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German Pages [257] Year 2013
Was bedeutet dieser Aufbruch der Kirche theologisch? Und wie kann er mitgestaltet werden? Und welche erneuerte Gestalt der Kirche zeichnet sich ab? Darüber nachzudenken lohnt sich. Das Buch ist auch eine Einladung gemeinsam weiterzudenken.
ISBN 978-3-402-13008-7
Auch als Ebook erhältlich www.aschendorff-buchverlag.de
Ist es möglich?
Über seinem neuen Buch steht die erstaunte Frage: Ist es möglich? Aufbrüche und Neuanfänge finden in der Kirche schon längst statt. An vielen Orten beginnen Prozesse einer Kirchenentwicklung, die sich einwurzelt in die Lebenswirklichkeit der Menschen. Das Wunder dieses Aufbruchs ist das Thema des Buches.
Christian Hennecke
Dr. Christian Hennecke geboren 1961 in Göttingen, Studien in Münster und Rom. 1995–2002 Pfarrer an St. Matthias in Achim bei Bremen. Von 2002–2006 Pfarrer in Hildesheim. Er ist Leiter des Fachbereichs Missionarische Seelsorge im Bischöflichen Generalvikariat und seit 2006 auch Regens des Priesterseminars der Diözese Hildesheim.
Wie findet die Kirche Ihren Weg in die Zukunft und wie kann der christliche Glaube auch morgen lebendig gelebt werden? Christian Hennecke hat sich dazu immer wieder auf Spurensuche begeben und in mehreren vielbeachteten Büchern seine Erfahrungen und Entdeckungen geschildert.
Christian Hennecke
Ist es möglich? Vom Wunder des kirchlichen Aufbruchs
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Christian Hennecke
Ist es möglich? Vom Wunder des kirchlichen Aufbruchs
Christian Hennecke
Is t e s m ö g l ich? Vom Wunder des kirchlichen Aufbruchs
© 2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54, Abs. 2, UrhG, werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, 2013 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞ ISBN 978-3-402-13008-7
Inhaltsverzeichnis Vorwort Norbert Trelle, Bischof von Hildesheim . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Visionen ergreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Das Werden der Kirche erfahren . . . . . . . . . . . . . . 23
1. Erfahrungen vom Lande: Kirche werden . . . . . . . 23 2. Mitten im Osnabrücker Land: Vom Sterben und Werden der Verbände . . . . . . . 28 3. Die Kraft des Sensus fidelium . . . . . . . . . . . . . . . . 32 4. Evangelisierung in Bodenwerder und anderswo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 5. Die kopernikanische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 6. Von der Taufe her denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 7. Mehr als lokal: Vom Ort der Verbände und der charismatischen Bewegungen in der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 8. Eine Neuentdeckung des Presbyteriums . . . . . . . 60 9. Brutstätten des Neuen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 10. Die Seminarkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
3. Das Werden der Kirche verstehen . . . . . . . . . . . . . 81 1. 2.
Die Umkehr zur Taufe: Die Erfahrung der Huysburg . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Im Garten des Bischofs: Die Geschichte in den Blick nehmen . . . . . . . . . . 87 5
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3. „Money talks“: Die ambivalente Sprache des Geldes . . . . . . . . . . 92 4. Zwischen Iloilo, Calapan und Hildesheim: Wie ein Bistum sich auf den Weg macht . . . . . . . . 98 5. Zwischen Vision und Aktion: The What and the How . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 6. Die fabelhafte Geschichte von St. Simon . . . . . . . 110 7. Mixed economy: Katholisch sein heißt verbinden . . . . . . . . . . . . . . 119 8. „Lass mich dich lernen ...“: Kenosis und Inkulturation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 9. Wachsen können: Die Bedeutsamkeit von Relecture und Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . 130 10. Abenteurer des Neuen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
4. Grundhaltungen der Kirchenentwicklung entfalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Staunen: Die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums deuten . . . . . . . . . . . . . 141 2. Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3. Den Wandel begrüßen: Die Würdigung der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4. Partizipation maximieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5. Verwurzeln: Die Kraft des Evangeliums und seine Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6. Nähe ermöglichen: Von der Gegenwart des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 7. Über sich hinauswachsen: Kirche in und von ihrer Sendung neu verstehen . . . . . . . . . 170 8. Einen langen Atem haben: Lokale Kirchenentwicklung als Prozess . . . . . . . . 176 9. Visionen teilen: Wie kann man den Dienst des Priesters neu profilieren? . . . . . . . 181 10. Kirchlichkeit ermöglichen: Vom Sinn der sakramentalen Grundstruktur . . . . . . . . . . . . 187 6
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5. Impulse zum Weiterdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. Baustellen der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2. Theologie in einer anderen Perspektive . . . . . . . . 200 3. Lernen von den Zeichen der Zeit . . . . . . . . . . . . . 205 4. Jenseits der treuen Kirchenfernen . . . . . . . . . . . . 210 5. Die sakramentale Grundstruktur der Kirche entfalten: Die Dreiheit der Kommunionen . . . . . 215 6. Die Wiederentdeckung der Ortskirche . . . . . . . . 220 7. Das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 8. ... und der sakramentale Dienst des Priesters in einer Kirche, die kommt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 9. Ohne Teams wächst Kirche nicht . . . . . . . . . . . . . 237 10. Priesterausbildung mit Vision: Vorschläge für die weitere Diskussion . . . . . . . . . . 241 11. Eschatologie und Pastoral: Vom langen Weg der pastoralen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
6. Nichts ist unmöglich ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
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Widmung Für das begeisternde und begeisterte Volk Gottes, für die Menschen, mit denen ich gemeinsam auf dem Weg zu einer Kirche der Partizipation gehen darf. Und mit tiefem Dank an das Dreamteam aus Bukal Ng Tipan: Mark, Estela, Epee, Alleli und Joy. Was für ein Geschenk, gemeinsam auf dem „neuen Weg“ lokaler Kirchenentwicklung zu sein!
