Aktuelle Herausforderungen des kirchlichen Weiheamts 3791732021, 9783791732022


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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
AKTUELLE HERAUSFORDERUNGEN
Die Kirche und der Skandal des sexuellen Missbrauchs. Kommentar zu den Notizen von Papst emeritus Benedikt XVI.
Zugänge zu Priesterberufungen. Am Beispiel der Zisterzienserabtei Heiligenkreuz
Zur Lage der Kirche in Deutschland. Über fünf Wunden
DAS KIRCHLICHE WEIHEAMT
Begrüßung und Einleitung in das Symposium
Das sakramentale Amt in der Kirche
Was ist das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen und worin unterscheidet es sich vom Weihepriestertum?
Wozu braucht es in der Kirche das geweihte Amt?
Tropoi kyriou – die Lebensweise des Herrn
Voraussetzungen für den Empfang des Weihesakraments
Abschluss mit Tagungsbotschaft
PREDIGTEN
Vinzenz von Paul – Nur die Liebe schenkt wahres Glück Homilie in der Eucharistiefeier am 27. September 2019
In der Schule des Gekreuzigten und Auferstandenen Homilie in der Eucharistiefeier am 28. September 2019
Berufen, Vikar Jesu Christi zu sein Homilie in der Eucharistiefeier am 29. September 2019
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
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Aktuelle Herausforderungen des kirchlichen Weiheamts
 3791732021, 9783791732022

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Aktuelle Herausforderungen des kirchlichen Weiheamts

Ratzinger-Studien Band 19

Herausgegeben im Auftrag des Institut Papst Benedikt XVI. Regensburg

Christoph Ohly / Sven Leo Conrad / Rainer Hangler (Hg.)

Aktuelle Herausforderungen des kirchlichen Weiheamts

Verlag Friedrich Pustet Regensburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg Tel. 0941/920220 | [email protected] ISBN 978-3-7917-3202-2 Reihen-/Einbandgestaltung: Martin Veicht, Regensburg Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany 2020 eISBN 978-3-7917-7313-1 (pdf)

Unser gesamtes Programm finden Sie im Webshop unter www.verlag-pustet.de

Inhaltsverzeichnis

Christoph Ohly, Sven Leo Conrad, Rainer Hangler Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aktuelle Herausforderungen D. Vincent Twomey SVD Die Kirche und der Skandal des sexuellen Missbrauchs. Kommentar zu den Notizen von Papst emeritus Benedikt XVI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Abt Maximilian Heim Zugänge zu Priesterberufungen. Am Beispiel der Zisterzienserabtei Heiligenkreuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Karl-Heinz Menke Zur Lage der Kirche in Deutschland. Über fünf Wunden

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Das kirchliche Weiheamt Kurt Kardinal Koch Begrüßung und Einleitung in das Symposium Karl-Heinz Menke Das sakramentale Amt in der Kirche

María Esther Gómez de Pedro Was ist das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen und worin unterscheidet es sich vom Weihepriestertum? . . . . . . . . 109 Christoph Ohly Wozu braucht es in der Kirche das geweihte Amt?

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Inhaltsverzeichnis

Marianne Schlosser Tropoi kyriou – die Lebensweise des Herrn

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Gerhard Kardinal Müller Voraussetzungen für den Empfang des Weihesakraments Kurt Kardinal Koch Abschluss mit Tagungsbotschaft

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Predigten Christoph Ohly Vinzenz von Paul – Nur die Liebe schenkt wahres Glück Homilie in der Eucharistiefeier am 27. September 2019 . . . . . . 171 Erzbischof Georg Gänswein In der Schule des Gekreuzigten und Auferstandenen Homilie in der Eucharistiefeier am 28. September 2019

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Kurt Kardinal Koch Berufen, Vikar Jesu Christi zu sein Homilie in der Eucharistiefeier am 29. September 2019

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Vorwort

Das sakramentale Weiheamt ist im gegenwärtigen Moment der Kirche in Bedrängnis geraten. Der insbesondere in den europäischen Ländern spürbar werdende Priestermangel, die seit Jahren andauernde Missbrauchskrise und innerkirchliche Debatten über Wesen und Zulassungsbedingungen zum Sakrament des Ordo sind einige der zentralen Gründe für die derzeitige Situation. Zugleich wird im Licht der kirchlichen Lehre erkennbar, dass das Weiheamt ein Geschenk des Herrn an seine Kirche darstellt. Es ist nicht das Ergebnis eines kirchlichen Ordnungsbedürfnisses. Als apostolisches Amt ist es vielmehr von Jesus Christus selbst seiner Kirche übereignet und in sie mit dem Ziel eingestiftet worden, das Heilswerk der Erlösung durch die Verkündigung des Wortes Gottes, die Feier der Sakramente und die bevollmächtigte Leitung in und durch das Handeln des Amtsträgers zu vergegenwärtigen und fortzusetzen. Die Kirche des Herrn ist demzufolge ohne das apostolische Amt nicht denkbar. Vor diesem Hintergrund haben sich der Schülerkreis und der Neue Schülerkreis Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. bei ihrer jährlichen Tagung in Rom mit den theologischen Grund­lagen und den gravierenden Anfragen an das kirchliche Weiheamt ­beschäftigt. Dabei wurden unter anderem Fragen nach dem gemeinsamen Priestertum und seiner Unterscheidung vom Weihepriestertum sowie nach dem Spezifischen des sakramentalen Amtes in der katholischen Kirche ebenso erörtert wie die Diskussionen um den Wert des Zölibats und die Voraussetzungen zur Weihezulassung. Erstmals in der Geschichte der Jahrestreffen stand nach einem Tag der gemeinsamen Reflexion und der Begegnung der beiden Schülerkreise ein öffentliches Symposium unter dem Titel Aktuelle Herausforderungen des kirchlichen Weiheamtes auf dem Programm. Die große Zahl der internationalen Gäste, die in der Aula des ­Institutum Patristicum Augustinianum den Vorträgen und Statements

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Vorwort

folgten und die Begegnungen zur Aussprache nutzten, haben deutlich gemacht, wie aktuell das Thema, wie förderlich dafür aber auch die Überlegungen von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. zur Theologie des kirchlichen Amtes und insbesondere des Weihepriestertums sind. Allen, die an der Verwirklichung dieses ersten öffentlichen Symposiums mitgewirkt haben, sagen wir an dieser Stelle unseren herzlichen Dank, allen voran Kurt Kardinal Koch, der im Auftrag des emeritierten Papstes Benedikt XVI. die beiden Schülerkreise als Protektor umsichtig und ­väterlich begleitet. Mit diesem Band werden nun die Vorträge, Statements und Predigten, die in den Eucharistiefeiern der römischen Tage gehalten wurden, einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Die ersten drei abgedruckten Vorträge stammen aus dem Reflexionstag der Schülerkreise. Sie wurden als inhaltliche Vorbereitung auf das Symposium bewusst mit in diesen Band aufgenommen. Im Anschluss daran folgen die Beiträge des Symposiums mit der zusammen­ fassenden Botschaft der Tagung. Ihnen nachgestellt finden sich die Predigten der gemeinsamen Messfeiern. Wir bringen unsere Zuversicht und Hoffnung zum Ausdruck, dass die hier zur Verfügung gestellten Texte für alle Leserinnen und Leser eine hilfreiche Orientierung im gemeinsamen Nachdenken um das Wesen und die Sendung des kirchlichen Weiheamtes bieten. Für die Aufnahme in die vom Regensburger Institut Papst Benedikt XVI. herausgegebene Reihe der Ratzinger-Studien danken wir sehr herzlich Bischof Dr. Rudolf Voderholzer und Herrn Dr. Christian Schaller. Herrn Dr. Rudolf Zwank vom Verlag Friedrich Pustet sei Dank gesagt für die umsichtige Begleitung dieses Publikationsprojekts.

Rom, am 2. Februar 2020 Christoph Ohly / Sven Leo Conrad / Rainer Hangler

Aktuelle Herausforderungen

Die Kirche und der Skandal des sexuellen Missbrauchs Kommentar zu den Notizen von Papst emeritus Benedikt XVI.1 D. Vincent Twomey SVD

Als ich einige Tage, bevor die Notizen veröffentlicht wurden, ­direkt von ihrem Verfasser eine Kopie erhielt, 2 habe ich sie mit ­einem Gefühl der Erleichterung gelesen. Hier, so fühlte ich, war endlich ein Text, der die Aufmerksamkeit auf die tiefgreifendsten Fragen im Zusammenhang mit der weltweiten Krise in der Kirche lenkte, die durch das weitverbreitete Phänomen des sexuellen Missbrauchs ausgelöst worden war, den Geistliche sogar an Kindern verübt hatten. Der Text war in drei Teile gegliedert: 1. Die sexuelle Revolution der sechziger Jahre und der parallel dazu stattfindende Zusammenbruch der Moraltheologie [1404 Worte], 2. die ersten Reaktionen der Kirche [1252 Worte] und 3. die Rückbesinnung auf den Primat Gottes in unserem Leben, so dass die Kirche vorangehen kann [2489 Worte]. Eingangs sollte vermerkt werden, dass der dritte Teil über den Primat Gottes fast genauso lang ist, wie die anderen beiden Teile zusammen. Kein Wunder, dass Papst Benedikt protestierte, seine Kritiker hätten seine 1 Der Vortrag geht auf einen englischsprachigen Beitrag zurück. Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Reimüller. 2 Er hatte sie seiner Antwort auf meine Namenstagsgrüße und einen Brief, in dem ich ihn über meine derzeitige Lage informierte, beigelegt. Der Text ist veröffentlicht unter Papst Benedikt XVI. em., Ja, es gibt Sünde in der Kirche. Zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. Mit einer Einleitung von Albert Christian Sellner, Kißlegg 2 2019, 17–48. Die Zitate im Vortrag sind diesem Text entnommen.

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wichtigste Botschaft übersehen. Als ich die Notizen das erste Mal las, konnte ich jeder Seite voll zustimmen. Ich habe auch eine massive negative Reaktion auf ihre Veröffentlichung erwartet – und wurde nicht enttäuscht. Als ich den Text in Vorbereitung für diesen Vortrag genauer untersuchte, wurde ich ein wenig kritischer.

I. Zunächst scheint mir, dass sich Papst Benedikt durch die im Wesentlichen fragmentarische Natur seiner „Notizen“, wie er sie nannte, der Gefahr von Missverständnissen ausgesetzt hat. Solche „Punkte“ konnten nicht einmal ansatzweise der Komplexität der Fragen gerecht werden. 3 Durch den anekdotenhaften Charakter seiner Beschreibung der Sexualität in den sechziger Jahren war er ein Risiko eingegangen, was darin resultierte, dass zwei Autoren ihn beschuldigten, „Falschinformationen“ zu verbreiten,4 und behaupteten, „dass Benedikts Schreiben wesentliche Kriterien populistischer Propaganda erfüllt“. 5 Sein Hinweis auf zwei bekannte deutsche Moraltheologen setzte ihn dem (unfairen) Vorwurf falscher Anschuldigungen durch Christof Breitsameter und Stephan Goertz, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Moraltheologie, in ihrer emotional äußerst aufgeladenen Stellungnahme aus.6 Sie wiesen auch Benedikts Versuch zurück, vor allem die sechziger Jahre für die Skandale des sexu­ ellen Missbrauchs durch Geistliche verantwortlich zu machen, als

3 Vielleicht hat er sie als Grundlage für einen umfangreicheren Beitrag verfasst, den er schließlich nicht fertiggestellt hat. Mir wurde berichtet, dass seine berühmteste Publikation „Einführung in das Christentum“ ihre Ursprünge in Vorlesungen hatte, die er in Tübingen nicht auf der Grundlage eines vollständigen Textes, sondern kurzer Notizen gehalten hat. 4 Einige Einzelheiten seiner Illustration sind hinterfragt und von Lucia Scherzberg  und August H. Leugers-Scherzberg als „Fake News“ beschrieben worden; vgl. https://www.feinschwarz.net/benedikts-schreiben-zum-missbrauchsskandalein-populistisches-manifest. 5 Ebd. 6 „In ihrer Stellungnahme bezeichnen die Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Moraltheologie, Christof Breitsameter aus München und Stephan Goertz aus Mainz, Benedikts Text als ‚diffamierenden Vorwurf, der das Ansehen ehemaliger und ­jetziger Mitglieder verunglimpft‘.“ Vgl. https://www.katholisch.de/artikel/21364moraltheologen-kritisieren-benedikt-text-misslungener-beitrag.

Die Kirche und der Skandal des sexuellen Missbrauchs

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habe es so etwas vorher nicht gegeben.7 Der Psychiater Harald Dreßing, Leiter einer Forschungsgruppe, die sich mit dem sexu­ ellen Missbrauch in der deutschen Kirche befasst, wandte auf ähnliche Weise ein, solche Fälle seien auch für die vierziger und fünfziger Jahre dokumentiert.8 Papst Benedikt hat jedoch nie bestritten, dass es solchen Missbrauch vor den sechziger Jahren gegeben hat. Er hat es einfach ­vorausgesetzt. Er dürfte die strengen Strafen kennen, die der Kirchenrechtskodex von 1917 für solche Verbrechen vorsah und die es nicht ohne Grund gab.9 Was er zu Beginn erklärte, war, „daß in den 60er Jahren ein ungeheuerlicher Vorgang geschehen ist, wie es ihn in dieser Größenordnung in der Geschichte wohl kaum je gegeben hat.“ Niemand, der die sechziger Jahre erlebt hat, kann leugnen, dass die sexuelle Revolution eine epochale Wende darstellte.10 Kardinal Cordes zitiert in seiner umfassenden Widerlegung der Kritiker Benedikts Niklas Luhmanns Buch Liebe als Passion (Frankfurt 1982), in dem der Soziologe beobachtet, dass in der modernen Gesellschaft etwas Neues eingetreten sei, die „Freigabe der sexuellen Beziehungen“. Auch der überragende kanadische Philosoph Charles Taylor nannte in seiner Arbeit Ein säkulares Zeitalter (Frankfurt 2009) die Postmoderne das „Zeitalter der Authentizität“. Ihren Beginn setzt er für die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts an. Ihr Angelpunkt sei ein neues Verständnis der Sexualität: „Den Kern dieser Revolution bildet die Sexualität“.11 Papst Benedikt sagt: „Zu der Physiognomie der 68er Revolution gehörte, daß nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde“. Diese Aussage ist unbestritten und zeigt 7 Ebd.: „Es führt in die Irre zu unterstellen, in katholischen Milieus, die ganz unberührt von jeglicher sexuellen Emanzipation oder theologischen Erneuerung gewesen sind, sei Missbrauch nicht vorgekommen“. 8 https://www.katholisch.de/artikel/22183-missbrauchs-forscher-kritisiert-bene dikt-xvi-und-beichte. 9 Die strengen Strafen für Sünden unnatürlicher Unzucht gibt es seit den frühesten Bußbüchern, so z. B. das Paenitentiale quod dicitur Bigotianum (ca. 750 n. Chr.), das diese Strafen auf Theodor von Mopsuestia (350–424) zurückführt. Vgl. Ludwig Bieler, The Irish Penitentials, Dublin 1963, 220, auch 60, 66, 68, 70, 74, 100, 114, 128. 10 Siehe Karl Josef Rivinius SVD, „Retrospektive auf die 68er-Studentenbewegung“, in: Verbum SVD 59 (2018) 35–62; D. Vincent Twomey SVD, „May 1968“, in: ebd., 104–118. 11 „Ein Alarmruf“, in: Die Tagespost, 11. Juli 2019, 16.

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sich nicht zuletzt an den vielen Organisationen, die in den sieb­ ziger Jahren entstanden sind, um Pädophilie als annehmbare Option zu propagieren,12 was nicht selten mit der Unterstützung katholischer Priester geschah.13 Während der sexuellen Revolution standen viele der Organisationen, die Pädophilie verteidigten, in direkter Verbindung zu extrem linken/alternativen politischen Bewegungen, wie den Grünen in Deutschland.14 Und natürlich gab es Wissenschaftler, die versuchten, Pädophilie zu rechtfertigen, wie der emeritierte Professor für Soziologie an der Universität Bremen, Rüdiger Lautmann.15 Die Vorstellung, Katholiken – seien es Geistliche, seien es Laien – hätten isoliert von solchen Entwicklungen der Gesellschaft in einer Art Blase gelebt, ist mehr als naiv. Wie Chesterton einmal dem Sinn nach sagte: „Es gibt kaum einen Unterschied zwischen Kirche und Welt, doch dieser Unterschied macht den ganzen Unterschied aus“. Der Papa emeritus hat nicht einfach behauptet, dass „der Missbrauch vor allem von außen in die katholische Kirche hinein­ getragen worden sei“, wie Harald Dreßing ihm vorwarf.16 Was ­Benedikt hervorhob, war der damalige Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie, der die Kirche angesichts des massiven kulturellen Angriffs auf die traditionellen Sitten, der in den sechziger und siebziger Jahren erfolgte, wehrlos machte.17 Als 12 Die erste Organisation zur Förderung der Pädophilie als eines legitimen Ausdrucks der Sexualität mit dem Bemühen ihrer Entkriminalisierung wurde in den 1950er Jahren in Holland gegründet. Manche bestehen bis heute, z. B. in Deutschland (Krume 13 = K13-Online) und in den USA die „North American Man-Boy Love Association“ (gegründet 1978). 13 Der berüchtigte Kleriker Paul Richard Shanley war in dieser Einrichtung aktiv, ebenso ein anderer Priester und ein protestantischer Amtsträger. Katholische Kleriker waren auch Mitglieder der niederländischen Pädophilengruppe „Ver­ eniging Martin“ (1982 bis 2014). Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/P%C3%A4 dophilenbewegung. 14 In der Zeit ihrer Entstehung bekamen diese Gruppen im Rahmen der sexuellen Revolution Unterstützung aus dem links-alternativen politischen Spektrum und hatten auch Verbindungen zur homosexuellen Emanzipationsbewegung. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/P%C3%A4dophilenbewegung#cite_ref-21. 15 Er stellte in seiner Abhandlung „Die Lust am Kind. Portrait des Pädophilen“ (1994) pädosexuelle Kontakte als durchaus positiv dar. 16 https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/missbrauchs-forscher-kritisiert-benedikt-xvi-und-beichte. 17 „Man kann sagen, daß in den 20 Jahren von 1960–1980 die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen Sexualität vollkommen weggebrochen sind und eine Normlosigkeit entstanden ist, die man inzwischen abzufangen sich gemüht hat.“

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Folge davon drangen die Unwerte der sexuellen Revolution in die katholische Moraltheologie ein und gehören mittlerweile zum „Mainstream“ in der Moraltheologie.18 Den Kern dieser Theologie bildet das Abstreiten, dass Akte in sich selbst böse sein können, also kurz gesagt: das Abstreiten absoluter Normen. Dieses grundlegende moraltheologische Prinzip führte zusammen mit einem neuen Verständnis der Sexualität, das die Fruchtbarkeit des ehelichen Akts als akzidentiell und somit als frei verfügbar ansah, zur Entstehung einer neuen Sexualmoral, die im Widerspruch zur überlieferten katholischen Moral steht.19 Der „befreiende“ Effekt dieser neuen Moraltheologie wurde von Geistlichen und Seminaristen angenommen und führte unter anderem zu dem schweren Skandal des sexuellen Missbrauchs sowohl von Minderjährigen als auch von Erwachsenen durch Geistliche, in einem Ausmaß, das man seit den Tagen des heiligen Petrus Damiani im elften Jahrhundert nicht mehr gesehen hatte. Wie ich an anderer Stelle hervorgehoben habe,20 zeigt sich das Endergebnis dieser Entwicklung am deutlichsten im Kosnik Report. Die „Catholic Theological Society of America“ beauftragte A. Kosnik und weitere Autoren, eine Studie zu diesem neuen moraltheologischen Ansatz durchzuführen. Sie publizierten ihre – 322 Seiten langen – Ergebnisse im Jahr 1977 unter dem Titel: Human Sexuality: New Directions in Catholic Thought [Menschliche Sexualität: Neue Richtungen im katholischen Denken], bekannt als der „Kosnik-Report“. Die Theologie, so wurde behauptet, habe die auf überholten Vorstellungen von Moral und Sexualität beruhende traditionelle Betrachtungsweise hinter sich gelassen – und so konnten Entschuldigungen für Masturbation, voreheliches

18 Vgl. dazu den Vortrag von Eberhard Schockenhoff vor den Mitgliedern der Deutschen Bischofskonferenz in Lingen im März 2019. Dazu mein Beitrag „Modernisierung der Moral?“, in: Die Tagespost, 25 Juli 2019, 12. 19 „Durch die Abkoppelung der Fruchtbarkeit vom ehelichen Akt können die meisten sexuellen Akte innerhalb oder außerhalb der Ehe gerechtfertigt oder zumindest entschuldigt werden – und werden dies auch tatsächlich –, so lange sie ‚zur kreativen Entwicklung und Integration der menschlichen Person beitragen‘ (Kosnik, S. 92).“ Vincent Twomey, Das kranke Herz der Morallehre, in: Die Tagespost, 23. August 2018. 20 Vincent Twomey, The Theological Roots of the Present Crisis, in: Catholic World Report, 3. August 2018.

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­ usammenleben, Swinger, Ehebruch und homosexuelle Akte geZ funden werden. 21 Das „John Jay College of Criminal Justice“ in New York wurde von der US-Bischofskonferenz beauftragt, eine Untersuchung über den sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche zwischen 1950 und 2010 in den Vereinigten Staaten durchzuführen, und veröffentliche seine Studie 2011. Sie stellte fest: „Während der hier beobachteten Periode wuchs die jährliche Angabe von Fällen sexuellen Vergehens durch Priester fortwährend bis zur Kulmination in den späten 1970ern bis zu den frühen 1980ern“. 22 Genau, wie Papst Benedikt es gesagt hat. Bevor wir zum Abschluss des ersten Teils der Notizen kommen, sollte erwähnt werden, dass sich Papst Benedikt in seiner kurzen und präzisen Beschreibung des Zusammenbruchs der katholischen Moraltheologie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht auf die Sexualmoral als solche konzentriert, sondern auf fundamentale moraltheologische Prinzipien. Es waren die radikalen Veränderungen in diesem Bereich, welche die Kirche wehrlos gegen den durch die sexuelle Revolution verursachten kulturellen Umsturz machten. Das begann mit der Abkehr vom Naturrecht als der Grundlage der katholischen Moraltheologie und dem Versuch, eine Moraltheologie zu entwickeln, die sich ganz auf die Schrift gründete. Nachdem das gescheitert war, wurde deutlich, dass eine auf der Bibel basierende Moraltheologie nicht systematisch dargestellt werden konnte. Die Suche nach einem neuen Zugang mündete in die These, dass die Motivation die Moral einer Handlung bestimme, so dass dann de facto der Zweck die Mittel heiligt, auch wenn es weniger grob ausgedrückt wird. „So konnte es nun auch nichts schlechthin Gutes und ebensowenig etwas immer Böses geben, sondern nur relative Wertungen.“ In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren nahm die Krise dramatische Ausmaße an, wie an der Kölner Erklärung (5. Januar 1989) zu sehen ist,

21 Vgl. Twomey, Das kranke Herz der Morallehre (Anm. 19). Im selben Jahr (1979) trat der Bostoner Priester Paul Richard Stanley der „North American Man-Boy Love Association“ bei. Er war nicht der einzige Priester. Über zwei Jahrzehnte förderte er homosexuelles Verhalten und besonders Pädophilie. Er wurde im Jahr 2003 wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung eines minderjährigen Jungen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. 22 Zitiert von Kardinal Paul Josef Cordes, in: Die Tagespost, 11. Juli 2019, 16.

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die zu einem Aufschrei gegen das Lehramt anwuchs. Johannes Paul II. reagierte auf die wachsende Krise mit der Veröffentlichung von Veritatis splendor am 6. August 1993, die eine Gegenreaktion der Moraltheologen auslöste. Die zentrale Frage, die es zu beantworten galt, lautete: Gibt es menschliche Handlungen, die in sich schlecht sind? „Er [der Papst] konnte und durfte keinen Zweifel daran lassen, daß die Moral der Güterabwägung eine letzte Grenze respektieren muß. Es gibt Güter, die nie zur Abwägung stehen. Es gibt Werte, die nie um eines noch höheren Wertes wegen preis­ gegeben werden dürfen und die auch über dem Erhalt des physischen Lebens stehen. Es gibt das Martyrium.“23 Zwei andere Thesen entstanden zu jener Zeit. Erstens wurde gesagt, die kirchliche Lehrautorität sei auf Glaubensangelegenheiten beschränkt und die Kirche für Moralfragen folglich nicht zuständig. Die andere These leugnete das Besondere der christlichen Moral aufgrund der Tatsache, dass sich die grundlegenden moralischen Prinzipien (wie im Dekalog) in allen religiösen Traditionen fänden. 24 Doch Benedikt erklärt, dass die christliche Moral nicht auf moralischen Prinzipien beruht, die für das Christentum spezifisch sind. „Die Morallehre der Heiligen Schrift hat ihre Besonderheit letztlich in ihrer Verankerung im Gottesbild, im Glauben an den einen Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt und der als Mensch gelebt hat. Der Dekalog ist eine Anwendung des biblischen Gottesglaubens auf das menschliche Leben. Gottesbild und Moral gehören zusammen und ergeben so das besondere Neue der christlichen Einstellung zur Welt und zum mensch­ lichen Leben.“

23 Es muss daran erinnert werden, dass die Beachtung der kirchlichen Morallehre keine Garantie dafür ist, dass ein Kleriker oder ein Laie keinen Missbrauch begeht, oder genauer gesagt, keine moralischen Sünden und keine Verbrechen gemäß dem kanonischen Recht. Tatsächlich waren einige Kleriker, die den schrecklichsten Missbrauch begangen haben, angesehene Gründer von religiösen Kongregationen in Lateinamerika und in Frankreich, die ihre Loyalität gegenüber Johannes Paul II. und seiner Morallehre öffentlich bezeugten. Ohne Gnade kann das Gesetz die Seele töten, besonders in Verbindung mit Macht, Geld und klerikaler Hybris – Klerikalismus im höchsten Sinne –, und unsagbaren Schaden im jungen Menschen anrichten, wenn man den Skandal nicht im strikten Sinn des Wortes benennt. 24 Diese These entwickelte er im Detail in seinem Beitrag zu „Prinzipien christlicher Moral“, in Zusammenarbeit mit Heinz Schürmann und Hans Urs von Balthasar (Einsiedeln 1975).

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II. Der zweite Teil des Texts von Papst emeritus Benedikt XVI. ist „ersten kirchlichen Reaktionen“ gewidmet. Er führt die Auswirkungen dieser Moraltheologie auf verschiedene Bereiche des kirchlichen Lebens an, einschließlich des Entstehens homosexueller Clubs in den Priesterseminaren. Der Heilige Stuhl bekam natürlich Wind davon und ordnete zwei Apostolische Visitationen zur Untersuchung der Sache an. Die erste scheiterte vollständig, weil verschiedene Kräfte gemeinsam versuchten, die wahre Situation zu vertuschen, während die zweite zwar zu gewissen Erkenntnissen führte, es jedoch nicht schaffte, ein konkretes Ergebnis herbeizuführen. Ein Teil des Problems war die Tatsache, dass nach dem Konzil die Ernennung von Bischöfen nach dem Kriterium der „Konziliarität“ erfolgte. „In der Tat wurde konziliare Gesinnung in vielen Teilen der Kirche als eine der bisherigen Tradition gegenüber kritische oder negative Haltung verstanden, die nun durch ein neues, radikal offenes Verhältnis zur Welt ersetzt werden sollte.“ Es gab einzelne Bischöfe, so erklärt er, die die katholische Tradition insgesamt ablehnten. Als er in seiner Homilie beim ersten Schülerkreistreffen nach seiner Wahl zum Papst über die Beziehung zwischen Gesetz (Gerechtigkeit) und Liebe sprach, berührte er das Thema des sexuellen Missbrauchs und den Eindruck, den man in Amerika habe, Rom stehe dem, was geschehe, gleichgültig gegenüber und vertusche die Taten schuldiger Priester. 25 Pädophilie, so ruft er in Erinnerung, wurde in Rom erst in den achtziger Jahren ein Thema, als die Unzulänglichkeit der Strafvorschriften des überarbeiteten Kirchenrechtskanons (1983) offensichtlich wurde. 26 Zudem tendierten Rom und römische Kanonisten aufgrund der vorherrschenden Mentalität, des sogenannten „Garantismus“, zugunsten des Angeklagten. Dies garantierte die Rechte des Beschuldigten, übersah jedoch andere zu schützende Güter wie den Glauben. Nur

25 Vgl. dazu D. Vincent Twomey SVD, Benedikt XVI. Das Gewissen unserer Zeit. Ein theologisches Portrait, Augsburg 2006. 26 Papst Benedikt XVI. betonte bei einem Schülerkreistreffen die Tatsache, dass bei der Entstehung des aktuellen kirchlichen Gesetzbuches (Codex Iuris Canonici) zahlreiche Einwände gegen ein kirchliches Strafrecht eingebracht worden seien, da, wie gesagt wurde, ein solches dem Geist des Evangeliums widerspräche.

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der Garantismus galt als der „konziliaren Haltung“ angemessen, was die Verurteilung schuldiger Geistlicher so gut wie unmöglich machte. Die kirchenrechtlichen Bestimmungen mussten verschärft werden, eine Aufgabe, bei der – wie allgemein anerkannt wird – Kardinal Ratzinger eine entscheidende Rolle spielte.27 Nach einem Exkurs über Mk 9,42 über die Verführung „eines von diesen Kleinen“ – also zu bewirken, dass andere ihren Glauben verlieren – führt er einen der wichtigsten Schritte an, die er selbst und Papst Johannes Paul II. eingeleitet haben, nämlich die Zuständigkeit für solche strafbaren Handlungen von der Kongregation für den Klerus an die Kongregation für die Glaubenslehre zu übertragen. 28 Von Bedeutung ist der Grund für einen solchen Wechsel. Er wurde unter dem Titel „Delicta maiora contra fidem“ gemacht. „Mit dieser Zuweisung war auch die Möglichkeit zur Höchststrafe, das heißt zum Ausschluss aus dem Klerus möglich, die unter anderen Rechtstiteln nicht zu verhängen gewesen wäre.“29 Sein Hauptpunkt ist jedoch, dass der sexuelle Missbrauch durch Geistliche vor allem eine Verletzung gegen Gott, gegen den Glauben und somit gegen das Gut, das die Kirche darstellt, bildet. Er schließt: „Nur wo der Glaube nicht mehr das Handeln des Menschen bestimmt, sind solche Vergehen möglich.“ Das ist das Hauptthema, das er im dritten und letzten Absatz aufnehmen wird, der fast die Hälfte des gesamten Textes ausmacht und der, wie er selbst in seiner Antwort an seine Kritiker protestierte, der Hauptpunkt dieser gesamten Erklärung ist, von dem seine Kritiker jedoch keine Notiz genommen hatten, weil sie sich auf den ersten Teil konzentrierten (die sexuelle Revolution und der Zusammenbruch der Moraltheologie). Es ist seine Empfehlung an die Kirche, wie sie angesichts der Krise des sexuellen Missbrauchs vorgehen sollte.

27 Vgl. die Versuche von Papst Benedikt XVI., das kirchliche Strafrecht zu verstärken. Siehe hierzu den Beitrag von Markus Graulich, in: Die Tagespost, 18. Juli 2019, 14. 28 Johannes Paul II., Motu Proprio „Sacramentorum sanctitatis tutela“ vom 30. April 2001, in: AAS 93 (2001) 737–739. 29 Er skizziert die zentralen Maßnahmen, um allen Beteiligten Gerechtigkeit zukommen zu lassen, ebenso aber auch die praktischen und logistischen Schwierigkeiten, diese umzusetzen, beispielsweise aufgrund des Mangels von ausgebildeten Kanonisten in den Diözesen.

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III. Der dritte Teil gliedert sich in drei Abschnitte, die sich mit dem Geheimnis Gottes, dann dem Geheimnis Christi in der Eucharistie und schließlich mit dem Geheimnis Christi und der Kirche ­befassen. Er fragt: „Wie gehen wir vor?“. Nicht, indem wir versuchen, eine andere Kirche zu schaffen – denn das hat man versucht, und es ist gescheitert –, sondern im Gehorsam und in Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus, wie er durch Gott selbst offenbart wurde, also in unserem Glauben: „Der Herr hat eine Geschichte der Liebe mit uns begonnen und will die ganze Schöpfung in ihr zusammenfassen. Die Gegenkraft gegen das Böse, das uns und die ganze Welt bedroht, kann letztlich nur darin bestehen, daß wir uns auf diese Liebe einlassen. Sie ist die wirkliche Gegenkraft gegen das Böse. Die Macht des Bösen entsteht durch unsere Verweigerung der Liebe zu Gott. Erlöst ist, wer sich der Liebe Gottes anvertraut. Unser Nichterlöstsein beruht auf der Unfähigkeit, Gott zu lieben. Gott lieben zu lernen, ist also der Weg der Erlösung der Menschen.“ Das beginnt er dann zu entfalten.

1. Das Geheimnis Gottes Das erste grundlegende Geschenk, das der Glaube uns darbietet, ist die Gewissheit, dass Gott existiert. Eine Welt ohne Gott wäre sinnlos, sie hätte kein Ziel und keine Bestimmung, keinen Maßstab für Gut und Böse, sie wäre eine Welt, in der Macht Recht wird. Das ursprüngliche Bedürfnis nach Gott bliebe eine Vermutung, die unfähig wäre, dem Leben eine Führung anzubieten, hätte Gott nicht die Initiative ergriffen, sich selbst zu äußern. Das hat er zuerst Abraham gegenüber getan, um der Suche der Menschheit nach Gott eine Gestalt zu geben, die alle Erwartungen übersteigen würde: „Gott wird selbst Geschöpf, spricht als Mensch mit uns Menschen“. Das Bekenntnis „Gott ist“ wird zur freudigen Gewissheit, dass Gott nicht nur Liebe schafft, sondern Liebe ist. „Dies den Menschen wieder zum Bewußtsein zu bringen, ist die erste und grundlegende Aufgabe, die uns vom Herrn her aufgetragen ist.“ Wir leben in einer Welt, die das Schlagwort geprägt hat: „Gott ist tot“. Es beanspruchte, eine neue Ära der Freiheit einzuleiten –

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doch de facto bezeichnete es das Ende der Freiheit. Wenn es keinen Sinn im Leben gibt, keine festen Maßstäbe, keine Möglichkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, dann gibt es keine wahre Freiheit. In der westlichen Welt ist Gott in der Öffentlichkeit abwesend. Das führt dazu, dass das Böse als selbstverständlich angesehen wird. Die zerstörerische Kraft ist spürbar, der Schaden, der dadurch zugefügt wird, unermesslich. „So ist es mit der Pädophilie. Vor kurzem noch als durchaus rechtens theoretisiert, hat sie sich immer weiter ausgebreitet. Und nun erkennen wir mit Erschütterung, daß an unseren Kindern und Jugendlichen Dinge geschehen, die sie zu zerstören drohen. Daß sich dies auch in der Kirche und unter Priestern ausbreiten konnte, muß uns in besonderem Maß erschüttern.“ Wir Christen reden nicht einmal mehr über Gott. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Gott das Leitprinzip des Grundgesetzes. Doch heute ist er in der westlichen Welt privatisiert worden, wird er als private Angelegenheit einer Minderheit angesehen. Benedikt kommentiert: „Eine erste Aufgabe, die aus den moralischen Erschütterungen unserer Zeit folgen muß, besteht darin, daß wir selbst wieder anfangen, von Gott und auf ihn hin zu leben. Wir müssen vor allen Dingen selbst wieder lernen, Gott als Grundlage unseres Lebens zu erkennen und nicht als eine irgendwie unwirkliche Floskel beiseite zu lassen“. Und das gilt, so hebt er hervor, in erster Linie für die Theologie, wo Gott oft als selbstverständlich vorausgesetzt und dann beiseitegelassen wird. „Und doch wird alles anders, wenn man Gott nicht voraussetzt, sondern vorsetzt. Ihn nicht irgendwie im Hintergrund beläßt, sondern ihn als Mittelpunkt unseres Denkens, Redens und Handelns anerkennt.“

2. Das Geheimnis der Gegenwart Christi in der Eucharistie Das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung wird in der Theologie behandelt, doch es besteht die Gefahr, dass unser gelehrtes Reden uns zu der Annahme verleitet, wir seien die Herren des Glaubens, „anstatt uns vom Glauben erneuern und beherrschen zu lassen“. Das illustriert er daran, wie heute im Allgemeinen die Eucharistie gefeiert wird: nicht mit der neuen Ehrfurcht vor Christi Tod und Auferstehung, die sich das Konzil erhofft hatte, sondern auf eine Weise, die das Mysterium zerstört. Die

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­ rgebnisse sind allzu offensichtlich: eine sinkende Teilnahme an E der Messe. „Die Selbstverständlichkeit, mit der mancherorts einfach die Anwesenden auch das heilige Sakrament empfangen, zeigt, daß man in der Kommunion nur noch eine zeremonielle Geste sieht.“ Dann erinnert er an eine seiner Begegnungen mit Opfern, unter denen eine Frau war, die als Messdienerin von einem Priester sexuell missbraucht wurde. Bevor dieser sich an ihr vergriff, sprach er die Wandlungsworte über das Brot. Was wir brauchen, sagt Benedikt, ist nicht eine neue Kirche, sondern die Erneuerung des Glaubens an die Realpräsenz Jesu Christi.

3. Das Geheimnis der Kirche Er ruft Romano Guardinis – fast hundert Jahre alte – bekannte Aussage in Erinnerung, dass „die Kirche in den Seelen erwacht“, das heißt nicht einfach als administrative Struktur, sondern lebendig in den Herzen der Gläubigen. Papst emeritus Benedikt XVI. bekennt, dass er fast fünfzig Jahre später versucht war zu sagen, die Kirche sterbe in den Seelen. Ich nehme an, er bezieht sich auf seinen berühmten Artikel über „Die neuen Heiden und die Kirche. 30 Wie dem auch sei, er kommentiert: „In der Tat wird die Kirche heute weithin nur noch als eine Art von politischem Apparat betrachtet. Man spricht über sie praktisch fast ausschließlich mit politischen Kategorien, und dies gilt hin bis zu Bischöfen, die ihre Vorstellung über die Kirche von morgen weitgehend ausschließlich politisch formulieren“. Die Missbrauchskrise führt uns in Versuchung, ein Modell von Kirche zu entwickeln, das unseren eigenen Vorstellungen entspricht. „Aber eine von uns selbst gemachte Kirche kann keine Hoffnung sein.“ Er erinnert an die zwei Gleichnisse Jesu, die die Kirche bildlich darstellen: das Fischernetz, das gute und böse Fische fängt, und das Feld, auf dem Unkraut neben dem Getreide wächst, das ­ursprünglich dort ausgesät wurde. Die Kirche ist eine Mischung aus Gut und Böse. Doch das Feld ist immer noch Gottes Feld, das ­Fischernetz ist Gottes Fischernetz. In diesem Zusammenhang verweist er auf einen Text in der Offenbarung des heiligen Johannes (Offb 12,10), in dem der 30 Joseph Ratzinger, Die neuen Heiden und die Kirche, in: JRGS 8/2, Freiburg i. Br. 2010, 1143–1158.

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­ eufel als gestürzter Ankläger charakterisiert wird, der unsere T Brüder bei Tag und bei Nacht vor Gott verklagt. Dann folgt eine typische Ratzinger-Exegese. Hinter Offb 12,10 steht die Rahmenerzählung des Buchs Ijob. Der Teufel erhielt von Gott die Erlaubnis, Ijob auf die Probe zu stellen. Was Benedikt zufolge in Ijob auf dem Spiel steht, ist die Anschuldigung des Teufels, dass Gottes Geschöpf – dargestellt durch Ijob, eine Gestalt von Jesus Christus und somit der ganzen Menschheit – nur dem Anschein nach gerecht ist und sich als durch und durch verdorben herausstellen wird, wenn man ihn auf die Probe stellt. Mit einem Wort: Der Teufel will uns daran zweifeln lassen, dass die Schöpfung gut ist – und somit, dass Gott der Schöpfer gut ist, um uns Gott zu entfremden. „Die Aktualität dessen, was uns hier die Apokalypse sagt, ist offenkundig. Es geht heute in der Anklage gegen Gott vor allen Dingen darum, seine Kirche als ganze schlechtzumachen und uns so von ihr abzubringen. Die Idee einer von uns selbst besser gemachten Kirche ist in Wirklichkeit ein Vorschlag des Teufels, mit dem er uns vom lebendigen Gott abbringen will durch eine lügnerische Logik, auf die wir zu leicht hereinfallen. Nein, die Kirche besteht auch heute nicht nur aus bösen Fischen und aus Unkraut. Die Kirche Gottes gibt es auch heute, und sie ist gerade auch heute das Werkzeug, durch das Gott uns rettet. Es ist sehr wichtig, den Lügen und Halbwahrheiten des Teufels die ganze Wahrheit entgegenzustellen: Ja, es gibt Sünde in der Kirche und Böses. Aber es gibt auch heute die heilige Kirche, die unzerstörbar ist.“ Die Heiligkeit der Kirche zeigt sich vor allem an ihren Märtyrern. Die heutige Kirche ist eine Kirche der Märtyrer und auf diese Weise eine Zeugin des lebendigen Gottes. Sein vorletzter Punkt ist vielleicht der wichtigste, da er einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise weist: „Zu den großen und wesentlichen Aufgaben unserer Verkündigung gehört es, soweit wir können, Lebensorte des Glaubens zu schaffen und vor allen Dingen sie zu finden und anzuerkennen“. Es ist möglich, dass er hier auf Rod Drehers Buch Die Benedikt-Option anspielt, dessen italienische Übersetzung Erzbischof Gänswein dieses Jahr hier in Rom vorgestellt hat. Und er lenkt die Aufmerksamkeit auf seine eigene klösterliche Gemeinschaft als Beispiel, wie man diese alltägliche Heiligkeit erfährt, die das Wesen der Kirche ­bildet.

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Abschließende Bemerkungen Trotz ihres fragmentarischen Charakters lassen die Notizen des Papa emeritus Benedikt XVI. eine innere Logik erkennen, die in seiner Verteidigung des Mysteriums der Kirche gipfelt und der größten aller Versuchungen des Feindes, uns an der Heiligkeit der Kirche und somit an Gott zweifeln zu lassen, widersteht. Die meiste Kritik an seinen Notizen konzentrierte sich auf seine These über die sexuelle Revolution. Andere wiesen seine Behauptungen über den Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie in den sechziger und siebziger Jahren zurück. Thomas Sternberg, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, war – während auch er Benedikts Analyse der sechziger Jahre zurückwies – insofern die Ausnahme, als er in seiner Stellungnahme zugab, dass die Gottvergessenheit in der Tat sogar in Teilen der Kirche ein großes Problem sei. Und er fügte hinzu: „Bei allen Reformen geht es aber nicht primär um den Erhalt einer Organisation, sondern darum, den Glauben an Christus wach zu halten.“31 Für den emeritierten Papst Benedikt ist die Gottvergessenheit jedoch nicht „ein“ Problem, sondern „das“ Problem. Es ist nicht nur ein theoretisches Problem für die Gesellschaft, sondern ein existentielles, das sich zutiefst auf den größeren Teil der Kirche und ihre Sendung in Nordeuropa und Amerika auswirkt. Und es ist wesentlich mit dem Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie in den sechziger Jahren verbunden, die unter anderem die Vorstellung in sich schlechter Handlungen zurückwies. Wie Benedikt hervorhob – und auch Johannes Paul II. in Veritatis splendor klar machte – überging die alternative Moraltheologie, die etwa von Josef Fuchs, Franz Böckle und anderen vorgelegt wurde, die letzte Bedeutung menschlicher Handlungen, also wie sie unsere Beziehung zu Gott bestimmen. An Benedikts Notizen ist bemerkenswert, dass, weit davon entfernt, eine Rückkehr zu „alten, lang überwundenen Kämpfen“ zu sein, wie Sternberg behauptet, die „nur noch Gegenstand für Historiker“ sind, der Kampf um das Wesen der katholischen Moraltheologie heute unvermindert und intensiver denn je weitergeführt wird. Das zeigte sich an den Kontroversen rund um die Bischofs­ 31 https://www.katholisch.de/artikel/21337-missbrauchsopfer-benedikt-text-gehtvoellig-an-der-sache-vorbei.

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synode über die Familie. Das zeigt sich immer noch hinsichtlich der Interpretation von Amoris laetitia und ihren Nachwirkungen; vor allem ist es der Grund für die Auflösung des Instituts Johannes Paul II. für Ehe und Familie in diesem Jahr. Was die Ablehnung von Verhütung durch Humanae vitae betrifft, vertritt Sternberg die ­Auffassung: „Dies war der Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen brachte“. Die kirchliche Sexualmoral habe sich seinerzeit so weit von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt, dass sie keine Akzeptanz mehr gefunden habe. Auch hier hat er nicht ganz unrecht, doch es ist ein Zerrbild dessen, was geschehen ist. Die Enzyklika Humanae vitae war in der Tat ein Wendepunkt, wie ich an anderer Stelle hervorgehoben habe. 32 Ihre Zurückweisung auf dem Höhepunkt der im Wesentlichen antiautoritären sexuellen Revolution war in erster Linie eine Zurückweisung der kirchlichen Autorität, moralische Prinzipien zu lehren. 33 Das mündete in die unter Theologen verbreitete These, die kirchliche Lehrautorität sei auf Glaubensfragen begrenzt. Wie Ratzinger selbst hervorhob, ist es gerade die letzte Bedeutung menschlichen Handelns in Bezug auf unsere ewige Erlösung oder Verdammnis, die die Zuständigkeit der kirchlichen Lehrautorität in Dingen, die die Moral betreffen, begründet. 34 Die verbreitete Akzeptanz der Empfängnisver­ hütung in der Bundesrepublik vor allem nach, aber auch vor der Promulgation von Humanae vitae35 lässt sich an den Ergebnissen einer für die Würzburger Synode (1971–1976) in Auftrag gegebenen Umfrage erkennen, die zeigte, dass sechzig Prozent Humanae vitae ablehnten. 36 Die Lebenswirklichkeit der Menschen, die sich in dieser Zurückweisung widerspiegelte, wich in der Tat radikal vom Tenor in Humanae vitae ab, vor allem was die diese Lebenswirklichkeit untermauernde Anthropologie betrifft. Auf der einen Seite war da die neue Haltung zur Sexualität, die die Fruchtbarkeit vom Ehebund abkoppelte. Auf der anderen Seite basiert schon das Konzept 32 Vgl. mein Buch Der Papst, Die Pille und die Moral, Augsburg 2008. 33 Zur Ablehnung der Enzyklika „Humanae Vitae“ in der Bundesrepublik Deutschland und die Rolle von Franz Böckle siehe Rivinius, Retrospektive (Anm. 10), 51–58. 34 Vgl. dazu Ratzinger, Prinzipien der Moral (Anm. 24). 35 Dies wurde unterstützt durch den wachsenden Konsens unter Theologen der im Jahre 1963 von Papst Johannes XXIII. eingerichteten und von Papst Paul VI. erweiterten Kommission zur Geburtenkontrolle, die „Pille“ zu erlauben. Der Mehrheitsbericht goss Öl ins Feuer, indem er für einen Wandel plädierte. 36 Cf. Rivinius, Retrospektive (Anm. 10).

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der Geburtenkontrolle – das einen positiven Wert einräumt – auf der Annahme, dass wir Menschen die Welt kontrollieren können, was die Bezeichnung des Menschen als homo faber oder homo technicus treffend charakterisiert. 37 Mit den Worten von Paul VI. lässt sich der ganze Tenor der zeitgenössischen Kultur in der Forderung des Menschen nach „unbeschränkter Verfügungsmacht über seinen Körper“ (HV 13) zusammenfassen, mit dem Ergebnis, dass er „eigenmächtig“ versucht, die „von Gott bestimmte unlösbare Verknüpfung der beiden Sinngehalte – liebende Vereinigung und Fortpflanzung –, die beide dem ehelichen Akt innewohnen“ aufzulösen (HV 12), wobei der letzte Ursprung dieser beiden Sinngehalte das innere Leben der Dreifaltigkeit ist (HV 8). Der menschliche Anspruch auf unbeschränkte Verfügungsmacht über seinen Körper (und über die materielle Welt) ist der Anspruch, Gott zu sein. Er ist die Ur-Versuchung des Teufels. Die Notizen des emeritierten Papstes Benedikt loten die Tiefen der derzeitigen Krise aus, die letztlich eine Krise des Glaubens an die Existenz des transzendenten Gottes ist, eine Krise, in der die ursprünglichen Kräfte von Gut und Böse einander auf fast jeder Ebene der Kirche gegenüberstehen. Ich kenne kein anderes Schreiben von ihm, das „das Böse, das uns und die ganze Welt bedroht“, darstellt. Sexueller Missbrauch durch Geistliche, nicht nur Pädophilie, ist in sich schlecht, so dass ihm nur das in sich Gute entgegengehalten werden kann, das Gottes Liebe widerspiegelt, die zur Heiligkeit führt. So lange Moraltheologen dieser Tatsache nicht ins Gesicht sehen, sind sie dazu verurteilt, die groteske Moraltheologie wiederzugeben, die der Kosnik Report verficht. Das haben wir dieses Jahr gesehen, als der führende deutsche Moraltheologe Eberhard Schockenhoff in Lingen den deutschen Bischöfen offenbar widerspruchslos diverse, durch die Sprache der heutigen Sexualwissenschaft verschleierte sexuelle Perversionen zur Billigung vorlegen konnte. 38 Hinter diesem Aufruf zur modernen Wissenschaft 37 Cf. Hans Urs von Balthasar, „Ein Wort zu ‚Humanae Vitae‘“, in: Neue Klarstellungen, 1979; Twomey, Papst (Anm. 32), bes. Kapitel 7 („Die theologische Vision von Humanae Vitae“). 38 Vgl. meinen Beitrag „Modernisierung der Moral?“, in: Die Tagespost, 25. Juli 2019, über die funktionalistische Annäherung an die Sexualität, wie sie von Eberhard Schockenhoff vertreten wird. Diese Sichtweise zielt auf die Rechtfertigung aller möglichen „Funktionen“ der Sexualität, die gemäß der heutigen Sexualwissenschaft ihre Ziele selbst definiert. Das bedeutet: Bei der sexuellen Begegnung eines

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steht ein sogar noch tieferer philosophischer Idealismus, der besonders für die zeitgenössische deutsche Theologie bezeichnend ist, nämlich die historische Natur des Seins (im Unterschied zu seiner metaphysischen Natur). 39 Doch das wäre Gegenstand einer anderen Abhandlung. Lassen Sie mich mit einem nochmaligen Verweis auf die Homilie schließen, die der neu gewählte Papst Benedikt XVI. bei unserem ersten Treffen in Castel Gandolfo gehalten hat. Inspiriert durch den heiligen Augustinus verglich er den Unglauben des heutigen Menschen mit einer Art Schlafkrankheit im Hinblick auf den lebendigen Gott. Um jemanden, der unter Schlafkrankheit leidet, am Leben zu erhalten, muss ein Freund ihn ständig anstoßen, obgleich der Kranke allein gelassen werden möchte: „Der moderne Mensch will nicht belastet werden mit Gott. Es ist so bequem – scheinbar – ohne Gott. Und doch, wenn wir die Menschen in diese Schlafkrankheit hineinfallen lassen, verlieren sie sich selbst und zerstören nicht nur sich, sondern auch die Voraussetzungen für die Gemeinschaft untereinander. Deswegen ist es notwendig, diese Schläfrigkeit Gott gegenüber nicht zuzulassen, unangenehm zu lassen, die Menschen aus dieser Schläfrigkeit Gott gegenüber immer wieder herauszureißen. Es ist nötig, die Menschen wachzurütteln, ihnen eindringlich und laut immer und immer wieder Gott vor die Augen, vor die Seele zu stellen“.40 Das, so möchte ich behaupten, war wohl der tiefste Grund, warum der emeritierte Papst Benedikt XVI. seine fragmentarischen Notizen zur derzeitigen sexuellen Missbrauchskrise veröffentlicht hat: die Kirche in Europa und in Amerika erneut aus ihrer Schläfrigkeit im Hinblick auf Gott herauszureißen. Der unmittelbare Anlass im April war aber wohl meines Erachtens die im März vorausgehende Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Lingen.

Paares [sic!] können einmal mehr die Wünsche des Einen, das andere Mal mehr die Erwartungen des Anderen den Ausschlag geben; nicht jeder Sexualakt muss zeugungsoffen bleiben; auch das lustvolle Erleben des eigenen Körpers (heute oft self sex genannt) kann einen verantwortlichen Umgang mit der eigenen Sexualität bedeuten, dann nämlich, wenn jemand allein lebt oder Rücksicht auf den Partner nehmen möchte. Schließlich verwirklichen auch gleichgeschlechtliche Handlungen positive Sinnwerte, insofern sie ein Ausdruck von Freundschaft, Verlässlichkeit, Treue und Hilfestellung im Leben sein können. 39 Vgl. Thomas Heinrich, German Idealism and Cardinal Kasper’s Theological Project, in: Catholic World Report, 9. Juni 2014. 40 Zitiert in Twomey, Papst (Anm. 32).

Zugänge zu Priesterberufungen Am Beispiel der Zisterzienserabtei ­Heiligenkreuz1 Abt Maximilian Heim OCist

Als ich 1996 als noch junger Ordenspriester zum Novizenmeister in Heiligenkreuz berufen wurde und diese Aufgabe acht Jahre erfüllte, wusste ich nicht, dass ich in der Folge auch weiterhin durch die Verantwortung in der Leitung als Prior und nun als Abt aktiv verantwortlich bleibe in der Formation und Ausbildung junger Menschen zur Priester- und Ordensberufung. Dieser mehr als 20-jährigen Verantwortung verdanke ich folgende Überlegungen. Um glaubwürdig zu sein, ist es entscheidend, durch die eigene geistliche Authentizität das zu leben, was man verkündet – bei allem Fragmentarischen des eigenen geistlichen Lebens. Entscheidend ist, wie es auch Papst Franziskus formuliert, dass wir nicht als Funktionäre agieren, die eine Rolle spielen, sondern als Hirten, die bereit sind, aus dem Geist der Selbsthingabe Jesu Christi zu leben. 2

1. Einführung Ich stelle zwei Erlebnisse an den Anfang meiner Erwägungen, die ich chronologisch in umgekehrter Reihenfolge darlege. Das erste Erlebnis geht zurück auf die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. In der abgelegenen Kartause Marienau weihte 1 Erstveröffentlicht in: George Augustin (Hg.), Priester sein heute. Leben – Berufung – Sendung, Ostfildern 2019, 94–118. 2 Vgl. Kongregation für den Klerus, Das Geschenk der Berufung zum Priestertum. Ratio Fundamentalis Institutionis Sacerdotalis vom 8. Dezember 2016, Città del Vaticano 2016, dt. Fassung in: VApSt 209, hier Nr. 84.

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der heutige Jubilar und damalige Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Walter Kasper, einen Priester, der zuvor Mönch unserer Abtei Heiligenkreuz gewesen ist. Bei seiner Predigt sagte Bischof Walter Kasper das für mich unvergessliche Wort, das seither mein Leben geprägt hat: „Ihr – und er meinte damit die Kartäuser – seid in meiner Diözese die Wächter, die den Herrn erwarten, wenn er wiederkommt.“ Diese eschatologische Perspektive weitete meinen Horizont ungemein und konkretisierte auch meine Berufung in das Geheimnis der Stellvertretung hinein. Als der Neupriester, dem ich bei seinem Eintritt in die Kartause kein halbes Jahr in dieser Lebensform zurechnete – mittlerweile ist er schon mehr als ein Vierteljahrhundert in der Marienau – nach der Weihe mir ein selbstgestaltetes Primizbild in die Hand drückte und darauf den bekannten Satz der großen heiligen Teresa schrieb: „Gott allein genügt“, da wusste ich: Eine solche Berufung ist tatsächlich ein lebendiger Gottesbeweis und eine Hilfe für die ganze Kirche. Das zweite Erlebnis war Anfang der achtziger Jahre an einer deutschen Universität. Der damalige Dozent für Hebräisch, ein laisierter Priester, sagte unter anderem die markanten Sätze zu den Studierenden, die in der Mehrzahl Priesteramtskandidaten gewesen sind: „Meine Frau und ich beten um priesterlose Gottesdienste“, und: „Meine Frau ist Beichtmutter im Dorf.“ Was ich damals als reine Provokation empfand, sehe ich heute mit anderen Augen. Ich bin mittlerweile zur Erkenntnis gekommen, dass in dieser Aussage ein echtes Gebetsanliegen des Dozenten formuliert war. Seiner Ansicht nach sei es das Wirken des Heiligen Geistes, wenn Laien, aufgrund ihrer Tauf- und Firmgnade als priesterliches, prophetisches und königliches Volk (vgl. 1 Petr 2,9), ohne Weihepriestertum Gottesdienste feiern und hierin wahrhaftige Communio untereinander und mit Gott erleben. Hier stellt sich aber die entscheidende Frage: Ist jene Auffassung kompatibel mit dem im Evangelium bezeugten sakramentalen Auftrag des Herrn beim letzten Abendmahl: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“? (Lk 22,19). Nicht nur der Auftrag des Herrn, sondern auch der gelebte Glaube der 2000-jährigen Geschichte der Kirche, die immer auch sakramental sich definiert, und nicht zuletzt ihre lehramtlichen Äußerungen widersprechen einer solchen falsch verstandenen Aktivierung der Laien. Um es provokant zu sagen: Geschieht hier nicht eine Klerikalisierung der Laien und eine Laisierung bzw. eine Negierung des Weihepriestertums?

