die Möglichkeit des Endens, sondern dessen Wirklichkeit betont. Dass der Mensch endlich ist, bezeichnet nicht nur eine zeitliche Dimension, sondern auch und vor allem eine existenzielle Disposition. ›Endlich‹ ist insoweit keine Eigenschaft des Menschen, sondern sie ist eine Fundamentalbedingung seiner Existenz. Konstatiert der Mensch diesen Sachverhalt, dann verhält er sich seiner Endlichkeit gegenüber als Naturwesen; setzt er sich hingegen bewusst in ein Verhältnis zu seiner Endlichkeit, begegnet er ihr als Freiheitswesen. Als Naturwesen erfährt er sich als den Gesetzen der Natur unterworfen, als Freiheitswesen weiß er sich aufgrund seiner Autonomie stets aufs Neue zu entwerfen. 1.5.2 Der doppelte Relationscharakter von Endlichkeit als Begrenztheit Im lat. Äquivalent ›finitum‹ von deutsch ›endlich‹ steckt das Substantiv ›finis‹, ›Ende‹, ›Grenze‹. Gemeint ist damit der Bezug auf etwas hin. Endlichkeit ist ein relationaler (nicht: relativer!) Begriff: Er betrifft eine Beziehung. Beziehungen besitzen in der Regel zwei Beziehungsglieder (lat. relata): einen Ausgang der Beziehung (terminus a quo) und ein Ziel derselben (terminus ad quem). Ausgang des Menschen Endlichkeit ist sein Subjekt-Sein, Zielpunkt seine Hoffnung auf Erfüllung seiner Entwürfe und Erwartungen. Sodann: Der Mensch ist sterblich, nicht etwa, wie bereits erwähnt, »sterbbar«, d. h. er stirbt eines Tages nicht möglicherweise, 220 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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sondern wirklich. Dieses Verständnis von Endlichkeit als Wirklichkeit ist etwas, das der Mensch vom Beginn seines Lebens, spätestens vom Beginn seiner Selbstwahrnehmung an haben kann. Es zeigt sich in seinem Bewusstsein, dass sein Leben nicht irgendwann aufhört, sondern von Anfang an, wie M. Heidegger es formuliert, »endlich existiert«. 17 Mit anderen Worten: Durch das Bewusstsein der Endlichkeit kann der Mensch sich durchgängig als Subjekt und kontinuierlich als identisch mit sich selbst begreifen; denn was am Ende ankommt, muss von Anfang an vorhanden und dasselbe sein: im Falle des Menschen also sein Subjektsein und seine Identität. ›Endlichkeit‹ erweist sich insofern sowohl als ein Selbstverhältnis als auch als ein Zielbezug. Dabei ist der Mensch in seiner Sterblichkeit nicht allein; vielmehr ist das Bewusstsein seiner Endlichkeit mit dem Wissen von der Endlichkeit der Mitmenschen verbunden. Doch während der Einzelne seine Endlichkeitsbeziehung lebt, erlebt er die Vollendung der Endlichkeit vieler Mitmenschen, deren Tod. Das Bewusstsein der Egalität in der Endlichkeit, welche allen Menschen gemeinsam ist, kann neue Kräfte des Miteinanders und der Solidarität hinsichtlich des Themas ›Sterben und Tod‹ freisetzen, etwa im Falle des Sterbebeistands bei Mitmenschen, der zugleich eine große Hilfe für die eigene Auseinandersetzung mit der Endlichkeit sein kann.
1.6 Autonomie und das Freiheitspotenzial menschlicher Endlichkeit Die genannte doppelte Relationalität menschlicher Endlichkeit – Selbstverhältnis und Gemeinsamkeit mit den Mitmenschen – hat ein zentrales Fundament: des Menschen Autonomie, seine, wie eingangs dargelegt, Selbstgesetzlichkeit. Deren Manifestation durch Selbstbestimmung ist auf das Engste mit der Endlichkeit verbunden: Selbstbestimmt vermag der Mensch sich in ein Verhältnis zur Endlichkeit zu setzen. Der Einzelne kann Gestaltungen dieses Verhältnisses vornehmen, er kann sich seiner Endlichkeit gegenüber in gewisser Weise in Freiheit verhalten. Das Bewusstsein der Endlichkeit verschafft dem Einzelnen mithin die Möglichkeit des Entwurfs seiner selbst, insbesondere des Selbstentwurfs angesichts des Todes.
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Heidegger, M.: Sein und Zeit § 65. Tübingen 1960, 330.
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1.6.1 Zum Freiheitspotenzial infolge menschlicher Autonomie im Besonderen Autonomie, so haben wir oben in Kap. I dargelegt, ist keine Handlung, sondern ein Sein, Selbstgesetzlichkeit eben, und nicht Selbstgesetzgebung. Autonomie als anthropologisches Prinzip und Selbstbestimmung als Recht auf die Manifestation desselben beziehen sich damit auf die Verfasstheit des Einzelnen als Freiheitswesen, das sich, weil selbstgesetzlich, von sich selbst her frei zu bestimmen vermag. Hierzu gehört die Freiheit des Menschen, festzulegen, wie sein Wille für den Fall aussieht, wenn es dem Ende zugeht und keine aktuelle Willensäußerung mehr möglich ist. 1.6.2 Die Freiheit der Vorherbestimmung des eigenen Willens durch eine PV sowie durch Bevollmächtigungen und Betreuungsverfügungen Bereits die Beschäftigung mit – und mehr noch die Umsetzung von – der gesetzlich geregelten Manifestationsmöglichkeit autonomiebasierter Selbstbestimmung durch eine Patientenverfügung (PV) ist ein Akt der Freiheit. Das entsprechende Freiheitspotenzial besteht darin, (1) zu entscheiden, ob man überhaupt derartige Vorausbestimmungen des eigenen Willens trifft oder nicht, und wenn ja, sodann (2) festzulegen, für welche ärztlichen und pflegerischen Handlungsmöglichkeiten man seine Zustimmung erteilt und für welche nicht, und dies (3) durch entsprechende Bevollmächtigungen Dritter abzusichern, und (4) für den Fall, dass es einer gerichtlichen Bestellung eines Betreuers bedarf, eine Betreuungsverfügung zu erstellen. Das Freiheitspotenzial schließt (5) das Recht zum jederzeitigen Widerruf oder zur Änderung der Dokumentation des in Zukunft geltenden eigenen Willens sowie der Bevollmächtigung und der Betreuungsverfügung ein. Eine derartige mehrfache Manifestation des Freiheitspotenzials, das seine rechtliche und ethische Grundlage in der jedem Menschen untrennbar eigenen Autonomie und dem darauf beruhenden Selbstbestimmungsrecht hat, ist wie alle Autonomie einzig begrenzt durch
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den Respekt vor der Autonomie der Mitmenschen, insbesondere der Familie, der Ärzte und der Pflegenden. Angesichts dieses fünffältigen Freiheitspotenzials wundert es, dass noch immer eine nicht geringe Zahl von Menschen von dem vom Gesetzgeber ausdrücklich eingeräumten Recht einer Patientenverfügung keinen Gebrauch macht. Zu vermuten ist, dass eine der Ursachen hierfür in dem Umstand zu suchen ist, dass mancher in der obengenannten passiven Einstellung gegenüber seiner Endlichkeit verharrt, statt sich aktiv in ein selbstbestimmtes Verhältnis zu ihr zu setzen. Dass dieser Vorgang nicht nur mit dem – vielfach bedrückenden – Bewusstsein verbunden ist, des Todes zu sein, sondern auch und vielleicht vorrangig mit der Erfahrung von Freiheit einhergeht, hat sich manchem offenbar noch nicht erschlossen. Dabei hindert Autonomie nicht, dass der Mensch sich bewusst einer höheren Macht unterstellt weiß; auch der Zugang zum Glauben kann ein Freiheitserlebnis sein. 1.6.3 Die Freiheit der Entscheidung über den eigenen Körper und seine Teile nach dem Tode Ein weiteres Beispiel für des Menschen Freiheit aufgrund seiner Autonomie ist die Möglichkeit der Entscheidungen, (1) ob man hinsichtlich der Verwendung seiner Organe nach dem Tode eine Verfügung trifft oder nicht, und wenn ja, (2) ob dieselbe pro oder contra postmortale Organspende ausfällt, oder (3) ob man eine getroffene Entscheidung widerruft. Zuvor ist freilich zu klären, ob dem Menschen sein Körper oder seine Organe überhaupt gehören, so wie ihm sein Haus oder seine Bücher gehören, oder ob sein Körper und seine Organe lediglich zu ihm gehören. Wenn ihm beides gehört, dann kann sich der Mensch dazu im Modus des Eigentümers verhalten; wenn beides hingegen lediglich zu ihm gehört, dann ist ihm nur der Modus der Verantwortung möglich, denn dann sind ihm der Körper und die Organe nicht zur freien Verfügung übergeben, sondern zur bestimmungsgemäßen Verantwortung anvertraut. Die Eigentumsvariante hat der Gesetzgeber insofern ausgeschlossen, als mit menschlichen Organen kein Handel getrieben werden darf. 18 Der menschliche Körper und Teile desselben sind ihrer 18
Transplantationsgesetz (TPG), §§ 17 & 18. – Zugleich wird hier die logische Pro-
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Natur nach nicht eigentumsfähig, niemand kann an ihnen Eigentum erwerben. Wer sich mithin der postmortalen Organspende gegenüber zustimmend oder ablehnend verhält, der kann das nicht auf ein vorgebliches Eigentumsrecht gründen; vielmehr bleibt ihm nur die genannte Grundlage der Verantwortlichkeit für den eigenen Körper und die eigenen Organe. Er muss sich also fragen, ob er verantworten kann, dass seine Organe, die auch nach seinem Tode künstlich eine gewisse Zeit funktionsfähig gehalten werden können, verantwortlicherweise einem wohletablierten Verfahren der Lebensrettung von Mitmenschen vorenthalten werden dürfen oder demselben zugeführt werden sollten. Die Verantwortung hierfür ist aber nur möglich, wenn sie auf der Freiheit der Entscheidung des Einzelnen beruht. Diese Freiheit zu erfahren verdankt sich der Positionierung gegenüber der eigenen Endlichkeit aufgrund der eigenen Autonomie. Dass von dritter Seite, etwa den Verwandten in Form der sog. »erweiterten Zustimmungslösung« in diese Freiheit eingegriffen werden kann, und zwar dann, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten weder seine Zustimmung für – noch seinen Widerspruch gegen – eine post mortem mögliche Organentnahme dokumentiert hat, stellt einen der Widersprüche der bisherigen Transplantationsgesetzgebung dar, die einerseits die Entscheidungsfreiheit des möglichen Spenders voraussetzt, um dieselbe andererseits der Gefahr der Fremdbestimmung auszusetzen. Dass dies nicht nur ein logischer Verstoß, genauer ein solcher gegen das Kohärenzprinzip ist, sondern zugleich eine Missachtung des auf der Verhältnisbeziehung zur eigenen Endlichkeit beruhenden Freiheitspotenzials darstellt, ist bisher weder in der Öffentlichkeit noch in der wissenschaftlichen Diskussion hinreichend beachtet worden.
1.7 Schlussgedanke Die vorstehend vertretene These vom Freiheitspotenzial der Endlichkeit des Menschen infolge seiner Autonomie nimmt einen Gedanken auf, der bereits vor 2 ½ Jahrtausenden vertreten worden ist. So heißt es bei Aristoteles, alles Seiende besitze ein Ziel (télos), in welchem es blematik der Argumentation der Kritiker der Widerspruchslösung offenkundig, der Staat erkläre sich zum Eigentümer der Organe von Toten, um die Organe anschließend für Transplantationszwecke zu verwenden.
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Über das Recht auf ein Sterben in Würde
zu seiner Vollendung gelangt. 19 Für den Stagiriten ist der Mensch von Geburt an auf ein solches Ziel als seine Vollendung hin ausgerichtet, welche in der Verwirklichung seiner in ihm angelegten Möglichkeiten besteht. Dazu gehört zuvorderst des Menschen Endlichkeit im Modus der Form, welche dem rein Stofflichen allererst Bestimmtheit und Wirklichkeit verleiht. Was den hier vertretenen Ansatz vom aristotelischen unterscheidet, ist die Betonung des aktiven Potenzials von Endlichkeit im Sinne des autonomiebasierten freien Selbstentwurfs unter der Bedingung von Endlichkeit. Erst so zeigt sich Endlichkeit im Sinne des Freiseins für den Tod, auch wenn dies nicht ein Freisein vom Tode bedeuten kann. 20 Denn: Man kann sich gegenüber der eigenen Endlichkeit kritisch verhalten, sich aber niemals von ihr befreien! Wie aber steht es um die Frage eines menschlichen Sterbens in Würde?
2.
Über das Recht auf ein Sterben in Würde
2.1 Problemhintergrund und Fragestellung Auch das Lebensende ist Teil des Lebens des Menschen. Fragen nach der Tragweite ethischer Prinzipien am Lebensende sind insoweit Fragen nach der Geltung dieser Prinzipien für das ganze Leben des Menschen und zugleich Fragen nach dem Menschen selbst. Das Besondere der Lebensendesituation liegt darin, dass in ihr menschliches Dasein an seine äußerste Grenze gelangt. Wer oder was der Mensch ist, wird offenbar, wenn es ans Sterben geht. Die Normen und Prinzipien heutigen Verstehens und Umgehens mit zuendegehendem menschlichen Leben sagen insofern Entscheidendes über die entsprechenden ethischen Prinzipien und ihre Tragweite aus. Ausweispflichtig sind auch in diesem Kontext nicht Autonomie noch das Selbstbestimmungsrecht noch der Wille des Menschen, sondern die an ihm geplanten und vorgenommenen Handlungen Dritter. Der Mensch hat nicht nur ein Recht auf ein menschenwürdiges
Aristoteles, Metaphysik 1050a 21 ff. – vgl. ders, Über die Seele 414a16 f. und 412a27 ff. 20 Näheres vgl. Beckmann, Jan P.: Autonomie und Selbstbestimmung auch am Lebensende. Überlegungen aus ethischer Sicht, in: Welsh, C. et al. (Hg.): Autonomie und Menschenrechte am Lebensende. Frankfurt/M. 2016, 27–43. 19
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Leben, sondern auch auf ein ebensolches Sterben – dies jedoch unter der Bedingung, dass die Inanspruchnahme dieses Rechts nicht in die Rechte Dritter eingreift. Der Mensch ist und bleibt auch hinsichtlich seines Umgangs mit dem eigenen Sterben und Tod autonom, »selbstgesetzlich«, von eigener Gesetzhaftigkeit und muss sich doch zugleich selbst begrenzen, da es auch die Autonomie der Mitmenschen zu beachten gilt.
2.2 Der Wunsch nach Autonomierespekt auch und gerade im Sterben In Würde zu sterben, bis zum letzten Lebensmoment als Subjekt seines Tuns und Lassens geachtet zu sein, in seiner Autonomie respektiert zu bleiben und niemals fremden Zwecksetzungen ausgesetzt zu werden ist daher nicht nur der Wunsch, sondern auch das Recht eines jeden. Die Achtung vor der Würde auch des Sterbenden verbietet es, fremden Willen (seitens der Familie, der Ärzte, der Pfleger und Schwestern, der Gesellschaft etc.) an ihn heranzutragen, in welcher guten Absicht auch immer. Einen Menschen im letzten Lebensabschnitt und insbesondere einen Sterbenden, zumal wenn er nicht mehr ansprechbar ist, als reines Objekt medizinisch-pflegerischer Maßnahmen zu behandeln, hieße gegen den Respekt vor der Menschenwürde zu verstoßen. Schwierigkeiten entstehen heute z. T. infolge besonderer Umstände, weil das Sterben vielfach nicht mehr in der gewohnten häuslichen und familiären Umgebung, sondern in Kliniken und Altenheimen stattfindet. Das Sterben in Kliniken führt tendenziell zu einer Hospitalisierung des Sterbens, eines Sterbens also unter den Bedingungen der modernen Medizin und des Klinikbetriebs, und das Sterben in Altenheimen zu einem Vorgang, der unter den Bedingungen der Pflege und ihrer Effizienz steht. Ersteres führt ethisch zu der Frage, wie unter den Bedingungen des medizinischen Fortschritts und der Gefahr einer Verselbständigung des Medizinischen ein selbstbestimmtes Sterben möglich ist, Letzteres zu der ethischen Frage, ob an die Stelle des Autonomierespekts die Gefahr selbstgerechter Fürsorge tritt, die – zumeist in bester Absicht – Fremdbestimmung darstellen kann. Zu beidem in aller Kürze im Einzelnen. Die enormen Fortschritte der modernen Medizin haben dazu geführt, dass Sterben und Tod heutzutage vielfach unter der Perspektive 226 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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betrachtet werden: Was ist aller Unvermeidbarkeit zum Trotz am Sterben des Menschen beeinflussbar, sei es durch Hinauszögern, sei es durch Verkürzen dieses Prozesses? Hier zeigen sich nicht nur medizinische Möglichkeiten des Eingriffs in den Sterbeprozess, etwa durch Übertherapie, sondern auch ethische Fragen wie die nach der notwendigen Legitimation der Handlungen Dritter durch den ausdrücklichen Patientenwillen. Das gilt allemalen auch vom Umgang mit dem Schwerstkranken und Sterbenden im Altenheim: Auch hier muss ausschließlich der – aktuelle, der dokumentierte oder der verbürgte – Wille des Betreffenden im Mittelpunkt stehen und unter keinen Umständen noch so verständliche Interessen des Heimes. Die Art und Weise der Hinnahme seines eigenen zu Ende gehenden Lebens seitens des Schwerkranken oder Sterbenden ist weder einem Zwang zu einer irgendwie angenommenen Rechtfertigung vor Dritten oder der Gesellschaft als ganzer zugänglich noch einer Rechtfertigung bedürftig; immer vorausgesetzt, es wird dadurch der Respekt vor der Autonomie der Mitmenschen nicht berührt. Auch hat der Gesetzgeber, wie oben in Kap. III dargelegt, dem Menschen zugestanden, als Patient ärztliche und pflegerische Maßnahmen auch dann abzulehnen, wenn dieselben sein Leben retten bzw. verlängern könnten, und ihm somit erlaubt, seinen eigenen Lebensschutz im Konfliktfall seinem Selbstbestimmungsrecht zu unterwerfen. Zugleich hat der Gesetzgeber damit unter bestimmten Voraussetzungen eine Begrenzung staatlicher Lebensschutzpflicht vorgenommen. Ein Aufdrängen der Errungenschaften der modernen Medizin, die Grenzen des Lebens ohne den Willen des Patienten auszudehnen, würde in elementarer Weise dem Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen widersprechen. Rechtlich-ethische Grundlage sind die Normen der Menschenwürde sowie speziell das allgemeine Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Niemand hat die Pflicht, mithilfe der Medizin ein in seinen Augen nicht mehr erträgliches Leben zu verlängern, noch besitzt jemand das Recht, ihn in gutgemeinter, doch falsch verstandener Fürsorge daran zu hindern, auf lebensrettende und lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten. Lebensschutz als Lebenszwang zu verstehen, hieße nicht nur Fremdbestimmung zu praktizieren, sondern es auch am Respekt vor der unantastbaren Menschenwürde fehlen zu lassen.
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2.3 Staatliche Pflicht zum Freiheitsschutz vor Lebensschutz? Die Pflicht des Staates und der Gesellschaft besteht nicht darin, das Leben eines Menschen im Zweifel auch gegen seinen Willen zu schützen, sondern darin, seine Freiheit von Fremdbestimmung auch und besonders am Lebensende sicherzustellen. 21 Ethisch bedeutet dies: salus ex voluntate suprema lex esto – dass das Wohl im Willen besteht, sei oberstes Gesetz. 22 Hintergrund ist das seit der Aufklärung etablierte neuzeitliche Verfassungskonzept, wonach Gegenstand staatlicher Schutzpflicht menschliches Leben unter der Bedingung der Anerkennung der Menschenwürde und des Respekts vor der Autonomie und der Freiheit des Individuums ist – dies, wie gesagt, unter gleichzeitiger Anerkennung der Würde und der Sicherung der Autonomie und Freiheit der Mitmenschen. Die Frage nach der Menschenwürdigkeit des Sterbens macht eine erneute Vergegenwärtigung des Menschenwürdeverständnisses erforderlich. Wie in Kap. I dargelegt, ist die Würde des Menschen durch drei Merkmale gekennzeichnet: 1., dass der Mensch zeit seines Lebens unverändert Subjekt seines Tuns und Lassens ist und bleibt; 2., dass er eigenen Gesetzes und seitens Dritter unverfügbar ist, und 3., dass er Zweck an ihm selbst ist. Alle drei Würdemerkmale erfordern zwingend und ausnahmslos, dass auch der Sterbende bis zu seinem Tod als Subjekt seines Wollens und Nicht-Wollens gilt und über ihn niemals fremdverfügt werden darf, weil er bis zuletzt Zweck an ihm selbst bleibt. Mit einem Wort: Der Mensch ist nicht nur in guten Tagen als autonom und selbstbestimmt zu achten, sondern einmal mehr auch als Sterbender, gerade weil er so vulnerabel und hilfsbedürftig in dieser Situation ist. Denn ihm wegen seiner Hilfsbedürftigkeit in der Überzeugung, ihm Gutes zu tun, ungefragt und ohne Einverständniseinholung Fürsorge angedeihen zu lassen, könnte, und sei es unabsichtlich, Fremdbestimmung bedeuten. Hilfsbedürftigkeit aber kann nicht »weniger« autonom machen. Vielmehr ist angesichts des gebotenen Beistands 23 eines Sterbenden stets sein Wille maßgebend. Kann der Sterbende seinen aktuellen Willen nicht mehr äuNach I. Kant ist »Freiheit […] die Grundlage der Menschenwürde«. AA, IV, 436. Näheres s. Beckmann, J. P. (Fn. 14), 450–488. 23 Mit Recht weist K. Gahl in seinem kürzlich erschienenen Buch »Begegnung und Verantwortung« (Freiburg 2019) darauf hin, dass der Ausdruck »Sterbebeistand« dem der »Sterbebegleitung« vorzuziehen sei, »können wir doch niemanden durch das Eigentliche des Sterbens begleiten« (247). 21 22
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ßern, tritt keineswegs der Wille Dritter an seine Stelle; vielmehr ist dann der in Form einer Patientenverfügung vorausverfügte Wille maßgeblich; gibt es eine PV nicht, dann ist der mutmaßliche Wille des Sterbenden verbindlich und aus seiner familialen bzw. sozialen Umgebung zu eruieren. Ethische Grundlage für diese Position, für die das schon genannte Prinzip »salus ex voluntate suprema lex esto« gilt, sind des Menschen Selbstgesetzlichkeit und sein darauf basierendes Recht auf Selbstbestimmung auch bezüglich der Art und Weise seines Lebensendes. Denn: Unter normativen Aspekten geht es im Falle menschlichen Sterbens um einen Fundamentalprozess, der biologischen Notwendigkeiten und der Hilfsverpflichtung der Mitwelt zum Trotz wesentlich eine Freiheitsdimension besitzt, die Freiheit nämlich der autonomiebasierten Selbstbestimmung auch des Sterbenden. Gerade weil das Sterben zum Leben des Menschen gehört, gelten auch beim natürlichen, fortschreitenden Verfall seiner biologischen Existenz diese ethischen Fundamentalprinzipien und -rechte unverändert. Verletzt ist der Respekt vor der Würde eines Menschen, wenn eines oder mehrere der drei genannten Wesensmerkmale nicht respektiert werden, sei es, dass jemand die Selbstzweckhaftigkeit eines Mitmenschen infrage stellt, sei es, dass Dritte einen Menschen wegen fehlender Ansprechbarkeit als quasi subjektlos behandeln, sei es, dass eine Missachtung des Selbstbestimmungsrechts vorliegt. Unter allen Umständen unantastbar ist die Würde des Menschen, weil die drei genannten Merkmale durch ein gemeinsames Band geschützt sind: dadurch nämlich, dass in jedem der drei ein und derselbe Bezug enthalten ist, der Bezug des Individuums zur Gesamtheit der Menschen. Das ist der Sinn der Feststellung Kants: »Jeder Mensch ist um seiner selbst willen und mit ihm zugleich die menschliche Art um ihrer selbst willen zu achten«. 24 In der Würde des Einzelnen wird die Würde der Menschheit respektiert, und diese zeigt sich darin, dass der Einzelne seine Würde in der des Mitmenschen wiedererkennt. Dies ist auch der Kern der sog. »Menschheitsformel« des Kategorischen Imperativs: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst«. 25 Hier liegt der Grund, warum menschliche Selbstgesetzlichkeit immer schon die Selbstgesetz24 25
Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS); AA IV, 422. a. a. O. (Fn. 24), 429.
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lichkeit der Mitmenschen impliziert, alle Selbstbestimmung notwendig den Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Anderen, alles Subjektsein immer auch das interindividuelle Miteinander aufgrund des Subjektseins jedes Menschen einschließt. Wenn, wie gesagt, Sterben und Tod heute vielfach unter den Bedingungen des medizinischen Fortschritts stehen, stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Sterben menschenwürdig ist. Im Wesentlichen stehen zwei Antworten einander gegenüber. Die eine stellt den Respekt vor dem Schutz des Lebens und den möglichst effektiven Erhalt der Lebensqualität in den Vordergrund, und die andere betont die Prävalenz der Autonomie und des Selbstbestimmungsrechts des Sterbenden. Die erstgenannte Position sieht im Sterbenden einen in hohem Maße vulnerablen Menschen, der dringend der Fürsorge und des Schutzes bedarf, während die zweitgenannte Position Fürsorge und Lebensschutz dem Willen des Sterbenden unterstellt und kritisch fragt, wovor denn der Sterbende geschützt werden müsste, da er doch bis zuletzt als Herr des Verfahrens geachtet werden muss. Das beginnt mit der im Folgenden diskutierten Frage:
2.4 Hat der Mensch die Pflicht, sein Leben unter allen Umständen weiterzuführen? Eine Pflicht gegenüber Dritten, ein nach eigenem Urteil nicht mehr erträgliches Leben fortzusetzen, kann es – sieht man von Patienten ab, die dies aus Glaubensgründen bejahen – nicht geben. Philosophische Grundlage ist des Menschen Selbstbestimmungsrecht aufgrund seiner Verfasstheit als autonomes, d. h. aus sich heraus legitimiertes Subjekt seines Tuns und Lassens. Als solches ist er seitens Dritter unverfügbar, kann mithin nicht von Dritten zur Fortsetzung einer vita minima verpflichtet werden. Dies gilt für sein Leben und damit auch für sein Sterben. Sich selbst gegenüber besitzt der autonome Mensch aus ethischer Sicht das Recht, den Schutz des eigenen Lebens seinem Willen unterzuordnen, indem er auch solchen ärztlichen Vorschlägen seine Zustimmung verweigert, die sein Leben verlängern könnten. Den Möglichkeiten der Medizin und der Pflicht der Ärzte zur Lebensrettung und -erhaltung steht mithin aufseiten des Patienten keine Pflicht, sein Leben unter allen Bedingungen zu erhalten, gegenüber; 230 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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bei allen – und insbesondere bei lebenserhaltenden – ärztlichen Maßnahmen bedarf die kurative Medizin daher stets der ausdrücklichen informierten Zustimmung des Patienten. Das gilt selbstverständlich auch für die Palliativmedizin, die im Unterschied zur kurativen Medizin das Sterben hinnimmt und die Art und Weise dieser Hinnahme ausschließlich an den Wünschen des Sterbenden ausrichtet.
2.5 Palliativmedizin und die Ermöglichung vom Patienten gewünschten Sterbens Auch für die so wichtige Palliativmedizin gilt diese Unterordnung des Willens Dritter unter den Willen des Schwerstkranken und Sterbenden. Die umfassende psycho-physisch-soziale Zuwendung zu beiden, ihre Schmerzbehandlung und der mögliche Erhalt ihrer Lebensqualität hängen aus ethischer Sicht vom Willen des Betreffenden ab, sollen sie nicht in Fremdbestimmung umschlagen. Den Möglichkeiten der Medizin und der Pflicht der Ärzte zur Lebensrettung und -erhaltung steht aufseiten des Patienten keine Pflicht, sein Leben unter allen Bedingungen zu erhalten, gegenüber; wie bei allen – und insbesondere bei lebensverlängernden – ärztlichen Maßnahmen bedarf auch die nicht-kurative Medizin daher der ausdrücklichen informierten Zustimmung des Patienten. Im Mittelpunkt steht das Zulassen des Sterbens bei gleichzeitigem Versuch bestmöglicher Erhaltung von Lebensqualität für den Sterbenden, wobei die Urteilskompetenz über die Qualität seines Lebens allein beim Sterbenden liegt. Dies zu betonen ist nicht zuletzt deswegen unabdinglich, weil an die Stelle der jahrtausendealten Dominanz der Natur, der zufolge dann gestorben wird, wenn die Natur versagt, in der Gegenwart die Herrschaft der Medizin getreten ist, wonach gestorben wird, wenn die Ärzte keine Möglichkeiten mehr haben, selbiges zu verhindern bzw. hinauszuzögern.
2.6 Über das Recht auf ein Sterben in Würde unter gleichzeitiger Respektierung der Würde der Mitmenschen Wenn es, wie vorstehend dargelegt, allein der Sterbende ist, der bestimmt, was er seinem unbestreitbaren Recht auf menschenwürdiges Sterben subsumiert, so hat dies, wie gesagt, seine Grenze am Respekt 231 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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vor der Würde, der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht seiner Mitmenschen und insbesondere seiner familialen, ärztlichen und pflegerischen Umgebung. Äußert der Sterbende mit Hinweis auf seine Würde oder mit Rückgriff auf sein autonomiebasiertes Selbstbestimmungsrecht Wünsche, die Familienmitglieder, Ärzte und/oder Pflegekräfte in ihrer Würde und Autonomie tangieren, so wird man schon aus Gründen der logischen Kohärenz die Genannten aus der Pflicht, dem Wunsch des Sterbenden zu folgen, entlassen müssen. Freilich nicht aus der Verantwortung, jemand anderen zu suchen, der sich durch eine Befolgung der Wünsche des Sterbenden nicht fremdbestimmt sieht. Doch auch hier gibt es Grenzen: Eine – im Übrigen strafrechtlich verbotene (§ 216 StGB) – Tötung auf Verlangen scheitert ethisch nicht zuletzt am fehlenden Respekt vor der Autonomie und Würde der Mitmenschen und damit der fehlenden Rechtfertigungsmöglichkeit ihrer Instrumentalisierung. Von der strafrechtlich verbotenen Tötung auf Verlangen ist freilich der noch zu diskutierende Beistand im (nicht zum) Sterben strikt zu unterscheiden; Wesenskriterium des Unterschieds ist, wie die Juristen zutreffend sagen, die Tatherrschaft, die im Falle der Tötung auf Verlangen bei Dritten liegt und daher mit Recht strikt verboten ist, während sie im Falle des Beistandes im Sterben beim Sterbenden verbleibt. Ausdrücke wie »Mitwirkung« sind in diesem Kontext eher geeignet, Verwirrung zu stiften, da die Kausalität im erstgenannten Fall bei Dritten liegt, während sie im zweitgenannten Fall ausschließlich beim Sterbenden zu finden ist. Bei der Tötung auf Verlangen ist der Mitmensch strafrechtlich alleiniger Täter, im Beistand beim Sterben hingegen ist er ein seinem Gewissen folgender Mitmensch, wobei freilich gilt, dass das Recht auf ein Sterben in Würde keine Verpflichtung auf eine Teilnahme Dritter einschließt, nimmt man das oben im Eingangskapitel dargelegte Konzept von Würde und Autonomie des Menschen ernst. Tötung auf Verlangen und Beistand beim Sterben sind insoweit nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch strikt voneinander zu unterscheiden. Wir werden darauf zurückkommen. Bleibt die Frage: Da der Mensch seinen Lebensschutz seinem Willen unterordnen darf, machen dann Autonomie und Selbstbestimmungsrecht des Individuums auch seine Selbsttötung rechtfertigungsfähig?
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Autonomie und Selbsttötung
3.
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3.1 Zur Fragestellung Gegenstand der Fragestellung ist die moralische Qualität der Selbsttötung. ›Suizid‹, von lat. suicidium, heißt wörtlich ›Selbsttötung‹, d. h. die gezielte Herbeiführung des eigenen Todes. Dieser deskriptiven Wortbedeutung steht eine normative gegenüber, der Terminus ›Freitod‹, der die Selbsttötung als Akt und Ausdruck von Freiheit betrachtet. Beiden Begriffen steht jedoch noch immer die abwertende Bezeichnung ›Selbstmord‹ gegenüber, ein ursprünglich im 17. Jahrhundert von religiöser Seite geprägter Begriff, der die Verurteilung der Selbsttötung in den Mittelpunkt stellt. Da Mord ein schweres Verbrechen darstellt, ergab sich die Frage, ob Staat und Gesellschaft das Recht, wenn nicht gar die Pflicht haben, den Suizid zu verbieten. Hierzulande hat man lange Zeit ein gesetzliches Suizidverbot gekannt, auf das man in Preussen erst Ende des 19. Jahrhunderts verzichtet hat. Der Pönalisierungsverzicht hat dann 1871 Eingang in das Reichsstrafgesetzbuch gefunden. 26 Doch wenn die Selbsttötung kein Straftatbestand ist, stellt sie dann ein Recht dar?
3.2 Gibt es ein Recht auf den selbstbestimmten eigenen Tod? Rechte setzen notwendig einen Adressaten voraus, demgegenüber man ein Recht beanspruchen kann. Gott gegenüber kann es ein Recht auf die eigene Lebensbeendigung für den gläubigen Menschen nicht geben, denn der Mensch ist Gottes und nicht eigenen Rechts, d. h. für ihn ist das entsprechende Recht ausschließlich auf der Seite Gottes, der dem Menschen das Leben anvertraut hat. Also kann nur Gott über das Ende des Lebens verfügen. Für denjenigen, der nicht das Glück (oder die Gnade oder beides) des Zugangs zu dieser Einsicht hat, bleibt nur die allgemeine Menschenvernunft, wonach der Mensch deswegen, weil ihn niemand gegen seinen Willen zum Weiterleben zwingen kann, entweder (a) uneingeschränkt eine legitimationsfähige Möglichkeit zur eigenen Lebensbeendigung hat oder (b) eine solche Möglichkeit eingeschränkt für den Fall unerträglichen, medizinisch-ärztlich nicht (mehr) beherrschbaren Leidens be26
Verkündet am 15. 5. 1871. RGBl 1871, S. 127.
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sitzt. Basis ist die Vernunftidee, dass der Mensch keine absolute Pflicht hat, ein Leben fortzusetzen, das seine Widerstandskräfte übersteigt und das er selbst deswegen nicht mehr für lebenswert hält. Gegenüber den Mitmenschen kann es ein solches Recht auf den selbstbestimmten Tod freilich nicht geben, denn das würde u. U. auf eine Instrumentalisierung Dritter hinauslaufen. Auch gegenüber der Gesellschaft als Ganzer schließlich kann es ein Recht auf den eigenen Tod nicht geben, denn das würde die Gesellschaft in den Fundamentalwiderspruch verwickeln, das Leben ihrer Mitglieder auf der einen Seite zu schützen und es auf der anderen – wenn auch auf Wunsch der Betreffenden – nehmen zu lassen. Die Rede vom »Recht auf den selbstbestimmten Tod« scheint mithin mangels Widerspruchfreiheit ins Leere zu gehen. Bleibt die Frage, ob es eine Pflicht gibt, sein Leben unter allen Umständen weiterzuführen? Eine Pflicht gegenüber einem selbst, ein nach eigenem Urteil nicht mehr erträgliches Leben fortzusetzen, kann es nach Maßgabe des Prinzips des ultra posse nemo potest obligari nicht geben; Pflichten setzen grundsätzlich ein entsprechendes Können voraus, »jenseits eigenen Könnens kann niemand verpflichtet werden.« Dasselbe gilt von der Frage einer Pflicht, sein Leben unter allen Bedingungen fortsetzen zu müssen, auch gegenüber Dritten. Philosophische Grundlage ist des Menschen Selbstbestimmungsrecht aufgrund seiner Verfasstheit als autonomes, d. h. aus sich heraus legitimiertes Subjekt seines Tuns und Lassens. Als solches ist er seitens Dritter unverfügbar, kann mithin nicht von Dritten zur Fortsetzung seines Lebens noch insbesondere einer vita minima verpflichtet werden.
3.3 Autonomie und Suizid Wenn naturgemäß auch für den Sterbenden gilt, dass sein Wille oberstes Gebot ist, stellt sich die Frage, ob die Autonomie des Menschen eine Rechtfertigungsmöglichkeit des Suizids einschließt. Dass dafür das genannte Prinzip des »ultra posse nemo potest obligari« angeführt werden kann, ist bereits gesagt. Doch wie verträgt sich das mit der menschlichen Verfasstheit der Autonomie? Wie oben in Kap. I dargelegt, kann niemand seinen Autonomiestatus verlieren, derselbe bleibt vielmehr zeit seines Lebens mit dem Menschen untrennbar verbunden. Wenn ein Schwerstkranker oder ein Sterbender 234 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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sagt, er könne die Situation, in der er sich befindet, nicht mehr ertragen, weil sie ihn überfordere und seine Kräfte übersteige 27 bzw., wie es im Bürgerlichen Gesetzbuch in anderem Zusammenhang sinngemäß heißt, 28 wegen der Unverhältnismäßigkeit zwischen der Herausforderung auf der einen und seinem Können auf der anderen Seite, dann steht dies mit dem Autonomiestatus des Betreffenden nicht etwa im Konflikt; vielmehr ist seine Autonomie Voraussetzung dafür, dass er dies sagen kann und darf: Er hat ja alles in seinen Kräften Stehende versucht, doch reichen seine Kräfte nicht mehr. Zu prüfen bleibt desungeachtet, ob es auch in der Situation der Unerträglichkeit und Überforderung Alternativen zum Suizid gibt. Diesbezüglich leistet die moderne Palliativmedizin Beachtliches. 29 Doch nicht immer gelingt es, dem Sterbenden die Angst zu nehmen und Schmerzerträglichkeit herzustellen. Bleibt letztlich nur die – dauerhafte oder transitorische – palliative 30 Sedierung, die jedoch aus ethischer Sicht zu der Frage Anlass gibt, ob es mit dem Respekt vor der Würde eines Sterbenden vereinbar ist, ihn dauerhaft oder in kurzen Abständen selbst auf seinen Wunsch hin immer wieder bewusstlos zu machen, um ihn letztendlich in seiner – möglicherweise länger dauernden – Bewusstlosigkeit sterben zu lassen. Die Frage also nach der Rechtfertigungsmöglichkeit (1.) des Suizids als ultima ratio muss mithin im Einzelfall geprüft werden; sollte sie unter strengen Einschränkungen rechtfertigungsfähig erscheinen, muss auch (2.) die Frage nach der Rechtfertigungsfähigkeit der Assistenz dazu geprüft werden, und falls sich diese – möglicherweise ebenfalls unter klaren Einschränkungen – als ethisch rechtfertigungsfähig erweisen sollte, (3.) die ärztliche Suizidassistenz. Kritiker dieser drei Fragen geben zu bedenken, dass deren ethische Prüfung ungeachtet des Ausgangs derselben das Thema »Suizid« nachgerade gesellschaftsfähig machen würde und insofern besser unterbliebe. StattdesEs geht also nicht um die generelle Norm, dass der Mensch zu Unmöglichem keine Verpflichtung haben kann (»impossibilium nulla est obligatio«, Justinian, Digesten 50, Nr. 17, Frg. 185) noch um deren Variante, er werde nicht für Unmögliches in Anspruch genommen (»ad impossibilia nemo tenetur«), sondern um die subjektive und im Einzelfall auftretende Überforderung. 28 § 275 Abs. 1 BGB. 29 Vgl. Beckmann, J. P.: Ethische Herausforderungen nicht-kurativer Art: Beispiel Palliativmedizin. In: ders., Ethische Herausforderungen der modernen Medizin. Teil IV: Palliativmedizin. Freiburg 2009, 399–502. 30 Ursprünglich missverständlicherweise »terminale« Sedierung genannt. 27
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sen solle man sich an die schon genannte religiöse Begründung halten: Was Gott gegeben hat, dürfe der Mensch nicht weggeben. Diese Begründung verdient großen Respekt, insbesondere wegen der Ablehnung des Suizids selbst bei nicht beherrschbarem Leiden. Doch was macht derjenige, dem der Glaube, dass er Gott gehört, fehlt?
3.4 Gehört der Mensch sich selbst? Der Mensch ist Gottes, so die schon genannte gemeinsame Überzeugung von Christentum, Judentum und Islam, menschliches Leben ist ein Geschenk, genauer: eine Leihgabe Gottes; deshalb hat der Mensch sein ihm von Gott anvertrautes Leben zu achten, zu schützen und zu bewahren und niemals wegzugeben. Dieser Gedanke findet sich bereits zuvor in der Antike: »Was Gott gegeben, darf der Mensch nicht nehmen«, so schon Sokrates im Platonischen Dialog ›Phaidon‹. 31 Für denjenigen jedoch, der keinen Zugang zu dieser Einsicht hat, bleibt, wie gesagt, nur die allgemeine Menschenvernunft. Danach ist der Mensch eigenen Gesetzes, selbstgesetzlich, autonom. Doch ist der Mensch damit sein eigener »Eigentümer«, »gehört« ihm das eigene Leben oder gehört es lediglich zu ihm? Besitzt man sein Leben wie sein übriges Eigentum? Jeder Mensch besitzt einen Körper und ist ein Leib. ›Körper‹ meint das raum-zeitlich Sichtbare, ›Leib‹ hingegen die biologische Bedingung seiner personalen Existenz. Mit der Tötung des eigenen Körpers zerstört der Suizident jedoch zwangsläufig auch seinen Leib: Der Betreffende hört nicht nur als raum-zeitliches Wesen, sondern zugleich als Person zu existieren auf. Ursache können unerträgliche körperliche Schmerzen sein, aber auch eine nicht zu bewältigende seelische Not. Da der Mensch eine körperlich-seelische Ganzheit darstellt, erweist sich der Suizid als ein ganzheitliches Phänomen. Dies ist der Grund, warum die Selbsttötung für den Gläubigen nicht nur vor Gott und für den religiös Ungebundenen nicht nur vor der Familie, Freunden und der Gesellschaft als ganzer ungerechtfertigt er-
Platon, ›Phaidon‹ 62 b/c. Augustinus geht noch einen Schritt weiter und nennt den Suizid »eine verabscheuungswürdige Missetat und ein verdammenswertes Verbrechen (»detestabile facinus et damnabile scelus).« Augustinus, De civitate Dei I, 25; vgl. Thomas v. Aquin, S. Th. II-II, qu. 64, art. 5. Dt.-lat. Ausg. der Summa Theologiae. Heidelberg/München 1933 ff.
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scheint, sondern auch und vor allem vor dem eigenen Selbst. Eben deswegen gilt es, sich mit der Frage der Selbsttötung und ihrer ethischen Rechtfertigungsmöglichkeit kritisch auseinanderzusetzen, bevor man in eine akute suizidale Situation gerät. Voraussetzung ist genau das, was die religiöse Ablehnung des Suizids verneint: Dass der Mensch selbstgesetzlich ist. Allerdings bedeutet Selbstgesetzlichkeit nicht, dass der Mensch sich selbst gehört, sondern, dass er von sich selbst her ist, mit der Folge, dass das Leben nicht ihm gehört, sondern zu ihm gehört. Diesbezüglich irrt David Hume, wenn er in seiner Schrift »Über den Suizid« feststellt, dass »Alter, Krankheit und Unglück … das Leben zur Last werden lassen (können), so dass seine Fortsetzung schlimmer ist als seine Vernichtung« 32 und dies damit begründet: »Mein Leben gehört mir!« 33 Hier werden zugleich Grundlage und Einschränkungen einer Vertretbarkeit des Suizids deutlich: Grundlage ist die Überzeugung vom Eigenbesitz des Lebens, Einschränkungen sind beispielsweise die Mühsal des Alters, eine nicht mehr erträgliche Krankheit oder ein zu großes Unglück. Über die von Hume gegebenen Beispiele lässt sich streiten; entscheidend ist, dass er nicht einem unbegrenzten Recht auf Selbsttötung das Wort redet, sondern für ein diesbezüglich nur bedingtes Recht eintritt. Bemerkenswert allerdings, dass Hume nicht menschliche Autonomie als Grundlage nennt, sondern, ganz in der Tradition des Empirismus, einen Schaden/Nutzen-Kalkül: Es gibt Situationen im Leben des Menschen, so Hume, in denen die Verneinung des Lebens besser ist als die Hinnahme unerträglicher Schmerzen. Dass es freilich Beeinträchtigungen geben kann, die den hohen Wert des eigenen Lebens übertreffen, hängt gewiss vom Urteil des betreffenden Individuums ab, denn nur es selbst vermag eine solche Abwägung vorzunehmen. Insofern erweist sich auch die empiristische Position Humes als mit der Norm der Autonomie untrennbar verbunden.
»Age, sickness, or misfortune may render life a burden, and make it worse than annihilation«. Hume, D.: On Suicide (1755), in: Hume, D.: Essays moral, political, and literary. London 1964, II, 414. Siehe hierzu die eingehende Diskussion bei H. Busche: Darf man sich selbst töten? Die klassischen Argumente bei Thomas v. A. und David Hume, in: Philosophisches Jahrbuch 111 (2004), 62–88, hier 74. 33 »My life is my own«. (Fn. 32), 411. 32
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3.5 Menschliche Autonomie als Begründungsgrundlage für ihre Abschaffung? Alle Autonomie impliziert, wie gesagt, nach Kant Selbstbegrenzung: Die Autonomie des Individuums hat an derjenigen seiner Mitmenschen ihre natürliche Grenze. Daher muss sich die Inanspruchnahme des autonomiebasierten Selbstbestimmungsrechts hinsichtlich der Beendigung des eigenen Lebens der kritischen Frage stellen, ob die Beanspruchung des Rechts auf den eigenen Tod nicht Rechte Dritter tangiert. Dies wäre z. B. der Fall, wenn ein Elternteil, der für die lebensnotwendigen Finanzen der Familie aufkommt, durch Inanspruchnahme des Rechts zur eigenen Lebensbeendigung den anderen Elternteil und vor allem die gemeinsamen Kinder ihrer finanziellen Lebensgrundlage beraubt, indem er sich aus seiner Verantwortung stiehlt. Noch grundsätzlicher ist zu fragen, ob der Suizident die psychische Belastung verantworten kann, die seine Selbsttötung in seiner familialen und sozialen Umgebung verursacht. Auch gegenüber der Gesellschaft als ganzer muss kritisch gefragt werden, ob die Beanspruchung eines Rechts auf die eigene Lebensbeendigung nicht einen Bruch der Solidarität darstellt, welche u. a. darin besteht, nicht nur das Leben der Mitmenschen, sondern auch das eigene Leben zu schützen, ja Leben grundsätzlich zu schützen.
3.6 Rechtfertigungsmöglichkeit des Suizids aufgrund des autonomiebasierten Rechts auf Selbstbestimmung? Ob die Autonomie des Individuums auch ein generelles Recht auf Selbsttötung abdeckt, ist eine Frage, die nicht nur die Philosophie angeht, sondern gleichermaßen auch Anthropologie, Jurisprudenz, Soziologie und nicht zuletzt die Theologie. Was die Philosophie betrifft, so sei erneut daran erinnert, dass ihr Selbstverständnis – und dies gilt insbesondere auch für die Ethik – nicht im Anspruch auf abschließende Antworten auf Grundfragen besteht, sondern darin, zu Grundfragen menschlicher Existenz wie derjenigen des Umgangs mit dem Lebensende durch eine kritische Analyse der normativen Grundlagen und mithilfe einer praxistauglichen Klärung zentraler Begrifflichkeiten den Einzelnen in seiner Mündigkeit zu stärken und die Gesellschaft als Ganze für eine Entscheidung über die Frage nach der Mo-
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ralität entsprechender Handlungsoptionen vorzubereiten. Dies vor allem dann, wenn Normenkonflikte auftreten. Aus philosophischer Sicht gibt es gegen den Suizid vor allem drei gewichtige Einwände: (1) einen logischen Einwand, nämlich die Widersprüchlichkeit einer Suizidbegründung, die eben das voraussetzt, was sie anschließend zerstören will: die Autonomie des Menschen; (2) einen sozialen Einwand: Der Suizident stiehlt sich aus seiner familialen und sozialen Verantwortung gegenüber Familie und Gesellschaft und damit aus seiner Verpflichtung zur Solidarität aller Menschen untereinander; und schließlich (3) einen psychologischen Einwand: Das gewaltsame Ausscheiden aus dem Leben verstört die Mitmenschen, vor allem die Nahestehenden. Hierzu im Einzelnen: Widersprüchlichkeit: Die Frage lautet, ob der Suizid in sich widerspruchsfrei rechtfertigungsfähig ist, verneint er doch eben dasjenige Prinzip, das er zur Rechtfertigung beansprucht: Autonomie nämlich. Ist es widerspruchsfrei möglich, dass der Mensch die Autonomie beansprucht, seine Autonomie zu vernichten? Wenn der Terminus ›Autonomie‹ beide Male dasselbe bedeutet, liegt ein zweifellos nicht auflösbarer Widerspruch vor. Dieses Problem hat in kaum zu überbietender Deutlichkeit Immanuel Kant formuliert: Der Suizid hebt nach ihm das sittliche Subjekt und damit Sittlichkeit überhaupt auf. 34 Der Suizident kann nicht mehr beanspruchen, Subjekt von Sittlichkeit zu bleiben, wenn er deren Grundlage unwiederbringlich zerstört. Der Selbstmörder – Kant verwendet diesen jahrhundertealten, wenngleich missverständlichen Ausdruck schlicht der Tradition folgend – macht sich selber zum Mittel für einen Zweck, d. h. er gibt seine Selbstzweckhaftigkeit auf. 35 Auch müsse »derjenige, der mit Selbstmord umgeht, sich fragen, ob seine Handlung mit der Idee der Menschheit, als Zweck an sich selbst, zusammen bestehen könne. Wenn er, um einem beschwerlichen Zustande zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich seiner Person bloß als eines Mit-
Kant, I.: Metaphysik der Sitten, § 6. Vgl. Kant, I.: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, St.2 Abs. 3, Anm.; AA IV, 91.
34 35
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tels«. 36 Kants Hauptargument lautet: »Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist ebenso viel als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach … aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selber ist«. 37 Will sagen: Der Suizident als Träger von Sittlichkeit bringt nicht nur sich selbst, sondern gleichsam auch das Prinzip ›Sittlichkeit‹ um und zerstört im Rückgriff auf seine Autonomie eben dieselbe unwiderruflich. Nun hat Sittlichkeit nach Kant neben der Autonomie auch Freiheit zur Voraussetzung. Freiheit ist solange gegeben, wie der Suizidwillige noch Alternativen zur Selbsttötung zur Verfügung hat. Doch die Unverhältnismäßigkeit seiner Situation, die Unerträglichkeit seines Leidens und das völlige Fehlen einer Alternative lassen dem Betreffenden keine Möglichkeit der Freiheit mehr, so dass er dieselbe auch nicht mehr durch den Suizid »vernichten« kann. So zweifelsfrei das Kantische Argument der Widersprüchlichkeit für die Frage einer generellen Begründbarkeit des Suizids gilt: Offen bleibt, ob dies auch für die Situation des Schwerstkranken, der sich durch sein Leiden überfordert sieht, der Fall ist. Steht der Schwierigkeit einer generellen widerspruchsfreien Begründung des Suizids eine spezielle widerspruchsfreie Begründbarkeit gegenüber? Wir werden gleich darauf näher eingehen. Zunächst zu den beiden anderen Argumenten: Aufgabe sozialer Verpflichtungen: Der Mensch trägt bekanntlich nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Mitmenschen Verantwortung, so dass zu fragen ist, ob sich der Suizident nicht aus seiner sozialen Verantwortung gegenüber Familie, Freunden und der Gesellschaft als ganzer stiehlt und insoweit hinsichtlich der Legitimierbarkeit einer eigenen Lebensbeendigung eingeschränkt ist. Dieses Bedenken ist noch älter als das vorgenannte Widerspruchsargument Kants: Es findet sich bereits in der Antike, und dies bei keinem Geringeren als Aristoteles. Nach ihm ist Selbsttötung gewissermaßen unsozial: Der Betreffende stiehlt sich aus der Verantwortung für die Seinen und die gesamte Polis. 38 Deshalb, so Aristoteles weiter: Die Obrigkeit »heftet dem Suizidenten als einem Menschen, der sich am Gemeinwesen versündigt hat, einen Makel an«. 39 Eine Berufung auf
Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 67; Werke. Darmstadt 1968, 61. 37 Kant, I.: Metaphysik der Sitten § 6; AA III 268. 38 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1138a4 ff. 39 Aristoteles, a. a. O. (Fn. 38). 36
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die Autonomie als Grundlage für die Rechtfertigung der Selbsttötung würde somit in einen Konflikt mit den Normen der sozialen Verantwortung gegenüber – und der Solidarität mit – Dritten geraten. Mit diesem Gedanken verwandt ist eines der drei von Thomas v. Aquin vorgetragenen Argumente gegen den Suizid: dass derselbe nämlich ein »Unrecht gegen die Gemeinschaft« sei. 40 Psychische Schockwirkung für die Mitmenschen: Eine Selbsttötung löst i. d. R. in der engeren wie der weiteren Umgebung des Suizidenten Reaktionen aus, die von Betroffenheit und Erschrecken über heftige Trauer bis hin zu Selbstvorwürfen der Mitmenschen (»Habe ich da etwas falsch gemacht?«, »Habe ich etwas übersehen?«, »Hätte ich helfen können, das zu vermeiden?«, etc.) reichen können. In jedem Fall verursacht das plötzliche Ausscheiden eines Mitmenschen aus der Gemeinschaft derer, die ihn kannten und schätzten, einen schwer zu verarbeitenden psychischen Schock, der nicht selten zu ärztlicher Behandlungsbedürftigkeit führt. Das alles und manches mehr nimmt der Suizident in Kauf und übersieht dabei, dass das Ausscheiden aus der menschlichen Gemeinschaft durch Selbsttötung von den Mitmenschen als ein ungeheuerlicher Akt fehlender Solidarität und mitmenschlicher Verantwortung empfunden wird. Die drei genannten Einwände gegen eine generelle Fundierung eines Rechts auf den selbstgegebenen Tod wiegen zu schwer, als dass man gegen sie so ohne weiteres eine Rechtfertigung des Suizids mithilfe der Autonomie des Menschen vornehmen könnte. Denn: Der logische Einwand ist zwingend und kann nicht ausgeräumt werden; der soziale Einwand trifft ausnahmslos zu, denn der Mensch ist wesentlich auch Mitmensch; und der psychologische Einwand ist unvermeidlich wegen fehlender Reziprozität, denn niemand, der seinen Mitmenschen den Schock seines Suizid zumutet, möchte seinerseits eine derartige schockierende Zumutung erleben. Wenn sich nun aber eine generelle ethische Vertretbarkeit des Suizids nicht auf die menschliche Verfasstheit der Autonomie gründen lässt, bedeutet dies dann eine Einschränkung derselben? Keineswegs: Hier wird vielmehr deutlich, dass alle Autonomie, wie in Kap. 1 dargelegt, notwendig eine die Menschen miteinander verbindende Bedeutung besitzt. Eben weil die Autonomie auch des Suizidenten an dem Respekt vor der Autonomie seiner Mitmenschen ihre natür»injuriam communitati facit«. Thomas v. A.: S. Th. II-II, qu. 64, art. 5, resp.; Vol. 18, 165. – Näheres hierzu siehe Busche, H. (Fn. 32), 67 f.