Vorwort Lokale Kirchenentwicklung – ein weiterer schillernder Begriff oder ein vielversprechender Weg in die Zukunft der Kirche? Entgegen allen negativen Vorhersagen für das kirchliche Leben gibt es an unterschiedlichen Orten eine Vielzahl von geistlichen und evangelisierenden Aufbrüchen. Menschen werden auf neue Weise vertraut mit den Quellen des christlichen Glaubens. Sie entdecken die Bedeutung des Wortes Gottes für ihr Leben, teilen das Evangelium miteinander und lassen es in ihrer unmittelbaren Umgebung wirksam werden. Christian Hennecke reflektiert, wie Menschen durch eine neue Form der Verkündung ihr Getauft-Sein entdecken und sich auf den Weg des Kirche-Seins begeben. Er beschreibt ein Kirchenbild, das vom gemeinsamen Priestertum der Gläubigen und ihrer engagierten Partizipation geprägt ist. Ein in dieser Weise verändertes Selbstverständnis, das auf die theologisch begründete Mitverantwortung aller zielt, hat Papst Benedikt XVI. zum Abschluss seines Deutschlandbesuches im Jahr 2011 bei viel beachteten Freiburger Rede mit dem Satz charakterisiert: „Kirche sind wir alle, wir, die Getauften.“ Ohne Frage verändert und stärkt ein solches partizipatives Kirchenverständnis die Bedeutung der Ortskirche, des Bistums und des Presbyteriums. Für mich als Bischof und meine Amtsbrüder bedeutet dies, dass wir mehr denn je herausgefordert sind, zusammen mit unserem jeweiligen Presbyterium einen Weg zu gehen, der nach gemeinsamen Entwicklungslinien in der Begleitung und Förderung der Christen vor Ort sucht. Immer deutlicher stellt sich heraus, dass die zukünftige Entwicklung der Kirche nicht allein von strukturellen Bedingungen abhängt, folglich auch nicht in erster Linie eine administrative oder soziologische Herausforderung darstellt. Nicht eine leider viel zu verbreitete „dürre Pragmatik“ hilft bei der Gestaltung der 11
vo r wo rt
Zukunft. Theologische Fragen stellen sich im Hinblick auf die aktuelle Situation der Kirche neu und werden zur spirituellen Herausforderung. Im Bistum Hildesheim gehört Christian Hennecke zu denjenigen, die die Prozesse Lokaler Kirchenentwicklung maßgeblich gestalten und vor Ort mit großer Kreativität begleiten. Seine Vergewisserung „Ist es möglich? – Vom Wunder des kirchlichen Aufbruchs“ fällt zusammen mit dem Jubiläumsjahr des Zweiten Vatikanischen Konzils, zu dessen besonderen Früchten es zählt, das Bewusstsein für die besondere Würde der Getauften geschärft zu haben. Insofern verstehe ich das vorliegende Buch als einen geistlichen und erfahrungsorientierten Beitrag zur Relecture des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dafür bin ich Christian Hennecke von Herzen dankbar. Im November 2012
Norbert Trelle Bischof von Hildesheim
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1. Visionen ergreifen Es geht um die Zukunft unserer Kirche, jenseits einer schon fast rituellen Rede von der Krise. Es geht um einen weiten und freien Blick, der sich nicht einfangen lässt von einer rückwärtsgewandten Vision, die die Vergangenheit verklärt und sich unter dem Begriff vielfältiger Mangelerscheinungen verbirgt – und gut verbergen kann: Denn Strukturveränderungen, die geringe Anzahl an verfügbaren Priestern, das Ende einer selbstverständlichen Glaubenskultur mit all ihrem Reichtum, die unbequemen Wahrheiten soziologischer Untersuchungen, all dies macht deutlich, dass das bisherige Gefüge des Christwerdens und Christbleibens in einem tiefen Wandlungsprozess steht, in dem vieles, was gelungen ist und liebgewonnen wurde, zu Ende geht. Und es stellen sich viele neue Fragen. Spürbar sind die große Unsicherheit und auch eine ernst zu nehmende Angst: Wohin führt dieser Umbruch? Es fällt auf, dass für viele Christen, und auch für Priester und Bischöfe, die Zukunft wenig fassbar, wenig farbig ist – für sie ist eine sich erneuernde Gestalt der Kirche kaum erkennbar, wohl aber der Abbruch und das Ende, das unerbittlich näher rückt. Wo aber die Zukunft nicht erkennbar wird, wo keine Vision lockt, dort bleibt der Abbruch- und Verdunstungsgedanke leitend. Wo nicht erfahrbar wird, welchen Weg Gott mit uns gehen will, kann eine Vision gar nicht geboren werden, und erst recht nicht handlungsleitend sein. Dann bleiben wir im Abwägen. Dann bleiben wir Bedenkenträger, dann werden wir die Zukunft nicht wagen. Dann bleibt Mutlosigkeit, eben Angst – oder auch ein Hoffen wider alles Hoffnung. Vor allem aber bleibt eine Blindheit für die schon vorhandenen Aufbrüche, die in eine deutliche Richtung weisen. Was es also braucht, das ist mehr als ein Traum: Es braucht eine gemeinsam geteilte Erfahrung des Ankommens des Reiches Gottes in unserer heutigen Zeit. Es braucht eine im Evangelium 13
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verwurzelte Erfahrung, die uns zu Sehenden macht. Denn mit einer solchen Vision können wir sehen lernen, was schon längst angebrochen ist und sich deutlich abzeichnet. Dieser Skizze der Zukunft soll dieses Buch dienen. Es greift zurück auf die bemerkenswerte Konsonanz weltkirchlicher Prozesse und es berichtet von Erfahrungen des Aufbruchs, die eine deutliche Sprache sprechen: sie sprechen von einer Kirche, die aus der Kraft des Evangeliums lebt, von einer Kirche, die Beziehungen konkret lebt und sich dabei als Leib Christi erfährt – und damit eucharistisch lebt; von einer Kirche, die die Würde aller Getauften ins Spiel bringt – und damit dem sakramentalen Dienstamt eine neue Perspektive in verunsichernden Zeiten öffnet; von einer Kirche, die sich inkulturiert und den Menschen unserer Zeit dient; von einer Kirche, die als Volk Gottes auf das Ziel des Reiches Gottes hin sich selbst überschreitet, über sich hinauswächst. Grundwort und Grundvollzug dieser Kirche ist die trinitarisch gegründete Rede von der Partizipation: Ja, es geht um die Entdeckung, dass Gottes Lebenswirklichkeit uns (sakramental) zuteilgeworden ist – und dass sich aus dieser Teilgabe eine Wirklichkeit kirchlichen Lebens entwickelt, die das Teilgeben und Teilnehmen in den Mittelpunkt rückt. Diese Grundgestalt des Kircheseins zu entdecken – darum geht es in dieser Skizze. Aber wie kann ein Entwicklungsprozess begleitet und gefördert werden, der eine farbige, im Vorgeschmack erlebte Zukunftsvision in kleinen Schritten ins Leben bringt? Wie kann Partizipation ermöglicht werden? Welche Grundhaltungen, aber auch welche Wege können erlernt und dann gegangen werden? Erste Antwortversuche können hier beschrieben werden und machen deutlich, dass es sich bei einem Prozess lokaler Kirchenentwicklung um einen langen Weg handelt, der ohne eine tiefe Vision des Kircheseins, ohne eine Verwurzelung im Evangelium und ohne konkrete teilgebende Verfahren und Methoden nicht möglich ist. Wer einen solchen Prozess in Gang bringen will, wer ihn begleiten will, der muss wissen: Visionen müssen innerlich ergriffen werden. Sie müssen ergreifen, also Erfahrungen sein, die mich nach vorne ausstrecken. Nur wenn ich sie bewohne und mir zu eigen gemacht habe, entfesseln sie Leidenschaft, ermöglichen sie 14
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die Geduld, lange Wege des Wachsens zu gehen – und setzen eine methodische Phantasie frei, die es vielen ermöglicht, diese Vision am konkreten Ort und im Heute Gestalt werden zu lassen. Die konkrete Vorerfahrung des Reiches Gottes, die mich ergreift, ist natürlich gebunden an ihren evangelischen Ursprung, der sich in der lebendigen Tradition der Kirche wiederfindet – und ist auch immer mehr als „meine Vision“: Um Kirche zu entwickeln, braucht es die gemeinsame Gestaltung des Weges. Mir scheint, ohne eine Visionsgemeinschaft riskiert jede Vision die verspinnerte Träumerei, und verliert ihre Erdung in der Wirklichkeit der Menschen: Eine echte Vision braucht also einen ekklesialen Lebensraum, der eine gemeinschaftliche Praxis ermöglicht, die diese Vision bezeugt. Mit den kurzen Worten all derer, die uns auf diesem Weg begleiten: „The method is the message“ – wie kann die Vision einer partizipierenden Kirche weitergetragen werden, wenn nicht sichtbar und erfahrbar wird, dass wir von Anfang an gemeinsam einen Weg des Evangeliums gehen und gestalten? Die ersten Erfahrungen mit diesem einfachen und doch komplexen Weg konkreter Prozessentwicklung finden sich auf diesen Seiten. Visionen ergreifen: Wo kann man das besser entdecken als in der Apostelgeschichte? Und gerade die Perspektive der Apostelgeschichte kann einen guten Auftakt bilden zu den nachfolgenden Überlegungen. Auch hier geht es um einen langsamen und überraschenden Werdeprozess der Kirche. Wie gestaltete sich dieser Werdeprozess? Welche Grundhaltungen und Grundfiguren zeigen sich? Der Ausgangspunkt der Apostelgeschichte hat nämlich Ähnlichkeiten mit unserer Situation des Umbruchs und Wandels: Die jüdische Tradition und ihre Gemeinschaftsgestalt konnten zwar als Anknüpfungspunkt dienen, aber angesichts der Vision vom Reich Gottes und der Erfahrungen der Apostel mit dem Auferstandenen und der Teilgabe des göttlichen Lebens brauchte es einen noch unbeschrittenen Zukunftsweg. Wie konnten die Apos tel diesen Weg gehen? Welche Grundhaltungen wurden leitend? Welche Erfahrungen setzten sich durch?