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Mein Thema heißt: Zugänge zu Priesterberufungen am Beispiel der Zisterzienserabtei Heiligenkreuz. In einem ersten Punkt werde ich die Frage erörtern, wodurch heute Zugänge zu geistlichen Berufungen verstellt sind und wie wir die Türen weit aufreißen können für Christus, der auch heute Menschen in seine besondere Nachfolge rufen möchte. Im zweiten Punkt stelle ich die provokante Frage: Brauchen wir überhaupt noch Priester bzw. gottgeweihtes Leben? Und im dritten Teil schließlich werde ich einen kleinen Einblick geben in die Priesterausbildung in Heiligenkreuz, die sowohl geistliche Formation und intellektuelle Durchdringung des Glaubens wie auch missionarische Profilierung umfassen soll.

2. Zugänge zu geistlichen Berufungen 2.1 Blockaden für geistliche Berufungen 2.1.1 Priesterlose Gottesdienste als Alternativen zur Eucharistie Die gesellschaftlichen Entwicklungen haben immer auch eine Rückwirkung auf kirchliche Prozesse und umgekehrt. So zeigt die demografische Entwicklung der Bevölkerung ohne Migra­ tions­hintergrund in Westeuropa, v. a. in den deutschsprachigen Ländern, eine starke Zunahme der älteren Menschen und einen entsprechenden Rückgang der Geburten. Waren diese Länder bis vor wenigen Jahrzehnten noch christlich geprägt, so ist durch die oben angedeutete Veränderung ein christliches Profil heute eher die Ausnahme. Dazu kommen hohe Kirchen­austritts­zahlen und ein Wachsen der Gleichgültigkeit gegenüber Glaube und Kirche. Durch Umstrukturierungsprozesse versucht man in vielen Diö­ zesen auf diesen Mangel zu reagieren. Kirchenschließungen, Gemeinde­ zusammenlegungen, Großpfarreien, die kaum mehr eine persönliche Seelsorge des Manager-Pfarrers ermöglichen, sind Folgen eines Mangels an Gläubigen, der auch Rückwirkung hat auf geistliche Berufungen. Dennoch frage ich mich, ob der Verzicht auf die Sonntagsmesse und die Gleichstellung der Wort-Gottes-Feiern nicht das Gefühl der Beliebigkeit in den Gläubigen erzeugt. Für Katholiken bedeutete ja noch vor Jahrzehnten die Nicht-Mitfeier der sonntäglichen Eucharistiefeier eine schwere Sünde. Natürlich kann in DiasporaDiözesen kein flächendeckendes Angebot an Eucharistiefeiern

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mehr garantiert werden. Aber es gibt auch Entwick­lungen, die ganz bewusst die eingangs beschriebene Situation eines priesterlosen Gottesdienstes bevorzugen. Beispiele könnte ich aus meiner persönlichen Erfahrung anführen. Ich frage mich, ob wir nicht in der perfekten Verwaltung des Mangels den Schmerz betäuben, der die Not anzeigen würde, dass die Kirche ohne die sonntägliche Eucharistie nicht leben kann: „Quoniam sine dominico non possumus – denn ohne den Herrentag, ohne das Herrengeheimnis, können wir nicht sein“ 3, wie es die Märtyrer von Karthago im Jahr 304 mit ihrem Blut bezeugten. Indem wir diesen Schmerz narkotisieren, spüren die Gemeinden selbst nicht mehr die Not des Priestermangels. Außerdem wird gegenwärtig immer weniger auf diesen Mangel hingewiesen, um junge Menschen zu animieren, ihre ganze Existenz als Priester oder Ordensleute in den Dienst der Kirche zu stellen. In meiner Kindheit gab es noch das tägliche Gebet um geist­ liche Berufe in den Familien. Es gab den Priesterdonnerstag oder den Herz-Jesu-Freitag als Tage des Bittens um die Gnade der Berufung. Damit verbunden ist der Abbruch der Weitergabe des Glaubens in den Familien. Wo die christliche Sonntagskultur ersetzt wird durch eine Wochenend-Freizeit-Mentalität werden Kirche und Glaube im alltäglichen Leben ort-los. 2.1.2 Verabsolutierte Selbstbestimmung als Gegensatz zum Gehorsam gegenüber Gott Selbstverwirklichung ist für den postmodernen Menschen vor allem definiert durch das Lebensheiligtum der Freiheit, einer autonomen Freiheit, die sich nicht gebunden weiß an Vorgaben, die die Natur oder im übernatürlichen Sinn der Schöpfer selbst den Menschen zum Leben gegeben hat. Waren Schöpfungsordnung und Gnadenordnung in früheren Zeiten für den Glaubenden unangefochtene Paradigmen, so haben wir heute eine oft totale Verunsicherung des Einzelnen durch gesellschaftliche Postulate, die dogmatistisch eingefordert werden. Dies reicht von der Verneinung des ungeborenen Lebens mit der These „Mein Bauch gehört mir!“ bis zur Euthanasie, die bereits in manchen europäischen Ländern selbst vor Kindern und Jugendlichen nicht haltmacht. Ich bin froh, 3 Joseph Ratzinger, Von der Bedeutung des Sonntags für Beten und Leben des Christen, in: JRGS 11, Freiburg i. Br. 2008, 235–257, hier 236.

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dass es hier an der Universität Vallendar eine Verbindung gibt von Pflegewissenschaft und Theologie. Sicherlich haben die sich ausbreitende Emanzipationsbewegung und das Genderbewusstsein bis in die Sprache hinein gesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt, die zum Teil auch berechtigte Korrekturen brachten gegenüber einer früher von einer Männerdomäne beherrschten Kultur. Mit ungewöhnlich heftigen Worten jedoch kritisiert Papst Franziskus immer wieder die ­Gender-Theorie, die er u. a. als „ideologischen Kolonialismus“4, als „Indoktrination“5 und nicht zuletzt als „Rückschritt“6 bezeichnet. Sie bekämpfe ideologisch erbittert die klassische Familie: ­Vater – Mutter – Kinder: „Die moderne, zeitgenössische Kultur hat neue Räume, neue Freiheiten und neue Tiefen eröffnet, um das Verständnis dieses Unterschieds zu bereichern. Aber sie hat auch viele Zweifel und viel Skepsis eingeführt. Ich frage mich zum Beispiel, ob die sogenannte Gender-Theorie nicht auch Ausdruck von Frustration und Resignation ist, die darauf abzielt, den Unterschied zwischen den Geschlechtern auszulöschen, weil sie sich nicht mehr damit auseinanderzusetzen versteht. Ja, wir laufen Gefahr, einen Rückschritt zu machen. Denn die Beseitigung des Unterschieds ist das Problem, nicht die Lösung.“7 Zur Illustration des Missbrauchs eines berechtigten Freiheitspostulates durch Ideologisierung möchte ich den ehemaligen Regens des Bamberger Priesterseminars, Michael Hofmann, zitieren, der mit folgender, früher zum Lachen reizenden, aber heute ernst zu nehmenden Geschichte die Problematik der heute sich verbreitenden Gendermentalität aufzeigt: „Da haben moderne aufgeschlossen Eltern ein Kind bekommen. Ein Bekannter will Näheres wissen und fragt: ‚Ist es ein Bub oder ein Mädchen?‘ Die Eltern geben

4 Papst Franziskus, aus: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 51/52, 22. Dezember 2017. 5 Apostolische Reise von Papst Franziskus nach Polen aus Anlass des 31. Weltjugendtages (27.–31. Juli 2016), Begegnung mit den polnischen Bischöfen, Ansprache des Heiligen Vaters (Kathedrale auf dem Wawel, Krakau) am Mittwoch, 27. Juli 2016, online verfügbar unter: http://m.vatican.va/content/francesco/de/speeches/ 2016/july/documents/papa-francesco_20160727_polonia-vescovi.html. 6 Papst Franziskus, Generalaudienz am 15. April 2015, online verfügbar unter: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/audiences/2015/documents/papafrancesco_20150415_udienza-generale.html. 7 Ebd.

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zur Antwort: ,Wir haben beschlossen, das soll das Kind einmal selbst entscheiden, wenn es 18 ist.‘“ 8 Was hat dies mit unserem Thema der Priesterausbildung zu tun? In einer Zeit der freien Geschlechtsbestimmung wie auch der Neubestimmung von Ehe und Familie sind der Zölibat oder die gottgeweihte Jungfräulichkeit um des Himmelreiches willen kaum mehr vermittelbar, ja Absurditäten. Dazu kommt, dass der Zugang zum Weihesakrament nicht selten von Frauen gefordert wird, die darin eine Gleichberechtigung gegenüber Männern erkennen. Vor vielen Jahren haben amerikanische Ordensfrauen zunächst diese Forderung nach dem Priestertum erhoben, später jedoch wieder zurückgenommen, weil sie erkannten, dass Ordination immer zugleich auch Subordination bedeutet. Das aber lehnten sie im Prinzip aufgrund ihrer Selbstverwirklichungsforderung ab. Wenn Berufung ein freies Jawort sein muss zum Rufenden, d. h. zu Gott, kann sie nicht von uns gemacht, sondern nur empfangen werden. Diese Bedingung hat Gott selbst der Kirche eingestiftet. Das freie Ja zum Willen Gottes, der sich uns in Jesus Christus geoffenbart hat, bleibt eine immerwährende Herausforderung für die Kirche als ecclesia wie für jeden einzelnen Berufenen. Die Beurteilung der geistlichen Berufungen geschieht durch die bekannte Trias: Eignung, Neigung und Bestätigung der Kirche. Dies muss in einem Dialog der Freiheit und der Verantwortung vor Gott und den Menschen geschehen. 2.1.3 Der Missbrauchsskandal als nachhaltige Blockade gegenüber zölibatären Berufungen Sünde und Schuld sind von Anfang an Ungehorsam gegenüber Gottes Weisungen, die er dem Menschen zum Leben gegeben hat. Wer die Verantwortung vor Gott und den Menschen negiert, wird taub für den Anruf Gottes im Gewissen. Die Abgründe einer gewissenlosen Mentalität zeigen sich im Missbrauchsskandal der vergangenen Jahrzehnte. Obwohl mittlerweile der sexuelle Missbrauch immer mehr als nicht allein kirchliches, sondern gesellschaftliches Phänomen aufgedeckt wird, so haben doch die vergangenen Jahre die tiefen 8 Michael Hofmann, „Was ich glaube, bestimme ich?!“, online verfügbar unter: http://ratzinger-papst-benedikt-stiftung.de/downloads/Zum%20Jahr%20des%20 Glaubens%202012%20-%201.%20Vortrag.pdf.

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Wunden offenbart, die durch Priester und Ordensleute verursacht worden sind. Dieser Skandal hat die Kirche wie kein anderer erschüttert. Denn zwei Lebensheiligtümer des Menschen – nämlich seine Sexualität und seine Religion – wurden hier durch dieses schwer schuldhafte Verhalten von Kirchenvertretern miteinander verquickt und in einer Tiefe verletzt, die kaum auslotbar ist. Materielle Wiedergutmachungsversuche können die Wunden niemals heilen, die dabei gerissen wurden. Die fatale Konsequenz aus dem Missbrauchsskandal war, dass nicht selten verallgemeinernd zölibatär Lebende als potenzielle Täter in Augenschein genommen werden. 2.1.4 Gelebte Homosexualität und verheimlichte Lebensgemeinschaft als Zölibatsbruch Waren Homosexualität und „wilde Ehe“ in der Vergangenheit nicht selten gesetzlichen Repressalien und gesellschaftlicher Verachtung ausgesetzt, so ist es heute notwendig zu betonen, dass homosexuelle Menschen gerade kirchlicherseits nicht diskriminiert werden dürfen. Die Offenlegung gelebter Homosexualität von Geistlichen oder Ordensleuten muss aber, wie das heimliche Zusammenleben mit einer Frau, als Zölibatsbruch bezeichnet werden dürfen. Die karikierende Frage: „Wer will denn heute noch heiraten? Doch nur Priester und Homosexuelle“, zeigt das Unverständnis für die Heiligkeit der klassischen Ehe und Familie. Wenn heute ein Priester in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft mit einer Frau lebt, dann wird dies gesellschaftlich nicht nur toleriert, sondern sogar begrüßt. Bei der jahrzehntelangen Diskussion um die Abschaffung des Zölibats sollte doch einerseits bedacht werden, dass dies zwar nur die Disziplin der katholischen Kirche betrifft, aber andererseits darf nicht verheimlicht werden, welche neuen Probleme entstehen können, gerade wenn wir in ökumenischer Rücksicht die Erfahrungswerte der orthodoxen bzw. evangelischen Kirchen in der Gegenwart bedenken. Schließlich sind für die katholische Kirche in dieser Frage das Wort und Beispiel Christi maßgeblich, der selbst um des Himmelreiches willen auf Ehe und Familie verzichtete. Wo die Heiligkeit der christlichen Ehe nicht mehr geschätzt wird, wächst oft auch das Unverständnis für ein zölibatäres Leben um des Himmelreiches willen. Denn wo die Ehe nur noch als sinnlich geistige

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Liebes- und Lebenseinheit gesehen wird, ohne den Auftrag des Schöpfers, Kindern das Leben zu schenken, folgt aus dieser Verkürzung letztlich die Egalität zu anderen Sexualgemeinschaften. In der christlichen Ehe wie auch im zölibatären Leben wächst aus der Hingabe immer die Offenheit zum Du Gottes in der Überzeugung, dass er im Letzten das Leben schenkt und erhält. Fast 50 Jahre nach Humanae vitae können wir heute den „prophetischen Charakter“9 dieser Enzyklika des sel. Papstes Paul VI. viel besser erkennen, der, trotz großer Bedrängnis, Widerstand geleistet hat – einerseits gegen eine Verhütungsmentalität in der Ehe und andererseits gegen die Auflösung des Zölibats. 2.1.5 „No-future-Mentalität“ Innere Resignation bzw. die „No-Future-Mentalität“ ist vielleicht „die größte Gefahr“ in der derzeitigen Situation der Kirche: „Sie drückt sich darin aus, dass man entweder nicht über den Berufungsmangel reflektiert und sich in eine Mentalität des ‚Business as usual‘ flüchtet. Sie drückt sich auch darin aus, dass man bereits so agiert, als hätte das Priestertum keinen Sinn, keine Chance, keine Zukunft und müsse um jeden Preis ersetzt werden.“10 Wir erkennen darin also eine tiefgreifende und substanzielle Glaubens- und Sinnkrise in unserer Kirche, vor allem in Europa. Es ist bezeichnend, wenn Kirche nur noch als fossiles Relikt aus einer vergangenen Zeit bezeichnet wird, das sich nur mit sich selbst beschäftigt. Wir sind aber, wie es einmal Klaus Hemmerle formulierte, nicht einfach „Nachlassverwalter“ einer kirchlichen Vergangenheit,

9 Kardinal Christoph Schönborn, „Jerusalemer Predigt“ am 27. März 2008, online verfügbar unter: https://www.erzdioezese-wien.at/pages/inst/14428675/text/predigten/article/16150.html: „‚Europa hat dreimal Nein zu seiner eigenen Zukunft gesagt‘. Das erste Mal im Jahre 1968, wir feiern jetzt 40 Jahre, durch das Ablehnen von Humanae Vitae. Das zweite Mal im Jahre 1975, als die Abtreibungsgesetze Europa überschwemmt haben. Das dritte Mal zur Zukunft und zum Leben. Gerade gestern habe ich aus Österreich die Nachricht bekommen, dass die Regierung der homosexuellen Ehe zugestimmt hat, auch in Österreich: Das ist das dritte Nein. Und dies ist nicht zuerst eine moralische Sache, sondern eine Frage der Gegebenheiten, der Fakten: Europa ist im Begriff zu sterben, da es Nein zum Leben gesagt hat“. 10 Karl Wallner, Komm und sieh! Chancen und Bedingungen einer zeitgemäßen Berufungspastoral, in: Christoph Wölfle (Hg.), Wandlungen. Das Seminarjubiläum 2014 – Rückblick und Ausblick, Eichstätt 2016, 95–110, hier 107.

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sondern „Wegbereiter“11 für Christus, der der Kirche seine bleibende Gegenwart bis zum Ende der Zeiten zugesichert hat. 2.1.6 Gnadenfatalismus als falsche Frömmigkeit Auf der anderen Seite gibt es eine Art frommen Gnadenfatalismus in der Kirche mit der Haltung: „Da kann man nur noch beten!“ Diese frommen Selbstblockaden löschen den Geist aus, Menschen zu motivieren, Christus nachzufolgen. P. Karl Wallner hat dies einmal so formuliert: „Jesus aber hat die Jünger am Seeufer von Galiläa keineswegs niederknien lassen, um nur zu beten, sondern er hat sie auf den See zum Fischfang hinausgeschickt, um ihre Netze auszuwerfen: ‚Duc in altum!‘12 (Lk 5,6).“13 Hier gilt also auch das katholische et–et, das Sowohl-als-auch: Beten und die Netze auswerfen! Das heißt konkret, die Bitte des Herrn zu erfüllen: ­„Bittet und ihr werdet empfangen“ (Mt 7,7), aber zugleich natür­ liche ­Zugänge zu eröffnen, die helfen, Blockaden zu überwinden und einladend wirken. Diesen Zugängen wollen wir uns im nächsten Abschnitt zuwenden, um die vorhandenen Depressionen in der Kirche in Bezug auf Berufungsfindung zu überwinden.

2.2 Berufungsportale 2.2.1 Orte der Gottesbegegnung Wie Papst Benedikt bei seinem Besuch in Heiligenkreuz sagte, muss ein Kloster vor allem eines sein: „ein Ort der geistlichen Kraft“14 . In unserer rasend schnell sich wandelnden Gesellschaft ist es notwendig, solche Oasen aufzusuchen, die den Zugang zum „Quell des lebendigen Wassers“ (Jer 17,13), zu Jesus Christus erschließen. Was hier vom Kloster gesagt wird, kann im übertragenen Sinn für jede christliche Gemeinschaft gelten, angefangen in

11 Klaus Hemmerle, Nicht Nachlaßverwalter, sondern Wegbereiter. Klaus Hemmerle. Predigten 1993, Aachen 1994, vgl. Predigt: Nicht Nachlaßverwalter der Vergangenheit, sondern Wegbereiter der Zukunft, 107–114. 12 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben „Novo millennio ineunte“ Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. an die Bischöfe, den Klerus, die Ordensleute und an die Gläubigen zum Abschluss des Großen Jubiläums des Jahres 2000, in: VApSt 150, Art. 15. 13 Wallner, Komm und sieh! (Anm. 10), 110. 14 Benedikt XVI., In visitatione Abbatiae „Heiligenkreuz“, die 9 Septembris 2007, in: AAS 99 (2007: 10) 853–858, hier 856.

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der Familie über die Klöster bis hin zu den Pfarrgemeinden. Die Christen, die mitten in dieser Welt leben, müssen in Solidarität mit allen Notleidenden den anderen sagen können, wo diese geistlichen Ressourcen zu finden sind. Für uns ist das zuerst das lebendige und gelebte Wort Gottes wie auch die Begegnung mit Christus in den Sakramenten. Sie sind die Quellorte, die uns hinführen zum eigentlichen Quell der Liebe Gottes, zum geöffneten Herzen Jesu. Von Anfang an sind benediktinische Klöster Orte der lectio divina, der geistlichen Lesung, und seit dem 13. Jahrhundert ist ­unter dem Einfluss der zisterziensischen Frauenmystik die eucharistische Verehrung in unserem Orden wie in der Kirche gewachsen. Auch in Heiligenkreuz ist dieser Geist der Anbetung in den vergangenen Jahrzehnten noch intensiviert worden, u. a. auch durch den Einfluss des hl. Papstes Johannes Paul II. und der hei­ ligen Mutter Teresa von Kalkutta. Als sie vor fast 30 Jahren, am 15. März 1988, das Stift Heiligenkreuz besuchte, motivierte sie uns mit folgenden Worten: „Wenn wir auf das Kreuz schauen, erkennen wir, wie sehr uns Jesus geliebt hat. Aber wenn wir auf den Tabernakel schauen, erkennen wir, wie sehr er uns jetzt liebt. Bittet euren Pfarrer, euch die Freude der Anbetung zu geben – wenigstens einmal in der Woche, damit ihr allein mit Jesus mit ihm die Freude der Liebe teilen könnt. Von Jesus werdet ihr die Gnade und das schöne Geschenk einer Berufung für eure Kinder erhalten. Es ist ein schönes Geschenk von Gott an eine Familie, einen Priester als Sohn oder eine geweihte Jungfrau als Tochter zu haben. Gott hat unsere Kongregation mit vielen schönen Berufungen gesegnet. Das Ziel unserer Kongregation ist es, den Durst Jesu am Kreuz, den Durst nach Liebe, den Durst nach Seelen zu stillen.“15

„Experto crede“ – glaube dem, der es erfahren hat. Dieses Wort des hl. Bernhard, das er in seiner bildreichen Sprache vor allem auf Naturphänomene bezieht, in denen sich für ihn die Herrlichkeit Gottes offenbart, führt ihn immer wieder hin zur Begegnung mit Jesus Christus selbst, der in seiner Menschwerdung auf menschliche Weise ihm in ihm Wohnung und Heimat gibt. Im Amplexus hat die Kunst dieses Umarmt-Werden von der Liebe Gottes in

15 Mutter Teresa von Kalkutta, Ansprache am 15. März 1988 in Heiligenkreuz, in: Sancta Crux 49 (1988) 74.

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J­ esus Christus ausgedrückt. Kern dieser Erfahrungstheologie der Zisterzienser ist die Inkarnation des göttlichen Wortes.16 Dieses kann nicht einfach durch Wissen erfasst werden, sondern muss ganzheitlich erfahren werden. Weisheit ist für Bernhard nie einfach nur ein Wissen, sondern ein Verkosten des Geheimnisses Gottes, das sich nur dem öffnet, der es zu verkosten vermag. Wenn Bernhard zu seinen Mönchen sagt „Nec scientia, sed conscientia comprehendit“17 – wir könnten es frei übersetzen mit: Nicht das Wissen, sondern nur die ganzheitliche Erfahrung vermag Gott zu erfassen –, dann will er die „innere Betroffenheit, die Erhebung“18 , ja den „mystischen gustus an Gott“19 hervorheben. Gottes­erfahrung, Christusminne wie auch Schule der Liebe sind Charakteristika zisterziensischer Erfahrungstheologie. Wir brauchen also auch heute Räume der Gottesbegegnung und Gotteserfahrung, eine Erlebniswelt des Glaubens wie auch eine Atmosphäre, in der junge Menschen ganzheitlich das Wort Gottes als authentisch bezeugtes Wort, die Sakramente als lebendige Begegnung mit Christus und die Gemeinschaft als Ort des gemeinsamen Kreuztragens in der Erfüllung des Gesetzes Christi „einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2) erfahren. Im vergangenen Jahrhundert wurde das Unterscheidende des christlichen Glaubens von Karl Rahner als „unüberbietbare Selbst­ offenbarung Gottes“ und von Hans Urs von Balthasar als die „letzte Selbstpreisgabe Gottes“ in die menschliche Geschichte hinein ­charakterisiert. 20 Denn Gott hat den Menschen nicht, wie es Papst Benedikt XVI. in Heiligenkreuz formulierte, „in eine beängstigende Finsternis gesetzt“, wo er „verzweifelt den letzten Sinngrund ­suchen und ertasten müsste (vgl. Apg 17,27)“21, sondern er hat sich 16 Vgl. Denis Farkasfalvy, The Incarnation in Cistercian Spirituality, in: A letter from the Abbey, Dallas 2014, 2: Auf die Frage nach dem Kern der zisterziensischen ­Spiritualität antwortet der Altabt der Zisterzienserabtei „Our Lady of Dallas“, Denis Farkasfalvy OCist, dass weder die Benediktsregel noch die Demut noch die Marien­f römmigkeit diesen Kern darstellen, sondern „die Tatsache, dass Gott ‚Fleisch geworden‘ ist und ‚unter uns gewohnt‘ hat“ (eigene Übersetzung). 17 Bernhard von Clairvaux, Ad clericos de conversione Xlll.25, SW IV, 208 u. 210 (SBO IV, 99 f.). 18 Wallner, Komm und sieh! (Anm. 10), 115. 19 Ebd.; über den geistlichen „gustus“ vgl. Bernhard von Clairvaux, Ad Clericos de Conversione 25–27 (IV, 98–102). 20 Vgl. Wallner, Komm und sieh! (Anm. 10), 110. 21 Benedikt XVI., In visitatione Abbatiae „Heiligenkreuz“ (Anm. 14), hier 856.

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selbst offenbart in seinem menschgewordenen Sohn Jesus Christus. Ist diese Selbstoffenbarung Gottes nicht das überzeit­ liche Anti­depressivum gegen die Hoffnungslosigkeit unserer Zeit, die viele heute erfüllt aufgrund des Mangels an Berufungen? 2.2.2 Miserando atque eligendo Der Wahlspruch von Papst Franziskus – Aus Barmherzigkeit erwählt – ist entnommen einer Homilie des hl. Beda Venerabilis. 22 Diese Predigt, die das göttliche Erbarmen lobpreist, nimmt Bezug auf den Evangelisten Matthäus, der in seiner Berufung selbst erfahren hat, dass Jesus ihm voll Erbarmen begegnete und durch seinen erwählenden Blick in die Nachfolge rief. Am 21. September 1953, dem Fest des hl. Matthäus, erfuhr der 17-jährige Jorge Maria Bergoglio diesen zärtlichen Blick der barmherzigen Liebe Gottes, der auch ihn in das Ordensleben berufen hat. Er erkannte das Einbrechen Gottes in sein konkretes Leben. Eine solche Berufung würde der reformierte Theologe Karl Barth als „Einschlagtrichter“, als ein „Einbrechen Gottes“ „senkrecht von oben“23 bezeichnen. Dennoch behält der Berufene immer seine Freiheit, zu diesem Ruf sein eigenständiges „Adsum“, trotz seiner Erbärmlichkeit, zu sprechen. Gott erwählt also nicht das menschlich gesehen Perfekte, sondern – wie es Paulus ausdrückt – das Schwache, das Niedrige in der Welt und das Verachtete, „damit kein Mensch sich rühmen kann vor Gott“ (1 Kor 1,29). Denn in der Selbsterniedrigung erkennt der Mensch am besten die Größe Gottes, der sich in seinem Sohn total entäußert hat, Sklavengestalt annahm und gehorsam wurde bis zum Tod am Kreuz (vgl. Phil 2,7 f.). Nur wer dieses Geheimnis meditiert, versteht den Sinn der Nachfolge, die ihm eine kniende Theologie erschließt, weil sie auf Augenhöhe geht mit demjenigen, der sich selbst erniedrigt hat. In diesem Licht Christi wird er bereit, den Ruf Gottes anzunehmen, umzukehren und Schritt um Schritt ihm nachzufolgen. Diese Demut wächst aus der Weisheit des Kreuzes, die der Welt als Torheit erscheinen muss. Als zweites Antidepressivum nenne ich die Tatsache, dass Gott zu allen Zeiten Berufungen schenkt, auch in unserer Gegenwart. 22 Beda Venerabilis, hom. 21, in: CCL 122, 149–151. 23 Vgl. Karl Barth, Der Römerbrief, 1922, 2. Fassung, Band 2, hg. von Cornelis von der Kooi und Katja Tolstaja, Karl-Barth-Gesamtausgabe, 51, 77, 144, 191.

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Heute aber hat sich die Kirche gewandelt von einer Volkskirche zu einer Entscheidungskirche. Nicht mehr Tradition und die Selbstverständ­lich­keit gelebter Gläubigkeit bilden den Lebensraum für die Berufungs­ f indung, sondern häufig das überraschende Einbrechen der Gegenwart Gottes in die Biografie eines Menschen. Für junge Erwachsene werden deshalb Orte des alternativen Lebensstils immer attraktiver, wo der Glaube tatsächlich das Leben prägt und verwandelt. 2.2.3 Persönliche Begleitung und Gemeinschaft Als ich vor fast 40 Jahren ins Kloster ging, empfand ich die Klostermauern als wirkliches Claustrum, als eine in sich geschlossene Welt, zu der man schwer Zugang bekommt. Gott sei Dank entsprach dieser erste Eindruck aber nicht dem realen Innenleben unseres Klosters. Gerade die Begegnung mit Gleichaltrigen wie auch die persönliche Begleitung durch ältere Mitbrüder offenbarten mir eine Welt, in der Berufungen wachsen und sich festigen können. Das Beispiel der Mitbrüder war für mich sehr entscheidend, ein alternatives Leben nach den evangelischen Räten zu leben, ohne mich selbst als ein Hungerleider an Liebe zu empfinden. Diese soziale Komponente in einem Kloster bekommt dann erst ihre letzte Tiefe, wenn sie aus der Communio des dreieinigen Gottes lebt, die in der täglichen eucharistischen Kommunion ihren Höhepunkt erfährt. Der ganze Tagesablauf wie auch der Terminkalender bekommen im benediktinischen Leben ihre Prägung durch das heute oft vernach­lässigte „Gott zuerst!“ Wenn der hl. Benedikt in seiner Regel schreibt: „Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden“24 und „Der Liebe zu Christus ist nichts vorzuziehen“25, dann haben Chorgebet, Anbetung und lectio divina immer eine Vorrangstellung. Mitten im Alltag wird also zu ganz bestimmten Zeiten das Fenster zu Gott geöffnet, indem die Gemeinschaft zusammentrifft und stellvertretend für viele Gott lobt und preist. Dieser stellvertretende Dienst für die Kirche hilft auch dem Einzelnen, Schwierigkeiten und Wüstenerfahrungen zu bestehen, weil er durch den gelebten Glauben, die Hoffnung und die Liebe der anderen eine Stütze erfährt. In einer Zeit des egoistischen ­Individualismus, in der Gemeinschaftserfahrungen immer 24 RB 43,3. 25 RB 4,41.

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mehr ­abnehmen und nicht wenige Menschen in eine gefährliche Isolation abgleiten, wo sie vereinsamen und nur noch sich selbst sehen, ist es notwendig, Gemeinschaften so offenzuhalten, dass der Suchende den Zugang auch findet. Das dritte Antidepressivum besteht darin, die Erfahrbarkeit von Gemeinschaft und die Ermöglichung persönlicher Begleitung für jeden Einzelnen zu fördern. Zisterziensisch übersetzt heißt das: Porta patet, cor magis. – Die Pforte steht offen, noch mehr das Herz. Beim Letzteren schwingt immer auch die Barmherzigkeit mit. Sie ist das, worum jeder Einzelne bittet, wenn er bei der Einkleidung und bei der Profess am Boden liegend auf die Frage des Abtes: „Was begehrst du?“, antwortet: „Die Barmherzigkeit Gottes und des Ordens.“

3. Priesterberufungen in Heiligenkreuz 3.1 Ein zahlenmäßiger Überblick über die Studierenden an der Hochschule Nach Ende der Inskriptionsfrist für das Wintersemester 2017/18 sind 301 Studierende an unserer Hochschule immatrikuliert. 26 Diese Zahl scheint derzeit stabil zu sein. Als ich 1982 an die Hochschule kam, hatte sie nur etwa 40 Studenten. Im Jahre 1999 waren es bereits 62 Studierende und unter der Leitung von P. Karl Wallner OCist als Dekan und späterem Rektor der Hochschule haben wir mittlerweile mehr als 300 Studenten, die inskribiert sind. Von diesen sind 213 ordentliche Studierende der Fachtheologie. 39 sind außerordentliche Hörerinnen und Hörer, 49 sind im Gasthörerstatus. 163 Ordensleute bzw. Seminaristen aus verschiedenen Orden und Diözesen studieren an unserer Hochschule. Die übrigen 138 sind noch in einer Orientierungsphase. Von den derzeit 301 Studenten stammen 211 aus dem deutsch­ sprachigen Raum, davon 103 aus Österreich, 97 aus Deutschland und 11 aus der Schweiz. Insgesamt sind 32 Nationalitäten vertreten: Argentinien, Armenien, Belgien, Brasilien (4), Chile (2), China, Georgien, Großbritannien (2), Indien (11), Italien (8), Kamerun, Kroatien (3), 26 Philosophisch-Theologische Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz, Vorlesungsverzeichnis Sommersemsester 2018, Heiligenkreuz 2018, 69 f.

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Mexiko (3), Nicaragua, Nigeria (3), Philippinen, Polen (8), Slowakei (2), Slowenien, Sri Lanka, Tschechien (2), Türkei, Ukraine (6), Ungarn (3), USA (3), Venezuela (3), Vietnam (12), Weißrussland. Von den 301 angehenden Theologen sind 246 Studenten und 55 Studentinnen. Bei einer solch internationalen Zusammensetzung wird in Heiligenkreuz die Universalität der katholischen Kirche sichtbar: „In Heiligenkreuz ist Ausländerfeindlichkeit ein Fremdwort. Der Grund dafür ist schlicht ein theologischer: Die katholische Kirche kennt keine nationalen Grenzen, sondern nur ein Volk Gottes, ‚denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt‘ (1 Kor 12,13). Die Kirche ist – genau betrachtet – das fortwirkende Pfingstwunder; sie ist die Heimat aller Menschen, aller Sprachen, aller Rassen und Hautfarben.“27 In der Klausur unseres Klosters wohnen insgesamt 44 junge Mitbrüder, teilweise auch aus anderen Gemeinschaften, die an der Hochschule studieren. Das Überdiözesane Priesterseminar Leopoldinum beheimatet derzeit 37 Seminaristen bzw. Ordensleute. Interessant ist auch die Zusammensetzung der Seminaristen: Etwa die Hälfte sind sogenannte Spätberufene, die aus dem Berufsleben kommen „als Lehrer, Behördenleiter, Lokomotivführer, Krankenpfleger, Jurist, Opernsänger oder gar Schweizer Gardist“28. Die anderen werden nach der Matura (Abitur) von ihrem Ordinarius nach dem Propädeutikum bzw. nach dem Noviziat unserem Seminar anvertraut. 27 Studenten gehören zum Diözesanen Missionskolleg Redemptoris Mater und 13 sind Mitglieder der jungen Ordensgemeinschaft der Brüder Samariter in Kleinmariazell (17 km von Heiligenkreuz entfernt). Neben dem Überdiözesanen Priesterseminar unterstützen wir zwei kleine Studienhäuser im Gästehaus des Karmels Mayerling bzw. in Alland, die für Studenten in der Orientierungsphase gedacht sind.

27 Winfried Abel, Impressionen eines Altgedienten: Das Leopoldinum – Erfahrungen und Reflexionen, in: Anton Lässer (Hg.), Diener des Heils. Festschrift zum 40-JahrJubiläum des Priesterseminars Rudolphinum/Leopoldinum in Heiligenkreuz 1975– 2015, Heiligenkreuz 2015, 269. 28 Ebd.

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3.2 Ein Überblick über die derzeit studierenden jungen ­Mitbrüder des Stiftes Heiligenkreuz29 Betrachtet man die Herkunft unserer jungen Mitbrüder, so ist es auffallend, dass aus unserer klösterlichen Gemeinschaft derzeit folgende junge Mitbrüder noch im Magisterstudium sind: 9 Österreicher, 9 Deutsche, jeweils ein Mitbruder mit Wurzeln in Polen, Korea, Frankreich, Großbritannien, Russland und Spanien und je ein Mitbruder stammt aus Tschechien, Slowenien und Australien. Ähnlich bunt verhält es sich mit den Berufen: 9 Mitbrüder sind direkt nach der Matura bzw. dem Abitur nach Heiligenkreuz gekommen. Es gibt aber auch eine ganze Reihe, die mit Berufs­ erfahrung ins Kloster einsteigen. Dazu zählen: jeweils ein Sozialpädagoge, Master of Arts, Verwaltungsfachangestellter, Bäcker, Bibliothekar, Forstadjunkt, Industriekeramiker, Metallbauer, Juristen (Doktor beider Rechte), Buchhalter, Diplomingenieur für Bauingenieurwesen, Kunsthistoriker, Psychotherapeut, Verfahrensmechaniker und Zellbiologe. Sowohl die Internationalität als auch die Verschiedenheit in den Berufen sind Merkmale, die unseren Konvent seit vielen Jahren charakterisieren.

3.3 Gründe für ein solches Wachstum des Klosters Sehr oft werden wir gefragt: Wie macht ihr das? Oder: Weshalb habt ihr so viele Berufungen? Es ist nicht möglich, das Geheimnis der Berufungen bis ins Letzte aufzudecken. So können wir nur im Rückblick dankbar einige Fakten festhalten, die die Berufungssituation in unserer Abtei mit ihren Prioraten formt: Bereits 1982, als ich nach Heiligenkreuz gekommen bin, war unser Stift zahlenmäßig mit 42 Mönchen das größte in Österreich. Mittlerweile sind wir, mit Ausnahme von Vietnam, weltweit mit ca. 100 Mönchen die größte Abtei unseres Ordens. In Vietnam gibt es jedoch Abteien, die doppelt so groß sind wie Heiligenkreuz. Sie hatten in der kommunistischen Verfolgung oft viel zu leiden, so dass hier analog der Satz anzuwenden ist: „Das Blut der Märtyrer ist der Same der Christen.“ (Tertullian) 29 Hierbei rechnen wir nur diejenigen, die noch im Studium sind.

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Unser Altersdurchschnitt im Konvent ist unter 50, also niedriger als in den westlichen Gesellschaften. Folgende Gründe für die ­v ielen Berufungen in den vergangenen Jahrzehnten können aufgezählt werden: Die Feier der Liturgie nach den Bestimmungen des II. Vatikanischen Konzils. Das heißt wir feiern in Heiligenkreuz die hl. Messe nach dem neuen Römischen Missale. Ein weiterer Hauptgrund ist sicher auch die Pflege des gregorianischen Chorals in der zisterziensischen Fassung. Wir hatten den Mut, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein neues lateinisches monastisches Brevier zu schaffen. Den Anstoß dazu gab der Diener Gottes, unser verstorbener Abt Karl Braunstorfer, der als Abtpräses der Österreichischen Zister­zienser­kongregation zugleich auch Konzilsvater des II. Vatikanums von 1962 bis 65 gewesen ist. In einer sehr turbulenten Zeit verstand er es, den Konvent zusammenzuhalten und mit seinem Nachfolger – Abt Franz Gaumannmüller – eine klare Struktur von ora et labora et lege zu geben. Ein weiterer Grund für das Wachstum ist die Offenheit unseres Hauses für Gäste, für Suchende und für Jugendliche, die Kloster auf Zeit machen wollen. Hierbei gilt der benediktinische Grundsatz: „Alle Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus; denn er wird sagen: ‚Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.‘“30 Entscheidend ist sicher auch der Zusammenhalt unserer Gemeinschaft, die bei aller Verschiedenheit nicht auseinanderfällt in gegensätzliche Parteiungen. In unserem Haus versuchen wir in der Tat das zu leben, was Paulus den Galatern schreibt: „Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Gal 6,2) Dies entspricht ganz der marianischen Prägung unseres Ordens, in dem die Gottesmutter als Patronin und Mutter der Kirche in besonderer Weise verehrt wird, geprägt auch durch die Ordens­väter, Alberich von Citeaux und Bernhard von Clairvaux. Wir haben ihr auch unsere Hochschule anempfohlen, die selbst ein Magnet ist für Menschen auf der Suche nach ihrer Berufung: 1975, zehn Jahre nach dem Ende des Konzils, beschloss Heiligenkreuz, die bisherige Hauslehranstalt zur Hochschule auszu-

30 RB 53,1.

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bauen. In ihrer Fokussierung auf die Priesterausbildung ist sie eine wichtige Säule für unsere Berufungen und verbindet fides et ratio  – Wissenschaft und Gottverlangen, klösterliche Ordnung und Studienbetrieb, monastische und pastorale Ausrichtung, Medienkompetenz und missionarische Freude. Die heutigen Studierenden wollen nicht nur ein intellektuelles Studium, sondern sie suchen das „Gesamtpackage einer Lebens- und Glaubenswelt“31. Als ich eintrat, hat es mich sehr berührt, Professoren zu erleben, die fachliche Qualifikation als Lehrende und priesterliche Hirtensorge miteinander verbanden. Ich konnte es mir, von der Universität kommend, kaum vorstellen, dass ein Professor gemeinsam mit den Studenten den Rosenkranz betet, eucharistische Anbetung hält oder sich selbst zum Beichten anstellt.

4. Konkrete Möglichkeiten der Berufungsfindung in veränderter Zeit 4.1 Pflanzbeete Die missionarische Begeisterung unseres Papstes hat viele Menschen in den vergangenen fünf Jahren ergriffen. Wir brauchen heute ein großes Engagement und sensible Flexibilität, um Berufungen zu fördern. „Weil das frühere ‚Vorfeld‘ von Berufung nicht mehr intakt ist, sind wir gleichsam eingeladen, solche Pflanzbeete zu schaffen. Weil die Nachfolge Christi in Pfarrei und Familie nicht mehr oder zu wenig erlebt werden kann, müssen wir ‚Räume‘ und ‚Milieus‘ für die Menschen schaffen. Gerade hier haben unsere monastischen Gemeinschaften eine große Chance.“32 So schreibt P. Karl Wallner OCist aus seiner Langzeiterfahrung als Professor und Rektor der Hochschule. Wir brauchen also einladende Zugänge und Türen für geistliche Berufungen wie auch eine neue Wertschätzung der Besonderheit der zölibatären Berufungen, die um des Himmelreiches willen die Evangelischen Räte leben.

31 Wallner, Komm und sieh! (Anm. 10), 107. 32 Ebd., 116.

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4.2 Zehn-Punkte-Katalog Schon vor 20 Jahren erstellte ich als Novizenmeister und Prior einen 10-Punkte-Katalog, wie junge Menschen in unserer postchristlichen und multikulturellen Gesellschaft, die zugleich von einer nicht zu unterschätzenden Gleichgültigkeit oder Ablehnung dem Kirchlichen gegenüber geprägt ist, den Weg ins Kloster finden können. Auch wenn die mediale Welt heute davon lebt, die Menschen mehr zu unterhalten als zu bilden, so ist sie dennoch auch für die Berufungspastoral nicht zu unterschätzen. Es gibt die Gefahr der Banalisierung: Priestersein ist nicht einfach eine Dienstleistung auf Zeit. Der Glaube ist kein Konsumgut. Der 2003 verstorbene neomarxistische Philosoph Milan Machovec, der den Dialog zwischen Marxismus und Christentum vorantrieb, stellte schon vor Jahrzehnten fest, dass das Opium für das Volk nicht die Religion, sondern heute der Flachsinn sei, die Banalität. Mittlerweile aber scheint ein Umdenken in der jungen Generation aufzukeimen, das wieder neu nach dem Sinn und dem Ziel der eigenen Existenz fragt. Dieses Umdenken dürfen wir als Kirche nicht unbeantwortet lassen. Entscheidend ist die Authentizität, d. h. ob geistliche Berufungen auch glaubwürdig gelebt werden, so dass sie durch ihre Existenz Zeugnis ablegen für die Hoffnung, die sie erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15) im Kontext der unterschiedlichen Milieus junger Menschen und gesellschaftlicher und geistlicher Entwicklungen. Die folgenden 10 konkreten Punkte scheinen mir nach wie vor hilfreich, wenn es um Berufungspastoral geht 33 : 1. Präsenz in der virtuellen Welt der Jugendlichen durch Internetplattformen wie Facebook, Twitter, YouTube, The Monastic Channel. 2. Medienarbeit z. B. durch eine gut gepflegte Homepage (täglich ca. 1000 Besucher) als wichtigste „Pforte“ für die Erstinformation; CD-Aufnahmen (Chant); Aufbau eines Medienzentrums, um Studierende für ein Medienapostolat auszubilden. 3. Die faszinierende Welt des gregorianischen Chorals.

33 Vgl. Maximilian Heim, Heute monastisch leben, in: Andreas Redtenbacher, Joachim Schmiedl (Hg.), Wind of Change. Orden am Beginn des dritten Jahrtausends, Freiburg i. Br. 2016, 100 f.

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4. Priorität des Gottesdienstes: „Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden.“34 5. „Kloster auf Zeit“ mit persönlicher Begleitung des Einzelnen: Aufgeschlossenheit des Klosters im eigentlichen Sinn! 6. Kar- und Ostertage für junge Männer (Einbindung in die Liturgie); „Silvester alternativ“; „Geistliche Sportwoche“. 7. Jugendvigil: monatlich am Herz-Jesu-Freitag; jugendgemäße Gestaltung. Ca: 250–300 Jugendliche. 8. Begleitung von Wallfahrten (z. B. Lourdes); 3 Monatswallfahrten im Stiftsbereich; Exerzitien; Einkehrtage; Führungen für Jugendliche; Gästebetreuung; Vernetzung mit geistlichen Bewegungen, die die Weltjugendtage fördern. 9. Gebet um geistliche Berufe: eucharistische Anbetung; Novenen; täglicher Rosenkranz in der Kreuzkirche; Anbetungs­ kapelle als einladender Ort der Stille. 10. Phil.-Theol. Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz als geistig-geistliches Biotop. Bauliche Investitionen für den Nachwuchs, die von Zukunftshoffnung zeugen. Unsere Klöster, Seminarien, geistlichen Gemeinschaften, Hochschulen und kirchlichen Fakultäten müssen, wenn sie überleben wollen, bewässerte Pflanzstätten des Glaubens werden in ihrer je spezifischen Eigenart. Vor allem Klöster dürfen keine Wehrburgen sein, die sich abkapseln, sondern geistig-­geistliche Oasen, wo die Menschen auftanken können. Nur so können die Einzelnen wie die Gemeinschaft zum Brunnen lebendigen Wassers werden, wenn sie selbst zunächst ihre Schalen von der Gnade Gottes füllen lassen und in der Verbindung mit der Quelle überfließen von dem, was sie aus sich selbst nicht geben können. 35

5. Schlusswort Wir haben keinen Grund, immerzu nur Hiobsbotschaften zu verkünden, Trauermärsche zu spielen und Klagelieder anzustimmen. 34 RB 43,3. 35 Vgl. Joh 4,1–42; siehe auch Bernhard von Clairvaux: Die Liebe „muss heimfließen zu ihrem Quell und immerfort aus ihm schöpfen, um immerfort strömen zu können“ (Predigten über das Hohe Lied [Predigt Nr. 43]).

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Wir haben die Botschaft von der Auferstehung, von der Freude und von der Hoffnung zu verkünden. So können wir bei allem, was uns beschwert – und trotz mancher eher pessimistisch anmutenden Prognosen – zuversichtlich in die Zukunft blicken. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die Kirche den Aufbruch in eine neue Zeit gewagt. Damit stehen wir erst am Anfang. Niemand konnte realistischerweise erwarten, dass dies ein bequemer Spaziergang sein würde. Doch der Dienst des Mönches und des Priesters ist – bei allem, was als Kreuz ganz selbstverständlich dazugehört – schon jetzt vom verklärenden Licht der Auferstehung umstrahlt. Mit der österlichen Botschaft kann er Orientierung, Licht, Trost, Zuversicht, Hoffnung und Freude in das Leben vieler Menschen bringen. Er soll bezeugen: „Die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ (Neh 8,10)

Zur Lage der Kirche in Deutschland Über fünf Wunden Karl-Heinz Menke

Antonio Rosmini-Serbati, von Papst Benedikt XVI. am 18. 11. 2007 seliggesprochen, ist nicht nur durch seine großen philosophischen und theologischen Werke bekannt geworden. Sein meistgelesenes Buch ist eine 1832 verfasste Streitschrift mit dem bezeichnenden Titel „Über die fünf Wunden der heiligen Kirche“1. Rosmini hat den Zusammenbruch des Kirchenstaates vorausgesehen und eine Entweltlichung der Kirche angemahnt. Die Kirche, so betonte er, ist in ähnlicher Weise wahrer Leib Christi wie der eucharistische Leib. Wer die Kirche verwundet, verwundet den Leib Christi. Rosmini war überzeugt: Jede Wunde der Kirche wurzelt in ihrer Beziehung zu Christus. Unter den fünf Wunden, die er benennt, sind die mangelnde theologische Bildung des Klerus, die Uneinigkeit der Bischöfe und die Korrumpierung der Kirche durch materiellen Reichtum. Natürlich ist die Situation der Kirche im gegenwärtigen Deutschland nicht mit der im Italien des 19. Jahrhunderts vergleichbar. Aber eines sollte man von Rosmini lernen: Jede Krise der Kirche wurzelt in ihrer Beziehung zu Christus. Das gilt ganz sicher auch von der tief verwundeten Kirche in Deutschland. Man darf bezweifeln, dass sich die Mehrheit der deutschen Bischöfe dieser Tatsache bewusst ist. Andernfalls würden die Themen des ‚Synodalen Weges‘, den sie 1 Antonio Rosmini, Delle cinque piaghe della Santa Chiesa (Edizione critica 56), hg. von Alfeo Valle, Roma 1981. – Deutsche Fassung: Die fünf Wunden der Kirche, eingeleitet und herausgegeben von Clemente Riva, übertragen von Erbes, Peter I., Paderborn 1971.

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ihrer Kirche verordnet haben, anders lauten. Denn es geht nicht um die Verteilung von Macht, sondern um die Rückbindung aller in der Kirche ausgeübten Vollmacht und Jurisdiktion an Christus. Und mit Präventionsmaßnahmen gegen den Missbrauch des Amtes ist es nicht getan; es geht um die Anbindung der ‚Geistlichen‘ an Christus – nicht zuletzt durch eine ‚Entwelt­lichung‘ ihrer Lebensweise. Denn es besteht ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen den evangelischen Räten und der ‚Ent-­Eignung‘ der Geweihten durch Christus. Es geht nicht um die Anpassung des Ordo-Sakramentes an die zu Recht auf allen Gesellschaftsebenen eingeforderte Geschlechtergerechtigkeit, sondern um die Wiedererlangung des sakramentalen Denkens, um den Zusammenhang von Schöpfungs- und Erlösungsordnung und um den Unterschied zwischen dem besonderen und dem gemeinsamen Priestertum. Es geht nicht um Anpassungen der kirchlichen Sexual­moral an das Sexualverhalten der statistischen Mehrheit, sondern um die Fähigkeit des Menschen, seine Triebe ordnen und beherrschen zu können, sie der Achtung des Anderen und dem Warten auf ihn unterordnen und unbedingte Treue leben zu können.

1. Die tiefste Wunde: Desinkarniertes Christentum Jesus ist für die wahrscheinlich meisten Christen in Deutschland nicht viel mehr als der Mittler einer Botschaft, die man von ihm selbst trennen kann. Vieles von dem, was Jesus gesagt hat, lässt sich – so die gängige Meinung – aktualisieren oder mit anderen Botschaften so kombinieren, dass immer noch eine gewisse Bedeutung bleibt. Der historische Jesus ist dann nicht mehr die Offenbarkeit Gottes selbst in Raum und Zeit; nicht mehr „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) für alle Menschen aller Zeiten, sondern bestenfalls einer unter anderen Wegweisern und Weisheitslehrern. Doch: Wenn der historische Jesus nicht die Gemeinschaft mit Gott ist; wenn sich der Sinn von Welt und Geschichte nicht an ihm ablesen lässt, dann ist das zentrale Dogma des christlichen Glaubensbekenntnisses von der Fleischwerdung des göttlichen Logos nur noch Mythos oder Chiffre – kompatibel mit den Wahrheitsansprüchen anderer Religionen. Hans Urs von Balthasar – mehr als andere sensibel für den Zeitgeist – hat die Krise der Gegenwart vorausgeahnt. Im Zentrum

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s­ einer unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Vatikanischen Konzils veröffentlichten Protestschrift „Cordula oder der Ernstfall“ steht ein fingierter Dialog zwischen einem kommunistischen Kommissar und einem „modern gewordenen“ Christen. Der Dialog ist mit der vielsagenden Überschrift versehen: „Wenn das Salz dumm wird“2 . Hier eine stark verkürzte, aber m. E. doch sinngemäße Kurzfassung: Der Kommissar geht auf den Christen zu und sagt: „Dein Christentum, was ist das eigentlich?“ Der Christ antwortet beflissen: „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, das ist christlich.“ Der Kommissar: „Ach, endlich seid ihr auch so weit? Und wie ist es mit Darwin und der Evolution?“ Der Christ antwortet: „Auch ich bin überzeugt, dass der Mensch vom Affen abstammt.“ Der Kommissar: „Na prima. besser zu spät als gar nicht. Aber da ist doch noch dieser Jesus.“ Der Christ: „Ja, aber wir glauben weniger an den historischen Jesus als an den Christus des Kerygmas.“ Der Kommissar ärgerlich: „Was ist das denn? Chinesisch?“ Der Christ: „Nein. Griechisch. Gemeint ist das Sprachereignis. Es kommt darauf an, dass man davon betroffen wird. Das war jedenfalls die Erfahrung der Urgemeinde.“ Der Kommissar: „Das reicht. Dein Geschwätz ist ungefährlich. Idioten hat es immer gegeben; die muss man nicht erschießen.“ Die Wahrheit des Christentums – so Balthasar in seinem Kommentar – ist keine Idee, keine Theorie, kein Ethos à la „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“; auch keine Moral oder ein Kerygma, das betroffen macht; sondern die Wahrheit des Christentums ist der historische Jesus. Das Christentum steht oder fällt mit dem Glauben an die Inkarnation Gottes. Ein Christ, der diesen Namen verdient, glaubt, dass er sein Dasein in erster Linie nicht dem Spiel der Umstände, angefangen vom Urknall bis heute, sondern einer genau auf dieses Dasein zielenden ewigen Absicht verdankt; glaubt, dass sich einmal in der Geschichte des Universums, nämlich vor 2000 Jahren, an einem wenig prominenten Ort dieses Planeten das schlechthin Inkommensurable ereignet hat, nämlich das Auftauchen des Ursprungs aller Dinge mitten unter diesen Dingen in Raum und Zeit. Ein Christ, der die Inkarnation Gottes glaubt, ist überzeugt, dass bestimmte Stücke Brot sich von anderen dadurch unterscheiden, dass sie in Wirklichkeit der 2 Hans Urs von Balthasar, Cordula oder der Ernstfall (Kriterien 2), Einsiedeln 1966, 110–112.

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­auferstandene Leib dieses Menschen sind. Und: Wer Jesus als den Christus bekennt, betrachtet sein irdisches Leben als bloßen Auftakt eines ewigen Lebens, so dass die Leiden dieser Zeit, wie Paulus sagt, kaum der Rede wert sind im Vergleich zu dem, was danach erwartet wird (Röm 8,18). Er glaubt, dass trotzdem in der kurzen Zeit des irdischen Lebens die endgültige Entscheidung darüber fällt, ob sein endgültiges Leben ein Leben bei Gott oder getrennt von ihm ist (Phil 2,13). Er glaubt, dass der Kreuzestod Jesu vor 2000 Jahren jeder Sünde jedes Menschen die Macht genommen hat, den Sünder von Gott zu trennen, jedenfalls dann, wenn er ehrlich bereut und um Vergebung bittet. 3 Die genannten Inhalte des christlichen Inkarnationsglaubens widersprechen weder der philosophischen, noch der naturwissenschaftlichen Vernunft, was aber nicht heißt, dass die Mehrheit der deutschen Katholiken sie für wahr hält. Die meisten Zeitgenossen sehen die Zukunft des Christentums in dessen Enthistorisierung oder – positiv formuliert – in den Versuchen, die es auf eine allgemein-menschliche Grundlage stellen. Es gibt zahlreiche Spiel­arten der Reduktion alles geschichtlich Bedingten auf die angeblich allen Menschen gemeinsamen Erfahrungen des Transzendenten: Im deutschen Sprachraum am wirkmächtigsten sind die Pluralistische Religionstheologie (PRT) und Küngs Projekt ‚Weltethos‘. Die nichtchristlichen Religionen sind von der Relativierung alles Geschichtlichen und Konkreten nicht annähernd so betroffen wie das Christentum. Denn nur das Christentum identifiziert den Logos des Ganzen mit einer historischen Wirklichkeit. Christen verorten das Ganze von Sinn nicht außerhalb von Raum und Zeit oder in einem alles Endliche transzendierenden Eschaton, sondern in den dreiunddreißig Jahren des Lebens und Sterbens Jesu. Jesus Christus ist, wie Paulus sagt, nicht der Anfang oder das Ende oder das Jenseits, sondern die Fülle aller Zeit. Es ist kein Zufall, dass zuerst und vor allem deutsche Protestanten den Jesus der Geschichte vom Christus des Glaubens getrennt haben. Denn mit der Aufklärung zerbrach die altprotestantische Illusion, dass der historische Jesus quasi identisch sei mit der Heiligen Schrift. Der Versuch der historisch-kritischen Rückfrage nach dem ‚Jesus an sich‘ hat inzwischen ganze Bibliotheken gefüllt 3 Vgl. Robert Spaemann, Christliche Spiritualität und pluralistische Normalität, in: IkaZ 16 (1997) 163–170.