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liche Grenze hat, lässt sich eine generelle ethische Vertretbarkeit des Suizids angesichts der drei genannten Schwierigkeiten schwerlich begründen. Doch gilt das auch für den Fall unerträglichen, nicht mehr beherrschbaren Leidens? Der Suizid ist in diesem Fall nicht Ausdruck der Verneinung des eigenen Lebens, sondern Folge der Überforderung durch die Unerträglichkeit des eigenen Leidens.
3.7 Rechtfertigungsmöglichkeit des Suizids im speziellen Fall unerträglichen Leidens? In der Tat scheinen die Dinge hinsichtlich der Frage anders zu liegen, ob im speziellen Fall eines Leidens, das die Kräfte des Leidenden massiv und dauerhaft überfordert, der Suizid als ultima ratio ethisch rechtfertigbar ist, und falls ja, wie es um die ethische Rechtfertigungsfähigkeit der Beihilfe dazu steht. 41 Gelten diesbezüglich noch die drei vorgenannten Einwände gegen eine Rechtfertigungsmöglichkeit des Suizids, vor allem der Einwand der Widersprüchlichkeit einer »Freiheitsvernichtung durch Rückgriff auf die Freiheit«? Die ›Freiheit‹ eines Schwerkranken ist offenkundig infolge der in seinen Augen manifesten Unverhältnismäßigkeit zwischen seinem Leiden und der in Einzelfällen auch palliativ nicht mehr effektiven Hilfe mehr oder weniger stark eingeschränkt, so dass das bereits genannte Prinzip greift, wonach niemand jenseits seines Könnens verpflichtet sein kann. Es zeigt sich: So schwerlich der Suizid ethisch generell rechtfertigungsfähig erscheint, so möglicherweise doch im Ausnahmefall aufgrund der Prinzipien der Unzumutbarkeit und der Unverhältnismäßigkeit. Zugleich ist die Lebensschutzpflicht des Staates unter bestimmten Voraussetzungen begrenzt. So hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig 2017 entschieden, dass der Staat einem Suizidwilligen, der sich wegen einer »schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befindet«, den Zugang zu einem Betäubungsmittel zum Zweck der Selbsttötung »nicht verwehren« darf. 42 Dabei definiert das Gericht eine »schwere Notlage« durch
Vgl. Beckmann, J. P.: Suizidassistenz in philosophisch-ethischer Sicht. In: Ritzel, G. (Hg.): Beihilfe zum Suizid. Regensburg 1998, 16–29, 42 BVerwG 3 C 19,15 vom 2. 3. 2017. Hintergrund war eine Klage gegen das Bundes41
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(1) »eine schwere, unheilbare Krankheit mit gravierendem körperlichen Leiden und nicht beherrschbaren Schmerzen«, (2) volle Entscheidungsfähigkeit und (3) das Fehlen einer Alternative. Fehlt auch nur eine dieser drei Voraussetzungen, wäre ein Zugang zu Betäubungsmitteln zum Zweck der Selbsttötung rechtlich nicht möglich. Schwierigkeiten bereitet dieses Urteil hinsichtlich der Frage, ob der Staat damit »Helfershelfer zur Selbsttötung« 43 sein darf, sowie seit dem Suizidhilfe-Gesetz von 2015 wegen der »Nähe zur geschäftsmäßigen Förderung einer Selbsttötung«. 44 Was Ersteres betrifft, so wird der Staat, der unter den drei angegebenen Voraussetzungen einer schweren Notlage eine Ausnahme vom Verbot der Weitergabe von Betäubungsmitteln zur Selbsttötung vorsieht, dadurch nicht zum »Helfershelfer«, da er vom Verbot nicht deswegen absieht, damit sich ein Mensch umbringt, sondern weil sich der liberale Staat angesichts der beschriebenen Notlage seines Bürgers an der Grenze seiner Verpflichtung zum Lebensschutz angelangt sieht, jenseits derer er aus Gründen der Verhältnismäßigkeit vom Bürger keine Pflicht zur Fortsetzung einer vita minima mit einer »schweren, unheilbaren Krankheit mit gravierendem körperlichen Leiden und nicht beherrschbaren Schmerzen« verlangen kann. Wenn, wie dargelegt, an der generellen ethischen Rechtfertigungsmöglichkeit Zweifel bestehen, weil es kein Zeichen für Autonomie sein kann, Autonomie zu zerstören, und es überdies keinen Ausdruck des Respekts für die Mitmenschen darstellt, sich per »Bilanzsuizid« aus der Verantwortung für die Seinen zu stehlen, dann ist auch die Hilfe beim Suizid und einmal mehr die Hilfe des Arztes dabei ethisch nicht zu rechtfertigen. Wenn andererseits die Selbsttötung im Ausnahmefall unerträglichen Leidens in Anbetracht der Unzumutbarkeit einer derartigen schweren Notfallsituation unter klaren Einschränkungen, unter deren Voraussetzung verfassungsrechtlich auch der Staat an die Grenze seiner Lebensschutzverpflichtung gelangt ist, ethisch rechtfertigungsfähig erscheint, dann steht unvermeidlich die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Beihilfe beim, nicht zum, Suizid institut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf Herausgabe eines Betäubungsmittels zum Zweck der Selbsttötung. 43 So der ehemalige Bundesgesundheitsminister H. Gröhe lt. Tagesspiegel vom 3. 2. 2018. 44 So der derzeitige Bundesgesundheitsminister J. Spahn lt. ZEIT online vom 16. 4. 2019.
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an, und falls diese Beihilfe ethisch akzeptabel erscheinen sollte, die Frage nach der Zulässigkeit der ärztlichen Hilfe dazu. In diesem Zusammenhang sollte nicht übersehen werden, dass die Möglichkeit zum Suizid als ultima ratio dem Schwerstleidenden u. U. die Kraft geben kann, den Suizid möglicherweise zu vermeiden oder zumindest ihn aufzuschieben. Der unter den drei genannten rechtlichen Voraussetzungen mögliche Erhalt der tödlichen Pillen vermittelt dem schwer Leidenden ggf. die Bestätigung seiner Autonomie, wonach allein er es in der Hand hat, die Pillen zu nehmen oder nicht zu nehmen.
4.
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4.1 Ist Suizidbeihilfe ethisch generell vertretbar? Ein Recht auf Suizidassistenz kann es in Anbetracht der Pflicht zum Respekt vor der Unverfügbarkeit auch des Mitmenschen nicht geben. Diesbezüglich ist nachdrücklich auf das schon mehrfach Betonte zu verweisen: dass nämlich menschliche Autonomie keine dem Einzelnen »isoliert« zukommende anthropologische Bestimmung darstellt, sondern ganz im Gegenteil eine den Einzelnen mit seinen Mitmenschen verbindende Verfasstheit. Insofern hat die Autonomie des Einzelnen an derjenigen des anderen ihre natürliche Grenze. Damit die Inanspruchnahme Dritter zur Suizidassistenz nicht zur – die Autonomie der um Hilfe Gebetenen missachtenden – Instrumentalisierung wird, müssen neben zweifelsfreier Freiwilligkeit des Suizidenten unerträgliches und nicht mehr beherrschbares Leiden sowie völlige Alternativlosigkeit der suizidalen Situation vorausgesetzt werden. Gerade Letzteres ist deswegen besonders wichtig, weil mancher suizidale Leidensabwehrwunsch durch, wie zu Recht vorgetragen wird, Fürsorge, Liebe und Respekt seitens der Mitwelt u. U. abgewendet werden kann. Hinzu kommt als weitere conditio sine qua non naturgemäß die zweifelsfreie Freiwilligkeit des um Hilfe Gebetenen. Sind jedoch die vier Voraussetzungen (Freiwilligkeit, Unerträglichkeit bzw. Unbeherrschbarkeit des Leidens, völlige Alternativlosigkeit anderweitiger Hilfe sowie Freiwilligkeit des um Hilfe Gebetenen) gemeinsam gegeben, so erscheint nicht nur der Suizid ethisch rechtfertigungsfähig, sondern auch die Beihilfe dazu. Gilt dies auch für ärztliche Suizidassistenz? 244 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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4.2 Ist ärztliche Suizidassistenz ethisch rechtfertigungsfähig? Dass der unbedingte Respekt vor dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht eines Schwerkranken oder Sterbenden und seiner Freiheit von jeglicher Heteronomie wie alle Autonomie auch an Selbstbegrenzung gebunden ist, wird deutlich in der Diskussion um die Frage nach der Vertretbarkeit der ärztlichen Suizidassistenz im Falle infauster Erkrankung mit weder medizinisch noch palliativ beherrschbarem Schmerz bei gleichzeitig klarer entsprechender Willensbekundung des Patienten. Ethisch stellt sich in einem solchen Fall die Frage, ob die ärztliche Verpflichtung auf den Erhalt menschlichen Lebens und die damit verbundene Garantenpflicht mit dem ebenso ärztlichen Ethos, Leidenden und damit auch Sterbenden bis zum Schluss beizustehen, im Konfliktfall gegeneinander aufgewogen werden können. Das ist mit Sicherheit dann der Fall, wenn der Hilfspflicht des Arztes eine medizinische Möglichkeit der Hilfe zur Suizidvermeidung nicht mehr zur Verfügung steht, so dass dem Arzt nichts anderes übrig bleibt, als seinen Patienten entweder seinem Schicksal zu überlassen oder aber ihn in den Tod zu begleiten. Ethische Grundlage ist in beiden Fällen sein ärztliches Gewissen. Es ist das Gewissen, das dem Arzt sagt, ob er seiner Hilfsverpflichtung durch Verlassen des Patienten oder durch sein Verbleiben bei ihm nachkommt. Auf die entscheidende Rolle des Gewissens werden wir weiter unten zurückkommen.
4.3 Verbot ärztlicher Suizidassistenz und die Frage der Tragbarkeit der Folgen Für den Fall eines Verbots ärztlicher Suizidassistenz, wie es das Gesetz von 2015 vorsieht, sind aus ethischer Sicht die vier folgenden (vorhersehbaren) Folgen zu diskutieren: (1) die Frage der Einschränkung ärztlicher Berufsfreiheit; (2) die Frage einer Behinderung der Freiheit ärztlicher Gewissensentscheidung; (3) die Vertretbarkeit des mutmaßlichen Ausweichens von Patienten ins Ausland, und (4) die Hinnehmbarkeit zusätzlichen Leids infolge eines laienhaften Suizids. Hierzu im Einzelnen: 245 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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zu 1. Dass es Einschränkungen ärztlicher Berufsfreiheit gibt, zeigt der § 217 StGB, wonach Tötung auf Verlangen nicht nur generell, sondern speziell auch Ärzten bei Strafe verboten ist. Davon zu unterscheiden ist die Aufgabe eines jeden Arztes, medizinisch Hilfsdürftigen und damit insbesondere auch Sterbenden beizustehen. Die Erklärung, dies sei ethisch nicht rechtfertigungsmöglich, würde im Konflikt mit der Berufsfreiheit des Arztes stehen. zu 2. Das Gesagte gilt einmal mehr im Hinblick auf den Respekt vor der Gewissensfreiheit des Arztes: Die Erklärung einiger Landesärztekammern, Suizidassistenz sei keine ärztliche Aufgabe, befindet sich im unvermeidlichen Konflikt mit dem Respekt vor der Gewissensentscheidung eines Arztes, seinen Patienten grundsätzlich und besonders im Sterbeprozess niemals zu verlassen. zu 3. Die ethische und – wie sich zeigen wird, trotz der seit 2015 bestehenden Regelung durch das »Sterbehilfegesetz« fortwirkende – Unklarheit hinsichtlich des normativen Status ärztlicher Sterbehilfe erhöht den Druck auf Patienten, im Fall der Unbehandelbarkeit und Unerträglichkeit ihres Leidens zu einer Suizidbeihilfe im Ausland Zuflucht zu nehmen. Zu klären ist, ob dies mit dem Respekt vor der Würde dieser Leidenden vereinbar ist. zu 4. Der unbegleitete Suizid eines Schwerstkranken führt häufig infolge fehlender medizinischer Kenntnisse zu frustranen Resultaten oder zu äußerst schmerzvollen Verletzungen. Der im Unterschied hierzu i. d. R. erfolgreiche Versuch hingegen, sich vor einen fahrenden Zug zu werfen, nimmt die schwere Traumatisierung und nicht selten die lebenslange Berufsunfähigkeit des Zugführers und die Behinderung hunderter Zugpassagiere billigend in Kauf, die mit z. T. erheblicher Verspätung ihr Zuhause, ihren Arbeitsplatz oder ihre Geschäftspartner erreichen. Zur Frage steht, ob dies vom Suizidenten und a fortiori von der Gesellschaft, die den Suizidenten allein lässt, verantwortet werden kann. Werfen wir zunächst einen Blick auf die 2015 erfolgte rechtliche Regelung.
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Das Suizidbeihilfegesetz von 2015 aus ethischer Sicht
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Das Suizidbeihilfegesetz von 2015 aus ethischer Sicht 45
Die Frage nach einer ethischen Rechtfertigungsmöglichkeit der Suizidassistenz für den Fall einer infausten, nicht mehr therapiezugänglichen und unwiderruflich zum Tode führenden, auch palliativmedizinisch nicht beherrschbaren Erkrankung, sofern der Sterbende voll entscheidungsfähig ist und die Tatherrschaft bei ihm verbleibt, ist selbst für denjenigen unabweisbar, der den Suizid prinzipiell ablehnt. Denn: Ethisch stellt sich in diesem Ausnahmefall die Frage, ob es mit der Solidarität der Gesellschaft mit den Sterbenden und dem Gewissen von Familienangehörigen und behandelnden Ärzten vereinbar ist, einen Schwerkranken, der sich von seinem qua ultima ratio Suizidwunsch nicht abbringen lässt, sich selbst zu überlassen. Auch hier gilt das eben Gesagte: Wer sich durch den Wunsch nach Suizidassistenz eines Schwerkranken oder Sterbenden, so verständlich der Wunsch auch sein mag, in seiner eigenen Würde und Autonomie tangiert sieht, der kann keine moralische Verpflichtung zur Sterbehilfe haben. Gleichwohl bleibt die Verpflichtung, nach Möglichkeit nach jemand anderem Ausschau zu halten, der sich in der Frage der Suizidbeihilfe bei einem Sterbenden in aussichtsloser Situation in seiner Würde und Autonomie nicht tangiert sieht. Ein grundlegendes Problem besteht darin, dass ein Einzelfall in seiner Art nicht eo ipso einmalig sein muss, sondern öfter vorkommen kann, so dass einem Arzt, der es als seine Gewissenspflicht ansieht, unter den vier genannten Voraussetzungen seinen zum Suizid entschlossenen Patienten nicht zu verlassen, unterstellt wird, er übe Suizidbeihilfe »geschäftsmäßig«, d. h. auf Wiederholung hin angelegt aus. Hierzu hat sich der Gesetzgeber im Suizidbeihilfegesetz vom 6. 11. 2015 nach intensiver Debatte abschließend geäußert und die bisher bestehende Straflosigkeit der Suizidassistenz erheblich eingeschränkt.
»Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung zur Selbsttötung« vom Nov. 2015.
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5.1 Freiheit oder Verbot? Die vier Gesetzesentwürfe zur Suizidassistenz aus ethischer Sicht Die Diskussion der im Folgenden vorgestellten vier Gesetzesentwürfe und das am Ende daraus resultierende »Gesetz zur geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung« wird in der Diskussion vielfach auch »Sterbehilfegesetz« genannt. Dies berücksichtigt jedoch nicht die notwendige begriffliche Unterscheidung zwischen ›Suizidbeihilfe‹ und ›Sterbehilfe‹. Während Letztere von der aktiven über die passive bis hin zur indirekten Sterbehilfe reicht und dabei Strafbewehrtes wie die Tötung auf Verlangen und Straffreies wie passive und indirekte Sterbehilfe umfasst, meinen die Termini ›Suizidbeihilfe‹ oder ›Suizidassistenz‹ Hilfe bei der Selbsttötung. Um genau diese ging es dem Gesetzgeber.
5.2 Zur Ausgangslage Suizidassistenz ist in Deutschland traditionell 46 nach geltendem Recht keine Straftat, und dies aus rechtsdogmatischem Grunde: Da die Selbsttötung keine strafbare Handlung darstellt, ist auch die Beihilfe dazu straffrei. 47 Schwierigkeiten entstehen hinsichtlich der Frage einer evtl. Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung und im Falle ärztlicher Suizidassistenz darüber hinaus wegen der ärztlichen Pflicht zur Garantenstellung. Unklarheiten gilt es schließlich auszuräumen, weil die 16 Landesärztekammern hierzulande ihren Ärzten teilweise unterschiedliche Anweisungen bzw. Empfehlungen geben, die von einem Verbot ärztlicher Suizidassistenz bis zur Feststellung reichen, dies dem Gewissen des einzelnen Arztes zu überlassen. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass die »Grundsätze der Bundesärztekammer (BÄK) zur ärztlichen Sterbebegleitung« 48 in den vergangenen 20 Jahren bemerkenswerte Änderungen erfahren haben. War noch bis 1997 unter »I. Grundsätzliches« von »Richtlinien« die Rede, so heißt es seit 1998 »Grundsätze«. Richtlinien sind Maximen,
In Deutschland erstmals kodifiziert im Reichsstrafgesetzbuch am 15. 5. 1871. Juristen sprechen auch von der »Tatbestandslosigkeit« des Suizids. Vgl. Schreiber, H.-L.: Juristische Aspekte der Suizidbeihilfe, in: Ritzel, G. (Hg.), (Fn. 41), 30–35. 48 Neueste Fassung vom 18. 02. 2011 (Dt. Ärzteblatt 108, H. 7; A 346–8); vorhergegangen war die Fassung vom 07. 05. 2004 (Dt. Ärzteblatt 101, H. 19; A 1298/9). 46 47
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Das Suizidbeihilfegesetz von 2015 aus ethischer Sicht
sie gelten meistens, während Grundsätze Prinzipien sind, die immer gelten. Auch ist statt der »ärztlichen Pflicht, Leben zu erhalten«, nunmehr von der »ärztlichen Aufgabe, Leben zu erhalten« die Rede. Aus der »palliativmedizinischen Behandlung« ist inzwischen die »palliativmedizinische Versorgung« geworden. War 1993 von der »ärztlichen Tätigkeit im Grenzbereich zwischen Leben und Tod« die Rede, so 1997 von der »ärztlichen Tätigkeit an der Grenze zwischen Leben und Tod« – eine seit 1998 ersatzlos gestrichene Passage. Patientenwille und Selbstbestimmungsrecht wurden 1993 erst spät im Text genannt, seit 1998 hingegen steht beides bereits in der Präambel. Vom Willen des Patienten hieß es bis 1998, er sei »maßgeblich«, seit 2004 er sei »bindend«. Entsprechend die Änderung der Aussage über den Patienten, von dem es bis 1997 hieß, er müsse »urteilsfähig« sein und seither, er müsse »einwilligungsfähig« sein. Vom ärztlichen Gespräch mit Angehörigen hieß es bis 1998, dies sei erlaubt, »es sei denn, der Wille des Patienten steht dagegen«. Seit 2004 heißt es stattdessen: »wenn man annehmen darf, dass dies dem Willen des Patienten entspricht.« Hieß es 1998 und 2004 noch, der Arzt »muss den Willen des Patienten beachten«, so heißt es seit 2011 ethisch und juristisch genauer, der Arzt »muss den Willen des Patienten achten«. Von der ärztlichen Suizidassistenz hieß es noch 1998, sie »widerspricht dem ärztl. Ethos«, 2011 hingegen, sie »ist keine ärztliche Aufgabe.« Dringend klärungsbedürftig wurde damit die Frage der rechtlichen und ethischen Zulässigkeit ärztlicher Suizidassistenz für den Fall einer auch palliativ nicht beherrschbaren, infausten und unwiderruflich zum Tode führenden Erkrankung, sofern der Patient voll entscheidungsfähig ist und die Tatherrschaft ausschließlich bei ihm liegt. Ethisch ist in diesem Ausnahmefall zu fragen, ob es dem ärztlichen Ethos des Helfens eher entspricht, den Patienten nicht zu begleiten, oder eher, nicht von seiner Seite zu weichen. Wie uneinheitlich die Ausführungen seitens der ärztlichen Kammern sind, wird deutlich, wenn man sich die Musterberufsordnung der Bundesärztekammer (BÄK) vom Januar 2012 vor Augen hält. Dort heißt es in § 16 unter der Überschrift »Beistand für Sterbende«: »Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen.« Im Jahr davor hatte es noch geheißen: »Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung … ist keine ärztliche Aufgabe«. 49 In der »Berufsordnung der Westfälisch-Lippischen 49
»Grundsätze der BÄK zur ärztlichen Sterbebegleitung« vom 18. 2. 2011.
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Landesärztekammer« vom 26. 11. 2011 heißt es deutlicher: Ärzte »sollen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten«. Unklar ist, was mit dem nicht dürfen der BÄK und dem nicht sollen der gen. LÄK gemeint ist. Die Ärzteschaft in Deutschland (wie auch anderswo) muss sich angesichts der Fortschritte moderner Intensivmedizin, aber auch der nicht in allen Fällen gelingenden Palliation mit der Frage ärztlicher Suizidassistenz qua ultima ratio weiterhin intensiv auseinandersetzen. Dabei mag die Entscheidung in die eine oder die andere Richtung gehen: Die Entscheidung offen zu lassen oder die Frage ärztlicher Suizidassistenz in einer camera caritatis ac silentiae zu belassen, scheint der Ärzte wie der Patienten nicht würdig. Im Grunde geht es um die Frage, ob Staat und Gesellschaft die Pflicht zum Lebensschutz auch gegen den erklärten Willen des Menschen sichern müssen oder ob beider Verpflichtung nicht vielmehr darin besteht, die entsprechende Freiheit des Einzelnen zu ermöglichen, sie zu sichern und respektieren. Im Hinblick auf das Zulassen des Sterbens auf den ausdrücklichen Wunsch des Patienten hin ist das Missverständnis auszuräumen, die Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe beruhe darauf, dass man sich im erstgenannten Fall dem Sterben gegenüber passiv, d. h. untätig verhalte bzw. etwas unterlasse, während im zweitgenannten Fall aktiv gehandelt werde. Es ist dies insofern ein Missverständnis, als jedes Unterlassen ebenfalls ein Handeln darstellt und wie dieses rechtfertigungspflichtig ist. Ethisch entscheidend ist nicht die Handlung als solche, sondern die Absicht des Handelnden. Medizinisch gesprochen: Entscheidend ist nicht das Handeln, sondern das Behandlungsziel bzw. die evtl. Änderung desselben. Dem hat auch die Rechtsprechung der vergangenen Jahre entsprochen. So existiert lt. Beschluss des BGH »keine Rechtsverpflichtung zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens um jeden Preis. Maßnahmen zur Lebensverlängerung sind nicht schon deswegen unerlässlich, weil sie technisch möglich sind.« 50 Lt. Beschluss vom 25. 6. 2010 ist »Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung (Behandlungsabbruch) gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht (§ 1901a BGB) und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen.« Ein Behand50
BGH St 32, 379/80.
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Das Suizidbeihilfegesetz von 2015 aus ethischer Sicht
lungsabbruch »kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden«. Davon nicht nur ethisch, sondern auch rechtlich deutlich zu unterscheiden sind »gezielte Eingriffe in das Leben eines Menschen, die nicht in einem Zusammenhang mit dem Abbruch einer medizinischen Behandlung stehen«; dieselben »sind einer Rechtfertigung durch Einwilligung nicht zugänglich«. 51 Die Rechtsprechung stellt den Willen des autonomen Patienten (BGB §§ 1896, 1901, 1904) auch dann in den Mittelpunkt, wenn er alters- und/oder krankheitsbedingt einwilligungsunfähig geworden ist: »Hat sein Grundleiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen, so müssen lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahmen unterbleiben, wenn dies seinem zuvor – etwa in Form einer sog. Patientenverfügung – geäußerten Willen entspricht.« Ausdrücklich wird lt. selbigem Beschluss wie in der Ethik auch im Recht auf die Menschenwürde rekurriert, »die es gebietet, sein in einwilligungsfähigem Zustand ausgeübtes Selbstbestimmungsrecht auch dann noch zu respektieren, wenn er zu eigenverantwortlichem Entscheiden nicht mehr in der Lage ist. Nur wenn ein solcher erklärter Wille des Patienten nicht festgestellt werden kann, beurteilt sich die Zulässigkeit solcher Maßnahmen nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten, der dann individuell – also aus dessen Lebensentscheidungen, Wertvorstellungen und Überzeugungen – zu ermitteln ist«. 52 Ist vom Patienten ein Bevollmächtigter oder vom Gericht ein Betreuer bestellt, so hat derselbe unter vollständiger Zurückstellung seines eigenen Willens nach Maßgabe des § 1901 BGB dem dokumentierten Willen des einwilligungsunfähigen Patienten Geltung zu verschaffen. Aus ethischer Sicht vermag der Einzelne mithin aufgrund seiner Autonomie für seine Person den Schutz seines Lebens seinem Willen unterzuordnen (»salus ex voluntate«). Dem ist auch die Rechtsprechung gefolgt. Doch deckt des Menschen Autonomie, wie ethisch bereits oben diskutiert, auch rechtlich die Hilfe Dritter bei der Lebensbeendigung? Oder ist der Staat gehalten, um seiner LebensUrteil des 2. Strafsenats des BGH vom 25. 06. 2010 (2 StR 454/09). – Zur Frage des Behandlungsabbruchs / – Verzichts (ethisch) vgl. den gleichnamigen Beitrag von Beckmann, J. P. in: Korff, W. et al. (Hg.): Lexikon der Bioethik. Gütersloh 1998, Bd. I, 316–320. 52 BGH, Beschluss vom 17. März 2003 – XII ZB 2/03. – Vorausgegangen waren Entscheidungen des 3. Strafsenats des BGH aus dem Jahr 1991, BGH St.37, 376, 379 zur passiven sowie BGH St. 42, 301, 305 und BGH St. 46, 279, 284 f. zur indirekten Sterbehilfe. 51
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schutzverpflichtung willen die Freiheit seiner Bürger diesbezüglich einzuschränken? Eine generelle rechtliche Klarstellung schien daher geboten.
5.3 Das »Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung« Der Deutsche Bundestag hat sich im Jahre 2015 mit der Frage einer gesetzlichen Regelung der – insbesondere ärztlichen – Suizidbeihilfe unter dem Titel »Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung« befasst. Der Gesetzestitel arbeitet mit der Annahme, es gehe bei der Frage der Suizidbeihilfe um eine »Förderung« der Selbsttötung, weil der Suizidhelfer dieselbe durch seine Hilfe »fördere«. Es fehlen jedoch empirisch belastbare Daten dafür, dass die bisherige eineinhalb Jahrhunderte geltende Straffreiheit der Suizidassistenz dieselbe »gefördert« hätte. Ohne diese Annahme hätte der Gesetzestitel gelautet: »Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe«. Erkennbar hat der Begriff der ›Förderung‹ im Gesetzestitel die Funktion, es bei der Straflosigkeit der Suizidbeihilfe zwar im Einzelfall zu belassen, doch zugleich eine Wiederholung einer solchen Hilfe und die entsprechende Information dazu als ›Förderung‹ einzuordnen und strafbar zu machen. Dem Parlament lagen vier, teils höchst unterschiedliche, jeweils parteiübergreifende Gesetzentwürfe vor, die sich bei einer Analyse aus ethischer Sicht entsprechend unterschiedlich darstellen.
5.3 Gesetzentwurf I: Beibehaltung der Straffreiheit aus Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Suizidenten und der Gewissensfreiheit des Helfenden Der erste, von 107 Abgeordneten unterzeichnete Gesetzentwurf 53 strebte keine strafrechtliche, sondern eine zivilrechtliche Regelung an, welche nicht nur bei der bisherigen Straffreiheit der Suizidassistenz blieb, sondern dieselbe auch den Ärzten als freiwillige Hilfestellung ihrer Patienten zugestand. Als Voraussetzungen wurden ge»Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung« (Suizidhilfegesetz) Bundestag-Drucksache (BT Drs.) 18/5374.
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Das Suizidbeihilfegesetz von 2015 aus ethischer Sicht
nannt: Eine unheilbare, unumkehrbar zum Tode führende Erkrankung eines volljährigen und entscheidungsfähigen Patienten, der die Selbsttötung ernsthaft und endgültig wünscht, seine umfassende ärztliche Beratung sowie eine Bestätigung der genannten Sachverhalte durch einen unabhängigen zweiten Arzt. Normativ wurde zur Begründung auf die Achtung der Menschenwürde und der damit verbundenen Autonomie nicht nur des Suizidenten, sondern auch seiner Umgebung und nicht zuletzt des Arztes samt der Freiheit seines Gewissens gem. Art. 4 Abs. 1 GG verwiesen. Die staatliche Rechtsordnung, so die Begründung, müsse gewährleisten, »dass Ärzte in Ausübung ihrer Gewissensfreiheit sich dafür entscheiden können, unheilbar kranken Menschen auf deren Wunsch bei der selbstvollzogenen Lebensbeendigung Hilfe zu leisten«. 54 In dieses Recht auf Gewissensfreiheit durch ein Verbot ärztlicher Sterbehilfe einzugreifen, sei insofern unverhältnismäßig, als dem Arzt damit die Möglichkeit genommen werde, bei Vorliegen der genannten strengen Bedingungen seinem Patienten beizustehen. Der Gesetzentwurf versprach sich von dieser Straffreiheitszusicherung für Ärzte sowohl eine suizidpräventive als auch eine Sterbehilfevereine restringierende Wirkung, weil das Vertrauen unheilbar kranker Patienten darauf, dass der Arzt sie unter keinen Umständen allein lässt, erfahrungsgemäß selbst bei starkem Leidensdruck den Wunsch nach einem Suizid u. U. zurückzudrängen geeignet ist, vor allem aber den Rückgriff auf Sterbehilfevereine i. d. R. überflüssig erscheinen lässt.
5.4 Gesetzentwurf II: Festhalten an der Straffreiheit der Suizidbeihilfe, sofern kein kommerzielles Interesse im Spiel ist Auch der zweite, von 53 Abgeordneten unterzeichnete Gesetzentwurf 55 vertrat das Festhalten an der Straffreiheit der Suizidbeihilfe und sah dabei nicht nur, wie der vorgenannte Entwurf, Straffreiheit für Ärzte, sondern auch für Vereine vor, sofern dieselben keine Erwerbsabsicht verfolgten. Kommerzielle Sterbehilfe hingegen sollte strafbar sein. Maßgeblich war für die Unterstützer dieses Entwurfs, den Suizid und die Beihilfe dazu von Kriminalisierung freizuhalten Gesetzesbegründung, BT Drs. 18/5374, 13. »Entwurf eines Gesetzes zur Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung«. BT Drs. 18/ 5375.
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und stattdessen dem Motto »mehr Fürsorge statt mehr Strafrecht« zu folgen. Der Entwurf sprach folgerichtig nicht von »Beihilfe«, sondern von »Zuwendung, Hilfe und Unterstützung« sterbewilliger Menschen in äußerst schwieriger Situation. Die Freiheit des Einzelnen, über sein Leben im Falle der Unerträglichkeit und Aussichtslosigkeit seines Leidens frei und selbstbestimmt zu entscheiden, sei normativ einzig von der Kommerzialisierung bedroht, während ein darüberhinausgehendes Verbot »etwa von ehrenamtlichen Vereinen …, vielen betroffenen und leidenden Menschen die Möglichkeit zu einem selbstbestimmten und würdevollen Tod« nehme. Die Hilfe bei der Selbsttötung, so der § 6 des Entwurfs, »kann eine ärztliche Aufgabe sein«, und dies unter der Bedingung des Respekts vor der Freiheit des Arztes, der nicht zur Hilfe verpflichtet werden könne. Religiöse Einwände gehören selbstverständlich respektiert, doch sei »das Strafrecht nicht der Ort …, Religion zum Maßstab für andere zu machen …«. Der Entwurf sprach vom Menschen als »Souverän seines eigenen Lebens«. Selbstbestimmt zu leben und selbstbestimmt zu sterben seien »ein Gebot der Menschenwürde«. 56
5.5 Gesetzentwurf III: Ausnahmsloses Verbot jeglicher Suizidbeihilfe Der dritte, von 35 Abgeordneten getragene Gesetzentwurf 57 schlug dagegen vor, das Thema strafrechtlich zu regeln und das Strafgesetzbuch durch einen neuen § 217 dahingehend zu ändern, dass jedwede Beihilfe zur Selbsttötung – ob von Anverwandten oder von Ärzten, ob angeboten, versucht oder durchgeführt – strafbar sei, desgl. das entsprechende Angebot von Sterbehilfevereinen, ob mit oder ohne Erwerbsabsicht: »Grundsätzlich ist Suizidassistenz verboten und nur in extremen Ausnahmefällen ist sie entschuldet«. Der Entwurf rückte die Suizidbeihilfe in die Nähe der Tötung auf Verlangen, indem er von »Gehilfen« sprach, die nicht nur »die Wertentscheidung des Suizidenten« billigen, sondern selber »den Tötungserfolg« anstreben würden. Ja, man müsse sich »vor allem damit auseinandersetzen, ob der Gehilfe nicht die eigentliche Tatherrschaft über das Geschehen BT Drs. 18 (Fn. 55), 15 f. »Entwurf eines Gesetzes über die Strafbarkeit der Teilnahme an einer Selbsttötung«. BT Drs. 5376.
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Das Suizidbeihilfegesetz von 2015 aus ethischer Sicht
hat«. Die Berufung vor Gericht, »nur Beihilfe geleistet zu haben«, sei kaum überprüfbar. Auch sah der Entwurf unter normativem Aspekt »hinter dem Begriff der Beihilfe zur Selbsttötung … ein gesellschaftsweit wachsendes Unwerturteil hinsichtlich bestimmter Formen menschlichen Lebens«. 58 Auch der Betroffene selbst dürfe sein eigenes Leben nicht als nicht mehr lebenswert bezeichnen. Der Entwurf erweiterte das bisher entscheidende Kriterium der Tatherrschaft, welches strafrechtlich die verbotene Tötung auf Verlangen (§ 218 StGB) von der bisher straflosen Suizidbeihilfe sicher unterscheiden half, durch Ausdehnung dieses Kriteriums auf den Helfenden, dem damit eine Tötungsabsicht und -handlung und somit Mittäterschaft zugeschrieben wurden. Ob dies begrifflich möglich und in der Sache zutreffend ist, muss bezweifelt werden. Einem Suizidwilligem beizustehen, heißt zwar einzusehen, dass dessen Leidenssituation aussichtslos ist, doch impliziert dies nicht notwendig, dass der Helfende für sich den Suizid bejaht, wohl aber die Hilfsnotwendigkeit für angezeigt hält. Im Kern begriff dieser Gesetzesentwurf den Suizidwilligen als wesentlich außerstande, seine Situation selber zu beurteilen, und betrachtete ihn stattdessen als fremdgesteuert durch ein angebliches gesellschaftliches »Unwerturteil« über seine Lebenssituation.
5.6 Gesetzentwurf IV. Neuer Straftatbestand: Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung. Das beschlossene Gesetz 59 Der 4., von den meisten Abgeordneten (210 Unterzeichner/Innen) getragene Gesetzentwurf, der in der Schlussabstimmung die Mehrheit des Parlamentes gefunden hat, sieht eine »Änderung des Strafgesetzbuches« 60 vor, dessen Grundlage ein neuer Straftatbestand, die »geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung«, bildet. 61 Danach bleibt zwar eine Suizidbeihilfe durch Angehörige und Nahestehende (Fn. 57), 3 f. BGBl I 2015 vom 9. 12. 2015, 2177. 60 »Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung zur Selbsttötung«. BT Drs. 18/5373. 61 § 217 StGB lautet: (1) »Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Als 58 59
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weiterhin straffrei, nicht hingegen eine »geschäftsmäßige«, d. h. »auf Wiederholung angelegte« Hilfe Dritter und vor allem eine »gewerbsmäßige«, d. h. mit ökonomischen Interessen verbundene Sterbehilfe. Zwar kenne »der freiheitliche Rechtsstaat keine allgemeine, erzwingbare Rechtspflicht zum Leben«, doch sei eine Korrektur »dort erforderlich, wo geschäftsmäßige Angebote die Suizidbeihilfe als normale Behandlungsoption erscheinen lassen und Menschen dazu verleiten können, sich das Leben zu nehmen«. Zur normativen Begründung wurde diesbezüglich auf den »Schutz der Selbstbestimmung und des Grundrechts auf Leben« verwiesen. Letzteres hat freilich seine Schwierigkeiten: Das Selbstbestimmungsrecht wird nicht durch die Straffreiheit der Suizidassistenz bedroht, sondern diese macht jene allererst möglich. Auch kann man nicht widerspruchsfrei anerkennen, dass es keine Rechtspflicht zum Leben gibt, und andererseits Suizidbeihilfe als Angriff auf das Grundrecht auf Leben deklarieren: beides ist und verbleibt beim Suizidenten, sofern er in freier Selbstbestimmung über sein eigenes Leben verfügt. Normativ unklar ist sodann die Verwendung des Terminus »geschäftsmäßig«, der mit der Wiederholung einer Suizidbeihilfe und damit der angeblichen »Förderung der Selbsttötung« (§ 217) gleichgesetzt wird. Sodann: Hinsichtlich der für die Frage der Zulässigkeit der Suizidbeihilfe zweifellos wichtigen Sicherung der Freiheit des Suizidenten drehte der letztgenannte Gesetzentwurf die Beweislast um: Nicht die Umwelt muss beweisen, dass der Suizidwillige in seiner Entscheidung nicht frei ist, sondern der Suizidwillige muss seine Freiheit unter Beweis stellen. Schließlich sieht der Entwurf in der von ihm verbotenen »Geschäftsmäßigkeit« eine Nähe zur Kommerzialisierung, da beidem ein »Eigeninteresse der Suizidhelferinnen und -helfer an der Durchführung der Selbsttötung« gemeinsam sei. Dasselbe könne sich darin zeigen, »die eigene Dienstleistung möglichst häufig und effektiv zu erbringen.« 62 Der Entwurf stellt damit faktisch nur den einmaligen Suizidbeistand Dritter mit Sicherheit straffrei; jede weitere Suizidbeihilfe, außer seitens Nahestehender oder Familienmitglieder, fällt unter den Verdacht strafbewehrter Geschäftsmäßigkeit. Das jedoch schränkt insbesondere ärztliches Handeln unverhältnisTeilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Abs. 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht«. 62 BT Drs. 18/5373 (Fn. 60), 8.
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Das Suizidbeihilfegesetz von 2015 aus ethischer Sicht
mäßig ein: Ein Hausarzt, der nicht nur einmalig, sondern – unter Einhaltung strenger Bedingungen – wiederholt einem seiner Patienten in medizinisch aussichtsloser Situation aus Gewissensgründen beim Suizid beisteht oder über diese Möglichkeit mit ihm auch nur spricht, setzt sich der Strafverfolgung wegen Anbahnung oder Durchführung einer Straftat aus. Dieser 4. Gesetzesvorschlag fand nach intensiver Debatte aller vier Gesetzesvorschläge die erforderliche parlamentarische Mehrheit des Bundestages. 63
5.7 Zu den normativen Grundlagen der vier Gesetzesentwürfe Hinsichtlich der normativen Grundlagen der vier Gesetzentwürfe zeigen sich bei einer Gegenüberstellung von uneingeschränktem Zugang zum Suizid einerseits und durch Verbot geschäftsmäßiger Beihilfe nur eingeschränktem Zugang andererseits die folgenden Asymmetrien: (1) Der Gesetzgeber respektiert die Entscheidung eines Menschen, seinem von ihm als unerträglich empfundenen Leben ein Ende zu setzen oder eben dies nicht zu tun, während ein eingeschränkter Zugang dem Einzelnen diese Entscheidungsmöglichkeit nimmt. Gerade angesichts der gestiegenen und weiter steigenden Möglichkeiten der Medizin, in ein zu Ende gehendes menschliches Leben – nicht selten durch Übertherapie – einzugreifen, gilt es jedoch aus ethischer Sicht, die Freiheit des Einzelnen zu sichern, nicht nur von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen oder nicht, sondern sich im letzteren Fall vor einer unerträglichen vita minima durch Suizid zu schützen bzw. sich ggf. mit Hilfe Dritter von ihr zu befreien. (2) Hinsichtlich der Frage der Suizidassistenz zeigt sich deutlich eine weitere Asymmetrie: Eine Einschränkung der Hilfe von dritter Seite schränkt die Inanspruchnahme der Freiheit der Selbstbestimmung des Einzelnen nicht unerheblich ein, während generelle Straffreiheit der Suizidhilfe dem Einzelnen die Freiheit der Gewissensentscheidung lässt. Denn stellt der Staat Suizidassistenz unter strengen Bedingungen straffrei, muss deshalb niemand Suizidbeihilfe leisten: Dann ist sowohl derjenige frei, BT-Plenarprotokoll 18/134, S. 13101. Das Gesetz wurde am 9. 12. 2015 im Bundesgesetzblatt verkündet (BGBl I S. 2177).
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der das ablehnt, als auch derjenige frei, der das unter bestimmten Umständen für moralisch rechtfertigungsfähig hält. (3) Der Gesetzgeber stellt die Entscheidung zur Suizidbeihilfe dem Gewissen des Helfenden anheim; ein generelles Verbot erlaubt eben diesen Rekurs auf Gewissensfreiheit nicht. (4) Der Gesetzgeber unterstellt nicht dem Suizidhelfer eigene und damit den Suizidenten fremdbestimmende Interessen, im Unterschied zum generellen Verbot der Suizidassistenz. (5) Der Gesetzgeber respektiert nicht nur die Autonomie und das Selbstbestimmungsrecht des Suizidenten, sondern auch dasjenige des Helfers, einschließlich dasjenige von Ärzten und Pflegekräften, während ein Verbot »geschäftsmäßig angebotener« Suizidassistenz den Ärzten keine rechtliche Möglichkeit einräumt, auch bei schwerstem, nicht mehr therapiezugänglichem Leid aus Gewissensgründen an der Seite ihres Patienten zu bleiben, der sein als unerträglich empfundenes Leiden beenden möchte.
5.8 Das beschlossene Gesetz als Kompromiss? Angesichts der genannten Asymmetrien fand sich der Gesetzgeber aus ethischer Sicht, speziell unter Autonomiegesichtspunkten, mit der Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Kompromisses konfrontiert, der in seinem Kern darin bestand, Selbstbestimmungsrecht und Entscheidungsfreiheit der Bürger auch in Fragen der Lebensbeendigung mit dem Respekt vor der Freiheit und Nichtinstrumentalisierbarkeit der Mitwelt, vor allem der Ärzte, zu vereinbaren. Dabei wäre es normativ letztlich darum gegangen, die Freiheit des Einzelnen unter gleichzeitiger Sicherung der Freiheit seiner Mitmenschen zu schützen und zu unterstützen und speziell Ärzten, die einem schwerstleidenden Patienten, der in freier Entscheidung von seinem Recht auf Beendigung dieser Art von Leben Gebrauch machen möchte, die Gewissensentscheidung zur Suizidbeihilfe zu ermöglichen und ihnen die bisherige Unsicherheit in Bezug auf staatsanwaltliche Verfolgung und berufsrechtliche Konsequenzen zu nehmen. Dieser Zielsetzung entsprachen denn auch die beiden Gesetzentwürfe I und II. Nicht so hingegen die beiden Gesetzesentwürfe III und IV. In ihnen fehlte die Einsicht, dass das Parlament ethisch gesehen wie so oft vor der nicht leichten Aufgabe stand, durch Gesetz einen Aus258 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Das Suizidbeihilfegesetz von 2015 aus ethischer Sicht
gleich zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung herzustellen. Diese ganz auf die Tradition der neuzeitlichen Aufklärung zurückgehende verfassungsmäßige und demokratische Grundposition, wonach der Staat sein Gewaltmonopol dazu einsetzen muss, die Freiheitsrechte des Einzelnen zu sichern und zugleich eine mögliche Verletzung der Freiheitsrechte seiner Mitmenschen zu verhindern, war in den Gesetzentwürfen III und IV nicht präsent. Dass Suizidbeihilfe unter bestimmten Voraussetzungen in Deutschland seit eineinhalb Jahrhunderten straffrei gewesen ist, ohne damit zu einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit gemacht worden zu sein, schien kein Gewicht gehabt zu haben. Auch findet sich der Gedanke, dass, wenn man Suizidbeihilfe unter strengen Voraussetzungen leisten darf, aber – insbesondere als Arzt – niemals leisten muss, sowohl die Freiheit derjenigen respektiert wird, die ihrem Gewissen folgend Suizidbeihilfe leisten, als auch derjenigen, die dieses Verfahren als unzulässig betrachten, in den beiden Gesetzesbegründungen nicht. Dass der Respekt vor der Freiheit und der Autonomie des Bürgers zu den Grundlagen der Verfassung gehört, ist weder in den beiden Gesetzesvorschlägen III und IV noch in den entsprechenden Gesetzesbegründungen von besonderer Bedeutung. Stattdessen stand im Hintergrund für die Mehrheit des Parlamentes erkennbar die Befürchtung, eine vollständige Straflosigkeit der Suizidassistenz würde (1) der Akzeptanz eines gesellschaftlichen »Unwerturteils« über bestimmte Daseinsweisen des Menschen wie besonders schwierige Sterbeprozesse gleichkommen, (2) durch eine Option auf Suizidassistenz gesellschaftlichen Druck insbesondere auf Ältere und Kranke ausüben, davon Gebrauch machen zu sollen oder gar zu müssen, und schließlich (3) den Schutz des Lebens und der Autonomie des Menschen einer zwangsläufigen Erosion aussetzen. Was die Befürchtung des »Unwerturteils« angeht, so darf freilich nicht übersehen werden, dass eine infolge von Therapieunzugänglichkeit und – wenn auch nur in seltenen Fällen – nicht hinreichend gelingender Palliation aussichtslose und unerträgliche vita minima wohl kaum unter »Unwerturteil« zu rechnen ist, und dass, wenn schon von »Unwerturteilen« die Rede ist, ausschließlich der Sterbende selbst die entsprechende Urteilskompetenz dazu besitzt. Ernster wird man den zweitgenannten Einwand nehmen, wonach vollständige Straffreiheit der Suizidassistenz als Druckmittel von Dritter Seite missbraucht werden könnte, einen Sterbenden 259 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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zum Suizid zu drängen. Nun ist die Möglichkeit des Missbrauchs nicht schon eo ipso ein Gegenargument; im vorliegenden Fall geht es um die Situation eines Sterbenden, dem die Mitwelt in einer von ihm selbst als unerträglich bezeichneten Situation außer einer palliativen Sedierung nichts mehr anbieten kann. Entscheidend sind Feststellung und Sicherung der Freiheit des Suizidenten durch die von ihm gebetenen Helfer, die andernfalls der Möglichkeit einer staatsanwaltlichen Prüfung ausgesetzt sind. Der dritte Einwand berührt ein ethisches Grundproblem, die Frage nämlich nach der Beziehung zwischen Lebensschutz und Autonomie: Ob der Mensch den Schutz seines Lebens ggf. seiner Autonomie unterordnen darf, hat sich, wie oben dargelegt, als eine Frage des Maßes der Leidensfähigkeit des Betreffenden erwiesen, dergestalt, dass auch wenn die Situation seine Kräfte übersteigt, seine Autonomie die Oberhand behält.
5.9 Das Ergebnis aus ethischer Sicht: Ausblendung des ärztlichen Gewissens Zu Recht hat der Gesetzgeber im Suizidbeihilfegesetz von 2015 die kommerzielle Sterbehilfe unter Strafe gestellt, zu Unrecht jedoch zugleich das autonomiebasierte Selbstbestimmungsrecht sowohl des unheilbar Kranken als auch des ihm beistehenden Arztes eingeschränkt. Denn das neue Gesetz engt die bisherige Straffreiheit der Beihilfe zum Suizid dahingehend ein, dass dieselbe seitens nichtverwandter Dritter nur dann straffrei bleibt, wenn es sich nicht um eine »geschäftsmäßige«, d. h. »auf Wiederholung angelegte« Tat handelt. Ansonsten gilt für nichtverwandte oder nicht nahestehende Dritte in jedem Fall Strafbarkeit. Das schränkt insbesondere ärztliches Handeln insofern unverhältnismäßig ein, als dem Arzt damit die Möglichkeit genommen wird, bei Vorliegen strenger Bedingungen (unheilbare, nicht mehr therapiezugängliche, aber auch palliativ nicht mehr effektive, zum Tode führende Erkrankung eines volljährigen und entscheidungsfähigen Patienten, seine umfassende Beratung sowie eine Bestätigung der genannten Sachverhalte durch einen zweiten Arzt) seinen Patienten aus Gewissensgründen weiter beizustehen. Damit lässt der Gesetzgeber dem nach Art. 4 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Gewissen des Einzelnen und vor allem des Arztes keinen Raum. Stattdessen setzt er beide im Wieder260 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Das Suizidbeihilfegesetz von 2015 aus ethischer Sicht
holungsfall der Möglichkeit der Strafverfolgung wegen Anbahnung oder Durchführung einer Straftat aus – eine besonders verhängnisvolle Folge angesichts der gestiegenen und weiter steigenden Möglichkeiten der Medizin, in ein zu Ende gehendes menschliches Leben – oft durch Übertherapie – einzugreifen. Der neue § 2017 ist daher aus ethischer Sicht entsprechend zu ändern bzw. zu präzisieren auf Fälle, in denen Straffreiheit in solchen Fällen gewährleistet ist, in denen es weder medizinisch noch menschlich gelingt, den Schwerstkranken und Sterbenden zum Erdulden einer schweren Notlage zu bringen, von der er sagt, dass sie seine Kräfte entschieden überfordere. Was die ärztliche Garantenpflicht betrifft, so ist zu fragen, worin dieselbe im Falle eines voll entscheidungsfähigen Patienten mit medizinisch-ärztlich nicht (mehr) beherrschbarem Leiden besteht: in der bedauernden, doch hilflosen Hinnahme des Nichtvermeidbaren oder im Beistehen bis zum Tode? Bildet nicht gerade die ärztliche Garantenpflicht in der Situation auch palliativ nicht beherrschbaren Leidens bei Versagen aller Alternativen den ethischen Legitimationsgrund zum Beistand bei der freiwilligen Selbsttötung des dem Arzt anvertrauten und ihm vertrauenden Patienten? Was verstößt gegen das ärztliche Ethos des »niemals Schadens«: die bedauernde Hinnahme nicht beherrschbaren Leidens oder der Beistand beim Suizid im Falle des Vorliegens der genannten Voraussetzungen? In Ausnahmefällen erscheint eine Abwägung zwischen Garantenpflicht einerseits und Beistandspflicht andererseits zugunsten Letzterer ethisch zwingend. Denn die Folgen dürften, wie gesagt, gravierend sein: Neben die Einschränkung der ärztlichen Berufsfreiheit tritt die Frage einer Behinderung der Freiheit ärztlicher Gewissensentscheidung, das Problem der Vertretbarkeit des mutmaßlichen Ausweichens von Patienten ins Ausland und last but not least, die Hinnahme eines laienhaften Suizids. Hinsichtlich der ärztlichen Garantenpflicht verdient ein Urteil des BGH vom 3. 7. 2019 Beachtung, 64 das zwei LG-Urteile 65 gegen Ärzte bestätigte, die Suizidassistenz geübt hatten und frei gesprochen wurden, weil
5 StR 1 32/18. LG Hamburg, Urteil vom 8. 11. 17 – AZ: 619 KLs 7/16, und LG Berlin, Urteil vom 8. 3. 18 – AZ: 502 KLs 234 Js 339/13 (1/17).
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die alleinige Tatherrschaft erwiesenermaßen bei den Suizidenten lag und • die Freiheit ihrer Entscheidung ärztlich dokumentiert war. Nach Eintritt der Bewusstlosigkeit habe ärztlicherseits keine Rettungspflicht bestanden, weil es keinen Anhaltspunkt für eine Willensänderung seitens der Suizidenten gegeben habe und »die freiverantwortliche Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Suizidenten … eine Pflicht des Arztes zur Lebensrettung entfallen« gelassen habe. Da die Suizide sich als »Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Sterbewilligen« erwiesen hatten, »waren Rettungsmaßnahmen entgegen deren Willen nicht geboten«. Im Urteil des BGH wurde am Schluss darauf hingewiesen, dass die durch das Sterbehilfegesetz von 2015 neu eingeführte Strafrechtsbestimmung, wonach »Geschäftsmäßigkeit« bei der Suizidassistenz unter Strafe steht, wegen des Rückwirkungsverbots nicht zur Anwendung kommen konnte. 66 Aus ethischer Sicht lässt sich festhalten, dass zumindest für die Rechtsprechung das Selbstbestimmungsrecht des Menschen auch den Suizid einschließt, sofern Freiwilligkeit vorliegt und auch im Prozess des Sterbens keine Hinweise für eine Willensänderung des Suizidenten gegeben sind und damit keine Rettungspflicht für den Arzt oder andere Umstehende besteht. •
Fassen wir zusammen: 1. Ethisch beruht das Recht des Einzelnen auf ein menschenwürdiges Sterben auf der Fundamentalnorm des Respekts vor seiner Freiheit und Autonomie. Zugleich steht dieses Recht freilich unter dem Vorbehalt des Respekts vor der Freiheit und Autonomie der Mitmenschen. 2. Sind Freiheitsrecht und Autonomie der Mitmenschen respektiert, haben sie das Recht und ggf. die Pflicht, dem Sterbenden beizustehen, und hat der Sterbende das Recht, dies zu erwarten, allerdings nicht das Recht, dies zu fordern. 3. Die inhaltliche Ausfüllung der Vorstellung des Respekts vor der Menschenwürde bzw. vor einem menschenwürdigen Sterben liegt und bleibt ausschließlich beim Sterbenden selbst. Alles andere wäre Fremdbestimmung, die es mit allen Mitteln vom Sterbenden fernzuhalten gilt. Vgl. das soeben (26. 02. 2020) erfolgte Urteil des BVerfG. Näheres siehe das Postskript unter Nr. 7.
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Exkurs über das Gewissen
4. Unbedingten Respekt verdient, wer aus dem Glauben heraus den Suizid selbst bei nicht beherrschbarem Leiden ablehnt. Doch da der Glaube ein Glück oder eine Gnade ist, welche nicht jedem gegeben sind, lässt sich eine derartige Suizidablehnung nicht für jedermann verbindlich erklären, ganz abgesehen davon, dass Gesetz und Gesetzgeber aufgrund des Neutralitätsgebots 67 nicht die Aufgabe haben, bestimmte Weltanschauungen als für alle für verbindlich zu erklären, sondern der Pflicht genügen müssen, die Freiheit der Bürger, diesbezüglich eigene Entscheidungen zu treffen, zu schützen und zu sichern. So sind denn seit einiger Zeit mehrere Klagen zum Verbot der »geschäftsmäßigen« Sterbehilfe beim Bundesverfassungsgericht zum § 2017 StGB anhängig, die das BVerfG seit Jahresfrist (16. 04. 2019) verhandelt. Im Mittelpunkt der zu klärenden Frage des BVerfG wird naturgemäß die Frage der Verfassungsgemäßheit des § 2017 StGB stehen, wobei es allem voran um den Schutz des autonomiebasierten Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechts sowie um Fragen des Gewissensschutzes nach Art. 4 Abs. 1 GG und der Berufsausübungsfreiheit gehen wird – und damit erkennbar auch um ethische Fundamentalnormen. Bevor wir auf die inzwischen erfolgte Entscheidung des obersten deutschen Gerichts näher eingehen, erscheint ein Blick auf die zentrale Bedeutung des Gewissens angezeigt, weil demselben das Suizidbeihilfegesetz von 2015 keine hinreichende Rolle zugewiesen und das Verfassungsgericht eben dies zu einem der beiden Hauptkritikpunkte gemacht hat.