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— Die Umkehr der Visionäre —
Sie sind eine visionäre Gemeinschaft, die einige Jahre mit Jesus und seiner Botschaft vom Reich Gottes gelebt hat. Jesus hatte sie berufen, sie zu Aposteln „gemacht“, und dennoch macht die Apos telgeschichte schon zum Auftakt deutlich, dass die wesentliche Grundhaltung der Apostel die Umkehr wird. Umkehren müssen sie, weil sie nicht verstanden haben. Das zieht sich wie eine Grundlinie schon durch die Evangelien. Gerade die Berufung durch Christus, die Lebens- und Weggemeinschaft mit ihm, führt eben nicht automatisch dazu, ihn und die Vision vom Reich Gottes zu verstehen. Das Ergreifen dieser Vision ist ein lang dauernder Umkehrprozess: Eigene Vorstellungen müssen losgelassen und geweitet werden, und die Apostel lernen Schritt für Schritt vor allem eines: Das Reich Gottes ist nicht ergreifbar, aber es kann einen so tief ergreifen, dass es auf einem langen Lernweg die Apostel in ihrem Denken und Handeln durchdringt. Einen solchen Prozess der Umkehr – ähnlich dem Lernweg der Apostel – dürfen wir heute mitgehen. Er trägt für den Zusammenhang schon eine erste Erkenntnis bei: Die Vision vom Reich Gottes, die für die Apostel prägend geworden ist, verlangt eine „gnadentheologische Reformulierung“ (Bucher) der Kirchenentwicklung: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen. Er wird euch fähig machen, überall als meine Zeugen aufzutreten: in Jerusalem und Judäa, in Samarien und bis in die entferntesten Länder der Erde“ (Apg 1,8). Kirchenentwicklung ist ein Abenteuer des Geistes, keine programmatische Umsetzung bekannter Vorstellungen – und zentral bleibt die Herausforderung, als Zeugengemeinschaft die geistgewirkte Gegenwart des Auferstandenen in Denken, Reden und Tun zu bezeugen. Genau dies wird ja deutlich bei der Nachwahl des Matthias. Entscheidend kommt es darauf an, dass die Gemeinschaft der Apostel von derselben Umkehrerfahrung geprägt ist: „Denn zusammen mit uns soll er vor allen Menschen bezeugen, dass Jesus, der Herr, auferstanden ist“ (Apg 1,22). Es geht um diese Gemeinschaft des Auferstandenen, aus der heraus jede Zukunft möglich wird. Die Apostel waren und sind sich bewusst, dass ohne die lebendige Erfahrung der Gegenwart des Auferstandenen der Weg in die Zukunft ver16
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stellt ist. Aber diese Erfahrung der Gegenwart des Auferstandenen ist fast so etwas wie das Grundparadigma der Zukunftsentwicklung der jungen Christusnachfolger. Das Loslassen aller bekannten Koordinaten zugunsten der erfahrbaren Kraft seiner Gegenwart lässt sie leben, erkennen und wagen, erschließt ihnen Tradition und Zukunftswege, ermöglicht mutige Weichenstellungen. — In den Sprachen der Anderen reden —
Das erschließt sich in der Pfingsterfahrung der Apostelgemeinschaft. Es ist nämlich eine Umkehrerfahrung ersten Ranges: Hier werden die Apostel aus ihrer Angst und Fixiertheit herausgeschleudert in die Realität einer vielfältigen Wirklichkeit und befähigt, sich auf ihre Berufung einzulassen: Sie können in den Sprachen der Anderen reden und so der Sehnsucht der Menschen nach den großen Taten Gottes entsprechen: „Doch jeder von uns hört diese Männer in seiner eigenen Sprache von Gottes großen Taten reden“ (Apg 2, 11). Diese Teilgabe des Geistes führt eben gerade die Apostel zur Umkehr in jene Wirklichkeit der Hingabe, zu der die teilgebende Gegenwart des Auferstandenen führt. Es ist das Loslassen von eigenen Sicherheiten zugunsten eines neuen Denkens und Handelns und ein Sich-Einlassen auf die Lebenswirklichkeit und Kultur der Menschen, mit denen sie leben. Sehr spannend macht das die Apostelgeschichte in der paulinischen Erfahrung auf dem Areopag deutlich. Paulus lässt sich auf die Wirklichkeit seiner Gesprächspartner ein und spricht von ihrer Sprache her die Wirklichkeit der Auferstehung aus (vgl. Apg 17, 16ff). Paulus selbst formuliert im Römerbrief diese Grundumkehr: „Weil Gott soviel Erbarmen mit euch hatte, fordere ich euch auf, liebe Brüder und Schwestern, euer ganzes Leben Gott zur Verfügung zu stellen. Bringt euch selbst mit Leib und Seele als lebendiges und heiliges Opfer dar, das Gott gefällt. Einen solchen Gottesdienst erwartet er von euch. Passt euch nicht den Maßstäben dieser Welt an, sondern lasst euch von Gott verändern, indem ihr euch an Gottes Maßstäben orientiert. Nur dann könnt ihr beurteilen, was Gott von euch will, was gut und vollkommen ist und was ihm gefällt“ (Röm 12,1–2). 17
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Die Praxis pastoraler Entwicklung und die Zukunftsperspektive des „neuen Weges“ werden hier erkennbar und gangbar aus einer existenziellen Umkehr und einem Eintreten in die Hingabe Christi selber, die neue Maßstäbe ermöglicht, eben Maßstäbe Gottes. Das Entdecken dieser Maßstäbe ist wiederum ein gemeinsamer Prozess der Unterscheidung. Die gesamte Apostelgeschichte bezeugt dieses Vorgehen eindrucksvoll, wie im Kontext der Wahl der Sieben, aber auch im Prozess der Unterscheidung im Blick auf Heidenchristen deutlich wird1. — Die Wirklichkeit erschließen—
Dabei zeigt sich in der Pfingsterfahrung der Apostel erstaunlich parallel zur Schlüsselerfahrung Jesu: Die Taufe am Jordan ermöglichte ihm, die eigene persönliche Erfahrung als Wirklichkeitserfahrung für alle zu verkünden. Genau so jetzt: das pfingstliche Kommen des Geistes bleibt nicht die Erfahrung der Apostel: „Nein, hier erfüllt sich, was Gott durch den Propheten Joel vorausgesagt hat. Bei ihm heißt es: Wenn die letzte Zeit anbricht, sagt Gott, will ich alle Menschen mit meinem Geist erfüllen. Eure Söhne und Töchter werden aus göttlicher Eingebung reden, eure jungen Männer werden Visionen haben und die alten Männer bedeutungsvolle Träume. Allen Männern und Frauen, die mir dienen, will ich meinen Geist geben, und sie werden in meinem Auftrag prophetisch reden“ (Apg 2, 17–18). Die Wirklichkeit in dieser Weise zu erschließen und zu entdecken, das genau beschreibt den Weg der Apostel und der ersten Christen: Es geht darum, immer wieder und überall selbst in der Gegenwart des Auferstandenen zu leben und sich von seiner Gegenwart her führen zu lassen: von der Entwicklung der ersten Gemeinde über die Frage nach den Heidenchristen – der gemeinschaftlich geprägte Weg der Apostel und der ersten Christengemeinden lebt von der Erfahrung, dass es der auferstandene Herr ist, der führt, begleitet, aufbaut, erschließt und entwickelt. 1 Vgl. dazu meine Überlegungen zu der Innovationsfähigkeit der apostolischen Gemeinde in C. Hennecke, Kirche, die über den Jordan geht, Münster 52011, 146–162. 18