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und ist doch durchgängig gescheitert. Denn es gibt kein ungedeutetes Faktum. Wenn die Kirche nicht Subjekt der Kanonisierung bestimmter Jesus-Zeugnisse und also auch Subjekt der Unterscheidung wahrer von falschen Jesus-Interpretationen ist, bleibt die Wahrheit Jesu unter den vielen Christusbildern seiner Interpreten begraben. Bis zur Aufklärung haben fast alle protestantischen Theologen vorausgesetzt, dass sich der historische Jesus gleichsam selbst in den neutestamentlichen Zeugnissen interpretiert. Aber diese Illusion lässt sich nach inzwischen vier Wellen der Leben-Jesu-Forschung und nach unzähligen Spaltungen des Protestantismus nicht aufrechterhalten. Es sind vor allem deutsche Protestanten, die sich gegen jede in Sätze gefasste Bekenntniseinheit wenden. Denn diese setzt, wie gesagt, eine Instanz voraus, die wahre von falschen Jesus-­ Interpretationen trennen kann. Wo es diese Instanz (die als ‚Sakrament‘ verstandene Kirche) nicht gibt, gibt es nur noch den garstig breiten Graben zwischen Faktum und Deutung, zwischen der ‚Wahrheit an sich‘ und der ‚Wahrheit für mich‘. Jesus ist dann nur noch der Katalysator einer Wirkungsgeschichte; nur noch der Auslöser einer Unzahl von Interpretationen oder Bildern, nicht aber die personale Offenbarkeit des göttlichen Logos. Was aus der Dissoziation von Geschichte und Wahrheit folgt, haben nach Lessing und Kant auch Hegel und Schopenhauer auf je ihre Weise ausgedrückt. Aus Hegels Sicht hat das Christentum nur dann eine Zukunft, wenn das, was an ihm zeitlich bedingt (Historie) ist, in die Zeitlosigkeit allgemein plausibler Begriffe aufgehoben wird. Schopenhauer ist derselben Ansicht, hält aber Hegels Vision für eine Utopie. Deshalb seine zynische Bemerkung: „Eine Religion, die zu ihrem Fundament eine einzelne Begebenheit hat, ja aus dieser, die sich da und da, dann und dann zugetragen hat, den Wendepunkt der Welt und allen Daseins machen will, hat ein so schwaches Fundament in der allen Menschen gemeinsamen Vernunft, dass sie unmöglich bestehen kann, sobald einiges Nachdenken unter die Leute gekommen ist.“4 Eine fortschreitende Desinkarnierung des Christentums ist gewiss kein nur auf Deutschland beschränktes Phänomen. Aber in Deutschland ist ‚diese Verwundung der Kirche‘ weiter fortgeschrit-

4 Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Bd. II, Frankfurt 1986, § 182.

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ten als anderswo. Das erklärt sich vor allem durch die fast pari­ tätische Bikonfessionalität. Alles, was innerhalb des deutschen Protestantismus gedacht und praktiziert wird, hat einen kaum überschätzbaren Einfluss auch auf das Denken und die Praxis der Katholiken – seit dem Zweiten Vatikanum eher in Gestalt von Anpassungen als in Gestalt von Abgrenzungen. Da ist die LebenJesu-Forschung mit ihrer Trennung des Jesus der Geschichte vom Christus der Kirche. Da ist die Pluralistische Religionstheologie mit ihren Neuauflagen von Harnacks Hellenisierungsthese. Und da sind die vielen ‚Geistchristologien‘, die Jesus zu einem unter anderen ‚Großphänomenen‘ des Heiligen Geistes erklären. Der protestantische Protest gegen das von Papst Johannes Paul II. zur Jahrtausendwende promulgierte Dokument ‚Dominus Iesus‘ war bezeichnenderweise nirgendwo so heftig wie in Deutschland. Dieser Protest ist symptomatisch für eine Desinkarnierung des christlichen Glaubens, die längst auch auf die katholische Kirche übergreift.

2. Eine zweite Wunde: Die Dissoziation von Kreuz und Erlösung Mit der Abstraktion der Wahrheit von der Geschichte, mit der Trennung des geglaubten Christus vom historischen Jesus ist eng verknüpft die Dissoziation von Erlösung und Kreuz. Im deutschen Sprachraum nimmt die Zahl der Theologinnen und Theologen zu, die von der Vergiftung des Christentums durch die augustinische Erbsündenlehre sprechen. Sie betonen, dass das Inkarnationsereignis nicht die Antwort Gottes auf den Sündenfall und die universal gewordene Sünde sei, sondern auch dann stattgefunden hätte, wenn kein Mensch gesündigt hätte. Das ist zunächst einmal nichts Neues. Schon Thomas von Aquin war der Auffassung, dass Gott auch dann Mensch geworden wäre, wenn niemand gesündigt hätte. Aber Thomas betont, dass der Inkarnierte zum gekreuzigten Erlöser werden musste, um die Macht der Sünde zu besiegen. Die besagten Theologen5 hingegen beschreiben das Inkarnationsereignis als bloße Aufgipfelung der alttestamentlich bezeugten 5 Mit besonderer Zuspitzung: Magnus Striet, Erlösung durch den Opfertod Jesu?, in: Erlösung auf Golgota? Der Opfertod Jesu im Streit der Interpretationen (Theologie

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Heilsgeschichte. Sie sprechen von immer neuen Initiativen der Barmherzigkeit Gottes. Und wenn Gott selbst in Christus dahin gekommen ist, wo der Mensch ist, dann aus ihrer Sicht nicht, um den Sünder mit Gott zu versöhnen, sondern um ihm angesichts all des Leids, das er auszuhalten hat, Hoffnung zu geben. Kurzum: Hier erscheint das Golgothageschehen nicht als Antwort auf die Sünde, sondern als Antwort auf die Theodizeefrage! Wer die Auferweckung Jesu durch den Vater glauben kann, darf – so erklärt Hans Kessler6 – auch für sich selbst auf Möglichkeiten Gottes setzen, obwohl er selbst keine Möglichkeiten mehr hat. Mit anderen Worten: Jesus hat mit dem Ostergeschehen nicht für alle Menschen aller Zeiten die von Gott trennende Macht der Sünde besiegt, sondern uns Grund zur Hoffnung wider alle Hoffnungs­ losigkeit gegeben. So betrachtet ist der historische Jesus bzw. das historische Kreuz nicht heilsnotwendig, sondern nur Mittler einer Hoffnungsbotschaft (des Evangeliums). Dass der historische Jesus vor zweitausend Jahren in Raum und Zeit etwas vollbracht hat, was die Situation aller Menschen aller Zeiten grundlegend verändert hat, glaubt vermutlich nur noch eine Minderheit der deutschen Katholiken. Viele meinen, Ostern würde die Christenheit feiern, dass der physische Tod nicht das letzte Wort habe. Aber um diese Hoffnung zu vermitteln, bedarf es nicht des Dramas zwischen Bethlehem und Golgotha. Dass es nach dem physischen Tod weitergeht, glauben die Angehörigen fast aller Religionen. Das Judentum aber unterscheidet zwischen dem uneigentlichen (physischen) Tod und dem eigentlichen Tod der Trennung von Gott. Das Judentum zurzeit Jesu war überzeugt, dass die Sünde eine vom Menschen geschaffene Wirklichkeit ist; und dass der Sünder sich nicht selbst von seiner Sünde trennen kann; und dass deshalb nicht nur die Sünde, sondern auch der Sünder „das von Gott Getrennte“ (die ‚Sheol‘) ist. Nur weil der historische Jesus die Anwesenheit Gottes selbst in Raum und Zeit war, ist mit ihm Gott selbst an den ‚Ort‘ der Sünde und

kontrovers), herausgegeben von Magnus Striet und Jan-Heiner Tück, Freiburg 2012, 11–31; Ottmar Fuchs, Der zerrissene Gott. Das trinitarische Gottesbild in den Brüchen der Welt, Mainz 2014, 45–80. 6 Vgl. Hans Kessler, Sucht den Lebenden nicht bei den Toten. Die Auferstehung Jesu Christi in biblischer, fundamentaltheologischer und systematischer Sicht. Neuausgabe mit ausführlicher Erörterung der aktuellen Frage, Würzburg 1995, 99–108.367– 370.

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des Sünders (in die ‚Sheol‘) gelangt. Ostern feiern Christen die Aufhebung der ‚Sheol‘. Denn seit Ostern hat keine Sünde mehr die Macht, den Sünder von Gott zu trennen – jedenfalls dann nicht, wenn er die bis in die tiefste Tiefe reichende Hand des Gekreuzigten und Auferstandenen ergreift. Ewiges Leben ist Gemeinschaft mit dem zum Vater erhöhten Jesus. Wenn das Golgothageschehen nur ein Offenbarungsgeschehen, nicht aber die Besiegung der von Gott trennenden Macht der Sünde und also Sühne bzw. Versöhnung war, dann ist natürlich auch die Inklusion der Christus-Gläubigen in sein Opfer überflüssig. Es geht dann im Geschehen von Inkarnation, Kreuz und Auferweckung gar nicht um die Sühne der Sünde, sondern nur um die Offenbarung der unbedingten Liebe Gottes. Wer die glaubt, ist gerechtfertigt. Er muss deshalb nicht seine Sünden bekennen, sich im Beichtstuhl verdemütigen oder gar sich eingestalten lassen in das Für-Leiden Jesu Christi. Leere Beichtstühle und die fast vollständige Verdrängung des Opfergedankens aus dem real existierenden Christentum sind die Folgen. Zweifelsohne: „Der Opfertod Jesu Christi ist vielfältig ideologisch mißbraucht worden: Den sogenannten Opfertod für’s Vaterland hat man immer wieder mit dem Zeichen des Kreuzes in Verbindung gebracht (Gefallenendenkmäler). Unterschiedliche Arten von Zumutungen (seitens der jeweiligen Vorgesetzten gegenüber den jeweiligen Untergebenen) wurden immer wieder damit motiviert, dass Nachfolge Jesu eben Opfermentalität bedeute. Mit dieser Begründung meinte man anderen ständiges Verzichten auf ­alles zumuten zu dürfen. Sehr häufig hat man Frauen als für die Opferrolle prädestiniert angesehen. Sie opferten Mann und Kinder dem ‚Volk‘, ihre berufliche Karriere dem Mann und der Familie und die Möglichkeit zu Sozialkontakten dem ‚Haus‘. Kurzum: Im Leben einer Frau gab (und gibt) es tausend Möglichkeiten zu opfern. […Im Namen der] Opferidee […] wird der Verzicht auf Veränderung und darauf, größere Freiheiten zu erringen, nahegelegt. Opfern heißt dann: Verzicht auf Selbstverwirklichung und Dasein nur für andere“.7 Zweifelsohne: Es gibt die Instrumentalisierung der Opferidee. Aber: Gerade sie wird doch – wie z. B. der französische Religions-

7 Klaus Berger, Wozu ist Jesus am Kreuz gestorben?, Stuttgart 1998, 71 f.

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soziologe René Girard in allen seinen Werken erweist – von Jesus Christus demaskiert und denunziert. Jesus Christus ist es doch, der nicht andere zu Opfern macht, sondern sich selbst opfert. Allerdings hat der Soziologe Girard – aus theologischer Sicht – unterschlagen, dass der biblisch bezeugte Gott auch als der sich selbst hingebende der Bundes-Gott bleibt. Denn Christus degradiert seine Adressaten nicht zu passiven Empfängern, sondern er erhebt sie zu Gebern dessen, was er ihnen schenkt. Eben deshalb ist jede Eucharistiefeier nicht nur ein Geschenk an die Empfänger, sondern auch deren Eingestaltung in die gekreuzigte Liebe (in das Selbstopfer) des Schenkenden. Andernfalls wären ein Maximilian Kolbe, eine Edith Stein oder eine Mutter Theresa Symptome einer das irdische Leben verachtenden und mit dem Himmel vertröstenden Ausbeutung der Dummen. Andernfalls hätte Herbert Schnädelbach recht gehabt, als er zur Jahrtausendwende den „Fluch des Christentums“ mit der Aufzählung von sieben Todsünden beschrieb8 – aus seiner Sicht allesamt bedingt durch eine Kreuzestheologie, die dem Menschen ein schlechtes Gewissen einredet, ihn zur Kompensation seiner Sünde durch Sühne auffordert und in der Kreuzesnachfolge um sein Glück bringt.

3. Eine dritte Wunde: Die Verdunstung des sakramentalen Denkens Postmoderne Philosophen beschwören die Ethik der Differenz, d. h. sie plädieren für eine voraussetzungslose Wahrnehmung jeder Singularität und wenden sich deshalb gegen jedes Repräsentationsdenken. Wenn ein Seiendes – so ihre Begründung – ein anderes Seiendes „repräsentiert“, dann wird es selbst nicht mehr in seiner unauslotbaren Andersheit (Differenz) wahrgenommen. Aus postmoderner Perspektive besonders verwerflich ist das sakramentale Repräsentationsdenken. Denn dieses steht für ein holistisches System, in dem der Kosmos insgesamt und jedes einzelne Seiende in ihm Repräsentation des göttlichen Logos und deshalb – wie die Scholastiker folgern – immer schon wahr, schön und gut 8 Herbert Schnädelbach, Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion. Eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren, in: Die Zeit 2 (2000) 6–12.

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ist. Nach Auschwitz – so betonen viele Vertreter der postmodernen Phänomenologie – sollte auch der letzte Metaphysiker bemerken, dass seine Begriffe (z. B. „wahr“, „gut“ und „schön“) und Theorien der faktischen Wirklichkeit nicht gerecht werden, sondern eher zynisch wirken. Die Revolution des Denkens, die mit dem 20. Jahrhundert einsetzt, findet ihren Protagonisten in dem neben Hegel teutonischsten aller deutschen Philosophen: Friedrich Nietzsche (1844–1900). Er sieht die ‚origo omnium malorum‘ in der Unterscheidung zwischen dem, was man empirisch als Tatsache beschreiben kann, und der höheren oder eigentlichen Bedeutung, die man der Tatsache überstülpt. Judentum und Christentum – so beklagt er – sind die wirkungsgeschichtlich erfolgreichsten Erfinder einer „Welt der Eigentlichkeit“. Nietzsche spricht vom „Platonismus für’s ‚Volk‘“9 und denkt dabei an Menschen, die nach „Sinn“ und „Bedeutung“ fragen, wo ein Tier einfach seinem Trieb folgt. Wenn ein Mensch beginnt, die faktischen Gegebenheiten seines Lebens zu reflektieren, fragt er nach einer Metaebene, nach einer tieferen Bedeutung, nach dem Grund dessen, was er wahrnimmt, nach dem Grund seiner Begabungen und seiner Grenzen, nach dem Grund vor allem von Leid und Schmerz und Tod – bis hin zu der platonischsten aller platonischen Fragen: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ Nietzsche nennt den nach Sinn fragenden Menschen „das kranke Tier“10. Denn wäre er ein gesundes, er würde sich wie jedes andere Tier verhalten und einfach glücklich oder unglücklich sein, aber nicht nach dem Sinn von Glück oder Unglück fragen. Was innerhalb der platonischen Philosophie die Unterscheidung des empirisch wahrnehmbaren Abbildes vom ewig gleich bleibenden Urbild ist, das ist innerhalb des sakramentalen Denkens der griechischen Kirchenväter die Unterscheidung zwischen der bezeichnenden und der bezeichneten Ebene eines Sakramentes. Das empirisch wahrnehmbare Menschsein Jesu ist die bezeichnende Ebene, der göttliche Logos die bezeichnete Ebene des 9 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Kritische Studienausgabe, Bd. V, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, 9–243, hier 12. 10 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Kritische Studienausgabe, Bd. V, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, 245–412, hier 367.

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Ursakramentes Jesus Christus. Die in den Apostelnachfolgern sichtbar geeinte Institution ist die bezeichnende Ebene und die ‚Communio Sanctorum‘ die bezeichnete Ebene des Grundsakramentes ‚Kirche‘. Das Wasser ist die bezeichnende Ebene und die Reinigung von aller Schuld die bezeichnete Ebene des Taufsakramentes. Brot und Wein sind die bezeichnende und Leib und Blut Christi die bezeichnete Ebene des Altarssakramentes. Die bezeichnende Ebene eines Sakramentes wäre allerdings nicht zutreffend erfasst, wenn man sie im Sinne der platonischen Ontologie nur als Abbild eines Urbildes beschreiben würde. Denn die bezeichnende Ebene eines Sakramentes ist untrennbar von der bezeichneten Ebene. Das wahre Menschsein des Erlösers ist nicht nur Abbild des göttlichen Logos, sondern untrennbar von diesem – so untrennbar, dass die Dogmatik von einer hypostatischen bzw. personalen Identität spricht. Sakramentales Denken wahrt die Einheit und zugleich die Unterschiedenheit von bezeichnender und bezeichneter Ebene. Das Menschsein Jesu ist nicht identisch mit dem Gottsein des Logos, aber auch nicht davon trennbar. Die im Petrusnachfolger sichtbar geeinte Institution ist nicht identisch mit der wahren Kirche Jesu Christi, aber auch nicht von ihr trennbar. Der Apostelnachfolger ist auch dann, wenn er der Eucharistie vorsteht, nicht identisch mit Jesus Christus, aber doch dessen sakramentaler Repräsentant. Die Geschichte der jüngeren Theologie belegt auf vielfache Weise, dass der Glaube an die Ursakramentalität Jesu zunehmend hinterfragt wird: durch historisch-kritische Exegese, durch den interreligiösen Dialog oder durch die besagte Abkoppelung der Bedeutung von der Geschichte Jesu. Hier liegt der Grund, warum Papst Johannes Paul II. der Christenheit zur Jahrtausendwende vor allem dies ins Gedächtnis schreiben wollte: dass das Zentraldogma der Christenheit – das Dogma von der ‚hypostatischen Union‘ bzw. die Ursakramentalität Jesu – mit dem Dogma von der Sakramentalität der Kirche steht oder fällt. Er spricht ja bewusst nicht nur von der Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi, sondern auch von der Einzigkeit und Heilsuniversalität jener In­ stanz, die – als Sakrament von Christus untrennbar – Subjekt des neutestamentlichen Kanons und seiner verbindlichen Auslegung ist. Wo die Kirche lediglich als nachträgliche Zusammenkunft der im Glauben Gerechtfertigten verstanden wird, gibt es keine von

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Christus bevollmächtigten Nachfolger der Apostel, die – wenn sie sich einig sind – nicht aus der Wahrheit herausfallen können, die Jesus Christus ist. Anders gesagt: Wo die Kirche nicht als Sakrament verstanden wird, ist Jesus oft nur noch der Urheber einer Botschaft, die bis heute Wirkungen erzielt. Der einzelne Gläubige lässt sich von Jesu Botschaft betreffen und gewinnt so sein je eigenes Jesus-Bild. Was man dann noch ‚Kirche‘ nennt, ist keine Bekenntniseinheit, sondern der Ort, an dem die Jesus-Bilder der von Jesu Botschaft Betroffenen miteinander kommunizieren. Kurzum: Wo immer der historische Jesus nur noch Vermittler oder Kata­ lysator einer von ihm ablösbaren Botschaft ist, da ist auch die Gemeinschaft der vom Evangelium Betroffenen vom historischen ­Jesus trennbar. Viele Katholiken haben sich diese Sichtweise – mehr oder weniger bewusst – zu eigen gemacht. Man kann eine Beziehung zu Jesus haben, ohne deshalb Kirche sein zu müssen. Es geht beim Besuch eines Gottesdienstes oder beim Empfang eines Sakramentes nur noch um Jesu Beziehung zu mir und um meine Beziehung zu Jesus. Kaum noch einer weiß, dass die Taufe nach katholischem (und orthodoxem) Verständnis nicht nur der Empfang der Rechtfertigung ist, sondern auch Eingestaltung in das sakramentale Mittel und Werkzeug Christi zur Heimholung der noch nicht erreichten Brüder und Schwestern. Kaum noch jemand weiß, warum die Kirche heilsnotwendig ist – gewiss nicht, weil nur Getaufte gerettet werden, sondern weil Christus auch nach seiner Erhöhung zum Vater in Raum und Zeit präsent bleibt durch die Gemeinschaft der Getauften und Gefirmten, die sich jeden Sonntag gemeinsam in der Eucharistie mit ihm verbinden lassen. Selbst unter denen, die sich als regelmäßige Kirchgänger bezeichnen, schwindet das Bewusstsein, dass man in der Regel ein Sakrament nicht primär für sich selbst empfängt, sondern um Kirche und also selbst Sakrament sein zu können. Kaum ein deutscher Bischof erinnert noch an die Sonntagspflicht. Deren Grund liegt doch darin, dass niemand Missionar Jesu Christi sein kann, wenn er oder sie nicht regelmäßig mit Christus und den Mitchristen kommuniziert. Die meisten deutschen Bischöfe nehmen klaglos hin, dass 95 Prozent der jungen Menschen, die sie firmen, ihnen als Apostelnachfolger feierlich versprechen, den christlichen Glauben in Treue zur Kirche zu leben, aber – wenn man sie fragen

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würde – gar nicht daran denken, z. B. ihre Sonntagspflicht zu erfüllen.11 Man kann in Deutschland flächendeckend von einer zunehmenden Subjektivierung des Sakramentenempfangs sprechen. Wenn man gelegentlich – oft nur noch Weihnachten – zur Kirche geht, dann auch gleich zum Sakrament – falls nicht völlig gedankenlos, dann doch in der Annahme, es gehe beim Eucharistieempfang nur um die Zusage der rechtfertigenden Barmherzigkeit Gottes. Dies vorausgesetzt, ist das Bußsakrament überflüssig. Denn – so meinen die meisten – Gott ist doch bedingungslos barmherzig. Wozu dann die Selbstverdemütigung des Beichtens? Dass der Empfang des Bußsakramentes auch ein Beitrag des je Einzelnen zur Reinigung der Kirche ist, bleibt ausgeblendet. Und so kann man ein Sak­rament nach dem anderen abschreiten: Wo man hinschaut, greift die Privatisierung um sich. Man beklagt den Priestermangel und sieht gar nicht, dass junge Menschen nur da ihre mögliche Berufung in die apostolische Nachfolge hören und verstehen können, wo Familien und Gemeinden ihr Taufpriestertum leben. Privatisiertes Christentum und Priestermangel sind die zwei Seiten derselben Medaille. Analoges ist von der Ehe zu sagen. Wer die Ehe für das Privatissimum zweier Menschen hält, kann mit ihrer Sakramentalität nichts anfangen. Nur wenige wissen noch, dass die Kirche den ehelichen Bund eines getauften Mannes und einer getauften Frau deshalb für unauflöslich hält, weil er – von Christus im Heiligen Geist ermöglicht – die sakramentale Darstellung des unauflöslichen Bundes Christi mit seiner Kirche ist. Kurzum: Die Verdunstung des sakramentalen Denkens und Lebens ist wie eine Wunde der Kirche, die sich immer weiter frisst. Alle vier Gesprächsforen des von den deutschen Bischöfen initiierten „Synodalen Weges“ sind Symptome der Verdunstung des sakramentalen Denkens und Lebens. Das Thema ‚Macht in der Kirche‘ wird erst dann zum Problem, wenn die Vollmacht der Ordinierten nicht mehr sakramentale Darstellung des Gegenübers 11 Joseph Ratzinger bemerkt zu dieser Entwicklung: Christentum ist niemals Privatsache. Christentum ist immer auch Eingestaltung in die Proexistenz Christi. Letztlich, so schreibt er, ist inkarniertes Christsein „ein Appell an den Großmut des Menschen, an seine Hochherzigkeit, dass er bereit sei, mit Simon von Cyrene unter dem weltgeschichtlichen Kreuz Jesu Christi, unter der Last der ganzen Geschichte einherzugehen und so dem wahren Leben zu dienen“ (Stellvertretung, in: JRGS 6/2, Freiburg i. Br. 2013, 911–923, hier 922).

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Christi gegenüber der Kirche ist. Priester werden bekanntlich in dem Maße unglaubwürdig, in dem sie ihre Sakramentalität verraten; in dem sie sich selbst statt Christus verkünden und folglich die evangelischen Räte in deren Gegenteil pervertieren. Das Unverständnis, das man gegenüber dem Zölibat der Priester äußert, ist im Wesentlichen eine Folge der Verdunstung des sakramentalen Denkens. Und Analoges lässt sich von der in Deutschland immer lauter werdenden Forderung nach dem Frauenpriestertum sagen. Wer nicht sakramental denkt und lebt, für den ist die von der Kirche als unwiderruflich deklarierte Bindung des Ordo-Sakramentes an das männliche Geschlecht ein Ärgernis. Dazu aus aktuellem Anlass einige Anmerkungen: Bekanntlich hat der liberale deutsche Protestantismus – allen voran Adolf von Harnack – in dem Gnostiker Markion einen frühen Vorläufer des reformatorischen Christentums gesehen. Und abgesehen davon ist es kein Zufall, dass der sogenannte Markionismus in den letzten Jahrzehnten eine bemerkenswerte Renaissance erlebt.12 Für Markion ist Jesus so etwas wie eine zeitweilige Verkleidung des göttlichen Logos; gleichsam ein dem Logos äußerlich bleibendes Mittel und Sprachrohr; der göttliche Logos selbst bleibt unberührt von allem Geschaffenen; geschweige denn, dass Jesus als wahrer Mensch die Offenbarkeit des göttlichen Sohnes ist.13 Kurzum: Die typisch markionitische Dissoziation von Schöpfungs- und Erlösungsordnung ist keineswegs überwunden. Sie betrifft nicht nur das protestantische, sondern auch das katholische Christentum – zumindest in Deutschland. Die Forderung nach dem Frauenpriestertum ist nur eines unter anderen Beispielen, die das belegen. 12 Dazu: Karl-Heinz Menke, Das unterscheidend Christliche. Beiträge zur Bestimmung seiner Einzigkeit, Regensburg 2015, 348–410. 13 „Da gab es“, so schwärmt Eugen Drewermann, „vor achtzehnhundert Jahren eine Kirche, die ohne beamteten Pomp (‚Würde‘), ohne Amtsanmaßung und Überheblichkeit (‚Autorität‘) und ohne starres Reglement und ohne Moralismus (‚Kirchenzucht‘) auskam; in der man aus dem ‚Glauben‘ in und an Christus nicht einen Rechtstitel gegenüber den Un- oder Nicht-Gläubigen machte und keiner ‚Orthodoxie‘ bedurfte, um sich als ein ‚wahrer‘ Mensch zu fühlen; in der die Gemeinsamkeit miteinander wichtiger war als die kulturellen, rituellen und konfessionellen Unterschiede untereinander; […] und nicht zuletzt: in der es keine festen hierarchischen, ‚sakramental‘ verewigten Rangunterschiede brauchte, um die Gemeinde Christi in ‚Laien‘ und ‚Kleriker‘, in ‚Volk‘ und ‚Führer‘, in Hörende und Lehrende, in Empfangende und Gebende aufzuspalten.“ (Eugen Drewermann, Glauben in Freiheit, Bd. I. Dogma, Angst und Symbolismus, Düsseldorf / Solothurn 1993, 240 f.).

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Wenn man die Bedeutung der Geschlechterdifferenz auf deren sexuelle Funktion reduziert, dann sind die Bilder der Hochzeitlichkeit, in denen das AT den Bund des Schöpfers mit der Menschheit und speziell mit dem erwählten Volk Israel beschreibt, lediglich zeitbedingte Einkleidung eines historischen Narrativs. Wenn man die Erlösungsordnung von der Schöpfungsordnung trennt, ist überhaupt nicht einzusehen, warum das Mannsein des Erlösers und das Frausein des Menschen, der den Erlöser empfängt, theologisch von bleibender Bedeutung sind. Natürlich sind auch alle Männer zuerst und zunächst Empfänger und nicht Repräsentanten des Wortes. Und natürlich können auch Frauen als Trägerinnen des gemeinsamen Priesterseins aller Getauften Gottes Wort verkünden. Aber da, wo die Differenz des Fleisch gewordenen Logos zur Kirche und umgekehrt die Differenz der Kirche zu Christus repräsentiert wird, geschieht dies einerseits durch den Mann; andererseits durch die Frau. Fundament allen Christseins ist das Frauen und Männern gemeinsame Taufpriestertum. Aber weil das ‚Voraus‘ und ‚Gegenüber‘ des Gründers und Hauptes gegenüber dem Leib strukturell sichtbar bleiben muss, gibt es auch das besondere Priestertum der Ordinierten. Natürlich kann man darüber spekulieren, ob Gott, wenn er gewollt hätte, nicht auch als Frau hätte Mensch werden können. Aber angesichts der Bedeutung der Geschlechterdifferenz innerhalb der biblisch bezeugten Heilsgeschichte für das Verhältnis Gottes zum Menschen ist die Hinterfragung des Faktischen ein Zeichen für den Verlust des sakramentalen zugunsten des funktionalen Denkens. Gerade Protestanten betonen z. B. die faktische Bindung der Eucharistie bzw. des Abendmahls an die Materie von Brot und Wein. Rein funktional gesehen könnten auch andere Speisen dieselbe Funktion wie Brot und Wein erfüllen. Aber wer sakramental denkt, weiß um die Bedeutung von Brot und Wein in der biblisch bezeugten Heilsgeschichte; und also auch, warum nur diese Elemente den Leib und das Blut Christi sakramental repräsentieren dürfen. Der oft vorgebrachte Einwand, was bei den bibeltreuen Protestanten möglich sei, nämlich das Priestertum der Frau, das müsse doch auch in der katholischen und orthodoxen Christenheit möglich sein, beruht auf schlichter Unkenntnis. Es gibt bei den Protestanten überhaupt kein die Differenz Christi gegenüber der Kirche repräsentierendes Priestertum. Für Martin Luther ist bekanntlich jede Frau und jeder Mann, der aus der Taufe gekrochen ist, bereits Papst, Bischof und Priester.

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Und was die zumindest in Deutschland neu angeheizte Zölibatsdebatte betrifft: Natürlich besteht der kirchenrechtlich bestimmte Nexus zwischen dem Priestertum der Apostelnachfolge und der zölibatären Lebensweise nicht notwendig. Aber es geht immerhin um die persönliche Darstellung und existenzielle Beglaubigung der sakramentalen Christus-Repräsentation des Priesters. Joseph Ratzinger bemerkt dazu: „Wenn der Zölibat der Weltpriester nicht eine gemeinschaftliche kirchliche Form ist, sondern eine private Entscheidung, dann verliert er seinen wesentlichen theologischen Gehalt […], denn dann hört er auf, ein von der Kirche getragenes Zeichen zu sein und wird zur privaten Absonderlichkeit. […] Und wie soll sich ein junger Mensch für das eschatologische Abenteuer des Zölibats entscheiden können, wenn die Kirche selbst nicht mehr zu wissen scheint, ob sie es noch wollen soll? Im Drama der Entscheidung wiegt jedes Wort, und allzu leicht kann man den Boden in einem Augenblick wegziehen, der über Ja oder Nein, über die Kraft des Bestehens oder die Unkraft des Zurückweichens definitiv entscheidet.“14

4. Eine vierte Wunde: Die Entkirchlichung der Theologie Obwohl wir in Deutschland einen staatlich finanzierten Religionsunterricht und akademisch ausgebildete Religionslehrerinnen und Religionslehrer haben, ist die Kenntnis dessen, was die Kirche lehrt und lebt, denkbar gering. Es gibt Ausnahmen. Aber viel zu oft ist der Religionsunterricht ein Forum des Meinungsaustausches über Fragen der Lebensgestaltung, des sozialen Verhaltens und des interreligiösen Dialogs. Auch nach 12 oder 13 Jahren Religionsunterricht kann ein Abiturient in aller Regel die zentralen Aussagen des Glaubensbekenntnisses nicht erklären – von kritischer Reflexion ganz zu schweigen; denn Kritik setzt ja Wissen und Kenntnis der Gegenargumente voraus. Die Religionslehrer-Ausbildung in Deutschland ist von Stu­ dienplänen bestimmt, die eher eine gerechte Verteilung der 14 Joseph Ratzinger, Zum Zölibat der katholischen Priester. Stellungnahme zu Prälat Prof. Dr. Richard Egenters „Erwägungen zum Pflichtzölibat“, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 154–158, hier 155–157.

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­ tudenten und Studentinnen auf die theologischen Disziplinen S oder Fachbereiche als eine Vermittlung der wichtigsten Kompetenzen und Lehrinhalte anstreben. Es gibt keine Konzentration auf ntl. Exegese und Dogmatik, geschweige denn auf die Themen, die jeden gymnasialen Religionsunterricht bestimmen müssten. Zwar wurde mit der sogenannten Modularisierung eine Synergie der einzelnen Fächer auf dem Feld zentraler Themen angestrebt. Aber wenn dieser löbliche Vorsatz funktionieren soll, müssten sich die beteiligten Professoren und Profes­ sorinnen gemeinsam vorbereiten – was schon aus Zeitgründen nirgendwo geschieht. Verteidigt werden die gängigen Studienpläne mit dem vordergründig e ­ inleuchtenden Argument, ein Universitätsstudent lerne in den Vorlesungen und Seminaren weniger Inhalte als vielmehr die Multiperspektivität hermeneutischer Zugänge, Methoden und Kompetenzen. Neunzig Prozent der im Unterricht zu vermittelnden Inhalte müsse man sich selbst erarbeiten bzw. so ‚aneignen‘, dass man durch eigene ­A rgumente zum überzeugenden Zeugen werde. Zugegeben: Es gibt – auch in der Theologie – immer noch hochbegabte Studentinnen und Studenten, die diesem Anspruch gerecht werden, die das, was ihnen vorgesetzt wird, persönlich durchdringen, die eine bemerkenswerte Lesekultur entwickeln und dann auch ihre zukünftigen SchülerInnen für ihr Fach begeistern können. Aber neun von zehn Lehramtsanwärterinnen entwickeln keine Lesekultur, wählen mit Blick auf die Examina das vermeintlich weniger Anspruchsvolle und scheuen den Zeitaufwand, der mit der Durchdringung bisher nicht studierter Inhalte in der Vorbereitung des Unterrichtes verbunden ist. Man bemüht sich im Unterricht mehr um Methoden als um Inhalte. Vielen Lehrern ist kaum noch bewusst, dass die Konfessionsbindung des Religionsunterrichtes in Deutschland auf derselben Grundlage wie die Konfessionsbindung der theologischen Fakultäten erfolgt. Es ist doch der von einer Konfessionsgemeinschaft gelebte Glaube, der sich an einer theologischen Fakultät der historischen und philosophischen Kritik aussetzt – gemäß den in allen Geisteswissenschaften üblichen Standards wissenschaftlicher Analyse und diskursiver Reflexion. Deshalb ist es nicht gleichgültig, ob der Lehrer neben seiner fachlichen Ausbildung durch die sogenannte ‚Missio‘ als praktizierendes Mitglied der Bekenntnisgemeinschaft ausgewiesen ist, in deren Namen er oder sie lehrt.

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Unter den Bischöfen in NRW hat sich nur der Erzbischof von Köln gegen die Unterzeichnung eines Lehrplanes gewandt, der die Bezeichnung „ökumenischer Religionsunterricht“ zwar vermeidet, aber kooperativen Religionsunterricht verschiedener Konfessionen unter paritätischer Beteiligung der entsprechenden Religionslehrer mit dem Argument begrüßt, ein verpflichtender Wechsel zwischen katholischen und evangelischen Fachlehrern gewährleiste, dass die Schüler beide konfessionellen Sichtweisen kennen lernen.15 Mit demselben Argument könnte man an Universitäten, an denen es zwei theologische Fakultäten gibt, die Hälfte der Lehrstühle einsparen. Die Publikationen protestantischer und katholischer Theologen zu ein und demselben Thema der Kirchengeschichte oder ein- und demselben Kapitel der Heiligen Schrift zeigen doch, dass man konfessionelle Theologie nur als bekennendes Mitglied der Kirche, in deren Namen man lehrt, betreiben kann. Die Wirksamkeit des universitären oder schulischen Unterrichtes hängt ganz entscheidend davon ab, ob der oder die Lehrende in der kirchlichen Praxisgemeinschaft des Glaubens beheimatet ist, deren Bekenntnis nicht nur kritisch reflektiert und befragt, sondern zugleich auch persönlich bezeugt werden soll. Es gibt in Deutschland eine wachsende Zahl nicht nur protestantischer, sondern auch katholischer Theologen, die die Konfes­ sionsgebundenheit der Theologie in Frage stellen. Doch eine theologische Fakultät, die nichts anderes sein will als eine teils historisch-kritisch, teils sprachanalytisch arbeitende Gesprächsgemeinschaft über die Interpretationen oder Christusbilder einer zweitausendjährigen Wirkungsgeschichte, ist auf Dauer wirkungslos. Sie verkommt zu so etwas wie Marcel Reich-Ranickis ‚literarischem Quartett‘, das stets mit dem Fazit endete: „Und so sehen wir betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Es „bleibt lediglich die Debatte, in der jeder ‚seine Wahrheit‘, d. h. seine Meinung kundgibt und oft genug auf die anderen gar nicht mehr hört, da es eine gemeinsame, alle bindende und verbindende

15 Dass der „konfessionell-kooperative Religionsunterricht“ Lehrerinnen und Lehrer dazu bewegt, „sich von ihren Konfessionen in den Ring treiben zu lassen und dort dann die Lust zur Positionierung und Selbstkundgabe zu zeigen, die ihnen ansonsten in der Regel fehlt, darf […] bezweifelt werden.“ (Claus Peter Sajak, Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht, in: IkaZ 48 [2019] 507–515, 514).

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Wahrheit nicht gibt und das Gespräch darum auch nicht auf sie ausgerichtet sein kann.“16 Es ist längst zu beobachten, dass die Reduktion der Theologie auf die historische Perspektive langfristig ihre Aufhebung bedeutet. Denn die historische Betrachtung der Glaubensinhalte und der Glaubenspraxis ist noch keine Theologie. Theologiegeschichte, Dogmengeschichte, Frömmigkeitsgeschichte, Sozial- und Mentalitätsgeschichte, christliche Archäologie und dergleichen sind mögliche Arbeitsfelder einer theologischen Fakultät – dies aber nur unter der Voraussetzung, dass sie dem Verstehen und der Verkündigung der Wahrheit dienen, die von der Bekenntnisgemeinschaft ‚Kirche‘ gelebt wird. Es ist bezeichnend, dass deutsche Universitäten, die keine eigene theologische Fakultät führen, ihre „theologischen Fachbereiche“ als Teile der Kulturwissenschaft ausweisen. Wenn katholische Theologie nicht mehr voraussetzt, dass Jesus Christus die Offenbarkeit des göttlichen Logos und mithin des Logos der gesamten Schöpfung und Geschichte ist; und wenn katholische Theologie nicht mehr voraussetzt, dass die apostolisch verfasste Kirche dem Christuszeugnis der Heiligen Schrift in ­ihren für verbindlich erklärten Aussagen treu bleibt, dann ist sie nichts anderes als Geschichts- und Sprachwissenschaft. Gewiss, man kann die Genese aller Theoreme – natürlich auch der zu ‚Dogmen‘ erklärten – re- oder dekonstruieren. Dogmengeschichtliche Reflexion ist sogar notwendig, um die Relativität des menschlichen Reflektierens in Bezug auf den in Christus offenbar gewordenen Logos Gottes zu wahren. Aber es ist doch grundlegend zweierlei, ob man die Geistes- und Religionsgeschichte lediglich als eine faktische Abfolge von Ideen, Sprachspielen oder Paradigmen betrachtet, oder ob man davon ausgeht, dass die Klärung von Begriffen und der argumentierende Diskurs Wahrheit von Irrtum zu trennen vermögen. Zumindest Naturwissenschaftler setzen voraus, dass ihre Forschungen ständig voranschreiten – ungeachtet der sehr unterschiedlichen Interessen und Kontexte, die ihre Arbeit bedingen. Wer an einen einzigen Grund aller Wirklichkeit glaubt, und daran, dass der Mensch aufgrund seiner Begabung mit Vernunft

16 Marius Reiser, Bibel und Kirche. Eine Antwort an Ulrich Luz, in: ders., Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift (WUNT 217), Tübingen 2007, 39–61, hier 54.

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und Freiheit die im Logos des Schöpfers gründende Wahrheit des Seins fortschreitend tiefer, wenn auch nie erschöpfend, erkennen kann, wird z. B. interkonfessionelle und interreligiöse Dialoge nicht als bloßes Gespräch unterschiedlicher Konstrukte unterschiedlicher Traditionen begreifen, sondern alle Sinndeutungssysteme denselben Rationalitätskriterien unterwerfen. Unter der christlichen Voraussetzung, dass alles Wirkliche Ansprache des Schöpfers an den mit Vernunft begabten Menschen ist, darf man von der Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Begriffsgeschichte ausgehen. Anders gesagt: Unter der Prämisse, dass es einen vom Logos des Schöpfers begründeten Zusammenhang alles Seienden und eine auf diesen Logos ausgerichtete Vernunft aller Menschen gibt, gibt es eine kriteriell (z. B. an dem Kriterium größerer oder geringerer Kohärenz) überprüfbare Vergleichbarkeit der begrifflichen Anstrengungen des interpretierenden Menschen. Joseph Ratzinger bemerkt in seinen religionsvergleichenden Studien: „Weil das Christentum sich als Sieg der Entmythologisierung, als Sieg der Erkenntnis und mit ihr der Wahrheit verstand, deswegen musste es sich als universal ansehen und zu allen Völkern gebracht werden: nicht als eine spezifische Religion, die andere verdrängt, nicht aus einer Art von religiösem Imperialismus heraus, sondern als Wahrheit, die den Schein überflüssig macht. Und eben deshalb muss das Christentum in der weiträumigen Toleranz der Polytheismen als unverträglich […] erscheinen: Es hielt sich nicht an die Relativität und Austauschbarkeit der Bilder, es störte damit vor allem den politischen Nutzen der Religionen und gefährdete so die Grundlagen des Staates, indem es nicht Religion unter den Religionen, sondern Sieg des Logos […] sein wollte.“17 Wer den Logos von Schöpfung und Geschichte mit Jesus Christus identifiziert, kann nicht ernstlich behaupten, im Glauben der Christus durch Taufe und Eucharistie eingestalteten Kirche liege keine andere Ermächtigung als die menschlichen Meinens. Wenn die Interpretationsgemeinschaft ‚Kirche‘ verbindlich ausdrückt, was der alles Seiende zugleich verbindende und unterscheidende Logos ist, dann in der Regel nach einem langen Prozess des Austausches von Pro- und Contra-Argumenten. Und der Abschluss 17 Joseph Ratzinger, Glaube, Wahrheit, Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, Freiburg 4 2005, 137.

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eines Interpretationsprozesses nach hinten schließt ein tieferes Verstehen und eine bessere sprachliche Fassung für die Zukunft nicht aus. Im Gegenteil, ein Dogma kann die Wahrheit nur vermitteln durch Übersetzung in die Gegenwart. Aber richtig ist auch: Ein Dogma ist mehr als ein sozial- und kulturhistorisch bedingtes Theorem des religiösen Bewusstseins; es ist verbindliche Antwort der Christus sakramental eingestalteten und apostolisch verfassten Glaubensgemeinschaft an den Mensch gewordenen Logos Gottes.

5. Eine fünfte Wunde: Die Demokratisierung der Christokratie Die vom Zweiten Vatikanum aufgegriffene Bezeichnung nicht nur Israels, sondern auch der Kirche als ‚Volk Gottes‘ wurde Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre vor allem in Deutschland von Gruppen, Bewegungen, Memoranden und theologischen Initiativen aufgegriffen, um die Forderung nach einer demokratisierten Kirche theologisch zu rechtfertigen. Die Enzyklika „Humanae Vitae“ war Auslöser einer innerkirchlichen Protestbewegung, die sich zunächst auf dem Essener Katholikentag 1968, dann auf dem sogenannten ‚Pastoralkonzil‘ der Niederlande und schließlich in den Debatten der ‚Würzburger Synode‘ manifestiert hat. Einer der mächtigsten Wortführer eines „Katholizismus im Umbruch“ war damals Walter Dirks. Er setzte sich für eine herrschaftsfreie und basisorientierte Kirche ein. Innerhalb einer vom Volk-Gottes-Begriff bestimmten Ekklesiologie – so erklärte er – ist das kirchliche Amt eine Funktion für und in der Gemeinschaft der Gläubigen, die eine Gemeinschaft der Gleichen ist. Entsprechend entwarf sein theologischer Gewährsmann Hans Küng eine Ekklesiologie unter der Voraussetzung, dass das Zweite Vatikanische Konzil mit dem zweiten Kapitel der Kirchenkonstitution einen Weg begonnen habe, der – konsequent zu Ende gegangen – die gegenwärtige Kirche in die charismatische Gemeinde der Paulusbriefe transformiere. Symptomatisch für die Konsequenzen der von Walter Dirks und Hans Küng personifizierten Revolution ist das mit dem Titel „Demokratisierung der Kirche“ überschriebene Memorandum des

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‚Bensberger Kreises‘.18 Unter der Federführung von Johann Baptist Metz, Norbert Greinacher und Paul Hoffmann entstand noch vor dem Essener Katholikentag ein Entwurf, der die Kirche als Gefangene von Autoritarismus und Dogmatismus, von moralischem Rigorismus und Traditionalismus beschreibt. Die Ursache für diesen Missstand sei vor allem die platonisierende Ekklesiologie der Pianischen Ära mit ihrer Mystifizierung kirchlicher Autorität als sakramentaler Repräsentation Christi. Deshalb – so die Folgerung – müsse eine radikale Reformulierung des Dogmas und des Kirchenrechtes unter der Maßgabe des Gleichheitsprinzips und der Geschichtlichkeit des Volkes Gottes erfolgen. Die Parolen der französischen Revolution sollen – so fordert das Bensberger Memorandum – positiv rezipiert werden; denn sie sind für die Unterzeichner „säkularisierte […] Existenzbestimmungen der Kirche“ (17). Sakralität – so erklärt das Memorandum – ist mit dem NT unvereinbar, weswegen der Kult die „profane Gestalt des gemeinschaftlichen Essens“ (37) annehmen soll. Die zwölf Apostel repräsentieren das endzeitliche Volk Gottes, nicht das Gegenüber Christi gegenüber der Kirche. Es gibt daher keine Nachfolger der Apostel. Also geht in der Kirche alle Autorität und Vollmacht von der Gemeinde aus (41). Die Ausbildung einer Hierarchie und insbesondere des Papsttums ist – so geben die Unterzeichner zu Protokoll – eine hierarchisierende und sakralisierende Verfremdung der biblisch bezeugten Gleichheit aller Getauften im Volk Gottes (50 ff.). Die schärfste und zugleich fundierteste Kritik an diesem Memorandum erfolgte durch Joseph Ratzinger19. Er verweist in seiner Stellungnahme auf die Genese und den Wortlaut des zweiten Kapitels von „Lumen gentium“. Er legt detailliert dar, wie willkürlich eine Exegese verfährt, die Paulus eine charismatische im Unterschied zu einer hierarchischen Gemeindeordnung zuschreibt. Und er widerlegt die „Behauptung, die altkirchlichen Konzilien seien aus Laien und Bischöfen zusammengesetzt gewesen und erst Trient oder gar erst das Vatikanum I habe den Übergang zum reinen Bischofskonzil vollzogen“. 20

18 Bensberger Kreis (Hg.), Demokratisierung der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland – Ein Memorandum deutscher Katholiken, Mainz 1970. 19 Vgl. Joseph Ratzinger, Demokratisierung der Kirche?, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 159–186. 20 Ratzinger, Demokratisierung der Kirche? (Anm. 19), 173 f.

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Nicht wenige Äußerungen im Vorfeld des von der deutschen Bischofskonferenz initiierten „Synodalen Weges“ erinnern in geradezu fataler Weise an die Forderungen der Verfechter einer demokratisierten Kirche in den sechziger und siebziger Jahren. Auch damals ging es nicht um die zentralen Aussagen des christlichen Glaubens, sondern fast ausschließlich um Fragen der Struktur. Bezeichnend der Titel von Küngs programmatischer Ekklesiologie: „Strukturen der Kirche“21. Joseph Ratzinger hat, wie man nachlesen kann, die ‚Würzburger Synode‘ sehr kritisch kommentiert. Er bemerkt: „Der Kampf um neue Formen kirchlicher Strukturen scheint weithin ihr einziger Inhalt zu werden. Die Befürchtung, die Henri de Lubac am Ende des Konzils geäußert hatte, es könnte zu einem Positivismus des kirchlichen Selbstbetriebs kommen, hinter dem sich im Grunde der Verlust des Glaubens verbirgt, ist leider ganz und gar nicht mehr gegenstandslos.“22 Wie damals, so sind vermutlich auch heute die wahrhaft gläubigen Katholiken kaum oder gar nicht daran interessiert, „wie Bischöfe, Priester und hauptamtliche Katholiken ihre Ämter in Balance setzen können, sondern was Gott von ihnen im Leben und im Sterben will und was er nicht will.“23 Wenn der „Synodale Weg“ der deutschen Katholiken nicht auf der klaren Unterscheidung zwischen beschließender Körperschaft und beratenden Experten basiert, läuft er Gefahr, die sakramentale Struktur der Christokratie in die funktionale Struktur einer Demokratie zu transformieren. 24 Abgesehen davon, dass 21 Hans Küng, Strukturen der Kirche, Freiburg 1962. – Vgl. ders., Die charismatische Struktur der Kirche, in: Conc(D) 1 (1965) 282–290; ders., Kardinal Ratzinger, Papst Wojtyla und die Angst vor der Freiheit. Nach langem Schweigen ein offenes Wort, in: Katholische Kirche – wohin? – Wider den Verrat am Konzil, herausgegeben von Hans Küng und Norbert Greinacher, München 1986, 389–407. 22 Ratzinger, Demokratisierung der Kirche? (Anm. 19), 167 f. 23 Ebd., 167. 24 „Die Idee der gemischten Synode als einer ständigen obersten Regierungsbehörde der nationalen Kirchen ist von der Überlieferung der Kirche wie von ihrer sakramentalen Struktur und von ihrem spezifischen Ziel her eine chimärische Idee. Einer solchen Synode würde jede Legitimität fehlen und ihr müsste daher der Gehorsam entschieden und eindeutig versagt werden. Sie beruht sachlich auf einer schlechterdings unzulässigen Trennung von Weihe- und Hirtengewalt, bei der die eine ins Magische, die andere ins Profane abgedrängt wird: Das Sakrament wird nur mehr rituell und nicht als Auftrag zur Leitung der Kirche durch Wort und Liturgie gefasst; das Leiten umgekehrt wird als ein rein poltisch-administratives Geschäft gesehen – weil man offenbar die Kirche selbst nur für ein politisches Instrument hält.“ (Ebd., 175).

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das Zentralkomitee der Katholiken in Deutschland nur sehr bedingt eine demokratisch legitimierte Repräsentanz der deutschen Katholiken ist, hat sich dieses Gremium in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg radikal gewandelt. Vor 1945 verstand sich das von Bismarck und Hitler jeweils aufgelöste Gremium als Vertretung der katholischen Kirche im nichtkirchlichen Raum. Seit 1945 aber besteht das Gremium hauptsächlich aus Politikern, die ihre Politik in die Kirche tragen und sich – in aller Regel nicht durch besondere theologische Kompetenz ausgewiesen – anmaßen, römische Verlautbarungen zu kommentieren, die Christologie im Dialog mit den Juden neu zu konzipieren, das Priestertum der Frau zu propagieren, Forderungen wie den Verbleib in der staatlich geregelten Schwangerenkonfliktberatung zu stellen oder Basisbewegungen wie „Wir sind Kirche“ oder „Kirche von unten“ zu unterstützen. Wenn man das unter der Leitung von Bischof Franz-Josef Bode (Osnabrück) und Professorin Dorothea Sattler (Münster) erstellte Papier zur Vorbereitung des Gesprächsforums „Frau in der Kirche“25 liest, ist die überwiegende Mehrheit der Meinung, die Kirche könne den ausdrücklich als „unfehlbar“26 erklärten Ausschluss der 25 https://www.dbk.de>themen>swe-synodale-weg. 26 „Diese Lehre [der Ausschluss der Frau vom Sakrament des Ordo] erfordert definitive Zustimmung, da sie, im geschriebenen Wort Gottes begründet und in der Tradition der Kirche von Anfang an beständig bewahrt und angewandt, vom ordentlichen und universalen Lehramt unfehlbar vorgetragen wurde. Deswegen hat der Papst unter den gegenwärtigen Umständen, indem er sein Amt, die Brüder zu bestärken, ausübte, ebendiese Lehre durch eine förmliche Erklärung vorgetragen, wobei er ausdrücklich aussagt, dass sie immer, dass sie überall und dass sie von allen festzuhalten ist, da sie zur Hinterlassenschaft des Glaubens gehört“ (DH 5041). – Die vor allem von deutschen Theologen geäußerte Annahme, der Papst habe den Ausschluss der Frau vom Sakrament des Ordo zwar bekräftigt, aber doch nicht dogmatisiert, ist schlicht falsch. „Wenn das Lehramt des Papstes“, so Joseph Ratzinger, „eine Lehre bekräftigen will, die mit Sicherheit seit den apostolischen Anfängen zur Überlieferung der Kirche gehört und objektiv von der gemeinsamen und universalen Lehre der Bischöfe in Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri vorgelegt wird, so ist dieser besondere Akt der Bekräftigung, auch wenn er nicht in Form einer Definition oder feierlichen Kathedralentscheidung erfolgt, dennoch eine explizite Bezeugung der unfehlbar vorgelegten Lehre der Kirche“ (Joseph Ratzinger, Grenzen kirchlicher Vollmacht. Einführung zum Apostolischen Schreiben „Ordinatio Sacerdotalis“ [1994], in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 139–153, hier 149 f.). Was immer schon gelehrt wurde, muss nicht mehr definiert, sondern nur noch gegen Widersprüche bekräftigt werden. Definitionen wie die der Mariendogmen von 1854 (Immaculata) und 1950 (Assumpta) erfolgen

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Frau vom Sakrament des Ordo revidieren. Dabei ist den meisten Beteiligten bewusst, dass die Revision einer als „unfehlbar“ qualifizierten Lehre ein Dammbruch wäre. Das besagte Papier fordert deshalb eine kritische Reflexion der Verhältnisbestimmung zwischen Offenbarung, Schrift, Tradition und Lehramt. Wie das von etlichen deutschen Bischöfen27 abgesegnete „Votum des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen“28 für die generelle Interkommunion alle Unterschiede zwischen sakramentalem und nichtsakramentalem Kirchen- und Amtsverständnis ­relativiert, 29 so propagiert die Speerspitze des „Synodalen Weges“

dann, wenn keine ununterbrochene Kontinuität gegeben ist und der Inhalt eines Dogmas nicht so klar vorgegeben ist wie im Falle des Ausschlusses der Frau vom Sakrament des Ordo. 27 https://bistumlimburg.de>beitrag>gemeinsam-am-tisch-des-herrn. 28 https://www.uni-muenster.de>imperia>content>zentralseiten>aktuelles. 29 Hier einige Zitate aus dem unter dem Titel „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ veröffentlichten Votum der ÖAK: – „Katholiken, Orthodoxe, Lutheraner, Reformierte, Anglikaner, Baptisten, Methodisten […] werden in Christus geeint, lange bevor sie sich über die konkreten Formen ihrer Einheit verständigt haben und zu konkreten Verabredungen ihres Miteinanders gelangt sind“ (4). – „Das ‚Grundeinverständnis über die Taufe‘ ist stärker als die Unterschiede im Verständnis der Kirche.“ (5). – „Im Kontext antiker Gastmahlkultur fällt Jesu Mahlpraxis während seines Wirkens in Galiläa durch ihre Offenheit allen im Volk gegenüber auf. Sie durchbricht soziale und religiöse Grenzen und richtet keine rituellen Schranken auf. Sie orientiert sich nicht am Tempel als dem Ort der von Gott den Menschen gewährten Versöhnung, sondern feiert die Annahme der Sünder im Alltag der Welt“ (9 f.). – „Beachtlich ist auch, dass den Evangelien zufolge das ‚Zusammen-Essen‘ von Juden und Heiden in frühchristlichen Mahlgemeinschaften […] mit Jesu Praxis begründet werden kann, mit ‚Zöllnern und Sündern zusammen zu essen‘ […]“ (19). – „Nach neutestamentlichem Zeugnis schenkt sich Jesus selbst in Brot und Wein seinen Jüngern. Kein Tun und Lassen der Kirche, keine liturgischen Formen und institutionellen Regeln, keine Unterschiede in Herkommen und Tradition können und dürfen diesem Geschenk im Wege stehen. […] Auch in der Frage des Mahlvorsitzes lässt sich keine Regelung unmittelbar aus den Texten des Neuen Testamentes ableiten“ (22). – „Für römisch-katholisches [!!!] Verständnis impliziert die ‚Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre‘, in der ein gemeinsames Verständnis der im Evangelium verheißenen Gnade Gottes entfaltet werden konnte, dass die reformatorischen Kirchen die apostolische Lehre bewahrt haben und ihre Ordnung der Ämter offenkundig der Sukzession in der Lehre der Apostel zu dienen vermochte und vermag“ (48). – „Die Treue zum apostolischen Ursprung wird in der Nachfolge Christi nicht von Menschen garantiert, sie ist vielmehr eine Gabe des Geistes Gottes“ (51).