6.
Exkurs über das Gewissen
Das Thema ›Gewissen‹ ist keineswegs auf religiöse Kontexte beschränkt, sondern durchzieht weite Bereiche des Rechts, der Politik, der Gesellschaft, der Wissenshaft und nicht zuletzt der Ethik. Dabei kann keiner der genannten Bereiche ein Gewissen besitzen, denn ein Gewissen haben setzt Subjektsein voraus, und Recht, Politik, Gesellschaft, Wissenschaft oder Ethik sind keine Subjekte, sondern Handlungsfelder, auf denen Subjekte mit Gewissen agieren. 68 Inhaltlich ist 67 68
Vgl. BVerfG 19, 206, 216. Das Folgende stellt die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Beitrags des Vf.s
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V · Über den Umgang des autonomen Menschen mit Sterben und Tod
der Begriff des Gewissens gleichwohl notorisch ungenau und überdies umstritten. 69 Die einen verstehen darunter ein untrügliches Gefühl, andere eine »innere Stimme« bzw. eine vorgängig warnende (»Das Gewissen schlägt«) oder nachträglich strafende Instanz (»Gewissensbisse«). Umstritten ist vor allem, ob das wie immer verstandene Gewissen eine Instanz über dem bestehenden Recht sein kann oder nicht. Nun existiert in der Tat eine Spannung zwischen dem Gewissen als Gesetz in mir und dem objektiven Gesetz. 70 Das Problem liegt darin, ob das, was der Einzelne – seinem Gewissen folgend – für geboten bzw. verboten hält, auch eo ipso objektiv geboten bzw. verboten ist. Zwei einander widerstreitende Antworten sind hierauf möglich und tatsächlich auch gegeben worden. Die eine lautet: Das subjektive Gewissen gilt nur bei Konformität mit dem objektiven Gesetz; die andere: Das subjektive Gewissen steht im Zweifel über dem Gesetz. Sieht man genauer hin, behauptet die erste Antwort zu wenig, die zweite zu viel. Zu wenig sagt, wer behauptet, das Gewissen gelte nur bei Übereinstimmung mit dem objektiven Gesetz. Tatsächlich ist das Gewissen Ausdruck der personalen Identität des Menschen und nicht allein eine Funktion von Gesetzen. Zu viel hingegen sagt, wer behauptet, das Gewissen stünde im Zweifel über dem Gesetz. Zwar kann der Einzelne sich unter bestimmten Umständen für sein Handeln auf einen »übergesetzlichen Notstand« berufen, doch meint »übergesetzlich« nicht einen gesetzesfreien Raum, sondern einen solchen, der – aus welchen Gründen auch immer – (noch) nicht geregelt ist. Das Gewissen ist mehr als nur ein subjektiv empfundener Drang, es ist ein an einer objektiven Ordnung sich orientierendes Sollen; ohne eine solche vorgegebene Ordnung kein Gewissen. Zugleich geht es um die »Freiheit des Sichverhaltenkönnens nach eigener innerer Überzeugung …«. 71 über »Medizin und Gewissen« im Rahmen einer Vortragsfolge der »Medizinischen Gesellschaft Mainz e.V« dar, hg. von Th. Junginger. Mainz 2008, 29–49. 69 Vgl. Höver, G. / Honnefelder, L. (Hg.): Der Streit um das Gewissen. Paderborn 1993; Schockenhoff, E.: Das umstrittene Gewissen. Eine theologische Grundlegung. Mainz 1990; Honnefelder, L.: Was soll ich tun? Wer will ich sein? Vernunft und Verantwortung, Gewissen und Schuld. Berlin 2007, bes. Kap. 2 u. 3. 70 Vgl. Isensee, J.: Gewissen im Recht – Gilt das allgemeine Gesetz nur nach Maßgabe des individuellen Gewissens? in: Höver, G. / Honnefelder, L. (Fn. 69), 41–61. 71 Schreiber, H. L.: Gewissen im Recht, in: Höver, G. / Honnefelder, L. (Fußnote 69), 30.
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Exkurs über das Gewissen
Sodann: Der Begriff ›Gewissen‹ enthält den Wortbestandteil ›Wissen‹. Letzteres hat in der Tat mit Ersterem zu tun, und dies in doppelter Hinsicht: Erstens bedarf das Gewissen der Kenntnis des Erlaubten und des Unerlaubten; zweitens ist dies nicht ohne Selbsterkenntnis möglich. Das Gewissen stellt insoweit eine besondere Weise von Wissen dar: Es ist ein Wissen um Normen und es ist ein Wissen des Subjekts von sich selbst. Was das Normative angeht, ist es ein Wissen, das nicht wie sonst ein Verfügungswissen, sondern ein Orientierungswissen darstellt. Denn über die Kenntnis des Erlaubten und des Unerlaubten hinaus liegt die Besonderheit des Gewissens, darauf aufmerksam zu machen, dass und warum Ersteres zu tun und Letzteres zu vermeiden ist. Hinzukommt als drittes Merkmal des Gewissens das Urteil, dass aus Pflicht Ersteres zu tun und Letzteres zu lassen ist. Ein Gewissen besitzen heißt insoweit, auf normativer Grundlage Urteile fällen zu können. Der Ausdruck »Gewissen« bezeichnet mithin, wie übrigens im Deutschen viele der mit Ge- beginnenden Ausdrücke (wie ›Ge-birge‹, ›Ge-meinschaft‹ oder ›Ge-witter‹ etc.), einen umfassenderen Zusammenhang. Ein solcher ist auch im lat. Äquivalent »conscientia«, wörtl. »das Mit-Wissen«, sowie im griech. Terminus ›syndéresis‹, von ›syneidénai‹ = wörtl. ›mit-wissen‹, präsent. Gewissen, so Thomas von Aquin, meint ein Zugleichwissen (»simul scire«): 72 Wann immer der Mensch etwas weiß, wird dieses Wissen von einem Mit-Wissen begleitet. Dasselbe macht das denkende und handelnde Individuum auf sich selbst und zugleich auf seine Pflichten aufmerksam. Es ist jedoch nicht nur das die Handlungen des Menschen begleitende Mit-Wissen, welches das Gewissen auszeichnet, sondern einer alten Tradition zufolge zugleich das Bewusstsein, dass es das menschliche Handeln leitende grundlegende Prinzipien gibt, 73 welche das Gewissen befähigen, »über die Moralität von Handlungen zu urteilen«. 74 Der Thomas von Aquin, De veritate 17, 1 ad 4. Thomas von Aquin: »Synderesis … est habitus naturalis primorum principiorum operabilium, quae sunt naturalia principia juris naturalis« – »das Gewissen … ist eine von Natur aus vorhandene Einstellung auf erste Prinzipien des Handelns, die natürliche Prinzipien des Naturrechts sind«. S. Theol. I, 79, 12 c; zit. nach: Reiners, H.: Art. ›Gewissen‹, in: Ritter, J. et al. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Sp. 574–592. Basel/Stuttgart 1974. 74 »conscientia est facultas iudicandi de moralitate actionum nostrorum« – »das Gewissen ist das Vermögen, die Moralität unserer Handlungen zu beurteilen«. Wolff, Chr.: Philosophia practica (1738), 417 f.; zit. nach Reiners, H. (Fn. 73), Sp. 586. 72 73
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V · Über den Umgang des autonomen Menschen mit Sterben und Tod
enge Zusammenhang zwischen Wissen und Gewissen macht dem Handelnden bewusst, dass er nicht nur als Rechtssubjekt, als Politiker, als gesellschaftlich engagierter Bürger, als Wissenschaftler oder als Ethiker agiert, sondern dabei von einem Bewusstsein moralischer Qualität der betreffenden Handlung begleitet wird. Im Unterschied zum Wissen, das entweder begründet oder unbegründet ist, ist das Gewissen entweder gut oder schlecht. Als, wie Kant sagt, »innerer Gerichtshof im Menschen« 75 zeichnet sich das Gewissen durch eine doppelte Funktion aus: Es macht das handelnde Subjekt auf sich selbst und zugleich auf seine Verpflichtung gegenüber sich und anderen aufmerksam. Das Gewissen, so Kant des Weiteren, »ist ein Bewusstsein, das für sich selbst Pflicht ist«: »Jeder Mensch, als sittliches Wesen, hat ein solches ursprünglich in sich«. 76 Voraussetzung ist, dass das Gewissen in seiner Entscheidung frei ist; eben dies zieht aber auch die Pflicht zur Verantwortungsübernahme nach sich. Gewissensbildung und Gewissensbindung sind insofern voneinander nicht zu trennen.
6.1 Das Gewissen und die Gefahr der Anonymisierung der Wissensträgerschaft Wie das Wissen ist auch das Gewissen der Möglichkeit des Irrtums ausgesetzt. 77 Deshalb bedarf es wie das Wissen der Orientierung. Wenn sich nun, wie oben in Kap. II dargelegt, die Wissensträgerschaft vom einzelnen Subjekt seit geraumer Zeit zunehmend auf die anonyme Wissensgesellschaft verlagert, dem Wissen mithin das individuelle Subjekt verloren zu gehen begonnen hat, droht auch die Bindung des Gewissens an das individuelle Subjekt abhanden zu kommen. Hiervor kann das oben in Kap. II dargelegte sog. Orientierungswissen infolge seiner reflexiven Struktur bewahren und dem Gewissen das Subjekt als seinen Träger sichern. Denn beide, Gewissen wie Orientierungswissen, besitzen untrennbar einen Rückbezug auf das eigene Selbst des handelnden Subjekts: Man orientiert sich, »Das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen (vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen) ist das Gewissen«. Kant, I.: Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil: Tugendlehre § 13. 76 Kant, I. (Fn. 75), Einleitung XII b; AA III, 242 f. 77 Vgl. Peirce, Ch. S.: Pragmatism (1905); dt.: Was heißt Pragmatismus?, in: Texte der Philosophie des Pragmatismus, hg. v. E. Martens. Stuttgart 1975, 99–127. 75
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Exkurs über das Gewissen
das Gewissen ruft dem Handelnden die Verpflichtung auf das Gute und die Vermeidung des Schlechten ins Bewusstsein. Tritt jedoch in der Wissenschaftsgesellschaft an die Stelle des individuellen Subjekts zunehmend das anonyme Kollektiv, verliert das Gewissen seine angestammte Funktion, denn anonyme Kollektive besitzen kein Gewissen. Folge: Auf das von den Wissenschaften produzierte Verfügungswissen und seine Verwendung vermag der Einzelne nicht mehr gewissenhaft zu reagieren; er hört auf, als »Träger universaler Orientierungen und Werte« 78 mitagieren zu können. Verschwindet das wissende Subjekt gar in der Wissensgesellschaft im anonymen Kollektiv, geht auch das Gewissen unter. Einrichtungen wie Krankenhäuser, Unikliniken, Arztpraxen etc. haben kein Gewissen: Sie können, wie gesagt, deswegen keines haben, weil sie keine Subjekte sind. Subjekte hingegen orientieren sich zweifach: an der Vernunft und am Verantwortungsbewusstsein. Vernunft verstanden als die allen Menschen gemeinsame Fähigkeit, das eigene, als rational bezeichnete Verhalten als ein solches ausweisen zu können, das sich mit Erfolg der Verallgemeinerbarkeitsforderung stellen kann. Kant hat dies in seinem »kategorischen Imperativ« richtungweisend formuliert: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«. 79 Das Gewissen ist vernünftig dann, wenn es sich an objektiven, verallgemeinerungsfähigen Maßstäben orientiert, und es impliziert Verantwortung dann, wenn es seinen Träger auf seine unumgänglichen Pflichten aufmerksam macht. Zu Letzterem ein kurzes Wort: 6.1.1 Verantwortung Der Begriff der ›Verantwortung‹ stellt einen mehrstelligen Prädikator dar: Jemand trägt (1.) vor jemandem oder einer Institution die Verantwortung (2.) für jemanden oder für etwas, und zwar (3.) wegen etwas (4.) in Bezug auf etwas. 80 So tragen Eltern Verantwortung vor der Gesellschaft für ihre Kinder aufgrund ihrer besonderen Pflicht Mittelstraß, J.: Wissenschaft als Lebensform. Frankfurt/M. 1982, 8. Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, III. AA IV, 421. 80 L. Honnefelder spricht (unter Hinweis auf Werner, M.: Art. ›Verantwortung‹, Handbuch Ethik. Stuttgart (2. Aufl.) 2006, 541 f. sowie Höffe, O.: Begriff ›Verantwortung‹, in ders.: Moral als Preis der Moderne. Frankfurt/M. 1993, 23) von einer »vierstelligen Relation« und unterscheidet (1) jemanden, der (2) für etwas, (3) vor jemandem und (4) unter bestimmten Bewertungskriterien Verantwortung trägt. Vgl. 78 79
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V · Über den Umgang des autonomen Menschen mit Sterben und Tod
hinsichtlich des Kindeswohls. Verantwortungsinstanz, Verantwortungsbezug, Verantwortungsgrund und Verantwortungsziel sind die vier – voneinander zwar zu unterscheidenden, aber nicht zu trennenden – Seiten des Verantwortungsbegriffs. Dem entspricht eine vierfache Struktur des Gewissens: Es stellt (1.) eine Verpflichtungsinstanz dar, vor der das Subjekt sich verantworten muss, (2.) einen Verpflichtungsbezug, nämlich einen Handlungs- bzw. Unterlassensauftrag, (3.) einen Bindungsgrund, welcher die normative Forderung betrifft, der es zu folgen hat, und schließlich (4.) ein Verpflichtungsziel, woraufhin der Handelnde sein Handeln ausrichten muss. Verantwortung und Gewissen sind untrennbar miteinander verbunden: Ein Gewissen, das nicht zur Verantwortung aufruft, verdient seinen Namen nicht. Umgekehrt gilt: Verantwortung steht ohne Gewissen auf einem schwankenden Fundament. Um im Handeln sicher zu sein, muss Verantwortung dem handelnden Subjekt aufgetragen sein; Auftraggeber ist das Gewissen. 6.1.2 Vernunft und Wille Zwecks Verwirklichung der genannten vierfachen Struktur bedarf das Gewissen der Beratung durch die Vernunft und der Steuerung durch den Willen. Die menschliche Vernunft ist die Verpflichtungsinstanz, vor der das handelnde Subjekt sich verantworten muss, der menschliche Wille ist der Auftraggeber, ethische Normen sind der Auftragsgrund und die Herbeiführung des für den Menschen Guten das Auftragsziel. Im Hinblick auf das Gewissen bedeutet dies: Es muss sich bilden, es muss sich entscheiden, es muss seine Gründe haben und es muss das für den (Mit-)Menschen Gute als zu erstreben und das Abträgliche als zu vermeiden hinstellen. Hierzu im Einzelnen: (1) Gewissensbildung: Die Bildung des Gewissens muss aufgrund und im Rahmen der bereits genannten reflexiven Struktur erfolgen: Das Gewissen ist seinem Wesen nach, wie gesagt, Selbstbezug, genauer: Rückbezug des Gewissensträgers auf sein eigenes Selbst. Es ist dieser Rückbezug, durch welchen das wissende und handelnde Subjekt sich selbst als solches wahrnimmt. Diese Selbstwahrnehmung stellt sich nicht gleichsam automatisch ein: Honnefelder, L.: Was soll ich tun? Wer will ich sein? Vernunft und Verantwortung, Gewissen und Schuld. Berlin 2007, 40, Anm. 15.
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Exkurs über das Gewissen
Sie muss bewusst vorgenommen und immer aufs Neue überprüft werden. Gewissensbildung ist das A und O menschlicher Verantwortungsübernahme. (2) Entscheidungswille: Das Gewissen sagt nicht nur, was zu tun und was zu lassen ist, sondern darüber hinaus, dass das eine wie das andere auch zu wollen ist. Zwar orientiert sich das Gewissen an Vernunftgründen; gleichwohl ist damit erst die notwendige, keineswegs schon die hinreichende Bedingung moralisch anspruchsvollen und verantwortlichen Tuns erfüllt. Dieselbe liegt erst vor, wenn der Handelnde das ihm gewissensmäßig von der Vernunft Vorgeschriebene auch wirklich will. Dies wird deutlich an der gegenwärtigen Diskussion, ob der menschliche Wille zwischen Vernunftbestimmtheit einerseits und Naturkausalität andererseits einen eigenen Status der Indeterminiertheit besitzt. Dabei lautet die Frage genaugenommen nicht: Gibt es den freien Willen?, sondern: Kann der Wille als Bedingung der Möglichkeit moralischer Zurechenbarkeit von Handlungen und Unterlassungen der Entscheidungsfreiheit des Subjekts zugeschrieben werden oder steht er unter dem Diktat des Intellekts auf der einen oder der Natur auf der anderen Seite? Dies ist wichtig im Blick auf die Frage nach der moralischen Zurechenbarkeit (lat. imputibilitas) individuellen menschlichen Handelns. Die These vom Vernunftzwang ließe der Freiheit keinen Raum, die Proklamation der Vormundschaft des Willens über den Intellekt dagegen würde Handlungen bzw. Handlungsentscheidungen rationaler Zugänglichkeit und Überprüfung unzugänglich machen. Wenn das Gewissen, so der Sprachgebrauch, »schlägt«, gilt es sich zu entscheiden. Der dazu erforderliche Wille muss frei sein. Nicht umsonst ist »Gewissensfreiheit« ein – jeglichem Gesetzesvorbehalt entzogener – tragender Wert der Internationalen Gemeinschaft 81 wie unserer Verfassung. »Freiheit der Gewissensentscheidung« impliziert Unzugänglichkeit der Entscheidung für eine richterliche Beurteilung, wie öffentliche Diskussion und höchstrichterliche 82 Entscheidung beispielsweise in der Frage der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen 83
81 82 83
Allg. Erklärung der Menschenrechte vom 10. 12. 1948, Art. 18. Vgl. BVerfG 12, 45–61. BVerfG 28, 243; 48, 127.
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nach Art. IV, Abs. 3 GG und zum § 218 84 zeigen. Die Rolle des Gewissens müsste einer der zentral zu klärenden Punkte sein, wenn das BVerfG das Gesetz zum Verbot der Suizidassistenz einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterzieht. Dass das Gewissen nicht nur hinsichtlich seiner Bildung, sondern auch und besonders im Hinblick auf seine Entscheidung frei sein muss, bedeutet freilich nicht, dass der Einzelne sein Gewissen nach Belieben oder Opportunität »bilden« dürfte: Er ist bei der Gewissensbildung vielmehr gehalten, sich an allgemeiner Vernunft und humanen Grundwerten auszurichten. Der Schutz des Art. IV, Abs. 1 des Grundgesetzes soll dies ermöglichen. Das Gewissen des Menschen ist insofern alles andere als eine das Individuum isolierende Instanz: Es ist vielmehr eine die Menschen miteinander verbindende Pflicht. Mit Hilfe des Gewissens werden wir nicht nur unserer selbst, sondern auch unserer Verpflichtung für den anderen gewahr. (3) Gewissensbindung: Das Gewissen ist Bindung und Selbstbindung zugleich: Bindung an die vernunftbasierten und damit verallgemeinerungsfähigen Normen der Ermöglichung des »anthrôpinon agathón«, des für den Menschen Guten und der Verhinderung des ihm Abträglichen, und Selbstbindung im Sinne der Selbstverpflichtung aus Verantwortung. 85 Dies gilt auch dann, wenn sich das Gewissen in einem objektiven Irrtum befindet: 86 Auch dann ist es verbindlich, es sei denn, der objektive Irrtum ist leichtfertig herbeigeführt worden. (4) Zielsetzung: Die für das Gewissen maßgeblichen Normen der Ermöglichung und Mehrung des für den Menschen Guten und der Verhinderung des ihm Abträglichen stellen keinen Selbstzweck dar. Sie gründen vielmehr auf dem Respekt vor der grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Individuums. Der Mensch ist um seiner selbst zu achten; er darf niemals in toto genere und gegen seinen Willen fremder Zwecksetzung untergeordnet werden. Fassen wir das zu Begriff und theoretischem Hintergrund des Gewissens Dargelegte zusammen:
BVerfG 39, 48 aus 1975. Zur Frage der Normativität des Gewissens s. Honnefelder, L.: Vernunft und Gewissen. Gibt es eine philosophische Begründung für die Normativität des Gewissens?, in: Höver, G. / Honnefelder, L. (Hg) (Fn. 69), 113–121. 86 Vgl. Honnefelder, L. (2007) (Fn. 69), 48 f. 84 85
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Exkurs über das Gewissen
(1) Das Gewissen ist Ausdruck des von sich selbst und seinen Pflichten wissenden Subjekts, das sich gleichermaßen als gegeben und als sich selbst aufgegeben begreift. 87 (2) Das Gewissen ist ebenso wie das Wissen der Möglichkeit des Irrtums ausgesetzt; doch im Unterschied zu diesem ist jenes auch im Irrtum verbindlich, sofern sich der Gewissensträger bemüht hat, seine Verantwortung zu erkennen und anzuerkennen, und den Gewissensirrtum nicht bewusst oder fahrlässig herbeigeführt hat. (3) Um das Gewissen so gut es geht vor Irrtum zu schützen, bedarf es der Orientierung. Orientierungswissen ist der sicherste Garant für die Abwehr der Gefahr der Anonymisierung, der das Subjekt hinsichtlich seiner Wissensträgerschaft seit geraumer Zeit ausgesetzt ist und die die Quelle für Irrtümer ist. (4) In dem durch das Gewissen etablierten Selbstverhältnis legt das Individuum die Grundlage für seine autonomiebasierte Selbstbestimmung, welche ohne Gewissen nicht manifestierbar wäre. Die Bedeutung des Gewissens wird vor allem in den drei folgenden Kontexten deutlich: in der Beziehung zwischen Arzt und Patient (Gewissen versus Selbstbestimmung), in der Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Recht (Freiheit versus Pflicht) und im Problem des Zusammenhangs zwischen Individuum und Gesellschaft (individueller Anspruch versus gesellschaftliche Verantwortung). 6.2.
Ergebnis
Vorstehender Exkurs über das menschliche Gewissen erwies sich deswegen als notwendig, weil der Gesetzgeber im Suizidhilfeverbotsgesetz von 2015 das Gewissen und seine Rolle für den Helfenden, insbesondere für den Arzt, nahezu vollständig ausgeblendet hat. Das erscheint nicht nur angesichts des Art. 4 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich problematisch, sondern in besonderem Maße auch ethisch fragwürdig. Denn wie dargelegt ist das Gewissen des Menschen alles andere als eine das Individuum isolierende Instanz: Es ist vielmehr eine die Menschen miteinander verbindende Form der Verantwortung. Mit Hilfe des Gewissens wird der Einzelne nicht nur seiner selbst, sondern auch seiner Verpflichtung für den Mitmenschen gewahr. 87
Vgl. Honnefelder, L. (2007) (Fn. 69), 50.
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V · Über den Umgang des autonomen Menschen mit Sterben und Tod
Diese Gewissensverpflichtung ist stets einzelfallbezogen, niemals aber einzelfallbeschränkt. Wenn jemand, und das gilt gleichermaßen für den Arzt, einen dem Tode geweihten Suizidwilligen begleitet, der bei klarem Bewusstsein seine Situation für nicht mehr erträglich erklärt und für den es keine medizinische Hilfsmöglichkeit mehr gibt, aus Gewissensgründen nicht alleinzulassen vermag, dann treten in unserer Verfassung der Respekt vor dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht des Suizidwilligen und der Schutz des Gewissens des zur Hilfe Bereiten in den Vordergrund. Beide in der Verfassung verankerten Rechte sind ihrer Natur nach nicht auf Einmaligkeit ihrer Geltung beschränkbar, sondern gelten naturgemäß universal. Für den Einwand der »Geschäftsmäßigkeit« ist diesbezüglich kein Platz, schon gar nicht eine Grundlage für Strafwürdigkeit. Vielmehr ist der vom Gesetzgeber hier verwendete Begriff der »Geschäftsmäßigkeit« zumindest in ethischer Hinsicht geeignet, nicht nur den Respekt vor Autonomie und Selbstbestimmungsrecht des Individuums zu gefährden, sondern der fundamentalen Bedeutung des menschlichen Gewissens keinen Raum der Anerkennung zu lassen. Diesbezüglich gilt nur eine einzige Einschränkung: Auch hinsichtlich der Frage der Suizidassistenz gilt für den Suizidwilligen wie für den Helfer, dass keiner von beiden einen Anspruch auf das Gewissen des anderen hat. Weder darf der Suizidwillige Hilfe mit Verweis auf das Gewissen des Helfers einfordern noch darf der Helfer die Gewissensentscheidung des Suizidwilligen in irgendeiner Form – sei es positiv oder negativ – qualifizieren, geht es doch letztlich, wie es in der Begründung eines der vier Gesetzentwürfe hieß, nicht um »Beihilfe«, sondern um »Zuwendung, Hilfe und Unterstützung.« 88
7.
Postskript: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 02. 2020 aus ethischer Sicht
In seiner soeben erfolgten Entscheidung vom 26. 02. 2020 89 hat das oberste deutsche Gericht festgestellt, dass »das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) … als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben« S. oben 218 zum II. Gesetzesantrag. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. 02. 2020, AZ: 2 – BvR 2347/15, 2 BvR 2527/16, 2 BvR 2354/16, 2 BvR 1593/16, 2 BvR 1261/16, 2 BvR 651/16 – Rn. (1–343).
88 89
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Postskript: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 02. 2020
umfasse. Dieses Recht schließe »die Freiheit (ein), sich das Leben zu nehmen« und umfasse auch »die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen«. Die Entscheidung hierzu sei »als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren«. Das Gericht spricht ausdrücklich vom »hohe(n) Rang, den die Verfassung der Autonomie und dem Leben beimisst«. Dennoch müsse sichergestellt sein, dass »im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt«. Der § 217 des »Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung« vom 3. 12. 2015, so das Urteil des Verfassungsgerichts weiter, verenge »die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem solchen Umfang, dass dem Einzelnen kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit« verbleibe. Damit stelle der § 217 eine »Verletzung des Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG« dar und sei insofern »mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig«. 90
7.1 Ethischer Hintergrund In ethischer Hinsicht zeigt sich im vorgenannten Urteil des BVerfG folgende normative Struktur: 1. An oberster Stelle steht der Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Beides betrifft nicht nur den Suizidwilligen, sondern auch seinen Helfer: Da derselbe genauso als autonom zu respektieren ist wie der Suizident, muss er in Freiheit entscheiden können, ob er Suizidbeihilfe leistet oder nicht. Hier zeigt sich erneut, dass Autonomie, wie dargelegt, keine den Einzelnen isolierende, sondern die Menschen miteinander verbindende Grundverfasstheit darstellt. Deshalb ist aus ethischer Sicht die Freiheit des Suizidenten mit der Freiheit seines Helfers untrennbar verbunden. 2. Zwar wird im Urteil des BVerfG auch die staatliche und gesellschaftliche Verpflichtung zum Schutz des Lebens hervorgehoben, doch ist in Bezug auf den Autonomierespekt von einem »Spannungsfeld unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte« die Rede, das sich im Fall der Inanspruchnahme des autonomiebasierten Rechts auf Selbsttötung »in Kollision zu der Pflicht des Staates, die 90
Alle Zitate ebda. (Fn. 89), S. 1–2/96.
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V · Über den Umgang des autonomen Menschen mit Sterben und Tod
Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen«, 91 zeige. Gleichwohl müsse die Rechtsordnung sicherstellen, dass das Recht auf die freiwillige eigene Lebensbeendigung erhalten bleibt. Eine Absolutsetzung des Lebensschutzes würde dem Recht auf die eigene Lebensbeendigung keinen Raum lassen. Im Konfliktfall muss die Norm ›Lebensschutz‹, wie dargelegt, dem Prinzip ›Autonomie‹ weichen. 3. Zum Fundamentalprinzip Autonomie und dem Recht auf Lebensschutz tritt der auch vom BVerfG genannte Schutz des Gewissens der einen Suizid Begleitenden, insbesondere der Ärzte. Es war ein zentrales Defizit des Suizidhilfegesetzes, dass es den Schutz des Gewissens und des Respekts vor ihm nicht in den Blick genommen hatte, obwohl dem Gewissen ein hoher verfassungsrechtlicher Rang zukommt. 4. Unterhalb der genannten Normen finden sich in der Urteilsbegründung des BVerfG drei wichtige Subnormen: Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit. 92 Unter der Voraussetzung der Freiheit der Handelnden ist ein Verbot, wie es das Suizidbeihilfegesetz im § 217 vorsah, weder erforderlich noch geeignet. Was die Beachtung der Verhältnismäßigkeit angeht, so scheitert dieselbe daran, dass das Gesetz dem Einzelnen praktisch den Zugang zur Suizidbeihilfe verwehrt hat. Zentraler Hintergrund ist der Respekt vor der Selbstgesetzlichkeit des Individuums, d. h. seiner Verfasstheit als autonomes Wesen.
7.2 Ethische Analyse 7.2.1 Autonomie und das Recht des Individuums auf Beendigung seines Lebens Mit überraschender Deutlichkeit hat das BVerfG hervorgehoben, dass menschliche Autonomie auch das Recht auf die eigene Lebensbeendigung einschließt. Und mehr noch: Es hat dieses Recht ausdrücklich als von einer gesundheitlichen oder anderweitigen Notsituation unabhängig bezeichnet. Nun trifft, wie oben diskutiert, 93 das Lebensbeendigungsrecht auf den (kantischen) logischen Widerspruch der 91 92 93
Ebda. (Fn. 89), S. 2/96. Vgl. Fn. 89, S. 51/96 ff. Siehe oben S. 238 ff.
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Postskript: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 02. 2020
Abschaffung der Autonomie unter Inanspruchnahme derselben und das (aristotelische) Argument der Verantwortungslosigkeit des Suizidenten gegenüber seinen sozialen Pflichten und auf das Argument von der psychischen Belastung der Mitwelt. Das Verfassungsgericht ist in seinem Urteil auf Schwierigkeiten dieser Art nicht eingegangen, sieht man von einer kurzen ablehnenden Bemerkung darauf ab, dass »das Recht, sich selbst zu töten, … nicht mit der Begründung verneint werden (könne), dass sich der Suizident seiner Würde begibt, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung und damit seine Subjektstellung aufgibt«. 94 Das Gericht sieht mithin keinen Widerspruch logischer Art, sondern im Gegenteil im Recht des autonomen Individuums, seinem Leben ein Ende zu machen, nachgerade einen Beleg für die Menschenwürde: »Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist … unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde«. 95 Diese Bemerkung des Verfassungsgerichts verdient insofern besondere Aufmerksamkeit, als hier ein enger Zusammenhang mit dem autonomiebasierten Selbsttötungsrecht und der Menschenwürde als untrennbar mit dem menschlichen Handlungssubjekt verbunden hergestellt wird. Mit dem vorliegenden Urteil setzt das oberste deutsche Gericht die Überzeugung der Aufklärung fort, dass entscheidend für die Frage des Umgangs des Bürgers mit seiner Endlichkeit Würde und Autonomie sind und dass eben beides die Menschen miteinander verbindet und in der Freiheit der Gewissensentscheidung der Begleitung des sterbenden Mitmenschen zum Ausdruck kommt. Dabei muss der Staat, wie sich im Folgenden zeigen wird, unter Beachtung des Neutralitätsgebotes die Freiheit des Glaubenden, der sein Leben in Gottes Hand weiß, ebenso schützen wie die Freiheit desjenigen, der hierzu keinen Zugang hat. 7.2.2 Suizidbegleitung und das religiöse und weltanschauliche Neutralitätsgebot des Staates Nur kurz kommt das religiöse und weltanschauliche Neutralitätsgebot des Staates im Urteil des BVerfG zur Sprache, und zwar im 94 95
Fn. 89, S. 56/96. Ebda.
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Zusammenhang mit dem Bericht über das Bedenken eines Beschwerdeführers, der Gesetzgeber habe mit Einführung des § 217 StGB »dem religiös oder ideologisch geprägten Glaubenssatz, dass das gottgegebene Leben der Disposition des Einzelnen entzogen sei, zu gesetzlicher Geltung verholfen, dadurch den moralischen Pluralismus innerhalb der Gesellschaft negiert und seine weltanschauliche Neutralitätspflicht verletzt«. 96 Nun beantworten sich die Fragen des Rechts auf Selbsttötung sowie der Berechtigung der Suizidbegleitung aus kirchlicher Sicht auf der Grundlage der Glaubensüberzeugung, dass der Mensch Gottes ist, d. h. sein Leben von Gott erhalten hat und deswegen darüber trotz seiner Autonomie nicht selber verfügen und folgerichtig Hilfe dazu weder anbieten noch in Anspruch nehmen darf. Insofern erscheint auch der Protest der beiden christlichen Kirchen 97 gegen die Entscheidung des BVG vom 26. 02. 20 in vollem Sinne nachvollziehbar. Doch ist dieser kirchliche Protest auch legitim? Zweifel daran ergeben sich angesichts der religiös bedingten Erwartung der beiden christlichen Kirchen, dass Staat und Gesetzgeber die Gotteskindschaft des Menschen für jedermann bindend schützen müssen. 98 Tatsache aber ist, dass der Staat gleichermaßen auch die Freiheit derjenigen Mitbürger zu schützen hat, denen der genannte religiöse Zugang fehlt. Damit der Staat beides tun kann, muss er selbst weltanschaulich und religiös neutral sein und bleiben. Hintergrund ist die seit der Aufklärung anzutreffende Überzeugung, dass der Mensch eigenen Rechts ist, d. h. sich seine Gesetze selbst gibt, dies freilich, wie oben in Kap. I dargelegt, unter Respektierung der Selbstgesetzlichkeit des Mitmenschen. Dem entspricht das seit der Aufklärung vorherrschende Staatsverständnis, wonach Ebda. Siehe die gemeinsame Erklärung des Ratsvorsitzenden der Ev. Kirche Deutschlands, des Bischofs Bedford-Strohm, und des seinerzeitigen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, des Kardinals R. Marx vom 28. 02. 2020, in der von der »Umwertung der Werte« die Rede ist, weil der »Schutz des Lebens … nicht mehr oberste Priorität« besitze; des Weiteren heißt es, das Sterbehilfegesetz von 2015 sollte »die Selbstbestimmung besonders verletzlicher Menschen schützen«. 98 Hinzu kommt die theologische Position menschlichen Leidens als Christusnachfolge. Gott habe den Menschen, so der Leiter des Kath. Büros Berlin, Prälat K. Jüsten, »damit deutlich gemacht, dass das Leid im Dasein des Menschen angelegt ist und dazugehört …«. Insofern sei »das Annehmen und Aushalten von Schmerzen für uns Menschen auch ein Weg der Christusnachfolge.« Prälat Jüsten spricht von den schwer Leidenden auch als »Lebensmüden«. Interview mit Radio Vatikan vom 26. 02. 20. 96 97
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Postskript: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 02. 2020
der Staat sowohl die Freiheit des Glaubens wie diejenige des Nichtglaubens gleichermaßen schützen muss. D. h.: Der Staat darf nicht zulassen, dass die Nichtglaubenden Rechte der Glaubenden einengen oder gar bestreiten noch dass die Glaubenden eben solches den Nichtglaubenden gegenüber tun. Verfassungsrechtlich ist dies unter den beiden Stichworten »Recht auf Religionsfreiheit« bzw. »weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates« bekannt. 99
7.3 Menschliches Gewissen und das Recht auf freiwillige Suizidbegleitung Bleibt die mehrfach vorgetragene Besorgnis, die vom höchsten deutschen Gericht für nichtig erklärte Gesetzgebung von 2015 erhöhe »den inneren und äußeren Druck auf Alte, Schwerkranke und Pflegebedürftige, … von der Option der geschäftsmäßigen Sterbehilfe Gebrauch zu machen, um keine Last für die Angehörigen zu sein.« 100 Für diese Vermutung fehlt es jedoch aus der Zeit der Straflosigkeit der Sterbehilfe (1871–2015) bisher an belastbaren empirischen Nachweisen über derartige Vorkommnisse, die für ein Suizidbeihilfeverbot ausreichen würden. Gleichwohl ist Wachsamkeit am Platz. So wird der Gesetzgeber bei Neubefassung mit der Materie Kontrollmechanismen einbeziehen müssen, die einen derartigen Missbrauch des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben, der die eigentliche Basis, nämlich die Freiheit des autonomen Menschen, zunichtemacht, verhindert. Das BVerfG hat keinen Zweifel daran gelassen, dass das Recht auf Selbsttötung und das Recht auf Hilfeleistung Dritter der Freiheit des Suizidenten wie des Helfers entspringt. Niemals darf der Suizident seitens Dritter zur Selbsttötung veranlasst oder gar gezwungen werden und unter keinen Umständen darf jemand gegen seinen Willen zum Beistand bei der Selbsttötung veranlasst werden. Beide Verbote entspringen ebenfalls dem unerlässlichen Respekt vor der Autonomie der Handelnden.
Art. 4 Abs. 1 GG lautet: »Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich«; vgl. Art. 7 Abs. 3 GG. 100 So Bischof Gebhard Fürst lt. SWR Aktuell vom 27. 02. 20. Nach Prälat Jüsten geht es um eine »Umwertung der Werte«, der Schutz des Lebens habe »nicht mehr oberste Priorität« (Fn. 98). 99
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V · Über den Umgang des autonomen Menschen mit Sterben und Tod
7.4 Fazit Auch die Kritiker des Urteils des BVerfG zum Suizidhilfegesetz werden ein Dreifaches feststellen müssen: (1) Mit seinem Urteil vom 26. 02. 20 betont das BVerfG, dass der Gesetzgeber die auf Autonomie und Selbstbestimmungsrecht gründende Freiheit des Menschen auf Beendigung seines Lebens nicht verunmöglichen darf. (2) Mit diesem Urteil erinnert das BVerfG an den seit der Aufklärung bekannten Grundsatz, dass der Staat sowohl den Glauben derjenigen zu schützen hat, die überzeugt sind, dass dem Menschen das Leben von Gott anvertraut ist und nicht zur Disposition des eigenen Willens steht, als auch die Freiheit derjenigen, die sich eigenen Rechts wissen und daher auch über ihr eigenes Leben entscheiden können. (3) Das BVerfG verhält sich gegenüber der Inanspruchnahme des Rechts auf die eigene Lebensbeendigung mithin neutral, es mahnt jedoch den Respekt vor der Freiheit des Einzelnen zum Suizid und den Respekt vor der Gewissensfreiheit des Mitmenschen zur Suizidbegleitung ebenso nachdrücklich an wie den Respekt vor dem Andersdenkenden. Auch aus ethischer Sicht hat das Bundesverfassungsgericht das Sterbehilfegesetz von 2015 zurecht als verfassungswidrig zurückgewiesen und dem autonomen Bürger die Freiheit der Entscheidung über sein Leben und dem Helfenden die Freiheit der Entscheidung zur Hilfe zurückgegeben. Wichtig ist nunmehr, die Freiheit beider zu sichern. Es geht um den unbedingten Respekt vor der Autonomie von Mensch und Mitmensch. Zu dieser Autonomie gehört auch der Respekt vor einer religiös fundierten Ablehnung von Suizid und Suizidbeihilfe, keinesfalls aber das Recht, dies auch auf diejenigen auszuweiten, denen das Glück oder die Gnade des Zugangs zum Gedanken der Gotteskindschaft des Menschen nicht gegeben ist. Auf den Gesetzgeber kommen damit nicht ganz leichte Aufgaben zu. Grundlage ist die Pflicht des Staates, menschliche Freiheit zu schützen, und zwar sowohl die Freiheit der weltanschaulich Gebundenen als auch die Freiheit der diesbezüglich Ungebundenen. Begründungspflichtig ist nicht die Freiheit des Bürgers, sondern deren mögliche Einschränkung seitens Staat und Gesetzgeber. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil über das Suizidbeihilfegesetz von 2015 mit vollem Recht die seit der Aufklä278 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Postskript: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 02. 2020
rung geltende Position wieder in das Bewusstsein aller gerückt, dass das menschliche Individuum seinen eigenen Lebensschutz dem Prinzip seiner Autonomie unterordnen kann und darf und dass der Staat eben diese Freiheit zu schützen und zugleich deren möglichen Missbrauch zu Lasten des Mitmenschen zu verhindern hat. Von einem »überhöhten Autonomiebegriff«, so die Kritik des (seinerzeitigen) Vorsitzenden des Ethikrates, des Theologen Peter Dabrock, 101 am Urteil des Verfassungsgerichts, kann schon aus Gründen der Logik dieses Begriffes, der keine Intensitätsgrade kennt, keine Rede sein. Die Selbstgesetzlichkeit des Menschen schließt notwendig das Recht der Verfügung über das eigene Leben ein – unter Respekt vor der Selbstgesetzlichkeit und dem entsprechenden Recht der Mitmenschen. Die Lebensschutzpflicht des Staates nach Art. 2 GG betrifft die Abwehr jedweder Lebensbedrohung durch Dritte, nicht jedoch die Einschränkung des Respekts vor der Reichweite der Autonomie des Individuums. Den Respekt vor der Autonomie und den Schutz des Gewissens des Bürgers wieder in den Mittelpunkt gerückt zu haben, ist somit aus ethischer Sicht der eigentliche Kern des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Suizidbeihilfe. Dass der Respekt vor der Autonomie des Menschen jedoch nicht nur auf der Individualebene zu wahren ist, sondern auch eine enorme Herausforderung auf der Kollektivebene darstellt, wird uns im folgenden Kapitel beschäftigen.
101 »Der Lebensschutz wiegt nichts«, so Dabrock weiter. »Die Waage neigt sich bis zum Anschlag in Richtung uneingeschränkter Autonomie«. M. Dobrinski, Interview mit P. Dabrock, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 49, S. 2 vom 28. 02. 20.
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Kapitel VI Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung im Gesundheitswesen mit besonderem Bezug zur Autonomie des Individuums. Teil I: Globalisierung und Ethik 1. Einführung 2. Klärung der Begriffe 2.1 Das Wortverständnis von ›Globalisierung‹ 2.2 Zum ›und‹ im Thema 2.3 Zur Vielfalt der Globalisierungsfelder 3. Normative Implikationen der Globalisierung und die daraus entstehenden ethischen Konflikte 3.1 Der Utilitarismus der Globalisierung 3.2 Das Risikoverlagerungsprinzip 3.3 Das Anonymisierungsprinzip 3.4 Das Prinzip der Arkanisierung von Strukturen 3.5 Das Kontrollflüchtigkeitsprinzip 3.6 Das Prinzip der Verkomplizierung 3.7 Das Prinzip der Verantwortungsfragmentierung 4. Ethik und Ökonomie – ein Fremdverhältnis? 4.1 Der Gedanke eines Weltethos 4.2 Ethik und Ökonomie: ein Außen- oder ein Innenverhältnis? 5. Schlussgedanke Teil II: Das Problem der Ökonomisierung im Gesundheitswesen 1. Zur Rationierungsdebatte im Gesundheitswesen 1.1 Problemstellung 1.2 Die Insuffizienz der Mittel für das Gesundheitswesen 2. Ökonomie und Ethik 2.1 Formale Verhältnisbestimmung 2.2 Notwendigkeit sowohl individual- wie kollektivethischer Analyse 281 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
3. 3.1 3.2 3.3 4. 4.1 4.2 4.3 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 6.
6.1 6.2 6.3 6.4 7. 7.1 7.2 8. 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 9. 9.1
Ärztliches Handeln unter Marktbedingungen? Individualethische Analyse Tabuisierung der Rationierungsdiskussion Die sog. diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG) als Rationierungsinstrument Die vierfache Problematik der Fallpauschalen Priorisierung als Lösung? Normative Grundlage von Priorisierungen Zur Bedeutung der Verantwortung des Patienten Die Norm der Gerechtigkeit Das Verhältnis Priorisierung – Rationierung Vorrangigkeit von Priorisierungen Priorisierungen nur auf der Makroebene Gegenstand von Priorisierungen sind niemals Patienten, sondern Handlungsziele Stärken und Schwächen von Priorisierungen Ergebnisse Ressourcengewinnung und -allokation im Gesundheitswesen aus kollektivethischer Sicht. Der Konflikt zwischen gesellschaftlicher Solidarität und individuellem Lebensschutz Zur Mittelaufbringung im Gesundheitswesen Mittelaufbringung auf der Makroebene Ver- und Zuteilung ökonomischer Ressourcen: die Meso- und die Mikroebene Tendenzielle Verlagerung der Mittelaufbringung von der solidarischen zur privatwirtschaftlichen Basis? Solidarität vor dem Hintergrund des modernen Individualismus Problemaufriss Hintergrund Mitleid Thema und Problem Mitleid als ›Sympathie‹ oder als ›Barmherzigkeit‹ ? Mitleid aus Schwäche oder aus Selbstsucht? Mitleid: Affekt oder Tugend? Mitleid als Akt der Vernunft? Mitleid aufgrund von Mit-Sein Solidarität Zum Begriff ›Solidarität‹ und seiner Geschichte
282 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
9.2 9.3 9.4 9.5 10.
Solidarität aufgrund von Mitleid oder qua Mit-Sein? Die Rolle des Individualismus Solidarität und Individualität Fazit Anwendung auf das in Deutschland gesplittete System von GKV und PKV 11. Fazit aus kollektivethischer Sicht 12. Ergebnisse
283 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
I. Globalisierung und Ethik 1.
Einführung
Die zuletzt diskutierten Gefahren einer Einschränkung des Respekts vor der Autonomie des Menschen finden sich nicht nur auf der individual-, sondern auch auf der kollektivethischen Ebene, und zwar infolge des wachsenden ökonomischen Drucks auf das Gesundheitswesen, der allenthalben sichtbar geworden ist: ›Priorisierung‹, ›Rationierung‹, ›Ausschluss von Kassenleistungen‹, DRG’s, Druck auf die Erhöhung von Operationszahlen etc. sind die leitenden Stichworte. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Ökonomisierung im Gesundheitswesen sich von außen nicht von der Globalisierung und von innen nicht von der Sicherung der Autonomie des Individuums trennen lässt. Dem will das folgende Kapitel im Einzelnen nachgehen, wobei es um drei Problemfelder geht, die es in den kritischen Blick zu nehmen gilt: • erstens die Rolle der Globalisierung und ihrer ethischen Implikationen, • zweitens das erklärungsbedürftige Verhältnis zwischen Rationierung und ärztlichem Ethos, und • drittens die Insuffizienz der Mittelaufbringung im Gesundheitswesen und die ethische Frage des Umgangs damit. Die vorgenannte Kapitelüberschrift könnte prima facie die Erwartung oder die Befürchtung hervorrufen, es ginge im Folgenden – nicht zuletzt angesichts der von der derzeitigen US-Administration ausgelösten Handelskriege, die sich immer deutlicher zur Krise der gesamten Weltwirtschaft auswirken – um eine moralische Verurteilung der Globalisierung. Hierzu bietet die vorliegende Themenstellung jedoch schon aus formalen Gründen keine Grundlage, stehen doch die beiden Begriffe ›Globalisierung‹ und ›Ethik‹ – dem Anschein nach ganz unproblematisch durch ein einfaches ›und‹ miteinander verbunden – keineswegs auf derselben kategorialen Ebene: ›Ethik‹ beschäftigt sich, wie bisher dargestellt, mit der Identifikation, der Analyse und den möglichen Konflikten von Normen, die für die Beurteilung moralischer Ansprüche menschlicher Handlungen einschlägig sind. ›Ethik‹ stellt mithin insofern wesentlich einen Analysebzw. Methodenbegriff dar. Anders der Terminus ›Globalisierung‹. Dieser erst seit etwas 284 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Zur Klärung der Begriffe
mehr als einem Vierteljahrhundert zunehmend gebräuchliche Terminus dient zuvorderst als Beschreibungsbegriff, mit dessen Hilfe weltweite Entwicklungen, seien dieselben technischer, seien sie völkerrechtlicher oder kultureller, seien sie umweltbezogener oder vor allem wirtschaftlicher Natur, namhaft gemacht werden. Während der Begriff ›Globalisierung‹ mithin vornehmlich deskriptiven Zwecken dient, besitzt der Terminus ›Ethik‹ in erster Linie normierende Funktionen. Ersterer fasst zusammen, was der Fall ist, letzterer legt dar, was normativ auf dem Spiel steht; ersterer ist insoweit synthetischer, letzterer analytischer Natur. Der Begriff der ›Globalisierung‹ ist seiner Natur nach stärker inhaltlich ausgerichtet, während derjenige der ›Ethik‹ eher formal orientiert ist. Ob man demnach die beiden Begriffe überhaupt so einfach durch die Kopula ›und‹ miteinander in Verbindung bringen kann, wie es die Überschrift dieses Beitrags suggeriert, bedarf allererst der Klärung. Im Folgenden soll dies in einem ersten Schritt geschehen. Sind die Voraussetzungen für die Möglichkeit vorliegender Themenstellung geklärt, sollen in einem zweiten Schritt die normativen Implikationen der Globalisierung herausgearbeitet werden. In einem dritten Schritt sollen diese normativen Implikationen hinsichtlich ihres möglichen ethischen Konfliktpotentials thematisiert werden. 1
2.
Zur Klärung der Begriffe
2.1 Das Wortverständnis von ›Globalisierung‹ ›Globalisierung‹ leitet sich wortgeschichtlich vom lateinischen Terminus globus her. Darin steckt das Verbum globare, welches wörtlich ›(sich) runden‹ und übertragen ›zusammenhäufen‹, ›in einen Haufen versammeln‹ bedeutet. 2 Globus ist der runde Körper, die Kugel und im übertragenen Sinne der Haufen, die Schar. Gelegentlich findet sich auch schon eine übertragene Bedeutung von globus im Sinne von »der einem bestimmten Zweck dienende Verein, der Club«, und da derartige Clubs stets eigene Ziele verfolgen, die nicht notwendig auch Überarbeitete Fassung eines Beitrags des Vf.s über »Globalisierung und Ethik«, in: Busche, H. (Hg.): Philosophische Aspekte der Globalisierung. Würzburg 2009, 35–54. 2 Georges, K.-E.: Ausführliches Lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Leipzig, 1879 u. ö., Bd. I, Spalte 2724/5. 1
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
der Allgemeinheit dienen, finden sich auch Hinweise auf die Bedeutung von globus als ›Clique‹. 3 Es lohnt sich, einen kurzen Blick auf einen Schwesterbegriff von ›globus‹, nämlich auf latein. ›mundus‹ zu werfen. ›Mundus‹ meint ›die Erde‹ ; ›mundus terrestris‹ ist das Erdenrund, im Unterschied zum Himmelskörper, dem ›mundus caelestis‹. Beide stellen, wenn auch in unterschiedlicher Weise, Vollkommenheiten (griechisch ›kósmoi‹) dar. Im Unterschied jedoch zu ›mundus‹, der Welt bzw. dem Himmelskörper als in sich und aus sich heraus strukturierter vollkommener Körper, meint ›globus‹ die von außen vorgenommene Anhäufung von etwas. Der in der frankophonen Welt statt Globalisierung gebräuchlichere Begriff der »mondialisation« verdeckt insofern – denkt man an seine Wortherkunft – genau dasjenige, was den ›Globus‹ vom ›Mundus‹ unterscheidet: nämlich, wie dargelegt, die fehlende innere Ordnung des ›Globus‹ im Unterschied zur natürlichen Ordnung des ›Mundus‹. Halten wir aus diesem kurzen lexikographischen Ausflug fest: Wortgeschichtlich bezeichnet ›Globalisierung‹ den Prozess der Anhäufung von etwas und nicht notwendig den Prozess der Ordnung oder gar der Vervollkommnung von etwas. Etwas ist ›global‹, heißt, es findet sich verstreut überall auf dem Globus. Dies heißt nicht mit Notwendigkeit, dass das überall-auf-dem-Globus-sich-Befinden aus sich heraus bereits etwas Einheitliches oder gar Geordnetes darstellt. Sodann: Die Ubiquität des Globalen stellt nicht nur und schon gar nicht in erster Linie ein geographisches Merkmal dar; vielmehr gibt dieser Terminus einen Prozess an: die Schrumpfung des Geographischen zugunsten einer neuartigen Form der Anhäufung von etwas. Ersteres ist vornehmlich Ausdruck der Wahl der Handelnden, letzteres Ergebnis der Absichten derselben. Die beiden Strukturmomente der Globalisierung, nämlich Schrumpfung und Anhäufung, die genau besehen die beiden Seiten ein und derselben Münze darstellen, treten in ganz unterschiedlichen Bereichen auf; etwa im Völkerrecht 4, in dem es darum geht, ein Maximum nationaler rechtlicher Vorstellungen zu einem Optimum an Georges, K.-E., a. a. O. Vgl. den Artikel »Globalisierung« von O. Kimmnich in: Ritter, J. et al. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1974, Bd. 3, Spalte 675–677. Der Artikel stellt die völkerrechtliche Bedeutung der Globalisierung heraus, nicht hingegen die wirtschaftliche. Der Terminus war zum Zeitpunkt dieses Artikels noch nicht in der heutigen Bedeutung etabliert.
3 4
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Zur Klärung der Begriffe
Gemeinsamkeit zu verdichten; oder in der Technik, welche weltweit verbreitet wird, ohne dass jeweils klar ist, ob die damit einhergehende Vereinheitlichung für die Menschen immer förderlich ist. Oder eben in der Wirtschaft, in der die Diffusion der Märkte bis in den hintersten Winkel der Welt einhergeht mit einer Regression der Berücksichtigung elementarer Interessen der Menschen. Wenn unter ›Globalisierung‹ heute üblicherweise der Prozess zunehmender internationaler Verflechtung in allen Bereichen (Wirtschaft, Politik, Recht, Kultur, Umwelt, Kommunikation etc.) verstanden wird, so sollte man im Lichte der skizzierten wortgeschichtlichen Herkunft dieses Begriffs auseinanderhalten, was im Begriff der »Verflechtung« beide Mal vorhanden ist: sowohl den Prozess der aktiven Vornahme des Verflechtens als auch das Ergebnis des Miteinander Verflochtenseins. Ersteres führt zur Frage nach den Akteuren, die derartige Verflechtungen vornehmen, Letzteres zur Frage nach den Betroffenen derartiger Verflechtungen. Soweit zur formalen Struktur des Begriffs der ›Globalisierung‹. Lässt sich mithilfe der ›Ethik‹ als Methode der Analyse normativer Zusammenhänge hierzu etwas Wichtiges beitragen?