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— Ist es möglich? —
Von daher ist der Aufbruch hin zu einem neuen Weg der Verkündigung und der ungeahnten Kirchenentwicklungen, der unserer Kirche heute und hier zugemutet ist, ein „normaler“, ein normativer Weg der Wandlung. Ja, er beinhaltet einen Paradigmenwechsel; ja, er verlangt eine tiefe Gründung in die Verheißungen Gottes; ja, er verlangt eine Orientierung an der Tradition der Kirche und besonders an der Schrift. Dieser Weg der Wandlung ist – im Kairós Seiner Gegenwart – noch unerkannt und unerhört und verlangt nach Menschen, die selbst schon geprägt sind von der Leben stiftenden und Gemeinschaft schaffenden Gegenwart des Auferstandenen. Aus dieser Grunderfahrung einer Neugeburt christlichen Lebens lässt sich dann auch Schritt für Schritt erschließen, welche kommenden Wege Gott mit seinem Volk im Blick auf Sein Reich gehen will. Dafür braucht es Grundhaltungen, die in diesem Buch entschlüsselt und verdeutlicht werden sollen. Es braucht vor allem eine pastorale Perspektive, die sich einzulassen vermag auf unerhörte Neuheitserfahrungen (vgl. Apg 10), auf gemeinschaftliche Such- und Deutungsprozesse (vgl. Apg 15) und korrigierbare Weggeschichten (vgl. Apg 16) und den Mut, den Intuitionen nachzugehen, in der einzigen Sicherheit, dass es der gegenwärtige Christus ist, der diese Wege führt2. Damit ähnelt die hier zu entwickelnde Perspektive, die sowohl die Vision einer zukünftigen Kirchengestalt als auch die Wege ihrer konkreten Entwicklung in den Blick nehmen will, ein wenig jener angloamerikanischen Perspektive des Pragmatismus, die Matthias Sellmann jüngst vorgestellt hat3: ein Weg der gemeinsamen Suche, ein Weg gemeinsamen Hörens auf die Zeichen der Zeit 2 So formuliere ich gnadentheologisch den Begriff der Abduktion. Vgl. hierzu R. Bucher, ... wenn nichts mehr bleibt, wie es war. Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche, Ostfildern 2012; W. Beck, Die unerkannte Avantgarde im Pfarrhaus. Zur Wahrnehmung eines abduktiven Lernortes kirchlicher Pastoralgemeinschaft, Münster 2008. 3 Vgl. Matthias Sellmann, Katholische Kirche in den USA. Was wir von ihr lernen können, Freiburg 2011. 19
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und der Experimente. In der Tat: Was mich in den vergangenen Jahren zutiefst berührt hat, sind der Mut für neue Wege, die Tiefe und Verwurzelung in der Tradition und die Kraft zur Relecture, die ich in verschiedenen Ortskirchen im Umbruch beobachten und miterleben durfte4. Gemeint ist also nicht eine oberflächliche Praxis und schon gar nicht das besinnungslose Weitermachen (oder Weiterwursteln) pastoraler Praxis angesichts der Dramen des Umbruchs. Es geht vielmehr um einen Aufruf zur gehorsamen Aufmerksamkeit, um einen Prozess, der sich immer wieder orientiert am Hören auf das Wirken des Geistes in den Zeichen dieser Zeit, es geht um das gemeinsame Hören auf das Wort und die Verheißungen der Schrift und das gehorsame Tun dessen, was dieser Kairós zu handeln aufgibt: zu lassen, zu sterben und aufzuerstehen. — Es ist möglich – Eine marianische Pastoralperspektive —
So kommt es zum Titel dieses Buches. Er entstammt einer sehr konkreten Erfahrung aus einem Schulungskurs in Bukal Ng Tipan/Manila. Am Ende des einführenden geistlichen Retreats hörten wir einen deutschen Song aus dem Rilke-Projekt mit dem Titel „Ist es möglich?“. Dieses ermutigende Wort erinnerte mich an die Verkündigungsgeschichte. Und damit erhält die Perspektive der nachstehenden Überlegungen eine wesentlich marianische Dimension. „Wie kann das geschehen?“, so fragt Maria angesichts der Verheißung und Verkündigung des Engels. Die heilsgeschichtliche Logik göttlichen Handelns in der Geschichte verweist immer wieder auf die unverrechenbare Gnade. Und nur zu berechtigt ist die Frage Marias, wie denn möglich sein kann, was aus menschlicher Sicht unmöglich scheint. Gott verkündet eine Zukunftsvision für 4 Dokumentiert ist dieser Weg in Christian Hennecke, Glänzende Aussichten, Wie Kirche über sich hinauswächst, Münster 22011; P. Elhaus/C. Hennecke (Hg.), Gottes Sehnsucht in der Stadt. Auf der Suche nach Gemeinden von morgen, Würzburg 2011; C. Hennecke/M. Lätzel, Kein Mangel, nirgends. Lernender Dialog mit der Diözese Poitiers, in GuL 84 (2011), 306–315. 20
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sein Volk, die aber eben nicht „äußerlich“ bleiben darf, sondern vertrauend und gehorsam ergriffen werden will. Und die ergreift eben durch und durch und lässt die Zukunftsvision Fleisch werden in der Person dessen, der sich ergreifen lässt. Die Ankündigung der bleibenden und erlösenden Gegenwart Gottes bei seinem Volk bleibt nicht äußerlich, harmlos, weltlos, sondern wirkt spirituell, ganzheitlich und weltvoll: Sie gebiert eine geisterfüllte Leidenschaft für den Weg Gottes in unserer Zeit. Wie also ist es möglich, dass Gott sein Volk erneuert? Es ist möglich, wenn Menschen sich existenziell auf die Vision Gottes einlassen, wenn sie den ersten Erfahrungen (Lk 1,36) trauen und Gottes Aufruf zum Gehorsam folgen: „Ich gehöre dem Herrn, ich stehe ihm ganz zur Verfügung. Alles soll so geschehen, wie du es mir gesagt hast“ (Lk 1,38). Von diesen Menschen und ihren Erfahrungen handelt dieses Buch. Sie bezeugen: Es ist möglich.