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die Protestantisierung des genuin katholischen Verständnisses von Wahrheit, Dogma und Unfehlbarkeit. Hans Küng hat mit seiner Streitschrift „Unfehlbar?“ in den siebziger Jahren vorweggenommen, was inzwischen auch deutschen Bischöfen salonfähig erscheint. Aus Küngs Sicht soll sich die katholische Kirche von der Illusion verabschieden, die in Jesus Christus erfolgte Selbstmitteilung Gottes in irrtumsfreie Sätze kleiden zu können. Das Bleiben in der Wahrheit ist – so erklärt er – nur eine Verheißung; Bekenntniseinheit gebe es nicht auf der Ebene von Sätzen bzw. Dogmen, sondern nur in Gestalt der Öffnung des je eigenen Verstehens für das je andere Verstehen. Küng hat den Katholizismus schon in den siebziger Jahren aufgefordert, endlich auch den Paradigmenwechsel zu realisieren, den der Neuprotestantismus (der Protestantismus seit der Aufklärung) längst vollzogen hat: nämlich die Ersetzung der Inkarnationslogik durch die Inspirationslogik. 30 Wer meint, aus der Ursakramentalität Jesu die Sakramentalität der apostolisch verfassten Kirche und aus dieser die Notwendigkeit einer in Sätze gefassten Bekenntniseinheit ­ableiten zu dürfen, hat aus Küngs Sicht die Realität der faktischen Irrtümer und der vielen Spaltungen ausgeblendet. Einheit in Christus gibt es – so wird er nicht müde zu betonen – hier und jetzt nur als geistgewirkte Einheit der eschatologischen Hoffnung. Sie beginnt überall da zu entstehen, wo sich die Konfessionen, die sich bisher gegenseitig exkommuniziert haben, auf die inkarnatorische Einheit in Sätzen (Dogmen) verzichten und ihre Verschiedenheiten dem Einheitswirken des Heiligen Geistes und/oder dem Diskurs der besseren Argumente überlassen. Es ist kein Zufall, dass die in den siebziger Jahren von Küng evozierte Diskussion im Vorfeld des „Synodalen Weges“ wieder auflebt. Ohne genauer zu unterscheiden, setzt man voraus, dass sich die Kirche auch in ihren verbindlichen (letztlich immer auf Christus bezogenen) Aussagen geirrt hat. Also gilt auch für die auf ­einem Konzil versammelten Apostelnachfolger oder für den im – „Die aus der Geschichte geerbte und durch die Communio-Ekklesiologie des 2. Vatikanischen Konzils nochmals verstärkte enge Verbindung von Eucharistie und Kirchengemeinschaft stellt vor ein Dilemma […] Da nicht kirchliche Amtsträger, vielmehr Jesus Christus selbst dazu auffordert, das Gedächtnis seiner uns erlösenden Hingabe in der zum Mahl versammelten Gemeinschaft zu feiern, soll nicht ausgeschlossen werden, wer sich durch Glauben und Taufe zu Jesus Christus bekennt“ (56).

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Namen der Gesamtkirche sprechenden Petrusnachfolger, dass sie irren können und also immer nur Vorläufiges dekretieren. Kants Erkenntniskritik – so betont Magnus Striet – ist schlechthin unhintergehbar. Striet will nicht ausschließen, dass der Heilige Geist die Kirche vor dem Untergang durch eigene Irrtümer bewahrt. Aber er will das Wirken des Geistes klar abgehoben wissen von den Konsensbeschlüssen der Apostelnachfolger. Dogmen sind für ihn nichts anderes als „anthropogene Ausdeutungen des notwendig zu denkenden Absoluten“31. Jedenfalls unterscheidet er nicht zwischen der ‚Anthropogenese‘ geschichtlich bedingter Formulierungen und der ‚Ekklesiogenese‘ des Dogmas. Die Konsequenz ist dieselbe, die Küng schon in den siebziger Jahren gezogen hat: nämlich die protestantisierende Trennung der geistgewirkten ‚fides qua‘ von der menschengemachten ‚fides quae‘. Die Kölner Systematikerin ­Saskia Wendel treibt diese Trennung in die harte Alternative zwischen Autonomie und Heteronomie. „Glauben“, so erklärt sie, „impliziert […] weder ‚Glaubenswissen‘ in theoretischer noch ‚Glaubensgehorsam‘ in praktischer Hinsicht. […] Hier ist eine entscheidende Differenz zu heteronomen Glaubenslehren markiert, die diesen stets noch an eine ihm vorgeordnete Autorität binden wollen, sowie zu primär theoretischen Bestimmungen des Glaubens, die ihn dann mit dem Label ‚wahr‘ versehen, wenn 30 „So sehr hat man sich […] an die Identifizierung der ‚Kirche‘ (besser: der ‚Hierarchie‘) mit dem Heiligen Geist gewöhnt, dass man bestimmte Irrtümer, Irrungen, Abirrungen und Verirrungen der Kirche, falls man sie zugeben müsste, meint dem Heiligen Geist anlasten zu müssen. Als ob die unbestreitbaren Irreführungen und Irreleitungen der Hierarchie (und der Theologie!) die des Heiligen Geistes, und die Irrwege, Abwege und Umwege der Kirche die Gottes selbst wären! Gewiss, im Geist handelt Gott selbst an der Kirche, bezeugt sich der Kirche, begründet, erhält und durchwaltet die Kirche: und dieser Gott ist der Deus qui nec fallere nec falli potest, der Gott, der nicht täuschen und sich nicht täuschen kann. Doch die Menschen selbst, die die Kirche bilden, können sich verzählen, verrechnen, versprechen und verschreiben, können sich versehen, verhören, vergreifen, verfahren, verfehlen und verirren: homines qui fallere et falli possunt“ (Hans Küng, Unfehlbar? Eine Anfrage, Zürich/Einsiedeln/Köln 1970, 144). 31 Magnus Striet, Ius divinum – Freiheitsrechte. Nominalistische Dekonstruktionen in konstruktivistischer Absicht, in: Stephan Goertz / Magnus Striet (Hgg.), Nach dem Gesetz Gottes. Autonomie als christliches Prinzip (Katholizismus im Umbruch 2), Freiburg i. Br. 2014, 91–128, hier 104. – Vgl. affirmierend auch: Michael Seewald, Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg 2014, 292 f.

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er in theoretischer Hinsicht als ‚wahr‘ bezeichnete Überzeugungen gehorsam anerkennt und in praktischer Hinsicht in Übereinstimmung mit diesen Überzeugungen handelt, sie also ihnen folgend getreu umsetzt.“32 Wenn die vier Gesprächsforen des „Synodalen Weges“ von dieser und ähnlichen Positionen dominiert werden; wenn innerhalb der Gesprächsforen das demokratische Mehrheitsprinzip gelten soll; wenn die sakramentale Christusrepräsentation der Ordinierten ausgeblendet wird und eine deutsche Synodalveranstaltung Weltkirche spielt, dann behalten jene Kritiker recht, die an den fatalen Ausspruch des letzten deutschen Kaisers erinnern: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“

32 Saskia Wendel, In Freiheit das Leben in Fülle bezeugen, in: Thomas Marschler / Klaus von Stosch, (Hgg.), Verlorene Strahlkraft. Welches Glaubenszeugnis heute gefragt ist (Theologie kontrovers), Freiburg i. Br. 2018, 11–24, hier 18 f.

Das kirchliche Weiheamt

Begrüßung und Einleitung in das Symposium Kurt Kardinal Koch

Sehr geehrte Schwestern und Brüder im Glauben! Ich begrüße Sie herzlich zu unserem Symposium und danke ­Ihnen für Ihr Interesse, das Sie mit Ihrer Gegenwart bekunden. Ich begrüße Sie im Namen der beiden Schülerkreise Joseph Ratzinger – Benedikt XVI., die das heutige Symposium organisiert haben und verantworten. Ich darf Ihnen die Verantwortlichen kurz vorstellen: Der Schülerkreis besteht aus Doktoranden und Habilitanden aus den Jahren der Lehrtätigkeit von Papst emeritus Benedikt XVI. an den Universitäten in Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg. Seit dem Jahre 2008 besteht auch der Neue Schülerkreis, der sich aus jungen Theologen und Theologinnen zusammensetzt, die sich verpflichtet wissen, das theologische Werk von Joseph Ratzinger zu erforschen und seinen theologischen Ansatz weiterzuführen. Beide Schülerkreise widmen sich dem Anliegen, die theologische Wissenschaft und Forschung im Geist der Theologie von Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. zu fördern. Sie finden sich jeweils in der Zeit des beginnenden Herbstes zu einem Treffen zusammen, um ein aktuelles theologisches Thema zu diskutieren. Der Neue Schülerkreis trifft sich zusätzlich zu einer eigenen Begegnung im Laufe des Jahres. Bisher haben diese Treffen in einem privaten Rahmen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. Wir haben aber dankbar wahrnehmen dürfen, dass eine größere Öffentlichkeit jeweils mit Interesse auf diese Treffen geschaut hat. Dies ist mit ein Grund gewesen, dass vom Neuen Schülerkreis die Initiative ausgegangen ist, jeweils einen Teil des Treffens in der Gestalt

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­ ines öffentlichen Symposiums durchzuführen, was in diesem e Jahr zum ersten Mal geschieht. Motiviert ist diese Initiative natürlich auch von der Überzeugung, dass ein Symposium eine günstige Gelegenheit darstellt, einer weiteren Öffentlichkeit die kostbare Theologie von Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. erneut zugänglich zu machen, von der Papst Franziskus sehr schön gesagt hat, es sei eine „Theologie auf Knien“, „weil man sieht, dass er nicht nur ein herausragender Theologe und Lehrmeister des Glaubens ist, sondern ein Mann, der wirklich glaubt, wirklich betet“. Und so „verkörpert er auf beispielhafte Weise das Wesen des gesamten priesterlichen Wirkens: jenes tiefe Verwurzeltsein in Gott, ohne das das ganze Organisationstalent, die ganze vermeintliche intellektuelle Überlegenheit, das ganze Geld und die Macht nutzlos sind“1. Damit ist bereits ein wesentlicher Grund genannt, weshalb die beiden Schülerkreise für das erste öffentliche Symposium das Thema gewählt haben: „Aktuelle Herausforderungen des kirchlichen Weiheamtes“. Dieses Thema nimmt nicht nur einen großen Stellenwert im theologischen Denken von Joseph Ratzinger – Papst Benedikt XVI. ein, wie der 900 Seiten umfassende Band 12 seiner „Gesammelten Schriften“ mit dem sprechenden Titel „Künder des Wortes und Diener Eurer Freude. Theologie und Spiritualität des Weihesakramentes“ in eindrücklicher Weise zeigt. Die Wahl des Themas ist aber auch darin begründet, dass das geweihte Amt in der Kirche heute großen Herausforderungen ausgesetzt ist. Denken wir nur an den Priestermangel, der in verschiedenen Regionen unserer Kirche besteht und der für eine Kirche, die ohne Priester nicht katholisch sein kann, eine bedrückende Erfahrung darstellt. Ich denke aber auch an die äußerst schmerzvolle Tatsache der sexualisierten Gewalt an Minderjährigen durch Priester, die in den vergangenen Jahren sichtbar geworden ist. Sie hat weithin eine Krise des geweihten Amtes nach sich gezogen, bis dahin, dass, wie beispielsweise in deutschsprachigen Ländern, die Theologie und Spiritualität des geweihten Amtes zur Disposition gestellt und die Forderung erhoben wird, man müsse die Kirche und das Priesteramt gleichsam neu erfinden.

1 Papst Franziskus, Vorwort, in: Benedikt XVI. – Joseph Ratzinger, Die Liebe Gottes lehren und lernen. Priestersein heute, Freiburg i. Br. 2016, 11–14, hier 11.

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Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass diese Tatsache des Missbrauchs eine schwere Belastung des Weiheamtes darstellt und dass diese Krise intensiv bearbeitet werden muss, um sie überwinden zu können. Es kann aber auch kein Zweifel darüber bestehen, dass eine Erneuerung des Weiheamtes nur glaubwürdig gelingen kann, wenn sie auf dem Boden der biblischen Grundlagen und der fundamentalen Entscheidungen der kirchlichen Tradition vollzogen wird. In der Überzeugung, dass das geweihte Amt nicht neu erfunden werden kann, wohl aber spirituell und theologisch erneuert werden muss, ist unser Symposium vom Anliegen getragen, uns der spirituellen und theologischen Grund­ lagen des Weiheamtes neu zu vergewissern. Einen ersten Wegweiser kann uns dabei der heilige Augustinus geben, der große Lehrmeister von Papst Benedikt XVI., der über ihn die theologische Dissertation geschrieben hat. Augustinus sieht das Wesen des geweihten Amtes in der Gestalt Johannes des Täufers, des großen Vorläufers unseres Herrn, vorgebildet; und er macht darauf aufmerksam, dass Johannes im Neuen Testament als „Stimme“ bezeichnet wird, während Christus das „Wort“ genannt wird. 2 Mit diesem Verhältnis zwischen Wort und Stimme verdeutlicht Augustinus das Zueinander von Christus und Priester und zugleich den bleibenden Unterschied zwischen beiden: Wie der sinnliche Klang, nämlich die Stimme, die das Wort von einem Menschen zu einem anderen trägt, vorübergeht, während das Wort bleibt, so hat auch in der Sendung des Priesters die menschliche Stimme keinen anderen Sinn als den, das Wort Gottes zu vermitteln; danach kann und muss sie wieder zurücktreten, damit das Wort im Mittelpunkt bleibt. Die Sendung des geweihten Amtes besteht von daher darin, sinnlich-lebendige Stimme für das vorgängige Wort Gottes und damit – wie Johannes der Täufer – Diener des Wortes und sein Vorläufer zu sein. Hinzu kommt ein Weiteres: Das Wort Gottes, in dessen Dienst der Priester steht, ist ein sakramentales Wort. Wir Christen glauben an das Wort, das Fleisch geworden ist und das in den Sakramenten erfahren werden kann. Im sakramentalen Dienst ist dabei die Stimme des Priesters in besonderer Weise gefordert. Er ist ­berufen, mit der Stimme Christi, sogar mit dem Ich Christi zu

2 Augustinus, Sermo 293, 1–3.

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sprechen. In dieser Weise redet und handelt der Priester vor allem in der Feier der Eucharistie, die Quelle, Mitte und Höhepunkt des kirchlichen Lebens ist. Von daher versteht es sich von selbst, dass sie auch im Leben und Wirken des Priesters einen zentralen Platz einnimmt. Denn die Kirche feiert nicht nur die Eucharistie, sondern sie lebt von ihr her und entsteht immer wieder neu um den Altar herum, auf dem uns die Gegenwart des auferstandenen Christus geschenkt wird. Es ist deshalb Christus selbst, der in der Eucharistie an uns handelt, der aber in der sichtbaren Kirche durch irdische und endliche Menschen handeln will. Von daher leuchtet die Sendung des Priesters in der Eucharistie ein: Er stellt sich als bescheidenes Werkzeug für Christus zur Verfügung und macht den unsichtbar anwesenden und in seiner Gemeinde handelnden Herrn den Sinnen der Gläubigen sichtbar, damit Christus an uns Menschen sein Heil wirken kann. Gerade in der Eucharistie ist der priesterliche Dienst Verweis auf Christus hin und deshalb wesentlich Vikariat. Weil der Priester berufen ist, in der Eucharistie mit dem Ich Christi zu sprechen, ist er auch heraus­ gefordert, auch in seinem Leben immer wieder Christus ähnlich zu werden. All das, was der Priester in der Eucharistie amtlich an Christi statt tut, muss er in sein Leben und durch sein Leben übersetzen. Der Priester muss deshalb ein von der Eucharistie geprägter und damit ein eucharistischer Mensch sein, der in der ­Eucharistie den innersten Punkt in seinem pastoralen Wirken wahrnimmt. Damit sind zwei wesentliche Aspekte des geweihten Amtes genannt, seine Größe und seine Demut. Seine Demut besteht darin, dass seine Aufgabe schlicht ist, Stimme für das Wort, für Christus in der Verkündigung und in der Feier der Sakramente zu sein. Denn das Amt verkündet und feiert nicht sein eigenes Wort, sondern das Wort eines Anderen. Diese Wirklichkeit, nicht über Eigenes verfügen zu können, sondern vom Anderen beschenkt zu werden, nennt der katholische Glaube Sakrament. Von daher wird nicht nur deutlich, dass das geweihte Amt selbst ein Sakrament ist, sondern auch, dass es in der Kirche das Amt braucht und dass die Kirche deshalb hierarchisch strukturiert ist. In der katholischen Kirche muss es eine Hierarchie geben; es gibt sie aber nur deshalb, weil die Kirche selbst sakramental ist. Hierarchisch ist die Kirche allein deshalb, weil sie sakramental ist; und da die Kirche selbst Sakrament ist, muss es das geweihte Amt in

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ihr geben, wie Joseph Ratzinger hervorgehoben hat: „Ihre tiefe und unaufgebbare Struktur ist nicht demokratisch, sondern sakramental, folglich hierarchisch; denn die auf der apostolischen Sukzession gegründete Hierarchie ist unabdingbare Bedingung, um zur Kraft, zur Wirklichkeit des Sakramentes zu gelangen.“3 Hierarchie heißt freilich nicht „heilige Herrschaft“, was einem hölzernen Eisen gleichkäme. Dem ursprünglichen Wortsinn nach heißt Hierarchie vielmehr „heiliger Ursprung“4. Diese Etymologie weist darauf hin, dass die Hauptverantwortung der Hierarchie in der Kirche darin besteht, den „heiligen Ursprung“ des Christusereignisses zu schützen und treu zu tradieren, damit er in der Geschichte weiterwirken und sich in der Kirche auch heute auslösen und seinen befreienden Lauf nehmen kann. Damit ergibt sich der zweite Aspekt des geweihten Amtes von selbst. Wurde bisher dargelegt, dass die Aufgabe des geweihten Amtes ganz einfach darin besteht, Stimme für das Wort zu sein, so gilt es jetzt zu betonen, dass das geweihte Amt an der Größe der Sendung Johannes’ des Täufers und damit auch an der Sendung des Herrn selbst teilnehmen darf. Dies kann der Amtsträger aber nur in glaubwürdiger Weise, wenn er „Stimme“ für das Wort mit seiner ganzen Existenz ist. Hier liegt der Grund, weshalb in unserem Symposium nach dem Hauptvortrag von Herrn Prof. Dr. KarlHeinz Menke in den anschließenden Statements nicht nur theologische Grundsatzfragen behandelt, sondern auch die Fragen der existenziellen Lebensweise des geweihten Amtes angesprochen werden. Denn Sakrament und Existenz gehören beim geweihten Amt unlösbar zusammen. Schon jetzt danke ich allen Referenten und Referentinnen für ihre Bereitschaft, an unserem Symposium mitzuwirken, und für ihre Beiträge. Alle sind entweder Mitglieder der Schülerkreise oder mit ihnen verbunden: Herr Professor Christoph Ohly und Frau Dr. Maria Esther Gomez de Pedro sind Mitglieder des Neuen Schülerkreises. Herr Professor Karl-Heinz Menke und Frau Professor Marianne Schlosser sind Träger des Premio Ratzinger. Und

3 Joseph Kardinal Ratzinger, Zur Lage des Glaubens. Ein Gespräch mit Vittorio Messori (München 1985), in: JRGS 13/1, Freiburg i. Br. 2016, 68. 4 Leo Scheffczyk, Das Petrusamt in der Kirche: Übergeordnet – eingefügt, in: Albert Brandenburg / Hans Jörg Urban (Hrsg.), Petrus und Papst. Evangelium – Einheit der Kirche – Papstdienst. Band II: Neue Beiträge, Münster 1978, 142–158, 146.

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Herr Kardinal Gerhard Ludwig Müller ist Herausgeber der Gesammelten Schriften von Joseph Ratzinger. Ich danke Herrn Professor Ralph Weimann, auch Mitglied des Neuen Schülerkreises, für die Leitung des Podiums. Bevor ich nun dem ersten Referenten das Wort geben darf, habe ich die große Freude, Ihnen liebe Grüße und Segenswünsche des emeritierten Papstes Benedikt XVI. überbringen zu dürfen. Ich habe ihn in der vergangenen Woche besuchen dürfen, und dabei hat er mir aufgetragen, Sie alle herzlich zu grüßen und Ihnen seine Nähe zuzusagen. Papa emeritus Benedikt freut sich über dieses Symposium und wünscht allen gutes Gelingen. Wir danken ihm für seine Zuneigung und das Geschenk seiner Theologie und ­seines päpstlichen Lehramtes. Wir begleiten ihn weiterhin mit ­unserem Gebet und bitten Herrn Erzbischof Georg Gänswein, ihm unsere lieben Grüße und besten Segenswünsche zu überbringen.

Das sakramentale Amt in der Kirche Karl-Heinz Menke

Das Ziel der biblisch bezeugten Heilsgeschichte ist die Gemeinschaft möglichst aller Menschen aller Zeiten mit dem Bundesgott Israels, mit dem in Christus inkarnierten Gott. Das für AT und NT zentrale Wort ‚Bund‘ bedeutet nicht Gleichrangigkeit der Bundespartner; aber doch dies, dass der Gott, von dem die Bibel spricht, die Versöhnung der adamitischen Menschheit nicht durch eine Verfügung oder durch eine Generalabsolution oder durch eine geistgewirkte Verwandlung erreichen kann. Gewiss, theoretisch könnte der allmächtige Schöpfer den real existierenden Menschen durch einen anderen ersetzen; aber dann wäre der Mensch um sein Eigentlichstes gebracht, um seine Personalität bzw. Freiheit. Der Gott, den Israel mit dem Tetragramm JHWH eher andeutet als beschreibt, und den das christliche Credo als Trinität erklärt, entspricht sich selbst, wenn er den Menschen nicht als Objekt behandelt, sondern als Bundespartner würdigt.

1. Sakramentalität als Integral des biblisch bezeugten Bundes Und zu dieser Würdigung gehört, dass der biblisch bezeugte Gott seinem Bundespartner nicht unmittelbar, sondern mittelbar im Medium geschaffener und geschichtlicher Zeichen begegnet – man könnte auch sagen: ‚inkarnatorisch‘ statt ‚inspiratorisch‘. Jede Unmittelbarkeit würde die Freiheit des Menschen aufheben. Alle Gottesbegegnungen und Berufungsgeschichten, von denen das AT erzählt, erfolgen vermittelt. Ob im Säuseln des Windes oder im Sturm, ob in einem brennenden Dornbusch oder vermittelt durch

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einen Boten, einen Traum oder eine Prüfung: Der Gott der Bibel tritt immer so an den Menschen heran, dass dieser ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ sagen kann. Der ‚Bundes-Gott‘ überwältigt nicht, sondern respektiert die einmal geschenkte Freiheit. Und was für den je einzelnen Menschen – Abraham, Isaak, ­Jakob und seine zwölf Söhne, Mose und die Propheten – gilt, gilt auch für das auserwählte Volk insgesamt. Gerhard von Rad hat die Geschichte Israels als eine Erwählungsgeschichte charakterisiert, in der das Volk insgesamt und in ihm jeder Einzelne berufen ist, die eigene Erwählung als Auftrag und Sendung zu verstehen. Erwählung geschieht für die Nichterwählten. Israel soll die am Sinai empfangene Bundessatzung, den Willen Gottes (die Tora), so in das eigene Leben inkarnieren, dass die übrigen Völker – bildlich gesprochen – „zum Zion wandern“. Die Befreiung Israels aus Ägypten ist die Befähigung des Abraham-Volkes zu seiner heilsuniversalen Sendung. Daran erinnern im Sinne einer liturgischen Verheutigung die Feste des jüdischen Jahres – zum Beispiel die jährliche Feier des Pascha-Ereignisses in Gestalt des PaschaMahles. Paulus erklärt die durch Christi Tod und Auferstehung erfolgte Befreiung und Sendung als vollendende Überbietung des Exodusgeschehens; deshalb die Analogie zwischen dem Wasser des Roten Meeres (Ex 14 f.) und dem Wasser der Taufe (Röm 6). Wie Israel durch das Exodusgeschehen und den Sinai-Bund befähigt und gesandt wurde, Salz der Erde und Licht der Welt zu werden, so die Kirche durch Tod und Auferstehung Christi. Die Überbietung liegt in dem, was die christliche Theologie als personale Identität (hypostatische Union) des Menschen Jesus mit dem innertrinitarischen Sohn, als Selbstvergegenwärtigung des trinitarischen Gottes in Raum und Zeit oder als die Ursakramentalität Jesu erklärt. Jesus ist nicht die personale Veranschaulichung der Tora, sondern umgekehrt: Er ist der göttliche Logos, den die Tora zu explizieren versucht. In Jesus Christus ist Gott als er selbst da – das ist das Neue; aber auch diese unüberbietbare Präsenz Gottes in Raum und Zeit entfaltet ihre Wirksamkeit im Modus des Bundes. Auch Christus ist Gottes Handeln nicht ohne das Volk, das durch die Taufe konstituiert und mit dem Empfangen des Abendmahls bzw. der Eucharistie befähigt wird, „Mittel und Werkzeug“ (LG 1) für die Heimholung auch der noch nicht erreichten Brüder und Schwestern zu sein. Die Empfänger der Sakramente von Taufe und

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Eucharistie sollen sein, was sie empfangen haben: nämlich der Leib Christi. Sie sollen nicht jeder nach eigenem Gusto oder nur mental oder innerlich Leib Christi sein, sondern so sichtbar wie der historische Jesus und seine sakramentale Vergegenwärtigung in den eucharistischen Gaben. Kurzum: Wie kein Israelit die Gemeinschaft mit JHWH leben kann, ohne sich in die heilsuniversale ­Sendung Israels integrieren zu lassen, so kann niemand die durch Christus ihm geschenkte Gemeinschaft annehmen, ohne sich in die heilsuniversale Sendung der Kirche integrieren zu lassen. Die von der liberalen protestantischen Theologie forcierte Frage, ob Jesus überhaupt die Kirche gewollt habe, oder ob man überhaupt von einer Gründung der Kirche durch den historischen Jesus sprechen könne, erübrigt sich angesichts der offensichtlichen Kontinuität zwischen Israel und der Kirche. Der christlichjüdische Dialog der vergangenen Jahrzehnte hat diese Kontinuität neu bewusst werden lassen. Kein protestantischer oder katholischer Theologe spricht heute noch von einer Substitution Israels durch die Kirche oder von einer Antithetik zwischen Evangelium (Rechtfertigungsgnade) und Gesetz (dem Willen Gottes entsprechenden Werken). Man kann sogar sagen: Der Dialog mit den Juden hat zur Relativierung, hier und da sogar zur Überwindung der innerchristlichen Differenzen in der Gnadenlehre geführt. Aber: In einem Punkt bleiben Protestanten und Katholiken gespalten: nämlich in Bezug auf die Verhältnisbestimmung von Rechtfertigungsgnade und Kirche. Protestanten bestreiten gewiss nicht, dass der biblisch bezeugte Gott das Volk Israel erwählt hat; und dass die Sendung Israels auch nach dem Christusereignis fortbesteht. Aber zugleich erklären die in der Leuenberger Konkordie vereinten „Kirchen“1, dass die geistgewirkte Versöh-

1 „Dass die römisch-katholische Kirche die reformatorischen Kirchen nie als ‚neue‘ Kirchen anerkannt hat, entspricht […] dem Selbstverständnis der Reformatoren selbst. Martin Luther hat sich gegen den an ihn gerichteten Vorwurf, er sei von der alten Kirche abgefallen und hätte eine neue Kirche gegründet, in seiner Schrift ‚Wider Hans Worst‘ verteidigt, indem er betonte, ‚dass wir bei der rechten alten Kirche geblieben, ja dass wir die rechte alte Kirche‘ sind und ‚mit der ganzen heiligen christlichen Kirche einen Körper und eine Gemeinde der Heiligen‘ bilden.“ (Kurt Koch, Kirchengemeinschaft oder Einheit der Kirche? Zum Ringen um eine angemessene Zielvorstellung der Ökumene, in: Kirche in ökumenischer Perspektive [Festschrift für Kardinal Walter Kasper zum 70. Geburtstag], hg. von Peter Walter, Klaus Krämer und Georg Ansorge, Freiburg 2003, 135–162, hier 142). –

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nung bzw. Rechtfertigung nicht gebunden ist an eine sichtbar verfasste Bekenntnisgemeinschaft. 2 Mehr als 200 protestantische Theologen haben sich gegen die am 31. 10. 1999 in Augsburg unterzeichnete Konsenserklärung zur Rechtfertigungslehre gewandt; und noch vehementer gegen das zur Jahrtausendwende promulgierte Lehrschreiben ‚Dominus ­Iesus‘. Denn dieses römische Dokument bindet die Rechtfertigungsgnade nicht nur an das Christusereignis, sondern auch an die Kirche. 3 Eine dem Sünder inspiratorisch statt inkarnatorisch geschenkte Rechtfertigung wäre – so erklärt Papst Johannes Paul II. – so etwas wie ein einseitiges Handeln Gottes am oder im Sünder. Anders gesagt: Nur die Vermittlung4 der Rechtfertigung durch den historischen Jesus (Ursakrament) und die ihm sakra

Dazu: Wilhelm Hüffmeier, Kirchliche Einheit als Kirchengemeinschaft – Das Leuenberger Modell, in: Jenseits der Einheit. Protestantische Ansichten der Ökumene, hg. von Friedrich W. Graf und Dietrich Korsch, Hannover 2001, 35–54. 2 Walter Kardinal Kasper hat darauf hingewiesen, dass die Lutheraner sich im Gefolge der Leuenberger Konkordie der reformierten Position assimiliert haben. Dies – so erklärt er – liegt darin begründet, „dass die reformierten Kirchengemeinschaften anders als die im LWB zusammengeschlossenen Gemeinschaften keine gemeinsamen Bekenntnisschriften und so keine ausdrücklich formulierte Bekenntnisidentität haben“ (Der päpstliche Rat zur Förderung der Einheit der Christen im Jahre 1999, in: Catholica 54 [2000] 81–97, hier 91). Das nach der ‚Leuenberger Konkordie‘ verfasste EKD-Votum für eine „Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“ ist eine klare Absage an das sakramentale Kirchenverständnis der katholischen und orthodoxen Tradition. Es ignoriert die Konsenspapiere des evangelisch-lutherisch/römisch-katholischen Dialogs und erklärt unverblümt: „Offensichtlich ist die römisch-katholische Vorstellung von der sichtbaren, vollen Einheit der Kirchen mit den hier entwickelten Verständnis von Kirchengemeinschaft nicht kompatibel“ (Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis. Ein Votum zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen. Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKDTexte 69), Hannover 2001, 13). Kurt Kardinal Koch kommentiert diese Feststellung mit der Folgerung: „Das Votum der EKD läuft […] auf eine Ökumene ohne Rom und ohne die orthodoxen Christen hinaus“ (Koch, Kirchengemeinschaft oder Einheit der Kirche? (Anm. 1), 154). 3 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung „Dominus Iesus“ über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, in deutscher Übersetzung hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (VAS 148), Bonn 2000, §§ 20–22. 4 Die Einzigkeit der Mittlerschaft und des Opfers Christi (vgl. Hebr 9 f.) schließt nicht aus, dass die von ihm Beschenkten in die Selbstgabe des Erlösers inkludiert werden. Dazu: Joseph Ratzinger, Der Priester als Mittler und Diener Jesu Christi im Licht der neutestamentlichen Botschaft, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 107– 128, hier 112–114.

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mental eingestaltete Kirche (Grundsakrament) wahrt den besagten Bundescharakter der Heilsgeschichte.

2. Der eucharistische Leib Christi und die Kirche als Leib Christi Die Kontinuität zwischen dem auserwählten Volk Israel und dem durch Christus konstituierten Volk kommt terminologisch schon darin zum Ausdruck, dass im NT nicht nur Israel, sondern – an wenigen Stellen – auch die Kirche als „Volk Gottes“ bezeichnet wird. Aber zu beachten ist neben der Kontinuität auch die Diskontinuität zwischen Israel und der Kirche. Denn die Kirche ist nicht nur ‚Volk Gottes‘ wie Israel, sondern darüber hinaus ‚Volk Gottes vom Leib Christi her‘. Deswegen wird sie im Unterschied zu Israel von den Autoren des NT normalerweise nicht ‚Volk Gottes‘ genannt, sondern mit dem griechischen Terminus ‚ekklesia‘ bezeichnet. Ursprünglich meint dieser Begriff die Versammlung einer griechischen Polis an einem ‚ekklesiasterion‘ genannten Ort, der zugleich Kultort war; dort wurden unter Anrufung der die Polis schützenden Gottheit(en) Beschlüsse gefasst oder später die Dekrete des Kaisers proklamiert und akklamiert. Analog die Versammlung der frühen Kirche an einem Ort (‚ekklesiasterion‘), an dem der zum Vater erhöhte Kyrios die auf seinen Tod und seine Auferstehung Getauften mit seiner sakramentalen Gegenwart beschenkt und zugleich beauftragt. 5 Wie die patristischen Studien des katholischen Patrologen Johannes Betz und die entsprechenden Arbeiten der protestantischen Theologen Ferdinand Kattenbusch und Werner Elert übereinstimmend erweisen,6 fasst Augustinus zusammen, was fast alle 5 Der protestantische Theologe Olof Linton bündelt die Ergebnisse seiner entsprechenden Forschungen in der Feststellung, die Kirche sei keine „menschliche Zweckorganisation“; sie entstehe nicht durch einen Zusammenschluss der im Glauben gerechtfertigten Individuen, sondern sei „eine Schöpfung von oben her“, nämlich Ekklesia Gottes und also Leib Christi; nicht nur eschatologisch erhoffte und also transzendente Communio der Heiligen, sondern auch soziologisch und geschichtlich erfahrbare Wirklichkeit. – Vgl. Linton, Olof: Das Problem der Urkirche in der neueren Forschung. Eine kritische Darstellung, Uppsala 1932, 133–135; ders., Ekklesia, in: RAC IV (Stuttgart 1959) 905–921. 6 Vgl. Ferdinand Kattenbusch, Der Quellort der Kirchenidee, in: Harnack-Ehrung (Fetschrift für Adolf von Harnack zum 70. Geburtstag), Tübingen 1921, 143–172;

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Väter des dritten und vierten Jahrhunderts in ähnlicher Weise über die Untrennbarkeit von Eucharistie und Kirche sagen. Mit Verweis u. a. auf 1 Kor 14,19.28.34 f.; Apg 5,11; 15,22 schreibt er in einem seiner uns erhaltenen Briefe: Weil ihr als Empfänger der Eucharistie „selbst Leib Christi […] seid, liegt auf dem eucharistischen Tisch euer eigenes Geheimnis […]. Ihr sollt also sein, was ihr seht, und ihr sollt empfangen, was ihr seid.“7 Während viele katholische Theologen – allen voran Henri de Lubac und Joseph Ratzinger – und orthodoxe Theologen – z. B. Nicolas Afanas’ev und Joannis D. Zizioulas – eine auf Paulus gestützte ‚eucharistische Ekklesiologie‘8 entfalten, lehnt die Mehrheit protestantischer Exegeten die Vereinnahmung des Paulus für die ­Bezeichnung der Kirche als Sakrament ab.9 Aus ihrer Sicht will Paulus – z. B. in der oft bemühten Formel 1 Kor 10,16 f. – lediglich



Werber Elert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche, hauptsächlich des Ostens, Berlin 1954, bes. 5–30.113–141; Johannes Betz, Die Eucharistie in der Zeit der griechischen Väter, Bd. I/1. Die Aktualpräsenz der Person und des Heilswerkes Jesu im Abendmahl nach der vorephesinischen griechischen Patristik, Freiburg 1955. 7 „Si ergo vos estis corpus Christi et membra, mysterium vestrum in mensa Dominica positum est […] Estote quod videtis, et accipite quod estis“ (Augustinus, Sermo 272, in: PL 38, 1247 f.). 8 Vgl. Henri de Lubac, Corpus Mysticum. Eucharistie und Kirche im Mittelalter, übertragen von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 1969; Joseph Ratzinger, Die Kirche – In Christus universales Sakrament des Heils, in: JRGS 8/1, Freiburg i. Br. 2010, 205–516; Peter Plank, Die Eucharistieversammlung als Kirche. Zur Entstehung und Entfaltung der eucharistischen Ekklesiologie Nikolaj Afanas’evs (Das östliche Christentum NF 31), Würzburg 1980; Paul McPartlan, The Eucharist makes the Church. Henri de Lubac and John Zizioulas in Dialogue, Edinburgh 2 1996; Wolfgang Thönissen, Gemeinschaft durch Teilhabe an Jesus Christus. Ein katholisches Modell für die Einheit der Christen, Freiburg 1996. 9 Vgl. von Seiten katholischer Exegeten auch: Helmut Merklein, Entstehung und Gehalt des paulinischen Leib-Christi-Gedankens, in: Im Gespräch mit dem dreieinen Gott. Elemente einer trinitarischen Ekklesiologie (Festschrift für Wilhelm Breuning), hg. von Michael Böhnke und Hanspeter Heinz, Düsseldorf 1985, 115– 140, hier 128–131.136–140; Michael Theobald, Eucharistie als Quelle sozialen Handelns. Eine biblisch-frühkirchliche Besinnung (BThSt 77), Neukirchen-Vluyn 2012. – Michael Theobald hat seine Paulusexegese in einer Kontroverse mit dem Frankfurter Systematiker Werner Löser zugespitzt: Michael Theobald, Rechtfertigung und Ekklesiologie nach Paulus, in: Ders., Studien zum Römerbrief, Tübingen 2001, 226–240; Werner Löser, „Jetzt aber seid ihr Gottes Volk“ (1 Petr 2,10) – Rechtfertigung und sakramentale Kirche, in: FZThPh 73 (1998) 321–333; Michael Theobald, Das Gespräch geht weiter! Replik auf Werner Löser, Rechtfertigung und Sakramentale Kirche, in: ders., Studien zum Römerbrief, Tübingen 2001, 241–249.

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die existenziellen und ethischen Konsequenzen der Kommunikation mit Christus (bzw. des Geschehens der Rechtfertigung des Sünders durch Christus) anmahnen, nicht aber die Empfänger Christi ihrerseits als Leib Christi oder als sakramentales Mittel und Werkzeug des Erlösers beschreiben. Doch selbst wenn man Paulus nicht für eine eucharistische Ekklesiologie beansprucht, ist doch gut bezeugt, dass Jesus sein letztes Pascha-Mahl nicht, wie im zeitgenössischen Judentum üblich, mit seinen Familienangehörigen feiert, sondern mit den Zwölfen (Mk 14,17 f.). Indem Jesus den Zwölferkreis schafft (Mk 3,13–19), erhebt er den Anspruch, das zur Zeit Jesu schon längst nicht mehr aus zwölf Stämmen bestehende Israel wiederherzustellen. Die Zwölf, die er auswählt, stehen in Analogie zu den zwölf Söhnen Jakobs. Erik Peterson10 bemerkt: Solange die Zwölf, wie Lukas erzählt, in Jerusalem versammelt sind, stehen sie für die erhoffte Wiederherstellung Israels. Erst nach der Erhöhung des Erlösers zum Vater, erst nach der Sendung des Geistes durch den erhöhten Kyrios ziehen sie hinaus, werden sie auch zu Aposteln. Fortan repräsentieren „die zwölf Apostel“ das vom Leib Christi her entstandene Volk aus Juden und Heiden. Und: Die vom Leib Christi her gebildete ‚ekklesia‘ ist immer die Gesamtkirche in und ‚an der Stelle‘ der Ortskirche. Deshalb spricht Paulus in seinen Briefen nicht die Kirche von Rom oder die Kirche von Korinth, sondern die Kirche in Korinth oder die Kirche in Rom oder die Kirche in Phi­ lippi an. Das Volk Gottes vom Leib Christi her ist nicht die nachträgliche Summe von Ortskirchen, sondern umgekehrt die Anwesenheit der von den zwölf Aposteln repräsentierten Gesamtkirche in den vielen Ortskirchen. Jeder der zwölf Apostel ist mit einer Autorität ausgestattet, die höher anzusiedeln ist als das, was Katholiken dem Lehramt des Papstes zuschreiben. Denn die zwölf

10 „Denn als es noch keine Kirche gab, als man in Jerusalem auf die Bekehrung Israels hoffte und die Wiederkunft des Menschensohns erwartete, da gab es nur ‚die Zwölfe‘ […], die in Jerusalem residierten. Der Ausdruck: ‚zwölf Apostel‘ zeigt dagegen das Neue, die Hinwendung zu den Heiden, an. ‚Die Zwölfe‘ gehören zum messianischen Reich, ‚die zwölf Apostel‘ aber gehören zur Kirche. […] Hätten die Zwölfe der Wirksamkeit des Heiligen Geistes nicht geglaubt, wären sie bei den Juden geblieben, und hätten sie die Heiden nicht angenommen, dann hätte es keine Kirche gegeben“ (Erik Peterson, Ekklesia: Studien zum altchristlichen Kirchenbegriff, hg. von Barbara Nichtweiß und Hans-Ulrich Weidemann, Würzburg 2010, 98 f.).

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Apostel fassen nicht nachträglich in Worte, was die Gesamtkirche synchron und diachron immer schon glaubt, sondern ihre Christus-Verkündigung liegt der in den kanonischen Schriften des Neuen Testamentes kristallin gewordenen Wahrheit bedingend voraus. Indem Lukas den Begriff Apostel auf die Zwölf beschränkt, unterscheidet er das Einmalige des Ursprungs vom Immerwährenden der Nachfolge. Von daher ist das Amt der neutestamentlich bezeugten Presbyter und Episkopen etwas anderes als das Apostolat der Zwölf; denn die Presbyter-Episkopen sind Nachfolger, aber nicht selbst Apostel. Pauli Abschiedsrede zu Milet (Apg 20,13–16) und der sogenannte ‚Presbyterspiegel‘ in 1 Petr 5,1–4 sind unbestreitbare Belege für eine gleichzeitige Diskontinuität und Kontinuität zwischen dem Apostolat der Zwölf und der nachapostolischen Gemeindeleitung. Indem der Verfasser des Ersten Petrusbriefes sich als Apostel ausweist und zugleich als ‚Mit-Presbyter‘ bezeichnet, wird deutlich: Etwas vom Apostolat der Zwölf geht weiter. Die ‚successio apostolica‘ ist die Art und Weise, wie die Treue zum Wort Jesu und seiner Urzeugen gewahrt wird.11 Unstrittig ist, dass sich schon Ende des zweiten Jahrhunderts der in Gemeinschaft mit Presbytern und Diakonen ausgeübte Mon­episkopat ausgebildet hat.12 Unstrittig ist auch, dass die Inhaber dieses kirchenleitenden Amtes dem, was von den zwölf Aposteln als Fundament gelegt wurde, nichts hinzufügen können. Aber aus katholischer und orthodoxer Sicht haben sie etwas Entscheidendes mit den Uraposteln gemeinsam: Sie repräsentieren das ‚Voraus‘ bzw. das ‚Prae‘ des Hauptes ‚Christus‘ gegenüber seinem Leib, der Kirche – als Einzelne jeweils nur gegenüber einer einzigen Ortskirche, und als Kollegium gegenüber der Gesamtkirche. Die ‚Zwölf‘ sind die Ersten, die den eucharistischen (sakramentalen) Leib Christi empfangen und die sich vom Auferstandenen autorisiert wissen, die Wahrheit, die die Person des gekreuzigten und auferstandenen Erlösers ist, authentisch zu bezeugen.13 Sie 11 Vgl. Joseph Ratzinger, Vom Wesen des Priestertums, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 33–50, hier 44 f. 12 Zur Geschichte der Verhältnisbestimmung von Bischof und Presbyter und zu der erst vom Vatikanum II endgültig geklärten Zugehörigkeit des Diakonates zu dem einen sakramentalen Amt: Karl-Heinz Menke, Die triadische Einheit des Ordo und die Frage nach einem Diakonat der Frau, in: ThPh 88 (2013) 340–371. 13 Das neutestamentliche Amt bestimmt sich zuerst vom Wort her. „Es ist verantwortlicherr Dienst am Wort. Die Tatsache aber, dass das Wort seine eigentliche Behei-

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gründen die ersten Ortskirchen; und sie legen – so bezeugen es bereits die Pastoralbriefe – bestimmten Personen die Hände auf. Es ist kein Zufall und gut bezeugt, dass diesen Personen der Vorsitz der Liturgie des Herrenmahles zukam.14 Der Bischof der frühen Kirche ist kein von der jeweiligen Ortskirche bestellter Amtsträger, sondern versteht sich als durch Handauflegung autorisierter Apostelnachfolger. Nicht erst die antignostischen Schriften des Irenaeus, schon die Briefe des Ignatius von Antiochien lassen diesbezüglich nichts an Eindeutigkeit zu wünschen übrig. Die Einheit einer Ortskirche wird sichtbar in der Bekenntnisgemeinschaft mit ihrem Bischof. Im Blick auf die Geschichte des Christentums ist evident, dass es keine geistgewirkte Selbstauslegung der hl. Schrift gibt. Wenn es in der von den griechischen und lateinischen Vätern dokumentierten Kirche theologischen Streit gab, hatte der Bischof das letzte Wort. Und wenn sein Wort nicht zur Beilegung des Streites genügte, versammelten sich benachbarte Bischöfe zumeist in einer Ortskirche, die ihre Gründung auf einen im NT genannten Urapostel zurückführt. Das Einverständnis15 mit einem Bischof,

matung in der eucharistischen Feier fand, ließ dann bald Wortdienst und Tischdienst ineinanderfallen und ergab damit jene Gestalt des Amtes, die fortan für die katholische Kirche charakteristisch blieb. Und […] Amt ist Dienst am allgemeinen Priestertum und in dessen Rahmen, Dienst der Ordnung, aber auch Dienst an der Freiheit des Geistes.“ (Joseph Ratzinger, Das geistliche Amt und die Einheit der Kirche, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 51–69, hier 60). 14 Stefan Heid (Altar und Tisch. Prinzipien christlicher Liturgie, Regensburg 2019, 69–93) hat die Theorie von vielen Hauskirchen, die erst allmählich zu einer Stadtkirche vereint wurden, endgültig widerlegt. Von Anfang an sind die Christen einer Stadt eucharistisch um einen Altar an einem Ort versammelt – entsprechend dem vom Konzil von Nizäa eingeschärften Gebot, dass es in jeder Stadt nur einen Bischof geben darf. 15 Der Jesuit Ludwig Hertling (Communio und Primat. Kirche und Papsttum in der christlichen Antike, in: US 17 [1962] 91–125) zeigt an Hand einer ganzen Fülle von überlieferten Beispielen, „dass im System der Communio nicht nur ein Platz für den Römischen Primat ist, sondern dass […] das System selbst mit logischer Notwendigkeit zu diesem Primat führt“ (ebd. 112). Mit dem Terminus „System der Communio“ bezeichnet er die seit dem zweiten Jahrhundert zuverlässig dokumentierte Suche nach Kriterien der Einheit der einzelnen Ortskirche bzw. des einzelnen Bischofs mit allen anderen Ortskirchen bzw. Bischöfen. Schon im zweiten Jahrhundert weist der einzelne Ortsbischof seine Communio mit den übrigen Ortskirchen dadurch aus, dass er mit möglichst vielen anderen Bischöfen kommuniziert, was konkret hieß: dass er Empfehlungsbriefe (Pässe) austauschte. Der hl. Athanasius und der hl. Basilius umfassen mit der Nennung der Bischöfe, mit denen sie in Briefkontakt standen, das ganze römische Reich. Und sie bezeugen noch ein weiteres Kriterium der Communio ihrer Ortskirchen mit allen anderen

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der seine Ortskirche auf einen Urapostel zurückführen konnte, schloss das Einverständnis mit ihm zugeordneten Bischöfen ein. So kam es nach einer relativ kurzen Zeit zur Ausbildung von Primatialansprüchen und zu einer Hierachisierung der Primatialsitze, schließlich zum Vorrang des Petrusnachfolgers. In jeder liturgischen Feier, in der sich die Kirche sakramental von Christus her empfängt, wird der Leiter der entsprechenden Ortskirche mit Namen genannt – jedenfalls im Bereich der orthodoxen und der katholischen Christenheit; in letzterer stets auch der Name des Petrusnachfolgers, weil er nicht nur die Ortskirche von Rom, sondern zugleich die Communio der Leiter aller Orts­ kirchen personal repräsentiert. Wer in einer Ortskirche das Sakrament des Leibes und Blutes Christi empfängt, bekundet durch sein ‚Amen‘16 nicht nur seinen Glauben an die Realpräsenz des Ostergeschehens, sondern auch seine Bekenntnisgemeinschaft mit dem Ortsbischof und mit der Communio aller Bischöfe. Denn die Empfänger der Eucharistie werden nicht nur mit der rechtfertigenden Gnade des Erlösers beschenkt, sondern zugleich gerufen, das mitzuteilen, was sie empfangen haben; und zwar nicht jeder auf je eigene Weise, sondern in der Bekenntnisgemeinschaft mit dem Ortsbischof und der Communio der Bischöfe. Wichtigste Aufgabe des besonderen Priestertums ist es – so erklärt Papst Benedikt –, „die Welt als Ganze zum Tempel und zur Opfergabe für Gott zu machen, das heißt die ganze Welt in den Leib Christi einzubeziehen, damit Gott alles in allem sei (vgl. 1 Kor 15,28).“17



Ortskirchen, nämlich das des Alters und besonders das der Gründung durch einen der Urapostel. Irenaeus stellt die rhetorische Frage: „Wenn über ein Problem, und mag es auch von mäßigem Gewicht sein, eine Diskussion entsteht, ist es da nicht das einzig Richtige, auf die ältesten Kirchen zurückzugreifen, in denen die Apostel gelebt haben, und sich von ihnen für die Lösung des aktuellen Problems Sicherheit und wirkliche Klarheit geben zu lassen?“ (Irenaeus, Adversus haereses III, 4,1 [FC 8/3, 38 f.]). Und Augustinus (Contra Cresconium II, 37 [CSEL 52, 406 f.]) rief den Bischöfen der Donatisten zu, sie sollten ihre Anklage nicht nur gegen den Bischof von Karthago und nicht nur gegen den von Rom, sondern auch gegen die anderen apostolischen Sitze richten; dann würde sich erweisen, dass sie nicht in Communio mit der Gesamtkirche stünden. 16 Vgl. Christoph Schönborn, Wovon wir leben können. Das Geheimnis der Eucharistie, hg. von Hubert P. Weber, Freiburg 2005, 152–155. 17 Ratzinger, Vom Wesen des Priestertums (Anm. 11), 47.