2.2 Zum ›und‹ in der Überschrift Um es gleich vorweg zu sagen: Die beiden Termini ›Globalisierung‹ und ›Ethik‹ lassen sich nicht einfach durch ein ›und‹ miteinander verbinden. Dies deswegen nicht, weil Globalisierung, wie gezeigt, überwiegend einen deskriptiven Strukturbegriff darstellt, während ›Ethik‹ wesentlich ein normativer Methodenbegriff ist. Als Strukturbegriff meint ›Globalisierung‹ jedwede weltweite (»globale«) Verflechtung von etwas, die, wie dargelegt, die beiden Merkmale der Anhäufung von etwas und der Schrumpfung zu etwas aufweist. Die so geprägte jeweilige Struktur ist beschreibbar, und zwar mit empirischen Daten und in mathematisierten Parametern. Als solche ist sie nicht-normativ. Anders Ethik: Als Methodenbegriff ist sie auf die Analytik normativer Ansprüche hin angelegt. Soll das ›und‹ in der Überschrift legitimiert sein, so dann und nur dann, wenn die Verwendung des deskriptiven Strukturbegriffs ›Globalisierung‹ im konkreten Fall normative Hintergründe, Implikationen und/oder Konsequenzen enthält. Damit sind wir bei den inhaltlichen Verwendungen dieses Begriffs. 287 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
2.3 Zur Vielfalt der Globalisierungsfelder Was die inhaltliche Bedeutung des Terminus ›Globalisierung‹ angeht, so wurde dieser Begriff erstmals 1983 durch einen grundlegenden Aufsatz von Theodore Levitt mit dem Titel »The Globalisation of Markets«, die Globalisierung von Märkten, in die internationale Diskussion eingeführt. 5 Das Phänomen als solches hat es freilich schon zuvor gegeben. Hierfür in aller Kürze einige Belege: a) Globalisierung durch Technik Schon früh zeigte sich, was heute ›Globalisierung‹ heißt, im Bereich der Technik: Es ist die Technik, die seit ihren ersten Anfängen in der Neuzeit den Rhythmus des sogenannten Fortschritts bestimmt hat. Die Dampfmaschine des 18. Jahrhunderts etwa hat die menschliche Arbeitskraft um ein Vielfaches gesteigert, die Eisenbahnen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben die Mobilität von Menschen und die Verteilung von Waren erheblich erweitert, die atomare Technik des 20. Jahrhunderts hat u. a. den enormen Energiebedarf der Industrie zu decken geholfen, und die Entwicklung der IT-Technologie des 21. Jahrhunderts revolutioniert die Kommunikationsmöglichkeiten rund um den Globus. Technische Prozesse dieser Art lassen den eingangs dargelegten strukturellen Doppelaspekt von Globalisierung, den der Anhäufung wie den der Schrumpfung, deutlich erkennen: der Anhäufung insofern, als es immer mehr Maschinen, immer mehr Transportmittel, immer mehr Energieträger, immer mehr Kommunikationsmittel gibt, und der Schrumpfung insofern, als es infolge des Diktats technischer Erfindungen, durch die Verkomplizierung der Maschinen, wegen der Verteuerung der Transportwege, aufgrund der Monopolisierung der Energiequellen und infolge der Imperialisierung der IT-Technologien zu immer stärkeren Konzentrationen technischer Macht kommt. In naher Zukunft, das ist schon heute abzusehen, wird die Globalisierung der Digitalisierung zu einer Anhäufung von Marktmacht einerseits und einer Schrumpfung herkömmlicher Arbeitsplätze andererseits führen, mit der Folge, dass der Respekt vor der Autonomie des Individuums durch das Fortschreiten von Fremdbestimmung (Heteronomie) verdrängt zu werden droht. Hinzu kommt, dass die Weltgegend, in der besagte Technologien entwickelt worden sind, nämlich der Westen, die übrige Welt bisher 5
Harvard Business Review (1983) 61/3, 92 f.
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Zur Klärung der Begriffe
deutlich dominiert. Die Westliche Welt, d. h. Europa und Amerika, hat sich durch die Verbreitung der genannten Technologien in den letzten drei Jahrhunderten global selbst zum Maßstab gemacht. Der übrigen Welt schien bisher nichts anderes übrig zu bleiben, als anstelle eigener Technologien die westlichen zu übernehmen. Dass dies derzeit in großem Maßstab geschieht, zeigen Länder wie China und Indien: Globalisierung durch Nachahmung. b) Globalisierung im Internationalen Recht Inhaltlich ganz anders, aber strukturell durchaus vergleichbar zeigt sich die Globalisierung im Bereich des Internationalen Rechts: Die »Erklärung der Menschenrechte« von 1948 war die Reaktion auf die Globalisierung von Tod und Zerstörung im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Es sollten rechtliche Standards und ethische Normen für die ganze Welt gemeinsam geltend gemacht werden, die in vielen Teilen der Welt schon immer gegolten haben. Grundgedanke war die Überzeugung, dass nicht nur alle Menschen dieselben Rechte besitzen, sondern dass dieser gleichen Rechtsstellung auch in jedem Winkel der Welt konsequent dieselbe Beachtung zu verschaffen ist. Zugleich lässt sich die andere Seite der völkerrechtlichen Globalisierung, das ›Schrumpfungsmoment‹ deutlich beobachten: Um moralischer Ansprüche willen – Sicherung des Lebens und der Freiheit von Menschen – werden völkerrechtlich unzulässige Kriege geführt, ohne den Widerspruch zu berücksichtigen, der darin besteht, dass man nicht verallgemeinerungsfähig behaupten kann, das Leben und die Freiheit von Menschen zu schützen, wenn dies auf Kosten des Lebens und der Freiheit von Mitmenschen geschieht. Die völkerrechtliche Globalisierung hat noch einen langen Weg vor sich. c) Globalisierung im Bereich der Kultur Im Bereich der Kultur zeigte sich Globalisierung bisher im Wesentlichen durch den sog. »Export« westlicher Kultur. Jahrhunderte lang schien diese Ausdehnung westlicher Kultur durch die schon skizzierte Entwicklung technischer Fortschritte gleichsam automatisch mitgegeben. Bis vor kurzem hat auch die Wirtschaftsmacht des Westens erheblich dazu beigetragen. Beides ist inzwischen erkennbar in der Veränderung begriffen: Mit der Nachahmung der westlichen Technik und der massiven eigenen Kapitalbildung betonen nicht-westliche Staaten wie China, aber zunehmend auch Indien, ihren eigenen kulturellen Anspruch. 289 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
d) Globalisierung auf dem Energiesektor Ganz anders sieht Globalisierung auf dem Energiesektor aus: Hier bedeutet ›Globalisierung‹ Konzentration von Geld und wirtschaftlicher Macht in nur wenigen Händen: Es sind die wenigen Erdöl und Erdgas exportierenden Länder der OPEC bzw. die russische Gazprom und neuerdings die Vereinigten Staaten infolge des massiven Einsatzes des Fracking-Verfahrens, welche, solange die technische Welt von den Hauptenergiequellen Öl und Gas abhängig bleibt, Geld und Macht zu regionalisieren und Abhängigkeit zu globalisieren verstehen. Diese Art der Globalisierung beruht auf dem durchaus kritisierbaren Anspruch, dass die Energiereserven der Welt nicht der Menschheit als ganzer, sondern den Einwohnern des betreffenden Landes gehören. e) Globalisierung im Bereich der Umwelt Globalisiert werden auch die Risiken, wie sich in der sich keineswegs erst abzeichnenden, sondern bereits manifesten Klimaveränderung infolge der Umweltverschmutzung zeigt. Gefahren wie die Erderwärmung werden globalisiert, während die Hauptverursachung derselben auf zwar große, aber zahlenmäßig wenige Länder konzentriert ist. Spätestens die Globalisierung der Umweltschäden zeigt jedoch, dass Vorgänge dieser Art in the long run nicht nur die Leidtragenden, sondern auch die heutigen Verursacher nachhaltig schädigen können. f) Globalisierung in der Wirtschaft Wirtschaftliche Globalisierung ist gekennzeichnet durch zunehmende, in Teilen brutale Zusammenlegungen von Märkten, durch international vagabundierendes Großkapital, welches in erster Line dem shareholder value und nicht notwendig den vitalen Interessen der Menschen dient, durch eine Erweiterung internationaler Kooperationen von Firmen und durch Internationalisierung der Finanzmärkte. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten zeigen mit jedem Tag in größer werdender Deutlichkeit, dass das Anhäufungsmoment der Globalisierung auf wirtschaftlichem Sektor einhergeht mit einer Schrumpfung des Benefits für die große Masse. Produziert wird dort, wo die Arbeitskraft am billigsten ist, verkauft wird dort, wo die Preise am höchsten sind. Folge: Da die Billiglohnländer weitgehend den Schwellenländern der Dritten Welt angehören, wird dort die Arbeitskraft rekrutiert; die so geschaffenen Werte kommen jedoch nicht den Menschen dieser Länder zugute, sondern gehen in die so genannte »Erste 290 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Normative Implikationen der Globalisierung
Welt«, wo sie am meisten Profit bringen. Das Anhäufungsmoment wird gleichsam de-globalisiert zugunsten des Schrumpfungsmoments: Die reichen Länder werden vergleichsweise reicher, die armen ärmer.
3.
Normative Implikationen der Globalisierung und daraus entstehende ethische Konflikte
Es gilt im Folgenden zu prüfen, ob und wenn ja, welche normativen Implikationen der Globalisierung ethische Konflikte nach sich ziehen. Nun hat sich Globalisierung, wie aus den bisherigen Kurzdarlegungen ersichtlich, als ein multifaktorielles Phänomen gezeigt, das zwar formal eine gemeinsame Grundstruktur besitzt, nämlich die der Anhäufung und der Schrumpfung, ansonsten aber auf unterschiedlichen Feldern eine höchst vielfältige Wirksamkeit ausübt. Die Auswirkungen können in bestimmten Bereichen für alle Menschen positiv sein, z. B. im Bereich der Ausweitung des Völkerrechts (MenschenrechtsDeklaration, UNO, Internationaler Gerichtshof in Den Haag, u. ä.). In anderen Bereichen kommt es zu Vorzügen für wenige und zu Nachteilen für viele, wie im Bereich der Ökonomie, aber auch der Energieversorgung. In wiederum anderen Bereichen kommt es zu Nachteilen für alle, wie z. B. in den Bereichen Umweltschädigung und Klimawandel. Globalisierung ist mithin nicht an sich etwas Positives noch etwas Negatives. Dementsprechend kann es nicht darum gehen, Globalisierungen an sich und in toto genere zu loben oder zu verdammen – beides wäre ebenso unrealistisch wie auch durch ethische Analyse schwerlich begründbar; noch kann es andererseits darum gehen, Globalisierung, weil angeblich unvermeidbar, einfach hinzunehmen. Es gilt vielmehr, Kriterien zu entwickeln, unter den konkreten Globalisierungen die für den Menschen positiven und negativen zu identifizieren und sodann Verfahren zu entwerfen, wie man Erstere fördern und Letztere verhindern kann. Dabei besteht die Aufgabe philosophischer Ethik nicht darin, Akzeptanz zu verschaffen, sondern die Frage der Akzeptabilität zu prüfen. Zugleich heißt dies nicht, Nicht-Akzeptanz zu befürworten, sondern die Gründe möglicher Nicht-Akzeptabilität zu prüfen. Ethik ist keine Protestbewegung, sondern wissenschaftlich kontrollierter Normendiskurs. Doch welches sind die Kriterien für Akzeptabilität respektive Nicht-Akzeptabilität von Globalisierungen? Setzt nicht der kritische 291 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
Umgang mit dem Thema ›Globalisierung‹ eine Globalisierung von Normen voraus und verstrickt sich damit in die Gefahr einer logischen petitio principii? Die Antwort findet sich im eingangs vermuteten und nunmehr erkennbaren kategorialen Unterschied zwischen Globalisierung und Ethik. Als Prozess der Anhäufung und gleichzeitigen Schrumpfung kultureller, rechtlicher, wirtschaftlicher, Umwelt bezüglicher und Energie betreffender Prozesse folgt Globalisierung immanenten Normierungen. Welcher Art diese Normierungen sind und wie sie ethisch zu beurteilen sind, soll im Folgenden gezeigt werden.
3.1 Der Utilitarismus der Globalisierung Ein erster normativer Hintergrund der Globalisierung zeigt sich in der Verfolgung der Absicht, dass der Nutzen einer Handlung den mit ihr möglicherweise verbundenen Schaden bzw. das Risiko übersteigen muss. Optimum in diesem Sinne ist ein Nutzen von 100 bei einem Schaden bzw. Risiko von 0. Da das jedoch kaum der Normalfall ist, kommt eine Unternorm ins Spiel. Sie lautet: Ein Schaden bzw. ein Risiko ist normativ nicht eo ipso negativ belegt; er muss nur insgesamt unter dem Nutzen liegen. 6 Diese Unternorm spielt in nahezu allen Formen der Globalisierung, vor allem in derjenigen wirtschaftlicher Art, eine zentrale Rolle. Das Globale wird normativ nach Maßgabe seines Nutzens – und nicht etwa seines Wertes – konzipiert. Wesentlich ist, was sich als Nutzen herausstellt; Nutzenerwägungen sind ihrer Natur nach folgenabhängig, die entsprechenden Kalküle mithin konsequenzialistischer Natur. Vor allem aber: Nutzen ist ein relationaler (nicht: relativer!) Begriff, der notwendig einen Bezugspunkt hat. Nutzen für wen? Für einen Einzelnen, oder für wenige, oder für viele, oder für alle, d. h. für das Gemeinwohl? In jedem dieser Fälle ist Globalisierung nutzenorientiert, wenn auch in höchst unter-
Vgl. den Vorschlag von B. Schöne-Seifert, als Begrenzungskriterium den »Mindestnutzen« zu nennen, der darin besteht, »dass faire Leistungsbegrenzungen, wenn denn erforderlich, im ersten Schritt so vorzunehmen wären, dass die mit ihnen einhergehenden Zumutungen bzw. »Opfer« für betroffene Patienten möglichst klein sind«. Schöne-Seifert, B.: Priorisierung, Rationierung – Müssen die ethischen Grundsätze unserer Gesellschaft modifiziert werden? In: Frankfurter Forum: Diskurse. H. 3 (4/2011), 6–13, hier 11.
6
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Normative Implikationen der Globalisierung
schiedlichem Umfang. Man kann dies den expliziten Utilitarismus der Globalisierung nennen. Im Falle der Globalisierung ist das Nutzenprinzip tendenziell im Konflikt mit dem Gerechtigkeitsprinzip, wonach – formal betrachtet – Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Inhaltlich kennt das Gerechtigkeitsprinzip unterschiedliche Ausprägungen als Verteilungs-, Tausch-, Chancen- und Besitzstandsgerechtigkeit. Jede dieser Gerechtigkeitsvarianten ist im Falle wirtschaftlicher Globalisierung tangiert, wie sich etwa in Bezug auf die sog. »Entwicklungsländer« zeigt, die von den Vorzügen der Globalisierung bisher kaum profitieren, aber unter den Risiken und Nachteilen derselben leiden. Die Nichtbeachtung der Gerechtigkeitsnorm ist nicht nur moralisch defizitär, sie ist es auch im logischen Sinne: Es ist nicht verallgemeinerbar, die Norm des Nutzens in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen und gleichzeitig Verletzungen des Gerechtigkeitsprinzips hinzunehmen; Letzteres stellt vielmehr einen fundamentalen Widerspruch dar.
3.2 Das Risikoverlagerungsprinzip Vergrößern lässt sich der Nutzen häufig dadurch, dass die Risiken bzw. der Schaden vom Nutznießer ggf. auf Dritte abgewälzt werden können. Der Utilitarismus der Globalisierung geht daher normativ häufig einher mit dem Versuch einer Verlagerung des Risikos auf Dritte. Zwar sollen Risiken und Schäden vermieden bzw. so gering wie möglich gehalten werden. Sind dieselben jedoch unvermeidlich, dann sollen sie nach Möglichkeit nicht den Nutznießer treffen, sondern Dritte. »Profite individualisieren, Risiken und Schäden sozialisieren« – so könnte der Slogan hierfür lauten. Neutral kann man dies das Risikoverlagerungsprinzip der Globalisierung nennen. Es befindet sich normativ im potentiellen Konflikt mit dem Fairnessprinzip, wonach dem Schwächsten am ehesten und am meisten zu helfen ist. Die Globalisierung – vor allem in ihrer wirtschaftlichen Variante – ist im permanenten Konflikt mit dieser Norm, und zwar deswegen, weil Risikoverlagerung am leichtesten im Falle des Schwachen und Wehrlosen realisierbar ist, der nicht über genügend Kräfte – sprich: Druckmittel – verfügt, um sich zu wehren. Hinzukommt, dass für die Risiken und evtl. Schäden der Globalisierung ausgerechnet derjenige
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
aufzukommen hat, der am wenigsten profitiert – ein schon unter Rationalitätsgesichtspunkten auffälliges Phänomen. Der Utilitarismus und das Risikoverlagerungsprinzip wirtschaftlicher Globalisierung zeigen sich besonders deutlich in der gegenwärtigen ökonomischen Problematik der Spannung zwischen Vermögenswertmärkten versus Gütermärkten, einer Spannung, in der die beiden Strukturmerkmale der Anhäufung und der Schrumpfung unverkennbar sind: Vermögenswertorientiertes Handeln expandiert, gütermarktorientiertes hingegen schrumpft. Selbst die seit kurzem zu beobachtenden Versuche bzw. Ansätze in einigen Ländern (z. B. China, Russland, Indien und neuerdings die USA unter Trump), der globalisierten Finanz- bzw. Wirtschaftskrise durch einen neuen Protektionismus zu begegnen, lassen sich als Belege für das Risikoverlagerungsprinzip deuten: Die Risiken werden nicht mehr dort akzeptiert, wo man sie verursacht hat, sondern sie werden nach außen verlagert. Damit ist die Globalisierung keineswegs »am Ende«; vielmehr zeigen sich auch im Protektionismus die beiden genannten Merkmale der Anhäufung und der Schrumpfung: Man sucht die – vermeintlichen – Vorzüge des Protektionismus, scil. die Stützung der eigenen Wirtschaft durch Abwehr des Internationalen Marktes, zu aggregieren und die Nachteile, scil. die Abschottung gegenüber dem Internationalen Markt, schrumpfen zu lassen. Was hat das Dargelegte mit dem Individuum und seiner Autonomie zu tun?
3.3 Das Anonymisierungsprinzip Eine besonders folgenreiche interne Normsetzung der Globalisierung besteht in der weitestmöglichen Anonymisierung der handelnden Protagonisten. Dabei geht es um ein Phänomen, das schon eine etwas längere Geschichte hat. Ursprünglich war es, wie oben in Kap. II dargelegt, der Einzelne, der als das eigentliche Subjekt, als der Träger von Wissen und Handeln galt. Mit zunehmender Ausdifferenzierung auch im wirtschaftlichen Bereich und der damit verbundenen komplexeren Struktur ist an die Stelle des individuellen Wissens- und Handlungssubjekts Zug um Zug der Fachmann getreten, der über ein Expertenwissen verfügt, das dem Einzelnen nicht zugänglich ist. Das Phänomen der ökonomischen Globalisierung ist nachgerade ein Beispiel für eine Ausweitung wirtschaftlicher Anonymität bei gleichzeitigem Schrumpfen wirtschaftlicher Transparenz: Es ist nicht mehr 294 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Normative Implikationen der Globalisierung
das individuelle Subjekt, das wirtschaftliche Zusammenhänge durchschaut, sondern ein kleiner Kreis von weitgehend anonym bleibenden Insidern; auch etabliert sich die Handlungsträgerschaft nicht auf demokratische und transparente Weise, sondern im Dunkel weitgehend anonymer Strukturen. Als Verfügungswissen beschränkt sich die Kenntnis der inneren Zusammenhänge der Globalisierung auf nur wenige, für die Öffentlichkeit meist anonyme Subjekte. Rationales und verantwortliches Denken und Handeln aber erfordert, dass man sich dabei nicht nur an eigenen Überzeugungen, Erfahrungen, Wertvorstellungen und nicht zuletzt eigenen Vorteilen orientiert, sondern sich in erster Linie an verallgemeinerbaren, intersubjektiv nachprüfbaren Vorstellungen, Erfahrungen, Werten und Bedürfnissen der menschlichen Gemeinschaft ausrichtet. Mit einem Wort: Es geht nicht um Insidervorteile, sondern um das Gemeinwohl, und dies auf der Grundlage von Vernunft und Solidarität hinsichtlich der Effizienz-, Verständigungs- und Entscheidungsaspekte. Dieselben treten je nach Rationalitätstypus systemisch, zweckorientiert oder wertbezogen in Erscheinung: (1) Systembezogen heißt: Es geht innersystemisch um »rationales Verhalten in der optimalen Adaptation an die Umgebung«. 7 Rational ist demnach, was innerhalb eines gegebenen Systems kohärent ist. (2) Zweckrational geht es um das Abwägen von Zweck-Mittel-Relationen. Rational ist demnach, was in einer angemessenen Zweck-Mittel-Beziehung steht. Dieselbe ist immer dann gegeben, wenn zur Erreichung eines Zwecks das einfachste, wirksamste und unkomplizierteste Mittel gewählt und eingesetzt wird. (3) Wertrational schließlich bedeutet Orientierung an Werten. Rational ist danach die Orientierung an grundlegenden Werten wie Menschenrechten und Verfassungsnormen. Hinsichtlich der Regelung wirtschaftlicher Globalisierungen wird immer wieder Wertrationalität angefordert, doch stattdessen Zweckrationalität – weil systemisch angeblich alternativlos – praktiziert. Weil Systemrationalität auf Kohärenz im System und Zweckrationalität auf Konsistenz im Handeln hin angelegt sind, scheint für Wert-
Vgl. Gosepath, St.: Artikel ›Rationalität, Rationalisierung‹, in: Ritter, J. et al. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1978, Bd. 8, 62.
7
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
rationalität mit ihrer Insistenz auf der Geltung von Werten kein Platz zu sein. Das Anonymisierungsprinzip ist dazu angetan, den Einzelnen in seinem Selbstbestimmungsrecht einzuschränken, indem ihm infolge starker Anonymisierung der Trägerschaft globalen Handelns die Möglichkeit genommen wird, eigene Entscheidungen zu treffen. Das Anonymisierungsprinzip steht insofern im Konflikt mit dem Autonomieprinzip, wonach jeder Einzelne ungeachtet seiner Fähigkeiten und Leistungen von ihm selbst her zu respektieren ist. Dieses, wie oben in Kap. I dargelegt, seit der Aufklärung im Mittelpunkt ethischer Analysen stehende Prinzip ist erkennbar an die starke Betonung des Individuums und seiner Freiheit gebunden. Das der Globalisierung eigene Prinzip der Anonymisierung steht jedoch dem Prinzip der sozial orientierten Individualautonomie diametral im Wege.
3.4 Das Prinzip der Arkanisierung von Strukturen Gleichsam das Pendant zur Anonymisierung der Wissens- und Handlungsträgerschaft ist die Geheimhaltung von Strukturen. Dieselben werden so gut es geht geheim gehalten, der Normalbürger hat kaum je Zugang zu den Strukturen der Globalisierung. Und wenn doch, dann erst, wenn die Auswirkungen offen zutage treten. Nicht nur anonymisierte Handlungsträgerschaft, sondern auch geheim gehaltene Strukturen können menschliche Autonomie und ihre Manifestation durch das individuelle Selbstbestimmungsrecht nachhaltig einschränken. Denn der Einzelne vermag vor Globalisierungsentscheidungen nicht mitzubestimmen und kann sich nachher nicht gegen Risiken und Schäden schützen. Der für das kantische Autonomieverständnis charakteristische Gedanke der »Selbstgesetzlichkeit« nach Maßgabe des ›Kategorischen Imperativs‹, wonach der Einzelne seinen Handlungen nur solche Maximen zugrunde legen darf, »die jederzeit als allgemeines Gesetz gedacht werden können«, 8 ist untrennbar mit der Voraussetzung der Transparenz der handelnKant, I.: GMS, BA 17; AA IV, 440. Vgl. auch die sog. »Menschheitsvariante« des kantischen kategorischen Imperativs: »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«. Kant, I.: GMS, BA 66; AA IV, 429.
8
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Normative Implikationen der Globalisierung
den Individuen verbunden und damit von Grund auf anonymisierungs- und arkanisierungskritisch.
3.5 Das Kontrollflüchtigkeitsprinzip Damit verbunden ist, was man die Kontrollflüchtigkeit der Globalisierung nennen kann: Wer wann wie und mit welchem Ziel die Abläufe steuert, mag intern geprüft werden; von außen stammende Kontrolle ist weder erwünscht noch möglich. Unabhängige Kontrolle ist jedoch immer dann angesagt, wenn Interessenkonflikte drohen. Das Kontrollflüchtigkeitsprinzip stellt eines der auffälligsten normativen Phänomene der ›Globalisierung‹ dar. Dieser normative Aspekt der Globalisierung befindet sich im offensichtlichen Konflikt mit der Norm der Risikominimierung. Denn wo immer menschliches Handeln der Kontrolle entzogen ist, neigt es zu unverhältnismäßiger Risikofreudigkeit. Das könnte noch hinnehmbar erscheinen, solange die Risiken ausschließlich den Handelnden selbst träfen. Eben dies aber ist im Falle der Globalisierung, wie gesagt, systembedingt in aller Regel nicht der Fall.
3.6 Das Prinzip der Verkomplizierung Verwandt damit ist eine weitere normative Implikation von Globalisierung: Verkomplizierung. Alles Globalisierungsgeschehen ist von sich aus bereits komplexer Natur; dies verstärkt sich jedoch dadurch, dass die Protagonisten i. d. R. wenig Interesse daran zeigen, die Komplexität für die Öffentlichkeit und den einzelnen Bürger zu reduzieren, sondern im Gegenteil, dieselbe ggf. noch zu steigern. So werden relativ einfache Ursachenzusammenhänge zu komplizierten »Interdependenzen« vernebelt. Komplexität gleichsam als »Sichtschutz«. Komplexe Zusammenhänge noch komplexer zu machen, steht im Konflikt mit dem schon im Mittelalter bekannten sog. »Ökonomieprinzip«, wonach »umsonst mit einer Vielheit geschieht, was sich auch weniger aufwendig erreichen lässt« bzw. »Pluralität nicht ohne Not anzusetzen ist«. 9 Gerade dieser Konflikt zwischen VerkomWie es bereits im 14. Jh. Wilhelm von Ockham formuliert hat. Es lautet: »Frustra fit per plura quod fieri potest per pauciora« bzw. »pluralitas non est ponenda sine neces-
9
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
plizierungs- und Ökonomieprinzip zeigt, wie nahe allgemein rationale und speziell ethische Normen einander sein können.
3.7 Das Prinzip der Verantwortungsfragmentierung Mit den vier zuletzt genannten normativen Hintergründen der Anonymisierung, der Arkanisierung, der Kontrollflüchtigkeit und der Verkomplizierung geht als fünftes die Fragmentierung von Verantwortung der Globalisierungsakteure einher. Eine individuelle ursächliche Zurechenbarkeit globalrelevanter Handlungen ist infolge der Anonymisierung der handelnden Subjekte und der Arkanisierung der relevanten Strukturen vielfach entweder objektiv gar nicht möglich oder falls doch, unerwünscht. Begünstigt wird dies durch den Umstand, dass der Terminus ›Verantwortung‹, wie bereits gesagt, als mehrstelliger Prädikator funktioniert. Mit seiner Hilfe werden (a.) ein Subjekt als Träger von Verantwortung, (b.) eine Verantwortungsinstanz, (c.) andere Subjekte als Adressaten der Verantwortung und schließlich (d.) ein Verantwortungsinhalt benannt: Jemand trägt Verantwortung vor einer Instanz für jemanden in Bezug auf etwas wegen etwas. Wenn nun die Träger der wirtschaftlichen Globalisierungsverantwortung weitgehend anonym sind, wenn Verantwortungsinhalt und Verantwortungsinstanz im Dunkeln liegen und zudem die Adressaten unberücksichtigt bleiben, dann lässt sich jedwede Einforderung der Globalisierungsverantwortung, wenn überhaupt, dann allenfalls fragmentarisch verwirklichen. »Geteilte« Verantwortlichkeit ist eine jedermann geläufige Norm: Doch »teilen« sich Eltern die Verantwortung für ihre Kinder bekanntlich nicht in dem Sinne, dass Vater wie Mutter jeweils nur »halb« verantwortlich wären, sondern in dem Sinne, dass jeder von beiden voll verantwortlich ist, die Verantwortung für die Kinder mithin eine gemeinsame ist. Eine Fragmentierung von Verantwortung, wie sie für die Globalisierung im wirtschaftlichen Bereich nachgerade alltagsüblich zu sein scheint, ist der Verantwortungsnorm schon lo-
sitate«. Guillelmus de Ockham: Opera Philosophica vol. I, 43 sowie vol. I, 185 et passim, St. Bonaventure, N.Y. 1974. Näheres vgl. Beckmann, Jan P.: Ontologisches Prinzip oder methodologische Maxime? Ockham und der Ökonomiegedanke. In: Vossenkuhl, W. / Schönberger, R. (Hg.): Die Gegenwart Ockhams. München 1990, 191–207; ders.: Wilhelm von Ockham. München 3/2010, 42 ff.
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Ethik und Ökonomie – ein Fremdverhältnis?
gisch zuwider. Der der Verantwortungsfragmentierung innewohnende Reduktionismus befindet sich im grundsätzlichen Konflikt mit der Norm rechtsstaatlicher bzw. genauer: strafrechtlicher Zurechenbarkeit. Fragen wir uns abschließend, ob und wenn ja, wie angesichts der genannten Normkonflikte das Verhältnis von Ökonomie und Ethik fruchtbar zu machen ist.
4.
Ethik und Ökonomie – ein Fremdverhältnis?
Globalisierung bedarf globaler Steuerung. Das ist bisher nicht der Fall; kein Wunder, fehlt es doch an entsprechenden internationalen gesetzlichen Regelungen. Globalisiert wird der internationale Markt, reguliert hingegen wird regional. Das kann nicht gutgehen: Der Markt kann nicht global im eingangs genannten Sinne von ›ungeordnet‹, bloßer Anhäufung etc. bleiben; er muss ›mundial‹, zu einem geordneten Ganzen, werden. Benötigt werden dazu nicht nur Regeln, sondern auch gemeinsam akzeptierte normative Prinzipien, und zwar solche sowohl mittlerer Stufe wie Transparenz und Kontrolle als auch solche höchster Stufe wie Humanität, Autonomierespekt, Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität, und schließlich konsensuelle Strategien der Lösung von Normkonflikten. Konkret: Benötigt wird eine Globalisierung von Regeln des Internationalen Marktes zwecks rechtlicher Kontrolle desselben und eine Globalisierung ethischer Normen zum Zwecke seiner Analyse.
4.1 Der Gedanke eines Weltethos Einen bemerkenswerten Ansatz zu Letzterem stellt der durch den Schweizer Theologen Hans Küng inaugurierte Gedanke eines Weltethos dar. 10 Grundlage ist die Feststellung, dass es in allen Kulturen bestimmte Werte und Normen gibt, die unabhängig von weltanschaulichen Unterschieden Gemeinsamkeiten darstellen und insofern die Basis für die Kodifizierung eines Weltethos bilden können. Küng, H.: Projekt Weltethos. München 1990. – ders: Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft. München 1997. – ders.: Wozu Weltethos? Religion und Ethik in Zeiten der Globalisierung. Freiburg 2002.
10
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Hierzu zählen im Ausgang von den Allgemeinen Menschenrechten 11 in concreto die Normen der Autonomie sowie der Unverfügbarkeit durch Dritte, der Selbstbestimmung und der Freiheit des Individuums und die mitmenschlichen Normen der Humanität, der Gerechtigkeit, der Solidarität und Fairness, der Toleranz, der Chancengleichheit und der Verantwortlichkeit. Diese gemeinsamen Fundamentalnormen zu einem Weltethos zusammenzufassen und allgemein anerkennbar zu machen, stellt ein nicht leichtes Unterfangen dar, doch gibt es erste erfolgreiche Schritte: Der 1995 ins Leben gerufenen »Stiftung Weltethos« mit Sitz in Tübingen sind inzwischen namensgleiche Stiftungen in der Schweiz, in Österreich, Tschechien, Ungarn, Mexiko, Kolumbien und Brasilien gefolgt.
4.2 Ethik und Ökonomie: eine Außen- oder eine Innenbeziehung? Doch so wichtig vorgenannte Aktivitäten sind: Das Thema ›Ethik und Globalisierung‹ verlangt ein verstärktes Nachdenken über die Beziehung zwischen Ethik und Ökonomie. Prima facie könnte es scheinen – und häufig trifft man auf eine entsprechende Überzeugung –, als bestünde zwischen Ethik und Ökonomie lediglich eine Art »Außenbeziehung«, dergestalt, dass beide jeweils ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen und nur vor diesem Hintergrund und damit gleichsam »von außen« miteinander in Verbindung gebracht werden können. Überspitzt formuliert: Erst wird nach den Regeln ökonomischen Denkens »ethikfrei« gehandelt, dann wird »ökonomiefrei« reflektiert, ob das betreffende Handeln ethischen Normen genügt. Ethik erscheint aus dieser Sicht ggf. wie eine Art »Unfallhilfe« für ökonomisch »Danebengegangenes«. 12 Dagegen ist zu fragen, ob sich die Beziehung zwischen Ethik und Ökonomie nicht auch anders vorstellen lässt: nämlich nicht als ein Außen-, sondern als ein Innenverhältnis. So heißt es bei einem bekannten deutschen Wirtschaftswissenschaftler, Ökonomie, speziell Vgl. die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948. P. Koslowski spricht von der Unternehmensethik als eines »Korrektivs von partiellem Markt- und Ökonomieversagen«. Koslowski, P.: Prinzipien der ethischen Ökonomie. Grundlegung der Wirtschaftsethik und der auf die Ökonomie bezogenen Ethik. Tübingen 1988, 210 (zit. nach Albach, H. (s. die folgende Fn. 13), 257). Vgl. auch Homann, K. / Koslowski, P. / Lütge, C.: Wirtschaftsethik der Globalisierung. München 2005.
11 12
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Ethik und Ökonomie – ein Fremdverhältnis?
»die Betriebswirtschaftslehre ist eine ethische Wissenschaft. Ihre Grundprinzipien sind aus allgemeinen ethischen Verhaltensnormen abgeleitet«. 13 Viel hängt freilich davon ab, wie das »ist« zu verstehen ist. Stellt es eine Existenz- oder eine Identitätsaussage dar? Konkret: Meint die Feststellung, Ökonomie bzw. speziell BWL sei Ethik, so dass es das eine nicht ohne das andere gibt, oder ist damit gesagt, dass es sich bei beidem um ein und dasselbe handelt? Möglicherweise sagt die Existenzbehauptung zu wenig, die Identitätsthese hingegen zu viel. Denn es möchte scheinen, dass die Existenzaussage, wonach es Ökonomie bzw. speziell BWL und Ethik nur gemeinsam gibt, der Annahme einer Untrennbarkeit zwischen beiden den Weg ebnet. Andererseits bereitet auch die Identitätsthese Schwierigkeiten, weil Ökonomie bzw. speziell BWL doch nicht nur Ethik ist, sondern auch mathematisierbare Theorie und lehrbare Praxis rationalen Wirtschaftens. Man könnte versuchen, die genannten Schwierigkeiten des Zuwenig bzw. des Zuviel von Existenz- bzw. Identitätsthese durch eine Äquivalenzthese zu vermeiden: Wo und wann immer Ökonomie, dort notwendig auch Ethik. Auf diese Weise würde weder die Ökonomie »ethisiert« noch die Ethik »ökonomisiert«. Stattdessen würde es heißen: Wirtschaftliche Überlegungen sind stets mit spezifisch ethischen äquivalent. Dies trifft sowohl auf die Handlungsebene (»Ökonomie ist Ethik«) als auch auf den Begründungsdiskurs (»Ökonomie ist auch ethische Wissenschaft«) zu, wenngleich auf je eigene Weise. Im Falle der Äquivalenzbeziehung zwischen Ökonomie und Ethik geht es um wirtschaftliches Handeln als zugleich ethisch reflektiertes Tun, nämlich wirtschaftliches Denken und Handeln so zu orientieren, dass größtmöglicher Nutzen für die größtmögliche Zahl von Menschen generiert und Schaden so gut es geht verhindert wird. Den größtmöglichen Nutzen nicht mit kleinstmöglichem Einsatz von Ressourcen zu erbringen, wäre gleichermaßen unwirtschaftlich wie unethisch: wirtschaftliche Verschwendung nämlich und zugleich moralische Verantwortungslosigkeit. Auch umgekehrt gilt: Sparsamer Umgang mit wirtschaftlichen Ressourcen stellt eine moralisch anspruchsvolle Haltung dar. Das Optimum aus ethisch-ökonomischer Sicht heißt demnach, zum Wohl der Menschen mit so wenig RessourAlbach, H.: Betriebswirtschaftslehre und Unternehmensethik, in: Keutner, Th. et al. (Hg.): Wissen und Verantwortung (FS Jan P. Beckmann). Freiburg / München 2005, Band 1, 249–267, hier: 267.
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cen-Inanspruchnahme wie nötig so viel Nutzen wie möglich zu generieren. Dies setzt gegenseitiges Vertrauen der Handelnden voraus. 14 Dasselbe manifestiert sich in einem doppelten normativen Imperativ: Erstens: »Handle so, dass Du niemals das unerschütterliche Vertrauen Deiner Partner gefährdest!« Zweitens: »Begegne dem wirtschaftlichen Handeln der anderen grundsätzlich vertrauensvoll!« Jeder der beiden Imperative ist auf den jeweils anderen angewiesen. Würde nur einer befolgt, gerieten wichtige Prinzipien wirtschaftlichen Handelns wie das der »Gleichheit der Marktpartner« (H. Albach) aus dem Gleichgewicht. Das Vertrauensprinzip nimmt insoweit eine zentrale Stellung in einer als Angewandte Ethik begriffenen Ökonomie ein. Ähnlich das Prinzip der Sozialität. Greift das Vertrauensprinzip individualethisch, so das Sozialitätsprinzip kollektivethisch, in Entsprechung zum wirtschaftlichen Handeln, das qua Handeln an individuelle Subjekte und qua nutzenorientiert an soziale Normen gebunden ist. Mit dem Sozialitätsprinzip untrennbar verbunden ist das Erfordernis der Ausgewogenheit von Egoismus und Altruismus, ohne welches wirtschaftliches Handeln nicht möglich ist.
5.
Schlussgedanke
Ethische Analyse dient, so wurde bereits mehrmals festgestellt, der Identifikation normativer Zusammenhänge und dem rationalen Umgang mit Normenkonflikten. Ethik macht als solche menschliches Handeln nicht besser; dazu bedarf es des Übergangs zur Moral als Praxis des für den Menschen Zuträglichen und Vermeidung des für ihn Abträglichen. Wohl aber macht ethische Analyse menschliches Handeln hinsichtlich seiner moralischen Ansprüche beurteilbar. Ethik muss man kennen und können, Moral praktizieren und pflegen, ein spezielles Berufsethos muss man entwickeln. Wie könnte ein »Ethos der Globalisierung« aussehen? (1) Es wäre naiv, ein Ethos des puren Altruismus zu erwarten. Eher schon ein Ethos gewisser Selbstbeschränkung; dies aus der Einsicht heraus, dass eine durch schrankenlose Globalisierung in weiten Teilen verarmte Welt am Ende keine Profite mehr verspricht. Mit anderen Worten: Beschränkung der globalisierten Welt als eine Art Überlebensstrategie der Globalisierung. 14
Albach, H. (Fn 13), 259 f.
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Schlussgedanke
(2) Unrealistisch wäre auch, würde man ein Ethos durchgängiger Fairness erwarten. Eher schon realistisch erscheint es, die globalisierte Wirtschaft aus Gründen des Selbstschutzes gewissen Transparenz- und Kontrollmöglichkeiten zu unterwerfen. Dies aus der Einsicht heraus, dass eine Globalisierung unter Transparenz und Kontrolle immer noch besser ist als eine Abschaffung des freien Kapitalmarktes. (3) Als kaum aussichtsreich erscheint die Annahme bzw. Hoffnung, Globalisierung würde sich vom oben beschriebenen Risikoverlagerungsprinzip trennen; realistisch ist eher, dass Globalisierer einsehen, dass es nicht nur um Gewinne heute geht, sondern auch um solche in der Zukunft; dies aus der Einsicht, dass Globalisierung ohne Nachhaltigkeit (»sustainability«) ein Strohfeuer bleibt. Nachhaltigkeit jedoch bedarf eines über das Hier und Heute hinausgehenden Blicks. Auch ist Nachhaltigkeit, richtig verstanden, ganzheitlicher Natur, d. h. sie umfasst nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche und kulturelle Dimensionen. In der Wirtschaft sind derartige ganzheitlichen Ansätze bereits erkennbar, z. B. in den »International Labour Standards (ILO)« 15 sowie in den 10 Prinzipien des 1999 beschlossenen und am 26. 7. 2000 in New York begonnenen »United Nations Global Compact« 16, an dem sich jedes Unternehmen durch eine entsprechende Erklärung gegenüber dem UN-Generalsekretariat beteiligen kann. Fundamentalprinzipien sind die Einhaltung der Menschenrechte, die Respektierung der Rechte der Beschäftigten, die Abschaffung von Kinderarbeit, der Abbau von Diskriminierungen, Umweltgefährdungen und Korruption sowie die Förderung umweltfreundlicher Technologien vor dem Hintergrund eines verstärkten Umweltbewusstseins. 17
Vgl. Flanagan, R. J. / Gould, W. B. (Hg.): International Labor Standards: Globalization, Trade, and Public Policy. Stanford Univ. Press 2005. 16 Vgl. Fenner, C.: Der Globale Pakt der Vereinten Nationen, Freiburg 2004 (= Freiburger Schriften zur Politikwissenschaft). – Siehe auch: v. Schorlemer, S. (Hg.): Praxishandbuch UNO: Die Vereinten Nationen im Lichte globaler Herausforderungen. Berlin 2003. Darin u. a.: Wolf, K. D.: Normsetzung in internationalen Institutionen unter Mitwirkung privater Akteure?, 225–240. 17 Inzwischen haben sich weltweit über 3.000 Firmen angeschlossen. In Deutschland existiert seit einigen Jahren ein Jahrbuch mit dem Titel »Global Compact Deutschland«. Münster 2004 ff. 15
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
(4) Viel wird jedoch davon abhängen, ob anstelle eines Streits über Ethos und Moral eine rationale Diskussion über die Analyseergebnisse der Ethik stattfindet. 18 Denn Moral ist stets Ausdruck jeweiliger historischer, gesellschaftlicher und nicht zuletzt auch religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen, und die unterscheiden sich auf dem Erdenrund bekanntlich deutlich. Es war und ist einer der Kardinalfehler, mit der traditionellen technischen und wirtschaftlichen Dominanz der Westlichen Welt unbedingt auch deren Moral exportieren zu wollen. Stattdessen muss es darum gehen, ethische Analyse weltweit zu betreiben. Die dabei verwendeten Normen – vor allem diejenigen der Humanität, des Lebensschutzes, des Respekts vor dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht des Individuums, der Gerechtigkeit, der Fairness und der Solidarität – können trotz ihrer Herkunft aus der Europäischen Aufklärung durchaus als Eckpunkte für die Strukturierung eines weltweiten ethischen Dialogs dienen, da eines die Menschen ungeachtet aller Verschiedenheiten weltweit eint: einander gleichgestellt zu werden und gleichermaßen in ihrer Autonomie respektiert werden zu wollen. Mit einem Wort: Es geht darum, aus der ungeordneten Globalisierung zum Nutzen für Cliquen eine geordnete Mundialisierung zum Nutzen für alle zu machen. Dagegen erscheint eine Moralisierung kritikwürdigen Handelns einzelner Globalisierungsprotagonisten unbegründet, jedenfalls zu kurz gegriffen, weil das Problem nicht erst in individuellem Versagen liegt, sondern auch und zuallererst in unpassenden Strukturen seine Ursache hat. Die Globalisierung hat infolge der mit ihr einhergehenden Anonymisierung zu einer enormen Entfremdung des Einzelnen gegenüber dem Markt geführt. Dies gilt es namhaft zu machen und zu überwinden. Ethik ist im Übrigen nicht dazu da, zu moralisieren, sondern mithilfe des analytischen Potentials der Identifizierung von Normzusammenhängen und möglichen oder tatsächlichen Normenkonflikten Strukturkorrekturen und -verbesserungen ökonomischer Prozesse und wirtschaftlichen Verhaltens herbeiführen zu helfen. Das Thema ›Ethik und Globalisierung‹ hat insoweit nicht den Kontingenzbereich individuellen Verhaltens, son-
Vgl. etwa das Internetprogramm »A Global Ethic Now!«, eine Lernplattform der Stiftung Weltethos.
18
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Zur Rationierungsdebatte im Gesundheitswesen aus individualethischer Sicht
dern den Notwendigkeitszusammenhang kollektiver Strukturen zum Gegenstand. Es gibt jedoch auch Bereiche wie das Gesundheitswesen, in denen beides thematisiert werden muss: Hier geht es sowohl um die individualethische Problematik, ob man den Schutz und die Erhaltung menschlichen Lebens ökonomischen Grenzen aussetzen darf, als auch um die kollektivethische Frage, wie die Mittel für ein Gesundheitssystem auf eine gerechte und solidarische Weise generiert werden können. Beides wird uns im Folgenden beschäftigen.
II. Das Problem der Ökonomisierung im Gesundheitswesen 1.
Zur Rationierungsdebatte im Gesundheitswesen aus individualethischer Sicht
1.1 Problemstellung Hauptziele medizinischer Versorgung und ärztlichen Handelns sind bekanntlich die Sicherung und ggf. die Wiederherstellung der Gesundheit von Patienten sowie die Vermeidung von Schaden, beides unter Beachtung des Patientenwillens und der Gerechtigkeitspflicht. Eine Unterstellung von Medizin und ärztlichem Handeln unter ökonomische Zwecke ist im Konflikt mit dem ärztlichen Ethos des bonum facere, des nil nocere, der Gerechtigkeit und last but not least des Respekts vor der Autonomie des Menschen. Dass ärztliche Hilfe für einen Patienten von ökonomischen Grenzen eingeschränkt oder gar verhindert wird, scheint insofern a priori nicht rechtfertigungsfähig, und zwar weder angesichts der grundgesetzlichen wie der gesellschaftlichen Verpflichtung zum Lebensschutz noch in Anbetracht des genannten ärztlichen Ethos. Auf der anderen Seite ist der Arzt lt. Sozialgesetzbuch V gehalten, wirtschaftliche Aspekte nicht außeracht zu lassen, deren fiskalische Begrenzungen er freilich nicht aufzuheben vermag. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Sachlage als noch komplexer und damit die Analyse derselben als weitaus komplizierter. Denn keine Frage: Durch medizinisch-ärztliches Handeln an 305 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
einem gegebenen Patienten werden zwangsläufig Mittel gebunden, die für andere Patienten anschließend naturgemäß nicht mehr zur Verfügung stehen können. Nun verbietet es sich offensichtlich, das Heilungsbedürfnis des einen Patienten gegen das des anderen auszuspielen: Es wäre dies ein Verstoß gegen die ethische Norm der Gerechtigkeit und zugleich gegen das ärztliche Ethos der Hilfe für jeden Patienten, der ihrer bedarf. Soweit die individualethische Seite der Problematik. Doch es gibt auch eine kollektivethische Seite, denn ebenso offensichtlich darf man Ärzte infolge der im Gesundheitssystem fehlenden Mittel nicht einer Drucksituation aussetzen, Patienten trotz medizinischer Indikation aus ökonomischen Gründen die medizinisch indizierte Behandlung zu versagen: Das wäre ein Verstoß gleichermaßen gegen die gesellschaftliche Verantwortung, gegen die geschuldete Solidarität der Gesunden mit den Kranken und nicht zuletzt gegen das ärztliche Ethos des Helfens und niemals Schadens.
1.2 Die Insuffizienz der Mittel für das Gesundheitswesen Angesichts der tatsächlich längst vorhandenen Mittelknappheit im Gesundheitswesen und der damit einhergehenden Ökonomisierung erscheint eine ethische Behandlung der skizzierten Problemstellung ziemlich verspätet, ist das Kind doch längst in den Brunnen gefallen. D. h.: Längst ist die Medizin infolge des Kosten- und Veränderungsdrucks unter ökonomische Sachzwänge geraten. »Budgetierung«, »OP-Mindestzahlen«, »DRG’s«, »Priorisierung« und vor allem »Rationierung« sind bekannte Stichworte dieser Entwicklung. Die Frage, ob sein darf, was längst ist, scheint Glanz und Elend ethischer Analyse widerzuspiegeln: den Glanz, dass man Klarheit über moralisches Sollen gewinnt, und das Elend, dass dies immer erst im Nachhinein – und damit möglicherweise zu spät – erfolgt. Was nottut, ist eine Vergleichzeitigung von medizinischem Handeln unter den Bedingungen knapper Ressourcen und ethischer Analyse und Reflexion möglicher Begrenzungen. Diesbezüglich lautet die Kernfrage: Lässt sich das ärztliche Ethos des Helfens und Heilens unter dem wachsenden Druck ökonomischer Bedingungen bewahren, und wenn ja, wie? Der Angang an diese Frage setzt eine spezielle Vergewisserung über die Beziehung zwischen Ethik und Ökonomie im Gesundheitswesen voraus sowie die Behandlung der Frage, wie sich ökonomisches 306 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Ökonomie und Ethik hinsichtlich des Gesundheitswesens
Handeln und ethische Analyse diesbezüglich miteinander verbinden lassen. 19
2.
Ökonomie und Ethik hinsichtlich des Gesundheitswesens
Ökonomie beschäftigt sich verkürzt gesagt mit der Theorie rationalen Umgehens mit Ressourcen unter Knappheitsbedingungen; sie ist darauf aufbauend gleichermaßen wissenschaftlich begründete Lehre von den Bedingungen und Strukturen einer derartigen Unternehmung wie von der Wirklichkeit des daraus resultierenden Handelns. Bemächtigt sich eine »rein von ökonomischen Kategorien geleitete Denk- und Handlungsweise« 20 eines Handlungsbereiches, spricht man von Ökonomisierung. Es nimmt kaum wunder, dass Ökonomisierung auch vor dem Gesundheitssektor nicht haltmacht; dies umso weniger, als es sich um einen Bereich handelt, der nicht an nationale Grenzen gebunden ist, sondern auf den europäischen und den internationalen Bereich ausstrahlt. Ethik geht es, wie schon mehrfach betont, um die Identifizierung der menschlichem Handeln, welches den Anspruch auf Moralität erhebt, zugrundeliegenden Normen sowie um die Klärung von Normenkonflikten. Der Terminus ›Ethik‹ meint mithin ein analytisches Verfahren und ist insoweit nicht zu verwechseln mit ›Moral‹ als dem Bereich normgeleiteten praktischen Handelns. Da zum menschlichen Handeln naturgemäß auch das Wirtschaftshandeln gehört, ist dasselbe ebenfalls durch Moral geprägt. Die Analyse dieses Zusammenhangs ist gemeinsame Aufgabe von Ökonomie und Ethik. Dabei scheint Ökonomie auf den ersten Blick überwiegend durch Handeln und Fakten charakterisiert, Ethik eher durch Reflexion und Normen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich gleichwohl, dass beide auf je eigene Weise sowohl Handeln und Reflektieren bedeuten als auch Normen und Fakten einschließen: Ökonomie als reflektierter Umgang mit wirtschaftlichen Handlungsoptionen und den Konsequenzen von Die folgenden Ausführungen gehen auf einen Beitrag des Vf.s über »Ökonomie und Ethik am Beispiel der Rationierungsdebatte im Gesundheitswesen« zurück, erschienen in: Busche, H (Hg.): Philosophische Aspekte der Ökonomie. Würzburg 2011, 15–38. 20 Meran, J.: »Wohlstand und Gerechtigkeit. Die Wirtschaft als Thema der praktischen Philosophie«, in: Bayertz, K. (Hg.): Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik. Reinbek 191, 89–133, hier 90. 19
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
Wertentscheidungen, Ethik als handlungsbezogener Umgang mit Norm-Diskursen unter Rückbezug (»Re-flexion«) des Handelnden auf sich selbst als normbestimmtes Wesen. 21 Es ist der Ökonomie und Ethik gemeinsame Handlungs- und zugleich Normreflexionscharakter, der schon Aristoteles dazu veranlasst hat, beide (zusammen mit der Politik) unter einen bestimmten Wissenschaftstypus zu subsumieren: den der Praktischen Philosophie: Denn beide vermitteln Praxiswissen, d. h. ein solches, das im Unterschied zum rein theoretischen Wissen nicht um seiner selbst willen erstrebt wird, sondern um etwas anderen willen: in der Ökonomie um der Praxis klugen Wirtschaftens willen, in der Ethik um der Praxis angemessener Lebensführung willen. 22
2.1 Formale Verhältnisbestimmung Die vorstehend zurückgewiesene Vorstellung, in der Ökonomie werde ausschließlich gehandelt, in der Ethik lediglich über die Zulässigkeit des Handelns nachgedacht, bewahrt vor dem Irrtum, anzunehmen, zwischen beidem existiere eine zeitliche oder gar sachliche Abfolge, dergestalt, dass zuerst gehandelt (Ökonomie) und anschließend über die Legitimität des Handelns (Ethik) nachgedacht werde. Hinter einer solchen Vorstellung steht die weitverbreitete Ansicht, dass Ethik und Ökonomie jeweils ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen und insoweit nur äußerlich miteinander in Verbindung gebracht werden können. Dies beruht jedoch auf einer technokratischen Verkürzung von Ökonomie als einer ähnlich den Naturwissenschaften rein mathematisch durchherrschten Disziplin, in der Werturteile keine Rolle spielen. In Wirklichkeit ist Ökonomie immer schon wertbesetzt, eine Trennung von Ökonomie und Moral mithin insofern gar Als Reflexionsunternehmung ist Ethik eine Teildisziplin der Philosophie, deren Aufgabe die Reflexion des Menschen auf sich selbst, seine Stellung und Aufgabe in der Welt und seine Verpflichtung gegenüber den Mitmenschen und den übrigen Mitgeschöpfen ist. Der Einzelne tut dies – und darin liegen gleichermaßen Vorzug und Grenze des Philosophierens – mit den Mitteln der dem Menschen eigenen Vernunft und zugleich innerhalb der Grenzen dieser Vernunft. 22 Aristoteles: »Ziel (griech. télos) ist nicht Wissen (gnôsis), sondern Handeln (prâxis)«. Nikomachische Ethik I,1; 1095a5. Vgl. ders.: »Denn wir betrachten die Tugend nicht, um zu wissen, was sie ist, sondern um tugendhaft zu werden«. a. a. O., 1103b28. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übers. u. hg. v. G. Bien. Hamburg 1972 u. ö. 21
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Ökonomie und Ethik hinsichtlich des Gesundheitswesens
nicht möglich. Ökonomie ist wertgeleitetes Entwerfen von Handlungsoptionen, und da dieselben naturgemäß stets im Plural auftreten und nicht selten miteinander konkurrieren, hat Ökonomie naturgemäß mit normgeleitetem Entscheiden zu tun. Ökonomie und Ethik stehen insoweit in einem Wechselverhältnis zueinander. 23 Dieses Wechselverhältnis tritt sowohl auf der Ebene ›Arzt – Patient‹ als auch auf der Ebene ›Gesellschaft – Gesundheitswesen‹ auf. Diese Doppelung macht sowohl eine individualethische wie eine kollektivethische Analyse erforderlich.
2.2 Notwendigkeit sowohl individual- wie kollektivethischer Analyse Wenn sich der einzelne Arzt tagtäglich vor die Frage gestellt sieht, wie er sein berufliches Ethos des Helfens und Heilens mit ökonomischem Druck vereinbaren soll, so hat die entsprechende ethische Analyse auf der Individualebene zu erfolgen. Da der einzelne Arzt jedoch keinen Einfluss auf das Maß des ökonomischen Druckes auf sein Handeln hat und unter den Bedingungen finanzieller Engpässe handeln muss, ist anschließend eine ethische Analyse auf der Kollektivebene angezeigt. Dieselbe betrifft sowohl den als Makroebene zu bezeichnenden Bereich der Mittel-Aufbringung für das gesamte Gesundheitswesen als auch die Mesoebene zu nennende Ebene der Mittel-Verteilung in Kliniken und Praxen und schließlich die Mikroebene der Mittel-Zuteilung in der Beziehung zwischen dem Arzt und seinem Patienten. Das Verhältnis zwischen individual- und kollektivethischer Analyse ist durch die Alternative bestimmt, ob die generellen ökonomischen Bedingungen das individuelle Tun des Arztes bestimmen dürfen oder umgekehrt dieses jenes bestimmen muss. Faktisch ist Ersteres der Fall; doch ist dies auch ethisch hinnehmbar? Dementsprechend lautet die individualethische Grundfrage, ob die ärztliche Verpflichtung zum Helfen und Heilen durch die Limitierung der Mittel eingeschränkt werden darf, und die kollektivethische Grundfrage, Bei Martin Kolmar, Wirtschaftswissenschaftler der Universität St. Gallen, findet sich der Ausdruck »normative Ökonomik«; s. Kolmar, M.: »Ökonomie und Medizinethik – Theoretische Überlegungen«, in: Gethmann-Siefert, A. / Thiele, F. (Hg.): Ökonomie und Medizinethik. München 2008, 49–108, hier 65 f.