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2. Das Werden der Kirche erfahren 2.1 Erfahrungen vom Lande: Kirche werden Am letzten Tag der gemeinsamen Studienreise evangelischer Theologiestudenten und katholischer Seminaristen in London, um dort neue Formen gemeindlichen Lebens kennenzulernen5, treffen wir einen anglikanischen Pfarrer. Neben den beeindruckenden Erfahrungen in London blieb nämlich eine Frage offen: Und wie ist es auf dem Land? Geht das nur in der Vielfalt und Mobilität der Stadt? Was ist auf dem Land? Und hier erzählte uns Father Peter von seinen Erfahrungen, die auf der einen Seite sehr vertraut klingen. Geldmangel zwingt auch hier zu Zusammenführungen von Pfarreien und zu Kirchenschließungen. Doch elektrisierend ist die folgende Wandlungsgeschichte einer Gemeindegeburt: In einem kleinen Dorf im Norden Englands musste die Kirche geschlossen werden – es war nicht mehr möglich, die Kosten für die Instandhaltung des Gebäudes zu bezahlen. Und es waren auch nur noch wenige alte Frauen da, die dort gerne Gottesdienst feierten. Der Pfarrer sprach mit den Frauen, und sie konnten es verstehen, dass ihretwegen die Kirche nicht erhalten werden konnte. Damit verschwindet die Kirche aus dem Dorf? Nein, die älteren Damen beschließen, dass sie sich von nun an zum Beten in einer ihrer Wohnungen treffen. Sie beten. Sie beten für die Menschen im Dorf. Jede Woche treffen sie sich. Und eines Tages fällt ihnen auf, dass in ihrer Nachbarschaft eine alleinerziehende Mutter lebt, die fast nicht aus dem Haus kommt wegen ihrer Kinder. Sie beschließen, sie nach dem Gebet zu besuchen und ihre Mit5 Vgl. zu der Erfahrung der sogenannten „fresh expressions of church“ P. Elhaus/C. Hennecke (Hg.), Gottes Sehnsucht in der Stadt, a. a. O. 23
2. da s w e r d e n d e r ki rc h e e r fa h r e n
hilfe anzubieten: „Wir haben gesehen, dass Sie Schwierigkeiten beim Einkaufen haben. Können wir unsere Hilfe anbieten? Wir würden Ihre Kinder sitten ...“ Die Mutter ist sehr überrascht. Ein ungewöhnliches Angebot. Nach kurzem Zögern nimmt sie an: „Aber wie kommen Sie auf diese Idee? Noch nie hat jemand aus dem Dorf mir das angeboten.“ „Wir treffen uns seit einiger Zeit zum Beten, wir beten für das Dorf und die Menschen – und da sind wir auf Sie aufmerksam geworden ...“ Die Mutter ist perplex und begeistert: „Ich bete auch mit, kann ich?“ Nach einigen Wochen des gemeinsamen Betens für die Menschen im Dorf bemerkten sie in der Nachbarschaft ein Ehepaar – einer der Partner leidet an Multipler Sklerose. Der andere Partner ist überfordert und kommt nicht mehr raus. Wieder gehen sie zu diesem Paar und erzählen ihre Geschichte, bieten Hilfe an. „Das ist wunderbar, ich bin so dankbar – und: Könnten Sie nicht zum Beten zu uns kommen? Wir wollen auch mitbeten ...“ Und so geschieht es. Innerhalb weniger Monate kommen weitere Menschen dazu. Gemeinsam beten für das Dorf – und konkreter Dienst aneinander: eine Kirchengeburt an einem Ort, wo doch alles am Ende zu sein schien. Diese Erfahrung, so klein und speziell sie zu sein scheint, öffnet Perspektiven und ist emblematisch für eine zukünftige Kirchenentwicklung. — Lokal —
Ist die Kirche ein Kirchengebäude? Die Identifikation des Kircheseins mit dem Kirchbau ist für viele Menschen prägend. Bei vielen Prozessen der Strukturveränderung und auch bei vielen notwendigen Kirchenschließungen wird dies deutlich: Zum einen zeigt sich, wie sehr die Kirchenerfahrung mit der eucharistischen gottesdienstlichen Versammlung identifiziert wird. Damit wird deutlich, wie sehr die Christen aus der Kraft eucharistischer Versammlung leben wollen, wie bewusst und reflektiert dies auch immer sein mag. Oft wird ja der Verdacht geäußert, dass die Eucharistiefeier gar nicht so wichtig sei für die engagierten Christen – das kann angesichts dieser Erfahrungen wohl nicht so 24
2.1 e r fa h r u n g e n vom l a n d e : ki rc h e w e r d e n
aufrechterhalten werden. Hier liegt ein eucharistisches Verständnis zugrunde, das nicht nur die liturgische Feier, sondern auch die gemeinschaftliche Existenz und die Versammlung vor Ort in den Mittelpunkt rückt und Eucharistie so zum Mittelpunkt des gemeinschaftlichen Lebens macht. Darin liegt zum anderen auch eine Schwäche. Wenn nämlich das Kirchesein mit einem Gebäude identifiziert wird, zerfällt die Kirchenerfahrung mit dem Gebäude. Dann aber verwechselt man das Sein mit der Gestalt, in der Form ist dann auch das Leben geronnen. Genau das macht die kleine Erfahrung aus England deutlich. Dies zu entdecken und zu verstehen, ist aber nicht die Verantwortung der Christen vor Ort – hier ist der Verstehenshorizont der Verantwortlichen gefragt. Wenn Bischöfe und Pfarrer hier keine Vision anbieten, und die einzige Alternative bleibt, zu einem zentralen Ort zu fahren, dann ist das in der Eucharistie gegründete Kirchenverständnis in seiner theologischen Potentialität unterboten und verkürzt. Denn so sehr es wahr ist, dass gerade auch die zentrale eucharistische Versammlung deutlicher machen kann, was Kirche in der Weite und ihrer Katholizität ist, so sehr ist auch wahr, dass die eucharistische Existenz vor Ort gelebt werden will. Genau das hatte der anglikanische Pfarrer im Blick. Das Gespräch mit den Frauen eröffnete ihnen einen Raum – auch ohne lokale Eucharistie und ohne Kirchengebäude weiter Kirche zu sein, im Hören auf das Wort, im gemeinsamen Beten, in der Sorge für die konkrete Lebenswelt. Gerade hier wird die visionäre Fähigkeit dieses Pfarrers deutlich: Er sieht die Taufwürde der Beteiligten, ihre Möglichkeiten, das gemeinsame Priestertum der Gläubigen vor Ort zu leben – es bleibt nicht bei der Trauer und dem Verweis auf den zentralen Gottesdienstort, sondern es kommt zur Einladung, lokal Kirche zu sein und Kirche zu leben. — Kirche wird neu geboren —
Die Pointe dieser Entwicklung ist die Ausrichtung auf das Wohl des Dorfes, auf die konkreten Menschen in ihrem unmittelbaren Lebenskontext. Dabei wird deutlich, dass das gemeinsame Beten 25
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und Hören auf die Schrift hier tatsächlich die örtliche Gemeinde hervorbringt. Denn das gemeinsame Beten und das gemeinsame Hören führen in die konkrete Aufmerksamkeit für die Menschen im Umfeld. Es ist ein gemeinsamer Raum, in dem gemeinsam in den Blick genommen werden kann, was an Herausforderungen und Problemen anliegt; in dem auch durch das Beten und das Hören eine konkrete Sendung wahrgenommen werden will. Die Gemeinschaft der Betenden und Hörenden wird pfingstlich: Sie gehen auf Menschen zu, die ihnen durch das Beten naher rücken – und sie stellen sich absichtslos in den Dienst. Genau dieser Dienst führt zum Wachsen der Kirche, denn dabei „werden ihrer Gemeinschaft Menschen hinzugefügt“ (vgl. Apg 2). Unerwartet wächst hier eine Gemeinschaft von Gläubigen, die nicht den herkömmlichen Mustern entspricht. Weder spielt hier das Gebäude eine Rolle, noch das Alter der Beteiligten, wohl aber der Pfarrer. Denn er ermöglicht eine Entwicklung, indem er den Christen vor Ort Mut macht, Kirche aus der Kraft ihres Glaubens zu leben. Zeugnis, Dienst und Gemeinschaft werden hier neu buchstabierbar – und das eben nicht als spontane Kirchenbildung ohne institutionellen Kontext, sondern als Ermöglichungsraum innerhalb der Pfarrei. Denn natürlich feiert die Pfarrei vor Ort in einer anderen Kirche (es sind in diesem Fall neun Kirchgebäude) die Eucharistie, zu der auch die Frauen aus dem kleinen Ort gehören – aber zugleich erwächst genau aus dieser Kraft vor Ort die Möglichkeit, die eucharistische Sendung fortzuleben und fruchtbar zu machen – in Gemeinschaft und konkreter Sendung. — Merkposten für eine zukünftige Kirchenentwicklung —
Es wird in dieser kleinen Erfahrung deutlich, dass eine Kirchenentwicklung in der Spannung zwischen institutioneller Konzen tration und lokaler Ermöglichung stattfindet. Im genauen Hinschauen auf die sich hier abzeichnende Ekklesiogenese wird deutlich, dass diese nicht in Dialektik zur Strukturentwicklung läuft, wohl aber ins Licht rückt, welche spezifischen Möglichkeiten zu entdecken und welche Unterscheidungen zu treffen sind. 26
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Es wird deutlicher, wozu die Pfarrei da ist. Sie ist der Ermöglichungsraum, verstanden in einem sehr strikt theologischen Sinn: Leitung als sakramentaler Dienst besteht hier darin, gemeinsam mit Menschen an ihrem konkreten Lebensort die Chancen kirchlichen Lebens auszuloten, gemeinsam mit ihnen zu entdecken, welche Perspektive sich angesichts dramatischer Wandlungsprozesse auftun kann. Das setzt nun aber voraus, dass der Pfarrer und sein Team ihrerseits eingebunden sind in einer gemeinsamen Visionsperspektive der Ortskirche. Es ist im Folgenden noch näher zu beschreiben, welche konkreten Grundhaltungen dahinterstehen. Aber auch hier wird deutlich, dass die konkrete Ermutigung zur Gebetsgemeinschaft voraussetzt, dass der Pfarrer von einer Vision ergriffen ist, die eben nicht den institutionellen Rückbau der Kirche mit dem Rückbau des Kircheseins insgesamt identifiziert. Hinter seiner Vision steckt augenscheinlich eine Erfahrung, die dem Christsein, das in der Taufe gegründet und aus der Eucharistie genährt ist, zutraut, Kirche am Ort zu sein. Aus diesem Vertrauen, das ja gegenseitig ist, wächst nun eine neue Kirchengestalt, die in ihrer Substanz doch genau an die frühchristlichen Hausgemeinden erinnert. Auch hier geht es nicht um eine rein soziologische Gruppenbildung, sondern die gelebte Sendung bezeugt eindrücklich, dass die Neuheit dieser Entwicklung einmündet in die lebendig machende Erfahrung des Betens und Hörens. Dabei entwickelt sich eine Kirchengestalt, die eben nicht zusammenfällt mit einer Kirchenerfahrung klassischer Kirchgänger. Es ist wahrscheinlicher, dass das diakonische Zeugnis auch Menschen anzieht und auf den Weg des Glaubens bringt, die mit klassischen sakramentalen Formen gänzlich unvertraut sind – und auf absehbare Zeit diese auch nicht ersehnen. Wenn man hier – wie die Anglikaner brillant formulieren – von einer „Kirche für ,Beginner‘ “ sprechen sollte, so wird hier das Wachsen dieser örtlichen Gemeinschaft als katechumenale Kirchenbildung zu beschreiben sein, mit nach außen offenen Grenzen, als ein Raum persönlichen und gemeinschaftlichen Glaubenswachstums.