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3. Die sichtbare Kirche: Sakrament Christi oder Sakrament des Geistes? Wenn Protestanten, die bewusst an ihrer Konfession festhalten, von den Katholiken zwar zum gemeinsamen Beten und Feiern, nicht aber zum Empfang des Sakramentes der Eucharistie eingeladen werden, ist der Grund ganz gewiss nicht mangelnder Respekt oder mangelnde Gastfreundschaft. Die katholische Kirche will nicht vereinnahmen, sondern daran erinnern, dass, wer immer eucharistisch kommuniziert, ein öffentliches Bekenntnis ablegt. Es ist ein Gebot der Fairness, Angehörige einer anderen christ­ lichen Konfession darüber aufzuklären, dass der Empfang der Eucharistie nicht nur das visuell verdichtete Empfangen des Wortes von der Rechtfertigung allein aus Gnade bedeutet, sondern auch eine Sendung durch die vom Petrusnachfolger und vom Orts­ bischof repräsentierte Bekenntnisgemeinschaft ist. Auf die Frage, ob der Empfang der Sakramente heilsnotwendig ist, antworten Protestanten in der Regel negativ. Das Christus­ ereignis, so erklären sie, ist heilsnotwendig. Aber die rechtfertigende Gnade dieses Ereignisses wird vielen, wahrscheinlich den meisten Menschen zuteil, ohne dass sie selbst getauft werden. Letzteres bestreitet die katholische Kirche nicht. Aber sie spricht auch heute noch von der Heilsnotwendigkeit der Taufe – nicht in dem Sinne, dass nur gerettet wird, wer zuvor getauft wurde; sondern in dem Sinne, dass niemand gerettet wird, ohne dass es Getaufte und also die sichtbare Kirche gibt, die das Christusereignis in Raum und Zeit sakramental vergegenwärtigt. Die Frage, ob es die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi auch ohne die Einzigkeit und Heilsuniversalität der in den Apostelnachfolgern sichtbar geeinten Kirche gibt, wird von Protestanten und Katholiken bis heute unterschiedlich beantwortet. Für einen protestantischen Theologen ist es in der Regel kein Problem, die Einheit der Gläubigen in Christus mit unterschiedlichen Christusbekenntnissen getrennter kirchlicher Gemeinschaften zu vereinbaren. Denn die Einheit in Christus ist aus protestantischer Sicht eine letztlich unsichtbare und eschatologisch erhoffte Wirklichkeit. Sie ist jedenfalls nicht abhängig von der Bekenntniseinheit der Kirche. Zwar ist es noch gar nicht so lange her, dass Protestanten die ­Bekenntniseinheit mit ähnlicher Stringenz wie Katholiken zur Voraussetzung der Zulassung zum Abendmahl erklärt haben. Aber

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seit der in der Leuenberger Konkordie (1973) vereinbarten Abendmahlsgemeinschaft erklärt die überwiegende Mehrheit der Protestanten das Abendmahl fast ausschließlich als Einladung des zum Vater erhöhten Erlösers an alle Sünder, sofern sie an seine in Christus zugesagte Barmherzigkeit glauben; jedenfalls ist nicht ein bestimmtes Bekenntnis und schon gar nicht die Bereitschaft vorausgesetzt, Missionar des Bekenntnisses eben der Gemeinschaft sein zu wollen, in der man das Sakrament empfängt. Es ist kein Zufall, dass die Zahl der protestantischen Theologen wächst, die nicht nur die Bindung der Christusgemeinschaft an das besondere, sondern auch an das gemeinsame Priestertum in Frage stellt. Das gemeinsame Priestertum aller Getauften ist ja Ausdruck der Tatsache, dass die allen Konfessionen gemeinsame Taufe auch ein gemeinsames Christusbekenntnis und die Bereitschaft zu dessen missionarischer Bezeugung impliziert. Genau dagegen wendet sich – zum Beispiel! – der Wiener Systematiker Ulrich H. J. Körtner in seiner 2005 vorgelegten Bilanz des ökumenischen Gesprächs. Gottes Handeln, so bemerkt er, wird nicht durch menschliches bzw. kirchliches Handeln vermittelt, weswegen nicht nur die katholische Lehre von einem besonderen, sondern auch die angeblich konfessionsübergreifende Lehre vom gemeinsamen Priestertum aller Getauften zu hinterfragen sei.18 Protestantische Theologen wie Ulrich Körtner, Falk Wagner, Ingolf Dalferth oder Ulrich Luz stellen zwischen den historischen Jesus und die Genese des NT nicht die Kirche, sondern ein geistgewirktes Evangelium. Anders gesagt: Nicht die apostolisch verfasste Kirche ist Subjekt der Kanonisierung von AT und NT, sondern ein geistgewirktes Evangelium. Angesichts der vielen Spaltungen, die der Protestantismus ertragen musste, verabschieden die genannten Theologen das ökumenische Ziel der Bekenntniseinheit. Sie halten dieses Ziel nicht nur für illusorisch, sondern auch für schädlich, weil es auf Exkommunikation und Dogmatismus statt Inte­ gration beruhe. Ulrich Luz folgert: „Christus ist uns im Neuen Testament weder als klare und eindeutige Lehre, noch als klare und eindeutige Geschichte vorgegeben, sondern immer nur in Gestalt von Bildern, die sich Menschen wie z. B. Matthäus oder Paulus oder Johannes von ihm machten. Sie fordern Bibelleserinnen und Bibel-

18 Ulrich H. J. Körtner, Wohin steuert die Ökumene?, Göttingen 2005, 147 f.

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leser auf, mit ihnen in einen Dialog zu treten, damit sie zu ihrem eigenen Christusbild kommen. Insofern laden die neutestament­ lichen Christusbilder nicht zu Exkommunikation, sondern zu Kommunikation ein. Sie sind nicht präskriptiv, sondern haben Modellcharakter. Sie begrenzen nicht Wahrheit, sondern ermög­ lichen sie. Sie sind Wahrheit, aber nicht im Sinn einer Definition, sondern eines Weges (vgl. Joh 14,6).“19 Große protestantische Theologen wie Karl Barth und Wolfhart Pannenberg denken anders. Sie halten an der Offenbarkeit Gottes in Jesus Christus (an der Ursakramentalität Jesu) fest und binden den Glauben des je Einzelnen an das rechte Bekenntnis zur Einzigkeit und Heilsuniversalität Christi. Die ‚fides qua‘ ist für sie aus christologischen Gründen untrennbar von einer in Begriffe fassbaren ‚fides quae‘. Karl Barth erklärt die Spaltungen der Christenheit als Folgen menschlicher Schuld, die zu überwinden sind. Ähnlich Pannenberg: Er sieht das Evangelium nur da richtig verkündet und verwaltet, wo es sichtbare Einheit schafft. Körtner und Dalferth hingegen erklären: Solange die ökumenische Bewegung die ekklesiozentrische Perspektive einer sichtbaren Lehr-, Amtsund Kircheneinheit aufrechterhält, kann man nicht davon sprechen, dass die Ökumene in der Moderne angekommen ist. 20 Dieser Auffassung entsprechen auf katholischer Seite die Arbeiten von Edward Schillebeeckx 21 und Leonardo Boff 22 . Sie wollen 19 Ulrich Luz, Was heißt ‚Sola scriptura‘ heute?, in: EvTh 57 (1997) 28–35, hier 34. 20 Vgl. Körtner, Wohin steuert die Ökumene? (Anm. 18), 75; Ingolf U. Dalferth, Auf dem Weg der Ökumene, Leipzig 2002, 257. 21 Vgl. Edward Schillebeeckx, Theologische Überlegungen zur heutigen Priesterkrise, in: ders., Gott, Kirche, Welt, Mainz 1970, 173–210; ders., Theologie des kirchlichen Amtes, in: Diak 1 (1970) 147–160; ders., Die christliche Gemeinde und ihre Amtsträger, in: Conc(D) 16 (1980) 205–227; ders., Das kirchliche Amt, Düsseldorf 1981; ders., Christliche Identität und kirchliches Amt, Düsseldorf 1985. – Dazu im Sinne einer grundsätzlichen Kritik an der Darstellung der pneumatologischen als Alternative zur christologischen Begründung des Amtes: Walter Kasper, Das kirchliche Amt in der Diskussion. Zur Auseinandersetzung mit Edward Schillebeeckx „Das kirchliche Amt“ (Düsseldorf 1981), in: ThQ 163 (1983) 46–53. 22 „[Christozentrisches Modell:] Gott  Christus  Apostel  Bischöfe  Priester  Gläubige (In diesem Verständnis hat der Gläubige – außer dem Recht zu empfangen – nichts. Bischöfe und Priester haben alles bekommen: ein wahrer Kapitalismus. Sie produzieren die religiösen Werte, die das Volk konsumiert. Monarchischer und pyramidenhafter Stil)  [Pneumatozentrisches Modell:] Christus / Heiliger Geist  Gemeinde als Volk Gottes  Bischof / Priester / Koordinator (Alle Dienste dem Volk Gottes, im Volk Gottes und für das Volk Gottes. Die

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den Christozentrismus des sakramentalen Denkens durch die ­Inspirationslogik einer pneumatozentrisch gewendeten Ekklesio­ logie überwinden. Beide identifizieren den zum Vater erhöhten Christus mit dem Heiligen Geist. 23 An die Stelle der sakramental strukturierten Gesamtkirche tritt die unmittelbar vom Heiligen Geist begabte Ortsgemeinde. Boff beschwört die geistgewirkte Einheit der Brüder und Schwestern anstelle einer durch Autorität erzwungenen Einheit der Institution. Jeder Getaufte soll sein Charisma realisieren zum Aufbau der Gemeinde. Es gibt, so betonen Schillebeeckx und Boff unisono, keine sakramentale Repräsen­ tation des ontologischen und chronologischen ‚Voraus‘ Christi gegenüber der Gemeinde. Die in LG 10 affirmierte Unterscheidung einer sakramentalen Repräsentation des ‚Voraus‘ Christi vor und gegenüber der Kirche (besonderes Priestertum) von der Sakramentalität aller Getauften (gemeinsames Priestertum) ist aus ihrer Sicht ein Relikt der antireformatorischen Polemik des Trienter Konzils. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, den Einfluss der Arbeiten von Schillebeeckx und Boff zu dokumentieren. Ich beschränke mich hier auf drei deutsche Arbeiten, die man mit guten Gründen als Symptome eines fortschreitenden Trends bezeichnen darf. Die Münchener Theologin Judith Müller richtet an Joseph Ratzinger, Leo Scheffczyk, Gisbert Greshake und Gerhard Ludwig Müller den Vorwurf des Christomonismus. Und sie fragt Hans Urs von Balthasar, ob er Angst vor dem Wehen des Heiligen Geistes habe, da er doch der vom Heiligen Geist inspirierten ­Gemeinde nicht zutraue, ohne ein ihr sakramental vorgeordnetes

Dienste kommen erst an zweiter Stelle, die Gemeinde kommt zuerst. Brüderlicher und gemeinschaftlicher Stil. Flexibel, Dienste je nach Bedürfnissen)“ (Leonardo Boff, Kirche: Charisma und Macht, Düseldorf 1985, 236). 23 „Paulus setzt Christus mit dem Geiste gleich. Jesus selbst war das große Sakrament und das wirksame Sinnbild göttlichen Lebens und Geistes […] Er war nicht ein Prophet, der im Namen des Geistes sprach, sondern der Geist selbst in menschlicher Form“ (Boff, Kirche [Anm. 22], 257). – Schon in seiner Promotionsschrift propagiert Boff die Bezeichnung der Kirche als „Sakrament des Geistes“; er begründet seine Verhältnisbestimmung von Christologie und Ekklesiologie mit geradezu gnostisierenden Sentenzen wie der folgenden: „Als Auferstandener wird Jesus von der Eingeengtheit, von der Vorläufigkeit und Abkapselung in der raumzeitlich gebundenen Vorhandenheit befreit und geht in den offenen Seinsbezug des Universums ein“ (Leonardo Boff, Die Kirche als Sakrament im Horizont der Welterfahrung, Paderborn 1972, 374).

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Amt in der Wahrheit zu bleiben. Judith Müller wörtlich: „Das Kennzeichen ‚apostolisch‘ kommt der ganzen Kirche zu, nicht weil es in ihr Amtsträger gibt, die sich über eine formale Handauf­ legungskette als ‚Nachfolger der Apostel‘ definieren, sondern weil sie das wahre Evangelium verkündet und immer wieder neu Gestalt werden lässt. Zur Legitimation des kirchlichen Amtes ist die ‚Nachfolge der Apostel‘ im Sinne einer exklusiven Linie von Vollmachtsempfang und -weitergabe, die die apostolische Signatur der Kirche und ihrer Verkündigung als ganzer übergeht, weder historisch haltbar noch theologisch besonders tauglich.“24 In dieselbe Kerbe schlägt die Tübinger Habilitationsschrift von Guido Bausenhart. Er unterscheidet zwar zwischen Charismen, die der Einzelne von sich aus einbringt, und Charismen, die in der Gestalt von Ämtern als für jede Gemeinde notwendig erachtet werden. Aber die Differenz zwischen gewöhnlichen und amtlichen Charismen begründet, so meint er, nicht den in LG 10 als wesentlich bezeichneten Unterschied zwischen allgemeinem und besonderem Priestertum. 25 Auch Johanna Rahner bezeichnet die Ablösung der christozentrischen durch eine pneumatozentrische Ekklesiologie als logische Konsequenz des Zweiten Vatikanischen Konzils. Das Fazit ihrer Habilitationsschrift fasst sie selbst in das folgende Resümee: „Durch das betonte strikte Gegenüber von Christus und Kirche kann und darf keine geschichtlich entstandene kirchliche Struktur als sakrosankt gelten. […] Indem der Heilige Geist sich je unterschiedlicher geschichtlicher Verwirklichungen des elementaren Kircheseins als Mittel des Heils bedient, relativiert sich damit jedes konkrete, je einzelne Strukturelement von Kirche. Der Geist Gottes erweist sich strukturell flexibler als dies manch römisch-katholische Ekklesiologie auch noch im Gefolge des Konzils wahrhaben will.“26 Was hier als geistgewirkte ‚Flexibilität‘ erklärt wird, ist bei Licht betrachtet die Abschließung der Gemeinde in sich selbst. Sie 24 Judith Müller, In der Kirche Priester sein. Das Priesterbild in der deutschsprachigen katholischen Dogmatik des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2001, 241. 25 „Das kirchliche Amt entsteht als innergemeindliche Autorität […]. Damit ist die Vollmacht der ntl. Amtsträger ‚funktional bestimmt‘ […]. Die Aufgabe macht das Amt und macht es unverzichtbar für die Gemeinde, zu der es in absoluter Relation steht.“ (Guido Bausenhart, Das Amt in der Kirche, Freiburg 1999, 213 f.). 26 Johanna Rahner, Creatura Evangelii. Zum Verhältnis von Rechtfertigung und Kirche, Freiburg 2005, 557.

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­ rklärt sich – mit Berufung auf die Charismen ihrer Mitglieder – e zum Kriterium dessen, was Christus will oder nicht will. Dass Christus der gesamten Kirche in Gestalt des apostolischen Amtes urteilend und richtend gegenübersteht, bleibt ausgeblendet. Der Logos ist nicht inkarnatorisch als das Ursakrament Jesus und durch dessen sakramentale Repräsentation wirksam, sondern als vom Heiligen Geist begnadete Gemeinde und durch deren kommunikativ-demokratisch erzielte Beschlüsse. Doch: Das NT kennt keine inspiratorische Selbstoffenbarung Gottes neben der inkarnatorischen des Christusereignisses. 27 Im Gegenteil: Eine Gemeinde erweist sich in dem Maße als Frucht des Heiligen Geistes, in dem sie sich über ihre eigenen Plausibilitäten hinaus verweisen lässt auf den Fleisch gewordenen Logos, der ihr zunächst als der historische Jesus und nach dessen Erhöhung zum Vater sakramental begegnet – nicht zuletzt auch in Gestalt des sakramentalen 27 Das zur Jahrtausendwende promulgierte Lehrschreiben „Dominus Iesus“ warnt vor einer Doppelung der Heilsordnung in eine von Christus und eine vom Heiligen Geist gewirkte. Wörtlich heißt es in diesem Dokument: „Von einigen wird […] die Hypothese einer Heilsordnung des Heiligen Geistes vertreten, die einen universaleren Charakter habe als die Heilsordnung des fleischgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Diese Behauptung widerspricht dem katholischen Glauben, der vielmehr die Inkarnation des Wortes zu unserem Heil als ein trinitarisches Ereignis betrachtet. Im Neuen Testament ist das Mysterium Jesu, des fleischgewordenen Wortes, der Ort der Gegenwart des Heiligen Geistes und das Prinzip seiner Aussendung über die Menschheit, und zwar nicht nur in der messianischen Zeit (vgl. Apg 2,32–36; Joh 7,39; 20,22; 1 Kor 15,45), sondern auch in der Zeit vor seinem Eintreten in die Geschichte (vgl. 1 Kor 10,4; 1 Petr 1,10–12). […] Das Lehramt anerkennt die heilsgeschichtliche Funktion des Geistes im ganzen Universum und in der ganzen Geschichte der Menschheit, bekräftigt jedoch zugleich: […] Was immer der Geist im Herzen der Menschen und in der Geschichte der Völker, in den Kulturen und Religionen bewirkt, hat die Vorbereitung der Verkündigung zum Ziel und geschieht in Bezug auf Christus, das durch das Wirken des Geistes Fleisch gewordene Wort, um ihn zu erwirken, den vollkommenen Menschen, das Heil aller und die Zusammenführung des Universums.‘ Das Wirken des Geistes geschieht also nicht außerhalb oder neben dem Wirken Christi. Es gibt nur die eine Heilsordnung des einen und dreifaltigen Gottes, die im Mysterium der Inkarnation, des Todes und der Auferstehung des Sohnes Gottes Wirklichkeit wird und die durch die Mitwirkung des Heiligen Geistes vergegenwärtigt und in ihrer Heilsbedeutung auf die ganze Menschheit und auf das Universum ausgedehnt wird: ‚Die Menschen können demnach mit Gott nicht in Verbindung komen, wenn es nicht durch Jesus Christus unter Mitwirkung des Geistes geschieht‘.“ (Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung ‚Dominus Iesus‘ über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, in dt. Übersetzung hg. von der DBK [VApSt148], Bonn 2000, § 12).

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Amtes. Wo eine Gemeinde ihren Konsens mit Gehorsam verwechselt, schließt sie sich ab gegenüber der ihr inkarnatorisch und sakramental begegnenden Wahrheit. Kurzum: Das apostolische Amt ist kein Charisma, sondern sakramentale Repräsentation des ‚Voraus‘ Christi vor und gegenüber der Gemeinde. Das lässt sich gerade auch am Beispiel des Apostels erweisen, der besonders gern von den genannten Pneumatozentrikern vereinnahmt wird. 28 Im ersten Korintherbrief nimmt Paulus für sich das Recht in Anspruch, die Charismen seiner Adressaten auf ihre Echtheit prüfen zu dürfen. Wörtlich schreibt er an die Gemeinde von Korinth: „Wenn einer meint, Prophet zu sein oder geisterfüllt, soll er in dem, was ich euch schreibe, ein Gebot des Herrn erkennen. Wer das nicht anerkennt, wird nicht anerkannt.“ (1 Kor 14,37). Als von Chri­stus durch den Heiligen Geist bevollmächtigter Repräsentant (2 Kor 13,3.10; Röm 15,18) erklärt der Apostel, dass die Kir­che sich nicht aus dem Willen ihrer Mitglieder, son­dern einzig und allein von der Autorität ihres Gründers und Hauptes her­ leitet. Nicht wer sich selbst für inspiriert erklärt, sondern wer dem von Christus autorisierten Apostel gehorcht, ist davor gefeit, den eigenen Willen mit dem Willen Gottes zu verwechseln. Der Heilige Geist bindet die Kirche an das Fleisch gewordene Wort und dessen Auslegung durch die Apostel und ihre Nachfolger29. Man kann die neutestamentlich vorgegebene Christozentrik nicht durch eine 28 „Gerade im Ersten Korintherbrief wird […] die Autorität des Apostels der Gemeinde gegenüber sichtbar, so etwa, wenn er fragt: ‚Soll ich etwa mit dem Stock zu euch kommen oder in Liebe mit dem Geist der Milde?‘ (4,21). Der Apostel, der die Exkommunikation ausübt, ‚um den Geist zu retten am Tag des Herrn‘ (5,5), und der notfalls bereit ist, auch ‚mit dem Stock zu kommen‘, hat mit dem Ideal der pneumatischen Anarchie nichts zu tun, das in unseren Tagen manche Theologen plötzlich als Idealbild der Kirche gerade aus dem Ersten Korintherbrief herauslesen wollten. Die paulinischen Briefe […] zeigen uns den Apostel als Träger einer von Christus kommenden Autorität im Gegenüber zur Gemeinde. In diesem Gegenüberstehen des Apostels setzt sich das Gegenüber Christi zur Welt und zur Kirche fort – jene dialogische Struktur, die zum Wesen der Offenbarung gehört. […] Wo dieses Gegenüber […] verschwindet, ist die Wesensstruktur des Christentums zerstört“ (Ratzinger, Vom Wesen des Priestertums [Anm. 11], in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 33–50, hier 42 f.). 29 „Das Wort ist nicht ohne das Amt; es ist gebunden an den Zeugen, an Vollmacht und Sendung. Ein hypostasiert für sich bestehendes Wort gibt es nicht. Amt und Einheit hängen insofern aufs engste zusammen, als außerhalb des apostolischen Zusammenhanges keine Kirche existieren kann, Kircheneinheit vielmehr an die Einheit mit der apostolischen Vollmacht gebunden ist.“ (Ratzinger, Das geistliche

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Pneumatozentrik à la Boff oder Schillebeeckx ersetzen. Das ontologische und chronologische ‚Prius‘ Christi vor der Kirche muss strukturell sichtbar bleiben durch die Unterscheidung des besonderen vom allgemeinen Priestertum. Dadurch, dass jede Eucharistiegemeinde auf einen durch die Weihe legitimier­ten Amts­ träger angewiesen ist, erfährt sie ganz konkret: Sie kann sich das Entschei­dende, die Ge­meinschaft mit Christus, nicht selber ­geben.

4. Das Verhältnis von objektiver Bevollmächtigung und subjektiver Aneignung Augustinus betont gegenüber dem donatistischen Bischof Parmenian, dass das Heil der Gläubigen nicht von der Heiligkeit der Apostelnachfolger abhängt. Der Amtsträger muss die Welt nicht noch erlösen; sie ist schon erlöst. Diese Entlastung allerdings ­dispensiert den Amtsträger nicht von der Beglaubigung seiner Christusrepräsentation durch eine entsprechende Christusnachfolge. Denn gerade weil der Amtsträger nichts aus sich selbst, sondern ganz und gar Verweis auf den einzigen Mittler ist, darf man von ihm das geistliche ‚Arm-Werden‘, das Zurücktreten des Eigenen erwarten. Das heißt: Als Sakrament Christi erscheint der ordinierte Amtsträger in eben dem Maße, in dem er nicht sich, sondern Christus darstellt. Das Gegenteil ist die Subjektivierung der sakramentalen Vollzüge: zum Beispiel die Ersetzung der liturgisch vorgesehenen Perikopen durch ausgesuchte Beispiele der Literatur oder Geschichten der eigenen Biografie; oder in der Predigt Privatmeinungen zu aktuellen Ereignissen oder Erlebnisberichte aus dem letzten Urlaub. Es geht nicht um theologische oder rhetorische Vollkommenheit. Entscheidend ist, dass die Gemeinde spürt: Da steht einer, dem es nicht um sich selbst, sondern um das Evangelium geht. Da hat sich einer mit den ihm geschenkten



Amt [Anm. 13] 63 f.). – „Es gibt daher keine Trennbarkeit des materialen und des formalen Aspekts (Nachfolge im Wort, Nachfolge in der Handauflegung), sondern ihre innere Einheit ist das Zeichen der Einheit der Kirche selbst“ (ders., Die kirchliche Lehre vom Sacramentum ordinis, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 70–84, hier 79).

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Mitteln bemüht, das zu sagen, was der biblische Text vorgibt. Da steht ein betender Priester; da hat einer seine Armseligkeit dem überlassen, der sogar Schwäche in Stärke verwandeln kann. Begrenztheit muss kein Hindernis sein für die Vermittlung des Fleisch gewordenen Logos. Sie kann sogar zum Fenster werden, das Christi Licht einlässt. Beispiel: Die bis zuletzt durchgetragene Parkinson-Krankheit des hl. Papstes Johannes Paul II., der bei seinem letzten Erscheinen am Fenster seiner Wohnung über dem Petersplatz nicht mehr sprechen konnte, sondern nur noch stumm gesegnet hat. Es gibt die Eingestaltung der Armseligkeit des Priesters in die Gestalt dessen, der ausgerechnet am Kreuz alle an sich zog. Karl Rahner bemerkt in einem Brief, den er nach dem Konzil an einen vom ‚Achtundsechziger-Trend‘ angefressenen Priester schrieb: „Woher weiß einer so ganz sicher, dass ein Priester in der Ehe mehr an Menschlichkeit fertig brächte, wenn er in seinem Zölibat versagt? Wie mir das ständige Geschrei nach ‚Glück‘ zuwider ist, dieses Sichselbstbemitleiden, die kurzsichtige Meinung, es gäbe hier in dieser Welt ein anderes ‚Glück‘ als innerhalb der gelassenen Geduld darüber, dass jede Symphonie unvollendet bleibt! Auch und gerade die ‚glückliche‘ Ehe ruht auf den gegenseitig verschwiegenen Fundamenten der Einsamkeit und des Verzichtes. Wer seinen Zölibat zur Tat der selbstlosen Liebe macht – und das ist in Gottes erlösender Gnade möglich –, der ist ebenso glücklich, wie man es in der Ehe sein kann, der findet jene ‚vollkommene Freude‘, die der hat, der gelassen zu weinen versteht.“30 Der Zölibat ist Verzicht. Aber dieser Verzicht ist nur die Kehrseite einer Bejahung. Denn allein auf Verzicht lässt sich kein Leben bauen. Die persönliche Erfahrung der Liebe Christi muss das Movens jeder Entscheidung zum Zölibat um des Himmelreiches willen sein. Wer den Zölibat nur in Kauf nimmt, um Priester sein zu können, wird mit großer Wahrscheinlichkeit scheitern. Alles hängt an der lebendigen Christusbeziehung. Wie jede zwischenmenschliche Beziehung vom regelmäßigen Kontakt lebt, so auch die Christusbeziehung. Wer das Breviergebet einhält, täglich Eucharistie feiert und regelmäßig beichtet, der hält sich auch dann fest an Christus, wenn der Glaube angefochten ist. In der Regel

30 Karl Rahner, Knechte Christi. Meditationen zum Priestertum, Freiburg 1967, 180.

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steht am Anfang einer Zölibatskrise eine Beziehungskrise. Das Gebet wird vernachlässigt; die Beichte sowieso; man sucht sich private Freiräume, hinterfragt die bisher befolgten Regeln und ­erklärt den sogenannten Pflichtzölibat als unvereinbar mit den Menschenrechten. 31

5. Die Bindung des sakramentalen Amtes an das männliche Geschlecht Wenn man der neutestamentlichen Vorgabe (z. B. Kol 1,15–20) folgt, dann ist der Bund Gottes mit dem Menschen der Grund der Schöpfung; dann ist die Schöpfung immer schon hingeordnet auf das Ereignis der Inkarnation. Unter dieser Prämisse ist es alles andere als abwegig, eine der Grundgegebenheiten der Schöpfung, nämlich die Geschlechterdifferenz, als für die Heilsgeschichte bedeutsam auszuweisen. Ist es Zufall, so darf man fragen, dass schon der Bund JHWHs mit Israel in die Bilder der Brautwerbung und Vermählung gefasst wird; dass der Schöpfer in den biblischen Texten nie durch eine Frau repräsentiert wird; und dass umgekehrt die Schöpfung und auch das auserwählte Volk Israel immer als Frau personifiziert werden? Vor dem Ereignis der Inkarnation kann man die männliche Repräsentation des Schöpfers und die weibliche Repräsentation der Schöpfung und des auserwählten Volkes als in Israel geltende Konventionen bezeichnen. Nach der Fleischwerdung des göttlichen Logos aber ist die Repräsentation des Schöpfers durch einen Mann historisches Faktum. Natürlich kann man die possibilientheologische Frage stellen, ob Gott, wenn er gewollt hätte, nicht auch als Frau hätte Mensch werden können. Aber die Inkarnationslogik des NT verbietet solche Hinterfragung. Es gibt Kontingenzen, die zu den Fakten der ein für alle Mal geschehenen Selbstoffenbarung Gottes gehören – neben dem Jude- und Mannsein Christi auch die Elemente der Taufe und ­Eucharistie, die Abfassung des NT in der Sprache der Griechen und die Bindung der apostolischen Repräsentation Christi an das 31 Dass dieser Vorwurf jeder Logik entbehrt, erklärt Joseph Ratzinger in seinen Amerkungen zur Erklärung der geschlechtergerechten Ordination „als Menschenrecht“: Das Priestertum des Mannes – ein Verstoß gegen die Rechte der Frau?, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 129–138.

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männliche Geschlecht. Die Diktatur des Relativismus, die Papst Benedikt zu Beginn seines Pontifikates aus guten Gründen als die fundamentalste Herausforderung der gegenwärtigen Kirche bezeichnet hat, beruht wesentlich auf der Prämisse, dass alles Vor­ gegebene von sich aus nichts bedeutet, sondern erst durch den Menschen eine Bedeutung erhält. Schöpfung und Geschichte sind dann nicht Ausdruck der Wahrheit, die als der Mensch Jesus ein Gesicht bekommen hat, sondern bloßes Material der Sinnkon­ struktionen des Menschen. „Für die aufklärerische Vernunft ist ­alles Existierende grundsätzlich ‚Material‘, das der Mensch zum ‚Funktionieren‘ bringt und als Funktion in seinen Dienst stellt. Die Gleichheit alles Wirklichen beruht auf dessen totaler Funktionalität bzw. darauf, dass ‚Funktion‘ zur einzigen Kategorie des Denkens und Handelns wird.“32 Unbestreitbar wächst die Zahl der Getauften, die nicht glauben können, dass Christus die Selbstoffenbarung Gottes ist und bis heute ein Volk ermöglicht, das wahrheitsfähig ist. Aber wer als christlicher Theologe an den Logos von Schöpfung und Inkarnation glaubt, kann doch nicht ernstlich behaupten, im Glauben der Christus durch Taufe und Eucharistie eingestalteten Kirche liege keine andere Ermächtigung zur Wahrheit als die, vorläufige Meinungen und zeitbedingte Interpretationen auf „das Ding an sich“ zu projizieren. Die Päpste Paul VI., Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus haben unisono bekräftigt 33 : Der Logos Gottes hat die Differenz von Mann und Frau mit einer Bedeutung aufge­ laden, die unabhängig davon ist, ob sie dem Zeitgeist plausibel

32 Ratzinger, Das Priestertum des Mannes (Anm. 31), 135. 33 „Wenn das Lehramt des Papstes eine Lehre bekräftigen will, die mit Sicherheit seit den apostolischen Anfängen zur Überlieferung der Kirche gehört und objektiv von der gemeinsamen und universalen Lehre der Bischöfe in Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri vorgelegt wird, so ist dieser besondere Akt der Bekräftigung, auch wenn er nicht in Form einer Definition oder einer feierlichen Entscheidung erfolgt, dennoch eine explizite Bezeugung der unfehlbar vorgelegten Lehre der Kirche. Denn müsste der Papst mit einer Definition ex cathedra einschreiten, wenn es darum geht zu erklären, dass Glaubens- und Sittenlehre beständig in der lebendigen Überlieferung der Kirche und vom ordentlichen universalen Lehramt vorgelegt werden, würde das implizit zu einer Minderung des letzteren führen., und die Unfehlbarkeit würde ausschließlich Definitionen ex cathedra oder Definitionen eines Konzils vorbehalten sein“ (Joseph Ratzinger, Grenzen kirchlicher Vollmacht. Einführung zum Apostolischen Schreiben „Ordinatio Sacerdotalis“ [1994], in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 139–153, hier 149 f.).

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erscheint oder nicht. Wer am Altar die Worte Christi spricht „mein Leib hingegeben für euch“, repräsentiert das Mann gewordene Wort, aus dem sich die Kirche täglich eucharistisch empfängt. Und die eucharistisch versammelte Gemeinde ist personifiziert in der Frau, die als die ‚Immaculata‘ vollkommenes Empfangen war. Es gehört zum inkarnatorischen Grundcharakter der Offenbarung, dass die geschaffenen und sprachlichen Symbole, in denen sie sich äußert, nicht austauschbar sind. Das sakramentale Amt in der Kirche ist eine Stiftung Christi und deshalb an Vorgaben gebunden, über die auch Papst und Konzil nicht verfügen können. Die Bindung des apostolischen Amtes an das männliche Geschlecht geschieht aus Treue zur biblisch bezeugten Heilsgeschichte, nicht aus Treue zu einer von der Kirche verordneten Regel. Im Nachhinein erstaunlich ist, dass alle Protestanten sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Bindung des Pfarramtes an das männliche Geschlecht verpflichtet fühlten, obwohl der Prediger oder Pastor nach protestantischer Auffassung gar kein Priester ist. Protestanten, die von Katholiken die überfällige Einlösung der Geschlechtergerechtigkeit fordern, sollten sich bewusst sein, dass es in ihren eigenen Gemeinschaften gar kein Pendant zum besonderen Priestertum der katholischen und orthodoxen Kirchen gibt; und dass sie selbst bis heute kontingente Gegebenheiten wie das Wasser bei der Taufe oder Brot und Wein beim Abendmahl als nicht veränderbare Vorgaben erklären – oder sogar das in der katholischen Kirche übliche Austeilen des Abendmahles nur unter einer Gestalt als mit dem Willen Christi unvereinbar betrachten. Sie müssten doch – so sollte man meinen – Verständnis für die These aufbringen, dass die Bindung des apostolischen Amtes an das männliche Geschlecht durch das biblisch bezeugte Verhältnis Gottes zur Schöpfung und Christi zur Kirche bestimmt wird. Hans Urs von Balthasar führt das fortschreitende Verschwinden einer sakramentalen Sicht der Geschlechterdifferenz maßgeblich zurück auf die Verdrängung der marianischen zugunsten der petrinischen Dimension. Petrinisch nennt er die Repräsentation des Hauptes der Kirche gegenüber dem Leib; marianisch den Primat des je persönlichen Annehmens und Empfangens der Gnade. Freilich, so bemerkt er, um dies einzusehen, bedarf es jenes Blickes auf die Kirche, „den die Kirchenväter und noch das Mittelalter und der Barock besaßen und den erst wir – im Zeitalter

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der rationalistischen Aufklärung – verloren haben.“34 Es geht um den Primat des „inneren“ Priestertums der Aufnahme des Wortes vor dem „äußeren“ Priestertum der amtlichen Repräsentanz des Wortes. Das besondere Priestertum hebt seine Träger nicht über die übrigen Christen hinaus. Das ‚Mehr‘ oder das ‚Weniger‘ des Christseins entscheidet sich allein am Grad der Heiligkeit. 35 Eigentlich – so bemerkt Hans Urs von Balthasar – müsste es die Frau in der Kirche mit Stolz erfüllen, „zu wissen, dass sie – zunächst in der Jungfrau-Mutter Maria – der bevorzugte Ort ist, wo Gott in der Welt aufgenommen werden kann und will. Zwischen der erstmaligen Menschwerdung des Wortes Gottes in Maria und seiner immer neuen Ankunft in der empfangenden Kirche besteht eine innere Kontinuität. Das, und das allein, ist das entscheidende ­ christliche Geschehen, und sofern Männer in der Kirche sind, müssen sie, ob sie ein Amt haben oder nicht, an dieser umgreifenden Weiblichkeit der marianischen Kirche teilnehmen. In Maria ist Kirche, und zwar vollkommene Kirche, immer schon real, längst bevor es ein apostolisches Amt gibt. Dieses bleibt in seiner Repräsentanz sekundär und instrumental.“36 Das eine ist die Frage nach dem Frauenpriestertum; etwas anderes die berechtigte Forderung nach geschlechtergerechter Partizipation der Frau, wo immer dies kirchenrechtlich möglich ist. Dabei kann es nicht um eine erneute Abkoppelung der „potestas iurisdictionis“ von der „potestas ordinis“ gehen. Die im Mittel­ alter übliche Leitung eines Bistums durch einen nichtgeweihten Fürstbischof könnte auf vorgelagerten Ebenen wiederkehren – zum Beispiel in Gestalt der Leitung von Pfarrgemeinden durch nichtgeweihte Administratorinnen. Doch wenn die Sakramentalität der Kirche auf dem Spiel steht, ist Pragmatismus unangebracht.

34 Hans Urs von Balthasar, Neue Klarstellungen, Einsiedeln 1979, 113. 35 Bekanntlich hat schon Augustinus darauf hingewiesen, dass die Inhaber des apostolischen Amtes keineswegs ein persönliches Plus empfangen; dass ihnen im Gegenteil das Bischof- und Priestersein zum Verhängnis werden kann: „Ubi me terret quod vobis sum, ibi me consolatur quod vobiscum sum. Vobis enim sum episcopus, vobiscum sum christianus. Illud est nomen officii, hoc gratiae; illud periculi est, hoc salutis.“ (Augustinus, Sermo 340,1, in: PL 38, 1483). 36 Hans Urs von Balthasar, Welches Gewicht hat die ununterbrochene Tradition der Kirche bezüglich der Zuordnung des Priestertums an den Mann?, in: Frauen in der Kirche. Eigensein und Mitverantwortung, hg. von Gerhard Ludwig Müller, Würzburg 1999, 252–258, hier 258.

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Möglich ist die weitgehende Befreiung des ordinierten Seelsorgers von Aufgaben, die mit Verwaltungsmacht, Geld und Einfluss verbunden sind. Das sakramentale Amt ist wesentlich Darstellung der eucharistischen Selbstverschenkung Christi. Deshalb kann und darf Macht nicht die Signatur des Klerus sein. Die Kirche kann und muss sich reformieren, was sie jedoch nicht in der Hand hat, ist, „je nach Wunsch ‚zeitgemäß‘ zu sein; sie darf nicht Christus und Christentum an der Zeit und ihrer Mode messen, sondern sie muss umgekehrt die Zeiten unter das Maß Christi stellen.“37

37 Joseph Ratzinger, Die pastoralen Implikationen der Lehre von der Kollegialität der Bischöfe, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 233–261, hier 259.

Was ist das gemeinsame ­Priestertum aller Gläubigen und worin unterscheidet es sich vom Weihepriestertum? María Esther Gómez de Pedro

An erster Stelle möchte ich mich bei den Organisatoren dieser Tagung für die Einladung bedanken. Gemeinsam mit Ihnen über dieses Thema zu reflektieren, stellt für mich eine große Ehre dar. Bei meinen Überlegungen werde ich im Folgenden einerseits von einigen kirchlichen Dokumenten und Überlegungen in der Theologie von Joseph Ratzinger ausgehen, andererseits auch von meiner persönlichen Glaubenserfahrung, die mich die Größe der Taufe und ihrer Wirkungen immer mehr hat entdecken lassen. Diese Erfahrung durfte ich innerhalb des Charismas eines Institutes gottgeweihter Laien machen, des Katholischen Säkularinstituts Cruzadas de Santa María, die ihre Weihe inmitten der welt­ lichen Strukturen leben.

1. Theologische Verortung des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen: Meine persönliche Erfahrung Jede authentisch gelebte Erfahrung ermöglicht uns eine einzigartige Annäherung an die Erkenntnis der großen Wahrheiten, was auch auf das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen zutrifft. Da dieser Zugang allen gleichermaßen offensteht, möchte ich kurz einige meiner persönlichen Erfahrungen berichten, um auf diesem Wege eine theologische Verortung zu versuchen. Der erste theologische Ort, an dem das gemeinsame Priestertum für mich erfahrbar wurde, war die Entdeckung der wahren

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Bedeutung des Wortes „Glauben“, indem ich mich anstelle eines Glaubens aus bloßer Gewohnheit bewusst und frei für einen Glauben entschied, den ich als sinnvoll erfuhr. Eingebunden in eine Gemeinschaft, die den Glauben harmonisch, konsequent und froh ins Alltagsleben integrierte, verstand ich, dass ich vierundzwanzig Stunden am Tag Katholikin sein musste und dass der Glaube eine Einheit des Lebens voraussetzte. Ein weiterer Mosaikstein: Ich beschäftigte mich intensiver mit den Marienerscheinungen von Fatima (auch wenn ich sie vorher schon kannte). Dabei wurde mir bewusst, dass auch ich zur Rettung der Sünder durch meine Gebete und durch freiwillig aus Liebe gebrachte Opfer beitragen kann, dass mein Leben miterlösend wirken kann, wenn ich es mit dem Erlösungsopfer Christi am Kreuz vereinigte. Dazu bedurfte es keiner Wunder oder Ekstasen, auch musste ich nicht perfekt und ohne Fehler sein. Die Heiligkeit erschien mir auf diese Weise erreichbar und sie erhielt für mich eine miterlösende Dimension, die ihren Widerhall im Gebet des Priesters während der Messe fand, das uns einlädt, unser Leben „auf immer zu einer Gabe, die [Gott] wohlgefällt“ (Hochgebet III), zu machen. Die Lektüre der Schriften der hl. Therese von Lisieux, besonders ihres Aktes der Hingabe an die barmherzige Liebe Gottes, bestätigte mir dies. Ein einziger Akt der reinen Liebe konnte das Herz Gottes anrühren und ihm Trost verschaffen. Auf diese Weise erfasste ich intuitiv ein sehr großes Geheimnis. Ich konnte mich Gott nähern und ihm mein Leben als Sühne-, Liebes- und Dankopfer darbringen, indem ich meine alltäglichen Handlungen durch kleine Stoßgebete vor Gott Vater trug, an jedem beliebigen Ort und bei jeder beliebigen Tätigkeit, selbst der allergewöhnlichsten. Ich engagierte mich mehr für den Glauben: im täglichen Gebet, im regelmäßigen Empfang der Sakramente, indem ich meine Bequemlichkeit als Teenager überwand und mich bemühte, den Glauben weiterzugeben, oder indem ich Vorträge über den Glauben und über Menschenbildung hielt. Während dieser Zeit hatte ich eine geistliche Begleiterin, die für mich menschliches Vorbild war und mir einen verantwortlich gelebten Glauben vor Augen stellte. Sie war sich der wichtigen Rolle des Priesters bewusst, lebte aber auch eigenständig ihre Rolle als gläubige Katholikin. Auf diese Weise lernte ich meinen Glauben von der spezifischen Berufung der Laien her zu leben, die dazu gerufen sind, Christus

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mit ihrem Leben inmitten der weltlichen Strukturen gegenwärtig zu machen. Getragen wurde ich dabei durch ein geistliches Leben, das mich nach der Vereinigung mit Gott und nach seiner Ehre streben ließ, indem ich mich im Apostolat einsetzte. Ich hatte verstanden, dass der Glaube nicht nur darin bestand, zur Kirche zu gehen, nicht einmal nur darin, als Firm- oder Kommunionhelferin zu wirken oder beim Sonntagsgottesdienst einen aktiven Dienst zu übernehmen. Natürlich gehörte das auch dazu, aber Glaube war noch viel mehr. Ich hatte das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen entdeckt.

2. Teilhabe am einen Priestertum Jesu Christi Hiermit beschließe ich meine persönlichen Erfahrungen des gemeinsamen Priestertums. Wie aber ist es aus theologischer Perspektive zu verstehen? Das christliche Verständnis des Priestertums schuldet sich noch zu einem Teil jenem des Alten Testaments. Neben den Priestern, die sich ausschließlich dem Kult widmeten, wurde der Begriff bisweilen auch auf das ganze Volk angewendet, insofern es ihm zustand, zum Altar Gottes hinzutreten und Gott Opfer darzubringen.1 Christus ist der eine und ewige Hohepriester, der seinem ganzen Volk durch die Salbung der Taufe Anteil an seinem Priestertum verleiht, indem er uns zu einem „alter Christus“, zu „Gesalbten“ macht – zu Priestern, Propheten und Königen. Andererseits ist es nach Yves Congar dem Priestertum eigen, zur Wiedergutmachung von Sünde oder Unrecht Opfergaben darbringen zu können, wobei ein solches Opfer unterschiedliche Formen annehmen kann (geistig oder materiell). 2 Einer der Schlüsseltexte für das Verständnis des gemeinsamen Priestertums, das uns in Christus zum „alter Christus“ werden lässt und uns als lebendige Steine in den geistigen Bau der Kirche 1 Vgl. Gran Enciclopedia Rialp (GER), s.v. „sacerdocio“. 2 Hier und an verschiedenen Stellen meiner Ausführungen beziehe ich mich auf die Studie von Yves Congar, Der Laie: Entwurf einer Theologie des Laientums, Stuttgart 1957. Nach Congar hat das Opfer drei Elemente: sein Bezogensein und seine Hinordnung auf Gott, die dargebrachte Sache (im Neuen Testament und in der Kirche ist diese geistiger Natur) und die Handlung, durch welche die dargebrachte Gabe von Gott vermittels eines Ritus angenommen und geheiligt wird (ebd. 233–237).

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einfügt, ist der erste Petrusbrief: „Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist! Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, 3 die Gott gefallen! […] Ihr […] seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde“ (1 Petr 2,4–5.9). Durch Christus, nicht durch ­unser eigenes Verdienst, kommt uns dieser Status zu.4 Durch die Taufe erhalten wir Anteil am göttlichen Leben und werden Christus, dem König, Priester und Propheten, gleichgestaltet. 5 Er macht uns zu Gliedern seines Leibes, dessen Haupt er selbst ist, und von daher auch zu Angehörigen des Volkes Gottes, das sich auszeichnet durch „die Würde und die Freiheit der Kinder Gottes“ (LG 9), zwischen denen nach Lumen gentium „eine wahre Gleichheit“ waltet „in der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi“ (LG 32). Das ist eine zentrale Wahrheit unseres Glaubens: Es gibt keine größere Würde als diejenige, die uns durch die Salbung in der Taufe verliehen wird. In ihr werden wir im Sohn zu Söhnen, zu Erben seiner Verheißungen, zu lebendigen Tempeln des Heiligen Geistes und zu lebendigen Gliedern des von Gott auserwählten

3 Während der Vorbereitung dieses Vortrags wurde ich erneut auf die Formulierung in den Bitten zu den Laudes vom Montag der 2. Woche aufmerksam, wo es heißt: „Du hast uns zu einem priesterlichen Volk gemacht: Lass uns ganz dir gehören“. 4 Auch in der Johannes-Apokalypse wird dies betont: „Ihm, der uns liebt und uns von unseren Sünden erlöst hat durch sein Blut, der uns zu einem Königreich gemacht hat und zu Priestern vor Gott, seinem Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit. Amen“ (Offb 1,5–6). 5 „Was ist das eigentlich, Taufe? Was bedeutet es, dass wir Getaufte sind? […] Taufe bedeutet Hineintreten in einen neuen Lebensbereich, Aufgehen in einer neuen Dimension des menschlichen Lebens. Taufe ist Wiedergeburt. […] Wer wiedergeboren wird, der bleibt nicht allein, sondern tritt hinein in die Gemeinschaft derer, die durch die Wiedergeburt Brüder und Schwestern Jesu Christi geworden sind. Der wird hineinversammelt in die große, neue Familie des Volkes Gottes, der Kirche. Taufe heißt nicht nur persönliches Verhältnis zu Gott, es heißt Verhältnis miteinander, es heißt zusammenstehen und zusammenleben in der Gemeinschaft der Heiligen, in der katholischen Kirche.“ Joseph Ratzinger, „Taufe – Ursprung und Wegweisung christlichen Lebens. Predigt anlässlich des 100-jährigen Pfarrjubiläums und des silbernen Priesterjubiläums von Stadtpfarrer Alfons Hausmann in St. Johann Baptist zu München-Haidhausen am 24. Juni 1979“, in: JRGS 8/2, Freiburg i. Br. 2010, 1330–1332.

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Volkes, durch seine Gnade befähigt, vor Gottes Angesicht zu treten und ihm „geistige Opfer darzubringen“. Daher bekennt der hl. Petrus Damiani freudig: „Mit vollem Recht sind wir Priester, denn wir wurden gesalbt mit dem Öl und dem Chrisam des Heiligen Geistes“.6 Es ist wichtig, dies hervorzuheben, um der Tendenz entgegenzuwirken, diese Realität in gewissem Maße zu verstellen, zum Teil als Reaktion auf deren übertriebene Betonung innerhalb bestimmter Strömungen des Protestantismus und aus Angst vor einem „theologischen Neomodernismus. […] Und doch ist es eine überzeugende und tröstliche Wirklichkeit, dass jeder Christ am Priestertum Jesu Christi teilhat“.7 Gerade die Befähigung, vor das Angesicht Gottes hinzutreten und Gebete und Opfer vor ihn zu tragen, ist es, was jedes Priestertum besonders auszeichnet. Dem entspricht in diesem Sinn auch der Brauch der Kirche der ersten Jahrhunderte, in der die Katechumenen nur zur Liturgie des Wortes zugelassen waren, während sie von der Eucharistiefeier ausgeschlossen waren, die allein den Getauften vorbehalten war. In der Tat waren somit nur diejenigen, die bereits Anteil am Priestertum Christi erhalten hatten, auch in der Lage, im wörtlichen Sinn an den Altar Gottes zu treten und ihr eigenes Leben mit dem Opfer Christi zu vereinigen. 8 Dies wird im Katechismus der Katholischen Kirche bestätigt, der erklärt, dass die Taufe die Gläubigen „‚zur christlichen Gottesverehrung bestellt‘ (LG 11)“ und verpflichtet, „in lebendiger Teilnahme an der heiligen Liturgie der Kirche Gott zu dienen und durch das Zeugnis eines heiligen Lebens und einer tatkräftigen Liebe das Priestertum aller Getauften auszuüben“.9 Nach meinem Verständnis ist es gerade dieser Zugang zum Gottesdienst dank der Teilhabe am Priestertum Christi, der das eigentlich Spezifische des Priestertums ausmacht, der Zugang zu einem Gottesdienst, der sich konkret verwirklicht im Bitt-, Lobund Dankgebet und in der Darbringung geistiger Opfergaben. In den Laien manifestiert sich folglich ihr priesterliches Handeln auf zweifache Weise: zum Ersten schon jetzt in der Teilhabe an der 6 Serm. XLVI, PL 144, S. 754; zitiert in Tomás Morales, Die Stunde der Laien, München 2009, 104. 7 Morales, Die Stunde der Laien (Anm. 6), 104. 8 Dies geht unter anderem aus dem Zeugnis des hl. Johannes Chrysostomus in ­seinen Taufkatechesen hervor. 9 KKK, Nr. 1273.

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himmlischen Liturgie, deren Hohepriester Christus selbst ist, was sich in der aktiven Teilnahme an der Heiligen Messe verwirklicht und zum Zweiten in der Darbringung der Liturgie des eigenen Lebens als Opfergabe für Gott, vereint mit Christus im zweifachen Opfer des Lobes und der tätigen Liebe. Genau das meinte Origenes, wenn er die Christen ermunterte, dass jeder einzelne Christ „in sich selbst sein Brandopfer“ tragen und dass „er es selbst entzünden“ solle.10 Das Leben des Christen in Vereinigung mit Christus verwandelt sich so auf immer zu einer Gabe, die Gott wohlgefällt und die fähig ist, die Welt und deren Strukturen zu verwandeln, in dem Maß, in dem sie sich mit dem Kreuzesopfer des einen Hohepriesters Jesus Christus verbindet. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch auf den wichtigen Abschnitt 14 des Apostolischen Schreibens Christifideles laici von Papst Johannes Paul II. verweisen, in dem er die wesentlichen Inhalte von Lumen gentium über das allgemeine Priestertum aller Getauften noch einmal aufgreift und resümiert:11 „Die Laien nehmen teil am priesterlichen Amt Christi, durch das Jesus sich selbst am Kreuz geopfert hat und sich in der Feier der Eucharistie ständig neu für die Verherrlichung des Vaters und für das Heil der Menschheit darbringt. Christus eingegliedert, sind die Getauften in der Hingabe ihrer selbst und all ihres Tuns mit ihm und seinem Opfer vereint (vgl. Röm 12,1–2). Das Konzil sagt über die Laien: ‚Es sind nämlich alle ihre Werke, Gebete und apostolischen Unternehmungen, ihr Ehe- und Familienleben, die tägliche Arbeit, die geistige und körperliche Erholung, wenn sie im Geist getan werden, aber auch die Lasten des Lebens, wenn sie geduldig ­getragen werden, ‚geistige Opfer, wohlgefällig vor Gott durch Jesus Christus‘ (1 Petr 2,5). Bei der Feier der Eucharistie werden sie mit der Darbringung des Herrenleibes dem Vater in Ehrfurcht dargeboten. So weihen auch die Laien, überall Anbeter in heiligem Tun, die Welt selbst Gott.‘ (LG, 34)“.12

10 In Leviticum. Hom. IX, 1,2,8,9, zitiert in Morales, Die Stunde der Laien (Anm. 6), 104. 11 „Die Laien nehmen auf ihre Weise Teil am dreifachen – priesterlichen, prophetischen und königlichen – Amt Christi. […] In diesem Schreiben werden die Laien erneut aufgefordert, die reiche und fruchtbare Lehre des Konzils über ihre Teilhabe am dreifachen Amt Christi aufmerksam und mit bereitem Herzen zu lesen und zu meditieren.“ 12 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Christifideles Laici, in: AAS 81 (1989) 393–521.

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Somit ist das gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen die Basis, die es uns erlaubt, nach einem „heiligen Leben in tätiger Liebe“ zu streben, das uns einerseits Gott wohlgefällig macht, indem es uns mit ihm, dem Heiligen par excellence, vereint und andererseits mittels Apostolat und guter Werke vor den Menschen Zeugnis von ­seiner Erlösung ablegt. Das Leben in Christus – nichts anderes bedeutet Heiligkeit – ist die höchste Würde nach der wir streben können. So verstanden es die ersten Christen, indem sie ihren Brüdern und Schwestern im Glauben den Namen „Heilige“ gaben und sich um ein Leben bemühten, das in allem Gott wohlgefällig war. So mahnt der hl. Paulus: „Ob ihr also esst oder trinkt oder etwas anderes tut: Tut alles zur Verherrlichung Gottes!“ (1 Kor 10,31) Die ersten Christen beeindrucken nicht nur durch ihr Beispiel, sondern auch durch die Kraft und Frische ihres Glaubens, den sie direkt von den Aposteln, den vertrautesten Freunden Jesu, empfangen hatten. Daher rühren die zahlreichen Früchte ihrer Heiligkeit. Da nun das wesentliche Charakteristikum des allgemeinen Priestertums aller Getauften darin besteht, in Vereinigung mit Christus geistige Opfer darzubringen, gilt es den Gläubigen die Teilnahme an einen Opfer Christi, das sich auf unblutige Weise in der Eucharistie von Neuem verwirklicht, zu ermöglichen. Nur auf diese Weise können sie die Darbringung ihrer selbst als Gabe in ihrer Fülle verwirklichen. Um die Fortdauer des einen Opfers Jesu Christi an den Vater auf sakramentale Weise zu ermöglichen, wollte Christus selbst seine Apostel, die er zu diesem Dienst erwählte, auf besondere Weise an seinem Priestertum teilhaben lassen. Durch Handauflegung wurden und werden Männer, die dazu auserwählt sind, in persona Christi zu handeln, befähigt, Christus ihre Stimme und ihre Hände zu leihen und so das österliche Opfer des Altares darzubringen, an dem alle Getauften teilnehmen können, indem sie sich mit dem ewigen Hohepriester vereinen.13 Der Kirche, dem lebendigen Leib Christi, kommt folglich jene zweifache Dimension des Priestertums zu und daraus folgt auch die innere Einheit zwischen getauften Gläubigen und ordinierten Priestern. 13 Wir wissen, dass die Priester damals weder mit der jüdischen noch mit der heidnischen Bezeichnung für das Priesteramt belegt wurden. Erst lange Zeit später, als keine Verwechslung mehr möglich war, begann man den Begriff „sacerdos“ zu verwenden (vgl. GER, s.v. „sacerdocio“ und Congar, Der Laie [Anm. 2], 218–219).

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Angesichts der Tatsache, dass uns das Heil durch die Gnade zukommt, die wir in der Taufe empfangen haben, und nicht durch einen uns anvertrauten Auftrag oder ein Amt und dessen Ausführung, lässt sich der Wert des Weihepriestertums nicht aus sich selbst, sondern nur aus dessen Bezogenheit auf diejenigen, welche das Sakrament empfangen, verstehen.14 Daher lässt sich das Amtspriestertum einzig und allein vom gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen her und auf dieses hingeordnet erklären. Es stammt vom göttlichen Leben her, das die Gläubigen in der Taufe empfangen, und verfolgt den Zweck, dieses Leben zu erhalten und zu vermehren.15 So erläutert auch Joseph Ratzinger in einem Beitrag zum Sinn des priesterlichen Dienstes diesen Zusammenhang: „[H]ier ist wirkliche Theologie des Amtes und der Einheit des Christsteins in der Verschiedenheit der Aufträge im Spiel. […] Amt ist ein Relationsbegriff. Für sich gesehen und auf sich allein hin gesehen ist jeder Christ nur Christ und kann gar nichts Höheres sein. Es gibt die Einheit und Unteilbarkeit des einzigen christlichen Rufes. ‚Ad se‘ ist jeder nur Christ, und das ist seine Würde. ‚Pro vobis‘, d. h. in der Relation auf die Anderen hin, allerdings in einer unumstößlichen und den Betroffenen in seinem ganzen Sein tangierenden Relation, wird man Träger des Amtes. Amt und Relation sind identisch […]. Bischof (und entsprechend Presbyter) ist man immer ‚für euch‘ oder man ist es nicht. So wird mit Hilfe dieser an die Trinitätstheologie angelehnten Formel deutlich, wie die Identität des für alle einen Christseins (das ‚allgemeine Priestertum‘) und die Realität des besonderen Amtes zusammen bestehen […]“.16

14 So erinnert uns Papst Johannes Paul II. in Christifideles Laici (Anm. 12), Nr. 22: „Mehr noch als für die Menschen, die sie empfangen, sind die geweihten Ämter eine große Gnade für die gesamte Kirche. Sie realisieren und machen eine andere Art der Teilhabe am Priestertum Jesu Christi sichtbar, die nicht nur im Grad, sondern wesenhaft verschieden ist von der Teilhabe, die mit Taufe und Firmung allen Gläubigen gegeben ist. Auf der anderen Seite ist das Amtspriestertum, wie es das II. Vatikanische Konzil in Erinnerung gerufen hat, wesentlich auf das königliche Priestertum aller Gläubigen hin und diesem zugeordnet (LG 10).“ 15 Vgl. Esther Gómez, „El papel de los laicos según Benedicto XVI“, in: Cuadernos de pensamiento 25 (2012) 66. 16 Joseph Ratzinger, Zur Frage nach dem Sinn des priesterlichen Dienstes, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 378–379.