23
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
ob es hinnehmbar ist, dass die Gesellschaft dem Gesundheitswesen die erforderlichen Mittel in nicht hinreichendem Umfang zur Verfügung stellt. Normativ bewegt sich die individualethische Analyse um die Frage der Vereinbarkeit von Gerechtigkeit mit der Norm der Schonung begrenzter Mittel, während es in der kollektivethischen Analyse um den Konflikt zwischen gesellschaftlicher Solidarität und individuellem Lebensschutz geht. Beginnen wir mit der individualethischen Analyse.
3.
Ärztliches Handeln unter Marktbedingungen? Individualethische Analyse
Im Mittelpunkt der individualethischen Analyse steht das Problem, ob es einen Weg gibt, der einen flexiblen Umgang mit finanziellen Grenzen im Gesundheitssystem ermöglicht und zugleich das ärztliche Ethos des Helfens bewahrt. 24 Dem steht als Erstes im Wege, was man die Tabuisierung der Rationierungsdiskussion nennen kann.
3.1 Tabuisierung der Rationierungsdiskussion Tabus sind ihrer Natur nach prohibitiv: Es verbietet sich, über tabuisierte Themen zu sprechen. Tabus erscheinen insofern als das genaue Gegenteil von Ökonomie und Ethik: Während diese beiden Disziplinen Normen für menschliches Handeln applizieren bzw. reflektieren, geht es bei Tabus um Regeln für das, was nicht getan werden soll. 25 Versteht man unter ›Rationierung‹ das vorsätzliche und systematische Vorenthalten medizinisch wirksamer, ärztlich indizierter und vom Patienten nach entsprechender Aufklärung konsentierter Maßnahmen zwecks Ressourcenschonung bzw. weil der Kostenträger (die Krankenkasse bzw. die Versicherung) die Leistungserbringung vermeiden will, so wundert es nicht, dass das Thema ›Rationierung‹ weithin noch immer ein Tabu-Thema darstellt. Hauptgrund für die Zum Problem der Ökonomisierung (in) der Medizin vgl. Maio, G.: Geschäftsmodell Gesundheit. Wie der Markt die Heilkunst abschafft. Frankfurt/M. 2014. Maio spricht vom »Verlust des Sozialen als Resultat einer ökonomischen Überformung der Medizin«, op. cit., 19. 25 Vgl. Marschall, W.: Art. »Tabu«, in: Ritter, J. et al. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp. 878. Basel 1998. 24
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Ärztliches Handeln unter Marktbedingungen? Individualethische Analyse
Tabuisierung ist der weitverbreitete Unwille, einzusehen, dass medizinische Hilfe und ärztliches Handeln auch mit finanziellen Implikationen zu tun haben. Speziell der Blick auf ökonomische Implikationen im Arzt-Patient-Verhältnis bleibt ein Tabu. Dies hat einen natürlichen und einen problematischen Grund: • Der natürliche Grund besteht darin, dass der Arzt die für die Behandlung der Krankheit seines Patienten erforderlichen Mittel einsetzen muss und dass der Patient seinerseits erwarten darf, dass die Behandlung seiner Krankheit sich nach medizinischen und nicht nach ökonomischen Kriterien richtet. • Der problematische Grund liegt in der Gefahr einer verminderten Realitätswahrnehmung auf beiden Seiten: aufseiten des Arztes, der – aufgrund der Teleologie ärztlichen Handelns auf Helfen und Heilen verpflichtet – die Übernahme der Verantwortung für die finanziellen Folgen abzuweisen versucht ist, und aufseiten des Patienten, der überzeugt ist, dass Kranksein schon Belastung genug bedeutet und im Übrigen einen Anspruchstatbestand darstellt. Der Handlungscharakter der Arzt-PatientBeziehung erlaubt jedoch eine solche Realitätsreduktion nicht: Wo gehandelt wird, müssen sämtliche Handlungen – und dazu gehört im Zusammenhandeln von Arzt und Patient auch die Inanspruchnahme ökonomischer Ressourcen – von den handelnden Personen verantwortet werden. Auf den Punkt gebracht lautet daher die ethische Grundfrage auf der individualethischen Ebene: (Wie) Lässt sich angesichts der finanziellen Überforderung des gegenwärtigen Gesundheitswesens das ärztliche Ethos des Helfens und Heilens ohne massive Beeinträchtigung bewahren? Konkret: Wie lassen sich Einsparungen erreichen, »ohne dass den Patienten Notwendiges oder Nützliches vorenthalten werden muss«? 26 Die Frage, ob sich Kostenreduktionen durch Priorisierungen oder gar Rationierungen vermeiden lassen oder ob dies eine Systemänderung des Sozialstaatsprinzips bedeutet, 27 bedarf intensiver DisFuchs, Chr. / Nagel, E. / Raspe, H.: »Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung – was ist gemeint?«, in: Deutsches Ärzteblatt, H. 12 (2009), 554–557, hier 554. Vgl. Breyer, F. et al. (Hg.): Rationing in Medicine. Ethical, Legal and Practical Aspects. Berlin / Heidelberg / New York 2002. 27 Siehe Schröder, K. Th.: »Die Priorisierung von Gesundheitsleistungen widerspricht den Grundsätzen unseres Sozialstaates«, in: Lohmann, H. / Preusker, U. (Hg.): Priorisierung statt Rationierung. Zukunftssicherung für das Gesundheitssystem, Heidel26
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
kussion. Es versteht sich von selbst, dass vor dem Rückgriff auf Priorisierungen und gar Rationierungen ethisch weit weniger problematische Maßnahmen wie das Ausschöpfen von Effizienzreserven vorzuziehen sind. Die Einsparungspotentiale reichen jedoch bei weitem nicht aus, um die steigenden Kosten aufzufangen; des ungeachtet scheinen die warnenden Stimmen aus der Ärzteschaft nicht wahrgenommen zu werden. 28
3.2 Die sog. diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG’s) als Rationierungsinstrument Diagnosebezogene Fallpauschalen sind das inzwischen klassische Beispiel erhoffter Kostenreduktion durch Rationierung. Deren normative Problematik beginnt mit der Nichtnennung des medizinisch wie ethisch zentralen Begriffs der Indikation, welche das Angezeigtsein einer präventiven, diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme bei einem Patienten betrifft. Ist eine solche Maßnahme zwingend (Lebensgefahr, schwere Erkrankung), spricht man von ›absoluter‹ oder ›vitaler‹ Indikation; ist die Gefahr für den Patienten nur bedingt oder existieren gleichwirksame Alternativen, spricht man von ›relativer‹ Indikation. 29 Es erscheint unmittelbar einsichtig, dass eine bei der Indikation ansetzende Rationierung – zumindest im Falle der absoluten bzw. vitalen Indikation – mit der ethischen Grundnorm des Lebensschutzes in einen nicht auflösbaren Konflikt geraten würde; berg 2010, 1–14, hier 12. Vgl. Fleischhauer, K.: Probleme der Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen durch Prioritätensetzung – ein Blick über die Grenzen, in: Jb. f. Wiss. u. Ethik 2 (1997), 137–156. 28 Vgl. die Stellungnahmen der Zentralen Ethikkommission (ZEKO) bei der Bundesärztekammer aus den Jahren 2000: »Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)«, in: Deutsches Ärzteblatt 2000, H. 15, 1017–23 und 2007: »Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)«, in: (www.zentrale-ethikkommission. de/downloads/Langfassung /Priorisierung.pdf), die nur »ein geringes Echo« (ZEKOStellungnahme 2007, 7) gefunden haben. Ähnlich von der Politik unbeachtet geblieben scheint der Sachstandsbericht der seinerzeitigen Enquetekommission des XV. Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2005 (Bericht vom 6. 9. 2005. Drucksache Nr. 15/5980). 29 Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch (259. Aufl.). Berlin / New York 2002, 788. Umgekehrt liegt eine Kontraindikation vor, wenn sich eine an sich mögliche medizinische Maßnahme aus anderen medizinischen Gründen verbietet. Vgl. op. cit. 890.
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Ärztliches Handeln unter Marktbedingungen? Individualethische Analyse
selbst im Falle des Rationierungsansatzes bei der relativen Indikation stehen wichtige ethische Normen wie Gerechtigkeit und Angemessenheit auf dem Spiel. 30 Deshalb setzt die Rationierung des DRG-Modells woanders an, bei der Diagnose nämlich. Unter ›Diagnose‹ versteht man die »Zuordnung von Beschwerdebildern zu einem Krankheitsbegriff«. 31 Nach Maßgabe der DRG’s erhalten die Kliniken diagnosebezogene Pauschalen, und zwar unabhängig davon, wie die Behandlungskosten des betreffenden Patienten de facto zu Buche schlagen. 32 Ausschlaggebend ist die sog. »Hauptdiagnose«. Es sind demnach nicht mehr wie früher die individuell unterschiedlichen medizinischen, ärztlichen und pflegerischen Bedürfnisse des Patienten noch auch die individuellen ärztlichen Indikationen, deren Behandlungskosten den Kassen seitens der Klinik in Rechnung gestellt werden können, sondern pauschalierte Kosten auf der Grundlage der genannten Hauptdiagnose. Liegen die faktischen Ausgaben unterhalb der Pauschale, macht die Klinik ein Plus, liegen sie hingegen höher als die Fallpauschale, zahlt die Klinik drauf. Auch wenn naturgemäß weiterhin der individuelle Patient behandelt wird: Die Abrechnung erfolgt nicht individuum-, sondern fallbezogen. Folge: Ärztlich bleibt der Patient, was er ist: ein unverwechselbares einmaliges Individuum mit seinen je eigenen medizinischen Bedürfnissen. Ökonomisch hingegen stellt er einen »Fall« einer unabhängig von ihm definierten Gruppe dar.
3.3 Die vierfache Problematik der Fallpauschalen Gedacht sind die Fallpauschalen als Kostenbegrenzungsmittel: 33 Sie sollen Druck auf einen möglichst sparsamen Umgang mit ökonomiVgl. Deutscher Ethikrat: Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen. Zur normativen Funktion ihrer Bewertung. Stellungnahme. Berlin 2011, 60 ff. – s. a. Marckmann, G.: Die Kosten-Nutzen-Bewertung als Allokationsinstrument – eine ethische Analyse. In: Frankfurter Forum: Diskurse. H. 4 (Okt. 2011), 14–25. 31 Pschyrembel (Fn. 29), 361. 32 lt. Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung wird »mit der obligatorischen Einführung des Fallpauschalensystems zum 1. 1. 2004 … ein großer Reformbaustein zur Modernisierung des Gesundheitswesens verankert. Die Fallpauschalen werden zu mehr Wirtschaftlichkeit, Transparenz und Qualität führen und die Modernisierung der Strukturen vorantreiben …«, in: BMGS 2003: Fallpauschaleneinführung. Bonn 2004. 33 Zu den DRG’s im Kontext der Krankenhausreform s. Henke, K.-D.: Ökonomische 30
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schen Ressourcen ausüben. Nun ist die Beachtung auch der Wirtschaftlichkeit eine schon genannte Vorschrift des Sozialgesetzbuches. Gleichwohl ist aus ethischer Sicht das Folgende problematisch: (1) Falsche Homogenitätsannahme: Das für den Einzelfall des Patienten – und es gibt den Patienten nur in der Form der Einzelheit und Unwiederholbarkeit – aus medizinischer und ärztlicher Sicht Erforderliche ist seiner Natur nach nicht, wie es das Konzept der DRG’s impliziert, abstrakt, extern, fallkonform und im Vorhinein quantitativ festlegbar; hier liegt vielmehr eine falsche Homogenitätsannahme vor. Dieselbe impliziert einen folgenreichen Übergang vom Individuellen zum Partikularen: Der Patient wird nicht in seiner Einmaligkeit, sondern als »Teil« (»partikular«, von lat. pars) einer Gruppe gesehen. (2) Patientenferne Realitätsannahme: DRG’s orientieren sich ihrer Natur nach nicht am ärztlichen Therapieresultat, sondern im Vorhinein an individuenübergreifenden Standards, der schon genannten sog. »Hauptdiagnose«. Ökonomisch stellt dies eine Einladung, wenn nicht einen Zwang zu geschickter Codierung dar, die aber nicht notwendig patientennah ausfällt. Die Kliniken erwirtschaften auf diese Weise Geld; ungeschickte Codierungen führen hingegen zu Einnahmeausfällen. Im Hinblick auf die Bedürfnisse von Patienten beruht das DRG-System insoweit auf einer patientenfernen Realitätsannahme. (3) Fehleingeschätztes Einsparungspotential: Der für den konkreten Patienten medizinisch und ärztlich erforderliche Mitteleinsatz wird durch die DRG’s prospektiv festgelegt. 34 Dies verleitet bzw. zwingt das Krankenhaus dazu, einerseits nicht nur individuell Notwendiges ggf. einzuschränken, sondern andererseits auch aus medizinischer und ärztlicher Sicht evtl. Nicht-Notwendiges in Ansatz zu bringen. Zugleich wird infolge der vorgeschriebenen Fokussierung auf die Hauptdiagnose anderes Behandlungsbedürftige ausgeblendet. Es darf insoweit bezweifelt werden, ob angesichts der zuletzt genannten Gefahr die durch die DRG’s gewollten und erhofften Einsparungen sich mittelfristig tatsäch-
Grundlagen der Krankenhausreform in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahresschrift für Sozialrecht 5 (2002), 327–340. 34 G. Maio nennt dies zutreffend »die Abkehr vom retrospektiven Kostenerstattungsprinzip auf die prospektive Fallpauschalenvergütung« (Fn. 24), 17.
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Ärztliches Handeln unter Marktbedingungen? Individualethische Analyse
lich einstellen oder ob es sich in Wirklichkeit um ein fehleingeschätztes Einsparungspotential handelt. (4) Erosionsgefahr des ärztlichen Ethos: Wenn es nicht gelingt, das DRG-Konzept durch entsprechende Modifikationen unter Berücksichtigung der Hilfsverpflichtung gegenüber dem individuellen Patienten und seinen Bedürfnissen zu justieren, dann dürfte dieses Konzept aus ethischer Sicht über kurz oder lang zu einer Erosion des ärztlichen Ethos bzw. zu einer Korrumpierung ärztlichen Handelns infolge fortschreitender Ökonomisierung führen: der Patient wird vorrangig – wenn nicht ausschließlich – zum Kostenfaktor: hier besteht ethische Erosionsgefahr. 35 Das DRG-Konzept steht insgesamt in der Gefahr, statt die für den Gesundheitsbereich bereitzustellenden Mittel den medizinischen Erfordernissen der Ärzte und den Bedürfnissen ihrer Patienten anzupassen, die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Patienten und die Erfordernisse der sie versorgenden Ärzte auf den Umfang der begrenzten Mittel zu reduzieren. Das jedoch steht im Konflikt mit den zentralen ethischen Normen des Respekts vor der Patienten- wie der Arzt-Autonomie sowie des Lebensschutzes, der Hilfsverpflichtung und der Gerechtigkeit. 36 Diese Normen beziehen sich nicht auf ›Gesundheit‹, die ihrer Natur nach kein »Ver- oder Zuteilungsgut« sein kann, sondern auf die Hilfe im Krankheitsfall. 37 Es gibt kein »Recht auf Gesundheit«. Die Verantwortung des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit seiner Bürger kann nicht deren Gesundheit zum Gegenstand oder Ziel haben, sondern nur die bestmögliche Krankheitsabwehr. Ethisch jedenfalls geht es nicht um ein Ethos des Anspruchs auf Wohlsein, sondern um ein solches des Schutzes und der Hilfe bei Krankheit. Damit stellt sich die Frage: Wie ist angesichts dieser Sachlage ein angemessener und zugleich hinreichend flexibler Umgang mit finanziellen Ressourcen im Gesundheitssystem möglich, der zugleich den Respekt vor der Autonomie der Beteiligten und das ärztliche Ethos des Helfens bewahrt?
Vgl. Maio, G. (Fn. 24), 52 ff., 111. Vgl. Souchon, R. / Herberhold, D.: »Zur Vereinbarkeit von ärztlichem Handeln und sozialem Auftrag von Krankenhäusern im Zeitalter der DRG«, in: GethmannSiefert, A. / Thiele, F. (Hg.) (Fn. 23), 2007, 271–279. 37 kritisch Gosepath, St.: »Kann das Gut Gesundheit gerecht verteilt werden?«, in: Nationaler Ethikrat (Hg.): Gesundheit für alle – wie lange noch? Rationierung und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, Berlin 2006, 19–33. 35 36
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4.
Priorisierung als Lösung?
4.1 Normative Grundlage von Priorisierungen ›Priorisierung‹ meint lt. Definition der ›Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer‹ (ZEKO) »die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Indikationen, Patientengruppen oder Verfahren vor anderen«. 38 Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Priorisierung und Rationierung hat die ZEKO schon vor Jahren betont: »Eine offene Diskussion über Priorisierung scheint … fruchtbarer als eine sich möglicherweise still vollziehende Rationierung unter verborgenen oder unklaren Prioritäten«. 39 Anders als Rationierung ist Priorisierung geeignet, darauf aufmerksam zu machen, dass bestimmte Krankheiten vermieden werden können: Das Wissen in der Bevölkerung, dass bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigungen hinsichtlich ihrer medizinischen Behandelbarkeit posteriorisiert bzw. niedrig priorisiert sind, könnte das Maß an Eigenverantwortung stärken, präventiv durch Änderung ungesunder Lebensweisen eine mögliche Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe zu vermeiden und auf diese Weise Kosten zu sparen. Auch hinsichtlich der Therapie hat Priorisierung einen wichtigen Einfluss, insoweit nämlich, als evidenzbasierte Medizin allemal höher priorisiert wird als nicht evidenzbasierte. Fehler einer unmittelbaren Rationierung, wie sie am Beispiel der DRG’s dargelegt worden sind, lassen sich durch die Vorschaltung von Priorisierungen, d. h. die Feststellung des grundsätzlichen Vorrangs (»Priorität«) bestimmter medizinisch-ärztlicher Maßnahmen wirksam vermeiden. 40 Die Vorzüge 41 von Priorisierungen gegenüber Rationierungen bestehen in einem Dreifachen: (1) Vermeidung von Diskriminierung: Der Einzelne wird als Patient nicht unerwarteterweise mit dem Vorenthalten ärztlicher Leistungen konfrontiert; vielmehr weiß auf der Grundlage in der Öffentlichkeit bekannter Priorisierungen jedermann, ob Patient ZEKO (2000) Prioritäten in der medizinischen Versorgung (Fn. 28), 1017. ZEKO 2007 (Fn. 28), 402. 40 Priorisierungen schließen definitorisch Posteriorisierungen ein. Wenn, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, die Impfung gegen die sog. »Schweinegrippe« prioritär bei Schwangeren, Risikopatienten und Angehörigen des Gesundheitswesens vorgenommen wird, dann ist die mögliche Impfung derjenigen, die nicht zu diesen drei Gruppen zählen – und das ist der weit überwiegende Teil der Bevölkerung – posteriorisiert. 41 Kritisch zu Priorisierungen s. Maio, G. (Fn. 24), 120 ff. 38 39
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Priorisierung als Lösung?
oder nicht, dass bestimmte medizinisch-ärztliche Leistungen prinzipiell und ausnahmslos nicht mehr bzw. zumindest nicht mehr vorrangig angeboten werden. Anders als Rationierungen, die ohne vorhergegangene Priorisierung stets in der Gefahr der Diskriminierung einzelner Patienten oder Patientengruppen stehen, verletzt das Priorisierungsverfahren als solches nicht die ethische Norm der Gerechtigkeit, da im Grundsatz jedermann gleichermaßen nachteilig betroffen ist. (2) Öffentlichkeit und Transparenz: Priorisierungen vollziehen sich im Unterschied zu Rationierungen öffentlich und transparent und stehen somit insoweit nicht in der Gefahr, wie Rationierungen die ethischen Normen der Solidarität 42 und Fairness 43 zu verletzen. (3) Verantwortungsförderung der Patienten: Der Einzelne kann sich aufgrund der Priorisierungen vor Krankheitseintritt auf Rationierungen durch entsprechende Maßnahmen (Änderung des Lebensstils, Präventivmaßnahmen, Abschluss von Zusatzversicherungen, etc.) gemäß der ethischen Pflicht zur Eigenverantwortung einstellen.
4.2 Zur Bedeutung der Verantwortung des Patienten Letzteres spielt eine oft übersehene Rolle angesichts der Problematik der Mittelknappheit im Gesundheitswesen: die Verantwortung des Patienten nämlich für die partielle Vermeidung bzw. mögliche Reduzierung von Krankheitskosten. Der Patient trägt die Verantwortung für seinen eigenen Beitrag zu seiner Gesundung, nämlich alles zu tun, was dieselbe ermöglicht und beschleunigt, und er trägt die Verantwortung vor der Gesellschaft resp. der Solidargemeinschaft der Versicherten dafür, dass der Mitteleinsatz für die Behandlung seiner Krankheit auf das Notwendige beschränkt bleibt.
lt. ZEKO 2000 (Fn. 28), 1020, setzt Priorisierung »eine Solidargemeinschaft und einen Bereich solidarisch finanzierter Leistungen« voraus. 43 Fairness betrifft die Bevorzugung des schlechter Gestellten. Dieser Gedanke geht auf John Rawls, A Theory of Justice, dt. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1979, zurück. In der Sache ist er schon sehr viel länger bekannt: Schon in der Bibel heißt es bekanntlich, dass den Schwachen und Armen in besonderer Weise geholfen werden muss (z. B. Lukas 4, 17–19 und Matthäus 15, 5). 42
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Hintergrund ist wiederum die menschliche Grundverfasstheit der Autonomie. Dieselbe verlangt im Falle der Arzt-Patient-Beziehung nicht nur den Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht beider, sondern einmal mehr die selbstbestimmte Übernahme von Verantwortung auf beiden Seiten: auf der Seite des Arztes für das Wohl seines Patienten und auf der Seite des Patienten für das aktive Mittun zwecks Erreichen des Behandlungsziels. Dass Patienten in der rein passiven Haltung des Sich-behandeln-lassens ohne eigenes Mittun verharren, steht im Widerspruch zu ihrer Autonomie, die sich erst im aktiven Mithandeln manifestiert. Dass der Patient durch sein Mittun nicht nur das Bemühen des Arztes um Heilung unterstützt, sondern zugleich auch die Kosten verringert, zeigt den Zusammenhang und die Bedeutung der Patientenautonomie für eine mögliche Kostenreduktion. 44 Dagegen steht eine andere ethische Norm der Kostenreduktion im Wege: das Gebot der Gerechtigkeit.
4.3 Die Norm der Gerechtigkeit Der Kostendruck im Gesundheitswesen führt im Arzt-Patient-Verhältnis ständig zur Gefahr ungleicher Behandlung gleicher oder vergleichbarer patientenseitiger Bedürfnisse: sei es, dass die Mittel fehlen, Gleiches gleich zu behandeln, sei es, dass die Versicherungszugehörigkeit – hier Privatpatient, dort Kassenpatient – zu Vorzügen für den einen und Nachteilen für den anderen führen. Nun spielt Gerechtigkeit in der ärztlichen Teleologie neben den Normen der Respektierung der Autonomie des Patienten und seines Selbstbestimmungsrechts sowie des Patientenwohls (bonum facere) und der Schadensvermeidung (nihil nocere) eine gewichtige Rolle. Dabei gilt es zwischen zwei Auffassungen von Gerechtigkeit zu unterscheiden, der ›kommutativen‹ und der ›distributiven‹. 45 Der Gedanke der kommutativen Gerechtigkeit findet im Bereich des Gesundheitswesens bei denjenigen Unterstützung, die die begrenzten Ressourcen in der Medizin nach dem Prinzip verteilt sehen möchten:
Vgl. Marckmann, G.: Verteilungsgerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung, in: Düwell, M. / Steigleder, K. (Hg.): Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt/M. 2003, 333–343. 45 Diese Unterscheidung geht auf Aristoteles zurück; s. seine Nikomachische Ethik, Buch V, Kap. 5–7; 1130b6 – 1132b20. 44
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Priorisierung als Lösung?
Wer viel eingezahlt hat, soll viel erhalten. Anders diejenigen, die das Prinzip der distributiven Gerechtigkeit angewandt wissen wollen, wonach grundsätzlich Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden muss. Nach dem Prinzip der distributiven Gerechtigkeit wäre es absolut ungerecht, Menschen mit ein und derselben Krankheit und damit ein und derselben Notwendigkeit der Inanspruchnahme von Ressourcen unterschiedlich zu behandeln: Ungeachtet individueller Unterschiede ist alleiniger Legitimationsgrund der Inanspruchnahme von Ressourcen die Krankheit und ihre mit den erforderlichen Mitteln versuchte Heilung. Die Entscheidung über die beiden genannten Gerechtigkeitsverständnisse kann man jedoch nicht dem Einzelnen anheimstellen. Vielmehr gilt es festzustellen, welche der beiden Auffassungen welchen Situationen gerecht wird und welche jeweils nicht. Man nehme den Bereich der Existenzsicherung, 46 in dem es um Hilfe bei schweren Krankheiten und um Lebensrettung geht. Räumt man dem kommutativen Verständnis von Gerechtigkeit in diesem Bereich normative Bedeutung ein, kommt es unweigerlich zum Konflikt mit der Lebensschutznorm; nämlich immer dann, wenn der Mitteleinsatz zwecks Lebensrettung und Hilfe bei schwerer Krankheit vom finanziellen Einsatz des Patienten abhängig gemacht würde. Davor bewahrt nur das distributive Verständnis von Gerechtigkeit, demzufolge in Fällen der Lebensrettung und Hilfe bei schwerer Krankheit die Bindung der erforderlichen Ressourcen nicht vom finanziellen Einsatz des Patienten abhängig gemacht werden darf. Dagegen eignet sich das Verständnis der kommutativen Gerechtigkeit durchaus hinsichtlich der normativen Begründung der Inanspruchnahme von Ressourcen in Bezug auf den gesundheitlichen Wohlseinsbereich, in dem es um die Hilfe bei kleineren Erkrankungen und um eine Verbesserung des Lebens geht: Hier lässt sich rechtfertigen, dass Art und Umfang der Ressourcenbindung in einem angemessenen und insoweit gerechten Verhältnis zum finanziellen Einsatz des Einzelnen stehen müssen. Mit einem Wort: In Bezug auf Existenzsicherung hat die Anwendung der Norm der Gerechtigkeit
Zum ethisch relevanten Unterschied zwischen ›Existenzsicherung‹ und ›Wohlseinsverbesserung‹ vgl. Beckmann, J. P.: »Gentests und Versicherungen«, in: ders.: Ethische Herausforderungen der modernen Medizin. Freiburg 2009, 184–203, hier 201 f.
46
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
eine egalisierende, in Bezug auf die Wohlseinsoptimierung hat sie eine inegalisierende Bedeutung. Bleibt die Frage, wie das Verhältnis zwischen Priorisierung und Rationierung aus ethischer Sicht sich ausnimmt.
5.
Das Verhältnis Priorisierung – Rationierung
5.1 Vorrangigkeit von Priorisierungen Aufgrund des Dargelegten versteht sich, dass aus ethischer Sicht aller Rationierung in der Medizin Priorisierung vorausgehen muss, nicht umgekehrt. 47 Da Rationierung im Vorenthalten ärztlicher Leistungen besteht, muss, um die Diskriminierung einzelner Patienten zu vermeiden, Priorisierung durch einen öffentlichen, transparenten gesellschaftlichen Konsensfindungsprozess vorausgegangen sein. 48 Das ökonomische Ethos der Priorisierung, so der Medizinethiker G. Maio, besteht darin, »die begrenzten Mittel mit möglichst geringem Schaden und mit möglichst großem Nutzen einzusetzen«. 49 Prioritäten, so die ZEKO der Bundesärztekammer, können »nur multi- und interdisziplinär erarbeitet werden«, 50 wobei der Medizin die fundierende und Ökonomie und Ethik die limitierende Funktion zufällt. Der limitierende Prozess muss sich sodann öffentlich und transparent vollziehen mit dem Ziel eines gesellschaftlichen Konsenses. Auch ist die Priorisierung ausweispflichtig: Priorisierungen sind in regelmäßigen Abständen zu überprüfen und den Gegebenheiten anzupassen. Unterscheidet man in der ärztlichen Versorgung das absolut Notwendige vom Zweckmäßigen und beides vom Sinnvollen und dies alles vom wirtschaftlich Vertretbaren, wird die normative VerknüpOb dies bedeuten kann, dass Priorisierung Rationierung ersetzt, muss im konkreten Fall entschieden werden. Vgl. Lohmann, H. / Preusker, U. (Hg.): Priorisierung statt Rationierung. Zukunftssicherung für das Gesundheitssystem, Heidelberg 2010. Vgl. auch ZEKO 2002 (Fn. 28). 48 In der gegenwärtigen Diskussion unterscheidet man zwischen »horizontaler« und »vertikaler« Priorisierung: Erstere priorisiert bestimmte medizinische Bereiche untereinander (z. B. »Eher Mittel für Intensivmedizin als für Sportmedizin«), letztere priorisiert innerhalb eines bestimmten Bereiches (z. B. »Junge Patienten erhalten eher ein junges Spenderorgan als alte«. 49 Maio, G.: Warum die Rationierung medizinischer Leistungen keine einfache Lösung ist, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 12, 2002, 1573–74, hier 1573. 50 ZEKO: Priorisierung medizinischer Leistungen (Fn. 28), 403. 47
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Das Verhältnis Priorisierung – Rationierung
fung ebenso deutlich wie das mögliche Konfliktpotential. Deutlich wird, dass man Priorisierungen mit der Folge von Rationierungen aus ethischer Sicht im Bereich des absolut Notwendigen kaum für rechtfertigungsfähig wird halten können, ohne, wie dargelegt, in einen unausweichlichen Konflikt mit den Normen des Lebensschutzes und der Gerechtigkeit zu geraten, wobei man den Begriff des absolut Notwendigen dahingehend bestimmt, dass ohne einen Mitteleinsatz in diesem Bereich menschliches Leben akut gefährdet wäre oder schwere dauerhafte Schädigungen zu erwarten wären. Aber auch im Bereich des medizinisch Zweckmäßigen wird man nicht, jedenfalls nicht ohne weiteres, mit Priorisierungen und damit in der Folge von Leistungsvorenthaltungen arbeiten dürfen, sofern man unter ›medizinisch zweckmäßig‹ diejenigen ärztlichen Leistungen versteht, die, wie es die BÄK formuliert, »eine ausreichende Chance bieten, ein als wichtig anerkanntes Behandlungsziel tatsächlich zu erreichen«. 51 Besonderer Aufmerksamkeit bedarf die Norm des wirtschaftlich Vertretbaren, weil u. U. mit der Lebensschutznorm im Konflikt. Entscheidend sind hier die Kriterien der Zweckmäßigkeit, der Tauglichkeit und der tatsächlichen Zielerreichbarkeit, was eine Ausrichtung am konkreten Einzelfall unabdinglich macht. 52 Hierbei spielt die evidenzbasierte Medizin eine wichtige, aber nicht die ausschließliche Rolle.
5.2 Priorisierung nur auf der Makroebene. Priorisierung darf, ethisch korrekt angewandt, niemals auf der Mikro-, sondern stets nur auf der Makroebene stattfinden. Priorisierungen auf der Mikroebene würden einzelne Patienten oder Patientengruppen diskriminieren, was mit den Normen des Respekts vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen sowie vor seinem Lebensschutz in unauflöslichem Konflikt stünde. Die ökonomisch wirksame und ethisch rechtfertigungsfähige Ebene von Priorisierungen ist der Makrobereich: Einzig dieser ist anonym, universal und transparent.
ZEKO, op. cit. (Fn. 28), 405. Auch das BVerfG spricht in seinem Beschluss vom 6. 12. 2005 (1 BVerfG 347/98) von der »Wirksamkeit einer Behandlungsmethode im Einzelfall«.
51 52
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
5.3 Gegenstand von Priorisierungen sind niemals Patienten, sondern stets Handlungsziele. Priorisiert man medizinische Indikationen, läuft man Gefahr, in die ärztliche Handlungsfreiheit einzugreifen; priorisiert man bestimmte Verfahren, droht die Gefahr einer Anonymisierung; priorisiert man bestimmte Patientengruppen, besteht die Gefahr der Diskriminierung. Schaut man näher hin, so zeigt sich, dass Priorisierungen nur mittelbar Indikationen, Verfahren und Patientengruppen betreffen. Priorisieren heißt genaugenommen, Handlungsziele in eine Rangordnung zu bringen. So ist das Handlungsziel, Menschenleben zu retten und zu erhalten, von höherer Rangordnung als das Handlungsziel, körperliche Beeinträchtigungen zu lindern, und dieses wiederum höher als das Handlungsziel, die Abwehrkräfte des Menschen gegen Krankheiten zu stärken, und dieses wiederum höher als das Handlungsziel, bestimmte somatische oder psychische Fähigkeiten des Menschen zu stärken. Auf der obersten Stufe der Handlungsziele steht die Norm des Lebensschutzes, auf der untersten diejenige der Wohlseinsverbesserung. Die dazwischen liegenden Handlungsziele werden aufsteigend immer wichtiger und absteigend immer weniger wichtig, oder in der Terminologie der Priorisierung: aufsteigend immer höher priorisiert, absteigend zunehmend posteriorisiert.
5.4 Stärken und Schwächen von Priorisierungen Mit Recht weist der schon genannte Text der Bundesärztekammer darauf hin, dass Priorisierungen keine Abstriche an humanitärer Zuwendung implizieren dürfen: »Humanität im Sinne von § 70 SGB V ist nicht posteriorisierbar«. 53 Dies hat zum einen einen logisch-semantischen und zum anderen einen ethischen Grund. ›Humanität‹ ist ein Begriff, der seiner Logik und Semantik nach weder steigerbar noch verringerbar ist: Eine Handlung ist entweder human oder inhuman, es gibt dazwischen keine Intensitätsgerade. Und auch in ethischer Hinsicht ist die Norm der Humanität nicht variierbar, besagt sie doch, dass jeder Mensch menschengemäß, d. h. seinen unabweisbaren Bedürfnissen entsprechend, zu behandeln ist.
53
ZEKO, op. cit. (Fn. 28), 406.
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Das Verhältnis Priorisierung – Rationierung
Angezeigt ist hier jedoch eine Differenzierung zwischen absoluter und relativer Bedeutung der Verpflichtung des Arztes zu ökonomischem Mitteleinsatz: absolut ist die Verpflichtung zum sparsamen Umgang mit den Ressourcen in Bezug auf leichte gesundheitliche Beeinträchtigungen mit vergleichsweise geringem Krankheitswert und einem hohen natürlichen Selbstheilungspotential; relativ hingegen ist die Verpflichtung zu sparsamem Mitteleinsatz bei schweren und vor allem bei lebensbedrohlichen Erkrankungen. Solange in diesem Bereich Aussicht auf Erfolg besteht, kann der Arzt nicht gezwungen werden, die Inanspruchnahme der Ressourcen wegen der Rücksicht gegenüber zukünftigen Patienten mit ähnlich schweren Krankheiten zu begrenzen. Hier zeigt sich eine besondere Gefahr von Prioritätenlisten: nämlich nur vordergründig lediglich zwischen Handlungszielen, de facto aber und unvermeidlich zwischen Kranken zu priorisieren. 54 Zu den unbestreitbaren Stärken von Priorisierungen gehören ihre Transparenz und Allgemeingültigkeit: Jeder aktuelle oder potentielle Patient kann sich mit einem Blick in die Liste darüber informieren, welche ärztlichen Handlungsziele bzw. deren Kosten solidarisch getragen werden und welche nicht, und er kann dies mit der Sicherheit tun, dass dies unabhängig von ihm für alle gleichermaßen gilt. Zu den empfindlichen Schwächen von Prioritätenlisten gehört, dass sie 1. das ärztliche Ethos des Helfens einem fiskalischen Kalkül unterwerfen und dass sie 2. angesichts der unterschiedlichen Vermögensverhältnisse in der Bevölkerung über kurz oder lang zu einer »Zweiklassenmedizin« führen: Die finanziell besser Gestellten können die Kosten der nicht gelisteten Krankheiten leichter privat tragen als die finanziell schlechter Gestellten. Wägt man Vor- und Nachteile gegeneinander ab, so wird man sowohl unter ökonomischer wie ethischer Sicht das Folgende festhalten: (1) Der als Existenzsicherung bezeichnete Bereich muss aus ethischer Sicht aus Respekt vor der Lebensschutznorm vor Priorisierungen grundsätzlich geschützt bleiben. Die BÄK hat acht Schritte einer Priorisierungsdiskussion vorgeschlagen; sie reichen vom Ausgang von ethischen, rechtlichen und politischen Prinzipien über die Feststellung der Aufgaben und Ziele, die Darstellung und Bewertung der Versorgungssituation, qualitative und quantitative Merkmale der Krankheit (Schweregrad, Prognose, Dringlichkeit), die Zweckmäßigkeit der Intervention, Alternativen, Kosteneffizienz bis hin zu den Erwartungen und Präferenzen der Beteiligten (Fn. 28).
54
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
(2) Der Bereich der sog. Wohlseinsverbesserung hingegen ist seiner Natur nach Nutzenkalkülen zugänglich und bildet insofern den aus ethischer Sicht am ehesten für Priorisierungen geeigneten Bereich. (3) In dem dazwischen liegenden Bereich muss zwischen medizinischer Bedürftigkeit, erwartbarem Nutzen und Kosteneffektivität abgewogen werden.
5.5 Ergebnisse Die vorstehende individualethische Analyse des Umgangs mit dem Kostendruck auf der Ebene der Arzt-Patient-Beziehung hat ein Vierfaches gezeigt: (1) Den Rationierungen müssen aus ethischer Sicht Priorisierungen vorausgehen (Normen: Gerechtigkeit und Diskriminierungsverbot). (2) Adressaten von Rationierungen dürfen nur Therapieformen, niemals Patienten sein (Normen: Würde und Autonomie des Individuums). (3) Eine Vorenthaltung medizinisch indizierter Therapie aus Kostengründen ist in Fällen der Lebensrettung und der Behandlung schwerer und/oder chronischer Krankheiten ausnahmslos rechtfertigungsunfähig und damit für Priorisierungen und Rationierungen prinzipiell unzugänglich (Normen: Lebensschutz, ärztliche Pflichten des Patientenwohls und der Schadensvermeidung). (4) Im Bereich der nicht lebensbedrohlichen, schweren und/oder chronischen Erkrankungen sind Rationierungen aus ethischer Sicht u. U. dann rechtfertigungsfähig, wenn ihnen Priorisierungen vorausgegangen sind (Normen: Verhältnismäßigkeitsprinzip). Dem fortschreitenden Druck der Ökonomisierung in der Medizin lässt sich aus ethischer Sicht strukturell, wenn überhaupt, auf der Mikroebene von Arzt und Patient nur in sehr engen Grenzen begegnen. Zwar tragen Arzt und Patient, wie dargelegt, gemeinsam die Verantwortung, den medizinisch erforderlichen Mitteleinsatz auf das wirtschaftlich Notwendige, Zielführende und Verhältnismäßige zu begrenzen. Das strukturbedingte zunehmende Mitteldefizit im Gesundheitswesen muss jedoch auf der Makroebene angegangen 324 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Ressourcengewinnung und -allokation im Gesundheitswesen
werden. Es ist dies grundsätzlich eine unabdingliche Aufgabe von Politik und Gesellschaft. Ethische Grundlage ist die Norm der Solidarität. Damit verlassen wir die individualethische Analyseebene zugunsten der kollektivethischen.
6.
Ressourcengewinnung und -allokation im Gesundheitswesen aus kollektivethischer Sicht: Der Konflikt zwischen gesellschaftlicher Solidarität und individuellem Lebensschutz
Die vorhergegangene individualethische Analyse hat gezeigt, dass medizinisch-ärztliche Entscheidungen infolge ihrer Mittelbindung vor allem hinsichtlich schwerer Krankheiten, aber auch schon in Bezug auf »normale« behandlungsbedürftige Krankheiten eine gravierende ethische Herausforderung darstellen. Dieser Herausforderung kann aber nur begegnet werden, wenn auf der Makroebene hinreichend Mittel generiert und der Mikroebene zur Verfügung gestellt werden. Beides aber ist vielfach nicht der Fall. Abhilfe können nur Politik und Gesellschaft schaffen, denn beide entscheiden über den Mittelzufluss an das Gesundheitswesen. Zwar bleibt das ärztliche Ethos des Heilens und Helfens autark, dies jedoch unter den Bedingungen und in den Grenzen des tatsächlichen Zugangs der benötigten Mittel. Die Mittelerbringung im Gesundheitswesen bedarf mithin einer eigenen ethischen – und da es um Politik und Gesellschaft geht – einer kollektivethischen Analyse. 55
6.1 Zur Mittelaufbringung im Gesundheitswesen. Im Mittelpunkt der kollektivethischen Analyse stehen die beiden Fragen, ob sich die heutige Gesellschaft noch als Ganze in der Verantwortung für den kranken Mitmenschen weiß, und auf welcher normativen Basis sie die erforderlichen Mittel aufbringt.
Zum Folgenden vgl. Beckmann, J. P.: Health Care under Market Conditions – An Ethical Analysis. In: Albach, H. et al. (Hg.): Boundaryless Hospital. Rethink and Redefine Health Care Management. New York / London 2016, 41–56. Vgl. Fleischhauer, K.: Aufbringung und Verteilung von Mitteln für das Gesundheitswesen. Regelungen und Probleme in Deutschland, Großbritannien und den USA. Freiburg 2007.
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Beide Fragen stellen sich mit besonderer Dringlichkeit angesichts des Umstandes, dass die Kosten des Gesundheitswesens seit Jahren in einem rasanten Anstieg begriffen sind. Beliefen sich die Gesundheitsausgaben in Deutschland noch anfangs der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf jährlich knapp 100 Mrd. Euro, so haben sie sich in den vergangenen 30 Jahren fast verdoppelt. Da dieser Ausgabensumme nicht genug Einnahmen gegenüber standen, hatte der seinerzeitige Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Hoppe, schon im Frühjahr 2009, bei der Eröffnung des 112. Deutschen Ärztetages, die Frage aufgeworfen, »welche Therapiemöglichkeiten für welche Patienten in Zukunft zur Verfügung stehen und worauf unter Umständen verzichtet werden muss«. 56 Seither ist der Kostendruck weiter gewachsen, doch Politik und Gesellschaft scheinen die Ärzteschaft mit diesem Problem allein zu lassen oder behaupten, mit Hilfe einer Gesundheitsreform und/oder dem Ausschöpfen von Effizienzreserven Kosten auf anderem Wege einzusparen und so Priorisierungen und Rationierungen vermeiden zu können. 57 Nun versteht es sich von selbst, dass vor dem Rückgriff auf Priorisierungen oder gar Rationierungen ethisch weit weniger problematische Maßnahmen wie das Ausschöpfen von Effizienzreserven vorzuziehen sind. Die Einsparpotenziale reichen jedoch bei weitem nicht aus, um die steigenden Kosten aufzufangen; gleichwohl scheinen die kritischen Stimmen aus der Ärzteschaft nicht wahrgenommen zu werden. Es sind vor allem die folgenden fünf Faktoren, welche die Kosten des Gesundheitswesens hochtreiben: (1) beachtliche Fortschritte in der Entwicklung neuer Therapieformen und diagnostischer Hilfsmittel, (2) aber auch die erhöhten Kosten bisher verabsäumter Finanzierung von Innovationen; (3) ein in Veränderung befindliches Gesundheits- und Krankheitsverständnis, (4) die steigende Lebenserwartung, 112. Deutscher Ärztetag (19.–22. 5. 2009). Rede des Präsidenten Prof. Hoppe über »Verteilungsgerechtigkeit durch Priorisierung – Patientenwohl in Zeiten der Mangelverwaltung« (www.bundesaerztekammer.de). 57 Vgl. Schröder, K. Th.: Die Priorisierung von Gesundheitsleistungen widerspricht den Grundsätzen unseres Sozialstaates, in: Lohmann, H. / Preusker, U. K. (Hg.): Priorisierung statt Rationierung. Zukunftssicherung für das Gesundheitssystem. Heidelberg 2010, 1–14, hier 12, 56
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Ressourcengewinnung und -allokation im Gesundheitswesen
(5) und last but not least steigende Erwartungen an das Gesundheitssystem (»Wunschmedizin«, »Enhancementangebote«, »Wohlseinsvorsorge«, etc). Hierzu im Einzelnen: zu 1: Allem voran sind es infolge ständiger Fortschritte in der medizinischen Forschung neue, meist höchst kostspielige Handlungsoptionen, welche zu nicht unerheblichen Kostensteigerungen führen – man denke nur an die diagnostischen Möglichkeiten der sog. bildgebenden Verfahren wie CT, MRT und vor allem der Positronenemissionsgeräte (PET). Entwicklung und Verwendung derartiger Geräte sind extrem teuer; in Heidelberg ist 2009 z. B. ein medizinisch einsetzbarer Teilchenbeschleuniger im Wert von 120 Mio. Euro in Betrieb genommen worden, der infolge seiner Strahlungsgenauigkeit Patienten mit bisher schwer oder gar nicht behandelbaren Hirntumoren zu neuen Therapiehoffnungen verhilft. Indes: Zwischen medizinisch-technisch Machbarem und solidarisch Finanzierbarem klafft eine immer größer werdende Lücke. zu 2: Das Gesundheitssystem benötigt wie alle finanzierungsabhängigen Systeme die Bildung von Rücklagen zum Zweck der Entwicklung und Finanzierung von Innovationen, für die aber nicht oder nur ungenügend vorgesorgt wird. zu 3: Sodann macht ein in ständiger Erweiterung begriffenes Gesundheits- bzw. Krankheitsverständnis immer mehr Ressourcen erforderlich. Gesundheit soll »optimiert«, Krankheit möglichst eradiert werden. Hinzukommt eine sog. Verbesserungsmedizin, vor allem im Bereich der Altersmedizin, in der die natürlichen Einschränkungen des alternden Menschen von vielen irrtümlich als reine »Defektphänomene« betrachtet werden. zu 4: Einen Kostensteigerungsfaktor besonderer Art stellt der demographische Faktor dar: die gestiegene und weiterhin steigende Lebenserwartung vieler Menschen. Dabei wird häufig übersehen, dass es nicht eigentlich das Immer-älter-Werden als solches ist – über 90-Jährige hat es auch vor 100 Jahren schon gegeben –, sondern dass immer mehr Menschen so alt werden. zu 5: Last, but not least sind es generell die gestiegenen Erwartungen und Ansprüche der Patienten, die die finanziellen Engagements im Gesundheitswesen in die Höhe treiben. Führt bereits jeder einzelne der hier genannten kostensteigernden Faktoren zu Finanzierungsengpässen, so kann es nicht wunder nehmen, dass alle fünf zusammen eine brisante Mischung darstellen, 327 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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mit der Folge, dass das gegenwärtige Gesundheitswesen schon jetzt nachhaltig überfordert ist. Hinzukommt, dass hinsichtlich der gesetzlichen Krankenversicherung immer weniger Erwerbstätige die Kosten für immer mehr Kranke aufbringen müssen. Ohne Rationierung, so maßgebliche Stimmen aus Ärzteschaft und Krankenkassen, wird es nicht weitergehen. Dabei existieren bestimmte Formen der Rationierung schon seit längerem. So wurde schon in den 80er Jahren für Allgemeinarztpraxen hinsichtlich der Behandlung der gesetzlich Versicherten eine Budgetierung eingeführt; seit Anfang der 90er Jahre gibt es die Deckelung von Klinikausgaben und seit 2004 die bereits diskutierte Fallpauschalenregelung (DRG). Gleichwohl fehlt es an einer derartige Rationierungen ökonomisch wie ethisch fundierenden Analyse und Diskussion.
6.2 Mittelaufbringung auf der Makroebene Die dem Gesundheitswesen zur Verfügung stehenden Mittel werden hierzulande durch Steuern und zum größten Teil durch die Zahlungen der Versicherten an die gesetzlichen Krankenkassen und die privaten Krankenversicherungen erbracht. Grundlage ist in Deutschland bekanntlich ein »gesplittetes« System der Gesetzlichen (GKV) und der Privaten Krankenversicherung (PKV). Der GKV gehören 90 % der Bevölkerung an, der PKV die restlichen 10 %. Die beiden Versicherungstypen beruhen auf völlig unterschiedlichen ökonomischen wie sozialethischen Prinzipien: die GKV ist bis zu einer bestimmten Grenze einkommensabhängig und beruht auf dem Prinzip der Solidarität, 58 die PKV ist einkommensunabhängig und beruht auf dem Prinzip der Risikotarifierung. Das Solidaritätsprinzip besagt, dass jeder Versicherte nach Maßgabe seiner Möglichkeiten – hier: seines Einkommens – beiträgt, das Risikotarifierungsprinzip dagegen, dass der einzelne Versicherte nach Maßgabe seiner mutmaßlichen Leistungsinanspruchnahme aufgrund seines Alters und seines persönlichen Risikoprofils einzahlt. Die finanzielle Mittelerbringung der GKV ist – bis zu einer bestimmten Bemessungsgrenze – an das Lohneinkommen 59 gebunden, diejenige der PKV hingegen nicht. Inzwischen liegt offen zutage, dass die Anbindung der Mittelerbrin58 59
Vgl. Buch I, § 1 Sozialgesetzbuch. Dem Solidaritätsprinzip folgend müsste es an das (steuerpflichtige) Gesamtein-
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Ressourcengewinnung und -allokation im Gesundheitswesen
gung an die Arbeitsentgelte bei weitem nicht mehr ausreicht; im Gegenteil, mit dem Sinken der Grundlohnsumme wird die Unterfinanzierung des heutigen Gesundheitswesens im Bereich der GKV und damit für 90 % der Bevölkerung immer größer. Auch schafft die Pflichtversicherung, indem sie die Belastung des Individuums durch die Krankheitskosten vom Lohneinkommen abhängig macht, kaum Anreize, im eigenen Krankheitsfall die Kosten zu beachten. Die Privatversicherung hingegen vermittelt solche Anreize zum mindesten indirekt insofern, als der Einzelne weiß, dass die Nichtbeachtung der Kosten über kurz oder lang zur Erhöhung der Prämie für sein Jahrgangskollektiv führen wird. Insgesamt betrachtet gibt jedoch das »gesplittete« deutsche Krankenversicherungssystem für die Eigenverantwortung des Patienten im Hinblick auf die Reduzierung der durch seine Krankheit verursachten Kosten auf das Notwendige bei 90 % der Versicherten überhaupt keinen und bei den restlichen 10 % allenfalls einen indirekten Anreiz zur Verantwortungsübernahme für eine Kostenreduktion. Dieser Negativeffekt wird bei 90 % der Versicherten noch dadurch verstärkt, dass sie in der Regel die von ihnen und ihrer Krankheit verursachten Kosten gar nicht erst zu Gesicht bekommen, weil die ärztlichen Leistungen zwischen Arzt und Krankenkasse direkt abgerechnet werden. Dass mit der Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen immer auch eine Inanspruchnahme von Mitteln verbunden ist, bleibt so für den Großteil der Patienten abstrakt und selbst für die relativ kleine Gruppe der privat Versicherten eine dem Anschein nach unbeeinflussbare Größe.
6.3 Ver- und Zuteilung ökonomischer Ressourcen auf der Mesound auf der Mikroebene Zwischen der Verteilung und der Zuteilung von Mitteln ist insofern zu unterscheiden, als beides auf je eigener Ebene erfolgt: die Mittelverteilung auf der Meso-, die Mittelzuteilung auf der Mikroebene; erstere ist anonym und allgemein, letztere konkret und individuell. Es liegt in der Natur der Sache, dass die auf der Mikroebene, in der interpersonalen Arzt-Patient-Beziehung, zuteilbaren Mittel von der Menge der – im Rahmen der Gesamtmittel eines Staates – an die kommen gebunden werden, also neben dem Arbeitsentgelt auch evtl. Einnahmen aus Vermögen, Vermietung, Aktienbesitz, Zinsen etc. einschließen.
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Kliniken und Praxen anonym verteilten Mittel abhängt und diese wiederum abhängig sind vom Umfang der Mittelaufbringung auf der (anonymen) Makroebene des Staates und der Kassen bzw. Versicherungen. 6.3.1 Die Mesoebene Die Mittelgenehmigungen der Kassen und Versicherungen sind ihrerseits abhängig von vorhergegangenen Mittelaufbringungen seitens der Versicherten und vor allem seitens des Staates. Der einzelne Arzt vermag nur diejenigen Mittel zu allozieren, die ihm zur Verfügung gestellt werden, die Kassen und Versicherungen können nur die Mittel zuteilen, die ihr Gesamtetat zulässt, und die öffentliche Hand nur die Mittel verteilen, die dem Gesundheitssystem insgesamt zufließen. Dieses finanzielle Mehrebenensystem schafft naturgemäß einseitige Abhängigkeiten: der Mikroebene »Arzt/Patient« von der Mesoebene »Praxis/Klinik« und diese von der Makroebene »Gesamtvolumen des Gesundheitssystems.« Das Maß der Mittelzuteilung ist vom Umfang der Mittelverteilung und dieses hinwiederum vom Gesamt der Mittelerbringung abhängig. Allen drei Ebenen gemeinsam ist, dass die Allokation von Ressourcen naturgemäß stets unter limitierenden Bedingungen erfolgt: Es gibt, ökonomisch gesprochen, keine unbegrenzten Ressourcen. 60 Unterschiede der genannten drei Ebenen zeigen sich hinsichtlich der Adressaten der jeweiligen Allokation: auf der Makroebene sind die Adressaten anonym, auf der Mesoebene erscheinen sie lediglich der Anzahl nach in »Fallgruppen«, und erst auf der Mikroebene tritt der individuelle Patient als Adressat der Allokationsentscheidung in Erscheinung. 6.3.2 Spannungen So unumgänglich die Unterscheidung zwischen der Makro-, der Meso- und der Mikroebene – und damit zwischen Erbringung, VerteiDer seit 2009 bestehende Gesundheitsfonds, der die Beiträge der Arbeitgeber, der Sozialversicherungsträger und der in der GKV bzw. PKV Versicherten sowie einen Bundeszuschuss enthält, macht inzwischen (Juni 2019) mit 195 Mrd. Euro mehr als ein Drittel des Bundesetats aus.