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— Ist es möglich? —
Ist auch in unserem deutschsprachigen Kontext ein Werden solcher Kirchengestalten denkbar, wenn angesichts der notwendigen Strukturwandlungen sich neu die Frage nach der Kirche am Ort stellt? Wenn es nicht nur darum geht, dass bestehende Gemeinden weiter bestehen können, auch dann, wenn Kirchen geschlossen werden? Welche Vision des Kircheseins soll befördert und ermöglicht werden? Welche Prozesse geistlichen Wachsens könnten in den Blick genommen werden? In der Tat, eine solche Entwicklung ist möglich und notwendig, will auch die Rede von einer lokalen Kirchenentwicklung nicht nur zu einer Ermutigung verkommen, einfach vor Ort weiterzumachen. Die Herausforderung liegt in der Tat darin, nicht nur Strukturen zu regeln (das ist eher leicht), sondern Prozesse einer visionsgeleiteten Kirchenentwicklung zu fördern. Das wird nur dann gelingen, wenn die jeweils Verantwortlichen solche Erfahrungen gemacht haben und deswegen mit dem ihnen anvertrauten Volk Gottes geduldig Wachstumswege gehen können. Dann werden unerwartete Entwicklungen möglich – wie auf dem Land im Norden Englands.
2.2 Mitten im Osnabrücker Land: Vom Sterben und Werden der Verbände Es ist eine spannende Erfahrung, die mir ein Diakon erzählt. Die Geschichte zweier katholischer Verbände in einer kleinen Stadt im Osnabrücker Land. Der eine Verband hat eine außergewöhnliche Wachstumsgeschichte hinter sich – der andere eine erfolglose Mitgliederwerbung. Wie und warum hat sich das ereignet? Welches Geheimnis steckt hinter den unterschiedlichen Entwicklungen des Wachsens und des Rückgangs? Der eine Verband hatte sich in seinem Bemühen um Erneuerung eine Perspektive gegeben: Was sind eigentlich die sozialpolitischen Herausforderungen hier bei uns vor Ort? An welchen gesellschaftlichen Fragen unseres Lebenskosmos wollen wir uns beteiligen? 28
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Diese Ausgangsfrage führte zu einem drängenden Problem des Ortes: Wie können unsere Hauptschüler einen Ausbildungsplatz bekommen? Der Verband beschloss, sich dieses Anliegen zu eigen zu machen. Die Planungen beteiligten viele andere Akteure. Dafür nutzten die Mitglieder ihre Beziehungen und Netzwerke aus: Viele lokale Unternehmer, örtliche Politiker und Institutionen wurden mit einbezogen. Im Ergebnis gelang es so, dass den Schülern tatsächlich ein Ausbildungsplatz angeboten werden konnte. Doch es geschah noch mehr: Der Verband wurde wahrgenommen als inter essante Gemeinschaft von Männern und Frauen, die sich für das gesellschaftliche Gemeinwohl engagierten. Das Interesse am Verband wuchs. Und Menschen wollten Mitglieder werden. Der andere Verband hatte – wie viele Verbände – Nachwuchs probleme und beschloss eine intensive Mitgliederwerbung, die allerdings ohne Erfolg war. So schwand seine Attraktivität weiter. — Kirchwerdung im Brennglas —
Wie in einem Brennglas kann diese kleine Erfahrung deutlich machen, welche Kennzeichen eine Kirchwerdung haben wird. Zunächst fällt auch in dieser Erfahrung auf, dass der Verband wesentlich teilhat an den „Freuden und Hoffnungen, der Trauer und Angst der Menschen, besonders der Armen und Bedrängten jedweder Art“ (Gaudium et spes 1). Die Sendungsorientierung des Verbandes richtet sich dabei zum einen an seiner Ursprungssendung aus (beide Verbände sind Sozialverbände), und zum anderen an der konkreten Herausforderung vor Ort. In dieser Orientierung zeigt sich nun dieser Verband als Katalysator gemeinsamer Bemühungen aller Menschen an diesem Ort. Er kristallisiert die Zusammenarbeit vieler gutwilliger Mitbürgerinnen und Mitbürger – wird praktisch eine Plattform der Kommunikation und des gemeinsamen Engagements. So ermöglicht er eine Zusammenarbeit aller Interessierten und stellt sich absichtslos in den Dienst an der gemeinsamen Sache. Theologisch gesprochen verwirklicht dieser Verband einen Akzent der Ekklesiologie des II. Vatikanums: Zeichen und Werkzeug für die Einheit der Menschen mit Gott und der Menschen untereinander zu sein (vgl. 29
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Lumen Gentium 1). Genau diese Handlungsperspektive führt in ihrer Absichtslosigkeit auch hier zur Glaubwürdigkeit. Der Verband wird anziehend für Menschen, die bis dahin noch nicht an eine mögliche Mitgliedschaft gedacht haben: Gemeinschaft mit einem konkreten „Wozu“ und in einem konkreten Handeln, so wird deutlich, ist attraktiv – ganz im Gegensatz zu der Erfahrung des anderen Verbandes: Mitgliederwerbung um des Erhalts und des Fortbestands einer Gemeinschaft willen lockt nicht. Auch hier weitet sich Kirchwerdung in einem nach außen offenen Geschehen. Wahrscheinlich werden eben nicht nur klassische Katholiken plötzlich neu ihr Interesse an diesem Verband zeigen, der sich so intensiv um die konkreten sozialen Herausforderungen bemüht. — Kirche, die sich überschreitet —
Darin steckt eine Reihe von Herausforderungen: Welches Grundverständnis der Zugehörigkeit zu einem kirchlichen Verband braucht es – und welche Vision von Kirchlichkeit und kirchlicher Identität steckt hinter einer solchen Entwicklung? Zweifellos braucht es dabei eine doppelte Perspektive. Zum einen wird die Grundgestalt des Volkes Gottes auf seinem Glaubensweg relevant. Und es gilt ganz deutlich, dass die Kategorien des Christwerdens hier neu bedacht werden müssen. Sehr überzeugend sind in diesem Kontext die Reflexionen von Philipp Bacq6. Im Kontext seiner Überlegungen zu einer zeugenden Pastoral formuliert er präzise die anstehende Frage nach der Zukunftsgestalt des Christlichen: „Die Fragen lauten daher nicht: Wie wird es der Kirche gelingen, neue Christen zu wecken? Welche pastorale Strategien sind zu entwickeln, um darin möglichst effizient zu sein? Absolut nicht. Die Fragen gehen vielmehr in eine andere Richtung: Was geht zwischen Gott und diesen Frauen und Männern vor, die am Beginn des 21. Jahrhunderts leben? Welche 6 Vgl. zum Folgenden P. Bacq, Für eine Erneuerung vom Ursprung her. Auf dem Weg zu einer zeugenden Pastoral, in R. Feiter/H. Müller (Hg.), Teil geben. Pastoraltheologische Impulse aus Frankreich, Ostfildern 2012, 31–55. 30