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3. Gegenseitige Ergänzung in der Einheit Alles bisher Gesagte bestätigt, dass der Unterschied zwischen beiden Arten des Priestertums nicht nur graduell, sondern wesenhaft ist.17 Beide sind ursprünglich und irreduzibel, aber sie ergänzen einander in ihrem Wesen. Dem Taufpriestertum kommt ein wesenhafter Vorrang zu, der dem Amtspriestertum, welches in seinem Dienst steht, einen funktionalen Charakter verleiht. Das Weihepriestertum fällt unter die Heilsmittel, die der Kirche während ihrer Pilgerschaft auf Erden gegeben sind. Das Taufpriestertum wiederum – auch wenn es des Weihepriestertums bedarf, um seine Lebenshingabe in ganzer Fülle leben zu können – gehört schon zu den letzten Zielen, denn es besteht in der Vereinigung mit Christus, der Priester und Opferlamm zugleich ist. Diese Vereinigung ist das Zentrum des christlichen Lebens und die Vorwegnahme des ewigen.18 Die Handlungsweisen beider Formen des Priestertums unterscheiden sich ebenfalls. Die Handlungen des allgemeinen Priestertums sind real, sie sind Teil der durch die Taufe geheiligten christlichen Existenz. Die Handlungen des Amtspriestertums sind hingegen sakramental, sie repräsentieren die Gegenwart des Mittlers Jesus Christus.19 Nur vor dem kirchlichen Horizont können beide in rechter Weise verstanden werden, denn „[d]as Priestertum der Laien ist kein rein individualistisches, da man es nur in der organischen Einheit mit der ganzen Kirche erhält und ausübt“. 20 Beide Formen des Priestertums sind also voneinander verschieden, aber ergänzen einander in der Einheit 21, die von Christus

17 Vgl. LG 10: „Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich zwar dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach [essentia et non gradu tantum differant]“. 18 Vgl. André Feuillet, „Les sacrifices spirituels du sacerdoce royal des baptisés et leur preparation dans l’Ancien Testament“, in: NRevTh 96 (1974) 726. 19 Vgl. Pedro Rodríguez, „Sacerdocio ministerial y sacerdocio común de los fieles“, in Asociación Almudí (Hrsg.), Sacerdotes para el tercer milenio, Valencia 2002, 102. 20 Morales, Die Stunde der Laien (Anm. 6), 104. 21 „[D]er hierarchische Priester, befähigt zum Vollzug des Gedächtnisses des Herrn, [nimmt] in diesen Vollzug die Hingabe, die geistigen Opfer der ganzen Kirche und insbesondere der kleinen Gemeinde, für die er die Handlung vollzieht, [auf] und [bezieht] sie in das Opfer de Hauptes [ein], wobei er zugleich die Hingabe der Schöpfung an Gott und ihre Verbindung mit ihm vollzieht. So vereinigen und

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­ ewollt ist. Die aufsteigende Bewegung, mit der sich das Taufg priestertum Gott Vater darbringt, vereinigt sich mit der absteigenden Bewegung der Eucharistie, die es in sich aufnimmt und mit dem Opfer Christi vereint. Yves Congar bringt dies in seinen Reflexionen zur Lehre des hl. Thomas von Aquin über die Komplementarität der beiden Weisen der Teilnahme an der Heiligen Messe sehr schön zum Ausdruck. Beide sind aktiv, die eine empfangend, die andere gebend: „Darum gibt es im sakramentalen Kult […] bei tätiger Teilnahme aller Glieder auch solche, die als geweihte Diener und – im weiten etymologischen Sinne des Wortes – ausübende Organe oder Liturgen besonders befähigt sind. Der heilige Thomas würde mit einem Worte sagen: einige Glieder dieses Leibes sind tätig im Empfangen, andere im Geben 22 ; oder auch: seine Glieder sind tätig, sei es, um sich selbst zu vollenden, sei es, um die anderen zu vollenden. 23 Wir begegnen hier zwei, einerseits an die Tauf- (und Firmungs-)Weihe und andererseits an die Priesterweihe gebundenen Stufen priesterlicher Befähigung. Kraft dieser Befähigung feiert der Mystische Leib Christi – der auch sein Tempel ist – auf Erden im Verein mit seinem Oberhaupt den Kult des Neuen Bundes“. 24

Und so entspringt ihre geistliche Fruchtbarkeit der Tiefe, mit der sie ihr eigenes Christsein leben, eine Tiefe, die in dieser „Stunde der Laien“ so notwendig ist, wie Paul VI. schon im Jahr 1963 mit Nachdruck in Frascati bekräftigte, indem er Abschnitt 10 des Konzilsdekrets Apostolicam actuositatem über das Laienapostolat wieder aufgriff: „Als Teilnehmer am Amt Christi, des Priesters, Propheten und Königs, haben die Laien ihren aktiven Anteil am Leben und Tun der Kirche. Innerhalb der Gemeinschaften der Kirche ist ihr Tun so notwendig, daß ohne dieses auch das Apostolat der Hirten meist nicht zu seiner vollen Wirkung kommen kann“. (AA 10)



ergänzen sich das Priestertum von unten und das Priestertum von oben, ganz so, wie sich das Opfer von oben und das Opfer von unten vereinigen und ergänzen. So bilden sie einen einzigen Kultorganismus, dessen höchster Priester schließlich Christus ist“ (Congar, Der Laie [Anm. 2], 349). 22 Thomas von Aquin, Summa Theologica, III, q. 63 a. 2; a. 3; a. 6, ad. 1. 23 Ebd., III, q. 63, a. 6; q. 65, a. 2, ad. 2. 24 Congar, Der Laie (Anm. 2), 218.

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Das rechte Verständnis und die rechte Bewertung beider Rollen nach Joseph Ratzinger lässt uns zwei mögliche Extreme vermeiden, die es zu überwinden gilt: einerseits eine klerikalistische, andererseits eine säkularisierte Sicht der Kirche. 25 Im Klerikalismus würde sich die „verantwortliche“ Mitarbeit der Laien darauf beschränken, den Priester in seinem sakramentalen Dienst zu imitieren oder zu ersetzen und gewissermaßen in dessen Schatten zu stehen. Das Tätigkeitsfeld der Laien würde sich auf einen schwindend geringen Bereich reduzieren. Dies würde zum Einen bedeuten, dass die spezifische Aufgabe der Laien, als Sauerteig in den weltlichen Strukturen zu wirken, ungetan bliebe, da ja die Laien der Meinung wären, es würde genügen „am Sonntag in die Kirche zu gehen“ oder sich als Kommunion- oder Firmhelfer zu engagieren (auch wenn diese Aufgaben natürlich notwendig sind). Zum Anderen besteht in einer solchen Sichtweise – in der die Laien sich zu wenig ihrer spezifischen Identität bewusst sind und möglicherweise auch die Tendenz besteht, alle Aufgaben und Dienste im Sinne einer Art Pseudo-Demokratie innerhalb der Kirche zu nivellieren26 – die Gefahr, dass die Laien Aufgaben an sich ziehen wollen, die in sich dem Weihepriestertum vorbehalten sind und somit 25 Vgl. Joseph Ratzinger, Jedem seine Aufgabe. Einige Bemerkungen zur ‚Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester‘ (1997), in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 199–205; ders., Ohne ein Amt frei für die Welt: Interview mit der Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“, in: JRGS 12, 206–209. 26 Papst Franziskus weist auf diese Tendenz in Evangelii Gaudium hin: „Die Laien sind schlicht die riesige Mehrheit des Gottesvolkes. In ihrem Dienst steht eine Minderheit: die geweihten Amtsträger. Das Bewusstsein der Identität und des Auftrags der Laien in der Kirche ist gewachsen. Wir verfügen über ein zahlenmäßig starkes, wenn auch nicht ausreichendes Laientum mit einem verwurzelten Gemeinschaftssinn und einer großen Treue zum Einsatz in der Nächstenliebe, der Katechese, der Feier des Glaubens. Doch die Bewusstwerdung der Verantwortung der Laien, die aus der Taufe und der Firmung hervorgeht, zeigt sich nicht überall in gleicher Weise. In einigen Fällen, weil sie nicht ausgebildet sind, um wichtige Verantwortungen zu übernehmen, in anderen Fällen, weil sie in ihren Teilkirchen aufgrund eines übertriebenen Klerikalismus, der sie nicht in die Entscheidungen einbezieht, keinen Raum gefunden haben, um sich ausdrücken und handeln zu können. Auch wenn eine größere Teilnahme vieler an den Laiendiensten zu beobachten ist, wirkt sich dieser Einsatz nicht im Eindringen christlicher Werte in die soziale, politische und wirtschaftliche Welt aus. Er beschränkt sich vielmals auf innerkirchliche Aufgaben ohne ein wirkliches Engagement für die Anwendung des Evangeliums zur Verwandlung der Gesellschaft. Die Bildung der Laien und die Evangelisierung der beruflichen und intellektuellen Klassen stellen eine bedeutende pastorale Herausforderung dar“ (Nr. 102).

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Aufgabe und Weihegnade miteinander verwechseln. 27 Die zweite Fehlauffassung, die es zu vermeiden gilt, ist eine säkularisierte Sicht der Kirche, die, indem sie alle menschlichen Realitäten auf ein und dieselbe Stufe stellt, egal, ob diese durch Christus erlöst sind oder nicht, das missionarische Handeln der Kirche – und ­damit auch jenes der Laien – schwächt und relativiert. Ratzinger 27 Um dem Klerikalismus vorzubeugen, erscheint es mir an dieser Stelle sinnvoll, auf die Ausführungen des Apostolischen Schreibens Christifideles Laici (Nr. 23) über die Mitarbeit der Laien bei verschiedenen Aufgaben, die eigentlich dem Weihepriestertum zukommen, zu verweisen: „Darum müssen die Hirten die Dienste, Aufgaben und Funktionen der Laien anerkennen und fördern. Diese haben ihre sakramentale Grundlage in Taufe und Firmung und vielfach auch in der Ehe“. Wenn es zum Wohl der Kirche nützlich oder notwendig ist, können die Hirten entsprechend den Normen des Universalrechts den Laien bestimmte Aufgaben anvertrauen, die zwar mit ihrem eigenen Hirtenamt verbunden sind, aber den Charakter des Ordo nicht voraussetzen. Der Codex schreibt: „Wo es ein Bedarf der Kirche nahelegt, weil für diese Dienste Beauftragte nicht zur Verfügung stehen, können auch Laien, selbst wenn sie nicht Lektoren oder Akolythen sind, nach Maßgabe der Rechtsvorschriften bestimmte Aufgaben erfüllen, nämlich den Dienst am Wort, die Leitung liturgischer Gebete, die Spendung der Taufe und die Austeilung der heiligen Kommunion“, vgl. c. 230 § 3 CIC/1983. Die Erfüllung einer solchen Aufgabe macht den Laien aber nicht zum Hirten: Nicht eine Aufgabe konstituiert das Amt, sondern das Sakrament des Ordo. Nur das Sakrament des Ordo gewährt dem geweihten Amtsträger eine besondere Teilhabe am Amt Christi, des Hauptes und Hirten, und an seinem ewigen Priestertum (Presbyterorum Ordinis, Nrn. 2 und 5). Die in Vertretung erfüllte Aufgabe leitet ihre Legitimität formell und unmittelbar von der offiziellen Beauftragung durch die Hirten ab. Ihre konkrete Erfüllung untersteht der Leitung der kirchlichen Autorität (AA 24). […]. Bei dieser Vollversammlung der Synode fehlten neben den positiven nicht die kritischen Beurteilungen über den undifferenzierten Gebrauch des Terminus „Amt“, über Unklarheit und wiederholte Nivellierungen zwischen dem gemeinsamen Priestertum und dem Amtspriestertum, über die geringe Beachtung gewisser kirchlicher Normen und Bestimmungen, über die willkürliche Interpretation des Begriffes der „Stellvertretung“, über die Tendenz zur „Klerikalisierung“ der Laien und über das Risiko, de facto eine kirchliche Dienststruktur zu schaffen, die parallel zu der im Sakrament des Ordo gründenden steht. Um diese Gefahren zu vermeiden, haben die Synodenväter auf der Notwendigkeit bestanden, nicht zuletzt durch den Gebrauch einer präziseren Terminologie (Propositio 18) die Einheit der einen Sendung der Kirche, an der alle Getauften teilnehmen, aber auch den wesenhaften Unterschied des Amtes der Hirten, der im Sakrament des Ordo gründet, gegenüber anderen Diensten, Aufgaben und Funktionen in der Kirche, die in den Sakramenten der Taufe und Firmung begründet sind, klar herauszustellen. Die Hirten dürfen darum zunächst bei der Übertragung der verschiedenen Dienste, Aufgaben und Funktionen an die Laien nicht versäumen, diese sorgfältig über die in der Taufe liegende Wurzel dieser Dienste zu unterrichten. Die Hirten

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weiß auch, wovon er spricht, wenn er vor der Gefahr warnt, die Mitwirkung der Laien so zu definieren, dass sie innerhalb der kirchlichen Strukturen Leitungs- oder Schlüsselfunktionen übernehmen müssten. In dieser Gefahr stehen die Menschen aller Zeiten, selbst schon die Apostel, die unterwegs miteinander stritten, wer von ihnen der Wichtigste sei. „Kirche“, so Ratzinger, „ist da, damit Wohnen Gottes in der Welt werde, damit ‚Heiligkeit‘ sei: Darum müßte der Wettstreit in der Kirche gehen, nicht um ein Mehr oder Weniger an Vorrechten, um das Sitzen auf den ersten Plätzen“. 28 In den Worten von Pedro Rodríguez hat die Neuakzentuierung, die dem priesterlichen Volk Gottes durch das II. Vatikanische Konzil gegeben worden ist, nämlich vorrangiger Träger der Heilsbotschaft zu sein, etwas absolut Neues in der Struktur der Kirche hervorgebracht. Aus diesem Grund ist „die Natur des Weiheamtes von seinem Wesen her relativ“ – einerseits im Hinblick auf Christus, „insofern der Dienst der Priester gegenüber dem Herrn darin besteht, Zeichen und Werkzeug seiner Erlösungsgabe an die Menschen zu sein“, andererseits im Hinblick auf die kirch­ liche Gemeinschaft, „insofern es die Gemeinschaft der Gläubigen mit den göttlichen Gaben bereichert, damit diese ihr Priestertum ausüben kann“. 29



müssen zudem darüber wachen, daß nicht leichtfertig oder gar unrechtmäßig auf vermeintliche „Notsituationen“ oder auf die Notwendigkeit einer „Stellvertretung“, wo sie in der Tat nicht vorhanden sind oder wo man sie mit einer rationelleren pastoralen Planung vermeiden könnte, zurückgegriffen wird.“ Papst Benedikt XVI. hat sich nachdrücklich gegen gewissen Missbräuche in diesem Bereich ausgesprochen: „Gerade weil das aktive Zeugnis der Laien so wichtig ist, ist auch wichtig, daß die spezifischen Sendungsprofile nicht vermischt werden. […] [E]s geht hier […] um die von Jesus Christus gestiftete sakramental-hierarchische Struktur Seiner Kirche. Da diese auf Seinem Willen und die apostolische Vollmacht auf Seiner Sendung beruhen, sind sie dem menschlichen Zugriff entzogen. Nur das Sakrament der Weihe befähigt den Empfänger in persona Christi zu sprechen und zu handeln“, Benedikt XVI., Ansprache an die erste Gruppe deutscher Bischöfe anlässlich ihres „Ad-Limina“-Besuches, 10.11.2006. 28 Kardinal Joseph Ratzinger, „Die Ekklesiologie der Konstitution Lumen gentium“, in: Stephan Otto Horn und Vinzenz Pfnür (Hrsg.), Weggemeinschaft des Glaubens: Kirche als Communio, Augsburg 2002, 129. = JRGS 8/1, Freiburg i. Br. 2010, 573–596, hier 594. 29 Pedro Rodríguez, „Sacerdocio ministerial y sacerdocio común de los fieles“ (Anm. 19), 105, Eigenübersetzung.

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4. Schluss Ich möchte meine Ausführungen mit einer Formulierung von Henri de Lubac beschließen, die die Würde des allgemeinen Priestertums besonders treffend zum Ausdruck bringt: „[Das Priestertum aller Getauften] ist eine ‚mystische‘ Wirklichkeit, die in ihrer Art durch keine neu hinzutretende Einrichtung oder Weihe, durch kein anderes Priestertum übertroffen oder vertieft werden kann. […] Nicht um ein geringes, ein zweitklassiges Priestertum, ein Priestertum für die Gläubigen allein handelt es sich hier, vielmehr um das Priestertum der ganzen Kirche.“30 Es ist ein Priestertum, das genährt wird durch das sakramentale Leben, das die ordinierten Priester erst möglich machen. Auf diese Weise enthält es in sich den Ruf, aus dem ganzen Leben eine Gabe zu machen, ein geistiges Opfer inmitten der weltlichen Realitäten, um diese zu heiligen und sich in ihnen zu heiligen. Dies geschieht in der einander sich ergänzenden Verschiedenheit der Dienste, die das entscheidende „Binom“31 zwischen Priester und Laie überhaupt erst ermöglicht, denn „[e]in Laie ohne Priester vermag wenig, ein Priester ohne Laien vermag mehr, doch Priester und Laien gemeinsam vermögen vereint mit Gott ‚alles in dem, der sie stark macht‘ (vgl. Phil 4,13)“. 32 So werden die Laien in dieser ihrer Stunde Verantwortung übernehmen, indem sie ihren Glauben als Christen leben und an andere weitervermitteln. Dazu genügt es, wenn sie die in ihrer Taufe angelegte Dynamik leben: „Die Laien üben beständig ihr Priestertum aus, wenn sie ihre alltäglichen Pflichten erfüllen, das heißt 30 Henri de Lubac, Betrachtung über die Kirche, Graz/Wien/Köln 1954, 91. 31 Das gesamte Alterswerk des spanischen Jesuiten Tomás Morales, besonders sein bereits öfters zitiertes Werk Die Stunde der Laien, ist eine Illustration dieser Lehre. So schreibt er etwa: „Die Erfahrungen, die ich während mehr als vierzig Jahren bei der Mobilisierung der Laien sammeln konnte, bieten mir die Gelegenheit und verpflichten mich zugleich, Laien und Geistlichen in diesem Zusammenhang einige Ratschläge zu geben. Ich werde dies im Licht der Worte von Kardinal Suhard zu tun versuchen: ‚Weder der einfache Getaufte noch der Priester allein ist der volle Träger der Evangelisation, sondern die christliche Gemeinschaft. Die Grundzelle, die Maßeinheit im Apostolat ist gleichsam eine ‚organische Verbindung‘: die unzertrennliche Einheit von Priestertum und Laientum‘“ (E. C. Suhard, Der Priester in der Welt des Menschen, Luzern/Müchen 1961, 93; Morales, Die Stunde der Laien (Anm. 6), 74–75. 32 Morales, Die Stunde der Laien (Anm. 6), 107.

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den Willen Gottes in allem annehmen und leben. Besonders leben sie den Willen Gottes, wenn sie leiden, um dadurch ‚für den Leib Christi, die Kirche‘, in ihrem irdischen Leben das zu ergänzen, ‚was an den Leiden Christi noch fehlt‘ (Kol 1,24)“. 33 Darin besteht das Wesentliche ihrer Taufberufung. Alles andere, wie etwa die direktere Unterstützung des Amtspriesters bei seinen Aufgaben, stellt die Ausnahme dar (auch wenn es angesichts des Priestermangels bisweilen nötig ist). Doch entspricht dies, wie uns das kirchliche Lehramt unter Bezug auf die Tradition und Praxis der Kirche seit ihren Anfängen34 erinnert, einer Ernennung, nicht einer Ordination. 35 Vor dem Horizont der gesamten Kirche gilt es nach dem Willen Jesu Christi die große Würde und Verantwortung des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen zu leben, indem wir bereits hier auf Erden Bürger des Himmels sind, diese unsere Erde für Gott heiligen, indem wir uns selbst als geistige Opfergabe darbringen.

33 Ebd., 108. 34 Congar weist auf diese wichtige Unterscheidung im Verständnis und in der Praxis bereits in der Kirche der ersten Jahrhunderte hin: „Der Text der Apostolischen Tradition, der das älteste liturgische Dokument darstellt, das wir besitzen – einziges Dokument der vorkonstantinischen Zeit –, hilft uns in dieser Richtung mit einer näheren Bestimmung von weittragender Konsequenz. Er sieht einen Unterschied zwischen der Einsetzung des Bischofs, Presbyters und Diakons auf der einen Seite und der Erhebung einer Frau in den Witwenstand, der Einsetzung des Lektors und Subdiakons auf der anderen (vgl. Kap. 2, 12 und 14). Die drei letzteren Ämter sind Gegenstand einer einfachen katastasis; durch dieses Wort bezeichnete man die Betrauung mit einem öffentlichen Amt durch einfache Ernennung. Dagegen sind Bischof (Kap. 2), Presbyter (Kap. 8) und Diakon (Kap. 9) Gegenstand einer wirk­ lichen Weihe, einer cheirotonia (Handauflegung)“ (Congar, Der Laie [Anm. 2], 220). 35 Vgl. Anm. 23 in Christifideles Laici (Anm. 12), Nr. 23.

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1. Ein eigener Ursprung Papst Johannes Paul II. nannte sie eine „Inkarnation des Evangeliums“1, Papst Benedikt XVI. stellte sie den jungen Menschen des Kölner Weltjugendtages im Jahre 2005 als „Lichtspur Gottes“2 in der Geschichte vor und Papst Franziskus sieht in ihnen das „schönste Gesicht der Kirche“3. Die Rede ist von den Heiligen, von jenen älteren Brüdern und Schwestern im Glauben, die mit ihrem Leben und ihrer Lebensbotschaft Gottes Heiligkeit mitten unter den Menschen vergegenwärtigt haben. Als solche sind sie, Vorbilder unserer gemeinsamen Berufung im Taufpriestertum, die wesentlich eine Berufung zur Heiligkeit in der Anteilhabe an Christi Tod und Auferstehung ist. Eine Heiligkeit, die das Evangelium im Leben sprechen lässt, eine Heiligkeit, die das Dunkel der Zeit ­erhellt, eine Heiligkeit, die die Kirche immer wieder erneuert und den Glanz von ihrem Angesicht leuchten lässt, den Glanz der ­Gegenwart Gottes in der Kirche. Ausgehend von der Würde des gemeinsamen Priestertums aller Getauften eröffnet sich wie von selbst die Frage, wozu denn dann ein geweihtes Amt in der Kirche konstitutiv, das heißt der Kirche gegeben und für ihr Dasein und ihre Sendung unverzichtbar ist, wenn doch alle Getauften im Leben der Heiligkeit Gottes Heil zu 1 Siehe z. B. Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben „Slavorum Apostoli“ vom 2. Juni 1985, in: VApSt 65. 2 Papst Benedikt XVI., Predigt bei der Vigil mit den Jugendlichen auf dem Marienfeld vom 20. August 2005, in: VApSt 169, 76–83, hier 81. 3 Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Gaudete et exsultate“ vom 19. März 2018, in: VApSt 213, Nr. 7.

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vergegenwärtigen vermögen? Sie sind in der Taufe mit Christus gleichgestaltet und seiner Kirche eingegliedert worden,4 in ihnen wohnt der dreifaltige Gott, der sie zum Aufbau seiner Herrschaft des Dienstes in den Herzen der Menschen ruft. 5 Bedarf es folglich eines Amtes in der Kirche und, wenn ja, worin liegt sein Ursprung und seine Legitimität begründet? Die Frage nach dem „Wozu“ des geweihten Amtes kann nur im Zusammen mit dem „Woher“ beantwortet werden. Woher stammt das geweihte Amt? Das katholische Amtsverständnis ist grund­ legend von dem Gedanken bestimmt, dass das geweihte Amt nicht das Ergebnis eines bloßen Ordnungsreflexes der Kirche darstellt, die sich damit von selbst und das heißt aus Eigenem eine Gliederungsstruktur zur Erfüllung ihrer Sendung gibt. Das geweihte Amt besitzt vielmehr einen eigenen Ursprung, indem es in direkter und ausdrücklicher Weise von Christus den Aposteln über­ tragen und kontinuierlich durch das Weihesakrament in die Geschichte hinein vermittelt worden ist.6 Das geweihte Amt ist, wenn wir es so formulieren wollen, ein dauerhaftes Geschenk des Herrn an seine Kirche. In ihm und durch das Amt will Jesus Christus selbst wirkmächtig und verbürgt in seiner Kirche zugegen sein und sein Heilswerk in Wort, Sakrament und Leitung als Heilsdienst an den Gläubigen fortsetzen. Dieses skizzierte „Woher“ des geweihten Amtes begründet und legitimiert schließlich auch das „Wozu“ dieser Gabe an und für die Kirche. Lassen sie mich das im Folgenden mit einem spezifischen Blick auf den Priester kurz entfalten, wohl wissend, dass das geweihte Amt ebenso den Diakon und den Bischof umgreift. Doch die aktuelle Situation fordert geradezu diesen Blick auf den Priester. Und Vieles von dem, was für den Priester gesagt werden kann, gilt in differenzierter Weise auch für die anderen Weihestufen.7

4 Vgl. LG 11, AG 14, PO 5; ebenso c. 849 CIC/1983. 5 Vgl. LG 9–17.34–36, AA 2.6–7; ebenso c. 204 CIC/1983. 6 Siehe Winfried Aymans / Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht II, Paderborn 1997, 9–20, hier 13 f. 7 Vgl. dazu Gerhard Ludwig Müller, Priestertum und Diakonat. Der Empfänger des Weihesakramentes in schöpfungstheologischer und christologischer Perspektive, Einsiedeln 2003; Ludger Müller, Die diakonale Dimension des geweihten Amtes, in: Christoph Ohly u. a. (Hrsg.), Das Geschenk der Berufung zum Priestertum. Zur Zukunft der Priesterausbildung (KB 18), Münster 2020, 230–240; Christoph Ohly, Omnium in mentem. Ein notwendiger Schritt zur Klärung von Wesen und Sen-

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2. Maßform des Apostels In der Überzeugung, dass sich der legitime Ausgangspunkt des geistlichen Amtes nur von Jesus Christus herleiten lässt, antwortete Joseph Ratzinger auf die Frage, was denn einen katholischen Priester von den anderen „besonders ausgezeichneten Menschen“ anderer Weltreligionen unterscheide, mit einem Bekenntnis zum „Woher“ des Amtes und damit des Priestertums: „Nun zunächst, dass der katholische Priester in dem besonderen Auftrag Jesu Christi in der Maßform der Apostel steht. Er ist also nicht die allgemeine religionsgeschichtliche Figur von Priestertum. Das besondere Maß dieses Standes, wenn wir ihn so nennen dürfen, kommt aus der Figur des Apostels, wie sie Christus geschaffen hat. Ihm ist von Christus aufgetragen, sein Wort zu verkündigen, ihn selber zu verkündigen, die Verheißung zu verkündigen, die er uns gegeben hat. Und im Rahmen dieser Verkündigung – die immer auch eine Aufgabe der Liebe, des Aufbauens des Leibes Christi, des Dienens für die Armen ist – steht zentral die Verkündigung seines Todes, die wir Eucharistie nennen, und die Sakrament ist.“8

Der Priester findet seine Berufung und seine Existenzberechtigung folglich nicht aus sich selbst, ebenso nicht aus einem Ordnungswillen der Kirche, die sich verschiedene Ämter und Aufgaben gibt.9 Berufung und Existenz des Priesters stammen aus dem Willen Jesu Christi als dem Herrn der Kirche. Er ruft aus der großen Schar seiner Jünger die, die er will, jene Zwölf, die er zu seinen „Aposteln“ beruft.10 Darin wird eine „Geste eschatologischer Hoffnung“ erkennbar, die „in die Kirche“ führt, „weil die Zwölf dazu da sind, mit ihm zu sein und an seiner Sendung teilzuhaben“.11 Als Teilhabe an seiner Vollmacht überträgt er ihnen die Aufgabe, in seinem Namen und in seiner Person das Evangelium



dung des Diakons?, in: Stephan Haering u. a. (Hrsg.), In mandatis meditari. FS für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag (KST 58), Berlin 2012, 561–577. 8 Joseph Kardinal Ratzinger, Gott und die Welt. Glauben und Leben in unserer Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, in: JRGS 13/2, Freiburg i. Br. 2016, 459–838, hier 814–815. 9 Vgl. auch KKK 1563 und 1581–1584. 10 Vgl. Lk 6,12–16; Mk 3,13–19. Dazu Joseph Ratzinger, Das Geschick Jesu und die ­K irche, in: JRGS 8/1, Freiburg i. Br. 2010, 128–139, hier 130–132. 11 Ebd., 139.

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zu verkündigen, die Jünger zu heiligen und sie auf dem Weg des Glaubens und der Heiligkeit zu leiten. So unterstreicht der Ausdruck „Er macht Zwölf“ das Wesen dessen, der als Apostel – und damit als Priester – in der Nachfolge Christi steht. Priestertum ist demzufolge „nicht Produkt eigenen Entscheids“ und „es kann auch nicht durch einen Entscheid der Gemeinde herbeigeführt werden“.12 Der Priester steht in der Nachfolge dieses Apostolischen Amtes, er steht in der „Maßform der Apostel“. Das bedeutet: Dem Apostel ist es aufgetragen, Christus zu verkündigen, ihn im sakramentalen Zeichen präsent zu machen und ihn im Dienst des Hirten in und für die Kirche zu vergegenwärtigen. In eine biblisch begründete Kurzformel gebracht, bedeutet dies: Der Priester ist „Künder des Wortes und Diener eurer Freude“.13 Als solcher hält der Priester als personaler Träger des Apostolischen Amtes Christus in der Kirche gegenwärtig. Seine Vollmacht und sein Dienst stammen nicht aus ihm selbst. Der Ursprung des Apostolischen Amtes, dessen der Priester im Sakrament der Weihe teilhaftig wird, verweist somit zugleich auf die ihm innewohnende Verantwortung. Die Gabe der sakramentalen Bevollmächtigung wird zur Aufgabe im Dienst der drei munera der Verkündigung, der Heiligung und der Leitung, von denen sich der Priester nicht zu dispensieren vermag, noch von anderen gelöst werden kann. Leben und Dienst des Priesters stehen unter dem Anspruch, durchdachte und durchbetete Antwort auf das Wort des Rufes zu sein und müssen folglich in Verantwortung gegenüber dem Geber der Vollmacht vollzogen werden. Erkennbar wird der Umfang und die Würde dieses Auftrages im Wort Jesu über die Nachfolge des Kreuzes: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach“.14 Im Kreuz sieht Joseph Ratzinger daher „den einzig rechtmäßige[n] Aufstieg zum Hirtenamt in der Kirche“, das heißt „nicht selber jemand werden wollen, sondern für den anderen da sein – für Christus und so, durch ihn und mit ihm für die

12 Joseph Ratzinger, Am Anfang steht das Hinhören (Predigt, 1984), in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 506–513, hier 508. 13 Ebd., 510–511. 14 Lk 9,23. Auch Mt 10,38; Mk 8,34; Lk 14,27; Hebr 13,13.

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Menschen, die der Herr sucht, die er auf den Weg des Lebens ­f ühren will“.15 Und gerade das bedeutet „Sakrament“ der Weihe, nämlich mit Christus eins zu werden „durch die Freigabe seiner selbst an Christus, dass er über mich verfüge; dass ich ihm zu Diensten sei und seinem Ruf folge, auch wenn er meinen Wünschen nach Selbstverwirklichung und Ansehen entgegenläuft“.16 Das „Woher“ des geweihten Amtes lässt folglich sein „Wozu“ im Leben der Kirche erkennbar werden. Leben und Dienst des Priesters stammen von Jesus Christus her, der sich für das Heil der Menschen bis zum Tod am Kreuz „entäußert“ (Phil 2,5) und den Apostel zur bevollmächtigten Teilhabe an dieser Sendung beruft. Das Einssein des Priesters mit Christus erschließt somit seine Aufgabe, die Hingabe Christi an seine Kirche in Wort und Sakrament zu vergegenwärtigen. Auf diese Weise sollen alle Menschen aller Zeiten gerufen sein, in Christus das Heil zu finden. Daher gehört das geweihte Amt konstitutiv zur Kirche und ihrer Sendung.

3. Anteilhabe am Priestertum Christi Den Grundgedanken der Anteilhabe an der Sendung Christi gilt es noch in einem weiteren Schritt zu vertiefen. Für Joseph Ratzinger bietet hierfür vor allem die Theologie des Priestertums, wie sie sich im Brief an die Hebräer aussagt, einen entscheidenden Ansatzpunkt.17 Demzufolge ist alles Opferwesen der Menschheit, das heißt alle Bemühungen, durch Kult und Ritus Gott mit den Menschen zu versöhnen, hilfloses Menschenwerk geblieben sind. Gott hat keine Stiere und Böcke nötig, die man ihm zu Ehren und stellvertretend für die Sünden der Menschen schlachtet. Vielmehr bedarf es des Menschen selbst, der sich Gott darbringt, ihm übereignet, sich ihm anvertraut. Nur das Eigene des Menschen, sein Ja zu Gott, seine Hingabe an ihn, kann wirklich Anbetung und damit gelebte Versöhnung zwischen Gott und Mensch sein. Das hat aber

15 Papst Benedikt XVI., Homilie zur Priesterweihe am 7. Mai 2006, einsehbar unter http://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/homilies/2006 (Zugriff: 25.08.2019). 16 Ebd. 17 Siehe dazu Joseph Ratzinger, Zur Frage nach dem Sinn des priesterlichen Dienstes, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 350–386; auch ders., Der Priester im Umbruch der Zeit, in: ebd., 387–401.

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zur Folge, dass die Idee des Priesters, wie sie sich im Alten Bund zeigt, an ihr Ende gekommen ist und in der Person Jesu Christi eine neue und endgültige Ausrichtung findet. Es gibt nur allein den einzigen und wahren Priester Jesus Christus, an dessen Priestertum jeder Getaufte im gemeinsamen Priestertum Anteil gewinnt, während der sakramental geweihte Priester mit der heiligen Vollmacht ausgestattet wird, Jesus Christus als diesen einzigen und wahren Priester zu repräsentieren und somit im Handeln zu vergegenwärtigen. Wie ist das zu deuten? Der Hebräerbrief betont, dass die Idee der Vertretung in Jesus Christus einen neuen Sinn gewonnen hat. Er, Jesus Christus, ist „der einzig wahre Priester der Welt“.18 Sein Leben und sein Sterben ist die einzige wirkliche Liturgie der Welt: „Eine kosmische Liturgie, in der nicht in dem abgegrenzten Bereich des liturgischen Spiels, im Tempel, sondern in aller Öffentlichkeit Jesus durch den Vorhang ‚des Fleisches‘ (Hebr 10,20), d. h. durch den Todesvorhang hindurch in den wirklichen Tempel, vor das Angesicht des lebendigen Gottes trat, um nicht irgendwelche Dinge, sondern um sich selbst darzubringen. […] Es ist der Gestus der alles gebenden Liebe, die nicht mehr und nicht weniger gibt als sich selbst. Dieser Gestus […] war die wirkliche Liturgie der Welt, die Kreuzesstunde war der kosmische Versöhnungstag. Einen anderen Kult als diesen – sagt der Hebräerbrief – gibt es nicht, und auch ­einen anderen […] ‚Priester‘ nicht als den, der ihn vollzog, Jesus Christus“.19

In der Nachfolge dieses Priesters, das heißt in der Person dieses einzigen Priesters, der sein Leben für seine Freunde hingibt, lebt und handelt der Priester. Geht man von diesem Grundansatz aus, müssen nach Joseph Ratzinger zwei extreme Interpretationslinien vermieden werden. 20 Zum einen wird die Vergegenwärtigung des Priesters Jesus Christus in einem pragmatischen Verständnis des Weihepriestertums nicht erkennbar, für das alles priesterliche Tun nur eine Dienstleistung ist, ein Beruf, der letztlich von jedem Christen jederzeit und ebenso gut getan werden kann. Zur Ausübung einer solchen Funktion bedarf es demzufolge lediglich ­einer Beauftragung durch die Kirche. Diese Tendenz wird überall 18 Ebd., 352. 19 Ebd., 352–353. 20 Ebd., 355–357.

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dort erkennbar, wo das sakramentale Priestertum lediglich von seinen letztlich austauschbaren Funktionen her gedeutet wird. Zum anderen muss aber auch die von Joseph Ratzinger als „traditionalistische Denkweise“ definierte Sicht vermieden werden, die letztlich meint, dass der Priester ein in sich eigenständiger Diener Gottes ist, dessen Handeln aus sich heraus heilsvermittelnden Charakter besitzt. Ebnet die erste Alternative die priesterliche Existenz in bürgerliches Dasein ein, lässt die zweite Alternative die Vorstellung des Priesters in überkommene pagane und magische Vorstellungen des Priestertums zurückfallen. Der Hebräerbrief will jedoch etwas anderes aussagen. Der sakramental geweihte Priester findet seinen verweisenden Ursprung ­allein in dem einen und wahren Priester Jesus Christus. Das gilt für sein Leben wie für seine Sendung. Denn auch Jesus Christus „versteht sich als jemand, der eine Sendung vollzieht“21: Er beruft sich weder selbst, noch sieht er sich auf der Grundlage einer Mehrheitsentscheidung in Anspruch genommen. Vielmehr weiß er sich vom Vater gesandt, dessen Willen zu tun, der seine wahre Speise ist (Joh 4,34). Hier findet er den Ursprung seiner Sendung, die seine Menschwerdung, sein Leben, sein Sterben und sein Auferstehen umgreift. Doch ebenso lässt dieser Ursprung das Ziel seiner Sendung offenkundig werden, die darin besteht, zu den Menschen zu kommen, „nicht um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). Von diesem Selbst- und Sendungsbewusstsein Jesu her wird somit auch die Grundstruktur des sakramentalen Priestertums, sein „Woher“ und sein „Wozu“ erkennbar. Es beruht „nicht auf eigener Ermächtigung und nicht auf bloßer Zweckmäßigkeit oder Übereinkunft, sondern auf dem Hineingerufensein in den, der selbst der Ruf Gottes, ‚das Wort‘, ist“. 22 Im Licht dieser Überlegungen wird schließlich die bereits erwähnte Berufung der Zwölf, ihr Geschaffenwerden durch das Handeln Jesu Christi, in ihrer Tiefe und Aussagekraft für das Amt in der Kirche vernehmbar. Es geht um die Gleichgestaltung mit Jesus Christus als dem einen und wahren Priester, der als Erlöser und Heiland das Haupt seiner Kirche ist. Deshalb ruft Christus die herbei, die er selbst will. Der Dienst des Apostels ist nicht 21 Ebd., 356. Vgl. dazu Hebr 5,1–10. 22 Ratzinger, Sinn des priesterlichen Dienstes (Anm. 17), 357.

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Selbstbevollmächtigung, sondern in seinem Innersten die treue Antwort auf einen Ruf und das beständige Annehmen des göttlichen Willens, der sich darin zeigt. Die Berufung des Priesters gründet folglich im Hören des Rufes, das zum Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen wird. Dafür notwendig ist „das Sein mit ihm und das Sein, um gesandt zu werden“. 23 Das, was sich auszuschließen scheint, das Sein mit ihm und das Sein für andere, erweist sich gerade als die „bedrängende Spannung, […] die Paradoxie zwischen Innerlichkeit und Dienst“. 24 Das Einssein mit Jesus Christus ist die unverzichtbare Quelle für das bleibende Zugewandtsein zu den anvertrauten Menschen. Folglich ist der Priester im Gegensatz zu den Kultdiener anderer Religionen nicht zuerst Diener eines Kultes, sondern „Gesandter, der die Sendung Christi auf die Menschen hin […] fortsetzt. 25 Das umfasst die Verkündigung des Wortes Gottes ebenso wie die liturgische Feier der Sakramente in der Person und im Namen dessen, der ihn gesandt hat: Jesus Christus. Deshalb ist jeder Priester nicht Priester aus sich, sondern Priester als Vikar (Stellvertreter) Jesu Christi. Gerade in diesem konstitutiven Verwiesensein des Priesters auf Jesus Christus sieht Joseph Ratzinger nicht nur seine große Verantwortung, sondern zugleich eine „heilige Sorglosigkeit“, die es gestattet, den priesterlichen Dienst „in heiterer Freude, unverkrampft und angstlos zu tun“. 26 Das bedeutet für ihn konkret: „Gerade wenn wir anfangen, uns sorgend zu zerquälen ob der Last der Verantwortung, müssen wir lernen, uns etwas weniger wichtig zu nehmen und zu wissen, dass am Ende nicht wir das Heil der Welt wirken, sondern er und dass er will, dass wir angstlos und froh unseren Weg gehen.“27

4. Priesterliche Identität Der zentrale Gedanke der vorausgehenden Überlegungen liegt darin, dass der Priester sein Dasein und seine Sendung nicht aus sich selbst gewinnt. Das „Wozu“ des Amtes legitimiert sich aus 23 Ebd., 359. 24 Ebd., 359. 25 Ebd., 361. 26 Ebd., 365. 27 Ebd., 365.

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seinem „Woher“. Der Ruf in die Nachfolge Jesu Christi ist ein Geschenk, durch dessen Beantwortung und Annahme von Seiten des Gerufenen Gott es möglich wird, ihn an sich zu binden und in sein Heilswerk einzubinden. Dass der Gerufene in der sakramentalen Weihe zum Eigentum Gottes wird und somit die Befähigung empfängt, in der Person Jesu Christi, des Hauptes der Kirche, zu handeln, verdeutlicht, dass alle Funktionen des Priesters in seinem Dasein begründet sind und von dort her ihre Wirkmacht empfangen. 28 Sie repräsentieren auf wirksame Weise Christus und sein Handeln im Hier und Jetzt. Der Priester wird zum Repräsentanten und das heißt zum „Stellvertreter“ Jesu Christi. Um diese sakramentale Repräsentanz in Stellvertretung aber recht zu verstehen, muss ihr Wesen umschrieben werden. Papst Benedikt XVI. betont, dass die sakramentale Repräsentanz eine andere als die im weltlichen Bereich sei. Während man im Allgemeinen darunter verstehe, dass ein Mensch für einen anderen an einer Stelle wirke, an der er selbst nicht anwesend sein kann, ist Jesus Christus in seiner Kirche hingegen niemals abwesend. Er ist „sogar auf eine Weise gegenwärtig, die dank der Auferstehung […] vollkommen frei ist von den Grenzen des Raumes und der Zeit“. 29 Wenn der Priester stellvertretend in der Person Jesu Christi handelt, dann ist Jesus Christus und sein Heilswerk sakramental und wirkmächtig präsent. Der Priester handelt nicht in seinem eigenen Namen, sondern in der Person Jesu Christi, der dadurch gleichsam persönlich gegenwärtig ist. Sichtbar wird das vor allem im sakramentalen „Ich“ des Priesters, wenn er mittels der Absolutionsvollmacht im Sakrament der Beichte das „Ich“ Christi zur Lossprechung von den Sünden spricht, wenn er in der Konsekrationsvollmacht im Sakrament der Eucharistie das „Ich“ der Hingabe Christi mit Leib und Blut aussagt, und wenn er durch die Salbungsvollmacht im Sakrament der Krankensalbung das „Ich“ Christi zur Auferbauung des leidenden Menschen ­ausspricht.

28 Vgl. Papst Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer des theologischen Kongresses zum Priesterjahr vom 12. März 2010, einsehbar unter http://w2.vatican.va/ content/benedict-xvi/de/speeches/2010 (Zugriff: 25.08.2019). 29 Papst Benedikt XVI., Katechese in der Generalaudienz vom 14. April 2010, einsehbar unter http://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/audiences/2010 (Zugriff: 25.08.2019).

Wozu braucht es in der Kirche das geweihte Amt?

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Doch ist das Handeln des Priesters in Stellvertretung Christi nicht auf einige wesentliche Grundvollzüge beschränkt. Die Vollmacht liegt ihm nicht wie ein Kleidungsstück an, sondern geht ihm in alle Bereiche seines Lebens und Wirkens nach. Nicht zuletzt darin wird erkennbar, dass die sakramentale Bevollmächtigung auch die Grundlage für einen priesterlichen Lebensstil ist, der sich am Geber der Vollmacht, an Jesus Christus selbst, orientiert und immer wieder neu ausrichten muss. Die Gabe der bevollmächtigten Stellvertretung wird zur Aufgabe des Priesters – in seinem Lebensstil, in seinen menschlichen Haltungen, in seinem geistlichen Leben ebenso wie in den ihm zukommenden Aufgaben des Verkündigens, des Heiligens und des Leitens. Die Funktionen priesterlichen Handelns finden ihren Ursprung in der Identität des Priesters. Die scholastische Theologie hat für diese innere Verbindung von Wesen und Funktion ein hilfreiches Axiom hervorgebracht: agere sequitur esse – das Handeln folgt aus dem Sein oder das Sein geht dem Handeln voraus. 30 In Bezug auf die priesterliche Identität wird darin erkennbar, dass das ontologische Wesen des Priesters – die sakramentale Repräsentanz Jesu Christi durch die Gleichgestaltung im Sakrament der Weihe – das Fundament für das Handeln in der Person Christi darstellt. Das priesterliche Sein ist für das priesterliche Handeln in seinen Funktionen unabdingbar. Zugleich fordert und fördert es einen Lebensstil, der in möglichst weitgehendem Einklang mit dem Lebensstil Christi steht. Hier begründen sich die Versprechen des Gehorsams, der Ehelosigkeit (Zölibat) und der Einfachheit (Armut), die zum konkreten geist­ lichen und menschlichen Ausdruck der sakramental begründeten Verbundenheit des Priesters mit Christus erwachsen. Auch sie sind zuerst Gabe im Sinne eines frei geschenkten Charismas an den Gerufenen, die zur Aufgabe ihrer beständigen und treuen Verwirklichung werden. Wenn das Sein dem Handeln vorausgeht, steht das priesterliche Sein vor aller Funktion. Daher kann der Priester nicht allein auf Funktionen reduziert oder von ihnen her bestimmt werden. Es geht vielmehr um eine das Leben umgreifende Entscheidung der 30 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, III, 69: „Facere autem aliquid actu consequitur ad hoc quod est esse actu, ut patet in Deo: […] Si agere sequitur ad esse in actu, inconveniens est quod actus perfectior actione destituatur“.

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Ganzhingabe an den Ruf des Herrn, ihm in allem zu folgen. Das „Ja“ auf diesen Ruf durchdringt alles und wird so zum sakramentalen Abbild des göttlichen „Ja“ zum Menschen, das keine Grenzen kennt. So wird schließlich noch einmal mehr erkennbar: Das „Wozu“ des geweihten Amtes in der Kirche ist ohne sein „Woher“ nicht adäquat zu beantworten. Denn das „Woher“ weist auf Jesus Christus. Er ist die Antwort auf das „Woher“ und das „Wozu“. Er allein. Tragen wir abschließend unsere Überlegungen zusammen, indem wir den leitenden Grundgedanken des „Wozu“ und „Woher“ des geweihten Amtes mit Worten von Joseph Ratzinger erfassen, die er als Erzbischof von München und Freising anlässlich einer Priesterweihe von fünf Priestern aus dem Jesuitenorden im Jahre 1977 mit Blick auf die Gebärde der Händesalbung formulierte und den damit verbundenen Dienst im Leben des Priesters besonders hervorhob: „Mit seiner Hände Werk hat der Mensch diese Welt umgestaltet, mit seinen Händen im künstlerischen Tun dem Stein die Züge des Geistes eingeprägt. Mit seinen Händen kann er beten und kann er segnen. Ihre Hände werden gesalbt, dem Gesalbten Jesus Christus zugeeignet. Sie sollen nun gleichsam die Hände sein, die Jesus Christus in dieser Welt hat. Sie sollen aus Werkzeugen des Zuschlagens und des Zugreifens, in denen wir die Welt für uns in Besitz nehmen und unsere Macht darüber ausüben wollen, Hände des ­Betens, segnende Hände werden. Und so drückt sich in diesem Zeichen der gesalbten Hände eigentlich alles aus, was Priestertum bedeutet und ist: Sie sollen den Leib des Herrn tragen, die Lossprechung verkünden, die Menschen zur Anbetung führen und selbst Betende sein, und Sie sollen segnen“. 31

31 Joseph Ratzinger, Gebärden der Priesterweihe – Handauflegung und Salbung der Hände (Predigt, 1977), in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 573–577, hier 576.

Tropoi kyriou – die Lebensweise des Herrn Marianne Schlosser

„… Was würde es dem Neuen Bund schaden, wenn die Diener der Religion ebenso wie im Alten Bund in einer ehrbaren sakramentalen Ehe leben würden? Ist denn Gott jetzt weiser oder heiliger geworden als im Alten Bund? – Mag Christus jungfräulich gewesen sein, mag er von einer Jungfrau geboren sein, die einem jungfräu­ lichen Mann angetraut war, mag er vorausbezeichnet worden sein durch die jungfräulichen Propheten Jeremia und Elia, mag er die Jungfräulichkeit einigen wenigen geraten haben, die es fassen konnten. Woher, frage ich, kam das Gebot (praeceptum), so dass es nicht mehr nur ein Rat blieb? […] So häufig werden Gelübde übertreten, so oft das Heilige befleckt, die Gesetze der Natur schauderhaft verkehrt – Verbrechen, Schandtaten, Sünden, Unrecht, Vergehen, Abscheulichkeiten, die zu nennen oder daran zu denken man sich schämt […]. Die unwürdige Realität schreit lauter als meine Klage […], außer es wollte sich jemand absichtlich taub stellen!“

Dies sind nur einige der Einwände gegen den Zölibat, mit denen sich im 14. Jahrhundert Johannes Gerson (1363–1429) auseinanderzusetzen hatte – in seiner Antwort auf die Anti-Zölibats-Schrift eines französischen Adeligen.1 Ähnliche Argumente begegnen im sogenannten „Anti-Zölibats-Sturm“, der im 19. Jahrhundert manche Diözesen Südwestdeutschlands erfasste, wo sich hauptsächlich akademisch gebildete Laien zusammen mit einer erklecklichen Anzahl von Professoren der Freiburger Universität an den Großherzog von Baden und den Badischen Landtag wandten, um die Aufhebung des Zölibats für die katholischen Priester zu

1 Jean Gerson, Pro coelibatu ecclesiasticorum, in: Opera omnia X, ed. P. Glorieux, 144–163.

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erwirken. Damals kam es zur Errichtung von Anti-Zölibats-Vereinen, denen sich leider nicht wenige Priester anschlossen. 2 In der Argumentation gegen die lange Tradition des PriesterZölibats vermischen sich zuweilen – damals wie heute – zwei Stoßrichtungen: Einerseits werden sehr grundsätzliche anthropologische Einwände erhoben, etwa: der Zölibat führe zur Verkümmerung der menschlichen Existenz, die – darüber muss man sich im Klaren sein – letztlich den Sinn und die Fruchtbarkeit des evangelischen Rates der perpetua continentia überhaupt bezweifeln oder offen bestreiten. Andererseits werden spezifische Argumente gegen den priesterlichen Zölibat vorgebracht, wie er (hauptsächlich) mit der lateinischen Tradition verbunden erscheint: So wurde und wird bis heute die Ablehnung des sogenannten „Pflicht-Zölibats“ damit begründet, er sei das Haupthindernis, mehr gut qualifizierte Bewerber für das Priesteramt zu bekommen. Nicht selten wird beteuert, man schätze das Charisma der Ehelosigkeit durchaus, aber nachdem es nicht notwendig mit dem Priestertum verbunden sei, könne man es nicht als Voraussetzung verlangen. Nun hat freilich bereits vor vielen Jahren Karl Rahner3 darauf entgegnet, man könne der Kirche nicht das Recht absprechen, von denen, die ihre Priester sein wollen, diese Mitgift zu verlangen. Vor allem aber hat Joseph Ratzinger auf die Crux der Argumentation hingewiesen: 4 Ihr liegt ein unreflektierter Charismen-Begriff zugrunde. Erstens wird ein Charisma der Person als einem freien Subjekt gegeben. Der Empfänger selbst kann und muss sich zu dieser Gabe verhalten. Man kann eine Gabe entwickeln, hüten, auch: von Gott erbitten; ebenso wie man sie vernachlässigen, verletzen oder absterben lassen kann. Das gilt auch für diejenigen Personen, welche die Verantwortung der Begleitung und der Unterscheidung von Berufungen haben. Zweitens ist ein Charisma nie eine nur private geistliche Gabe, sondern im Gegenteil: eine besondere Befähigung für den Nutzen der kirchlichen 2 Margarete Eirich, Johann Adam Möhlers „Beleuchtung der Denkschrift“. Auseinandersetzung mit der kirchlichen Situation seiner Zeit, Frankfurt a. M. 2016. 3 Karl Rahner, Der Zölibat des Weltpriesters im heutigen Gespräch (II). Eine Antwort, GuL 41 (1968) 285–304 (Vortrag vor Seminar-Regenten), hier 295 f., 303. Vgl. auch Rahners „Offenen Brief“, in: GuL 40 (1967) 122–138. 4 Joseph Ratzinger, Zum Zölibat der katholischen Priester. Stellungnahme zu Prälat Prof. Dr. Richard Egenters ‚Erwägungen zum Pflichtzölibat‘, JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 154–158 (aus dem Jahr 1977).

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­Gemeinschaft. Dies scheint, so könnte man hinzufügen, ganz besonders dann für das Charisma der ehelosen Keuschheit zu gelten, wenn es nicht mit einer Ordensberufung verknüpft ist. 5 Würde nun die Kirche ihre öffentlich bekundete Wertschätzung des zölibatären Lebens von Priestern aufgeben und es der persönlichen Entscheidung überlassen, so würde das ehelose Leben eines Diözesan-Priesters zu einem Ausdruck seiner persönlichen, privaten Frömmigkeit, die aber mit seinem kirchlichen Dienst wenig zu tun hätte. Die Folge solcher „Freistellung“ der Wahl wäre über kurz oder lang – so ist Joseph Ratzinger auch aufgrund historischer Entwicklungen überzeugt – das Verschwinden des zölibatären Lebens von Priestern. Im Folgenden will ich also versuchen, die innere Nähe und Verbindung zwischen dem Evangelischen Rat der „perpetua continentia propter regnum caelorum“ und der priesterlichen Berufung zu skizzieren; 6 Presbyterorum ordinis n. 16 spricht von einer „multimoda convenientia“.7 Wenn man das nicht unternimmt, wird sich von 5 S. u. Anm. 32. 6 Zur historischen Entwicklung bzw. Legitimität der heutigen lateinischen Praxis liegen mehrere Studien vor, etwa von Christian Cochini, Origines apostoliques du célibat sacerdotal, Paris-Namur 1981; Roman Cholij, De lege caelibatus sacerdotalis: nova investigationis elementa, in: Periodica de re morali, canonica, liturgica 78, 1989, 157–185; De caelibatu sacerdotali in Ecclesia Orientali nova historica investigatio, in Periodica 77, 1988, 3–31) und Stefan Heid, Zölibat in der frühen Kirche. Die Anfänge einer Enthaltsamkeitspflicht für Kleriker in Ost und West, Paderborn 2 2003. Es sei hingewiesen auf die wichtigsten päpstlichen Schreiben des letzten Jahrhunderts, die einen besonderen Akzent auf das zölibatäre Leben legen: Pius XI., Ad catholici sacerdotii (1935); Pius XII., Menti nostrae (1950), Sacra virginitas (1954); Johannes XXIII., Sacerdotii nostri primordia (1959); Paul VI., Sacerdotalis caelibatus (1967); Bischofssynode (1971): „Lex caelibatus sacerdotalis in Ecclesia latina vigens integre servari debet“; Johannes Paul II., Pastores dabo vobis (1978); Benedikt XVI., Sacramentum caritatis (2007), n. 24. Ein hilfreiches Verzeichnis der Dokumente und Studien siehe: www.clerus.org. 7 PO 16: „Coelibatus vero multimodam convenientiam cum sacerdotio habet. Missio enim sacerdotis integra dedicatur servitio novae humanitatis, quam Christus, victor mortis, per Spiritum suum in mundo suscitat, quaeque originem suam «non ex sanguinibus, neque ex voluntate carnis, neque ex voluntate viri, sed ex Deo» (Io. 1,13) habet. Per virginitatem autem vel coelibatum propter Regnum coelorum servatum, Presbyteri nova et eximia ratione Christo consecrantur, Ei facilius indiviso corde adhaerent, liberius in Ipso et per Ipsum servitio Dei et hominum sese dedicant, Eius Regno ac operi regenerationis supernae expeditius ministrant, et sic aptiores fiunt qui paternitatem in Christo latius accipiant. Hoc ergo modo, coram hominibus profitentur se velle indivise muneri sibi commisso dedicari, fideles

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­ llein die Frage erheben, was man denn verlieren würde, wenn a man dieses unverständliche, ungeliebte und angeblich so oft gebrochene „Gesetz“ aufgäbe. Gewiss, es handelt sich um Konvenienz-Argumente. Denn das zölibatäre Leben beruht auf der Erlösungsordnung – und das hat zur Folge, dass seine Begründung nicht mittels „rationes necessariae“ vorgenommen werden kann, sondern dass es seine eigentliche „Logik“ aus dem Glauben an die Inkarnation, mehr noch: an die leibhafte Auferstehung Christi zieht („Nach der Auferstehung werden sie nicht mehr heiraten“: Mt 22,30; Lk 20,35).8 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Unverständnis für das zölibatäre Leben eine Glaubenskrise anzeigt, die zu überspielen fatal wäre.9 Auch hier darf ich noch einmal Rahner zitieren: „Die heutige Zölibatskrise hat sehr viele Gründe. […] Aber wenn wir uns nicht selber täuschen, müssen wir sehen, dass der letzte Grund dieser Krise in der Glaubensnot im allgemeinen und ganzen liegt. Wir leben in einer Zeit, in der die Wirklichkeit Gottes und des ewigen Lebens vom Menschen nur schwer realisiert zu werden vermag. Wir leben in einer Zeit, die durch Stichworte wie Entmythologisierung, Entsakralisierung [!] und durch die Tendenz charakterisiert ist, das ganze Christentum auf eine bloße Zwischenmenschlichkeit zu reduzieren.“10 Ich setze voraus, dass die continentia permanens oder Zölibat nicht einfach ein äußerer Lebensstil ist – erst recht nicht ein bequemeres Single-Leben! – sondern ein spezifischer, leiblicher Ausdruck der castitas.11 Diese innere Haltung der Ehrfurcht, welche die affektiven



scilicet despondendi uni viro, illosque exhibendi virginem castam Christo, et sic arcanum illud evocant connubium a Deo conditum et in futuro plene manifestandum quo Ecclesia unicum Sponsum Christum habet. Signum insuper vivum efficiuntur illius mundi futuri, per fidem et caritatem iam praesentis, in quo filii resurrectionis neque nubent neque ducent uxores.“ 8 Auch wenn es Voraus-Bilder im AT gibt, gipfelnd in der Gestalt Johannes des Täufers, und auch Analogien in außerbiblischen Religionen anzuerkennen sind, worauf Pius XI., Ad catholici sacerdotii (Castità) hinweist. J. A. Möhler meint sogar, es liege auch eine Wurzel in der Natur. 9 Joseph Ratzinger, Salz der Erde, in: JRGS 13/1, Freiburg i. Br. 2016, 205–458, hier 385. 10 Rahner, Der Zölibat des Weltpriesters (Anm. 3), 286; vgl. Joseph Ratzinger, Recht der Gemeinde auf Eucharistie? Die „Gemeinde“ und die Katholizität der Kirche, in: JRGS 8/1, Freiburg i. Br. 2010, 538–555.554. 11 „corda et corpora mancipemus …“: Innozenz I., Etsi tibi.