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Ressourcengewinnung und -allokation im Gesundheitswesen
lung und Zuteilung der Mittel im Gesundheitswesen – ist, so unvermeidlich sind die Spannungen zwischen den dreien. Auf der Makroebene geht es um die Spannung zwischen sozialstaatlicher Solidarität und individueller Verantwortung im Aufbringen der für das Gesundheitssystem erforderlichen Mittel. Auf der Mesoebene besteht die Spannung zwischen Ökonomie und Ethik in der normativen Differenz zwischen anonymer Verteilungseffizienz auf der einen und patientengruppenbezogenem Bedarf auf der anderen Seite. Auf der Mikroebene schließlich geht es um die Spannung zwischen patientenbezogener Zuteilungsentscheidung und ärztlicher Teleologie des Helfens und Heilens. Die auf der Makroebene entscheidend wichtige Verantwortungsverteilung auf das Sozialstaats- und das individuelle Beitragspotenzial steht unter dem Solidaritätsprinzip, wonach individuelle Könnensdefizite durch die Gemeinschaft zu kompensieren sind. Die auf der Mesoebene angesiedelte Verteilungseffizienz steht ökonomisch unter der Sparsamkeitsmaxime, wonach mithilfe möglichst geringer Inanspruchnahme von Ressourcen ein Maximum an Wirkung erzielt werden soll; dies steht auf der Mikroebene im potentiellen Konflikt mit der ärztlichen Verpflichtung gegenüber dem individuellen Patienten und seinen unabweisbaren medizinischen Bedürfnissen. Für die Praxisebene bedeutet dies in concreto, dass die ärztliche Pflicht, dem individuellen Patienten das Erforderliche ohne Rücksicht auf einen allgemeinen Nutzenmaximierungskalkül zukommen zu lassen, in einen Konflikt mit den Erfordernissen der Wirtschaftlichkeit geraten kann. Denn über seine im engeren Sinne medizinisch-ärztliche Verantwortung hinaus trägt der Arzt auch Verantwortung für die finanziellen Implikationen und Folgen seines Handelns, soweit er dieselben (a) voraussehen, (b) mit dem ärztlichen Ethos des Helfens und Heilens vereinbaren und (c) dem Umfang nach beeinflussen kann. In diese Verantwortung – und das wird vielfach übersehen – ist freilich auch der Patient eingebunden: Er trägt die Verantwortung für seinen eigenen Anteil an seiner Gesundung, nämlich alles zu tun, was dieselbe ermöglicht und beschleunigt, und er trägt die Verantwortung vor der Gesellschaft resp. der Solidargemeinschaft der Versicherten dafür, dass der Mitteleinsatz für die Behandlung seiner Krankheit auf das Notwendige beschränkt bleibt. Krankheit ist – medizinisch wie ethisch gesehen – eine Bedürfnis- und keine Anspruchssituation. Der Arzt muss sich der Bedürfnisse des Patienten annehmen; kostenintensive Ansprüche des Patienten, die darüber hinausgehen, muss er 331 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
abweisen. Und selbst die Ansprüche, die der Patient im Falle einer Krankheit gegenüber der Solidargemeinschaft der Versicherten hat, sind wiederum nur Ansprüche auf Erhalt des medizinisch Notwendigen bei gleichzeitiger Verpflichtung, die Mittelinanspruchnahme so gering wie nötig und die Dauer der Inanspruchnahme der Mittel so kurz wie möglich zu halten. Die Verwirklichung dieser normativen Anforderungen an den Patienten dürfte ein bisher noch nicht ausgeschöpftes Sparpotential im Gesundheitswesen darstellen. Im Hintergrund stehen Spannungen; dieselben resultieren zum einen aus der strukturbedingten Anonymität des Verhältnisses von Ethik und Ökonomie in kollektivethischer Sicht; dies deswegen, weil die die erforderlichen Mittel aufbringenden und über die Verteilung derselben entscheidenden Personen naturgemäß bzw. strukturbedingt unbekannt sind. Spannungen ergeben sich sodann infolge der Interessenkonflikte zwischen der Gruppe derjenigen, die das Glück haben, die medizinischen Angebote nicht oder nur unwesentlich in Anspruch nehmen zu müssen und sich der Vorstellung hingeben, dass dies auch in ihrem weiteren Leben so sein wird, auf der einen Seite, und der Gruppe derjenigen, die aufgrund behandlungsbedürftiger Erkrankungen das System immer wieder oder fortdauernd mehr oder weniger massiv in Anspruch nehmen müssen, auf der anderen Seite. Spannungen entstehen schließlich durch eine reine Verrechtlichung eines im Grundsatz nicht nur durch Legalität, sondern auch durch Legitimität geprägten Bereiches wie desjenigen der Medizin. Es erscheint nachgerade abwegig, zu suggerieren, es gehe in der Patientenversorgung vorrangig um rechtliche Ansprüche und nicht vielmehr in erster Linie um existenzielle Bedürfnisse. Wäre angesichts der geschilderten Spannungen der Utilitarismus eine Hilfe? Die Norm des Nutzens bzw. der Nutzenmaximierung, 61 wie sie der Utilitarismus vertritt, 62 wonach das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl – unter Hinnahme des möglichst geringen Nachteils einer möglichst kleinen Zahl – das ethisch Anzustrebende ist, findet sich in der internationalen Diskussion um die FinanNäheres bei: Marckmann, G. / Siebert, U.: Nutzenmaximierung in der Gesundheitsversorgung. Eine ethische Problemskizze, in: Gethmann-Siefert, A. / Thiele, F. (Hg.) (Fn. 23), 111–139. 62 Vgl. die Väter dieses Gedankens Jeremy Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. London 1789 (dt.: Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung. Stuttgart 1996) und John Stuart Mill: Utilitarianism. London 1863 (dt.: Utilitarismus. Stuttgart 1992). 61
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zierung des Gesundheitssystems z. B. beim sog. Begriff der QALY (abgekürzt für quality adjusted life years), mit deren Hilfe der Nutzwert der Inanspruchnahme finanzieller Ressourcen festgestellt wird. Dieser Nutzwert bemisst sich nach der gesundheitsbezogenen Qualität von Lebensjahren: Diejenigen Mittel gelten als am besten investiert, die beim Patienten zu möglichst vielen Jahren mit guter Lebensqualität führen, und entsprechend diejenigen als am schlechtesten investiert, die entweder nur für kurze Zeit adäquate Lebensqualität oder zwar für längere Zeit, aber inadäquate Lebensqualität oder aber beides zur Folge haben. 63 Die utilitaristische Nutzenmaximierungsnorm ist offensichtlich sinnvoll im Bereich der Wohlseinsverbesserung, denn wenn man mit einer gegebenen Ressource das Wohlsein vieler Menschen finanzieren kann, dann wird man denselben Mitteleinsatz für das Wohlsein eines Einzelnen oder auch nur einer geringeren Zahl von Menschen nicht für ökonomisch sinnvoll halten können. Anders im Bereich der Existenzsicherung: Hier würde die utilitaristische Norm der Nutzenmaximierung offensichtlich die ungleich höher stehende Norm des Lebensschutzes verletzen, die besagt, dass das Leben eines Menschen immer zu schützen ist und nicht gegen Finanzmittel »aufgerechnet« werden kann und darf.
6.4 Tendenzielle Verlagerung der Mittelaufbringung von der solidarischen zur privatwirtschaftlichen Basis? Welchem Ausweg die gesellschaftliche und politische Entwicklung den Vorzug zu geben scheint, zeigt die Tendenz einer teilweisen Verlagerung von der solidarischen auf die privatwirtschaftliche Erbringung der Mehrkosten, d. h. unter ethischem Aspekt: um eine Reduzierung des Wirkens der ethischen Norm der Solidarität durch Verpflichtung zur Selbsthilfe. Voraussehbares Opfer des dadurch entstehenden ethischen Konflikts ist die Norm der Solidarität, denn in Zukunft droht nicht mehr jeder medizinisch gleich Bedürftige dieselbe ärztliche Hilfe zu erhalten; vielmehr richtet sich dieselbe in Teilen nach dem privatwirtschaftlichen Versicherungsstatus des Patienten. Vgl. Taurek, P.: Should numbers count?, in: Philosophy & Public Affairs 6 (4), 293– 316.
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
Hier ist eine grundsätzliche Vergewisserung hinsichtlich der ethischen Bedeutung der sozialethischen Norm der Solidarität vonnöten.
7.
Solidarität vor dem Hintergrund des modernen Individualismus
7.1 Problemaufriss Die Frage einer solidarischen Form der Mittelerbringung für das Gesundheitswesen erfordert einen Blick auf die soziale Natur des Einzelnen. Der Mensch, so I. Kant in seiner Schrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« 64 hat »eine Neigung, sich zu vergesellschaften, weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwicklung seiner Naturanlagen fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzeln (zu isolieren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen …«, Von seiner Natur her, so kann man Kant verstehen, ist der Mensch wesenhaft Mitmensch, von ihm selbst eher hingegen Individualist. Wie verhalten sich diese beiden Seiten des Menschen zueinander? Stehen die Neigung zur Vergesellschaftung und der Hang zur Vereinzelung einander unversöhnlich gegenüber oder lassen sie sich miteinander verbinden? Fragen dieser Art werden besonders dringlich angesichts der rechtlichen und sozialethischen Norm der Solidarität. ›Solidarität‹, so ein vages und vorläufiges Verständnis dieses Terminus, stellt eine bestimmte Form des Miteinanders von Menschen dar; niemand kann schließlich mit sich selbst solidarisch sein. Doch zugleich gilt: Wie kann man Solidarität üben bzw. erfahren, wenn nicht als Individuum? Eine hinreichende Beantwortung dieser Frage kann nur vor dem Hintergrund heutiger gesellschaftlicher Veränderungen erfolgen. 65
Abs. 4; II 56, in: Kant, I.: Ges. Schriften (AA) VIII, 20 f. Das Folgende stellt eine Überarbeitung dar von: Beckmann, Jan P.: Über Solidarität und Individualismus. In: Busche, H. (Hg.): Solidarität. Ein Prinzip des Rechts und der Ethik. Würzburg 2011, 55–70.
64 65
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Solidarität vor dem Hintergrund des modernen Individualismus
7.2 Hintergrund In der gegenwärtigen Gesellschaft, aber auch generell in den Westlichen Industriestaaten, ist seit geraumer Zeit eine Art »De-Institutionalisierung« unter gleichzeitigem »Rückzug ins Private« zu beobachten. Was ist damit gemeint? Der Ausdruck »De-Institutionalisierung« meint ein Phänomen, das sich aus drei durchaus heterogenen Quellen speist: (1) aus der dem Neoliberalismus entstammenden Überzeugung vieler, dass menschliche Lebensbewältigung grundsätzlich eine Privatangelegenheit sei, aus der sich der Staat als Institution der Gemeinschaft der Menschen weitestgehend herauszuhalten habe; (2) aus der das Gedankengut der Moderne kennzeichnenden Tendenz asymmetrischer Risikozumutung, wonach man anderen Risiken zumutet, die selbst einzugehen man ablehnt; und schließlich (3) aus dem aus der Säkularisierung sich ergebenden zunehmenden Sinngebungsdefizit bezüglich des bonum commune, des für die Gemeinschaft der Menschen Guten. Der gleichzeitig zu beobachtende »Rückzug ins Private« stellt die andere Seite der »De-Institutionalisierung« dar: Institutionen, vor allem solche sozialer Art, gelten allenfalls als Nothilfe, ansonsten ist das Individuum sich selber Institution: als Individuum, das sein Leben strikt nach eigenem Gusto bestimmt; überindividuelle Institutionen sind für das Individuum allenfalls als Einrichtungen kollektiven Mitleids akzeptabel. Damit verbunden ist die genannte relativ großzügige Risikozumutung an den Mitmenschen bei gleichzeitig eigener Risikoaversität sowie die Zuschreibung der Sinngebungskompetenz ausschließlich oder zumindest überwiegend an das Individuum selbst. Folge: Der Gesunde, sozial Starke und finanziell Begüterte gilt heute als Traumbild, der Kranke, Schwache und Arme als Albtraum. Ausgeblendet wird dabei, • dass der Gesunde – etwa infolge des Fortschreitens prädiktiver genetischer Diagnostik – zunehmend der Gesunde at a knowable risk und damit der potentiell Kranke ist; • dass der heute sozial Starke in Zukunft von Altersarmut bedroht sein kann; • und dass der finanziell Begüterte – siehe die immer wieder auftretenden internationalen Wirtschafts- bzw. Finanzkrisen – ab335 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
sturzgefährdet ist, wie das denn auch derzeit in Bezug auf Teile der sog. Mittelschicht beobachtet bzw. befürchtet wird. Die Verarmung ganzer Bevölkerungsgruppen (Kinderarmut, Not alleinerziehender Elternteile und kinderreicher Familien, unzureichende Löhne, Altersarmut), das Auseinanderdriften der Gesellschaft, zunehmende Gerechtigkeitskonflikte etc. werden ausschließlich als soziale Strukturprobleme betrachtet; dabei handelt es sich zu nicht geringen Teilen auch um Ausflüsse der Selbstinstitutionalisierung und Selbstprivilegierung des gesunden, starken, begüterten Individuums zu Lasten der Allgemeinheit – bei gleichzeitiger Entfremdung vom Bewusstsein menschlichen Mit-Seins mit dem kranken, schwachen und armen Mitmenschen. Ist in einer solchen Situation Platz für Solidarität, und falls ja: Wie passt dieselbe zum Individualismus? Vermag das Individuum – wörtlich: das »Unteilbare« – zu »teilen«? Oder abstrakt: Kann der Individualismus der Solidarität die notwendige Subjektorientierung sichern? Oder gilt: Individualismus für die Starken, Solidarität für die Schwachen, mit der Folge, dass an die Stelle der Solidarität das Mitleid tritt? Eine Beantwortung dieser Frage macht eine Klärung der Begriffe ›Mitleid‹ und ›Solidarität‹ erforderlich.
8.
Mitleid
8.1 Thema und Problem Mitleid und Solidarität sind Begriffe, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine wichtige Rolle spielen: ›Mitleid‹ eher im persönlichen, vor allem durch Empathie geprägten Bereich; ›Solidarität‹ auf sozialen, vor allem durch Verantwortung bestimmten Feldern. ›Mitleid‹ scheint eine Tugend, die man besitzt, ›Solidarität‹ hingegen eine Haltung, die man einnimmt. Soweit der erste Anschein. Des ungeachtet gibt es auch Gemeinsamkeiten: beide, Mitleid wie Solidarität, sind Weisen der Zuwendung zum Mitmenschen. 66 Dabei ist Mitgefühl mit den Leidenden ebenso wichtig wie das Bewusstsein der solidarischen Verantwortung für den Mitmenschen. Beidem steht Zwar findet sich gelegentlich die Rede vom ›Selbstmitleid‹, doch handelt es sich dabei offensichtlich um eine eher metaphorische Verwendung dieses Begriffs, und von »Selbstsolidarität« kann nun schlechterdings nicht die Rede sein.
66
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Mitleid
eine Gesellschaft gegenüber, die durch zunehmende Individualisierung einerseits und kollektive Anonymisierung andererseits gekennzeichnet ist. Gibt es da Platz für Solidarität für den Anderen? Oder eher für Mitleid mit dem Mitmenschen? Beginnen wir mit dem Begriff des Mitleids.
8.2 Mitleid als ›Sympathie‹ oder als ›Barmherzigkeit‹ ? ›Mitleid‹ gehört zum Begriffsfeld »Empathie/Einfühlung/Sorge/Verantwortung«. 67 Das griech. Äquivalent ›sympátheia‹ bedeutet zwar wörtlich ›Mitleiden‹, hat jedoch als Lehnwort längst eine Bedeutungsverschiebung erfahren: aus ›Mitleiden‹ wurde ›Sympathie‹, ›Zuneigung‹ also. Auch das lat. Äquivalent von ›sympátheia‹, nämlich ›misericordia‹, hat eine Bedeutungsänderung erfahren, wenngleich in einer gänzlich anderen Richtung: ›misericordia‹ meint nicht ›Mitleiden‹, sondern ›Erbarmen‹ bzw. ›Barmherzigkeit‹, der ursprüngliche Sinn des – wörtlich – Mitleidens verblasst. Doch genaugenommen ist Mitleid weder dasselbe wie Sympathie noch dasselbe wie Erbarmen: Sympathie kann, muss aber im Falle von Mitleid nicht im Spiel sein, und Erbarmen verfälscht nachgerade den Bedeutungsgehalt von Mitleid, wie sich im Folgenden zeigen wird.
8.3 Mitleid aus Schwäche oder aus Selbstsucht? Dass man Mitleid hat, weil man angesichts des Leidens eines anderen wegen eines »bedrückten Herzens« (»miseri-cordia«) und somit aus Schwäche gar nicht anders kann, hat manchen Philosophen zum Kritiker dieses Verhaltens gemacht. 68 Am deutlichsten Thomas Hobbes, der Mitleid eine »Geistesverwirrung« (perturbatio animi, De homine) nennt. In der Antike ist ihm Zeno vorausgegangen: Mitleid ist für ihn unvernünftig und eine Schwäche, gar eine »Krankheit der Seele«. Keine Frage: Der Motive für Mitleid mag es viele geben, darunter
Zum Folgenden vgl. den Beitrag zum Stichwort ›Mitleid‹ von Samson, L., in: Ritter, J. et al. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1980, Bd. V, Sp. 1410–1416. 68 Die im Folgenden angeführten Zitate verschiedener Autoren zum Stichwort ›Mitleid‹ sind dem Beitrag von Samson, L. (Fn. 67) entnommen. 67
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auch die genannten, doch ist das Motiv für Mitleid schon aus formalen Gründen nicht dasselbe wie dasjenige, dessen Motiv es ist. Kant 69 hat das gesehen; zwar spricht auch er davon, dass »eine gewisse Weichmütigkeit, die leichtlich in ein warmes Gefühl des Mitleidens gesetzt wird, … schön und liebenswürdig« ist, zeige sie doch »eine gütige Teilnehmung an dem Schicksale anderer Menschen an …«. Doch, so fährt er fort, »diese gutartige Leidenschaft ist gleichwohl schwach und jederzeit blind«, und hat daher »nicht die Würde der Tugend«: schwach und blind, weil Mitleid nicht dazu taugt, als Prinzip der Moral zu gelten. Dafür ist Mitleid – weil Gefühl – ungeeignet, es kann, was nach Kant entscheidend ist, nicht als Pflicht fungieren. Dies aber ist nach ihm für die Fundierung von Moralität absolut unabdinglich. Dem ›kategorischen Imperativ‹ nach reicht es nicht, pflichtgemäß zu handeln; vielmehr muss der Mensch aus Pflicht, d. h. aus der Einsicht und aus der Bejahung der absoluten Ausnahmslosigkeit seines Tuns heraus handeln. Unter diesem Aspekt vermag Kant Mitleid nur zu den »adoptierten Tugenden« zu zählen. Mitleid vermag Moral nicht zu fundieren, es ist vielmehr eine ihrer Konsequenzen. Wie die Mitfreude ist auch das Mitleid für Kant ein Gefühl; doch wie der Mensch sich nicht mit dem anderen mitfreuen muss, so fehlt auch die moralische Pflicht zum Mitleid. Diese ist erst gesichert, wenn Mitleid zum Ausfluss der Pflicht zur (Mit-) Menschlichkeit gemacht wird. Mitleid, so können wir den Kantischen Ansatz festhalten, bedarf als ethische Tugend offenbar einer moralitätsstiftenden Fundierung durch Pflicht. Wir werden darauf zurückkommen. Auf der anderen Seite stehen Kritiker, die im Mitleid Selbstsucht sehen, wie z. B. Helvétius, der Mitleid »un pur effet de l’amour de soi«, einen »reinen Ausdruck der Selbstliebe« nennt. 70 Man sieht das Leid des Mitmenschen, doch bezieht es auf sich selbst und ist entsprechend besorgt, es ebenfalls erleiden zu müssen. Es ist nicht der Mitmensch, um dessentwillen man Mitleid empfindet, sondern das eigene Selbst. Man tut sich sozusagen selber leid. Folge: Der leidende Mitmensch ist allenfalls Anlass, nicht aber der Grund von Mitleid. 71 Sämtliche Kant-Zitate stammen aus: Kant, I.: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (AA II, 215 f.), zit. nach Samson (Fn. 67), 1413. 70 Helvetius, C. A.: De l’homme. In: Ouvres 9. ND Paris 1969,149; zit. nach Samson (Fn. 67), 1412. 71 Wiederum anders Nietzsche, der im Mitleid einen »Multiplikator des Elends und Konservator alles Elenden, ein Hauptwerkzeug der décadence« sieht. Nietzsche, F.: Der Antichrist. Werke 2, 1168. 69
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Mitleid
Ob nun Ausdruck von Schwäche oder von Selbstsucht: Offenbar scheint Mitleid in jedem Fall ein Gefühl, eine Emotion.
8.4 Mitleid: Affekt oder Tugend? Locus classicus von Abhandlungen über das Mitleid ist seit Aristoteles die Affektenlehre. Wie Furcht (phóbos) soll auch Mitleid (éleos) von den Affekten reinigen. 72 Zwei Jahrtausende später heißt es bei Spinoza, Mitleid lasse sich definieren »als eine Art Trauer …, die dem Missbefinden eines anderen entsprungen ist«. 73 Spinoza erläutert dies so: »Zwischen Mitleid und Barmherzigkeit scheint kein Unterschied zu bestehen, es sei denn: Mitleid ist Affekt, Barmherzigkeit ein Habitus«. Qua Trauer ist Mitleid »an sich schlecht«. Gut daran ist, dass wir den Bemitleideten »von seinem Unglück zu befreien streben; dies zu tun begehren wir aus bloßer Vorschrift der Vernunft«. 74
8.5 Mitleid als Akt der Vernunft? Kritisch bis skeptisch nimmt sich die Auffassung vom Mitleid als emotionalem Affekt dagegen dann aus, wenn man bedenkt, dass Affekte wie generell Emotionen situationsgebunden, subjektiv und schwankend sind. Dies vermeidet diejenige Mitleidsauffassung, die darin eine Vernunfthandlung sieht. Thomas v. Aquin hat dies in aller Deutlichkeit auf den Punkt gebracht: Mitleid heißt, »fremdes Leid wie sein eigenes« zu begreifen. 75 Hier erscheint Mitleid auf derselben Vernunftebene wie – das wird sich zeigen – Solidarität. Beide sind Weisen des Mit-Seins mit dem anderen.
Aristoteles: Poetica; vgl. ders.: Nikomachische Ethik 1105b21 ff.; s. a. ders.: Rhetorik 1365b13 ff.: Mitleid als »Schmerz über ein Übel, das einen auch selbst treffen kann«. 73 B. de Spinoza, Ethik III, 22; 263; zit. Nach Samson (Fn. 67), 1411. 74 Op. cit. II, 349 bzw. IV 465 (Fn. 67). 75 Summa Theologiae II/II q. 30 a. 1 qu. 2c. 72
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8.6 Mitleid aufgrund von Mit-Sein Grundgedanke ist der, dass man den leidenden Mitmenschen nicht als den anderen, gar den Fremden ansieht, dessen Leid einen rührt, aber nicht selber betrifft, sondern als einen wie man selber ist. Arthur Schopenhauer, für den Mitleid – neben Egoismus und Bosheit – eine der drei »echt moralischen« Triebfedern darstellt, auf die »jede menschliche Handlung … zurückzuführen« sein muss, 76 hat Mitleid als Haltung »der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Teilnahme zunächst am Leiden eines anderen und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens« verstanden. 77 Wie aber, so fragt er, kann ein Leiden, das nicht das eigene ist, zum Handeln führen? Seine Antwort: Dadurch, dass man das Wohl und Wehe des anderen »ganz unmittelbar« mitvollzieht. »Dies aber setzt notwendig voraus, dass ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mitleide, sein Wehe fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines«. 78 So verstanden ist Mitleid qua Mit-Sein reflexiv: Der Mitleidende erkennt sich selbst im leidenden Mitmenschen wieder. Er begreift, dass es nicht darum geht, den anderen seines Leides wegen zu bedauern (»Mitgefühl«) noch gar sich seiner zu »erbarmen« (»misericordia«), sondern darum, den anderen und gleichermaßen sich selbst als miteinander Gleiche zu erkennen und zu begreifen. Das Leid des anderen hätte einen selber genauso treffen können, denn der andere ist einer wie ich, ich bin einer wie der andere. So verstanden wird Mitleid nicht gewährt, sondern geschuldet. Mitleid ist insofern gleichermaßen Selbsterkenntnis wie Anerkenntnis des Mitmenschen. Es ist dieses Verständnis von Mitleid aufgrund des Mit-Seins, das vor den möglichen Gefahren und Missverständnissen dieser menschlichen Haltung bewahrt: vor allem vor dem Missverständnis, zu meinen, weil einem das Leiden des anderen »leidtut«, wüsste man genau, was ihm fehlt, und dabei zu übersehen, dass über die wahren Nöte eines Menschen letztlich nur er selber zu befinden vermag. Denn so schwierig, ja letztlich unmöglich es ist, im Mitleiden das Leid eines Mitmenschen selber zu empfinden – dafür sind die UnterschieSchopenhauer, A.: Über die Grundlage der Moral (Preisschrift vom 30. Januar 1840), hg. v. Peter Welsen. Hamburg 2007, 108. 77 A. a. O. (Fn. 76), 107. 78 A. a. O. (Fn. 76), 106. 76
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Solidarität
de im Leidempfinden wie in der Leidtoleranz unter den Menschen zu verschieden –, so notwendig ist es, im Mitmenschen jemanden zu erblicken, der aufgrund seiner Autonomie genauso wie man selbst über sein Leiden selber befinden will. Falsch verstandenes wie auch wohlgemeintes Mitleid kann gleichermaßen zur Fremdbestimmung verleiten. Die Überzeugung, man wüsste schon aus eigenem Leiden, was der andere Leidende braucht, kann nicht nur eine arge Selbsttäuschung sein: Es ist in der Regel eine sichere Fremdtäuschung. Mitleid ohne die Anerkennung der prinzipiellen Unverfügbarkeit des anderen, ohne den Respekt vor seiner Autonomie und seinem Selbstbestimmungsrecht, erweist sich insofern als ethisch in hohem Maße problematisch. Entscheidend ist dagegen, dass man den Mitmenschen nicht als Fremden, sondern als Gleichen begreift. Das verbindet Mitleid mit Solidarität. Gibt es auch Unterschiede zwischen beiden?
9.
Solidarität
9.1 Zum Begriff ›Solidarität‹ und seiner Geschichte Mit ›Solidarität‹ ist die Bereitschaft gemeint, sich auch für denjenigen einzusetzen, der – etwa infolge des Verlustes des Arbeitsplatzes oder aufgrund seines Alters oder insbesondere aufgrund einer Krankheit – gleichsam den festen Boden unter seinen Füßen zu verlieren droht. ›Solidarisch‹ zu sein heißt, fest zum Mitmenschen zu stehen. Dies setzt das Bewusstsein voraus, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Im Unterschied zur Verantwortung, in der man ›steht‹, muss man seine Solidarität ›erklären‹ und dieselbe ›üben‹. Die entsprechende Willensentscheidung steht unter der anthropologischen Bedingung, dass der Mensch wesentlich durch seine Beziehung zum anderen bestimmt ist, weil er existentiell ein soziales Wesen darstellt. Sich vorsätzlich aus der Solidarität zu lösen bedeutet mithin genau genommen den Versuch, den eigenen Status im Gesamt der Mitmenschlichkeit und der Sozialität infrage zu stellen. 79 Das Wort ›Solidarität‹ 80 leitet sich aus dem neulateinischen ›solidaritas‹ = Festigkeit, ab und dieses von lateinisch solidus = dicht, Näheres hierzu s. Kerber, W.: Art. »Solidaritätsprinzip«, in: Ritter, J. et al. (Hg.) (Fn. 67), Bd. 9, Spalte 1015–1017. Basel 1999. 80 Vgl. Bayertz, K.: Solidarität. Begriff und Problem. Frankfurt/M. 1998. 79
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gediegen, fest. 81 Ist das Hausfundament ›solide‹, gilt es als fest, ist die Hausfinanzierung ›solide‹, ist sie vor dem Risiko des Käufers, eines Tages die Hypothek nicht mehr bedienen zu können, relativ sicher; gilt eine Freundschaft als ›solide‹, so heißt dies: Sie ist gefestigt, sie wird manche Belastung aushalten. Soweit Wortbedeutung und Etymologie. 82 Die drei genannten Beispiele für »Solidität« im Sinne von Festigkeit haben bereits die Verwendungsvielfalt des Worthintergrundes aufscheinen lassen: »Solidität« kann es im physischen (Hausfundament) oder im rechnerischen (Haushypothek), aber auch im zwischenmenschlichen Bereich geben (Freundschaft). In allen drei Beispielfällen meint »Solidität« einen Sachverhalt, auf den man »bauen«, sich verlassen kann. Doch was hat das mit dem aus »solidus« = »fest«, »belastbar«, »gediegen« ableitbaren Terminus »Solidarität« zu tun? Anders als »solidus« meint »Solidarität« keine Eigenschaft von Dingen, sondern eine Qualität von Haltungen. Beispielsweise die Einstellung, sich miteinander verbunden (»solidarisch«) zu fühlen, für einander einzustehen, gemeinsam für etwas zu kämpfen, etc. Voraussetzung ist eine gewisse Ähnlichkeit miteinander, und zwar sowohl hinsichtlich des Betroffenseins als auch im Hinblick auf die Aufgabe des Helfens und der Pflicht des Für-einander-Haftens. Präzise ist hier die Encyclopédie von Diderot/d’Alembert. Dort heißt es: »solidarité – c’est la qualité d’une obligation où plusieurs débiteurs s’engagent à payer une somme qu’ils empruntent ou qu’ils doivent; en sorte que la dette totale soit exigible contre chacun d’eux, sans que celui au profit duquel l’obligation est faite, soit obligé de discuter les autres, et l’un plutôt que l’autre« (Dictionnaire du Commerce). 83
›Solidarität‹, so lässt sich das im Deutschen wiedergeben, meint »die Qualität einer Verpflichtung, die mehrere Schuldner eingehen, eine Summe zu zahlen, die sie leihen oder schulden, so dass die Gesamtschuld von jedem einzelnen eingefordert werden kann, ohne dass derZu Einzelheiten siehe d. Beitrag von Wildt, A.: Solidarität, in: Ritter, J. et al. (Hg.) (Fn. 67), Bd. 9, Sp. 1004–1015. 82 Das Kirchenlexikon von Wetzer/Welte nennt statt ›Solidarität‹ nur das Stichwort ›Sodalität‹ mit Hinweis auf ›Bruderschaft‹ ; Wetzer/Welte: Kirchenlexikon oder Encyklopädie der kath. Theologie und ihrer Hülfswissenschaften. 2. Aufl. Freiburg 1882– 1903, hier: Bd. XI, Sp. 476. – Vgl. frz. ›solidaires‹ = Bruderschaft. 83 Diderot, D. / d’Alembert, J. le R.: Encyclopédie. Paris 1752 ff., Bd. XV (»Neufchatel« 1765), Sp. 320 b. 81
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Solidarität
jenige, zu dessen Gunsten die Verpflichtung eingegangen worden ist, gehalten ist, darüber mit den anderen oder mit einem von diesen zu diskutieren.« Hier treten zentrale Merkmale der Solidarität zutage: (1) eine gemeinsame Verpflichtung, (2) und zwar eine solche, für die jeder einzeln haftet, (3) ohne das Recht zu besitzen, dies zum Gegenstand irgendwelcher Diskussionen mit dem Gläubiger zu machen. Die verbindende Verpflichtung beruht auf einer Gemeinsamkeit des Status, die Haftung eines jeden Einzelnen auf der Verpflichtung zum Beistand und das fehlende Recht, über die eingegangene Verbindlichkeit mit dem Gläubiger zu streiten, auf der Pflicht zur Solidarität. Von besonderer Bedeutung ist hier der bereits früh belegbare Gedanke der Gemeinsamkeit. So heißt es schon im Lexikon Philosophicum des Goclenius aus dem Jahre 1613, ›solidum‹ sei u. a. ein »integrum quod constat ex partibus homogeneis«, 84 etwas »Festes, das aus homogenen Bestandteilen besteht«. Im rechtlichen Sinne ist damit das füreinander Haften und sozialethisch das füreinander Eintreten gemeint. Juristisch haften etwa Paare gemeinsam für die Miete, ggf. jeder für den anderen ›in solidum‹ = »für das Ganze«. Sozialethisch ist von einer ›Solidargemeinschaft‹ die Rede, wenn es um den Einsatz zur Hilfe für den anderen geht. »In solidum obligari« meint die Verpflichtung, gemeinschaftlich für etwas geradezustehen. Gemeinsamkeit wessen? Beistand wem gegenüber? Solidarität in Bezug auf was? Nun, Solidarität, so zeigt sich in den angegebenen Texten des 17. u. 18. Jahrhunderts, beruht auf dem Bewusstsein einer wie auch immer gearteten Zusammengehörigkeit mit anderen. Wer sind die anderen? Es sind, siehe Goclenius, die Mitglieder einer Vereinigung von Gleichartigen (»homogenei«): Familie, Clan, Partei, Zunft, Gewerkschaft, soziale Gruppe, Volk, bis hin zur Menschheit als ganzer. Hier scheint die anthropologische Seite von Solidarität auf: Solidarität stellt eine allen Menschen gemeinsame Verfasstheit, eine »konstitutive Verbundenheit mit anderen« dar. 85 Dieselbe besteht darin, dass es den Menschen nicht nur als Individuum, sondern zugleich als Mitmenschen gibt. Dieser Verfasstheit kann sich der Einzelne anders als seiner sozialen Mitverantwortung schlechterdings nicht entziehen:
Goclenius, R.: Lexikon Philosophicum. Frankfurt 1613, 1057 (ND Leipzig 1968). Vgl. Hilpert, K.: Art. »Solidarität«, in: Eicher, P. (Hg.): Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe. Neuausgabe München 2005, Bd. 4, 152–160, hier 152.
84 85
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Sie gehört zu ihm wie sein Menschsein. Sobald er von sich weiß, ist ihm diese Verfasstheit bewusst. Grundlagen sind Gemeinsamkeiten wie Geschlecht, Nationalität, Weltanschauung, Interessen, soziale Stellung, Schicksal, etc. – kurz: ein »Wir«. Folge: Das jederzeitige Eintretenmüssen »in solidum« für den Anderen. Zugleich wird hier die Doppelnatur von Solidarität deutlich, die rechtliche und die ethische: Rechtlich meint Solidarität das Haften für jemand anderen, wie das schon genannte Paar, das für die Miete gemeinsam geradestehen muss. Ähnlich im Versicherungsbereich: Jeder Arbeitnehmer – Ausnahme in Deutschland: Beamte und Selbständige – muss eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit eingehen, jeder Autobesitzer muss eine Haftpflichtversicherung abschließen, jedem Erwachsenen ist dringend der Abschluss einer privaten Haftpflichtversicherung angeraten. Solidarisch daran ist zum einen die Gemeinsamkeit des Betroffenseins und sodann die Wechselseitigkeit der betreffenden Haftungspflicht. Die rechtliche Besonderheit liegt im gesetzlichen Zwang. Anders die ethische Bedeutung von Solidarität, welche sich keinem Zwang verdankt, sondern grundsätzlich freiheitlicher Natur ist. Eine wichtige Rolle spielt dies z. B. in der Sozialethik beider christlicher Kirchen. In der Katholischen Kirche hat dies mit der Enzyklika »Rerum novarum« Leos des XIII. vom 15. Mai 1891 begonnen, 86 in der es um die Arbeiterfrage geht: dass nämlich »die Arbeiter allmählich der Herzlosigkeit reicher Besitzer und der ungezügelten Habgier der Konkurrenz (…) schutzlos überantwortet wurden. Ein gieriger Wucher kam hinzu (…), Habgier und Gewinnsucht« dauerten an. 87 Fortgesetzt wurde die päpstliche Sozialethik mit Fragen der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, der Beziehung zwischen Kapital und Arbeit und zunehmend mit der Welt- und Gesellschaftsordnung als ganzer. »Der Mensch«, so zitiert ›Rerum novarum‹ Thomas v. Aquin, »muss die äußeren Dinge nicht wie persönliches Eigentum, sondern wie gemeinsames Gut betrachten und behandeln, insofern nämlich, als er sich zur Mitteilung derselben an Notleidende leicht verstehen Rom 1891; dt. Übers. Freiburg 1904. – Fortgesetzt wurde dies in der Enzyklika »Quadragesimo anno« Pius des XI. anlässlich der 40. Wiederkehr im Jahre 1931 und seither in »Mater et Magistra« Johannes des XXIII; sowie am 15. Mai 1961 und zur 80. Wiederkehr von »Rerum novarum« in der Enzyklika »Octogesima adveniens« Pauls des VI. im Jahre 1971 und zuletzt 1991 zum Hundertsten durch Johannes Paul II unter dem Titel »Centesimus annus«. 87 Rerum novarum (Fn. 86), Nr. 2. 86
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soll«. 88 Hier ist jedoch kritisch anzumerken, dass zwischen Solidarität und Almosengeben unterschieden werden muss: dieses beruht auf der caritas, der Mildtätigkeit, jenes hingegen auf der Sozialität des Menschen. Es ist ein Unterschied, ob man aus persönlichem Mitleid und Erbarmen dem Hilfsbedürftigen beisteht, oder deswegen, weil man sich zu ihm zugehörig weiß. 89 Immerhin kennt auch ›Rerum novarum‹ bereits »Vereine zur gegenseitigen Unterstützung sowie private Veranstaltungen zur Hilfeleistung für den Arbeiter und seine Familie bei plötzlichem Unglück, in Krankheit und Todesfällen«. 90 Die Rede ist von »Arbeitervereinigungen«, »Korporationen von Handwerkern«, unterschieden durchaus von den seit dem Mittelalter bekannten Innungen und Zünften; 91 diese beschränkten sich auf ein jeweils bestimmtes Handwerk, während jene eine ganze soziale Klasse betreffen. 92 Gleichwohl durchzieht auch die päpstliche Soziallehre immer noch das Bruderschaftliche, der Gedanke also einer Zugehörigkeit der Menschen aufgrund gleichsam familialer Verbindungen, nicht schon die heutige Vorstellung von Solidarität als des alle Schichten und Klassen Umgreifenden. In den Verlautbarungen der Evangelischen Kirche Deutschlands 93 findet sich in den Überschriften mehrerer Dokumente das Stichwort ›Solidarität‹, zusammen mit ›Mündigkeit‹ und ›Wett-
Thomas von Aquin: Summa Theologica II/2 qu. 66a. 2; in ders.: Opera Omnia. Rom 1888–1906, Bd. VII, 57. 89 Führende Autoren der (kath.) Soziallehre im deutschsprachigen Bereich sind die Jesuiten O. v. Nell-Breuning (Baugesetze der Gesellschaft, Freiburg 1990) sowie G. Gundlach (Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft. 2 Bde. Köln 1964) gewesen. Vgl. zum Ganzen: Bundesverband der kath. Arbeitnehmerbewegung Deutschlands (Hg.): Texte zur kath. Soziallehre. Bornheim/Kevelaer 1992, sowie seitens beider christlicher Kirchen: EKD / Deutsche Bischofskonferenz: Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Hannover / Bonn 1997. Siehe auch Hilpert, K.: Art. ›Solidarität‹ (Fn. 85). 90 Rerum novarum (Fn. 86), Nr. 36. 91 Rerum novarum (Fn. 86), Nr. 3. 92 Unter den vielfältigen Formen von Bruderschaften, »die unter den Bezeichnungen amicitia, caritas, unanimitas, familiaritas, u. a. liefen, gab es ab 1300 auch schon die Besonderheit der sog. »Elendenbruderschaften speziell für Arme (pauperes, personae miserabiles), Ausgestoßene (exules) und Fremde (…), die man mit Herberge, Beköstigung, Kleidung etc. versorgte«. Näheres s. d. Art. ›Elendenbruderschaften‹ von B.-U. Hergemöller, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. III, Sp. 1803; vgl. auch dort d. Art. ›Bruderschaft‹ von R. Weigand, op. cit., Bd. II, Sp. 738–741. München 1999. 93 Nachweise bei Hilpert, K. (Fn. 85), 157–159. 88
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bewerb‹. 94 Auch gibt es die Warnung, Solidarität sei in Gefahr. 95 Schon vor Jahren hatten beide christlichen Kirchen gemeinsam auf die Zukunftsbedeutung von Solidarität und Gerechtigkeit aufmerksam gemacht. 96 Grundlage ist für beide das Gebot der Nächstenliebe, das zugleich zum Beistand auffordert: »Einer trage des anderen Last«, wie der Apostel Paulus schreibt. Der Evangelist Matthäus spricht vom Mitsein mit den »geringsten Brüdern«. 97
9.2 Solidarität aufgrund von Mitleid oder qua Mit-Sein? Als Fundament der Solidarität gilt vielfach Mitleid. Nun sind beide qua Verhaltensweisen miteinander, wie dargelegt, nicht unverwandt: Beide gehören zum Begriffsfeld »Empathie – Einfühlung – Sorge – Verantwortung«. Empathie, das Sich-in-den-Mitmenschen-Hineinversetzen, gilt vor allem den sozial Benachteiligten, den Bedürftigen, den Abhängigen, auch den Fremden, Andersartigen, Verfolgten. Mitleid ist mit dem Gefühl des Bedauerns verbunden, Solidarität hingegen mit dem Bewusstsein des möglicherweise Selber-BetroffenSeins. Mitleid äußert sich in Teilnahme, Solidarität in Gemeinsamkeit. Beim Mitleid empfindet der Mensch das Leid des anderen, bei der Solidarität weiß er sich wie der andere. Im Mitleid ist der Einzelne wegen seiner selbst beim Mitmenschen, in der Solidarität ist er um des Mitmenschen willen bei sich selbst. Es ist insoweit ein folgenreicher Unterschied, ob die sozial Starken die Schwachen aus Mitleid stützen oder ob sie dies aus der Überzeugung eigenen möglichen Betroffen-Seins heraus tun. Im ersten Fall besitzt ihr Handeln ein Tugend-, im letzteren ein Einsichtsfundament. Tugend beruht stets auf persönlicher Freiwilligkeit; Einsicht hingegen unterliegt dem Zwang allgemeingültiger Argumente. Es ist daher ein normativer Unterschied, ob ein Mensch sich des anderen Kirchenamt der Ev. Kirche Deutschlands (Hg.): Mündigkeit und Solidarität. Sozialethische Kriterien der Umstrukturierung im Gesundheitswesen. Gütersloh 1994. – Dass.: Solidarität und Wettbewerb. Für mehr Verantwortung, Selbstbestimmung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Hannover 2002. 95 Kirchenamt der Ev. Kirche Deutschlands (Hg.): Das Prinzip der Solidarität steht auf dem Spiel. Eine Orientierungshilfe. Hannover 2010. 96 Kirchenamt der Ev. Kirche Deutschlands / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Hannover 1997. 97 Paulus im Brief an die Galater 6,2; Matthäus 25,40. 94
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erbarmt, oder ob er im anderen den Träger derselben Menschenwürde begreift. 98 In der Antwort auf die Frage, ob wir aus Tugend solidarisch miteinander sein sollen oder es aus Einsicht sein müssen, entscheiden sich Grundeinstellungen zur menschlichen Sozialität und rechtlichen Verfasstheit. Als eindrucksvolles Beispiel für den Vorrang der Selbsterkenntnis des eigenen Wie-die-anderen-Seins vor dem Gefühl des Mitleids bei der Fundierung von Solidarität mag das sog. ArbeiterpriesterExperiment der 40er und 50er Jahre in der Katholischen Kirche dienen. Durch Übernahme des Lebens und Arbeitens von Arbeitern und unter Ablegung der äußeren geistlichen Erscheinungsweise (Kollar, Soutane etc.) haben französische und belgische Priester ihre Solidarität mit den Mitmenschen zum Ausdruck gebracht und auf diese Weise betont, dass die hart arbeitenden Menschen nicht so sehr »Schafe in der Herde« denn gleichgestellte Partner sind. Statt dieselben zu missionieren, haben die Priester sich selber zu Arbeitern gemacht, sind wie die Kumpel mit unter Tage gefahren, mit den Maurerpolieren auf den Bau gegangen oder haben als Hochofenarbeiter geschuftet. 99 Auf diese Weise haben sie Solidarität nicht durch Mitleid, sondern durch Mit-Sein bekundet. Nach ersten Anfängen in den 20er Jahren verstärkte sich diese Bewegung in den 40er und 50er Jahren, vor allem in Frankreich und Belgien. Nach anfänglicher Duldung erfolgte Kritik aus Rom und im Frühherbst 1958 das Verbot des Arbeiterpriester-Experiments durch Papst Pius XII. 100 Worin aber besteht die Verbindung mit dem Individualismus?
9.3 Die Rolle des Individualismus Solidarität setzt naturgemäß Individuen voraus, die sie üben bzw. erfahren. Individuen sind jeweils einmalig, unwiederholbar. Solidarität Zum Zusammenhang zwischen Solidarität und Menschenwürde vgl. neuerdings Dietz, A.: Gerechte Gesundheitsreform? Ressourcenvergabe in der Medizin aus ethischer Perspektive. Frankfurt/M. / New York 2011, 228 ff. 99 Vgl. die literarische Verarbeitung durch Gilbert Cresbon: Die Heiligen gehen in die Hölle (1955). Dt. Frankfurt/M. 1958. 100 was manchen »Herz-Jesu-Sozialisten« aus dem aus christlich-sozialem Idealismus aufgenommenen Priesteramtsstudium wieder vertrieb. Zum Arbeiterpriestertum vgl. Günther, A. / v. Salze, J. J.: Die Arbeiterpriester. Frankfurt/M. 1957, und Perrin, H.: Tagebuch eines Arbeiterpriesters. Hamburg 1964. 98
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aber verlangt gewissermaßen die Rückstellung individueller Einmaligkeit zugunsten überindividueller Gemeinsamkeit. M. a. W.: Solidarität verlangt die Einsicht, dass man trotz seiner Einmaligkeit wie der andere ist. Sodann: Jedes Individuum ist nicht nur es selbst und niemand anderes, es ist sich auch dieses Umstandes bewusst: Sein »dieses bestimmte Individuum zu sein« ist für es konstitutiv. Man nennt dies ›Individualismus‹. Derselbe ist gleichermaßen Voraussetzung wie Antagonismus von Solidarität: Ohne den Individualismus als konstitutive Bestimmung des Einzelnen keine Möglichkeit zur Solidarität; doch mit dem Individualismus keine Wirklichkeit der Solidarität. (Wie) Ist derlei Spannung aufzulösen? Hier mag ein kurzer philosophiehistorischer Rückblick hilfreich sein: Für Platon galt – wenn auch mit anderer Begründung – das Individuelle als grundsätzlich nicht wissenschaftsfähig: Alle Erkenntnis und Wissenschaft habe mit dem Allgemeinen zu tun. 101 Die damit verbundene wissenschaftstheoretische Unterprivilegierung des Individuellen hat der Platon-Schüler Aristoteles als Defizit erkannt und den Menschen bekanntlich nicht nur als Vernunftwesen (»zôon lógon échon«), sondern zugleich als Gesellschaftswesen (»zôon politikón«) verstanden. 102 Hintergrund ist die Überzeugung des Stagiriten von der – ungeachtet seiner wissenschaftslogischen Posteriorität – ontologischen Priorität des Individuellen. Gleichwohl hält auch er dafür, dass das Individuelle sich jeglicher Definierbarkeit entzieht. 103 Später – man weiß nicht genau, ob schon im Lateinischen Mittelalter oder doch erst danach – tritt dieser Gedanke in der These auf: »individuum est ineffabile«, »das Individuum ist unaussprechlich«, d. h. es kann nicht zum Gegenstand einer verallgemeinerungsfähigen Aussage gemacht werden. Mittelalterlich jedenfalls ist die Bestimmung des Individuums als desjenigen, »was in sich unteilbar und von jedem anderen verschieden ist« (individuum est id quod indivisim est in se et divisim a quolibet alio«). 104 Die Individuation, so Thomas von Aquin, »die der menschlichen Natur entspricht, ist die Persönlichkeit« (individuatio autem conveniens humanae naturae est personalitas). 105 Platon, Phaidon 74a. Aristoteles, Politik I, 2; 1253a3. 103 Aristoteles, Metaphysik VII, 15; 1039 b 28. 104 Thomas von Aquin, Summa Theologica I, qu. 29, 4. 105 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles 4,41. zit. nach Oeing-Hanhoff, L., Art. ›Individuum‹/›Individualität‹, in: Ritter, J. et. al. (Hg.): Hist. Wörterbuch der Philosophie, Bd. IV, Sp. 307, Anm. 34. 101 102
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Solidarität
Hier wird deutlich, dass das Individuum stärker als anthropologisches denn als soziales Wesen im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht. Hinzu kommt: In den der Antike folgenden Jahrhunderten steht das Individuum eher als naturales bzw. mentales denn zugleich als soziales Wesen im Vordergrund der Aufmerksamkeit. Geändert hat sich dies erst mit der Europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts (J. J. Rousseau, D. Diderot, u. a.). 106 »Individualismus« – das bedeutete nunmehr »Egoismus«, »Selbstbezogenheit«, aber auch »Isoliertheit«, mit der Folge, dass aus dieser Sicht »Gesellschaft« eher als reine Addition isolierter Individuen erscheinen musste, dem Individuellen untergeordnet und völlig von ihm abhängig. Dagegen hat bekanntlich Karl Marx protestiert und dem Individuum das Kollektiv vorgeordnet, wogegen hinwiederum der – utilitaristisch orientierte – Liberalismus unter Berufung auf J. Bentham und J. St. Mill zu Felde gezogen ist. Problematisch an dieser Entgegensetzung von nach persönlichem Glück strebendem Individuum einerseits und dem als Eigenwert geltenden sozialen Kollektiv andererseits ist nicht nur die Abgrenzung des Individuellen vom Kollektiv, sondern seine Ausgrenzung. Ist das Individuum erstmal aus dem Kollektiv ausgegrenzt, hat Solidarität, wenn überhaupt, allenfalls noch eine Chance als Zwang und nicht als Freiheitserfahrung, als erzwungenes Herangezogen-Werden und nicht mehr als freiwilliges Füreinander-Einstehen. Hindernis ist die Tradition, Freiheit einseitig dem Individuum zuzuordnen, Gleichheit ebenso einseitig dem Kollektiv. Dabei erfordert Solidarität die Einsicht, dass auch das Miteinander der Individuen durch Freiheit gekennzeichnet sein muss und dass Gleichheit nicht nur im Kollektiv, sondern auch im Blick auf das Individuum vorausgesetzt wird. Solidarität mit den anderen als Gleichen ist nur möglich auf der Grundlage des Bewusstseins, selbst ein Gleicher zu sein, Unikat und zugleich ›Teil‹ der Spezies homo sapiens sapiens zu sein. Begriffslogisch hilft hier die Unterscheidung zwischen Singularität einerseits und Partikularität andererseits. Jedes Individuum ist einmalig, einzigartig, unwiederholbar, eben singulär; insofern der Terminus »Individuum« = das Unteilbare. Doch zugleich nimmt jedes Individuum an anderen »teil«, lat. particularis, ist insofern partikulär: Ungeachtet seiner Einmaligkeit teilt sich das Individuum mit 106 Vgl. Art. »Individualismus« von A. Rauscher, in Ritter, J. (Hg.): Hist. Wörterbuch (Fn. 105), Bd. IV, Sp. 289–291.
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
anderen etwas. Beides ist insoweit widerspruchsfrei miteinander vereinbar, als es sich um eine Doppelung handelt, wie sie schon immer die menschliche Natur ausgezeichnet hat: nämlich unwiederholbares Einzelwesen und zugleich wiederholbares Gattungswesen zu sein. Es ist die radikale Verschiedenheit der menschlichen Individuen bei gleichzeitigem »wie-der-andere-Sein«, welche Solidarität miteinander erforderlich macht. Verschiedenheit will respektiert sein, zugleich aber auch als Voraussetzung von Gemeinsamkeit verstanden werden. Im letztgenannten Zusammenhang wichtig ist der Begriff der Person. Menschen sind Personen qua Gemeinschaftswesen. 107 Sein Person-Sein erfährt der Mensch wesentlich durch den Mitmenschen. ›Person‹ ist ein relationaler Prozessbegriff, weil er einen in ständigem Werden begriffenen Sachverhalt betrifft; und ›relational‹, weil derselbe durch die Beziehung zum anderen bestimmt ist. Der Einzelne ist nicht erst Mensch und dann Person, sondern er ist als Mensch Person und als Person Mensch. Logisch gesprochen: Die Begriffe ›Mensch‹ und ›Person‹ sind koextensional: Wer Mensch ist, ist zugleich Person, und umgekehrt. Was nicht hindert, dass beide Begriffe unterschiedene Intensionen besitzen: ›Mensch‹ referiert auf die Spezieszugehörigkeit, ›Person‹ auf die Einmaligkeit. Als Mensch ist das Individuum allen Menschen gleich, als Person von allen verschieden. 108
9.4 Solidarität und Individualität Unsere Eingangsfrage, ob Solidarität und Individualismus miteinander verbindbar sind, setzt die Vergewisserung darüber voraus, ob und wenn ja inwiefern beide ein gemeinsamer Bezugspunkt miteinander verbindet. Derselbe könnte in Folgendem bestehen: (1) Beide sind menschliche Verhaltensweisen bzw. Einstellungen: Solidarität die Haltung des Miteinanders, Individualismus die Haltung des Selbstverhältnisses. (2) Sodann sind beide relationaler Natur: Solidarität bezieht sich auf eine Mehrheit von Menschen, ein Einzelner kann nicht mit sich
107 Vgl. Rawls, J.: Über Sünde, Glaube und Religion. Dt. Übers. v. Sebastian Schwank. Frankfurt/M 2010. 108 Näheres s. Beckmann, J. P.: Natur und Person vor dem Hintergrund bioethischer Grundprobleme, in: Dreyer, Mechthild / Fleischhauer, Kurt (Hg.): Natur und Person im ethischen Disput. Freiburg 1998, 235–257.
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Solidarität
selbst solidarisch sein. Individualismus hingegen impliziert Selbstbewusstsein: Das Individuum weiß von sich selbst und zugleich davon, nicht allein auf dieser Welt zu sein. Wir-Bewusstsein und Ich-Bewusstsein, Gemeinsamsein und Einzelsein, sind miteinander mithin eng verbunden. (3) Auf der Ebene der Faktizität zeigt sich: Solidarität übt bzw. erfährt man, Individualismus zeigt man. Dahinter steht die Dialektik von Andersheit und Fremdheit. (4) Individualismus tendiert dazu, im Anderen den Fremden zu sehen; erst Solidarität macht aus dem Fremden den Anderen. (5) Schließlich zeigt sich auf der Ebene des Normativen: Solidarität muss man üben, Individualismus will respektiert werden. Mit einem Wort: Solidarität sieht im Mitmenschen nicht den alius, sondern den alter, nicht den beliebig anderen, sondern den zugehörig Anderen. Solidarität ist nur möglich, wenn der Individualismus im Modus nicht der Fremdheit des Anderen, sondern im Modus der Selbstverständlichkeit des Anderen auftritt. Solidarität setzt mithin das Bewusstsein voraus, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Im Unterschied zur Verantwortung, in der man ›steht‹, muss man seine Solidarität ›erklären‹ und dieselbe ›üben‹. Die entsprechende Willensentscheidung steht unter der anthropologischen Bedingung, dass der Mensch wesentlich durch seine Beziehung zum Mitmenschen bestimmt ist, weil er existentiell ein soziales Wesen darstellt. Sich vorsätzlich aus der Solidarität zu lösen bedeutet mithin genau betrachtet den Versuch, den eigenen Status im Gesamt der Mitmenschlichkeit und der Sozialität infrage zu stellen. 109 Solidarität übt man, indem man sich als Mitglied des Gemeinwesens zum Mitmenschen und seinen Bedürfnissen und Sorgen bekennt. Dies schließt die Hinnahme von eigenen Nachteilen ausdrücklich ein: Solidarität üben heißt nicht nur, dem Schwächeren zu helfen und damit den Nutzen für den Mitmenschen in den Vordergrund zu stellen, sondern zugleich, hinzunehmen, dass die Hilfe für den Bedürftigen dem Helfenden selber nichts bringt, ja zu Beeinträchtigungen des eigenen Nutzens führen kann. Vor allem aber: Solidarisch handeln heißt, auch dann aus Überzeugung helfen, wenn man vergleichsweise sicher sein kann, eine derartige Hilfe von anderen nie
109 Näheres hierzu s. Kerber, W.: Art. »Solidaritätsprinzip«, in: Ritter, J. et al. (Hg.) (Fn. 11), Band 9, Spalte 1015–1017. Basel 1999.