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Wege nimmt Gott, um sich ihnen zu nähern und zu ermöglichen, dass sie neu zu seinem Leben geboren werden? Inwieweit lädt er die Kirche dazu ein, ihre traditionelle Art zu glauben und zu leben umzuwandeln, um diese Begegnung zu ermöglichen?“7 Vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen wird deutlich, dass sich hier ein neuer Blick auf eine Kirche abzeichnet, die pastoralpraktisch die Wirklichkeit einer geöffneten Zugehörigkeit aufnimmt: Es geht ja gar nicht um die Kirche und ihr Wachstum oder ihren Bestandserhalt, sondern um das Reich Gottes: „Zunächst gilt, dass ungezählte Frauen und Männer allein durch die Art und Weise, wie sie die Beziehungen zu anderen Menschen leben, zu Töchtern und Söhnen werden. Gott teilt sich ihnen mit, ohne dass sie sich dessen notwendigerweise bewusst werden ... Anders gesagt, diese Menschen führen ein Leben, von dem man sagen könnte, dass es bereits in sich sakramental ist: Zeichen für den Lebensstil Gottes, den es im Alltag verwirklicht. Sie sind Menschen der Seligpreisungen, Zeichen für das Reich Gottes. Vom Evangelium her gibt es ja keine ,bloß horizontalen Beziehungen‘ “, die von einer authentischen Beziehung zu Gott abgetrennt wären.“8 Schließlich wird in dieser Erfahrung noch einmal deutlich, dass Kirchenentwicklung dort geschieht, wo Christen sich orientieren an den konkreten Herausforderungen vor Ort und zusammen mit allen Menschen an einer „Zivilisation der Liebe“ (Johannes Paul II.) mitwirken. Dabei gilt es aber eine doppelte Voraussetzung zu beachten: Wo und wann immer Kirche als „Zeichen und Werkzeug“ des anbrechenden Gottesreiches Menschen zusammenfügt, braucht es auch eine tiefe Verwurzelung in der Christusgegenwart, braucht es Christen, die sich als Jünger verstehen und in ihrer Nachfolge Christus als die Mitte ihrer Gemeinschaft bezeugen. „Indem sie Jesus folgen, zeugen diese Frauen und Männer in ihm eine neue Identität: Durch sie wird Jesus zum Stifter und Hirten einer sichtbaren und dauerhaften Gemein-
7 Ebd. 48. 8 Ebd. 50f. 31
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schaft, die Samenzelle der künftigen christlichen Gemeinde.“9 So führt gerade die lokale Sendungsorientierung zurück in eine Wirklichkeit kirchlicher Gemeinschaft, die sich aus Wort und Sakrament speist. Je tiefer Christen sich einlassen auf die Herausforderungen ihres Lebens- und Beziehungsraums, je weiter sie sich öffnen für die ihnen eigene Sendung, desto tiefer wird ihre Identitätssuche sein: Sie werden den suchen, der auf dem Weg ihrer Sendung gegenwärtig ist und sie nährt. Umgekehrt – und das wird schmerzlich deutlich an der Erfahrung des Verbandes, der sich um Mitgliederwerbung bemühte: Dort, wo Bemühungen nur um offensichtliche Bestandswahrung kreisen, wo es also nur darum geht, die eigene Gemeinschaft zu stärken, geschieht ein langsamer Sterbeprozess: Dann scheint – wie in diesem Fall – die Kraft erschöpft, sich wirklich auf die Menschen unserer Zeit einzulassen.
2.3 Die Kraft des Sensus fidelium Im Sommer 2011, bei der Summerschool in Hildesheim – einem fünftägigen Workshop für Teams aus Hauptberuflichen und Ehrenamtlichen, die sich auf den Weg einer lokalen Kirchenentwicklung machen wollten – kam die Anfrage. Wäre es nicht möglich, mit engagierten und interessierten Christen aus einigen Pfarreien in und um Münster einen Einführungsweg in lokaler Kirchenentwicklung zu gestalten? Für uns ein interessanter Vorschlag. Denn auch wir wollen ja lernen, „wie“ es am besten geht – und dazu müssen wir selbst diese Wege mit anderen ausprobieren. Vier kleine Wochenenden (Freitagabend – Samstagnachmittag) konnten wir vereinbaren. Und kurz vor Weihnachten fand dann der erste Abschnitt statt. Die Elemente dieses „Kurses“ kristallisierten sich nach und nach immer mehr heraus. Vor allem zeigte sich, dass es sich um einen dynamischen Prozess handelt, bei dem die gelebte Spiritualität aus dem Wort, die gefeierte Liturgie und die gemeinsame 9 Vgl. P. Bacq, a. a. O., 53. 32
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theologische und pastoralpraktische Arbeit ein „Gefüge“ darstellen, dessen innere Mitte ein theologisch in der Trinität verwurzeltes und pastoralpraktisches Verständnis von Partizipation ist: Das Geheimnis des Kircheseins ist ein Geheimnis der Teilhabe am göttlichen Leben und ein geistgewirkter Prozess der Communio und Kommunikation, das Geheimnis der Offenbarung ist das teilgebende Sprechen Gottes zu den Menschen, der durch sein Wort Kirche hervorbringt, das Geheimnis der Sendung ist die Fortsetzung der liebenden Hingabe und Teilgabe Gottes in die Welt hinein und die Feier der Liturgie will innere Teilhabe am Geschehen dieser Teilgabe sein. So kann auf einem solchen Kursweg eine Weggemeinschaft von Jüngern wachsen, die auf diesem Weg immer mehr selbst entdecken, welchen Weg Gott mit seinem Volk an diesem Ort gehen will. Dazu gehört vor allem die spirituelle Gründung im Wort Gottes und die Entdeckung des eigenen Taufweges und der eigenen Kirchenerfahrungen. — Gott spricht – Gott teilt sich mit und Gemeinschaft entsteht —
Das Hören auf das Wort Gottes im Bibelteilen einzuüben, ist deswegen ein erster Schritt. Jenseits verkürzter Erfahrungen mit der Rezeption dieses Weges10 geht es ja beim Bibelteilen um eine zu erlernende Grundform eines christuszentrierten Umgangs mit der Schrift, die sich in sehr unterschiedlichen Formen ausfalten lässt. Sie ist nicht zu verwechseln mit einer gemeinsamen Form der lectio divina – auch wenn diese vom Bibelwerk geförderte Form des Umgangs mit der Schrift viele Elemente des Bibelteilens aufnimmt. Gospelsharing, Bibelteilen will nun aber genau jenen Horizont öffnen, den die konziliare Konstitution Dei Verbum gewiesen hat. Die einzelnen Schritte des Bibelteilens öffnen den Weg für eine Begegnung mit dem lebendigen Christus im Wort, der 10 Vgl. dazu meine Überlegungen in C. Hennecke, Glänzende Aussichten, Münster 22011, S 180–195. 33
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die Hörenden in seinen Leib hineinnimmt und sie sich als Kirche entdecken lässt, die konkret gesandt ist an dem Ort, an dem sie lebt, und dort im Lebens- und Beziehungsraum die Sendung Jesu weiterführt. Auch im Münsterland wird diese Erfahrung zur tragenden Mitte. Ein beredtes Zeichen: Denn es ist immer wieder erfahrbar, wie begeistert und zugleich überwältigt engagierte Christen sich einlassen auf diese Form einer tiefen Christusbegegnung. Es macht auch deutlich, dass Wege des Bibelteilens so etwas sind wie eine mystagogische Einführung in eine Christusfreundschaft, damit aber einführen in eine partizipative Logik des Anteilnehmens und Anteilgebens der eigenen Erfahrung mit dem Wort und der Christusbegegnung, in eine Spiritualität der Gemeinschaft11, die so etwas wie eine Grundgestalt gemeinsamer Spiritualität ist – eine Spiritualität des Volkes Gottes. — Taufe entdecken —
Vor diesem Hintergrund entwickelt sich der Kursweg weiter. Die eigene Berufungsgeschichte zu entdecken und zu teilen und damit die Würde und Reichweite der Taufberufung zu entdecken – das ist ungewöhnlich: „Ich habe doch keine eigene Berufung, keine eigenen Gaben – wann bin ich schon mal Gott begegnet?“, so eine engagierte Frau aus der Pfarrei. Erst Schritt für Schritt wird diese Entdeckung wichtig. „Wir haben keine eigenen Gaben und Charismen“ – „Niemand hat je nach diesen Dingen gefragt“ – „Ist das nicht peinlich, eigene Gaben zu benennen?“: So sagen einige am ersten Kurstag am Ende zu uns, um am letzten Kurstag auszurufen: „Jetzt brauchen wir einen Charismenkurs – wie können wir das machen?“ In der Tat, hier hat nicht nur ein „Kurs“ stattgefunden, der informiert – hier hat ein Glaubensweg angefangen, der sowohl spirituell transformiert als auch eine ganz eigene theologische und pastorale Kompetenz des Gottesvolkes entstehen lässt.