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Beziehungen einer Person zu ihren Mitmenschen, zu sich selbst, ja auch zu Gott formt, ist eine notwendige Qualität der caritas, der Tugend der Liebe. Sie wurzelt im Erfassen der „Heiligkeit“, Kostbarkeit und Unverfügbarkeit der anderen wie der eigenen Person.

1. Nachfolge des Guten Hirten – nicht funktional, sondern personal Im Neuen Testament gibt es nur einen Priester: den Herrn, Bräutigam und Haupt seiner Kirche, die sein priesterlicher Leib ist (1 Petr 2,5.9). Wie Joseph Ratzinger in zahlreichen Beiträgen gezeigt hat, ist das sakramentale Dienstamt des Neuen Bundes in der Christologie verwurzelt; es hat Anteil an der Neuheit Christi selbst, und lässt sich daher weder aus dem Priestertum des Alten Bundes herleiten noch aus anderen religionsgeschichtlichen Phänomenen erklären.12 Dies darf man konsequenterweise auch für den priesterlichen Lebensstil des Zölibats annehmen, der nicht einfach mit der Übernahme gängiger Vorstellungen von „kultischer Reinheit“ begründet oder abgetan werden kann.13 Das Priestertum des Neuen Bundes existiert nur in Abhängigkeit von dem einzigen Hohenpriester Christus. Wer das Sakrament der Priesterweihe empfängt, wird befähigt, den Herrn der Kirche zu „repräsentieren“, Christus als das bleibende Gegenüber zur Kirche in ihr sichtbar zu machen – in Wort, Sakrament, im selbstlosen Dienst am Heil. Einsetzung des sakramentalen Priestertums besagt, dass Christus nicht nur als die Heilsgabe in seiner Kirche gegenwärtig bleiben will (Eucharistie als Sakrament), sondern auch als Geber (in der Eucharistie-Feier besonders durch das Handeln des Priesters „in persona Christi capitis“). Zugleich aber gilt: Wer zum Priester geweiht wird, übernimmt nach katholischem Verständnis nicht einfach einen Dienst oder 12 Joseph Ratzinger, Vom Wesen des Priestertums, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 33–50; ders., Das geistliche Amt und die Einheit der Kirche, in: ebd., 51–69, bes. 55 f.; ders., Zur Frage nach dem Sinn des priesterlichen Dienstes, in: ebd., 350–386, bes. 353–357. 13 Kultische Reinheit ist im Kern der äußere Ausdruck für die der Gottheit gebührende Ehrfurcht. Zu Recht hat Stefan Heid, Zölibat in der frühen Kirche (Anm. 6), 312, darauf hingewiesen, dass die jeweilige Vorstellung von kultischer Reinheit abhängt vom Gottesbild einer Religion.

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eine Aufgabe, im Sinn einer für die Gemeinschaft notwendigen Funktion, sondern wird in die besondere Nachfolge Christi gerufen. Er ist nicht einfach ein „Medium“ oder „Werkzeug“ (selbst wenn die Sakramente ex opere operato wirksam sind, und nicht von seiner Glaubenskraft oder Heiligkeit abhängen), sondern ein „Zeuge“; ein Knecht, ja,14 aber nicht ein „Knecht, der nicht weiß, was sein Herr tut“, sondern „Freund“ (Joh 15,15), der in eine „Wirk-Gemeinschaft“ (cooperator) mit Christus gerufen ist (1 Kor 3,9). Seine Aufgabe ist es, das übernatürliche Leben zu fördern, die Gläubigen aufzubauen zu einer heiligen Opfergabe (PO 2). Er hat nichts zu geben als das, was Christus gibt. Aber dieses Weitergeben fordert ihn als Person.15 Wie sollte da eine Angleichung auch der Lebensweise an die Lebensweise Jesu, die evangelischen Räte, nicht konvenient sein?16 Wessen erste Sorge dem Reich Gottes gelten muss (Mt 6,33), der wird vermeiden, in „irdischen Beschäftigungen“ aufzugehen17 oder sich zu häuslich einzurichten. Man kann nicht übersehen, dass nach dem Zeugnis des Neuen Testaments das Verlassen des bisherigen Lebens und der eigenen Pläne zum apostolischen Dienst gehört; und dass diese Berufung einen Anspruch an die gesamte Lebensgestaltung stellt.18 Die Bereitschaft eines Kandidaten zum zölibatären Leben kann durchaus ein Kriterium dafür sein, ob er verstanden hat, dass er nicht für sich selbst Priester wird, sondern für Christus, der durch 14 Joseph Ratzinger, Dienst und Leben der Priester, in: JRGS 7/2, Freiburg i. Br. 2012, 904 f. (Kommentar zu PO). 15 In Parallelität zur Sendung Christi, welche gewissermaßen paradox ausgedrückt wird: „Meine Lehre ist nicht meine Lehre …“ (Joh 7,16), dazu Ratzinger, Vom Wesen des Priestertums (Anm. 12), 38 f. 16 Tropoi kyriou, „die Lebensweise des Herrn“ zu haben, gilt in der Didache 11,8 als Anzeichen für die Vertrauenswürdigkeit eines Wanderpropheten. Vgl. 2 Tim 2,4 und 1 Tim 4,12: Ein vorbildliches Leben wird gefordert, dazu gehört Keuschheit. Zu beachten ist auch, dass 1 Thess 4,3 die Keuschheit als erste unter den Tugenden genannt wird, die zur „Heiligkeit“ führen. 17 Pius XI. Ad catholici Sacerdotii: „Distacco dai beni terreni“; „L’obbedienza“. Pius XII., Menti nostrae; PO 17. 18 Joseph Ratzinger, Am Anfang steht das Hinhören, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 506–513, hier 512; ders., Zur priesterlichen Spiritualität, in: ebd., 514–532, hier 527. Unter diesem Gesichtspunkt kann man das levitische Priestertum als Analogie betrachten: Levi bekommt im Unterschied zu allen anderen Stämmen kein Land zugewiesen, sein „Anteil“ ist Gott allein; vgl. dazu Joseph Ratzinger, Salz der Erde (Anm. 9), 383 f.

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ihn seine Hirten-Sorge ausüben will. Und ob er sich der Unbedingtheit dieses Rufes stellt.19 Dabei geht es nicht um eine äußere Nachahmung, sondern um das Teilen des Lebens, was eine besondere Nähe bewirkt. Die „continentia“ ist nicht ein Kleid, das man äußerlich trägt – wie ein künstlicher Pelz, der manche praktische Vorteile haben kann – sondern Ausdruck der inneren Zugehörigkeit zu Christus, dem Guten Hirten, die so total ist, dass der Platz einer Ehepartnerin leer bleibt. Wer darauf verzichtet, verzichtet auf ein Gut – auf ein Gut der Schöpfungsordnung. Das kann nur gelingen, wenn der Verzicht um eines höheren Gutes willen bejaht – und nicht einfach in Kauf genommen – wird. Gerade weil die Ehe keine periphere Angelegenheit des menschlichen Lebens ist, sondern als einzigartige, ausschließliche Gemeinschaft eines Mannes mit einer Frau die beiden Personen in allen Dimensionen tiefgreifend prägt und beansprucht, lässt sich als „konvenient“ verstehen, dass ein Mensch, der total-personal für den Auftrag Christi in Dienst genommen ist, einer anderen menschlichen Person nicht so gehören kann, wie ein Ehemann ­seiner Frau. 20 Umgekehrt: Wenn Ehe und Sexualität banalisiert werden, dann schwindet auch das Verständnis für die Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen. 21 19 Vgl. Rahner, Der Zölibat des Weltpriesters (Anm. 3), 287 f.: „Wir müssen den Priester und den Priesteramtskandidaten von heute fragen, wo denn eigentlich in ihrem Leben jene Entscheidungen […] gegeben sind, die ihr Leben aus dem Glauben so bestimmen, dass dieses Leben selbst anders wäre, wenn sie nicht an Gott und das ewige Leben glauben würden.“ 20 Vgl. Rahner, Der Zölibat des Weltpriesters (Anm. 3), 290.292. Rahner stellt auch die Frage: „Was ist – im Unterschied zu früheren Zeiten und zur gesellschaftlichen Situation im verheirateten Klerus der Ostkirchen – mit jenen personalen Ansprüchen, die eine Frau heute mit Recht an ihren Gatten stellt?“ 21 Z. B. Romano Guardini: Ethik 1, 712 f.: „Denn sobald aus der Ehe eine rein bürgerliche Angelegenheit, gar weithin ein Chaos wird, verliert der Gedanke eines frei vollzogenen Verzichts auf die geschlechtliche Gemeinschaft um der höchsten Aufgaben willen, und einer Lebensform, die sich daraus entwickelt, seinen soziologischen Ort. So ist es nicht zufällig, daß die Leugnung des sakramentalen Charakters und damit die These ihrer Auflösbarkeit in der Reformation zu der gleichen Zeit und aus den gleichen Anschauungen heraus vollzogen wurde, aus welchen auch die Ehelosigkeit als freiwillige und christlich geheiligte Form abgelehnt worden ist. Sie setzen sich dann in der Haltung der französischen Revolution fort, welche die Ehe zu einer rein bürgerlichen Sache gemacht und die Orden

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2. Tria munera Christi Das Weihepriestertum, so erklärt Presbyterorum ordinis ganz zu Beginn, 22 ist dazu eingesetzt, die „heilige Priesterschaft“ des Leibes Christi aufzubauen, damit die Gläubigen eine Opfergabe für Gott werden. Dieser heiligende Dienst vollzieht sich in der Verkündigung (martyria – munus propheticum), der Feier der Sakramente (leiturgia – munus sacerdotale) und der umfassenden Sorge für das Heil der Anvertrauten (diakonia – munus regendi).

2.1 Leiturgia 2.1.1 Minister mysterii23 Der lebendige Christus ist nicht nur das Haupt, sondern auch der Bräutigam der Kirche. „Er hat sie geliebt und sich für sie hingegeben“, „damit sie rein und heilig“ sei (Eph 5,25–27). Gefeiert und vergegenwärtigt wird diese Hingabe vor allem in der Eucharistie: Durch sie werden die Gläubigen gereinigt und tiefer geheiligt, um

in einem – nicht etwa nur durch Mißstände begründeten – Haß bekämpft hat … in der Haltung der Aufklärung … der totalitären Staatlichkeit usw. In der gleichen Zeit, in welcher aus der Ehe die verworrene Angelegenheit wird, die sie heute weithin ist, wird aus dem ehelos lebenden Menschen jener, der entweder erotisch verkümmert, oder aber sich in unverbindlichen und unfruchtbaren Beziehungen auslebt.“ Guardini entfaltet an verschiedenen Stellen seines Werkes die Auswirkung, welche die freiwillig versprochene und konkret gelebte Armut, Jungfräulichkeit und Gehorsam für das christliche Leben insgesamt haben: „Das Heroische hat seinen Sinn nicht nur für sich, sondern auch für das Tägliche; das vermufft, wenn nicht irgendwo, irgendwann im Dasein jenes aufleuchtet“: Unterscheidung des Christlichen, 112. „Die Verwirklichung des Rates wirkt […] als lebendige Kraft“, „sie beweist die Möglichkeit, vom Besitz frei zu sein …“. Der Herr (2000), 341, vgl. 332 f., ders., Vom Sinn der Kirche, Mainz 1990, 93–95. 22 Prooemium (n. 1) „Presbyteri enim, sacra Ordinatione atque missione, quam ab Episcopis recipiunt, promoventur ad inserviendum Christo Magistro, Sacerdoti et Regi, cuius participant ministerium, quo Ecclesia in Populum Dei, Corpus Christi et Templum Spiritus Sancti, hic in terris, indesinenter aedificatur. (n. 2) Officium Presbyterorum, utpote Ordini episcopali coniunctum, participat auctoritatem qua Christus Ipse Corpus suum exstruit, sanctificat et regit.“ 23 Zum Begriff „mysterium“ im Corpus Paulinum (und bei den Kirchenvätern): Louis Bouyer, „Mystisch“ – zur Geschichte eines Wortes, in: Josef Sudbrack (Hg.), Das Mysterium und die Mystik, Würzburg 1974, 57–75. „Mysterium“ bezeichnet den Heilsplan Gottes, der in Christus geoffenbart wurde. Zu diesem Heilsplan gehört integral die Kirche. Mysterium besagt also im besonderen „den ganzen Christus“, „Haupt und Leib“, insofern die Vereinigung der Menschen mit dem Erlöser gerade das Ziel des Heilsplanes Gottes ist.

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mit Christus eine „heilige Gabe für Gott den Vater“ zu sein. Darum fassen die Kirchenväter die eucharistische Feier als Hochzeitsmahl des Lammes auf, in dem „verhüllt“ im Sakrament die verheißene Gemeinschaft des Himmels bereits gefeiert wird. Liegt es nicht nahe, dass derjenige, der in dieser Liturgie den Bräutigam „repräsentiert“, „in persona Christi capitis“ handelt und die Worte spricht: „Das ist mein Leib für euch“, auch selbst einzig die Kirche als sein Gegenüber habe? Was das Priestertum des „ersten Grades“, also das Bischofsamt betrifft, ist diese Konvenienz im Übrigen nicht strittig; in der lateinischen Tradition, so könnte man sagen, ist der „gewöhnliche Priester“ dem Bischof und seinen Pflichten angeglichen. Diese Überlegungen setzen freilich voraus, dass die in der Hl. Schrift und der Liturgie begegnenden Symbole keine beliebigen Bilder sind, sondern der Weg, auf dem uns das unergründliche Geheimnis der Liebe Christi mitgeteilt wird. Daher kann man sie nicht einfach beiseiteschieben oder ersetzen. 24 2.1.2 Sacerdos et sacrificium Christus ist Priester und Opfergabe zugleich – „Priester, Altar (als der Ort der Begegnung von Gott und Mensch) und Opferlamm“. Der Kulminationspunkt, der Vollzugsort seines Priestertums ist das Kreuz. 25 24 Vgl. dazu Ignace de la Potterie, Il fondamento biblico del celibato sacerdotale, in: Solo per amore, Cinisello Balsamo 1993, 27, zur Formel „unius uxoris vir“: „prevaleva così, oltre il senso immediato dei rapporti coniugali, un senso nuovo, mistico, un collegamento diretto con le nozze spirituali di Cristo e della Chiesa. Questo lo insinuava già Paolo; per lui unius uxoris vir era una formula di Alleanza: introduceva il ministro nella relazione sponsale tra Cristo e la Chiesa; per Paolo, la Chiesa era una vergine pura , era la Sposa di Cristo. Ma questo collegamento tra il ministro e Cristo, essendo dovuto al sacramento dell’ordinazione, non richiede più oggi, come supporto umano del simbolismo, un vero matrimonio del ministro; perciò la formula vale tuttora per i sacerdoti della Chiesa, benché non siano sposati; quindi, ciò che nel passato era la continenza per i ministri sposati diventa nel nostro tempo il celibato di quelli che non lo sono. Però il senso simbolico e spirituale dell’espressione unius uxoris vir rimane sempre lo stesso. Anzi, poiché contiene un riferimento diretto all’Alleanza, ossia al rapporto sponsale tra Cristo e la Chiesa, ci invita a dare oggi, molto più che nel passato, una grande importanza al fatto che il ministro della Chiesa rappresenta Cristo-Sposo di fronte alla Chiesa-Sposa. In questo senso il sacerdote deve essere l’uomo di una sola donna, ma quell’unica donna, la sua sposa, è per lui la Chiesa che … è la sposa di Cristo“. 25 Joseph Ratzinger, Der Priester als Mittler und Diener Jesu Christi, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 107– 128, hier 124.

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Vor dem Empfang der Weihe wird der Kandidat gefragt, ob er bereit sei, sich „mit Christus, unserem Hohepriester, täglich enger zu verbinden und mit ihm Opfergabe zur Ehre Gottes und zum Heil der Menschen zu werden“. In seiner Auslegung dieser Worte der Liturgie26 hob Joseph Ratzinger drei Aspekte hervor: Die Frage beziehe sich auf den eucharistischen Auftrag des Priesters, der „das Fest Gottes unter den Menschen zu feiern“ berufen ist; sie betreffe aber nicht sein Tun, sondern sein Sein, sein „Werden“: „… nur in dieser Tiefe, in der einer sich selbst anrühren lässt, sich selber ins Spiel zu bringen bereit ist, kann der Gabe des Herrn entsprochen werden.“ Der Größe der Aufgabe, der Unerfindbarkeit der Gabe, die hier empfangen wird, korrespondiert die „Übereignung“ an Gott. Das ist der eigentliche Sinn von „Opfer“ – „sacri-ficium“: Man gibt Gott etwas – sich selbst, damit es IHM gehöre. Folglich bedeutet „Opfer nicht diese oder jene Quälerei, diese oder jene Leistung, sondern es bedeutet, dass wir heraustreten aus dem Grundgesetz des Egoismus […] und dass wir uns dem Neuen Gesetz Jesu Christi übereignen, der der Mensch für die ­anderen, und der der Sohn des Vaters im ewigen Austausch der dreieinigen Liebe ist …“. Die Ehelosigkeit ist eine sehr konkrete, auch in der Dimension des Verzichtes spürbare, Form der Übereignung an Gott: 27 Ihm wird gegeben das Verlangen, fruchtbar und nicht sinnlos zu leben, und die Sehnsucht, personal geliebt zu sein – „um des Himmelreiches willen“, in der glaubenden Hoffnung, dass dadurch diejenige Liebe (caritas) wachse, die zum Heil anderer beiträgt, die Liebe des Guten Hirten, der sein Leben für die Seinen gibt. Es gibt in jedem menschlichen Leben „Opfer“, die einem zugemutet, auferlegt werden. Das zölibatäre Leben aber ist eine Tat des großherzigen Glaubens. Das heißt: Nicht nur dem faktisch enthaltsamen, keuschen Leben, sondern dem Versprechen eignet eine besondere Würde. Denn hier kommt die Dimension der „freiwilligen Gabe“ zum Ausdruck. Das Versprechen enthält eine Selbstbindung, die man mit Thomas von Aquin als einen Akt der Gottesverehrung bezeichnen kann: die öffentlich eingegangene Bindung ist ein Zeugnis des Vertrauens in Gott und seine Gnade. Ein mir 26 Joseph Ratzinger, Mit Christus Opfergabe werden zum Heil der Menschen (Predigt, Freising 1978), in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 578–583. 27 Vgl. Pius XII., Sacra virginitas, III. „La verginità è un sacrificio“.

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bekannter Priester hat es so ausgedrückt: „Ja, der Zölibat ist ein Charisma, ein Geschenk Gottes. Aber er ist auch mein Geschenk an Gott.“ Und was ein Mensch Gott übereignet, „verliert“ er nicht, sondern erhält es in anderer Weise zurück.

2.2 Martyria – Zeugnis 2.2.1 Disposition zur Contemplatio Früher nannten Priester ihr Brevier-Buch noch zuweilen: „meine Braut“. Damit sollte wohl gesagt sein, dass sie das Stundenbuch überallhin mitnahmen. Aber vielleicht war doch noch mehr gemeint. Es geht hier nicht um das Buch als Gegenstand, sondern um die Vertrautheit mit dem Wort Gottes, das nicht nur gelesen, sondern durchbetet werden soll, das Wort, das einen begleitet, und von dem man lebt. Gerade der Verkündigungsauftrag setzt den persönlichen Umgang mit dem Wort Gottes voraus. Notwendig ist die Ehelosigkeit dazu freilich nicht. Dennoch sollte man bedenken, dass Realisten wie Thomas von Aquin (oder auch die „Therapeuten“, die Philo beschreibt; unter anderen Vorzeichen auch Moses Maimonides) eine bestimmte Freiheit des Geistes für eine ausgezeichnete Disposition zur contemplatio hielten – nämlich die Ungeteiltheit des Herzens, die Paulus mit der Ehelosigkeit verbunden sieht (1 Kor 7,32–34). 28 Unter „contemplatio“ verstanden sie freilich nicht nur ein theoretisches Nachsinnen über dieses Wort, sondern „Hinschauen mit dem Blick der Liebe“. Umgekehrt, darin ist die geistliche Tradition ebenfalls einig, stärkt dieses ­liebevolle „geneigte Hören“ auf das Wort Gottes die Tugend der Keuschheit. 2.2.2 Prophetie mit dem Leben Wer die Frohe Botschaft verkündet, spricht von Gütern der kommenden Welt, ist ein Zeuge der Hoffnung. Die Güter des ewigen Lebens sind wirkliche Güter, aber nicht so einfach sichtbar. „Wir, die wir nicht auf das Sichtbare starren, sondern unseren Blick festmachen (contemplantes) an dem, was nicht vor Augen liegt. Denn 28 Rahner, Der Zölibat des Weltpriesters (Anm. 3), 290, nennt es „wirklichkeitsfremd“, nicht wahrhaben zu wollen, dass „die konkrete Ehe auch ein Hindernis sein kann für die volle Hingabe an den Herrn und seine Aufgabe, die er dem stellt, der sich ihm und dem Kommen seines Reiches verschreibt“.

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das Sichtbare ist vergänglich, das Unsichtbare ewig“ (2 Kor 4,18). Ein Leben in freiwilliger Ehelosigkeit ist ein starkes Zeugnis für die Wirklichkeit der Güter, von denen man redet, ein Zeugnis dafür, dass wir maßlos geliebt sind – schon jetzt, in dieser Welt voll Zwielicht und Schatten. 2.2.3 Zeugnis gegen den Widerstand Martyria schließt noch eine weitere Bedeutung ein: Sie ist Zeugnis gegen den Widerstand – confessio, Bekenntnis. Widerstand und Widerspruch kann es von außen und aus dem eigenen Inneren geben. 29 „Bekenntnis“ bedeutet hier auch: einzustehen für das, was sich nicht von selbst nahelegt – man könnte sagen: sich der Torheit des Kreuzes nicht zu schämen. Das Festhalten am Zölibat ist gerade nicht pragmatisch erklärbar, sondern Ausdruck dessen, dass die Kirche an dem – mit irdischen Maßstäben gemessen – „Unvernünftigen“ festhält. 30 Es ist kein Zufall, dass das „weiße Martyrium“ der Jungfräulichkeit gleich nach dem „roten“, dem Blutzeugnis, folgt (vgl. LG n. 42). Beides ist Kreuzesnachfolge. 31 Aber bei beiden geht es nicht in erster Linie um die „Marter“, sondern um die Einheit des Zeugen mit Christus.

2.3 Diakonia – Seel-Sorge, der Dienst des Guten Hirten Diakonia soll hier in einem umfassenden Sinn verstanden sein: dem übernatürlichen Ziel der Mitmenschen dienen, und zwar mit einer Sendung (und daher einer Verantwortung!), die über die Pflicht eines jeden Bruders oder einer jeden Schwester hinausgeht.

29 Methodius, Convivium VII, 3 (PG 18, 128 f.); Gregor d. Gr. In Ev. I, 3, 4 (FC 28/1, 87–89). 30 Joseph Ratzinger, Das Evangelium lebendig weitersagen (Predigt, München 1978), in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 616–620, hier 620: „Wir wissen, wie viel ernste und vor allen Dingen praktisch-pragmatische Fragen an sie [d. i.: die Weihekandidaten] gerichtet werden im Blick auf die Priesternot unserer Zeit. […] Und so viel dagegen protestiert wird, irgendwie bleibt es ein Stachel im Fleisch dieser Zeit, dass es da Menschen gibt, die so dem Evangelium glauben, dass sie das irdisch Unvernünftige tun, und dass sie dafür mit ihrer ganzen Existenz, bis in Leib und Seele hinein, einstehen und es so beglaubigen.“ 31 Vgl. Johannes Chrysostomus, de virginitate n. 80 (PG 48,592): „Wurzel und Frucht der Jungfräulichkeit ist ein gekreuzigtes Leben“.

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Es geht um ein Dienen, wie Christus gedient hat, ein Dienen mit dem gleichen Ziel. Das Paradigma dafür ist die Fußwaschung – mit ihren ethischen wie sakramentalen Implikationen. Denn immer noch will Christus durch den Dienst der Apostel und ihrer Nachfolger die Füße seiner Gläubigen waschen. Was trägt hierzu der Zölibat bei? Mehr jedenfalls als äußere zeitlich-räumliche Verfügbarkeit oder leichtere Versetzbarkeit. Es geht vielmehr um eine bestimmte Qualität der Beziehung. 32 Der Blick eines Seel-Sorgers soll erkennen, was im anderen Menschen „Gottes ist“, das Abbild Gottes, in Ehrfurcht vor dem Wirken Gottes. Diesen Blick für den Anderen traute man seit frühester Zeit besonders denen zu, die „für Gott einsam leben“. Wer sich der eigenen Einsamkeit mit und für Gott jeden Tag stellt, der wird auch tiefer verstehen, was jedem Menschen nottut. Darum wird die geistliche Vaterschaft denjenigen Personen zugeschrieben, die selbst keine natürliche Vaterschaft kennen – den Mönchen (auch den Nonnen) und Priestern. 33 Wie sich die Berufung zur besonderen Nachfolge nicht einfach aus der Herkunft aus einer christlichen Familie ergibt, sondern einen besonderen Ruf voraussetzt (man denke an die Nachfolge-Worte Jesu, welche eine Distanzierung von der natürlichen Familie fordern), so werden auch die menschlichen Beziehungen einer solchermaßen berufenen Person eine besondere Färbung annehmen. „Ein Priester ist Vater aller Gläubigen, Männer wie Frauen. Wenn also jemand, der diese Stellung unter den Gläubigen ein-

32 Sherry Weddell, international bekannt für ihr Wirken in der katholischen Charismatischen Bewegung, stellte fest, dass einer Person das Charisma des Zölibats i. d. R. zusammen mit einem weiteren Charisma (oder mehreren) gegeben werde. Das Charisma des zölibatären Lebens sei ein Anzeichen, dass die betreffende Person zu einem außergewöhnlichen Einsatz berufen und befähigt sei: „Celibacy empowers a Christian to be most fulfilled and spiritually fruitful by remaining unmarried and celibate for the sake of Christ. For someone with this gift, a celibate life is not a void; it is not just the absence of marriage or romantic attachment. It is a positive call to a particular relational lifestyle that carries with it the freedom to take on unusual vocations or missions.“ (Fruitful discipleship, Huntington IN, 2017, 153). 33 Vor kurzem erläuterte mir ein armenischer Priester, dass die verheirateten und die unverheirateten Priester von den Gläubigen unterschiedlich angeredet werden, die Anrede „heiliger Vater“ gebrauche man nur für zölibatäre Priester. Siehe auch Carter Griffin, Why Celibacy? Reclaiming the Fatherhood of the Priest, Road 2019.

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nimmt, heiratet, gleicht er jemandem, der seine eigene Tochter heiratet“, schrieb ein syrischer Autor des 8. Jahrhunderts. 34 Das klingt schockierend. Aber fragen wir andersherum: Könnte die Ehefrau eines Priesters bei ihrem Mann beichten? Wie kann man ertragen, dass Menschen beim Ehepartner, den man so gut kennt wie niemand sonst, ihre tiefste metaphysische Not und Schuld vor Gott aussprechen? Es war Friedrich Nietzsche, der – wie so oft scharfzüngig – behauptete, dass die Ohrenbeichte in den Gemeinschaften der Reformation verschwand, als es keine ­zölibatären Geistlichen mehr gab. 35 Und so dürfen wir vielleicht auch fragen, ob die Leichtigkeit, mit der man sich verheiratete Priester vorstellen kann, mit der – de facto – marginal gewordenen Bedeutung des Bußsakraments verknüpft ist. 36 Ich wage daher ein kurzes Fazit: Die Loslösung des zölibatären Lebens vom priesterlichen Dienst würde meines Erachtens die Auffassung vom Priestertum nicht nur peripher, sondern tiefgreifend verändern. Die Folge wäre auf jeden Fall eine verstärkt funktionale Bestimmung, vermutlich auch die vollständige Verbürgerlichung. Demgegenüber haben die großen Reform-Bewegungen der Kirchengeschichte, die auf Dauer Fruchtbarkeit entfalteten, auf die vita evangelica für den Klerus gesetzt.

3. Epilog: Zwischen Kreuz und Ostern „Wer sein Leben liebt, wird es verlieren. Wer sein Leben in dieser Welt hasst, der wird es gewinnen.“ Das zölibatäre Leben wird man nur verstehen, wenn man dieses Wort beginnt zu verstehen. Das 34 Johannes Darensis, zit. bei R. Cholji, De lege caelibatus sacerdotalis: Nova investigationis elementa, in: Periodica de re morali canonica liturgica 78 (1989) 165. 35 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, zitiert nach: Hans Urs von Balthasar, Der antirömische Affekt, Freiburg 1974, 37. 36 Man könnte auch vorschlagen – wie im Vorfeld der Amazonas-Synode zu hören war – „Hilfspriester“ ohne weitergehende Kompetenzen als Vorsteher der Eucharistie-Feier zu weihen. Möglich wäre es wohl – allerdings ein Rückfall ins Mittelalter, wo nicht jedem Priester die Predigt- noch die Beicht-Vollmacht übertragen wurde. Ob ein solches Priesterbild mit Presbyterorum ordinis vereinbar ist, ist die eine Frage; eine andere, ob solche Art von pragmatischer „Lösung“ die tatsächliche Lage der Gemeinden im Blick hat. Müsste man nicht eher fragen: Warum wachsen hier keine Berufungen?

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Leben des Christen ist geprägt von Kreuz und Auferstehung Christi – angefangen mit der Taufe, die sich in einem Todessymbol vollzieht (Untertauchen), um das Neue Leben zu empfangen. Die Sakramente zeigen dieses Geheimnis, die Seligpreisungen drücken es aus, und ganz besonders die Evangelischen Räte. Freiwillige Armut – die auch innerlich frei macht; konkreter Verzicht auf eigene Pläne – um mehr Gutes zu bewirken, als was man sich selbst hätte ausdenken können; ehelose Keuschheit – der nicht die Beziehungslosigkeit korrespondiert, sondern die Freundschaft mit Christus. Alle Evangelischen Räte haben diese Doppelgestalt: das Neue Leben kommt durch Sterben. 37 Die „Räte“ laden ein zu einem Verzicht, und zwar auf wirkliche Güter, auf die man nicht verzichten müsste. „Schmerz“ ist daher kein Zeichen, dass man nicht berufen sei – aber wenn die Freude den Schmerz nicht überbietet, liegt kaum eine Berufung vor. Umgekehrt: Die Berufung empfangen zu haben, bedeutet nicht, aller Anfechtung enthoben zu sein. Die Dimension der Askese bleibt daher wichtig, und die geistliche Tradition ist in diesem Punkt sehr realistisch. 38 Angeraten wird das Bemühen um flankierende Tugenden, dazu gehören die beiden anderen „Räte“. Denn nicht nur ein „entfesselter Magen“ (gastrimargia), sondern auch Eitelkeit und das Interesse an Gerüchten höhlen das zölibatäre Leben aus. Wer seinen Zorn, Ungeduld, geistliche Trägheit oder Genusssucht nicht bekämpft, oder gar leichtsinnig-selbstgewiss Gefahren geringschätzt, der riskiert einen Zusammenbruch. 39 Das Leben nach den Evangelischen Räten ist zugleich „Vorgeschmack“ des neuen Lebens, nicht Illusion, sondern der frische Wind aus dem neuen Äon, der seit Ostern hereinweht in eine Welt, die geprägt ist von ihrer eigenen Vergänglichkeit – und der tödlichen Angst davor. Darum kann man das ehelose Leben vielleicht als „Sprössling“ der Hoffnung (als theologaler Tugend) bezeichnen, die nicht ohne „Angeld“ ist. Berufung zum zölibatären Leben

37 KKK 2015: „Perfectionis iter transit per crucem. Sanctitas non habetur sine abrenuntiatione et sine spirituali certamine. Spiritualis progressus ascesim implicat et mortificationem quae gradatim ducunt ad vivendum in beatitudinum pace et gaudio.“ 38 Vgl. Pius XII, Menti nostrae; Sacra virginitas. 39 Sehr deutlich dazu: Johannes Cassian, conlatio XII (CSEL 13, 333–360).

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birgt die Berufung zu einer vertieften Freundschaft mit Christus, die sich ihrerseits ausweiten will auf die Brüder und Schwestern Christi – in einer hochherzigen und einsatzbereiten Liebe. Es ist gewiss keine geringe Herausforderung, „Gott bis ins Persönlichste und Innerste hinein als Wirklichkeit an[zu]nehmen, ihn mitreden [zu] lassen …“, aber so kann auch in anderen der Mut aufkeimen, Gott und seine Liebe als Wirklichkeit anzunehmen.40

40 Joseph Ratzinger, Das große Wagnis priesterlichen Dienens (Predigt, 1983), in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 720–728, hier 725.

Voraussetzungen für den ­Empfang des Weihesakraments Gerhard Kardinal Müller

Das II. Vatikanische Konzil hat im „Dekret über Dienst und Leben der Priester“ (7. Dezember 1965) „auf die große Würde des Priesterstandes in der Kirche hingewiesen.“1 Vor allem den Bischöfen, Presbytern (= Priestern) und Diakonen komme eine höchst bedeutsame Rolle zu für die „Erneuerung der Kirche Christi“ in unserer Zeit. Denn die Kirche ist kein menschliches Unternehmen oder ein internationaler Konzern, keine Lobby für partikulare Interessen oder ein Geheimzirkel wie die Freimaurerei, die die Kirche als göttliche Stiftung bekämpft und ihr eine Nische zuweist in ihrem von Menschenhand errichteten Tempel des „Humanismus ohne Gott“ (Henri de Lubac). Sie ist vielmehr „in Christus das universale Sakrament des Heils der Welt, Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“. 2 Nur der ewige Sohn des Vaters, das Fleisch gewordenen WORT, der in seiner Kirche gegenwärtige Christus, ist Grund, Inhalt und Kriterium des Glaubens, der uns rechtfertigt und heilig macht. Christlicher Glaube hat nichts zu tun mit einer heidnischen Gottheit, die sich kundgibt in Mythen und Utopien oder in der Dynamik historischer Ereignisse oder den von Menschen angestoßenen Prozessen, im Blut der Rasse, im Volksgeist oder in unmoralischen Lebenswirklichkeiten. Das Wort Gottes in der Heiligen Schrift und der Apostolischen Tradition ist der einzige und wahre locus theologicus, während dem Lehramt eine interpretative Funktion zukommt. „Und das WORT 1 PO, 1. 2 LG, 1; 45; GS, 48.

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ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14). Papst Pius XI. hat in seiner Enzyklika „Mit brennender Sorge“ (Palmsonntag, 14. März 1937) gegen die nationalsozialistische Verfälschung des christlichen Offenbarungsbegriffes und ein wiederauflebendes Heidentum mit aller Klarheit und Schärfe Stellung bezogen, welches neben die Fülle der Offenbarung in Jesus Christus weitere angebliche Offenbarungen „Gottes“ stellt, die entweder in den dynamischen Prozessen des Volksbewusstseins oder und in den Lebenswirklichkeiten verortet werden, auch wenn diese dem immer und unter allen Umständen verpflichtenden Willen Gottes im Naturrecht und dem Neuen Weg in der Nachfolge Christi widersprechen. 3 Der im Evangelium Jesu Christi erreichte Höhepunkt der Offenbarung ist endgültig und für immer verpflichtend. Diese Offen­barung kennt keine Nachträge durch Menschenhand; sie kennt erst recht keinen Ersatz und keine Ablösung durch die willkürlichen „Offenbarungen“, die gewisse Wortführer der Gegenwart aus dem sogenannten „Mythos von Blut und Boden“ herleiten wollen. Dies gilt für alle altheidnischen aber auch für die neuheidnischen Mythen des liberalistischen Kapitalismus, sozialistischen Marxismus und der narzisstischen Homo- und Genderideologie, denen allen die Reduktion des Menschen auf bloße Materie zugrunde liegt. Sie sind hoffnungslos Gott-los und damit radikal Menschen-feindlich. Wenn der sogenannte synodale Weg in Deutschland oder die Amazonas-Synode nicht im Desaster einer weiteren Verwirrung und Verweltlichung der Kirche enden sollen, müssen sich ihre Protagonisten die Feststellung Papst Pius’ XI. in ihr Regiebuch schreiben lassen: „Jede wahre und dauernde Reform ging letzten Endes vom Heiligtum aus; von Menschen, die von der Liebe zu Gott und dem Nächsten entflammt und getrieben waren. Aus ihrer großmütigen Bereitschaft heraus, auf jeden Ruf Gottes zu hören und ihn in sich selbst 3 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika „Veritatis Splendor“ vom 6. August 1993, in: AAS 85 (1993) 1133–1228, dt. Fassung in: VApSt 111.

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zu verwirklichen, sind sie in Demut und mit der Selbstsicherheit von Berufenen zu Leuchten und Erneuerern ihrer Zeit herangewachsen. Wo der Reformeifer nicht aus dem reinen Schoß persönlicher Lauterkeit geboren wurde, […] hat er verwirrt, statt zu klären; niedergerissen, satt aufzubauen; ist er nicht selten der Ausgangspunkt für Irrwege gewesen, die verhängnisvoller waren als die Schäden, die man zu bessern beabsichtigte oder vorgab. […] Aber Er, der die Kirche gegründet und sie im Pfingststurm ins Dasein gerufen hat, Er sprengt nicht das Grundgefüge der von Ihm selbst gewollten Heilsstiftung.“4

Damit ist die hierarchische, d. h. sakramental verfasste Kirche des dreieinigen Gottes gemeint, wie sie im 3. Kapitel von Lumen gentium beschrieben wird. 5 Sie hat ihre Grundlage in der geschichtlichen Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus und im Heiligen Geist, wie das II. Vatikanum in der Dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung Dei verbum erklärt.6 Dem Lehramt der Bischöfe und des Papstes ist die treue und vollständige Auslegung des geschriebenen und überlieferten Wortes Gottes anvertraut. „Es dient dem Wort Gottes, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist […] und weil es alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des Glaubens schöpft.“7 Weder Bischöfe noch Päpste haben einen direkten Draht zum Heiligen Geist, der ihnen neben dem Zeugnis von Schrift und Tradition eine neue Form des Christentums offenbart, in dem Christus auf eine historische Vorstufe des heute geltenden Paradigmas zurückfallen müsste. Jede zweideutige Redeweise (wie z. B. „wir brauchen eine neue Kirche“ oder „die Kirche muss sich bekehren“) verrät „die vielen falschen Propheten, deren Geist nicht aus Gott ist“ (1 Joh 4,1). Denn Christus baut Seine Kirche auf Petrus und nicht Petrus seine Kirche auf einen Jesus, wie ihn die Leute sich erträumen und wünschen und die wissen, was er sagen würde, wenn er heute leben würde (vgl. Mt 16,18). 4 Pius XI., Enzyklika „Mit Brennender Sorge“ vom 14. März 1937, 23, einsehbar unter: http://w2.vatican.va/content/pius-xi/de/encyclicals/documents/hf_p-xi_enc_1403 1937_mit-brennender-sorge.html (Zugriff: 25.09.2019). 5 Vgl. LG, 18–29. 6 Vgl. DV, 1–10. 7 DV, 10.

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Nur weil sie die Kirche Christi ist, wird sie von den Pforten der Unterwelt – dazu gehören auch Apostasie, Häresie und Schisma – nicht überwältigt. Bei aller Bedeutung des unfehlbaren Lehramtes des Papstes und der Bischöfe, die für den katholischen Glauben konstitutiv ist, erinnert uns das II. Vatikanum gegen jeden Lehramtspositivismus an die Tatsache: „Eine neue öffentliche Offenbarung als Teil der göttlichen Glaubenshinterlage (= fidei depositum) empfangen sie jedoch nicht.“8 Es ist bestürzend, dass in manchen kirchlichen „Reformtexten“ Gott, Christus und die Heilige Schrift entweder überhaupt nicht vorkommen oder unter dem Wust von sozio-psychologischer und pastoraler Betroffenheitsrhetorik zu ersticken drohen. Was das Amt der Apostel ist, das vom Bischof in seiner Fülle und von den Priestern und Diakonen in unterschiedlicher Teilhabe daran ausgeübt wird,9 kann nur im Licht der Sendung Jesu vom Vater zum Heil der Welt verstanden und erklärt werden. Es ist Anteil (kleros) von Menschen an der Sendung und Vollmacht Jesu,10 der nach der Auferstehung zu den Jüngern sagte: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. […] Empfangt den Heiligen Geist. Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen“ (Joh 20,21 ff.). Als für Judas ein zwölfter Apostel nachgewählt werden musste, sagte Petrus: Sein Anteil (kleros) am Apostolat und Episkopat soll ein anderer erhalten. Dieser wurde dann aber durch den Heiligen Geist erwählt, während die Apostel das Los (kleros, sors) warfen und dann Matthias an seiner Stelle den Aposteln kooptierten (vgl. Apg 1,17.20). Daraus folgt, dass diese Repräsentanten und Verantwortungsträger der Kirche des dreifaltigen Gottes weder „von Menschen noch durch Menschen bestellt“ werden – wie Paulus im Hinblick auf seine Berufung zum Apostelamt allein „durch Jesus Christus und durch Gott, den Vater“ (Gal 1,1) unterstreicht – noch sich wie Funktionäre eines religiös-sozialen Konzerns betätigen können. Das Amt des Bischofs, der Priester und Diakone wird durch die sakramentale Weihe von Gott übertragen und zwar nur denen, die von ihm selbst dazu berufen sind. So fasst das II. Vatikanum die gesamte katholische Glaubenslehre ausgehend von Schrift und 8 LG, 25. 9 Vgl. LG, 21; 28. 10 Vgl. LG, 18–29.

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Tradition zusammen: „Durch die Weihe und die vom Bischof empfangene Sendung werden die Presbyter zum Dienst für Christus, den Lehrer, Priester und König, bestellt. Sie nehmen teil an dessen Sendung, durch die die Kirche auf Erden ununterbrochen zum Volk Gottes, zum Leib Christi und zum Tempel des Heiligen Geistes auferbaut wird.“11 Sie handeln nicht in eigener Machtvollkommenheit, nach persönlichem Gutdünken und gemäß den selbst ausgeklügelten Lehren und Ideologien von Gnosis bis Gender, von Neomarxismus bis New Age. Bischöfe und Priester sind wie die Apostel ausschließlich „Diener Christi und Verwalter von Mysterien Gottes, von denen man nur verlangt, dass sie sich treu erweisen“ (vgl. 1 Kor 4,1 f.). Sie erfinden das Christentum nicht neu, indem sie sich selbst für klüger halten als Jesus selbst, der noch von einem „alten Weltbild“ begrenzt gewesen sei und dessen Lehren dringend der Anpassung an das aufgeklärte Denken seiner Jünger von heute bedürften. In der 2000-jährigen Geschichte ist es in der Tat neu, dass sich plötzlich Jünger über den Meister erheben (vgl. Mt 10,24). Paulus schreibt Timotheus und damit allen katholischen Bischöfen nach ihm ins Stammbuch: „Wenn einer etwas anderes lehrt und sich nicht an die gesunden Worte Jesu Christi, unseres Herrn hält und an die Lehre, die unserer Frömmigkeit entspricht, der ist verblendet“ (1 Tim 6,3). Paulus, der im Verständnis und der Praxis seiner Vollmacht und Sendung Vorbild für jeden Bischof und Priester sein muss, fragt sich und uns: „Geht es mir denn um die Zustimmung der Menschen oder geht es mir um Gott?“ Und er gibt uns die normative Antwort: „Wollte ich noch den Menschen gefallen, dann wäre ich kein Diener Christi“ (Gal 1,10). Die entscheidenden Kriterien, die für die Weihe eines Kandidaten zum Bischof, Priester oder Diakon angewendet werden müssen, sind also theologischer und nicht soziologischer oder psychologischer Natur. Soziologie und Psychologie sind für die Theologie nur empirische Wissenschaften, wobei der Entstehungshintergrund Berücksichtigung finden muss, wie beispielsweise der Atheismus eines Auguste Comte (1798–1857) und der Agnostizismus eines Sigmund Freud (1856–1939). Die Ergebnisse

11 PO, 1.

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aller empirischen Wissenschaften, und auch der Philosophie, können nicht die Selbstoffenbarung Gottes in seinem Wort und die Erkenntnis seines Willens im Sein der Welt und in der Natur der Schöpfungsrealitäten in Frage stellen oder umdefinieren. Denn sonst würde der Mensch von einem Hörer des Wortes und Empfänger der Gnade zum Produzenten einer Selbsterlösungsideologie mutieren, die zwangsläufig in der Herrschaft von Menschen über Menschen und in der Verwüstung der Erde enden wird. So wie der Mensch generell von seinem Schöpfer nicht das Sein und Leben beanspruchen oder vor ihm sich nicht selber rechtfertigen kann, weil er IHM alles – Leben und Gnade – verdankt, so kann er auch nicht speziell das Apostelamt – und die daraus sich ergebenden Dienstämter des Bischofs, des Priesters und Diakons – zum Gegenstand eines Anspruchs gegenüber Gott oder zu einer Forderung an die Kirche und deren Lehramt machen. Bei der Berufung der Zwölf zu den Aposteln Christi (und auch der Berufung der 72 Jünger zu Missionaren des Evangeliums und des Reiches Gottes) heißt es, dass Jesus – in dem er seine göttliche Vollmacht zeigt – auf einen Berg stieg und symbolisch „von oben her“ aus dem großen Kreis seiner Jünger namentlich „diejenigen zu sich berief, die ER selbst wollte“ (Mk 3,13). Sie antworten frei auf diesen Ruf und kommen zu ihm. „Er setzte zwölf ein, damit sie mit ihm seien und damit er sie aussende, zu verkünden und mit Vollmacht die Dämonen auszutreiben“ (Mk 3,14 f.). Nach der Auferstehung ist dies die Sendung und Vollmacht zur Verkündigung des Wortes und zur Spendung der Sakramente mit Sündenvergebung und Gnadenvermittlung. Die Versöhnung der Menschheit mit Gott in Christus wird gegenwärtig zu jeder Zeit im „Dienst der Versöhnung“, der den Aposteln übertragen ist und der von ihren legitimen Nachfolgern ausgeübt wird, so dass sie wissen, was sie sind: „Wir sind also Gesandte an Christi statt und Gott ist es, der durch uns mahnt“ (2 Kor 5,20). Das ist der biblische Grund der wesentlichen Sendung des Priesters: in persona Christi, capitis ecclesiae, agere.12 Dieser „herrliche Dienst des Neuen Bundes und der Gerechtigkeit“ kann nicht aus eigener Vollkommenheit, angeborener und erworbener Intelligenz, aus dem Führungsanspruch von „Alpha-Tieren“ oder ego-manischer

12 PO, 2.

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Karrieristen ausgeübt werden, sondern nur von denen, die von Gott dazu berufen, erwählt, befähigt und gesendet sind. Denn nach dem Vorbild des hl. Paulus muss ein Bischof und Priester jeden Tag sich klar darüber werden: „Wir sind nicht von uns aus dazu fähig, als ob wir uns selbst etwas zuschreiben könnten; unsere Befähigung stammt vielmehr von Gott. ER hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes“ (2 Kor 3,5 f.). Erfolgte ursprünglich die Berufung und Bevollmächtigung der Apostel unmittelbar durch Jesus Christus und den auferstandenen Herrn, so vollzieht sich in der spät- und nachapostolischen Zeit die Bestellung der „Diener Christi und Verwalter von Geheimnissen Gottes“ (1 Kor 4,1) als „Mitarbeiter Gottes“ (2 Kor 6,1) für die einzelnen – nun entstehenden – Ortskirchen durch denselben Christus im Sakrament der Weihe, d. h., im Zeichen von „Handauflegung und Gebet“ (Apg 6,6; 14,23; 1 Tim 4,14; 5,22; 2 Tim 1,6). Bevor die Apostel den „Dienst an den Tischen“ übertrugen, sollten „die Brüder aus ihrer Mitte Männer wählen von gutem Ruf und voll Geist und Wahrheit“ (Apg 6,3). In seiner Abschiedsrede an die „Presbyter-Bischöfe“ der Kirche von Ephesus, die sich um ihn in Milet versammelt hatten, mahnt sie der Apostel: „Gebt acht auf euch und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist zu Bischöfen bestellt hat, damit ihr als Hirten für die Kirche des Herrn sorgt, die er sich durch das Blut seines eigenen Sohnes erworben hat“ (Apg 20,28). Es gilt für alle wie für ihn, „das eigene Leben nicht wichtig zu nehmen, wenn nur der Dienst am Evangelium von der Gnade Gottes erfüllt wird (Apg 20,24). Der wahre Diener Christi nimmt darum alle Strapazen des apostolischen Dienstes auf sich. In der Nachfolge Christi erträgt er Schmähung und Verfolgung durch die „reißenden Wölfe, die auch aus den eigenen Reihen kommen, und die die Herde Gottes bedrohen“ (Apg 20,29). Die Presbyter sollen im Dienst des „obersten Hirten“ (1 Petr 5,4), „des Hirten und Bischofs eurer Seelen“ (1 Petr 2,25) – wie Christus ausdrücklich im Ersten Petrusbrief genannt wird – die ihnen anvertraute Herde Gottes weiden, „nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie Gott es will; auch nicht aus Gewinnsucht, sondern mit Hingabe“ (1 Petr 5,2). Und wie schon Jesus die Jünger gemahnt hat, sich nicht am Machtgehaben und der Prachtentfaltung der welt­ lichen Herrscher zu orientieren, sondern am Menschensohn, der

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gekommen ist, um zu dienen (vgl. Mk 10,43 ff.) und der sein Leben hingibt für die Schafe (vgl. Joh 10,11), so sollen die Presbyter wie ihr Mit-Presbyter, der Apostel Petrus, (1 Petr 5,1) „Vorbilder für die Herde und nicht ihre Beherrscher“ (1 Petr 5,3) sein. In der Tat sind die „Vorsteher der Kirche“ im Bischofs- und Priesteramt Vorbilder der Gläubigen durch ihren Lebenswandel, durch die Festigkeit und die Stärke ihres Glaubens, die sie nachahmen sollen (Hebr 13,7). Und den Gläubigen wird für ihr Verhalten zu ihren Hirten nahegelegt: „Gehorcht euren Vorstehern und ordnet euch ihnen unter, denn sie wachen (wie Hirten) über eure Seelen und müssen Rechenschaft darüber ablegen; sie sollen das mit Freude tun, nicht mit Seufzen, denn das wäre zu eurem Schaden“ (Hebr 13,17). In den drei Pastoralbriefen finden wir einen Kriterienkatalog, der für die Weihe der Bischöfe und Presbyter beachtet werden muss. In den beiden Mit-Aposteln des Paulus und seinen Nachfolgern Timotheus und Titus haben wir das Idealbild des Bischofs vor uns. Immer und unter allen Umständen gilt die Mahnung des Apostels: „Leg keinem vorschnell die Hände auf und mach dich nicht mitschuldig an fremden Sünden“ (1 Tim 5,22). Der Bischof hat die Disziplinaraufsicht über die Priester. Aber er weiß auch, dass die Vorsteher der Kirche „doppelte Anerkennung verdienen, die sich mit ganzer Kraft dem Wort und der Lehre widmen“ (1 Tim 5,17). Die Voraussetzungen für die Weihe sind einerseits positive natürliche Charaktereigenschaften wie Besonnenheit, Gastfreundlichkeit, die Fähigkeit zu lehren, wie andererseits auch der Ausschluss negativen Verhaltens, wie Unbeherrschtheit im Triebleben des Essens und Trinkens, die Sucht nach Genuss und irdischem Reichtum, die zu Gewalttätigkeit, Geldgier und Habsucht führen (vgl. 1 Tim 3,1–7). Der Priester muss nach innen und außen den Ruf eines untadeligen Lebens verbreiten. All das zeichnet das christliche Leben aus. Die Hirten müssen einerseits die Tugenden üben und anderseits die Laster meiden, indem sie die Nachfolge Christi vorbildlich-idealtypisch leben, als Typoi der Herde – forma facti gregis ex animo (1 Petr 5,3). Wenn Bischof und Priester im Namen Jesu Diener des Wortes (des Logos) sind wie die Apostel (Lk 1,2; 1 Tim 5,17), ist die wichtigste Voraussetzung ihres Dienstamtes das Verspechen, das sie – bei der Weihe – vor Gott und der ganzen Kirche ablegen, den ­katholischen Glauben treu zu bewahren. So sagte Paulus zu Titus:

Voraussetzungen für den ­Empfang des Weihesakraments

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„Der Bischof muss ein Mann sein […] einer, der sich an das zuverlässige Wort (den Logos) hält, das der Lehre (d. h. der Apostel und der Kirche) entspricht, damit er in der Lage ist, in der gesunden Lehre (sana doctrina) zu unterweisen und die Widersprechenden zu überführen“ (Tit 1,9; vgl. 2 Tim 2,2). Es gibt zwar noch nicht (kirchenrechtlich) den Ehelosigkeits­ zölibat, aber vom künftigen Priester wird verlangt, dass er ein Mann ist, der nur einmal verheiratet war und folglich nach dem Tod der Ehefrau nicht wieder heiratet. Er muss seinem eigenen Haus gut vorstehen, denn nur eine solche Person ist geeignet, für die „Kirche Gottes zu sorgen“ (1 Tim 3,5). Der Bischof muss wissen, „wie er sich im Haus Gottes verhalten muss“ (1 Tim 3,5), „welches die Kirche des lebendigen Gottes ist, Säule und Fundament der Wahrheit“ (1 Tim 3,15). Das geistliche Amt – in den Stufen von Bischof, Priester und Diakon – ist nicht nur eine Last und eine schwere Verantwortung, die jeden Menschen überfordert. Mit dem Eifer für das Haus des Herrn, der jeden Apostel wie Jesus selbst, den Hohenpriester des Neuen Bundes, verzehren soll, verbindet sich auch die Freude innerster Gemeinschaft mit Christus, mit dem er kraft des Prägemals konfiguriert wurde.13 „Denn, wer seinen Dienst gut versieht, erlangt einen hohen Rang und große Zuversicht im Glauben an Christus Jesus“ (1 Tim 3,13). Gefragt nach den Voraussetzungen für den Empfang der Weihe, muss man die Beziehung von Natur und Gnade ins Spiel bringen. Der Priesteramtskandidat muss ein psychisch gesunder, tugendhafter Mann sein und ein überzeugter Jünger Christi, der von sich sagen kann: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Was ich nun im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat“ (Gal 2,20). Er verkündet nicht sich selbst in seinen religiösen Erlebnissen und darf nicht meinen, er sei berufen, nach dem Maß seiner Träume, Visionen und Utopien den ihm anvertrauten Gläubigen die Welt und die Kirche erklären zu sollen. Die Gläubigen sind ihm nur zum religiösen Gehorsam verpflichtet, wenn er sich „an die gesunden Worte Jesu Christi, unseres Herrn, hält und an die Lehre, die unserer Frömmigkeit entspricht“ (1 Tim 6,3) – das depositum fidei (1 Tim 6,20). Er muss mutig und fähig sein, „gelegen 13 PO, 2.