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VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
in Anspruch nehmen zu müssen oder zu können. Solidarität ist zwar eine reziproke Beziehung, nicht aber eine solche kompensatorischer Art. Hier zeigt sich eine Subjekt/Objekt-Beziehung eigener Art: Solidarität wird geübt und sie wird erfahren. Im ersten Fall steht das Subjekt, im zweiten das Objekt im Vordergrund. Konkret: Das Solidarität übende Subjekt steht dem Solidarität erfahrenden Objekt gegenüber. Der erste Fall ist normativ mit dem Altruismus verbunden, die zweite mit der Norm der Mitmenschlichkeit. In der Solidarität verbindet sich Altruismus – man steht für den anderen ein – mit einem natürlichen Egoismus: Man kann sich darauf verlassen, dass der andere für einen ebenfalls einsteht. Darin liegt der reflexive und zugleich der freiheitliche Charakter der Solidarität beschlossen. Man wird nicht solidarisiert, sondern solidarisiert sich. Man ist damit nicht bloß Mitglied einer Gesellschaft, sondern Teil einer Gemeinschaft.
9.5 Fazit Die eingangs genannten, vom Neoliberalismus, der Postmoderne und einer falsch verstandenen Aufklärung begünstigten Phänomene der ›De-Institutionalisierung‹ unter gleichzeitigem »Rückzug ins Private«, der »großzügigen« Risikozuweisung an die Anderen bei gleichzeitiger eigener Risiko-Aversität und nicht zuletzt des zunehmenden Sinngebungsdefizits in Bezug auf das Allgemeinwohl haben beträchtlichen Einfluss auf das Verständnis von Solidarität, indem sie dieselbe aus dem Selbsterkenntnis- in den Mitleidsbereich abdrängen und so dem Missverständnis Vorschub leisten, Solidarität habe in erster Linie mit Almosengeben zu tun – eine folgenreiche Selbsttäuschung. Denn menschliche Lebensbewältigung kann im modernen Industriestaat schlechterdings keine reine Privatangelegenheit sein, aus der der Staat – als Institution der Gemeinschaft der Menschen – sich weitestgehend herauszuhalten hätte. Ein »Rückzug ins Private« würde Solidarität wesentlich ihrer Fundierung im Mit-Sein und individuelle Risikoaversität würde sie ihrer Selbsterkenntnisfundierung berauben; Mitleid schließlich würde das Gemeinwohl einer Almosenunternehmung überantworten. Folge: Institutionen, vor allem solche sozialer Art, würden bestenfalls als Nothilfe gelten; ansonsten bliebe das Individuum sich selber Institution, überindividuelle Institutionen erschienen ihm allenfalls als Einrichtungen kollektiven Mitleids akzeptabel. Eine derartige Selbstinstitutionalisierung, zugleich un352 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Anwendung auf das in Deutschland gesplittete System von GKV und PKV
trennbar mit einer Selbstprivilegierung verbunden, wäre nur dem gesunden, starken, begüterten Individuum möglich. Dem Dargelegten zufolge besitzt Solidarität eine fundamental anthropologische und zugleich eine erkenntnistheoretische Fundierung. Beides zeigt sich in der Einsicht, dass man trotz seiner Einmaligkeit wie der andere ist. Solidarität mit den anderen als Gleichen ist nur möglich auf der Grundlage des Bewusstseins, selbst ein Gleicher zu sein. Solidarität und Individualismus stehen insofern in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander: Ohne Individualismus wäre Solidarität ein leeres, ohne Solidarität der Individualismus ein blindes Unterfangen. Es ist eben die radikale Verschiedenheit der menschlichen Individuen, welche Solidarität miteinander erforderlich macht. Denn: Verschiedenheit will bewahrt sein; da dieselbe aber auch die Unterschiedlichkeit sozialer Lebensschicksale impliziert, schließen Anerkennung und Bewahrung von Verschiedenheit das Zusammenstehen ein. Solidarität erschöpft sich nicht in persönlicher Einstellung, sondern ist wesentlich struktureller Bestandteil von Staat, Recht und Gesellschaft. Richtig verstanden bewahrt der hier dargelegte konstruktive Zusammenhang zwischen Solidarität und Individualismus vor den verschiedenen Formen von Kollektivismus, denen die für die Solidaritätsausübung erforderliche individuelle Subjektträgerschaft abgeht: ein Kollektiv kann nur der Raum für, nicht aber der Träger von Solidarität sein. Solidarität aber ist nur möglich, wenn der Individualismus im Modus nicht der Fremdheit des Anderen, sondern im Modus der Selbstverständlichkeit des Anderen auftritt.
10. Anwendung auf das in Deutschland gesplittete System von GKV und PKV Dass die Besserverdienenden hierzulande aus der Pflichtversicherung ausgenommen sind, ist mit dem Solidaritätsprinzip und dem ökonomischen Prinzip des Beitrags nach Maßgabe des finanziellen Könnens nicht vereinbar. Ähnliches lässt sich von der Privatversicherung sagen: So wichtig die Risikoprofilierung für die Bestimmung adäquater Tarife ist, so stellt doch die Nichtrelevanz der Einkommenshöhe des privat Versicherten eine Nichtbeachtung des Solidaritätsprinzips dar. Dass selbst für die 90 % Pflichtversicherten das Solidaritätsprinzip doppelt eingeschränkt ist, weil erstens nur das Lohnentgelt, nicht 353 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
aber das steuerpflichtige Einkommen Grundlage der Beitragsberechnung ist und zweitens eine Beitragsbemessungshöchstgrenze gilt, ist nicht weniger irrational. Die Verkennung der Bedeutung des Solidaritätsprinzips hinsichtlich der Mittelaufbringung für das Gesundheitswesen stellt zum einen ein rationales Defizit dar und zum anderen eine realitätsferne Nichtanerkennung des Umstandes, dass die finanzielle Kompensationspflicht der Krankheitskosten ausnahmslos jedermann betrifft. Der Gemeinsamkeit der Vulnerabilität des Menschen, der niemand entgehen kann, lässt sich weder rational noch ethisch mit fehlender (PKV) oder fragmentierter (GKV) Solidarität begegnen, ohne die Natur des Menschen zutiefst misszuverstehen. Hinsichtlich der Möglichkeit, krank zu werden, sind alle Menschen gleich, hinsichtlich der Gefahr, durch die Krankheitskosten bankrott zu gehen, herrscht hingegen mehr oder weniger große Ungleichheit. Daher die Krankenversicherung; dieselbe aber kann nicht vor Erkrankungen schützen, sondern nur vor möglicher Überforderung durch die Krankheitskosten, was ja auch durch PKV und GKV geschieht. Nur: Die Art und Weise, wie das dazu jeweils erforderliche Kapital durch das gesplittete System in Deutschland generiert wird, verletzt die Gesetze der Logik und die Prinzipien der Ethik: der Logik, indem wer das Glück hat, lange gesund zu bleiben, in die PKV weniger einzahlen muss, während der Pechvogel wegen des dort herrschenden Prinzips der Risikotarifierung einkommensunabhängig altersbedingt immer mehr bezahlen muss; und in der GKV, weil das ethisch einzig adäquate Prinzip im Gesundheitsbereich, Solidarität nämlich, wie dargestellt nur in Grenzen zum Zuge kommt. Was nottut, ist eine allgemeine Finanzierung aller, in die jedermann nach Maßgabe seines finanziellen Könnens einzahlen muss. Getreu dem Prinzip: Einer für alle, alle für einen!
11. Fazit Vorstehende Überlegungen galten nicht der Absicht, die für das gesellschaftliche Zusammenleben im Allgemeinen und für das SichKümmern um kranke, alte und sterbende Mitmenschen im Besonderen so wichtigen Haltungen des Mitleids und der Solidarität ihrer selbstverständlich auch emotionalen Aspekte zu berauben. Stattdessen ging es darum, auf die möglichen Schwierigkeiten einer über354 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Ergebnisse
wiegend emotionalen Auffassung dieser beiden Haltungen aufmerksam zu machen, die zu nicht unerheblichen ethischen Problemen führen können. So kann eine überwiegend emotionale Auffassung von Mitleid dazu verleiten, die eigenen Emotionen in den kranken, alten oder sterbenden Mitmenschen hineinzuprojizieren, mit der möglichen Folge, dass man meint, er müsse so fühlen wie wir und damit dieselben Bedürfnisse haben wie wir sie empfinden. Letzteres kann ethisch zu zwei verschiedenen Problemen führen: • zum einen dazu, dass der Helfende dem kranken, alten oder sterbenden Mitmenschen – trotz bester Absicht – seinen und damit einen fremden Willen aufzwingt, zu Deutsch: Fremdbestimmung ausübt statt, wie ethisch geboten, Autonomie und Selbstbestimmung des anderen zu respektieren, und • zum anderen dazu, dass der Helfende nur oder überwiegend nur aus seinem Mitleid heraus handelt und insofern den kranken, alten oder sterbenden Mitmenschen zum reinen Objekt macht und damit – wenngleich ungewollt – in seiner Würde verletzt. In ähnlicher Weise kann eine genossenschaftliche Auffassung von Solidarität dazu verleiten, Solidarität als eine Art »Clubmodell« misszuverstehen, mit der Folge, dass man in der Gesellschaft kranken, alten oder sterbenden Mitmenschen unterschiedlich je nach Gruppenzugehörigkeit – gesetzlich versichert/privat versichert oder arm/ reich oder bekannt/unbekannt o. ä. – gegenübertritt. Letzteres kann ethisch ebenfalls zu zwei verschiedenen Problemen führen: zum einen dazu, dass man Solidarität nicht als Mitmensch dem Mitmenschen gegenüber übt, sondern qua Mitglied gegenüber den anderen Clubmitgliedern und damit – wenngleich möglicherweise ungewollt – Diskriminierungen vornimmt, und zum zweiten dazu, dass man auf die genannte Weise – wenn auch wiederum möglicherweise unabsichtlich – gegen die Norm der Gerechtigkeit verstößt.
12. Ergebnisse Größtes Hindernis einer rationalen und einvernehmlichen Diskussion über das Thema »Medizin zwischen Ökonomie und Ethik« ist der Umstand, dass das heutige Gesundheitswesen von vielen zunehmend als ein Dienstleistungsunternehmen betrachtet wird, so als könne man Gesundheit »kaufen und verkaufen« und als sei der 355 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VI · Fragen und Probleme zunehmender Ökonomisierung
Patient »Kunde« und der Arzt »Lieferant«. Ein solches Konzept ist anthropologisch verfehlt, medizinisch obsolet und ethisch problematisch. Anthropologisch verfehlt ist, dass der heutige Mensch sich immer weniger damit abzufinden weiß, dass er ein von Natur aus unvollständiges Wesen ist, und statt dessen immer mehr in die Versuchung gerät, seine biologische Existenz für perfektibel zu halten, und dies allem voran mit Hilfe der Medizin. Der Mensch will sich immer weniger als »gegeben« und immer mehr als »gemacht« (G. Maio) begreifen. Damit tritt neben die Medizin, welche heilt und hilft, eine Medizin, die »verbessert« und Wünsche erfüllt – bis hin zur Diskreditierung der natürlichen Unvollkommenheit und Vulnerabilität des Menschen. Dem sei als Ergebnis der vorstehenden Darlegungen entgegengehalten: (1) Ökonomische Effizienz und ethische Normativität sind nicht nur voneinander nicht zu trennen; sie bedingen einander vielmehr. Zentrale ökonomische Normen wie Sparsamkeit, Kosten/ Nutzen-Kalküle und Effizienz von Mitteleinsätzen sind mit den ebenso zentralen ethischen Normen der Gerechtigkeit, Solidarität, Fairness und Verantwortung durchaus vereinbar. So ist z. B. das ökonomische Sparsamkeitsprinzip mit der Norm der Solidarität insofern kompatibel, als es gleichermaßen ein Verstoß gegen beide Normen wäre, würde man für zumutbare finanzielle Belastungen des Einzelnen die Solidarität der Gemeinschaft in Anspruch nehmen. In ähnlicher Weise lassen sich ökonomische Kosten/Nutzen-Kalküle mit der ethischen Norm der Gerechtigkeit dann – allerdings nur dann – vereinbaren, wenn ein Kosten/ Nutzen-Kalkül sich nicht auf die Existenzsicherung, sondern auf die Wohlseinsverbesserung des Patienten bezieht. Es wäre gleichermaßen unökonomisch wie ungerecht, würde man angesichts der Ressourcenknappheit Mittel für die Wohlseinsverbesserung in Anspruch nehmen, die dann für die Existenzsicherung fehlen. Schließlich: Auch lässt sich ökonomische Effizienz mit der ethischen Norm der Fairness vereinbaren, etwa dann, wenn es darum geht, auf den Selbstverantwortungscharakter medizinischer Präventivmaßnahmen aufmerksam zu machen. Mit einem Wort: Ökonomie und Ethik eint nicht das Verhalten, sondern das Gestalten. (2) In Bezug auf den gegenwärtig von der Politik diskutierten Strukturwandel vom staatlich regulierten zum marktliberalen Ge356 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Ergebnisse
sundheitswesen – kurz: vom Sozialsystem zum Marktgeschehen – hat die hier vorgetragene These vom Miteinander von Ethik und Ökonomie im Gesundheitswesen eine orientierende Funktion: Es gilt, das Prinzip der Sozialstaatlichkeit und die ethischen Normen der Gerechtigkeit und der Solidarität nicht zu Opfern von Liberalisierung und Individualisierung werden zu lassen, sondern zu zeigen, dass beides aufeinander abgestimmt werden kann und muss. (3) Das zuletzt Gesagte ist dann möglich und aussichtsreich, wenn es bei dem Konsens bleibt, dass der Einzelne zwar seiner Verantwortung für seine Gesundheit angemessen nachzukommen hat, gleichzeitig aber gegen einen finanziellen Bankrott infolge hoher Krankheitskosten abgesichert bleiben muss. Die für die Absicherung erforderlichen Kosten muss er nach Maßgabe seines finanziellen Könnens aufbringen; dafür wird sein Bankrottierungsrisiko infolge kostspieliger Erkrankungen gemeinschaftlich getragen. Prinzip: Zumutbare Kosten werden individualisiert, unzumutbare Risiken hingegen vergesellschaftet. Das ist mit der Selbstgesetzlichkeit alias Autonomie in vollem Umfang vereinbar, weil ein ethisch fairer Umgang des Menschen mit seinesgleichen. Doch wie steht es im Lichte der Autonomie mit dem Umgang des Menschen mit seinen Mitlebewesen, den Tieren? Dies soll uns im abschließenden Kapitel beschäftigen.
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Kapitel VII Ethische Fundierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier vor dem Hintergrund des Autonomiegedankens
1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.2 3. 4. 4.1 4.2 5.
Einführung Das Problem Der kategoriale Status des Terminus ›Tier‹ Anthropoindifferente Begründungsansätze Der Biozentrismus Der Pathozentrismus Der Anthropozentrismus Der anthroporelationale Ansatz Moralisches Objekt- und Subjektsein Voraussetzungen moralischer Gemeinschaft Schlussgedanke
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VII · Ethische Fundierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier
Es mag verwundern, dass in einer Abhandlung über ethische Herausforderungen, in deren Mittelpunkt Autonomiefragen tendenziell verschwindender Wissensträgerschaft, des Lebensanfangs und -endes des Menschen, der Fortgeltung seines Willens aufgrund seines Selbstbestimmungsrechts für den Fall der Nichtmehransprechbarkeit, seines Umgangs mit Sterben und Tod unter Selbstbestimmungsgesichtspunkten und last but not least der sein Selbstbestimmungsrecht bedrohenden zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens stehen, sich am Schluss die Frage nach der Möglichkeit einer Mensch und Tier gemeinsamen Ethik findet. Dies hat jedoch einen sachlichen und einen theoretischen Grund. Ersterer besteht darin, dass das Gesundheitswesen bekanntlich erheblich auf der Forschung an und mit Tieren aufbaut, und Letzterer darin, dass es gerade das Konzept der Autonomie des Menschen zu sein scheint, das die Frage einer Gemeinsamkeit von Mensch und Tier in der Moral von vornherein unmöglich macht. Deshalb gilt es zu prüfen, ob der für die hier vorgetragene Autonomiekonzeption wichtige der Gedanke des MitSeins nicht nur die Menschen miteinander verbindet, sondern weit darüber hinaus alle Lebewesen und damit auch die Tiere einschließt. Daher die im folgenden Abschlusskapitel VII zu prüfende Fragestellung.
1.
Einführung
Zu den besonderen Herausforderungen an die heutige Gesellschaft gehört die Klärung moralischer Pflichten des Menschen im Umgang mit dem Tier. 1 Gemeint ist damit nicht nur das Verhalten gegenüber dem Tier, sondern auch, und zwar vorrangig, die Frage einer vernunftbasierten Fundierung dieses Verhältnisses. Diese Aufgabe kulminiert in der Frage nach der Möglichkeit einer Mensch und Tier gemeinsamen Ethik. Das Tier ist schließlich keine Sache, sondern Mitlebewesen, der Umgang mit ihm mithin normativen Bedingungen unterworfen, ungeachtet des Umstandes, dass dies nur dem Men-
An der TH Aachen hat sich vor kurzem (Herbst 2019) ein »Center for Human – Animal Studies Aachen« (CHASA) etabliert. Aufgabe ist der Austausch von »Forschern aller Fakultäten« unter »Einbezug von natur- und ingenieurswissenschaftlichen Disziplinen zum Thema ›Mensch – Tier – Technik‹« (https://www.chasa.rwthaachen.de).
1
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Einführung
schen, nicht jedoch dem Tier vermittelbar ist. Dieser Sachverhalt ist auf der Seite des Menschen, wie sich zeigen wird, untrennbar mit seiner Autonomie verknüpft. 2
1.1 Das Problem In der Frage, wie die ethische Norm, dass sich der Mensch gegenüber dem Tier verantwortlich verhalten muss, zu begründen ist, existieren unterschiedliche Ansätze, die z. T. weit auseinander liegen: Sie reichen von der Position reiner Zweckrationalität (vgl. den Ausdruck »Nutztiere«) über die These vom Respekt vor dem Tier um des Menschen willen (»Tierschutz ist moralische Pflicht«) bis hin zur Annahme eines dem Tier sui generis eigenen moralischen Status (»Würde des Tieres«). 3 Entsprechend unterschiedlich fallen die Antworten auf die normative Begründungsfrage aus. Gehen die einen davon aus, dass Bezugspunkt allein der Mensch ist, so dass das Leben des Tieres relativ liberaler Abwägbarkeit zugänglich ist (anthropozentrischer Ansatz), halten andere die Nutzung von Tieren durch den Menschen nur unter strengen Bedingungen für zulässig (anthroporelationaler Ansatz); wieder andere betrachten jedwede Nutzung von Tieren als im Grundsatz legitimationsunfähig (anthropoindifferenter Ansatz). Kernproblem und zugleich Ursache des Dissenses ist die Frage, wie der moralische Status von Tieren zu bestimmen ist und ob hierfür deren »Interessen« (vor allem an der Vermeidung von Angst und Schmerz) und »Präferenzen« (z. B. artgerecht leben zu können) ausschlaggebend sind, 4 oder ob man nach anderen Begründungsfundamenten suchen muss (z. B. Vertragsfähigkeit, Fähigkeit zur Verantwortung, Vernunftgebrauch) 5 – allesamt Eigenschaften, die freilich In das Folgende haben Überlegungen des Vf.s aus Beckmann, J. P. et al.: Xenotransplantation von Zellen, Geweben oder Organen. Wissenschaftliche Entwicklungen und ethisch-rechtliche Implikationen. Berlin / Heidelberg 2000, 100–117 Eingang gefunden. 3 Vgl. Baranzke, H.: Würde der Kreatur? Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik. Würzburg 2002. 4 Leitendes Beispiel hierfür sind utilitaristische bzw. präferenzutilitaristische Ansätze. Vgl. Singer, P.: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere. Reinbek 1996 (erw. Neuausgabe); ders.: Practical Ethics. Cambridge 1979 (dt. Übers.: Praktische Ethik. Stuttgart 1994. 2. überarb. und erw. Aufl.). 5 Beispiele hierfür finden sich in rechtsethischen Positionen; vgl. Regan, T.: The Case for Animal Rights. London / New York 1988, 2. Aufl. sowie in der Verantwortungs2
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VII · Ethische Fundierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier
Tieren abzugehen scheinen, von Interessen, Präferenzen u. Ä. in der Form, wie wir sie beim Menschen kennen, ganz abgesehen. Es ist ein folgenreicher Unterschied, ob man fragt: Haben Tiere ein Interesse an der Leidensvermeidung? Oder: Ist die Leidensvermeidung im Interesse der Tiere? Vorzug der letztgenannten Frage ist die Leichtigkeit einer bejahenden Antwort: Zweifellos ist es im Interesse der Tiere, nicht Leiden zugefügt zu bekommen. Nachteil ist der dahinter stehende Anthropozentrismus in Form der Fremdattribution. Eben dies sucht die erstgenannte Frage zu vermeiden, indem das Interesse an der Leidensvermeidung nicht vom Menschen dem Tier attribuiert wird, sondern die eigene Perspektive des Tieres zugrunde gelegt wird. Doch wie steht es überhaupt um derartige Abgrenzungen des Tieres vom Menschen? Besitzen nicht Menschen und alle Tiere qua Lebewesen den gleichen moralischen Status? Moderne Verhaltensforschung und Evolutionsbiologie betonen die Nähe mancher Tierspezies zum Menschen. Tierschützer fordern deshalb eine neuartige moralische Einstellung des Menschen gegenüber – zumindest bestimmten – Tieren. 6 Nicht selten wird dabei die Forderung nach einer »moralischen Gemeinschaft« alles Lebendigen oder zumindest aller Lebewesen mit Schmerzempfindungsfähigkeit erhoben. 7 Im Hinblick auf den Status der Tiere in der Moral sieht sich die Ethik als kritische Analyse moralischer Ansprüche vor die Frage gestellt, ob Mensch und Tier qua Lebewesen der gleiche moralische Status zukommt (sog. Biozentrismus) oder ob dies lediglich bei bestimmten (nämlich den schmerzempfindenden) Lebewesen anzunehmen ist (sog. Pathozentrismus) – beides anthropoindifferente Ansätze –, oder ob die Sonderstellung des Menschen diesem auch moralisch einen Vorrang vor den übrigen Lebewesen einbringt (Anthropozentrismus). Im Folgenden sollen das Pro und Contra ausgewählter Begründungsdiskurse vor dem Hintergrund der Frage thematisiert werden, ethik; vgl. Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt/M. 1979 und in vernunftethischen Ansätzen; vgl. Patzig, G.: Ökologische Ethik – innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II: Grundlagen der Ethik. Göttingen 1993, 162–185. 6 Singer, P.: Xenotransplantation and Speciesism. Transplantation Proceedings 24/2 (1992), 728–732; Wolf, J. C.: Tierethik. Freiburg 1992; Wolf, U.: Das Tier in der Moral. Frankfurt/M. 1990. 7 Regan, T. / Singer, P.: Animal Rights and Human Obligations. Englewood Cliffs/NJ. 1989 (2. Aufl.).
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Einführung
wie das Prinzip der Moralität einer Mensch und Tier gemeinsamen Ethik unter Autonomiegesichtspunkten aussehen könnte. 8 Dabei werden die gängigen Positionen des Biozentrismus, des Pathozentrismus und des Anthropozentrimus auf ihre jeweiligen argumentativen Stärken hin untersucht, um im Anschluss daran die These einer anthroporelationalen Fundierung einer Mensch und Tier gemeinsamen Ethik zu prüfen. Zuvor gilt es, die Begriffe ›Mensch‹ ›Tier‹ zueinander ins Verhältnis zu setzen.
1.2 Der kategoriale Status des Terminus ›Tier‹ Der Möglichkeit einer Mensch und Tier gemeinsamen Ethik scheint von vornherein ein formaler, genauer: ein kategorialer Umstand im Wege zu stehen: ›Tier‹ ist ein Gattungs-, ›Mensch‹ hingegen ein Speziesbegriff. Hinsichtlich ihrer kategorialen Stellung stehen beide Begriffe mithin auf verschiedenen Ebenen. Zwischen einzelnen Spezies kann es Gemeinsamkeiten nur dann geben, wenn beide derselben Ordnung angehören. Man müsste beispielsweise fragen, ob es eine der Spezies ›Mensch‹ und etwa der Spezies ›Hund‹ gemeinsame Ethik geben kann. In einem solchen Fall wäre die formale Bedingung für unsere Frage erfüllt: Man hätte zwei einander formal vergleichbare Spezies und fragte nach ihrer ethikrelevanten Gemeinsamkeit. Dieser Weg erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als nicht tunlich: Man müsste die Gemeinsamkeitsfrage so oft wiederholen, wie es Tierspezies gibt: Mensch und Hund, Mensch und Löwe, Mensch und Schaf, Mensch und x, etc. ad infinitum. Der genannten kategorialen Schwierigkeit kann man entgehen, wenn man von der Spezies-Einteilung der Tiere zum Zwecke der Moralbegründung überhaupt absieht und statt nach einer Mensch und Tieren gemeinsamen Ethik nach einer anthropoindifferenten einheitlichen Ethik für die Gattung ›Lebewesen‹ fragt, zu der dann definitionsgemäß alles zählt, was unter den Begriff ›Lebewesen‹ fällt, also alles Lebendige, den Menschen eingeschlossen. Es gibt zwei derartige
Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen der These, Mensch und Tier bildeten eine »moralische Gemeinschaft« (vgl. Regan, T. / Singer, P. (Fn. 7) und der hier untersuchten Frage, ob es eine Mensch und Tier gemeinsame Ethik geben kann. Nur Letzteres steht im Vorliegenden zur Diskussion, nicht auch Ersteres.
8
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VII · Ethische Fundierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier
anthropoindifferente Ethikbegründungsansätze, welche diesen Weg einschlagen: der sog. Biozentrismus und der sog. Pathozentrismus.
2.
Anthropoindifferente Begründungsansätze
2.1 Der Biozentrismus Der Biozentrismus arbeitet mit dem sog. »Bioprinzip«: Alles, was lebendig ist, besitzt um seiner selbst willen und aus sich heraus, d. h. ohne weiteren Rechtfertigungsbedarf, denselben moralischen Status. Folge: Ungeachtet aller Differenziertheit gilt es, Leben in jeder Form zu schützen. Diesem Gleichheitsgrundsatz 9 zufolge genießen aus biozentrischer Sicht Einzeller dasselbe Schutzrecht wie höher entwickelte Organismen: Sie alle stellen Leben dar, und Leben muss geschützt werden. Damit ist alles und jedes Lebendige der Möglichkeit moralischer Abwägungen entzogen; die Schutzwürdigkeit steigt und fällt nicht mit dem Grad der Komplexität. Die Grundschwierigkeiten des Biozentrismus liegen in der Nichtberücksichtigung der Unterschiede in der Komplexität der Lebewesen sowie in der unmittelbaren Herleitung von Schutzwürdigkeit aus einem rein naturalen Sachverhalt. Was Ersteres angeht, so bleibt ungeklärt, nach welchen Kriterien der zugrunde gelegte Lebensbegriff zu bestimmen ist. Fällt derselbe zu weit aus, verwischt sich die Grenze zur ›unbelebten‹ Natur; fällt er hingegen zu eng aus, droht die eine oder andere Form von Leben marginalisiert zu werden. Folge: Die dem Biozentrismus zugrunde liegende These von der Möglichkeit einer Gleichstellung aller Lebewesen lässt sich nicht überzeugend begründen: Zwar kann man alle Lebewesen qua Lebewesen einander gleichstellen, doch begründet dies nicht, zumindest nicht automatisch, auch eine Gleichbewertung. Im ersten Fall liegt eine Universalisierung in Bezug auf den ontologischen Status (Sein) vor, im zweiten hingegen eine solche in Bezug auf den moralischen Status (Wert). Würde man behaupten, aus dem qua Lebewesen gleichen ontologischen Status z. B. von Bakterien, Pferden und Menschen folge, dass sie auch moralisch gleich zu bewerten seien, würde man einen Zur Diskussion des Gleichheitsgrundsatzes vgl. Schweitzer, A.: Was wir tun? Heidelberg 1986 (2. Aufl.). Vgl. auch Teutsch, G. M.: Die »Würde der Kreatur«. Erläuterungen zu einem neuen Verfassungsbegriff am Beispiel des Tieres. Bern 1995.
9
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Anthropoindifferente Begründungsansätze
sog. »naturalistischen Fehlschluss« begehen: Aus dem Sein von etwas lässt sich nicht unmittelbar ein Sollen ableiten. Hinzu kommt speziell für den Menschen, dass es nach Maßgabe des Biozentrismus nicht möglich ist, in moralischer Hinsicht im anderen den Mitmenschen zu sehen: der Andere ist lediglich ein Mitlebewesen. 10 Will man die genannten Probleme vermeiden, aber weiterhin der eingangs dargelegten kategorialen Schwierigkeit entgehen, wonach ›Mensch‹ ein Speziesbegriff, ›Tier‹ hingegen ein Gattungsbegriff ist, bietet sich ein Ansatz einer Ethikbegründung an, der nicht undifferenziert von Leben ausgeht, sondern von einer bestimmten, darüber hinausgehenden Anlage bzw. Fähigkeit. Es ist dies der Ansatz des sog. Pathozentrismus.
2.2 Der Pathozentrismus Grundüberlegung dieses Ansatzes ist die folgende: Dehnt man den moralischen Status nicht auf alles Lebendige schlechthin aus, sondern schränkt ihn auf bestimmte Lebewesen bzw. Spezies ein, stellt sich die Frage nach dem Unterscheidungskriterium. Als solches bietet sich Schmerzempfindlichkeit an; 11 der hierauf gegründete Ansatz heißt »Pathozentrismus« (von griech. ›páthos‹ = Schmerz, Leid). Anders als im Biozentrismus, für den wie gesagt schlechthin alles und jedes, was lebt, denselben moralischen Status besitzt, spielt im Pathozentrismus die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, die entscheidende moralrelevante Rolle. Die Fähigkeit zur Schmerzempfindung ist das Gemeinsame, und nach dem Gleichheitsprinzip, »Gleiches gleich, Ungleiches ungleich« zu behandeln, sind alle schmerzempfindenden Lebewesen moralisch gleich zu behandeln und die nicht schmerzempfindenden ungleich. 12 Doch dabei belässt es der Pathozentrismus nicht: Er stellt nicht nur die dem Menschen und bestimmten Tieren eigene Anlage zur Schmerzempfindung in den Mittelpunkt, sondern Zu bedenken ist eine weitere, eine pragmatische Schwierigkeit des Biozentrismus: Streng genommen würde das ärztliche Handeln sich bei der Bekämpfung bakterieller Infekte in den Widerspruch verwickelt sehen, Leben (des Patienten) zu schützen, indem es dem Leben (der Bakterien) eben diesen Schutz entzieht. 11 Als Erster hat hierauf der englische Philosoph, Jurist und Begründer des Utilitarismus Jeremy Bentham (1748–1832) aufmerksam gemacht; vgl. ders.: Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789). London 1970, Kap. 17. 12 Vgl. Singer, P. (Fn. 5), 728–32. 10
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verbindet dies mit der Hypothese, auch nichtmenschliche schmerzempfindende Lebewesen besäßen wie der Mensch das Interesse, Schmerz und Leid zu vermeiden. Auch der Pathozentrismus arbeitet mithin mit einer Gleichstellungshypothese, 13 dies jedoch im Unterschied zum Biozentrismus nicht ohne Modifikation, sondern eingeschränkt durch eine Zuschreibung, nämlich die des Interesses. Er stellt damit nicht alle Lebewesen einander gleich, sondern differenziert nach Maßgabe der Fähigkeit, Interessen zu haben und dieselben zu artikulieren. Es ist dies ein Egalitarismus; im Unterschied zu demjenigen jedoch, der dem Biozentrismus zugrunde liegt, kein solcher des Seins, sondern ein solcher von Absichten (Interessen und Präferenzen). Des ungeachtet ist jedoch auch der Pathozentrismus, gleich dem Biozentrismus, von einem (naturalistischen) Fehlschluss vom Sein auf ein Sollen belastet, wenn von der Schmerzfähigkeit unmittelbar auf die moralische Grundnorm, dass Interessen zu respektieren sind, geschlossen wird. Der Pathozentrismus leidet sodann an der Nichtberücksichtigung des Unterschiedes zwischen Gleichbehandlung und der Behandlung von Gleichen, indem er den Menschen und die übrigen schmerzempfindenden Lebewesen als Gleiche betrachtet und sich damit die Begründungslast auflädt, zu zeigen, mit welchem Recht man die tatsächlichen, teilweise nicht unerheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen schmerzempfindenden Spezies außeracht lassen kann. 14 Diese Schwierigkeit lässt sich nicht dadurch zum Verschwinden bringen, dass man Mensch und (bestimmte) Tiere nicht als miteinander Gleiche, sondern lediglich gleich behandelt. 15 Ungeklärt ist auch der Begriff des Interesses, welches dem Menschen und dem (schmerzempfindenden) Tier unterschiedslos zugesprochen wird. Zwar mag der Umstand, dass Menschen Schmerz und Leid 16 vermeiden wollen, die Annahme nahe legen, dass dies auch bei nichtmenschlichen Lebewesen mit vergleichbarer neurophysiologischer Ausstattung der Fall ist. Unklar ist freilich, ob sie ähnlich dem Menschen Leid im Sinne bewusster Schmerzantizipation kennen. Vgl. hierzu Müller, A. W.: Wir Menschen. Zum Moralverständnis der Bioethik, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 9 (2004), 35–64. 14 Vgl. Dawkins, M. S.: The scientific basis for assessing suffering in animals, in: Singer, P. (Hg.): In Defence of Animals. Oxford 1970, 27–40. 15 So der Vorschlag von Wolf, U.: Das Tier in der Moral. Frankfurt/M. 1990, 57. 16 zur Unterscheidung Schmerz / Leid vgl. Preece, R. / Chamberlain, L.: Animal Welfare and Human Values. Waterloo 1995, 271. 13
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Anthropoindifferente Begründungsansätze
Auch ist nicht erkennbar, ob Tiere im Unterschied zum Menschen, welcher aufgrund seiner Fähigkeit zur Vernunfteinsicht unter entsprechenden Umständen bewusst Schmerz und Leid auf sich zu nehmen imstande ist, wenn beides für sein Weiterleben sinnvoll oder gar unumgänglich ist, zu einer derartigen Sinngebung in der Lage sind. Dies setzt nämlich ebenso wie das Haben von Interessen ein um sich selbst wissendes Subjekt voraus – eine in Bezug auf Tiere schwer beweisbare Annahme. Derartige Schwierigkeiten lassen sich vermeiden, wenn zwischen den Ausdrücken »x besitzt ein Interesse« auf der einen und »es ist im Interesse von x, dass z« auf der anderen Seite unterschieden wird: 17 Ersteres setzt personales subjekthaftes Sein voraus, Letzteres hingegen nicht bzw. nicht notwendig. Zweifellos ist es »im Interesse« von Tieren, keine Schmerzen zu haben; doch bedeutet dies nicht notwendig, dass Tiere ein entsprechendes Interesse besitzen (müssen); jedenfalls bedarf es einer solchen schwer beweisbaren Annahme nicht, um gleichwohl sicher sein zu können, dass Schmerzzufügung nicht in ihrem Interesse liegen kann. 18 Die Ungeklärtheit des dem Menschen und (bestimmten) Tieren undifferenziert attribuierten Schmerzempfindungsvermögens und die anthropomorphe Analogie des Leid- und Interessenverständnisses stellen nicht die einzigen Schwierigkeiten des Pathozentrismus dar. Hinzukommt, dass Leidensfähigkeit als solche nicht als normatives Prinzip, sondern naturgemäß nur als pragmatisches Beurteilungskriterium dienen kann: Aus »x ist leidensfähig« folgt nicht zwingend »Also muss Leid für x vermieden werden« – es möchte immerhin sein, dass Leidzufügung um eines Vorteils willen für x unvermeidlich ist. Größte Schwierigkeiten hat der Pathozentrismus mit seiner Negativthese, dass, wo kein Leiden vorliegt, es auch kein moralisches Problem gibt. 19 Dies führt nicht nur zur moralischen Herabsetzung Vgl. hierzu Frey, R. G.: Rechte, Interessen, Wünsche und Überzeugungen, in: Krebs, A. (Hg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. Frankfurt/M. 1997, 76–91. 18 Um die schwer beweisbare Annahme eines Subjektstatus und -bewusstseins von Tieren zu vermeiden, wird von einigen Autoren die Unterscheidung zwischen »Lebenswillen« (beim Menschen) und »Lebensdrang« (beim Tier) verwendet. Vgl. Bressler, H. P.: Ethische Probleme der Mensch-Tier-Beziehung. Eine Untersuchung philosophischer Positionen des 20. Jahrhunderts zum Tierschutz. Frankfurt/M. 1997. 19 Nach P. Singer gilt: Ist ein Lebewesen »nicht leidensfähig …, dann gibt es nichts zu berücksichtigen«. Singer, P.: Praktische Ethik. Stuttgart 1994 (2., rev. und erw. Aufl.), 85. 17
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derjenigen Tiere, die nicht über die neurophysiologischen Voraussetzungen für die Schmerzrezeption verfügen, sondern auch zur Schwierigkeit der Begründung der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens im Zustand neurologisch bedingter Schmerzunempfindlichkeit (Narkose, Koma u. Ä.) oder der Unfähigkeit zur entsprechenden Interessenartikulation, etwa beim Neugeborenen, beim Altersdementen oder beim zeitlebens geistig stark Behinderten. Es droht die Gefahr, dass diesen Menschen deshalb ein verminderter moralischer Status zugeschrieben wird. Der Pathozentrismus entbehrt insofern der Verallgemeinerbarkeit und damit einer für die Moralbegründung wesentlichen Bedingung. Um diesen und ähnlichen Schwierigkeiten zu begegnen, verknüpfen neuere Autoren den Pathozentrismus mit einer Ethik des Mitleids, 20 wobei sie die These vertreten, dass »Mitleid immer schon allen Moralen als Fundament zugrunde« liege. 21 Danach beruht die für moralisches Verhalten erforderliche Gleichheit der Lebewesen nicht auf bestimmten Anlagen und/oder Fähigkeiten, sondern auf dem vormoralischen Affekt des Mitleids, welcher als universell angenommen wird (»universalisiertes Mitleid«, U. Wolf) und einer unterschiedlichen moralischen Behandlung menschlichen und tierischen Leides im Wege steht. Da es jedoch schwerfällt, Tieren die Fähigkeit zum Mitleidsgefühl zuzuschreiben, sprengt der Versuch der Mitleidsfundierung des Pathozentrismus zwangsläufig die Grenzen einer anthropoindifferenten Ethikbegründung. Bio- und Pathozentrismus teilen hinsichtlich der Frage der Begründung einer Mensch und (bestimmten) Tieren gemeinsamen Ethik, dass beide den genannten Egalitarismus mit einem Verzicht auf Reziprozität verbinden müssen. 22 Dies führt zu dem Problem, dass einen derartigen Ansatz nur der Mensch vertreten kann: Nur er vermag sich moralisch jedem Lebewesen bzw. jedem schmerzempfindenden Wesen gleichzustellen und sich mit ihm zu solidarisieren; nicht jedoch das Tier. Es ist nicht zu beobachten, dass Tiere das Leben aller Lebewesen achten, noch, dass alle schmerzempfindenden Tiere dies tun. Ein Egalitarismus in der Moral aber ist bei Verzicht auf
z. B. Wolf, U.: Das Tier in der Moral. Frankfurt/M. 1990; Wolf, J. C.: Tierethik. Neue Perspektiven für Menschen und Tiere. Freiburg/Schweiz 1993. 21 U. Wolf (Fn. 20), 57; vgl. oben in Kap. VI den Abschnitt über ›Mitleid‹. 22 Vgl. hierzu Müller, A. W. (Fn. 13), 38 ff. 20
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Anthropoindifferente Begründungsansätze
Reziprozität nicht begründbar. Dabei ist es unerheblich, ob Reziprozität faktisch gesichert ist; entscheidend ist, dass sie zumindest der Möglichkeit nach gegeben sein muss. Um Missverständnisse zu vermeiden: Aus dem zuletzt Gesagten folgt nicht, dass der Mensch die Tiere – sei es alle oder nur die schmerzempfindenden – in moralischer Hinsicht nicht zu achten hätte: Tiere sind und bleiben Mitlebewesen. Nur muss man beachten, dass nicht nur die Begründung hierfür vom Menschen und nur von ihm ausgeht, sondern auch die Verwirklichung eines solchen moralischen Prinzips. Dies verschafft dem Menschen nicht schon einen höheren moralischen Wert, wohl aber eine ganz andersgeartete Stellung innerhalb der Lebewesen: Er vermag eine universalisierbare, alle Lebewesen betreffende Moral nicht nur zu begründen, sondern darüber hinaus auch für sich für verbindlich zu erklären. Mit Sicherheit vermag der Mensch in allen Lebewesen moral patients, moralisch Leiden-Könnende zu sehen, die es nach universell gültigen moralischen Normen zu behandeln gilt. Ob das auch dem Tier oder zumindest bestimmten Tierspezies möglich ist, ist bisher ungeklärt. Denn ein anderes Lebewesen moralisch als leidend zu begreifen, setzt voraus, dass man selbst ein moralisches Subjekt ist, das das andere Lebewesen moralisch als seinesgleichen begreift und entsprechend behandelt, und zwar auch dann, wenn das andere Lebewesen seiner Natur nach nicht in der Lage ist, dieses Prinzip ebenfalls zu befolgen. Schließlich: Da er das Prinzip der Schmerzempfindlichkeit bzw. das Interesse daran, Schmerz zu vermeiden, für selbstevident und einer Begründung weder für bedürftig noch für fähig hält, verzichtet der Pathozentrismus auf eine Letztbegründung von Moral. Das ist insofern misslich, als der Pathozentrismus zwar ein Schmerzvermeidungsgebot, aber kein Tötungsverbot kennt: sofern nämlich Tötung schmerzfrei erfolgt. Deutlich wird dies in der Verbindung des Pathozentrismus mit dem (Präferenz-)Utilitarismus und damit die Verknüpfung von Leidvermeidung mit dem Nützlichkeitsgrundsatz. Die Tötung von Tieren ist danach moralisch dann zulässig, wenn sie schmerzfrei erfolgt und zwecks Vermeidung größeren Leids notwendig ist. 23 Aus präferenzutilitaristischer Sicht ist die Nutzung von Tieren etwa zu Zwecken der Xenotransplantation dann ethisch unbedenklich, wenn es gelingt, mit der schmerzlosen Tötung einer be-
23
Vgl. Singer, P. (Fn. 18), 40.
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grenzten Anzahl von Tieren einer ungleich größeren Zahl von Menschen durch Transplantation von Tierorganen das Leben zu retten. 24 Fazit: Während der Biozentrismus durch seine Absolutsetzung von Leben in jedweder Form der Inanspruchnahme von Tieren die Legitimationsbasis im vornherein entzieht, ergibt sich aus der Sicht des Pathozentrismus, dass die Tiernutzung nur dann, wenn sie mit Schmerzzufügung verbunden ist, nicht rechtfertigungsfähig ist, sofern sie hingegen mit der schmerzlosen Nutzung oder gar Tötung verbunden ist, hingegen rechtfertigungsfähig ist. 25 Zeigt sich hier ein Rest von Anthropozentrismus?
3.
Der Anthropozentrismus
Nicht erst angesichts der dargelegten Schwierigkeiten anthropoindifferenter Ethikansätze wie derjenigen des Bio- und des Pathozentrismus, sondern durchaus unabhängig von ihnen sucht sich seit alters her in der Frage nach einer Mensch und Tier gemeinsamen Ethik der Ansatz des Anthropozentrismus zu behaupten. Danach sind Grundlage und Ausgangspunkt von Moral der Mensch und seine Zwecksetzungen. Das Tier zählt zu den Sachen, deren Behandlung nach vom Menschen gesetzten Zwecken erfolgt. 26 Dabei ist eine Anwendung der Menschenmoral auf Tiere durchaus vorgesehen; sie geschieht aber nicht um der Tiere selbst willen, sondern im Blick auf den Menschen, genauer: aus dem Blickwinkel des Menschen. Der Mensch ist Vgl. bezüglich Einzelheiten Regan, T. (1988) (Fn. 5), 328. Da der Pathozentrismus schmerzfreie Tötung von Lebewesen, die nicht in der Lage sind, »die eigene künftige Existenz der Nichtexistenz vorzuziehen« (Singer, P. [Fn. 18], 129), nicht als ethische Normverletzung ansieht, gerät er in die große Schwierigkeit zu begründen, warum Neugeborene oder geistig Schwerstbehinderte nicht ebenfalls getötet werden dürften, sofern es schmerzfrei geschehen würde. Singer: »Warum sollten wir bereit sein, den Gebrauch tierischer Organe zu akzeptieren, aber nicht bereit sein, sie von Kleinstkindern zu nehmen, die intellektuell weniger entwickelt sind als nichtmenschliche Lebewesen?« (Singer, P. [Fn. 3], 730). Argumente dieser Art lassen – abgesehen von ihrem menschenverachtenden Impetus – jedoch außer Acht, dass ein Kleinstkind zwar über die Manifestation bestimmter intellektueller Fähigkeiten noch nicht verfügt, wohl aber über die Anlage dazu, die sich bei normaler Entwicklung in Zukunft zeigen wird, während Tiere über dem Menschen vergleichbare intellektuelle Anlagen ihrer Natur zufolge auch bei Weiterentwicklung i. d. R. nicht verfügen. 26 Zur Anthropozentrik in der Ethikbegründung vgl. Feldhaus, St.: ›Anthropozentrik‹, in: Korff, W. et al. (Hg.): Lexikon der Bioethik, Bd. 1, 177–184. Gütersloh 1998. 24 25
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Der Anthropozentrismus
in erster Linie um seiner selbst willen um das Tier besorgt, sei es, dass das Tier in seiner unmittelbaren Umgebung lebt (»Haustier«), sei es, dass das Tier ihm Nutzen bringt (»Nutztier«), sei es, dass er das Tier zu Forschungs- (»Versuchstier«) oder Transplantationszwecken (»Spendertier«) benötigt oder menschlichen Zwecksetzungen kaum oder gar nicht unterwerfen kann (»Wildtier«). Zwar muss sich der Mensch auch nach Maßgabe der anthropozentrischen Ethik dem Tier gegenüber moralisch verhalten: Er muss es schützen und artgerecht halten (»Haustierhaltung«), er muss es pflegen und möglichst keimfrei halten (»Nutztierhaltung«) und es ggf. vor Ausrottung schützen (»World Wild Life Fund«). Doch dies alles erhält seine ethische Legitimation nicht aus dem Respekt vor dem Tier um des Tieres willen, sondern aus Zwecksetzungen der genannten Art seitens des Menschen und letztlich aus seiner Selbstachtung als eines moralischen Wesens. Letzteres hat Kant auf die Formel gebracht: Der Mensch muss Tiere respektvoll behandeln, um nicht zu verrohen. Auch wenn sie keinen moralischen Selbstzweck besitzen, sind die Tiere nach Kant keineswegs, wie etwa in der neuzeitlichen Sicht seit Descartes, Maschinen: Kant spricht den Tieren durchaus die Fähigkeit zu Vorstellungen zu, nicht aber diejenige zu Erkenntnissen: Sie vermögen im Unterschied zum Menschen »ihre Vorstellungen nicht allgemein (zu) machen« 27 und sind daher z. B. zu schlussfolgerndem Denken nicht in der Lage, auch wenn sie durchaus gemäß ihren Vorstellungen handeln können. Der Mensch besitzt daher Pflichten nicht gegenüber den Tieren, sondern »in Ansehung« derselben. 28 Der Anthropozentrismus in der Ethikbegründung mag sich in Bezug auf das Wohl der Tiere durchaus positiv auswirken; doch aus ethischer, das Prinzip der Moralität begründender Sicht leidet er vor allem an drei Hauptschwierigkeiten: 29 (1) Der Anthropozentrismus setzt Ethikbegründung und normgerechtes Verhalten in eins. Er spricht dem Tier deswegen einen vom Menschen zuzuweisenden moralischen Status zu, weil er das Tier als »vernunftlos« betrachtet; seine angenommene oder tatsächliche Vernunftlosigkeit beraube das Tier der Möglichkeit, Kant, I.: Kritik der Urteilskraft. Berlin 1968, § 90 (AA Bd. III, 45). Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten. Berlin 1968 (AA Bd. VI), 443. 29 Vgl. Ricken, F.: Anthropozentrismus oder Biozentrismus? Begründungsprobleme der ökologischen Ethik, in: Zeitschrift für Theologie und Philosophie 62 (1987), 1–21. 27 28
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sich an der Begründung von Moralität zu beteiligen. So unbestreitbar dies ist, so ist doch damit keineswegs erwiesen, dass das Tier normiertes Verhalten in bestimmten Formen und Grenzen nicht praktizieren könnte. Dass das Tier sich an der Begründung des Prinzips der Moral einer ihm und den Menschen gemeinsamen Ethik nicht zu beteiligen vermag, führt zwar dazu, dass es nicht als moralisches Subjekt gelten kann; dies hindert jedoch nicht, dass das Tier nach Maßgabe seiner speziesspezifischen und sozialen Entwicklungsstufe in seinem natürlichen Umfeld gegenüber seinesgleichen normiertes Verhalten zeigen kann. Die Fähigkeit zur Ethikbegründung und normgerechtes Verhalten sind nicht ein und dasselbe. (2) Der Anthropozentrismus ist nicht verallgemeinerbar. Er schreibt dem Tier in moralischer Hinsicht keinen Eigenwert zu: Das Tier besitzt keinen intrinsischen moralischen Status, sondern lediglich einen ihm von außen – vom Menschen nämlich – zugeschriebenen Wert. Dies ist insofern im Konflikt mit einem als kohärent und konsequent zu verstehenden Ethikansatz, als Zuschreibungen, sollen sie nicht willkürlich sein, stets einem verallgemeinerungsfähigen, objektiv gültigen Kriterium genügen müssen. Das Kriterium »moralischen Wert besitzt, wem der Mensch aus seiner Sicht und um seiner Interessen wegen selbigen zuerkennt«, ist entweder nicht universalisierbar oder führt in einen unendlichen Regress: nicht universalisierbar insofern, als Zuschreibungen ihrer Natur nach instabil sind; setzt man sich darüber hinweg, ist ein regressus ad infinitum unvermeidlich, weil Zuschreibungen ihrerseits ein Kriterium benötigen, um praktisch funktionieren zu können. Der Anthropozentrismus in der Ethik erweist sich hinsichtlich des Erfordernisses der Verallgemeinerungsfähigkeit ethischer Ansätze mithin als defizitär. (3) Der Anthropozentrismus steht im Widerspruch zu den Erkenntnissen der modernen Biowissenschaften. Die fehlende Berücksichtigung der evolutionsbiologischen und phylogenetischen Nähe zumindest bestimmter Tierspezies – wie z. B. der Menschenaffen – zum Menschen macht dem Anthropozentrismus in der Ethik massiv zu schaffen. Moralisches Regelverhalten im Sinne von »den Nutzen für die Gruppe mehren, Schaden so gut es geht abwenden« findet sich bei Tierspezies ganz unterschiedlichen Differenzierungsgrades: bei nichtmenschlichen Primaten z. B. ebenso wie bei Bienen oder Ameisen. 372 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Der anthroporelationale Ansatz
(4) Der Anthropozentrismus in der Ethik hat nur in einem Punkte recht, wenngleich er aus eben diesem Punkt wiederum die falsche Schlussfolgerung zieht: Recht hat er insofern, als das Tier an der Konstitution von Moral nicht beteiligt ist und seiner Natur nach nicht beteiligt werden kann; Unrecht hat er insofern, als daraus nicht abgeleitet werden kann, das Tier sei im Hinblick auf seinen moralischen Status auf Gedeih und Verderben auf den Menschen angewiesen. Es ist wie gesagt eines, Ethik bzw. das Prinzip der Moralität zu begründen, und es ist ein anderes, sich moralisch, d. h. normentsprechend zu verhalten. Angesichts der genannten Schwierigkeiten sowohl der anthropoindifferenten Ansätze des Biozentrismus und des Pathozentrismus als auch des anthropozentrischen Ansatzes fragt sich, ob es hinsichtlich der Begründung einer für Mensch und Tier gemeinsamen Ethik einen Ausweg gibt.
4.