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oder ungelegen das Wort zu verkünden, auch wenn die Zeit gekommen ist, da man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach den eigenen Begierden Lehrer sucht“ (2 Tim 4,3). Er wird auf den Ruf Christi in seinem Herzen hören und ihm freudig folgen, indem er – weil die Bestellung zum Bischofs- und Priesteramt durch ein Sakrament der Kirche übertragen wird – sich bereitwillig der Prüfung durch die kirchliche Autorität unterstellt. Diese muss freilich nach den von Christus und den Aposteln vorgegebenen Kriterien die Entscheidung fällen und darf nicht ihre geistliche Vollmacht nach der Art irdischer Machtausübung missbrauchen oder die Priesteramtskandidaten an den Werten des linksliberalen Mainstreams messen und vor den BoulevardMedien einknicken. Es ist legitim, „nach dem geistlichen Amt zu streben, denn es ist eine gute und große Aufgabe“ (1 Tim 3,1). So sehr die natürlichen Voraussetzungen einer humanen und ethischen Persönlichkeitsbildung gegeben sein müssen wie auch der Glaube an Gottes Wort und die Liebe zu Christus im Heiligen Geist aufgrund der christlichen Initiationssakramente, so wird das geistliche Amt doch durch ein eigenes Sakrament übertragen. „Dieses zeichnet die Priester durch die Salbung des Heiligen Geistes mit einem besonderen Prägemal aus und macht sie Christus gleichförmig, so dass sie in der Person des Hauptes Christus handeln können.“14 Paulus ruft dem Timotheus daher ins Gedächtnis: „Entfache die Gnade Gottes wieder, die dir durch die Auflegung meiner Hände zuteil geworden ist. Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“ (2 Tim 6 f.). Grund und Quelle des geistlichen Amtes liegt in der Berufung durch Gott. Die Teilhabe an Sendung und Vollmacht Christi und die Verleihung des Heiligen Geistes ereignet sich vermittelt durch das Wirkens Gottes im Sakrament der Weihe, das der Bischof durch die Handauflegung und die Konsekrationsworte vollzieht. Nach dem Willen und der Verfügung Gottes, wie sie die Kirche in ihrer Tradition unter der Führung des Lehramtes erkannt hat, kann das Weihesakrament gültig nur ein getaufter Mann empfangen. Um es würdig auszuüben, bedarf es der charakterlichen Reifung, einer christlichen Lebensführung, einer gründlichen theolo-

14 PO, 2.

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gischen Bildung der künftigen Diener des Logos, des Fleisch gewordenen Wortes, und einer Spiritualität als ein Leben im Heiligen Geist der Wahrheit und der Liebe. Es ist der Geist, der die Jünger erinnert an das Wort der Schrift, als Jesus den Tempel, das Haus Gottes, seiner wahren Bestimmung zurückgab, der Ort zu sein der Danksagung an Gott, der Hingabe seines Lebens als Opfer und der Kommunion mit ihm in der Liebe. „Der Eifer für dein Haus verzehrt mich“ (Joh 2,17).

In wem diese Flamme brennt, der ist ein Priester nach dem Herzen Jesu, aus dem – von der Lanze geöffnet – Blut und Wasser hervor geflossen sind (Joh 19,34). Und „das Blut Christi, der sich selbst als makelloses Opfer kraft ewigen Geistes Gott dargebracht hat, wird unser Gewissen reinigen von toten Werken, damit wir dem lebendigen Gott dienen“ (Hebr 9,14).

Abschluss mit Tagungsbotschaft Kurt Kardinal Koch

„Ein Mensch nimmt guten Glaubens an, er hab’ das Äußerste getan. Doch leider Gott vergisst er nun, auch noch das Innerste zu tun.“

Mit diesem Gedicht von Eugen Roth darf ich am Schluss unseres Symposiums das Anliegen, das uns bewegt hat, zusammenfassen. Denn in diesem Menschen müssen wir uns auch in unserer Kirche oft wiedererkennen. Wir sind in der Kirche heute oft bemüht, bei ihrer Erneuerung und der Erneuerung des geweihten Amtes in praktischer und vor allem struktureller Sicht das Äußerste zu tun. Hier ist gewiss einiges zu tun, damit das sakramentale Leben in unseren Pfarreien wieder ins Lot gebracht werden kann. Mit dieser Konzentration auf das Äußerste besteht freilich die Gefahr, dass bei der Frage des geweihten Amtes die dogmatisch-konzep­ tionellen Vorgaben des Glaubens und das in der konkreten Praxis Faktisch-Realisierte so weitgehend auseinanderfallen, dass der dogmatische „Mehrwert“ des geweihten Amtes relativiert wird und man sich mit einer rein soziologisch-funktionalen „Lösung“ der Ämterfrage zufrieden gibt. Diese Gefahr zieht die weitere nach sich, dass es nicht zu einer Reform des geweihten Amtes, sondern zu seiner Reformation kommt. Denn während eine Reform nie das Ergebnis haben kann, dass das Reformierte nicht mehr mit dem identisch ist, das zu reformieren ist, macht Reformation das zu Reformierende zu etwas Anderem, als es vorher gewesen ist. Es ist nicht Erneuerung der eigentlichen Form, sondern Veränderung des Wesens. Wahre Erneuerung muss aber in ihrer ursprüng­ lichen Bedeutung Re-Form, nämlich Wiederherstellung der ursprünglichen, authentischen und wahren Form sein. Solche Reform ist nur möglich, wenn man auch das im Glauben Innerste

Aktuelle Herausforderungen des kirchlichen Weiheamtes

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tut. Da nämlich die tiefste Krise des geweihten Amtes heute in ­einer Krise seiner Identität besteht, können die Kirche und das kirchliche Amt nicht einfach von unten und auch nicht einfach von oben, sondern nur von innen, aus der Herzmitte des Glaubens, erneuert werden, und zwar unten wie oben. Die Identität des geweihten Amtes wieder zum Leuchten bringen zu können, ist deshalb das Anliegen, das wir mit unserem Symposium verfolgen wollen. Die theologische Identität besteht zutiefst in der Sakramentalität des Amtes, die freilich nur einzuleuchten vermag, wenn wir die sakramentale Grundstruktur der Kirche überhaupt bedenken. Nur dann wird das geweihte Amt verstehbar als personale Verdichtung und Konkretisierung der Grundsakramentalität der Kirche. Diese Zeichenbedeutung kann das geweihte Amt aber nur wahrnehmen, wenn es in sich selbst eine sakramentale Struktur aufweist. Denn dadurch wird zum Ausdruck gebracht, dass die Kirche nicht in sich selbst gründet, sondern ihren Grund jenseits ihrer selbst in Christus hat. Kirchesein ist nicht einfach eine natürliche Möglichkeit des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft. Die Kirche lebt vielmehr nur aus dem, was sie selbst und ihre natürlichen Möglichkeiten übersteigt, was ihr aber geschenkt ist als jenes Fundament, auf dem sie steht und lebt. Hier liegt der tiefste Grund dafür, dass es in der katholischen Kirche ein sakramental geweihtes Amt gibt und geben muss, das nicht eine Sache der Delegation, sondern der sakramentalen Sendung ist. Mit dem Zeichen der Weihe bekennt der Priester, dass auch er selbst empfangen muss, was er sich selbst nicht besorgen kann, dass das, was er sagt und tut, nicht aus ihm kommt, und dass es folglich nicht darauf ankommt, dass er groß herauskommt, sondern dass Christus in seinem Wirken durchkommen kann. Dies gilt vor allem von der Heiligen Eucharistie, im Blick auf die das geweihte Amt in Erinnerung zu rufen und zu garantieren hat, dass sie nicht aus der einzelnen Gemeinde heraus entsteht, sondern das unableitbare Geschenk des Herrn an seine Kirche ist, für die wir nie genug danken, den lebendigen Gott eucharistieren können. Gerade von der Eucharistie her zeigt sich die Sendung des geweihten Amtes in der Kirche, worauf Papst Benedikt XVI. mit diesen klaren Worten hingewiesen hat: „Dass es zur Eucharistie des Sakraments des priesterlichen Dienstes bedarf, beruht genau darauf, dass die Gemeinde sich die Eucharistie nicht selber geben kann;

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sie muss sie vom Herrn her durch die Vermittlung der einen Kirche empfangen.“1 Nur mit diesem sakramentalen Vorzeichen kann das geweihte Amt seine dreifache Sendung der Verkündigung, der Heiligung und der Leitung wahrnehmen und kann der Priester in glaub­ würdiger Weise Evangelist, Liturge und Hirte sein. Diese schöne Notwendigkeit des geweihten Amtes in Erinnerung zu rufen, ist der Sinn des heutigen Symposiums. Damit diese Gedanken aber nicht in den vier Wänden dieses Saales verbleiben, haben die Schülerkreise eine Botschaft verfasst, die anschließend veröffentlicht wird. Bevor sie als Abschluss des Symposiums verlesen wird, bleibt mir die angenehme Pflicht, herzlich zu danken: Gewiss auch in Ihrem Namen danke ich allen Referenten und Referentinnen für ihre Beiträge und Herrn Professor Ralph Weimann für seine gediegene Moderation. Ich danke allen, die dieses Symposion vorbereitet haben, besonders den Leitern des Schülerkreises, Pater Stephan Horn und Herrn Dr. Josef Zöhrer und dem Vereinsvorstand des Neuen Schülerkreises, Herrn Professor Dr. Christoph Ohly, Herrn Pater Dr. Sven Conrad und Herrn Pfarrer Dr. Rainer Hangler. Und ich danke Ihnen allen, dass Sie unser Symposium mit Ihrer Gegenwart beehrt haben. Ich wünsche Ihnen einen guten Sonntag und hoffe, dass Sie im Leben der Kirche in der Begegnung mit dem geweihten Amt immer wieder erfahren dürfen, worin sein Wesen besteht und wie es Papst Benedikt XVI. mit den tiefen Worten zum Ausdruck gebracht hat: „Das Schöne am Priester ist, dass er das hauptberuflich tun darf, was wir eigentlich alle versuchen müssen, einander Licht zu geben, einander Gottes Nähe ahnen zu lassen.“2 In diesem Geist wird Ihnen nun Herr Professor Dr. Christoph Ohly die Tagungsbotschaft der Schülerkreise zum heutigen Symposium mit dem Titel „Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch überliefert habe“, vortragen.

1 Joseph Cardinal Ratzinger, Die Ekklesiologie der Konstitution Lumen gentium, in: JRGS 8/1, Freiburg i. Br. 2010, 573–596, hier 588. 2 Benedikt XVI. – Joseph Ratzinger, Die Liebe Gottes lehren und lernen. Priestersein heute, Freiburg i. Br. 2016, 267.

„Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch überliefert habe“ Tagungsbotschaft zum öffentlichen Symposium „Aktuelle Herausforderungen des kirchlichen Weiheamtes“

Mit dem Symposion zum Thema „Aktuelle Herausforderungen des kirchlichen Weiheamtes“ haben der Schülerkreis und der Neue Schülerkreis von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. nach vielen Jahren erstmals eine größere Öffentlichkeit gesucht. Die Entscheidung dazu erfolgte aus der Überzeugung, dass die Zeit gekommen ist, das theologische Denken des emeritierten Papstes einem breiteren Publikum in Vorträgen und Diskussionen auch in dieser Weise zu erschließen. Wir sind froh und dankbar, dass dieser Einladung so viele Interessierte gefolgt sind und wir bringen unsere Hoffnung zum Ausdruck, dass dies ein guter Auftakt auch für unser künftiges Arbeiten sein wird. Auch der Brief von Papst Franziskus an die Priester anlässlich des 160. Todestages des heiligen Pfarrers von Ars – vom 4. August 2019 – hat uns in der zuvor getroffenen Entscheidung bestärkt, uns dem Thema des kirchlichen Weiheamtes zu widmen. In einer „Zeit des Leidens“, überschattet durch den Skandal des Missbrauchs, stellen wir uns dieser Herausforderung, um „nach Worten und Wegen der Hoffnung“ zu suchen, damit in den „Zeiten der kirchlichen Reinigung“ von neuem die Schönheit und Bedeutung des kirchlichen Weiheamtes als ein Geschenk des Herrn an seine Kirche erkannt und angenommen werden kann. Deshalb haben wir in unseren Überlegungen einen besonderen Akzent auf das

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sakramentale Weihepriestertum gelegt und es im Licht der Theologie von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. zu durchdringen versucht. Die Aussagen zum Weihepriestertum stehen in untrennbarem Zusammenhang mit der Frage nach dem Wesen der Kirche. Dabei lehnt sich die Theologie Joseph Ratzingers an das II. Vatikanische Konzil an und bietet eine authentische Interpretation desselben. Dies hatte bereits Papst Johannes XXIII. anerkannt, als er den von Professor Ratzinger für Kardinal Frings vorbereiteten Vortrag zum Thema „Das Konzil und die moderne Gedankenwelt“ mit großer Zustimmung zur Kenntnis nahm. Das letzte Konzil bezeichnet die Kirche als „allumfassendes Heilssakrament“ (LG 48). Als solche ist sie „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). In der Kirche setzt der Auferstandene sein Heilswerk fort. In der Taufe gleichgestaltet mit Christus und der Kirche als seinem Leib eingegliedert erhält der Christ Anteil am Ewigen Leben und ist berufen, den Weg der Heiligkeit zu gehen. Zu einem solchen Leben und Zeugnisgeben sind alle Getauften im gemeinsamen Priestertum berufen. Im inneren Zentrum der Kirche sind – dies kommt in der Theologie Joseph Ratzingers deutlich zum Tragen – jene Menschen, die ein heiligmäßiges Leben führen. Darin besteht das Ziel des Christseins: die Gleichgestaltung mit Jesus Christus. Daher sind wir dankbar für alle Zeugnisse dieser Heiligkeit in Ehe und Familie, im gottgeweihten Leben und in allen anderen Formen, die sich auch heute in der Kirche finden lassen. Um das Weiheamt zu verstehen, bedarf es einer sakramentalen Perspektive, wie sie im letzten Konzil dargelegt wird. Christus der Herr hat in seiner Kirche verschiedene Weiheämter eingesetzt, „die auf das Wohl des ganzen Leibes ausgerichtet sind“ (LG 18). Berufung und Existenz des Priesters werden allein vom Willen Jesu Christi her bestimmt (vgl. Hebr 5,1 ff.) und leiten sich nicht ab von menschlichen Überlegungen oder kirchlichen Festlegungen. In ihm und mit ihm wird der Priester zum „Verkünder des Wortes und zum Diener der Freude“. Die Gleichgestaltung mit Christus, die der Priester im Sakrament der Weihe empfängt, unterscheidet sich nicht allein dem Grade,

„Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch überliefert habe“

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sondern dem Wesen nach vom gemeinsamen Priestertum (vgl. LG 10). Der Priester handelt „in der Person Christi, des Hauptes der Kirche“ (agere in persona Christi capitis). Er ist kein Funktionär, vielmehr vollzieht er im Sein mit Christus seine von Gott her kommende Sendung. Dies wird besonders deutlich in der heiligen Vollmacht, von Sünden loszusprechen, Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi zu verwandeln, sowie die anderen Sakramente zu feiern. Der Priester repräsentiert auf sakramentale Weise Christus als den Guten Hirten (vgl. Joh 10,10). In diesem personalen Zueinander von Christus und Kirche, von Priester und Gläubigen, liegt gemäß der Lehre der Kirche der entscheidende, weil wesenhafte Grund für die sakramentale Repräsentanz Christi im Priester. Dabei repräsentiert er nicht Christus, wie es ein Botschafter täte, vielmehr handelt es sich um eine Real-Repräsentation, wobei die Kreuzesnachfolge das entscheidende Kriterium ist. Von daher lassen sich grundsätzliche Aussagen im Hinblick auf den priesterlichen Lebensstil ableiten, der in Einklang mit dem Lebensstil Christi stehen muss. Nur dann wird die „Repräsentanz“ des Priesters glaubhaft. Die Präsenz Christi darf nicht allein auf die sakramentale Handlung beschränkt werden, sondern muss im täglichen Leben erkennbar und wirksam werden. Daraus ergeben sich die Verpflichtungen zum Gehorsam und zum Zölibat als Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen, die mensch­ licher und geistlicher Ausdruck der sakramentalen Gleichgestaltung des Priesters mit Christus sind. Folglich impliziert die Priesterweihe die persönliche Nachfolge Christi, während die Sünde jener Skandal ist, der die Glaubwürdigkeit verdunkelt. Da der Priester von Christus her existiert, ist auch die Teilhabe an der Lebensweise Jesu „angemessen“ (PO 5) für diejenigen, die in seiner Person handeln. Der Zölibat ist daher gemäß der ständigen Tradition der Lateinischen Kirche ein sprechendes Zeugnis der glaubenden Hoffnung und der großherzigen Liebe zu Christus und seiner Kirche. In Zeiten der Krise und der schmerzhaften Reinigung der Kirche sind es nicht in erster Linie Strukturreformen, die Heilung und Hilfe bringen, sondern das authentisch gelebte Glaubenszeugnis. Nur wenn sich der gemeinsame Blick auf Jesus Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott richtet, wird sich die Kirche erneuern.

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Die Aussage des hl. Paulus „Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch überliefert habe“ (vgl. 1 Kor 11,23) spiegelt das Wesensmerkmal des Priesters wider. Die Größe dieses Geschenkes ist durch Skandale verdunkelt und die Glaubwürdigkeit erschüttert. Ein Ausweg kann nur gefunden werden, wenn klar ist und bleibt, worin das Wesen des kirchlichen Weiheamtes besteht und es durch das Leben bezeugt wird. Die Theologie Joseph Ratzingers / Papst Benedikts XVI. gibt Antworten auf diese doppelte Heraus­ forderung und zeigt einen Weg auf, der sich der Überlieferung verbunden weiß und zu jener Reform führt, die das Leben auf Christus hin ausrichtet und ihm Glaubwürdigkeit verleiht. Das Studium und das Gebet dieser Tagung vertrauen wir der Fürsprache und dem Beistand der Jungfrau und Gottesmutter Maria an, der Mutter der Kirche.

Predigten

Vinzenz von Paul – Nur die Liebe schenkt wahres Glück1 Christoph Ohly

Lesung: 1 Kor 1,26–31 Evangelium: Mt 9,35–38

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn! Aktuelle Herausforderungen des kirchlichen Weiheamtes – unter diesem Thema sind wir zum diesjährigen Treffen der beiden Schülerkreise nach Rom gekommen. Herausgefordert durch die Entwicklungen der vergangenen Jahre, wollen wir uns dem Wesen und der Bedeutung des Weihepriestertums für die Kirche im Licht der Theologie von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt stellen. Erstmals werden wir dazu am morgigen Nachmittag auch ein öffentliches Symposium halten, um nicht allein im inneren Kreis zu beraten, sondern die Möglichkeit zu nutzen, das theologische Denken unseres emeritierten Papstes auch einer breiteren Öffentlichkeit zu erschließen. Beten wir um gesegnete und erkenntnisreiche Tage, die vom Heiligen Geist geführt und unter dem Schutz Mariens, der Mutter der Kirche, stehen mögen. „Das ist aber ein Zufall!“ – so rufen wir gerne aus, wenn wir uns in unserem Alltag über ein Zusammentreffen verschiedener Ereignisse wundern, sie uns aber nicht recht erklären können. Der Glaubende sagt dann oft, dass es keinen Zufall gebe, weil alles 1 Homilie in der Eucharistiefeier mit den beiden Schülerkreisen von Joseph Ratzinger – Papst Benedikt XVI. in der Kirche des Pontificio Collegio Teutonico in Rom am 27. September 2019.

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Vorsehung Gottes sei. Vor Jahren fiel mir dazu auf einem Kalenderblatt das Wort des Arztes und Theologen Albert Schweizer (1865–1965) in die Hände, der den Zufall sozusagen rehabilitierte, indem er sagte: „Der Zufall ist das Pseudonym, das der liebe Gott wählt, wenn er unerkannt bleiben will“. Und es stimmt: Wir glauben an Gottes Wirken hinter allem, was unser Leben ausmacht, auch wenn wir nicht alles erklären können, aber immer so, dass die Dinge uns im besten Sinne des Wortes aus seiner Hand „zufallen“ – und dies aus Liebe zu uns! Von solch einem „Zufall“ Gottes kündet uns sicher auch die Tatsache, dass wir heute zu Beginn unseres Jahrestreffens das liturgische Gedenken des heiligen Vinzenz von Paul feiern. Mit ihm wird uns ein Priester vor Augen gestellt, der Vieles von dem, was wir in diesen Tagen bedenken werden, in sich vereint. Er steht als Vorbild und Orientierungspunkt für einen Priester des Herrn vor uns. Auch ihm und seiner Fürsprache wollen wir deshalb unser Arbeiten in diesen Tagen anvertrauen. Wer aber war Vinzenz von Paul? 1581 geboren und mit 19 Jahren zum Priester geweiht, durchlebte der junge Geistliche in seinem Leben und Dienst als Priester eine Bekehrung, wie wir sie auch aus dem Leben vieler anderer Heiliger kennen. Wie beispielsweise bei Augustinus und Theresa von Ávila kam es auch im Leben des Vinzenz von Paul nach vielen Jahren zu einem tiefgreifenden Wandel, der ihn aus der Mittelmäßigkeit seines alltäglichen Priesterlebens herausführte und zwei wesentliche Aufgaben für seine künftige priesterliche Sendung in der Kirche entdecken ließ. Zum einem ist da das Bemühen um eine leibliche und geistliche Unterstützung der Gläubigen, die sich in einer organisierten Form der Caritas und der Katechese zum Ausdruck brachte. Dies zu tun, war ihm das einzig Notwendige, das ihm in der konkreten Situation als Stimme Gottes, als sein Wille entgegenkam und dem er sich demütig und treu übereignete. Dem ihm anvertrauten Menschen wollte er so in all seinen Dimensionen dienen und ihn mit dem Heil Gottes in Berührung bringen, ihn heilen und heiligen. Zur Umsetzung dieses Zieles gründete er mit Louise de Marillac die „Töchter der Liebe“, die Barmherzigen Schwestern, oder auch „Vinzentinerinnen“ genannt. Aus dieser Gründung ging eine Bewegung hervor, die mit den geschichtlichen Höhen und Tiefen bis in unsere Tage hinein wirkt, eine „Bewegung der Nächstenliebe“ (Kardinal Friedrich Wetter), die durch die Erhebung des Vinzenz

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von Paul zum Patron der Nächstenliebe durch Papst Leo XII. einen für die ganze Kirche bewegenden Höhepunkt erhielt. Zum anderen ist da die Erkenntnis des Heiligen, gegen die mangelhafte Bildung vieler Geistlicher seiner Zeit anzugehen und für eine gute Ausbildung des künftigen Klerus zu sorgen. Aus der Notwendigkeit heraus, gute Mitstreiter für dieses Werk zu gewinnen, entstand im Jahre 1625 die Kongregation der Lazaristen, benannt nach dem ehemaligen Priorat St-Lazare, das mit dem Jahre 1633 zum Mutterhaus des Ordens wurde. Die Lazaristen sollten nach dem Willen des Vinzenz von Paul in den Pfarreien Volksmissionen abhalten und durch eine persönliche Berufungspastoral zur Heranbildung eines geistlich fundierten, menschlich bewährten und theologisch gut ausgebildeten Klerus sorgen. In diesem Tun wird eine geistliche Haltung erkennbar, für die von Anfang an der heiligen Johannes der Täufer steht. Wie bei Johannes, so ist es auch bei Vinzenz. Beide kümmern sich nicht um die eigene Ehre oder das Ansehen seitens der Mitmenschen. Ihnen ist es wichtig, mit allem Einsatz auf Jesus Christus zu verweisen, lebendige Hinweisschilder auf den zu sein, der dem Menschen Weg, Wahrheit und Leben sein will (vgl. Joh 14,6). Vinzenz freut sich wie Johannes, wenn der Mensch Christus gefunden hat, um dabei ganz ins Verborgene zurücktreten zu können, wissend, dass nicht er selbst der Erlöser und Heiland ist, sondern allein Christus, der in ihm und durch ihn als Priester wirken und handeln möchte. Hier leuchtet die wahre priesterliche Identität auf. Der Priester stellt sich nicht zwischen Christus und die Gläubigen, zwischen den Heiland und die zu Heilenden, zwischen den Bräutigam und die Braut. Er will vielmehr durchsichtig sein auf den hin, den er sakramental repräsentiert. Der Priester ist ein sakramental bevollmächtigter Stellvertreter Christi, der – wie es einmal der heilige Augustinus formuliert – ohne Christus nichts ist, aber mit ihm alles vermag. Durch die Lebensgeschichte des Vinzenz von Paul strahlt jedoch etwas hindurch, was das eigentliche Fundament dieser fruchtbaren Bewegung darstellt. Auch darin kann er uns Priestern, aber letztlich auch allen Gläubigen einen wertvollen geistlichen Rat zur Verwirklichung der eigenen Berufung geben. Die bekehrende Wandlung im Leben des Heiligen geschah nicht durch ein sensationelles äußeres Eingreifen Gottes. Vielmehr wurde sie durch jenes beständige Gebet des Heiligen möglich, das so zum Kanal der

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Gnade werden konnte. Vinzenz bemühte sich in der Alltäglichkeit seines priesterlichen Lebens, dem Gebet als beständigem Gespräch mit dem göttlichen Freund treu zu bleiben und nach dem Willen Gottes für sein Leben zu fragen. In der Atmosphäre des stillen Gebetes wies Gott ihm den Weg nach seinem Willen. Er tat dies durch die einfachen Begebenheiten des Alltags, in denen Vinzenz die Erfordernisse erkennen konnte, denen er sich als Priester widmen sollte. Hier dürfen wir sehen: Die Berufung zum Priester und ihre konkrete Ausgestaltung liegt nicht im Willen des Menschen begründet. Niemand hat einen Anspruch, niemand hat ein Recht auf das Priestertum, oder wie es Joseph Ratzinger formuliert: „Man kann es sich nicht aussuchen, wie man sich irgendeinen Job aussucht. Man kann nur ausgesucht werden dazu – von Ihm“. 2 Christus wählt, wen er will, und er lässt den Berufenen in Gebet und Alltag seinen Willen erkennen. Dies sind die Kennzeichen einer Christusfreundschaft, die den Menschen zum „Ja“ seiner Hingabe führen. Dies ist der geistliche Humusboden, auf dem priesterliche Berufungen wachsen können, die der Herr seiner Kirche auch heute schenkt. Folgen wir daher der Bitte unseres Herrn im Evangelium dieses Gedenktages und beten wir in der großen Ernte unserer Zeit um priesterliche Berufungen, die in der Stille des Gebetes und durch Gottes Wirken in den alltäglichen Ereignissen heranwachsen können. Dass mit dem Leben und mit dem Gebet auch immer das Kreuz des Herrn verbunden ist, zeigt die Tatsache, dass es Vinzenz von Paul bei aller Hörbereitschaft auf den Willen Gottes in dessen Umsetzung nicht immer leicht gehabt hat. Er musste und durfte erfahren, dass der Weg zum Ostermorgen durch das Kreuz hindurch geht: per crucem ad lucem. Die Kreuze seines Lebens waren vielfältig. Neben dem Unverständnis mancher seiner Zeitgenossen trafen ihn vor allem seine eigenen Glaubensschwierigkeiten ins Herz. Was konnte er als Priester zur Behebung dieser Not im eigenen Herzen nur tun? Da kam ihm Gott konkret durch einen einfachen Menschen zu Hilfe. Eines Tages, es war der 24. Januar 1612, hörte er die Beichte eines schwerkranken Mannes. Seine übergroße Freude, die er nach der Beichte zum Ausdruck brachte, 2 Joseph Ratzinger, Am Anfang steht das Hinhören (Predigt, 1984), in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 506–513, 507.

Vinzenz von Paul – Nur die Liebe schenkt wahres Glück

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bewegte Vinzenz innerlich sehr und goss den Balsam der Glaubensgewissheit in sein Herz. Er durfte von Neuem erkennen, wie Gott selbst ihn als unwürdiges Werkzeug seiner Gnade nutzte, um dem Menschen Heil zukommen zu lassen. „Die Seelsorge heiligt den Seelsorger“, so hieß es in den 1950er Jahren noch. Instrument der göttlichen Gnade zu sein bedeutet immer, selbst verwandelt zu werden und zu erkennen, auf Gottes Erbarmen und seine liebende Zuwendung angewiesen zu sein – eine Liebe, die allen Zweifel verdrängt. Vinzenz von Paul blieb durch die Arbeit mit den Bedürftigen, durch sein priesterliches Wirken in der Verkündigung und der Sakramentenspendung sowie seine Sorge um die geistliche Begleitung seiner Mitbrüder und die Förderung künftiger Priesterberufungen stets bescheiden. Er beherzigte die Worte des Apostels Paulus, die wir in der Lesung gehört haben. Im Vertrauen darauf, dass Gott in ihm das Schwache in der Welt erwählt hatte, war Vinzenz demütig und treu und groß in seiner Einfachheit. Ihm ging es allein um Christus und sein Heil, um seine Liebe und Wahrheit für die Menschen. Vinzenz von Paul – ein Heiliger für die Armen und für die Priester! Der Heilige ist aber auch für die ganze Kirche zu einem Vorbild geworden, denn Vinzenz wurde von Gott nicht nur zu diesem Dienst in seiner Zeit gerufen. Durch sein Lebenswerk, das bis heute in den von ihm gegründeten Kongregationen fortwirkt, ist er in seiner Person zugleich zu einem Ruf Gottes an uns geworden. Gott ruft seine Kirche, er ruft uns als Frauen und Männer, als Laien und Priester: Vergesst in all eurem Tun die Menschen nicht! Bringt ihnen das, was ich euch geschenkt habe. Bringt ihnen mich! Und wie ernst Gottes Ruf gemeint ist, sagt uns Christus, wenn er vom Weltgericht spricht. Am Ende geht es nur um das Eine: Ob wir die Liebe, die Gott ist, geübt haben oder nicht. Wir werden dann – wie es der heilige Johannes vom Kreuz einmal formuliert – „in der Liebe gewogen“. Der Richter wird sagen: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. … Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan“ (Mt 25,40.45). Daran entscheidet sich unsere Ewigkeit: Ewiges Leben bei Gott oder ewige Gottesferne. Eine Entscheidung im Hier und Jetzt ist gefordert. Vinzenz von Paul lehrt uns, dass es dafür kein „Entweder … Oder“ geben kann. Christus will mich ganz und an dem Platz, auf den er mich gestellt hat.

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Der heilige Vinzenz von Paul zeigt uns auf seine Weise, was wir tun sollen. Wo er die Not sah, die materielle wie die geistige, hat er, ohne zu zögern, gehandelt und seine Sendung als Priester erfüllt. Er konnte dies, weil sein Herz vor Liebe zu Christus brannte. Papst Benedikt XVI. hat deshalb einmal an den heiligen Vinzenz von Paul im Zusammenhang mit dem Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus erinnert. 3 Die Botschaft des Gleichnisses gehe über die einfache Seligpreisung des Armen hinaus. Sie rufe vielmehr in Erinnerung, „dass wir, während wir auf dieser Welt sind, auf den Herrn […] hören und nach seinem Willen leben müssen, denn andernfalls wird es nach dem Tod zu spät sein, um sich zu besinnen“. Somit besage das Gleichnis, dass Gott die Menschen liebe und sie aus ihrer Demütigung herausführe. Zum zweiten werde klar, dass die ewige Bestimmung des Menschen durch sein Verhalten bedingt sei: „Es liegt an uns, dem Weg zu folgen, den Gott uns gezeigt hat, um das Leben zu erreichen“. Dieser Weg sei der Weg der Liebe als Dienst an den anderen in der Liebe Christi. Denn: „Nur die Liebe schlechthin schenkt wahres Glück!“, so Papst Benedikt. So wollen wir den Herrn auf die Fürsprache des heiligen Vinzenz von Paul bitten, dass er auch in uns von Neuem das Feuer des Glaubens und der Liebe entzünde, damit unser Leben eine „Lichtspur Gottes“ ist und wir so einmal die Vollendung in Gottes Leben finden. Amen.

3 Benedikt XVI., Angelus zum 26. September 2010, abgedruckt in: http://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/angelus/2010/documents/hf_ben-xvi_ang_2010 0926.html (eingesehen am 12.09.2019).

In der Schule des Gekreuzigten und Auferstandenen1 Erzbischof Georg Gänswein

Lesung: Sach 2,5–9.14–15a Evangelium: Lk 9,43b–45

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn! „Non scholae sed vitae discimus.“ Wer kennt diesen alten Spruch nicht, der allen Schülern gesagt wird: „Wir lernen nicht für die Schule, sondern für das Leben.“ Als Schüler habe ich das nicht wirklich geglaubt, denn lernen musste ich vor allem wegen der Schule, für die Klassenarbeiten, die Prüfungen, das Abitur. Ob das für mein späteres Leben nützlich sein würde, was ich da in Mathematik und Physik, in Geschichte, in Latein und dergleichen lernen musste, das schien mir zweifelhaft. Eines war mir glasklar: Für die morgige Klassenarbeit musst du den Stoff gelernt haben! Inzwischen weiß ich, dass das Wort vom lebenslangen Lernen zutrifft. Vieles, so fürchte ich, was ich in der Schule gelernt habe, habe ich inzwischen vergessen. Aber das Lernen habe ich nicht verlernt. Denn nie im Leben haben wir ausgelernt, und es ist etwas Großartiges, dass der Mensch ein lernfähiges Wesen ist. In der Lebensschule Jesu ist es nicht anders. Christsein lernt man nicht ein für alle Mal. Es ist ein lebenslanges Lernen. Die ersten Jünger des Herrn waren alle Juden, gläubig (mehr oder weniger) und kannten (ebenfalls mehr oder weniger) ihre Religion. 1 Homilie in der Eucharistiefeier mit den beiden Schülerkreisen von Joseph Ratzinger – Papst Benedikt XVI. am Altare della Tomba in der Basilica Vaticana in Rom am 29. September 2019.

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Als sie begannen, seine Jünger zu werden, hat der Herr sie „umgeschult“. Sie mussten viel Neues lernen, Ungewohntes, und das brauchte Zeit. Heute berichtet der Evangelist Lukas von einer wichtigen Etappe in der „Lebensschule“ Jesu. „Merkt euch genau, was ich jetzt sage: Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert werden. Doch die Jünger verstanden den Sinn seiner Worte nicht; er blieb ihnen verborgen, so dass sie ihn nicht begriffen.“ Jesus lehrt seine Jünger. Er versucht geduldig, sie auf seinen Weg des Leidens vorzu­ bereiten und sie dorthin zu führen. Dieser Weg ist weder einfach noch selbstverständlich. Es ist eine Karriere nach unten, eigentlich das Gegenteil von dem, was meist als das Ziel der Schule genannt wird: Lerne fleißig, damit du im Leben Erfolg hast, Karriere machen kannst, gut verdienst und angesehen bist. Jesus bereitet seine Apostel auf eine andere Laufbahn vor, die er selber vorlebt, wie es sich für einen guten Meister gehört: Mein Weg wird erfolgreich sein, aber anders als erwartet. Ich werde auferstehen und leben, aber durch Leid und Tod hindurch. Das Umlernen fällt den Schülern Jesu schwer. Ihre Denkmuster, ihre Karrierepläne sehen doch ganz anders aus. Sie wollen hoch hinaus. Sie machen „Rankings“, wie das heute überall üblich ist. Das geht daneben, mächtig daneben. Wem fällt es schon leicht, auf eigene Vorstellungen, Wünsche und hochgesteckte Ziele zu verzichten. Hart trifft es dann, wenn besondere Zukunftshoffnungen zerbrechen. Als Petrus Christus als den Messias bekannt hatte, war es ihm gelungen, sich von früheren falschen Vorstellungen zu lösen, von der Erwartung eines machtvollen Herrschers, der sein Volk aus der Gewalt der Besatzungsmacht befreien wird. Petrus hatte dazugelernt, umgelernt. Es war jedoch nur ein halber Schritt, den Petrus von seinen ursprünglichen Vorstellungen weg getan hatte. Als Jesus etwas später von seinem Leiden, von seinem gewaltsamen Tod sprach, hat sich der Apostel aufgelehnt. Ja er hat aufbegehrt und Jesus Vorwürfe gemacht. Die anderen Apostel werden wohl ins gleiche Horn geblasen haben. Denn ihre Reaktion auf die Ankündigungen seines Leidens und Sterbens ist beschämend. Sie scheinen die Worte Christi über die Kreuzesnachfolge „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ vergessen zu haben. Markus und Matthäus berichten davon, wie die Jünger unmittelbar nach der zweiten Ankündigung

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seines Leidens und der Auferstehung miteinander streiten, wer der Größte von ihnen sei (Lk 9,46–48; Mk 9,33–37). Sie sorgen sich alle um ihre Karriere. Und nach der dritten Leidensankündigung: „Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf; dort wird der Menschensohn den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten ausgeliefert werden“, hakt das Brüderpaar Jakobus und Johannes nach und bedrängt Jesus mit der Bitte, ihnen einen guten Platz in seinem künftigen Reich zu verschaffen. Dass die anderen Apostel sich darüber ärgern und eifersüchtig sind, ist verständlich. Es waren schwierige Schüler in der Schule des Kreuzes. Geht es uns anders? Sind wir ehrlich: Tun nicht auch wir uns schwer mit dem Kreuzestod Christi und mit seiner Forderung, ihm auf seinem Kreuzweg zu folgen? Wir können die Botschaft vom Kreuz wohl nie ganz verstehen. Nur vom Endergebnis her ist eine lange Entwicklung zu begreifen. Nur vom erreichten Ziel her ist der zurückgelegte Weg zu übersehen und zu verstehen. Das Ziel des Leidens und Sterbens Christi war seine Auferstehung und seine Verherrlichung. Er hat die Verheißung seiner Auferstehung immer mit der Ankündigung seines Leidens und Sterbens verbunden. Die Apostel jedoch haben diese Verheißung entweder überhört oder sie blieb ihnen schlicht und einfach unverständlich. Sie durften dann aber den Auferstandenen von Angesicht zu Angesicht schauen. Nun konnten sie das Leiden und den Tod Christi im Licht der Auferstehung, im Osterlicht, erkennen und verstehen. Uns ist die Auferstehung Christi zwar eine Wahrheit des Glaubens, aber keine Erfahrung von Angesicht zu Angesicht. Unsere eigene Auferstehung und die Teilnahme an der Herrlichkeit Christi ist unser aller erhofftes Ziel. Wir sind auf dem Weg, aber noch nicht am Ziel angekommen. Wir stehen nicht im hellen Licht, sondern immer wieder im Dunkel. Es kommt nicht darauf an, in diesem Leben das Kreuz ganz zu verstehen, sondern es zu bestehen. Paul Claudel hat dies sehr schön ausgedrückt: „Gott ist nicht gekommen, das Leid zu beseitigen; er ist nicht gekommen, es zu erklären; sondern er ist gekommen, es mit seiner Gegenwart zu erfüllen.“ Wir alle sind unser ganzes Leben lang Schüler in der Schule des Gekreuzigten und Auferstandenen. Wir werden wohl nie ausgelernt haben. Und wir stellen fest, dass die Schüler in dieser Schule nicht im Gleichschritt gehen. Die einen sind weiter voran, andere

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noch zurück. Weit vorangeschritten war ein unbekannter einfacher Christ, der lange unter kommunistischer Herrschaft gelebt und gelitten hatte; von ihm stammen die trostreichen Worte: „Gehst du durch einen Schmerz, gehst du in die Arme des Auferstandenen.“ Oft ist diese oder jene Krankheit ein wichtiges Lehrmittel in der Schule des Gekreuzigten. Wer dann gelehrig ist, wird mehr und mehr in das Geheimnis des Kreuzes eindringen. „Krankheiten sind Barmherzigkeiten Gottes. Sie können uns die Augen öffnen.“ Das war die Überzeugung des hl. Kamillus von Lellis, der sich ganz dem Dienst an den Kranken gewidmet hat. Das Kreuz soll uns nach den Plänen Gottes zum wahren Leben, zur Gemeinschaft mit Christus führen. Daher ist in der Stunde des Leidens die Frage: „Warum gerade ich?“ falsch gestellt. Die Frage muss lauten: „Wozu ich?“ Christus ist zum Heil der Menschen am Kreuz gestorben. Wer mit Christus leidet und für den Glauben an ihn, darf an der erlösenden Kraft seines Kreuzes teilhaben. Das ist die ermutigende und tröstende Botschaft des heutigen Evangeliums. Amen.

Berufen, Vikar Jesu Christi zu sein Perspektiven des Wortes Gottes für 1 das Weiheamt in der Kirche Kurt Kardinal Koch

1. Lesung: Am 6,1a.4–7 2. Lesung: 1 Tim 6,11–16 Evangelium: Lk 16,19–31

In der neutestamentlichen Lesung (1 Tim 6,11–16) schreibt der heilige Paulus an seinen treuen Mitarbeiter Timotheus, der ihn auf verschiedenen Missionsreisen begleitet hat, in dem Paulus gleichsam sein „alter ego“ gesehen hat und der gemäß der Mitteilung des Eusebius in seiner „Kirchengeschichte“ der erste Bischof von Ephesus gewesen ist. Im Brief des Paulus finden sich deshalb viele klare Aussagen über die Ausübung des Amtes in der Kirche. Sie lassen sich lesen wie eine verdichtende Zusammenfassung des Symposiums, das von den beiden Schülerkreisen von Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. organisiert worden ist und gestern unter dem Titel „Aktuelle Herausforderungen des kirchlichen Weiheamtes“ stattgefunden hat. Der erste Brief des Paulus an Timotheus ist dabei so reich an Perspektiven über Leben und Sendung des Amtes in der Kirche, dass ich nur wenige Aspekte herausgreifen kann. 1 Homilie in der Eucharistiefeier mit den beiden Schülerkreisen von Joseph Ratzinger – Papst Benedikt XVI. in der Kirche des Pontificio Collegio Teutonico in Rom am 29. September 2019.

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Geweihtes Amt um Gottes willen Die erste und wichtigste Perspektive ist bereits im Namen enthalten. Timotheus ist ein griechischer Name und bedeutet „Der Gott ehrt“. Paulus spricht seinen Mitarbeiter deshalb an erster Stelle als „Mann Gottes“ an. Damit ist die elementarste Sendung des Weiheamtes in der Kirche angezeigt: Es steht im Dienst Gottes und hat ihn zu verkünden und den Menschen nahe zu bringen, damit Gott die Ehre gegeben wird, zunächst im Gottesdienst und dann im alltäglichen Leben, gleichsam in der Liturgie nach der Liturgie. Der Amtsträger wird deshalb mit Recht als „Theologe“ bezeichnet. Wenn er diese Ehrenbezeichnung beim Wort nimmt, dann ist der Theologe ein Mensch, dessen einziges Thema, das ihn wirklich interessieren muss, die Wirklichkeit Gottes ist, und der dann freilich im Erkennen dieses einen Themas Gottes berufen ist, alle Wirklichkeit mitzuerkennen, und zwar in ihrer Bezogenheit auf Gott, also „sub specie aeternitatis Dei“. Der Theologe ist berufen, die Welt von Gott her zu sehen, Gott zu den Menschen zu tragen und die Menschen in eine persönliche Gottes­ beziehung hinein zu führen. Darin besteht die besondere Aktualität des kirchlichen Weiheamtes in der heutigen Zeit, die sich nicht durch eine intensive Gottsuche auszeichnet, die vielmehr an jenem Phänomen leidet, das Papst Benedikt XVI. als „Schwerhörigkeit Gott gegenüber“ diagnostiziert und das darin besteht, dass wir Menschen heute so viele verschiedene Frequenzen in den Ohren haben oder gar die Ohren zugemacht haben, dass wir die leise Stimme Gottes kaum mehr hören können. 2 In dieser Zeit besteht die besondere Aufgabe des Amtes in der Kirche darin, den Menschen zu helfen, in ihrem Leben Gott wieder zu entdecken, und zwar nicht irgendeinen Gott, sondern den Gott, der uns sein persönliches Gesicht in seinem eigenen Sohn, in Jesus von Nazaret, gezeigt hat. In der heutigen Zeit ist das Amt in besonderer Weise berufen, die elementarste Lektion des christlichen Glaubens neu zu lehren: das Leben in der Gegenwart Gottes; alles andere folgt daraus. In einer sehr schönen Weise hat der Kirchenvater Irenäus betont, das christliche Leben bestehe

2 Vgl. Benedikt XVI., Predigt auf dem Freigelände der Neuen Messe in MünchenRiem am 10. September 2006, in: VApSt 174, Bonn 2006, 36–42.

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im Kern darin, sich an Gott zu gewöhnen, genauso wie sich Gott in seiner Menschwerdung an uns Menschen gewöhnt hat. Der Zentralität Gottes im Leben der Kirche kann der Amtsträger aber nur dienen, wenn er selbst mit Gott lebt. Darauf machen uns die Erzengel aufmerksam, deren wir im liturgischen Jahr in dieser Zeit gedenken. Denn ihre Namen enden mit dem Wort „El“, was Gott bedeutet: Micha-El heißt „Wer ist wie Gott“; Gabri-El heißt „Meine Kraft ist Gott“, und Rafa-El bedeutet „Gott heilt“. Wie Gott in die Namen und damit in das Wesen der Erzengel eingeschrieben ist und wie ihr Wesen im Stehen vor Gott und im Dasein für Gott besteht, so ist auch der Amtsträger nur dann ein „Mann Gottes“, wenn in seinem Tun, vor allem in seinem sakramentalen Handeln Gott selbst eingeschrieben ist. Die Amtsträger sind deshalb berufen, wie Engel zu leben. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass sie aufhören würden, Menschen und damit Sünder zu sein; wir Amtsträger selbst wissen es gewiss besser. Damit ist vielmehr gemeint, dass das Wesentliche der Engel darin besteht, dass sie Anbetende sind und als solche vor Gott stehen. In die Weise der Engel treten die Priester vor allem ein, wenn sie die Heilige Eucharistie als den höchsten Anbetungsakt der Kirche feiern und mit den Worten des eucharistischen Hochgebetes danken, „dass du uns berufen hast, vor dir zu stehen und dir zu dienen“.

Verkündigung und Feier des ewigen Lebens Von daher zeigt sich im Brief des heiligen Paulus an Timotheus eine zweite Perspektive für das Weiheamt in der Kirche von selbst: „Ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen worden bist.“ Denn wer Gott sagt, sagt auch Ewigkeit und ewiges Leben. Beides gehört unlösbar zusammen, wie Jesus in seinem Abschiedsgebet im Johannesevangelium sagt: „Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen, und Jesus Christus, den du gesandt hast“ (Joh 17,3). In der Einstellung zur Glaubenswirklichkeit des ewigen Lebens geht es um das ureigene Lebensprogramm von uns Christen. Dass es sich dabei um das Zentrum des christlichen Glaubens handelt, wird dann verständlich, wenn wir die einzig mögliche Alternative bedenken, die ich bewusst zugespitzt formuliere: Wenn es keine Aussicht auf ein ewiges Leben gibt, dann

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bleibt nur die Möglichkeit, sich mit der Endlichkeit der Welt tapfer oder resigniert abzufinden oder sich als Dauernörgler am „real existierenden Leben“ zu gebärden. Bei der Aussicht auf das ewige Leben bei Gott handelt es sich um den entscheidenden Ernstfall des christlichen Glaubens. Dies führt uns Jesus mit seinem unmissverständlich klaren Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus im heutigen Evangelium (Lk 16,19–31) vor Augen. Jesus stellt sich dabei kompromisslos auf die Seite des Armen, was man bereits daran ablesen kann, dass nur er einen Namen hat. Während der Prasser anonym bleibt, wird der Arme mit seinem Namen bezeichnet, und zwar mit einem sehr schönen: Lazarus ist eine Abkürzung für Eleasar, was bedeutet: „Gott hilft ihm.“ Mit diesem Namen ist die verheißungsvolle Botschaft verbunden, dass Gott denjenigen nicht vergisst, der von den Menschen vergessen wird, und dass derjenige, der in den Augen der Menschen nichts wert ist, in den Augen Gottes äußerst wertvoll ist. Dass die irdische Ungerechtigkeit von der jenseitigen Gerechtigkeit ins Lot gebracht wird, zeigt sich freilich nur im lichtvollen Ausblick auf das ewige Leben. Erst im Jenseits, in dem jene Wahrheit offenbar wird, die bereits im Diesseits Bestand hat, sieht dies selbst der reiche Prasser ein, wenn er Vater Abraham bittet, er solle Lazarus zu seinen Brüdern senden, um sie zu warnen. Doch die Antwort von Vater Abraham ist eindeutig: „Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.“ Wenn sie dem Wort Gottes in der Heiligen Schrift nicht glauben, werden sie auch einem, der vom Jenseits kommen wird, nicht glauben. Diese Antwort ist sehr hart, und es scheint keinen Ausweg mehr zu geben – es sei denn, wir lesen das Gleichnis mit den Augen Jesu selbst. Wenn wir hinter der Gestalt des Lazarus, „dessen Leib voller Geschwüre“ ist und der bedeckt von Wunden vor der Tür des reichen Prassers liegt, Jesus, der „voll Blut und Wunden“ am Kreuz hängt und dem Spott der Menschen preisgegeben ist, erkennen, dann dürfen wir mit Papst Benedikt XVI. in Jesus den wirklichen Lazarus sehen, der auferstanden ist; und wir dürfen wahrnehmen, dass Er derjenige ist, der nun doch gekommen ist, um uns zu ­sagen, wie es um das ewige Leben steht: „Er, der Gekreuzigte und Auferstandene, ist der wahre Lazarus: Ihm, diesem großen Gotteszeichen, zu glauben und zu folgen, lädt das Gleichnis uns ein,

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das mehr ist als ein Gleichnis. Es spricht von Wirklichkeit, von der entscheidenden Wirklichkeit der Geschichte überhaupt.“3 Wenn wir dies wirklich glauben, versteht es sich von selbst, dass das Weiheamt in der Kirche keine wichtigere Aufgabe hat als diese, den Menschen die Augen für das ewige Leben zu öffnen. Der Priester steht im Dienst des ewigen Lebens, wenn er es in die Mitte seiner Verkündigung stellt, und zwar in der Überzeugung: Wer über das Leben nach dem Tod des Menschen nichts zu sagen hat, hat überhaupt nichts Relevantes zu sagen. Der Priester ist vor allem berufen, die Gegenwart des ewigen Lebens schon jetzt zu feiern, und zwar in der Liturgie der Sakramente: Bereits in der Taufe wird das Tor zum ewigen Leben geöffnet, indem der Christ die entscheidende Wende in seinem Leben nicht erst in seinem Tod, sondern in seiner Taufe, der zweiten Geburt zum ewigen Leben wahrnimmt. Damit der Christ auf diesem Weg bleibt, auch wenn er von diesem Weg immer wieder abkommt, bietet ihm die Kirche das Sakrament der Beichte an. Wenn der Mensch sich auf den letzten Weg vom irdischen ins jenseitige Leben begibt, begleitet ihn die Kirche mit dem Sakrament der Krankensalbung. Vollends in der Feier der Eucharistie beten wir, dass „uns das ewige Leben zuteilwird“, und feiern wir bereits das ewige Leben mitten in der Zeit und wird uns die kostbare Medizin der Unsterblichkeit, das „pharmakon athanasias“ geschenkt. Dass auch der Liebesdienst der Diakonie an den armen und bedürftigen Menschen eine Vorerfahrung des ewigen Lebens sein will, ruft uns das heutige Evangelium in Erinnerung.

Treuhänder eines Anderen sein Das kirchliche Weiheamt steht ganz im Dienst der Verkündigung der Gegenwart Gottes und seines ewigen Lebens. Dies soll der Amtsträger mit seinem Leben und Wirken bezeugen, wie Paulus an Timotheus schreibt, dass er für das ewige Leben „vor vielen Zeugen das gute Bekenntnis abgelegt hat“. Mit dem Wort „Bekenntnis“ wird zum Ausdruck gebracht, dass der Priester nicht aus sich selbst redet und nicht aus seinem Eigenen heraus handeln 3 Joseph Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im ­Jordan bis zur Verklärung, in: JRGS 6/1, Freiburg i. Br. 2013, 307.

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kann, sondern im Dienst eines Anderen steht. Anders kann es sich gar nicht verhalten, wie vor allem bei der Feier der Sakramente sichtbar wird. Die schönen und tiefen Worte „Ich taufe Dich“, „Ich spreche Dich los von Deinen Sünden“, „Dies ist mein Leib“ kann der Priester unmöglich in seinem eigenen Namen sprechen; er würde sich maßlos übernehmen und damit als lächerliche Figur dastehen. So reden kann der Priester vielmehr nur, wenn er von Christus berufen ist, solche Worte in seinem Namen auszusprechen und mit dem „Ich“ Christi zu sprechen und „in persona Christi“ zu handeln, wie es die kirchliche Tradition ausgedrückt hat. Damit ist eine dritte Perspektive für das kirchliche Amt angesprochen, die Papst Benedikt XVI. in der Homilie in seiner eigenen Bischofsweihe mit eindringlichen Worten über die Sendung des Bischofs zum Ausdruck gebracht hat und die uns als Zusammenfassung dienen kann: „Der Bischof handelt nicht im eigenen Namen, sondern er ist Treuhänder eines anderen, Jesu Christi und seiner Kirche. Er ist nicht ein Manager, ein Chef von eigenen Gnaden, sondern der Beauftragte des anderen, für den er einsteht. Er kann daher auch nicht beliebig seine Meinungen wechseln und einmal für dies, einmal für jenes eintreten, je nachdem, wie es günstig erscheint. Er ist nicht da, seine Privatideen auszubreiten, sondern er ist ein Gesandter, der eine Botschaft zu überbringen hat, die größer ist als er.“4 Was Joseph Ratzinger vom Bischof gesagt hat, dass er nicht für sich steht, sondern für Den einsteht, den er repräsentiert und in dessen Namen er spricht und handelt, gilt für jeden Amtsträger. Sei er Priester, Bischof oder Papst – er ist eben nicht „Chef“, sondern er ist und bleibt immer „Vikar“, Stellvertreter Christi: nur Vikar, aber wirklich Vikar Christi. Die hohe Würde, in den Sakramenten mit dem Ich Christi sprechen zu dürfen, muss deshalb mit der Demut, Vikar Christi zu sein, zusammengehen. Nur in dieser Grundhaltung kann sich der Priester als Vikar Christus zur Verfügung stellen, um den unsichtbar gegenwärtigen und an seiner Gemeinde handelnden Herrn den Sinnen der Gläubigen zu erschließen. Nur wenn er seine eigene Person zurücknimmt, um für 4 Joseph Ratzinger, Der Bischof ist ein Christus-Träger. Predigt bei der Bischofsweihe im Münchener Liebfrauendom am 23. Juli 1977, in: JRGS 12, Freiburg i. Br. 2010, 267–270, hier 268.

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Christus durchsichtig zu werden, dient er der „Erscheinung des Herrn“ im Leben der Kirche und nicht der „Epiphanie“ des eigenen Ich. Dazu ermahnt Paulus seinen Mitarbeiter Timotheus damals und gewiss auch die Amtsträger heute: „Erfülle deinen Auftrag rein und ohne Tadel, bis zum Erscheinen Jesu Christi, unseres Herrn, das zur vorherbestimmten Zeit herbeiführen wird der selige und einzige Herrscher … Ihm gebührt Ehre und ewige Macht. Amen.“

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Sven Leo Conrad FSSP, Dr. phil., geboren 1972, ist im Distriktsstudienhaus Bettbrunn tätig und doziert am Priesterseminar St. Petrus in Wigratzbad. Erzbischof Georg Gänswein, Dr. iur. can., geboren 1956, ist Präfekt des Päpstlichen Hauses und Privatsekretär von Papst em. Benedikt XVI. María Esther Gómez de Pedro, Dr. phil., geboren 1973, ist Professorin für Philosophie an der Universidad Santo Tomás, Santiago, Chile. Rainer Hangler, Dr. theol., geboren 1968, ist Pfarrer in der Erzdiözese Salzburg. Maximilian Heim OCist, Dr. theol., geboren 1961, ist Abt des Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz und Großkanzler der PhilosophischTheologischen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz. Kurt Kardinal Koch, Dr. theol. habil., geboren 1950, ist Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen und Honorarprofessor für Dogmatik und Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Karl-Heinz Menke, Dr. theol. habil., geboren 1950, ist emeritierter Professor für Dogmatik und Theologische Propädeutik an der ­Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Gerhard Kardinal Müller, Dr. theol. habil., geboren 1947, war Bischof von Regensburg (2002–2012), Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre (2012–2017) und ist Honorarprofessor für Dog­ matik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München.

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Christoph Ohly, Dr. theol. habil., Lic. iur. can., geboren 1966, ist Professor für Kirchenrecht und kommissarischer Rektor der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT) – St. Augustin. Marianne Schlosser, Dr. theol. habil., geboren 1959, ist Professorin für Theologie der Spiritualität an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. D. Vincent Twomey SVD, Dr. theol., geboren 1941, ist emeritierter Professor für Moraltheologie in Maynooth, Irland.