Der anthroporelationale Ansatz
4.1 Moralisches Objekt- und Subjektsein »Anthroporelational« soll im Folgenden derjenige Ethikansatz heißen, für den die Unterscheidung zwischen moralischem Subjekt und moralischem Objekt grundlegend ist und der davon ausgeht, dass das oben in Kap. I dargelegte Wesensmerkmal der Autonomie, nämlich der Subjektstatus des Menschen, eine sichere Basis für die Beantwortung der Frage nach einer Mensch und Tier gemeinsamen Ethik darstellt, ohne den Menschen damit moralisch zu privilegieren. Die Ausgangsthese einer anthroporelationalen Ethik lautet demnach: Jedes Lebewesen besitzt, unabhängig von seiner Struktur und Differenziertheit, zwar von sich her einen moralischen Status. Darunter versteht man der Form nach die Stellung eines Lebewesens innerhalb von Moral. Diese Stellung aber kann sich auf zwei ganz unterschiedliche Weisen zeigen: zum einen, Objekt von Moral zu sein, zum anderen, zugleich Subjekt von Moral zu sein, d. h. moralisch urteilen und handeln zu können und sich sein Tun und Lassen zurechnen zu lassen und in verantwortlicher Weise andere zum Gegenstand moralischer Entscheidungen und Handlungen zu machen. Hier wird ein deskriptiver und ein normativer Gebrauch des Terminus »moralischer Status« deutlich: Der Beschreibung nach besitzt alles und 373 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
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jedes einen moralischen Status, was als Objekt von Moral gilt; im normativen Sinne dagegen besitzt einen moralischen Status, wer zugleich Subjekt von Moral ist, d. h. wer prinzipiell mit der Anlage ausgestattet ist, sein Verhalten an den geltenden Prinzipien einer Moral bewusst auszurichten und über sein entsprechendes Verhalten Rechenschaft abzulegen. Wer Tieren einen Status im Sinne moralischer Objekte zuschreibt, der sagt damit, dass Tiere nach Maßgabe einer bestimmten Moral zu behandeln sind. Wer Tieren über den Objektstatus hinaus auch den Status von Subjekten von Moral zuschreibt, der macht sie nicht nur zu passiven, sondern auch zu aktiven Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft, d. h. zu solchen, die nicht nur nach Maßgabe einer bestimmten Moral behandelt werden müssen, sondern die ihrerseits an der Konstitution der betreffenden Moral – zumindest potentiell – beteiligt sind. Die vorgenannte Unterscheidung zwischen moralischem Objektsein und moralischem Objekt- und zugleich Subjektsein wird nicht selten in eins gesetzt mit der Unterscheidung zwischen extrinsischem und intrinsischem Wert. Zu unrecht. ›Intrinsisch‹ ist ein Wert, der seinem Träger von ihm selbst her zukommt, ›extrinsisch‹ ist ein Wert, der seinem Träger von außen zukommt. Hier spielt mithin Werthaftigkeit bzw. deren Herkunft eine Rolle. Alle Lebewesen besitzen ohne Ausnahme einen intrinsischen, weil einen von ihnen selbst zukommenden Wert. Bei der Unterscheidung zwischen dem Objektsein und dem Subjekt-/Objektsein von Moral ist dies jedoch nicht das entscheidende Kriterium. Wer Tieren nur einen moralischen Objektstatus zuschreibt, der tut dies nicht deshalb, weil er sie für weniger wert oder gar für wertfrei hielte, sondern deswegen, weil die Tiere nicht moralisch urteilen und handeln. Eben weil der moralische Objektstatus der Tiere nicht auf deren angeblich geringerem Wert beruht, sondern auf dem Fehlen der Anlage zu moralischem Urteilen und Handeln, müssen Tiere von denjenigen, die sowohl einen moralischen Objekt- als auch einen moralischen Subjektstatus besitzen, verantwortungs- und rücksichtsvoll behandelt werden. Dies gilt freilich nicht nur in Bezug auf die leidensfähigen Tiere: Alle Tiere sind vom Menschen grundsätzlich verantwortungs- und rücksichtsvoll zu behandeln. Die zwischen Subjekt und Objekt unterscheidende Moral wird auch dem Käfer einen moralischen Status zugestehen, unabhängig davon, ob derselbe die Anlage zur Schmerzempfindlichkeit besitzt oder nicht. Der dargelegte Doppelstatus des Menschen als Subjekt und Ob374 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Der anthroporelationale Ansatz
jekt von Moral hat seine Grundlage in des Menschen Verfasstheit als autonom: Nur er kann im Unterschied zum Tier selbstbestimmt moralisch handeln; was er hingegen mit dem Tier teilt, ist das Recht, moralisch behandelt zu werden. Hinzu kommt: Sieht man Universalisierbarkeit als grundlegendes Kriterium einer jeden Moral an, so ist die Subjekt/Objekt unterscheidende Moral universeller als die pathozentrische Moral, deren Universalitätsanspruch und Gleichheitsannahme ihre Grenze darin hat, dass nichtleidensfähige Lebewesen in moralischer Hinsicht ausgegrenzt werden. Den Anspruch auf Universalisierbarkeit, wonach alle Lebewesen und damit auch alle Tiere moralisch berücksichtigt werden müssen, erfüllt der Pathozentrismus nicht, wenn nach ihm Aussagen von der folgenden Art zulässig sind: »Wo jemand unter etwas nicht leidet, entsteht kein moralisches Problem, wenn wir es tun.« 30 Prinzipientheoretisch betrachtet ist das Recht auf Schmerzvermeidung und insbesondere das Recht auf Leben seiner Natur nach ein solches gegenüber jemandem. Tiere können derartige Rechte weder gegenüber ihresgleichen noch gegenüber dem Menschen wahrnehmen, weil sie einander und auch den Menschen nicht nach Maßgabe von Rechtsprinzipien noch von Pflichten behandeln noch behandeln können, sondern nach Maßgabe und im Rahmen der für sie arttypischen Verhaltensweisen. Versteht man mit Kant unter moralischem Handeln ein solches, das sich an Maximen orientiert, die jederzeit als allgemeines Gesetz gelten können sollen, so können Tiere keine moralischen Subjekte sein, denn sie können derartige Universalisierungsleistungen zum Zwecke der Konstitution von Moral nicht erbringen. Daraus folgt nicht, der Mensch könne mit dem Tier nach Belieben verfahren, wohl aber, dass der Mensch Tiere seinen Zwecken unterwerfen kann, vorausgesetzt, die Zwecke sind ethisch legitim und die Methoden der Zweckerreichung dem Tier zumutbar. Was bedeutet im vorliegenden Zusammenhang »Moralkonstituierung«? Moral konstituiert, wer aufgrund seiner Fähigkeit, rationale Konsense herzustellen und Argumente auszutauschen und auszudiskutieren, normatives Handeln nicht nur ausbildet – das gelingt auch manchem höher entwickelten Tier –, sondern darüber hinaus in Form einer Ethik auch begründet. Der Mensch vermag den Schutz der Tiere als ethische Norm zu begründen; nicht aber vermag irgendein Tier eine entsprechende Menschenschutznorm zu etablieren. Entspre30
Wolf, U.: Das Tier in der Moral. Frankfurt/M. 1997, 57.
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chendes gilt auf der Handlungsebene: Man kann dem Menschen z. B. Tierquälerei, nicht aber dem Tier Menschenquälerei vorwerfen. 31 Das privilegiert den Menschen dem Tier gegenüber jedoch nur in einem Punkte: darin nämlich, dass er die Begründung moralischer Normen nicht nur einmal geleistet hat, sondern immer wieder neu leisten kann und leisten muss. Zugleich hat der Mensch, weil wie gezeigt als einziger sowohl Subjekt wie Objekt von Moral, die Pflicht, die Tiere, obwohl an Ethik als Moralbegründungsdiskurs nicht beteiligt bzw. nicht beteiligbar, gleichwohl angemessen zu behandeln. Konkret: Jede Inanspruchnahme des Tieres zu einem vom Menschen gesetzten Zweck ist, weil ein Umgang mit einem Lebewesen mit einen moralischen Objektstatus sui generis, grundsätzlich legitimationsbedürftig, und zwar nicht nur aus der Sicht des Menschen, sondern auch aus der Perspektive des Tieres. Generell gilt daher, dass vom Menschen vorgenommene Zwecksetzungen in Bezug auf Tiere objektiv gewichtig und alternativlos, zeitlich dringlich, in ihren Folgen kontrollierbar und hinsichtlich der Beeinträchtigung für das Tier vertretbar sein müssen. Die These, dass Tiere »lediglich« einen moralischen Objektstatus besitzen, bedeutet, wie gesagt, nicht, dass sie willkürlich behandelt werden könnten; sie bedeutet vielmehr, dass diese Lebewesen nicht selbst, d. h. nicht autonom moralisch urteilen und handeln können, will man die Bedeutung dieser Ausdrücke nicht begrifflich weitgehend der Vagheit aussetzen. In Hinblick auf Moral besteht der Unterschied zwischen Tier und Mensch darin, dass, während beide moralisch behandelt werden müssen, nur der Mensch aufgrund seiner Autonomie darüber hinaus die Anlage besitzt, auch moralisch zu urteilen und sich sein Tun und Lassen zurechnen zu lassen. In der Literatur findet sich dafür die Unterscheidung zwischen ›moral patient‹ und ›moral agent‹. 32 ›Moral patient‹, d. h. Objekt moralischen Urteilens und Handelns, ist derjenige, dessen Sosein, Bedürfnisse, Interessen, etc. respektiert werden müssen. Der englische Ausdruck ›patient‹ ist freilich insoweit nicht glücklich, als danach nur derjenige ein moralisches Objekt wäre, der leidensfähig ist. In Wirklichkeit ist der Kreis der Objekte von Moral sehr viel größer; er schließt im Prinzip Vgl. Höffe, O.: Der wissenschaftliche Tierversuch: Eine bioethische Fallstudie, in: Ströker, E. (Hg.): Ethik der Wissenschaften? Philosophische Fragen. Paderborn 1984, 117–150. 32 So Warnock, D. J.: The Object of Morality. London 1971, 148. 31
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auch diejenigen Tiere ein, die nicht über die neurophysiologischen Voraussetzungen verfügen, von denen man gemeinhin annimmt, dass sie für Schmerzempfindung notwendig sind. Auch der Käfer, der möglicherweise keinen Schmerz empfinden kann, ist Objekt von Moral, nicht nur der Schimpanse, von dem wir aufgrund seiner neuronalen Ausstattung und seines Verhaltens wissen, dass er schmerzempfindlich ist.
4.2 Voraussetzungen moralischer Gemeinschaft von Mensch und Tier Insoweit sie Objekte von Moral sind, kann man Mensch und Tier als zu derselben moralischen Gemeinschaft zählend betrachten, wie dies Biozentrismus und Pathozentrismus tun. Berücksichtigt man darüber hinaus den moralischen Subjekt-Status, stößt ein solcher Versuch freilich an seine Grenzen. Dass – zumindest bestimmte – Tiere moralisch zugleich Objekte wie Subjekte seien, geht nicht ohne starke Annahmen wie Autonomie, freier Wille, Selbstbewusstsein, Handeln aufgrund selbstgesetzter Zwecke usw. ab. Konkret: Ob Tiere Schmerzen vermeiden wollen, wissen wir nicht mit hinreichender Sicherheit; dass wir ihnen nicht unnötig Schmerzen zufügen dürfen, wissen wir dagegen mit großer Sicherheit. Anstelle der schwer beweisbaren Annahme, Tiere seien mit einem selbstbewussten Willen ausgestattet, empfiehlt sich, mit der beweisbaren Annahme zu arbeiten, dass der Mensch durchaus in der Lage ist, zu begreifen, warum man Tieren nicht unnötig Schmerzen zufügen darf. Die Rechtfertigung dafür, dass man Tiere Schmerzen aussetzt, kann sich daher nicht allein aus der Not der Menschen herleiten, sie muss zugleich Maß und Grenzen der Zumutbarkeit für die Tiere berücksichtigen. Was mithin die Schmerzzufügung der Tiere und z. B. die Organersatzbedürftigkeit von Menschen auf dem Feld der Xenotransplantation miteinander abwägungsfähig macht, ist nicht ein wie auch immer behaupteter Vorrang des Menschen, sondern das Prinzip, mit einem zumutbaren Maß an Beeinträchtigungen (für das Tier) ein hohes Gut wie die Lebensrettung eines Menschen erreichbar zu machen (sog. »worse-off principle«). 33 Nehmen die Beeinträchtigungen für das zum Zwecke einer Xenotransplantation vorgesehene Tier ein 33
Vgl. Regan, T. 1988 (Fn. 5), 328.
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VII · Ethische Fundierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier
Ausmaß an, das als Qual zu bezeichnen ist, so erscheint eine solche Weise der Inanspruchnahme des Tieres aus der Sicht des Respekts vor ihm ethisch nicht rechtfertigungsfähig. Rechtfertigungsfähig dagegen ist das Bemühen, mit einem vertretbaren Maß an Beeinträchtigungen für das Tier Lebenserhaltung und Leidvermeidung für den Menschen zu erreichen. 34 Das zuletzt Gesagte entspricht im Übrigen auch der Bestimmung des § 1 Tierschutzgesetz, wonach Tiere ausnahmslos ein Recht darauf haben, nicht »ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden« zugefügt zu bekommen. ›Vernünftiger Grund‹ ist nicht alles und jedes, was irgendwem irgendwann so erscheint, sondern nur das, was sich intersubjektiv in seinem Rationalitätsanspruch ausweist und konsensfähig ist, wie zum Beispiel die Tiernutzung in der Grundlagenforschung, sofern das Forschungsziel von hoher Bedeutung ist und es keine Alternative zur Inanspruchnahme der Tiere gibt. 35 Mit Recht hat man daher vorgeschlagen, im Tierschutzgesetz statt von »vernünftigem« von »rechtfertigendem« Grund zu sprechen. 36 An die Stelle der Forderung, Leid dürfe einem Lebewesen niemals und unter keinen Umständen zugefügt werden, tritt dann der Grundsatz, dass jedwede Leidzufügung der ausdrücklichen Begründung bedarf und innerhalb der Grenzen des Zumutbaren und Erträglichen verbleiben muss. Es ist mit Sicherheit moralisch unzulässig, vermeidbares oder gar nichtzumutbares Leid zu verursachen. Der anthroporelationale Ansatz in der Ethik unterscheidet sich mithin vom anthropozentrischen im Wesentlichen dadurch, dass er dem Tier einen eigenen, d. h. einen vom Menschen und seinen Zwecksetzungen unabhängigen moralischen Status zuerkennt; zugleich unterscheidet er sich von anthropoindifferenten Ansätzen wie demjenigen des Biozentrismus oder des Pathozentrismus darin, dass er letztlich auf des Menschen Autonomie beruht und auf anthropomorphe Ähnlichkeitszuschreibungen auf das Tier verzichtet. Näheres zu ethischen Fragen der Xenotransplantation siehe Beckmann, J. P. et al.: Xenotransplantation von Zellen, Geweben oder Organen. Wissenschaftliche Entwicklungen und ethisch-rechtliche Implikationen. Berlin 2000, 241–268; ders.: Tiere als Organ-»Spender« für Menschen? In: Universitas 56/660 (2001), 610–614. 35 Vgl. § 7, 2, 4 TSchG. Vgl. v. Loeper, E. (1996): Tierschutz im Grundgesetz, in: Zeitschr. f. Rechtspolitik 4: 146–149. 36 Nida-Rümelin, J. / von der Pforten, D. (1996): Tierethik II: Zu den ethischen Grundlagen des deutschen Tierschutzgesetzes, in: Nida-Rümelin, J. (Hg.): Angewandte Ethik. Stuttgart, 495. 34
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Schlussgedanke
5.
Schlussgedanke
Der Umgang des Menschen mit dem Tier stellt immer schon ein Phänomen der Kulturalisierung dar. Bio- und Pathozentrismus suchen diesen Sachverhalt in ihrer Ethikbegründung zu naturalisieren, indem sie entweder, wie der Biozentrismus, einen seinsbezogenen oder, wie der Pathozentrismus, einen interessenbasierten Egalitarismus zwischen Mensch und Tier vertreten. Ersteres, so hat sich gezeigt, ist nur um den Preis einer Marginalisierung differenzierterer Lebensformen möglich, letzteres nur durch Zulassung der Nichtreziprozität der Interessenberücksichtigung. Beidem sucht der Anthropozentrismus zu entgehen; dies freilich um den Preis moralischer Unterprivilegierung des Tieres und Bevorzugung des Menschen, indem er aus dem Umstand, dass sich das Tier – auch das höher entwickelte Tier – nicht am Begründungsdiskurs von Ethik beteiligen kann, Nachteile für die Tiere für rechtfertigungsfähig hält. Im Gegensatz hierzu bemüht sich die anthroporelationale Ethikbegründung, eine für Mensch und Tier gemeinsame Ethik zu etablieren, die vom Prinzip der Reziprozität der Berücksichtigung von Interessen unabhängig ist und dennoch dem Tier – und zwar jedem Tier – einen moralischen Objektstatus sichert. Der anthroporelationale Ethikbegründungsansatz erreicht dies, indem er von der Doppelung aller Ethikbegründung ausgeht, welche darin besteht, dass dieselbe zum einen unvermeidlich vom Menschen als autonomen Wesen ausgeht, doch zugleich ebenso notwendig auf ihn zurückweist. Das Prinzip der Moralität der anthroporelationalen Ethik ist in Bezug auf den moralischen Status des Tieres dasjenige nicht-reziproker Verantwortung aus Fairness gegenüber dem Tier: nicht-reziprok, weil das Prinzip unabhängig davon gilt, dass das Tier seinerseits keine Verantwortung übernehmen kann, und Fairness, weil der letztgenannte Umstand nicht zum Nachteil des Tieres ausgelegt wird. Aus dem Umstand, dass nur der Mensch Ethik als reflexiven Moraldiskurs zu konzipieren und zu begründen imstande ist, jedoch zu folgern, er besitze deswegen einen »höheren moralischen Wert«, hieße Ethik als Begründungsdiskurs mit Moral als normgeleiteter Praxis zu verwechseln oder gar in eins zu setzen. Auch läge darin ein Selbstmissverständnis des Menschen als eines autonom verfassten vernunftfähigen Wesens, welches sich prinzipiell von seiner Animalität durch (Selbst-) Einsicht zu distanzieren vermag. Dass nur der Mensch Ethik begründen kann, macht ihn nicht besser als die Tiere; wohl aber zeigt 379 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
VII · Ethische Fundierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier
es, dass er zu höheren Intelligenzleistungen fähig ist. Im Unterschied zur Moral macht ethische Analyse, wenn sie gelingt, zwar nicht besser, wohl aber klüger. Damit beantwortet sich die eingangs gestellte Frage nach der Möglichkeit einer Mensch und Tier gemeinsamen Ethik dahingehend, dass ›Ethik‹ als Diskurs über Begründungen von Moral keine Bejahung dieser Frage ermöglicht, dass aber die Art und Weise des Umgangs mit Lebewesen, die zwar keinen moralischen Subjekt-, wohl aber einen moralischen Objektstatus besitzen, sehr wohl eine Mensch und Tier verbindende Ethik darstellen kann, in der dem Menschen eben wegen seiner Autonomie die verantwortungsvolle Aufgabe zufällt, Tiere als Mitlebewesen zu behandeln.
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Statt eines Nachwortes: »Fortschritt«? – Eine kritische Nachfrage
1. 2. 2.1 2.2 3. 4. 5. 6.
Einführung Zum Begriff ›Fortschritt‹ Deskriptive und normative Elemente dieses Terminus Entdeckungs- und Erkenntnisfortschritt Wissenschaft oder Gesellschaft als »Orte« des Fortschritts? Kriterien der Identifikation von Fortschritt Ein kurzer Blick auf drei Beispiele Fazit
381 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Statt eines Nachwortes: »Fortschritt«? – Eine kritische Nachfrage
1.
Einführung
Die vorangegangenen ethischen Analysen und moralischen Diskussionen aktueller Herausforderungen der gegenwärtigen Gesellschaft galten den Sachverhalten, • dass man angesichts der tendenziellen Verlagerung der Wissensträgerschaft vom Individuum zum anonymen Kollektiv und der Wandlung der Universitäten von Stätten unabhängiger Wissensproduktion zu Einrichtungen zum Zwecke der Etablierung von Verfügungswissen nach Marktgesichtspunkten kritisch nach Orientierungswissen sucht; • dass man sich im Blick auf Entwicklungen in der Reproduktionsmedizin und der Neonatologie Gedanken macht über den menschlichen Lebensanfang und in Anbetracht der Möglichkeiten apparativer Kreislauferhaltung trotz vollständigen Ausfalls des gesamten Hirns erneut nach dem Ende und damit nach dem Verständnis des Menschen als einer leiblich-geistigen Einheit fragt; • dass man angesichts der weiter steigenden Möglichkeiten moderner Medizin, in zu Ende gehendes Leben verkürzend oder verlängernd einzugreifen, sich nicht an der Machbarkeit orientiert, sondern an der Würde und dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht des Menschen; • dass man insbesondere im Sterben den Respekt vor der Würde und der Autonomie des Menschen bewahren muss; • dass man, wenn schon Einsparungen im Gesundheitswesen nicht vermeidbar sind, allen Rationierungen Priorisierungen vorausschickt; • und last but not least dass der Mensch gerade wegen seiner Verfasstheit als autonom den Respekt vor den Tieren als Mitlebewesen wahren muss. Sind dies alles »Fortschritte« im Sinne des »besser als zuvor?« oder im Sinne des »Zukunftsweisenden«, des Rückblicks also oder des Vorausblicks? Oder hat der Begriff Fortschritt ein »Janus«-Gesicht, wie der römische Gott des Anfangs und des Endes? Hier ist ein kritischer Blick auf den in den Wissenschaften ebenso wie in Politik und Gesellschaft gerne verwendeten Begriff des Fortschritts angezeigt. 1
1
Nachfolgendes stellt eine Überarbeitung des gleichnamigen Beitrags von Beck-
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Einführung
Lange Zeit und vielfach heute immer noch als etwas im Prinzip Positives betrachtet, löst der Terminus ›Fortschritt‹ in Bezug auf manche Entwicklungen, insbesondere in den Bio-Wissenschaften, inzwischen zunehmend Nachdenklichkeit, Bedenken und teilweise Ängste aus. Dabei sind es gerade diese Disziplinen, die unbestreitbare Fortschritte erzielt haben: etwa die Bakteriologie und Virologie, die frühere Geißeln der Menschheit wie die Pocken nahezu eliminiert haben, aber auch TBC, Pest, Malaria etc. wirkungsvoll bekämpfen helfen; hinzukommen heute beispielsweise die Bereiche der Neonatologie und Intensivmedizin, die inzwischen Leben ermöglichen und erhalten können, das noch vor wenigen Jahrzehnten chancenlos gewesen ist. Und so hofft man auf weitere Fortschritte dieser Art, vor allem hinsichtlich der Bekämpfung der Herz-/Kreislauf- und der Krebserkrankungen, aber auch der Aids-, SARS-, EHEC- und Corona-Virus-Infektionen. Doch so überzeugt man sein kann, dass die erfolgreiche Bekämpfung derartiger schwerer Krankheiten und Infekte einen Fortschritt darstellt, so unsicher ist man, ob andere der seit neuestem etablierten medizinischen Handlungsoptionen, wie z. B. Embryo-Transfer, Organoid-Herstellung oder gentestbasierte Medikation etc., ›Fortschritte‹ im ethisch rechtfertigungsfähigen Sinne darstellen. Welche Kriterien hat man an der Hand, mit Hilfe derer sich konsensfähig feststellen lässt, was aus ethischer Sicht als ›Fortschritt‹ gilt und was nicht? Ein Fehlen derartiger Kriterien hätte zur Folge, dass die Einschätzung bestimmter Entwicklungen dem Zufall oder bestimmten Interessengruppen überlassen bliebe und dass darüber hinaus Fehlentwicklungen nicht frühzeitig genug erkannt oder positive Entwicklungen nicht hinreichend gefördert würden. Im Folgenden ist zunächst Klarheit darüber zu schaffen, was mit dem Begriff ›Fortschritt‹ gemeint wird; anschließend sind vor diesem Hintergrund die Kriterien vorzustellen, nach denen sich wissenschaftliche Entwicklungen auch unter ethischen Aspekten als ›Fortschritte‹ ausweisen lassen. Dies soll abschließend kurz an drei Beispielen illustriert werden.
mann, J. P. zur FS Konrad Hilpert dar. In: Sautermeister, J.: (Hg.): Verantwortung und Integrität heute. Freiburg/Basel/Wien 2013, 188–201.
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Statt eines Nachwortes: »Fortschritt«? – Eine kritische Nachfrage
2.
Zum Begriff ›Fortschritt‹
2.1 Deskriptive und normative Elemente dieses Terminus ›Fortschritt‹ meint ebenso wie ›Fortschreiten‹ zunächst rein deskriptiv die Bewegung von einem Ort oder einem Zustand zu einem anderen, ähnlich seinem lateinischen Äquivalent ›progressus‹ bzw. ›progressio‹ = wörtlich das ›Vorwärtsschreiten‹. 2 Zugleich konnotiert wie der lateinische Terminus auch der deutsche Ausdruck ›Fortschritt‹ eine Art von Entwicklung: Dabei geht es nicht schlicht um das Fortschreiten von einem zum anderen Ort oder Zustand; eine derartige Bewegung wird vielmehr als eine Art von Entfaltung betrachtet. Nicht mehr nur folgt auf den ehemaligen Zustand A ein neuer Zustand B, sondern B gilt als etwas, das sich A verdankt, sich aus ihm entwickelt hat. Wenn wir z. B. mit Cicero sagen, man könne »in seinen Studien Fortschritte machen«, 3 so meinen wir damit keineswegs nur, dass man beim Studium von einem zum nächsten Gegenstand weitergeht, sondern wir begreifen dies als eine Entwicklung. ›Fortschritt‹ ist mithin genau genommen kein Zustands-, sondern ein Prozessbegriff. Ein Prozess aber hat stets einen Ausgang, ein Woher, und ein Ziel, zumindest eine Richtung, ein Wohin. ›Fortschritt‹ als Beschreibung einer Entwicklung ist mithin nur begreifbar, wenn man weiß, was zuvor geschehen ist, und wenn man die Richtung angeben kann, in die die Entwicklung führt. ›Fortschritt‹ ist formal ein relationaler Prozessbegriff: Er verbindet ein Woher und ein Wohin in Form einer Entwicklung miteinander. Genau genommen ist der Begriff des Fortschritts gar in doppeltem Sinne relational: B kann in Bezug auf sein Woher, den vorhergegangenen Zustand A, ein faktischer Fortschritt sein; zugleich kann B aber auch in Bezug auf sein Wohin, das Ziel C, einen möglichen Fortschritt darstellen – ganz im Sinne der schon genannten Janusköpfigkeit dieses Begriffs. Soweit die deskriptive Verwendung des Fortschrittsbegriffs als eines relationalen Prozessbegriffs. Vgl. zum Stichwort ›Fortschritt‹ den gleichnamigen materialreichen Artikel von Ritter, J. in: ders. et al. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel/Stuttgart 1976, Bd. 2, Sp. 1132–1159, dem das Nachfolgende wichtige Hinweise und Anregungen verdankt. 3 Marcus Tullius Cicero: »progressus facere in studiis«. Zit. nach Georges, K. E.: Ausführliches Lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 7. Aufl., Leipzig 1890, Bd. II, Sp. 1763. 2
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Zum Begriff ›Fortschritt‹
Das zuletzt Gesagte bedarf freilich einer gewichtigen Erläuterung bzw. Ergänzung: Der Begriff der ›Entwicklung‹ kann Zweierlei bedeuten: zum einen, dass sich etwas gleichsam aus sich heraus entwickelt, wie eine Blume aus einem Samenkorn oder der Schmetterling aus einer Puppe; zum anderen, dass etwas (von jemandem) entwickelt wird, sei es eine Maschine oder eine wissenschaftliche Theorie. Im ersten Sinne von ›Fortschritt‹ sind Entwicklungszweck und -ziel naturhaft und menschenunabhängig, im zweiten Sinne hingegen theoretischer Natur und menschenabhängig. Wichtiger noch: Im ersten Sinne sind Fortschritte als Entwicklungen zweckentsprechend, im zweiten hingegen sind sie zweckbestimmt. Vor allem aber: Im ersten Sinne sind Fortschritte naturhaft gegeben und subjektunabhängig, im zweiten hingegen der Verantwortung aufgegeben und subjektabhängig: dem handelnden Menschen nämlich, der zwar gestalten kann, aber zugleich dafür Verantwortung übernehmen muss. Lange hat man beides nicht nur voneinander unterschieden, sondern beides auch voneinander getrennt. Seit der Mensch jedoch in seine eigene Natur einzugreifen begonnen hat, wird, was zuvor rein zweckentsprechend war, zunehmend zweckbestimmt. Es geht nicht nur um Einblicke in den »Bauplan« der Natur, sondern zunehmend um Eingriffe in denselben. Einblicks- geht mit Eingriffstiefe einher; das handelnde Subjekt macht sich selbst zum Bestandteil des behandelten Objekts, das Machbare bestimmt das Machen. 4 Doch: ›Fortschritt‹ für den Menschen durch ›Eingriff‹ in den Menschen? Insoweit steht der deskriptiven Verwendung des Fortschrittsbegriffs die gleichermaßen bedeutsame normative Verwendung dieses Terminus zur Seite. So kann ein Fortschreiten von A nach B mit dem Ziel C nicht nur im Sinne der Feststellung eines Prozesses oder einer natürlichen oder künstlichen Entwicklung gemeint sein, es kann auch qualitativ als Entwicklung zu etwas für den Menschen Besserem, aber auch zu etwas dem Menschen Abträglichen verstanden werden. Was Ersteres betrifft, so nennt z. B. Cicero die Befreiung von der Tyrannei einen Fortschritt.5 An anderer Stelle spricht er davon, dass man »in der Tugend voranschreiten könne« (»in virtute pro-
Vgl. die kritischen Ausführungen zum Umgang mit der Machbarkeit von Maio, G.: Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit. Stuttgart 2014. 5 Marcus Tullius Cicero, Tusculanae disputationes IV, 1; dt. Gespräche in Tuskulum, hrsg. u. übers. von Olof Gigon. Zürich 1985, 75. 4
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Statt eines Nachwortes: »Fortschritt«? – Eine kritische Nachfrage
greddi«). 6 Beide Male wird das Fortschreiten positiv bewertet: Es führt zum Besseren. Setzt man das Voranschreiten zum Besseren als eine Norm an, dann verbindet man den Fortschrittsbegriff mit einer normativen Geltung. ›Fortschritt‹ meint dann sowohl ein Weitergehen zum Besseren als auch darüber hinaus die Verpflichtung, ein solches Weitergehen anzustreben und voranzutreiben. Analog zur doppelten Relationalität der deskriptiven Verwendung des Fortschrittsbegriffs erweist sich mithin auch die normative Verwendung dieses Terminus als eine doppelte: erstens im Sinne qualitativer Verbesserung, zweitens im Sinne einer Verpflichtung, Derartiges stets anzustreben.
2.2 Entdeckungs- und Erkenntnisfortschritt Es ist dieses qualitativ-normative Verständnis von ›Fortschritt‹, welches die aufkommenden Naturwissenschaften der Neuzeit von Anfang an begleitet. Die menschliche Erkenntnis der Natur schreitet voran; man kann dies Entdeckungsfortschritt nennen. Zugleich geht die Technik ihren Weg; man kann dies als Erkenntnisfortschritt bezeichnen. Galt etwa der Antike und dem frühen Christentum noch der Kreislauf als Struktur von Fortschritt – der antike Kosmos bewegt sich kreisförmig, die christliche Auffassung von der Welt und dem Menschen in ihr versteht sich als Ausgang von Gott und als Rückkehr zu ihm –, so wird das Fortschrittsverständnis der Neuzeit linear: Fortschritt ist nicht Ausgang von – und Rückkehr zu – etwas Vollkommenem; Fortschritt gilt vielmehr als stetes Voranschreiten und dieses im Vergleich zum Früheren mit dem Anspruch bzw. zumindest der Annahme der Verbesserung. Das Woher des Fortschreitens spielt kaum noch eine Rolle, allenfalls eine negative: Man versteht den früheren Zustand als einen unentwickelten, den man überwunden hat. Das Spätere wird nicht so sehr als Fortsetzung des Früheren, sondern als dessen Verbesserung oder gar Ablösung betrachtet. Entscheidend ist das Wohin des Fortschritts. So tritt an die Stelle der antiken Vorstellung vom vollkommenen Kosmos und der im Mittelalter herrschenden Überzeugung von der Vervollkommnung des Menschen
6
Zit. nach Georges, K. E.: Handwörterbuch (Fn. 3), Bd. II, Sp. 1762.
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Zum Begriff ›Fortschritt‹
durch seinen Ausgang von – und seine Hinwendung zu – Gott 7 der Gedanke einer Selbstvervollkommnung des Menschen vor dem Hintergrund eines als offen verstandenen Universums. Das beginnt sich in der aufkommenden Neuzeit zu ändern. So spricht der Theoretiker des neuzeitlichen Fortschrittsgedankens, der Engländer Francis Bacon (1561–1626) ausdrücklich davon, »die Ehrfurcht vor dem Altertum und vor den Männern, die in der Philosophie großes Ansehen genossen« haben, habe »die Menschen beim Fortschritt in den Wissenschaften« gehemmt und verzaubert. 8 Bacon ist überzeugt, dass es die »Wohltaten der Erfinder« sind, die »dem ganzen menschlichen Geschlecht zugutekommen«. 9 Als wichtigste Beispiele nennt er bekanntlich die Erfindungen des Buchdrucks, des Schießpulvers und des Kompasses, welche »die Gestalt und das Antlitz der Dinge auf der Erde verändert« hätten. 10 Der Begriff des Fortschritts verliert seine Janusköpfigkeit. Diese neue Sicht des Fortschritts hat naturgemäß auch methodologische Konsequenzen. Neben Bacons Hauptwerk »Über die Würde und den Fortschritt der Wissenschaften« (›De dignitate et augmentis scientiarum‹, 1620) lautet der Titel seiner zweiten wichtigen Schrift »Novum Organon«; dies mit dem bezeichnenden Zusatz »sive indicia vera de interpretatione naturae«. An die Stelle der ehrfürchtigen Bewunderung der Welt als göttliches Werk treten naturwissenschaftliche Neugier und empirische Forschung, welche die Natur grundsätzlich als einen Bereich der Deutungs- und a fortiori der Eingriffsmöglichkeiten des Menschen betrachtet. So heißt es in Bacons Einleitung zu ›New Atlantis‹ : »Most things are within man’s power to affect« – »die meisten Dinge liegen im Bereich der Einflussmöglichkeit des Menschen«. 11 Der Mensch ist nicht mehr Diener der Natur als göttlicher Schöpfung; er versteht sich vielmehr als selbstVgl. »Fortschreiten zu Gott«. Augustinus, De civitate. Dei XVIII, 11; Migne, Patrologia Latina. Turnhout 1841 (ND 1923), Bd. 41, 544. 8 Francis Bacon, Novum Organum, I, 84. Lat.-dt. hg. von W. Krohn. Hamburg 1990, 179/180. Bacon scheint zu übersehen, dass sich »die Alten« sehr wohl der Gefahr der Autoritätsgläubigkeit bewusst waren. Motto: »Plato amicus, sed magis amica veritas.« Vgl. Platon, Politeia 595c; Aristoteles, Nikomachische Ethik 1096 A 14 f. Vgl. dazu Beckmann, J. P.: Sorge um Sokrates oder um die Wahrheit?, in: Stoecker, R. (Hg.): Philosophie à la carte: Paderborn 2003, 165/6. 9 Novum Organum (Fn. 8) I, 129; hg. v. W. Krohn, 269. 10 Novum Organum (Fn. 8) I, 129; hg. v. W. Krohn 271. 11 Bacon, F., ›New Atlantis‹, in: ders., Works, ed. H. Spedding et al., London 1859 (ND Stuttgart 1963), 131. 7
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Statt eines Nachwortes: »Fortschritt«? – Eine kritische Nachfrage
ernannter Herrscher über die Natur und als ihr Meister. Folgerichtig geht es nicht in erster Linie um die Bewahrung der Natur, sondern um ihre Instrumentalisierung zu von Menschen gesetzten Zwecken. In Bezug auf unser Thema bedeutet dies: Fortschritt besteht nunmehr darin, die durch Wissenschaft und Technik zurechtgestutzte Natur menschlicher Zwecksetzung zu unterwerfen. Wie aber ist Derartiges normativ als ›Fortschritt‹ zu erkennen?
3.
Wissenschaft oder Gesellschaft als »Orte« des Fortschritts?
Während seit dem 17. Jahrhundert die Entwicklungen der Naturwissenschaften und der Technik als »Orte« des Fortschritts gelten, kommt es im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einem damit konkurrierenden Konzept, nämlich zu einer Verlagerung des Fortschrittsgedankens aus der (Natur-)Wissenschaft und Technik auf die Menschheit als Ganze. Seit der Aufklärung herrscht die Hoffnung vor, dass das Fortschreiten, insbesondere in Staatsverfassung und Politik neben derjenigen in (Natur-)Wissenschaft und Technik zur Verbesserung der Situation des Menschen beiträgt (»Humanisierung durch Fortschritt«). Von Antoine de Condorcet (1743–1794) erscheint 1794 eine »Esquisse d’un tableau historique de progrès de l’esprit humain«, 12 wonach durch Analyse der Fortschritte der Vergangenheit zukünftige Fortschrittsmöglichkeiten extrapoliert werden. Im 19. Jahrhundert dagegen tritt der Menschheitsbezug zurück; nunmehr ist es die Gesellschaft, und zwar die westliche europäische Gesellschaft, die sich als Fortschrittsmotor begreift, im Unterschied etwa zu fernöstlichen und afrikanischen Staaten. Dem damit verknüpften bzw. behaupteten »kulturellen« Fortschritt steht seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts der naturwissenschaftlich-technische gegenüber. Die Naturwissenschaften, insbesondere die Biologie, und die Technik gelten nunmehr als »Orte« des ›Fortschritts‹. 13 Doch schon Rousseau hatte darauf hingewiesen, dass die Entwicklungen in Wissenschaft und Technik nicht notwendig mit Fortschritten im Dt.: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Frankfurt 1978. 13 Für ausführliche Belege hierzu siehe den Beitrag ›Fortschritt‹, in: Historisches Wörterbuch (Fn. 2), Sp. 1041 u. 1046. 12
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Wissenschaft oder Gesellschaft als »Orte« des Fortschritts?
Hinblick auf die moralische Situation des Menschen verbunden sind; er befürchtete vielmehr, dass »in dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste zur Vollkommenheit fortschritten, unsere Seelen verderbt worden sind«. 14 Damit stehen zwei Positionen einander unversöhnlich gegenüber: Die eine behauptet, die Fortschritte der Wissenschaften und der Technik stünden in einem reziproken Verhältnis zur Verarmung der moralischen Natur des Menschen, während die andere dafürhält, dass sich mithilfe der Fortschritte in Wissenschaft und Technik auch die moralische Natur des Menschen verbessere. Es ist Kant (in seiner Rezension von Herders »Ideen«), der diesbezüglich für Klarheit sorgt: »Die Bestimmung des menschlichen Geschlechts im ganzen ist unaufhörliches Fortschreiten, und die Vollendung derselben ist eine bloße, aber in aller Absicht sehr nützliche Idee von dem Ziele, worauf wir der Absicht der Vorsehung gemäß unsere Bestrebungen zu richten haben«. Kant nennt die »Tendenz zum continuierenden Fortschritt des Menschengeschlechtes zum Besseren« eine »moralisch-praktische Vernunftidee« und die Überlegung, dass »die Welt im Ganzem immer zum Besseren fortschreite«, zwar nicht für theoretisch nachweisbar, wohl aber für eine vernünftige Annahme der praktischen Vernunft. 15 Er spricht an anderer Stelle von einem »Fortrücken in Ansehung der Kultur« und einem »Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks« menschlichen Daseins. 16 Fortschritt ist für den Königsberger nur durch das selbstbestimmte, sich als Subjekt seines Tuns und Lassens verstehende freie autonome Individuum möglich. Konkret: Fortschritt ist nur dann möglich, wenn der Mensch in seiner Autonomie sich über seine Animalität und »über die Schranke des Instinkts« hinwegsetzt. Fortschritt wird nicht gleichsam automatisch durch Entwicklungen in Wissenschaft und Technik erreicht. Er entsteht vielmehr erst dann, wenn der Mensch etwas entdeckt oder erfindet, das ihn nicht seiner Freiheit und Selbst-
Discours sur les sciences et les arts (1750). Œuvres complètes. Vol. III. Paris 1964. Dt. Übersetzung in: Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750). Hamburg. 5. Aufl. 1995. 15 Kant, I.: Gesammelte Schriften aus dem Nachlass. Berlin/Leipzig 1934. AA Bd. 19, 611. 16 Kant, I.: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders.: Gesammelte Schriften (Fn. 15), Berlin/Leipzig 1923, Bd. 8, 277. 14
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Statt eines Nachwortes: »Fortschritt«? – Eine kritische Nachfrage
bestimmung beraubt, sondern ihm weiterhin aufgrund seiner Autonomie freies und selbstbestimmtes Handeln ermöglicht. Kant hat damit eine Annahme korrigiert, die noch heute häufig anzutreffen ist: dass nämlich die – vor allem von den Naturwissenschaften etablierten – neuen Erkenntnisse eo ipso zu einer Verbesserung der conditio humana führen. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Mensch als autonomes Wesen im Mittelpunkt steht und seine Freiheit, dies zu manifestieren, erhalten bleibt. Halten wir fest: Der Terminus ›Fortschritt‹ stellt einen relationalen Prozessbegriff dar, der Entwicklungen bezeichnet, die zwecksetzende und danach handelnde Subjekte betreffen, die ihrerseits sich selbst und der Gesellschaft gegenüber für ihr Tun darüber rechenschaftspflichtig sind, ob die von ihnen herbeigeführte oder herbeizuführende Veränderung nach Maßgabe vom Menschen und für den Menschen gesetzten Zwecken Moralität beanspruchen kann. Damit steht die Frage an: Aufgrund welcher Kriterien lässt sich begründet und legitim von ›Fortschritt‹ sprechen?
4.
Kriterien der Identifikation von Fortschritten
Hinsichtlich der, wie dargelegt, deskriptiven Funktion des Fortschrittsbegriffs bieten sich vorrangig vier Bereiche an: 1. Erkenntnis- und Wissenschaftsgewinn (»wissenschaftlicher Fortschritt«); 2. Nutzenmehrung und bessere Bedürfnisbefriedigung (»sozialer Fortschritt«); 3. Verfügungs- und Handlungserweiterung (»pragmatischer Fortschritt«); 4. Freiheitserweiterung und Selbstbestimmungsstärkung (»moralischer Fortschritt«). Wenn, wie ebenfalls dargelegt, der Fortschrittsbegriff zugleich eine normative Funktion besitzt, insofern mit seiner Hilfe ein Weitergehen zum Besseren und damit zugleich eine entsprechende Verpflichtung, ein solches Weitergehen anzustreben und voranzutreiben, gemeint ist, dann können die normativen Kriterien nur solche sein, die nicht auf Attributen von Entwicklungen, sondern auf Wertentscheidungen der in den betr. Bereichen Handelnden beruhen. Es sind dies die folgenden Werte: (1) Wohl der Menschheit: Als ›Fortschritt‹ sind diejenigen Entwicklungen in Wissenschaft, Technik, Kultur, Politik und Gesellschaft zu bezeichnen, die für das Weiterleben der Species homo sapiens sapiens unerlässlich sind. Normatives Fundament ist der 390 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Kriterien der Identifikation von Fortschritten
Respekt vor der Würde und dem Leben des Menschen (»Menschheitsfortschritt«). (2) Verbesserung sozialen Zusammenlebens: Als ›Fortschritt‹ gelten sodann diejenigen Entwicklungen, die den Völkern und Gesellschaften einen gleichen und gerechten Zugang zu den Ressourcen sichern, ohne die das Wohlergehen weder des Einzelnen noch der Gemeinschaft als Ganzer möglich wäre. Normative Grundlage ist die Pflicht zur Gerechtigkeit (»Gesellschaftsfortschritt«). (3) Freiheitssicherung und -erweiterung: Als ›Fortschritt‹ sind schließlich diejenigen Entwicklungen anzusehen, die dem Individuum den Erhalt und die Erweiterung seiner persönlichen Möglichkeiten der Selbstbestimmung sichern, ohne dass es zu einer Beeinträchtigung der entsprechenden Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts der Mitmenschen kommt. Normative Basis ist der Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht jedes Individuums (»Individualfortschritt«). Alle drei Normen beruhen auf derselben Struktur: (a) auf einem Subjekt, das Träger des Fortschritts ist; (b) auf Freiheit als Bedingung von Fortschritt; und (c) auf einer Zwecksetzung hinsichtlich der Erhaltung und möglichen Verbesserung der conditio humana. Der Mensch vermag bestimmte Entwicklungen nur dann als Fortschritte zu erfahren, wenn er sich dazu in ein Verhältnis setzen kann; dies setzt Freiheit voraus. Zwar wird man die Befreiung des Menschen von todbringenden Krankheiten wie Pest, Cholera oder heutzutage möglicherweise von Krebs ohne Zweifel auch so schon als ›Fortschritt‹ bezeichnen können, desgleichen die Befreiung von Unwissenheit und fehlender Bildung; Fortschritt soll jedoch nicht nur von gegenwärtigen Gefahren befreien, er soll darüber hinaus auch in Zukunft Freiheit ermöglichen und sichern: die Freiheit des autonomen Individuums, sich selbst zu bestimmen. Dies gilt ebenfalls von der Entscheidung über die Zwecksetzung neuer Handlungsoptionen. So eindeutig und zweifelsfrei die drei genannten Normen sind, so schwierig ist der Umgang mit der Konkurrenz unter den vier eingangs genannten Anwendungsbereichen. So ist wissenschaftlicher Fortschritt nicht notwendig mit Nutzenmehrung und Bedürfnisbefriedigung verbunden und beide nicht notwendig mit Verfügungsund Handlungserweiterung noch mit Freiheitssicherung und Selbstbestimmungsstärkung. Den Wissenschaften geht es bekanntlich um Erkenntnisgewinn; dabei ist nicht immer abzusehen, ob derselbe der 391 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Statt eines Nachwortes: »Fortschritt«? – Eine kritische Nachfrage
Erhaltung und Verbesserung der conditio humana dient. Auch ist dieses Merkmal insofern komplex, als es auf den einzelnen Menschen oder auf alle derzeit lebenden Menschen, aber auch auf die gesamte Menschheit bezogen werden kann. Manches stellt einen Fortschritt für den Einzelnen dar, ohne es doch für die Mitmenschen zu sein, und mancher Fortschritt für die heute Lebenden ist von fragwürdiger Natur für künftige Generationen bzw. die Menschheit insgesamt. Handhabbar ist dieses Merkmal nur als Ausschlusskriterium: Offenbar bedarf es einer zusätzlichen Norm. Nennen wir sie die Norm des anthrôpinon agathón, des von sich aus für alle Menschen Guten, das als Maß und Maßstab gelten soll. Fortschritt in diesem Sinne ist demnach nicht ohne die Vergegenwärtigung des Bildes vom Menschen normativ beurteilbar. So ist z. B. angesichts bestimmter Entwicklungen in der Reproduktionsmedizin zu fragen, wie das Bild des Menschen aussieht, wenn man, wie oben in Kap. III diskutiert, die PID zulässt und wie, wenn man sie verbietet? Und: Erkennen wir uns eher wieder, wenn wir den extrakorporalen menschlichen Embryo als Mitmenschen betrachten oder eher, wenn wir ihn als einen unter Zusatzvoraussetzungen möglicherweise zum Menschen Werdenden ansehen? Hier wird ein längst bekannter Zusammenhang deutlich: dass nämlich alle Erkenntnis immer auch Selbsterkenntnis impliziert. Entwicklungen wissenschaftlicher, technischer, ökonomischer, kultureller oder politischer Natur, in denen der Mensch sich nicht wiederzuerkennen vermag, können nach Maßgabe des anthrôpinon-agathón-Kriteriums nicht als ›Fortschritte‹ gelten. Drei Beispiele mögen dies illustrieren.
5.
Ein kurzer Blick auf drei Beispiele
Die drei Beispiele entstammen verschiedenen Bereichen der modernen Medizin: 1. der Transplantationsmedizin, 2. der Genetik und 3. der Prozessierung menschlicher Zellen und Gewebe. 17 zu 1: Ziel des seit gut einem Vierteljahrhundert bestens etablierten medizinischen Verfahrens der Übertragung von Organen Verstorbener sind Lebensrettung und -erhaltung von Patienten mit drohendem irreversiblen Organversagen. Nach Maßgabe der im VorNäheres vgl. Beckmann, J. P.: Ethische Herausforderungen der modernen Medizin. Freiburg 2010, 139 ff. und 231 ff.
17
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Ein kurzer Blick auf drei Beispiele
stehenden dargelegten Kriterien stellt dies insofern zweifellos einen Fortschritt dar, als es (a) mit der Rettung und Erhaltung menschlichen Lebens um ein hohes Rechtsgut geht, sofern zugleich Autonomie und Selbstbestimmungsrecht des Spenders wie des Empfängers volle Berücksichtigung finden und damit die, wie dargelegt, mit Fortschritt untrennbar verbundene Bedingung menschlicher Freiheit erfüllt ist. Dagegen wäre der Fortschrittscharakter der Transplantation nach Totenspende dahin, wenn es an der Freiwilligkeit des Spenders fehlte und/oder wenn dieses medizinische Verfahren der Lebensrettung von nicht-medizinischen Umständen – etwa einem Marktgeschehen und damit der Zahlungsfähigkeit des Patienten – abhängig gemacht würde. zu 2: Im Unterschied zur Transplantationsmedizin ist das zweite Beispiel für einen Fortschrittskandidaten noch in seinen Anfängen begriffen: die Medikation von Patienten aufgrund vorausgegangener genetischer Analyse. Dabei geht es um die Identifikation der Mechanismen der Metabolisierung chemischer Wirkstoffe mithilfe von Pharmakogenomik und Pharmakogenetik. Ziel ist es, unter Nutzung genetischen Wissens die Wirkung von Medikamenten auf den individuellen Patienten zielgenauer und nebenwirkungsärmer zu gestalten. Die genetischen Voraussetzungen der Einsicht in derartige Zusammenhänge werden zunehmend etabliert und es wird allgemein davon ausgegangen, dass in dem Maße, in welchem krankheitsrelevante Funktionen einzelner Gene und Gensequenzen bekannt werden, auch die genetischen Voraussetzungen der Verstoffwechslung von Medikamenten systematisch in den Blick genommen werden. Die Zwecksetzung dieses Verfahrens, scil. die Vermeidung von Sicherheitslücken in der Medikation des individuellen Patienten mit den beiden Zielen (a) der Minimierung unerwarteter und vor allem unerwünschter Nebenwirkungen und (b) der effizienteren Anwendung von Arzneimitteln im Sinne einer möglichst exakten Herbeiführung der gewünschten Wirkung, stellt aus der Sicht des Patientenwohls zweifellos einen Fortschritt dar. Zugleich dürfte die zunehmende Anwendung genetischer Diagnostik und darauf abgestimmter Therapiemittel aller Wahrscheinlichkeit nach das herkömmliche Paradigma der Medizin, das wirkstoffmäßig bisher im Wesentlichen von einer generalisierten Behandlung von Patienten ausgeht, zu einem solchen verändern, das strikt an genetisch bedingten und damit an hochgradig individuellen Prozessen orientiert ist. Die Individualisierung wird sich sowohl auf die Vorhersage möglicher, genetisch bedingter Krank393 https://doi.org/10.5771/9783495823903 .
Statt eines Nachwortes: »Fortschritt«? – Eine kritische Nachfrage
heiten durch eine entsprechende Kategorisierung des Individuums beziehen als auch auf Diagnose und Therapie mit Hilfe der Medikation nach Maßgabe charakterisierter Genotypen. Was dabei den Fortschrittscharakter gefährden könnte, sind die dazu erforderlichen Mittel: die Sammlung von individuellem DNA-Material, die Kategorisierung von Genotypen und damit die Stratifizierung von Patientengruppen sowie mögliche Änderungen in der Arzneimittelherstellung durch Konzentration auf die Entwicklung von Pharmaka überwiegend für große Patientenkollektive. zu 3: In steigendem Maße, aber von der breiten Öffentlichkeit bisher nicht bzw. nicht in angemessener Weise wahrgenommen, werden Zellen und Gewebe des menschlichen Körpers zu Forschungsund Heilmitteln: in der toxikologischen Pharma-Forschung etwa, vor allem aber in der Therapie vermittels »tissue engineering« und generell in der regenerativen Medizin im heterologen System. Die dabei unvermeidlich weitergegebene DNA erlaubt angesichts der Fortschritte humangenetischer Forschung und Diagnostik zunehmend Einblicke in genetisch bedingte Krankheitsdispositionen des individuellen Zell- und Gewebespenders. Zugleich kommt es infolge der Bearbeitung (»Prozessierung«) der betr. Zellen und Gewebe zu einer anschließenden Vermarktung derselben. Ethisch wirft dies die Frage auf, ob der menschliche Körper bzw. Teile desselben »Warencharakter« besitzen kann und darf, mithin einen Preis erhält, während er im bisherigen Verständnis einen Wert besitzt: nämlich Bedingung der Möglichkeit individueller menschlicher Existenz zu sein. Eine Kommerzialisierung menschlicher Zellen und Gewebe erscheint mit dem Selbstverständnis des Menschen als eines Wesens, das nicht nur einen Körper hat, sondern mehr noch ein Leib ist (H. Plessner), kaum vereinbar. Jedenfalls bedarf es dringend einer öffentlichen Auseinandersetzung mit dieser Problematik, bevor es zu einer Kommerzialisierung menschlicher Körperzellen und -gewebe kommt. Nur so ist das genannte Selbstverständnis des Individuums und sein Verhältnis zu »seinem« Körper vor einer De-Subjektivierung und Verdinglichung zu bewahren. Abgesehen von der Kommerzialisierungsproblematik hängt der Fortschrittscharakter der medizinischen Nutzung menschlicher Körperteile zweifellos zuvorderst von der Sicherung der Freiwilligkeit der Zell- und Gewebespende bei gleichzeitiger Respektierung des konsequenten Schutzes individueller DNA ab.
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Fazit
6.
Fazit
›Fortschritt‹ kann nach Maßgabe des Dargelegten nur diejenige Entwicklung heißen, die dem Wohl jedes Menschen dienen kann, ungeachtet seiner sozialen Position, seiner Fähigkeiten und seiner Zahlungsfähigkeit, wobei unter »jeder Mensch« nicht nur die gegenwärtig Lebenden, sondern auch künftige Generationen einbegriffen sind. Sodann muss Fortschritt, so Konrad Hilpert, ein Menschenmaß besitzen. Denn: »Fortschritt, der auf die Maße des Menschen keine Rücksicht nimmt«, löst mit Recht Ängste aus. 18 Nicht der Mensch muss sich nach dem Fortschritt, sondern dieser nach jenem richten. Dabei darf das Herstellen nicht das Vorstellen in den Hintergrund abdrängen und das Gebrauchen muss Vorrang vor dem Verbrauchen haben. Entwicklungen, die als ›Fortschritte‹ gelten sollen, dürfen nicht nur zweckentsprechend, sie müssen auch zweckbestimmt sein: ausweislich nämlich der Kriterien der Beachtung des Wohls des Menschen, der Sicherung der Freiheit des Einzelnen und der Verbesserung der conditio humana. Zwar ist, wie Joachim Ritter es formuliert hat, »Fortschrittsgeschichte … Geschichte der Befreiung des Menschen aus dem Naturzustand zum Herrn über die Natur« 19; doch zugleich impliziert alles menschliche Fortschreiten auch Grenzziehung. Technisch-wissenschaftliche Entwicklungen führen nicht zwangsläufig zur Verbesserung der Situation des Menschen, sie bedürfen der ständigen ethischen Reflexion – und im Übrigen auch der rechtlichen Überprüfung 20 – auf ihre den Menschen betreffenden Implikationen und Folgen hin. Will man folgenreiche Selbsttäuschungen vermeiden, muss Akteur einer solchen Prüfung nicht nur der Einzelne, sondern auch die Gesellschaft als Ganze sein. Menschheitsfortschritt, Gesellschaftsfortschritt und Individualfortschritt bedingen insoweit einander notwendig. Dabei gilt freilich Kants Feststellung, dass wir es »mit frei handelnden Wesen zu tun /haben/, denen sich zwar vor-
Hilpert, K.: Erkenntnisfortschritte und Machbarkeitszuwächse. Der gesellschaftliche Streit über die Grenzen des Forschens und Handelns in der Biotechnologie, in: Windstärke 11, H. 10 (2001), 6–10, hier 10. 19 Joachim Ritter, in: Historisches Wörterbuch (Fn. 2), Sp. 1040. 20 Vgl. Taupitz, J.: Wissenschaftlicher Fortschritt trotz Gesetzgebung, in: GethmannSiefert, A. et al. (Hg.): Wissen und Verantwortung (FS J. P. Beckmann). Bd. 2: Studien zur medizinischen Ethik. Freiburg 2005, 20–37, hier 37. 18
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Statt eines Nachwortes: »Fortschritt«? – Eine kritische Nachfrage
her diktieren lässt, was sie tun sollen, aber nicht vorhersagen lässt, was sie tun werden«. 21 Entscheidend dürfte sein, dass gegenüber dem deskriptiv-faktischen der präskriptiv-normative Fortschritt stets die Oberhand behält. Nur so kann gesichert werden, was in ethischer Hinsicht unabdinglich ist: des Menschen Verfasstheit durch Würde und Autonomie samt beider Manifestation durch die Freiheit der Selbstbestimmung auch für die Zukunft zu sichern.
Kant, I.: Der Streit der Fakultäten, II. Abschn., Nr. 4, A 139, in: Kant, I.: Gesammelte Schriften, AA, Berlin 1914, VII.
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Schlussgedanke
Entgegen ihrer ambivalenten öffentlichen Rezeption ist die Philosophie weder das Residuum der Seher und Besserwisser noch dasjenige der Relativisten, die lediglich kontroverse Meinungen anbieten. Die Aufgabe der Philosophie ist vielmehr eine solche, der sich jedermann tagtäglich stellen muss: sich mit Hilfe der Vernunft über sich selbst aufzuklären und zu prüfen, mit welchen Argumenten menschliches Dasein – nicht nur das eigene, sondern menschliches Dasein schlechthin – unter Verallgemeinerbarkeitsbedingungen vor Schaden bewahrt und nach Kräften verbessert werden kann. Und weil Philosophie Selbstprüfung der Vernunft mit den ihr eigenen Mitteln und in den ihr eigenen Grenzen ist, kann man mit I. Kant sagen, Autonomie sei das Fundament der Philosophie, ja »alle Philosophie … ist Autonomie«! 1
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I. Kant, Opus postumum. AA XXI, 106.
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