11 Vgl. Johannes Paul II., Novo Millennio Ineunte, 43, VAS 150. 34
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— Den eigenen Weg zum Kirchesein entfalten —
Nirgends wird das für uns so sichtbar wie beim gemeinsamen Nachdenken über die Entwicklung des Kirchenverständnisses und die eigene Zielvision. Dabei verwenden wir ein Modul, das schon rund um die Welt gelaufen ist. Schon in den siebziger Jahren hatten Oswald Hirmer und Fritz Lobinger im Lumkoinstitut ein Praxismodul entwickelt, bei dem es um die erfahrene Kirchenentwicklung und Wachstumsschritte im Kirchenverständnis geht. Über die Prozesse in Indien und den Philippinen sind wir auch mit diesem Modul in Berührung gekommen. Hier im Münsterland wird uns dabei deutlich, welche innere Kraft diese ganz einfache – partizipative – Methode entfaltet, die man „Schritte auf dem Weg zu einer eigenen Vision des Kircheseins“ nennen könnte. Sie besteht ganz einfach aus Bildern, die zum Denken anregen. Ich werde mich immer an diesen Tag im Januar 2012 erinnern, an dem wir mit der Gruppe von etwa 50 Personen diese Entwicklungswege des Kircheseins anschauen. In meinem Leben hatte ich immer eine Begeisterung für Ekklesiologie, für die Lehre und das Verstehen der Kirche – aber nie zuvor habe ich eine solche Erfahrung gemacht: 50 engagierte Erwachsene, die miteinander verschiedene Phasen unserer Kirchenentwicklung bedenken, miteinander diskutieren, einander zuhören und ergänzen, ja korrigieren. Die Bilder machen es möglich – aber vor allem jene Atmosphäre, die uns weiterhin existenziell im Austausch sein lässt und in der neues Wissen geboren wird. Eine Ekklesiologie des Volkes Gottes höre ich in diesen drei konzentrierten Stunden – eine Ekklesiologie, die sich unterscheidet von einer akademischen und einer lehramtlichen Lehre von der Kirche, weil sie eben aus der eigenen Erfahrung spricht. Kirchenentwicklung wird hier vom Volk Gottes her gesehen: ein Weg, der von einer priesterzentrierten Kirche der Versorgung über eine ehrenamtliche Helferkirche bis hin zu einer Kirche der Aktionsgruppen reicht – immer erfahrungsgesättigt, immer ohne Urteile, mit einem klaren Blick für die Vor- und Nachteile der jeweiligen Entwicklungsstufe; und mit einem klaren Blick für die eigenen Erfahrungen in diesen „Typen des Kircheseins“, 35
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die ja parallel existieren. Der letzte Typ, den wir gemeinsam anschauen, ist eine Kirchengestalt, in der an vielen einzelnen und unterschiedlichen Orten innerhalb der Pfarrei Gemeinschaften wachsen, in deren Mitte der auferstandene Christus steht. Es ist einfach erstaunlich, welche Fragen und Thesen sich an diesen Bildern aufhängen: Welche Rolle haben die Getauften, welche Rolle hat der Priester, welche Bedeutung hat die gemeinsame Eucharistiefeier – was bedeutet es, gemeinsam das Wort Gottes zu lesen und zu leben, und welche Spiritualität wird im Dienst an den Kranken und in der Schule sichtbar? Über all das diskutieren wir, und ich fühle mich erinnert an mein Theologiestudium: Die Rede vom Glaubenssinn der Gottesvolkes, von einer Theologie des Volkes Gottes kommt mir in den Sinn12. Hier erlebe ich das begeisternd realistisch. Wir alle erleben das – und ich frage mich, ob nicht das große Versäumnis vieler verantwortlichen Pfarrer eben auch darin liegt: in einer Förderung der theologischen Kompetenz des Gottesvolkes als Gemeinschaft der Gläubigen. Hier geht es ja nicht in erster Linie darum, Theologiekurse abzuhalten, so wichtig das für einzelne begabte Christen sein wird – sondern es geht vor allem darum, mit dem Volk Gottes in eine gemeinsame Reflexion einzutreten, dem intellectus fidei des Gottesvolkes etwas zuzutrauen und ihn ins Spiel zu bringen. Es fehlen für diese einfache und doch so spirituelle und praktische Theologie, die sich hier vor meinen Augen entfaltet, offensichtlich sowohl die praktisch-methodischen Module als auch die Teams von „Ermöglichern“, die Menschen auf diesen Weg führen und damit auch ihre Würde als „Theologen“ ins Licht rücken: den eigenen „Sensus fidei“ und den gemeinsamen „Sensus fidelium“ entdecken – nicht im Kontrast zu Lehramt und Theologie, aber als unbedingte Ergänzung der „theologischen Orte“13. Genau dieser Existenzmodus des theologischen Nachdenkens fehlt 12 Vgl. Lumen Gentium 12. Es gehört zur Lehre der Kirche, dass der Glaubenssinn des Gottesvolkes, die gelebte Tradition der Christen eine eigene Quelle der Erkenntnis ist. 13 Immer noch grundlegend zum Thema: M. Seckler, Loci theologici, in LThK3, Bd 6 (1997), 1014–1016. 36
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heute vor allem der praktischen Theologie – und macht sie häufig intellektuell bedeutsam, aber nicht relevant. Der Bedeutungsverlust praktischer Theologie hat in unseren Breiten eben genau mit seiner Entwurzelung aus der lebendigen Erfahrung des Volkes Gottes zu tun. Umgekehrt fehlt auch einer lehramtlich korrekten Dogmatik etwa in Katechismen der praktische Weg, die Theologie des Volkes Gottes zu heben. Eine solche Kunst kann dann erlernt werden, wenn Vertrauen in den Geist Gottes investiert wird, der in den Christgläubigen am Werk ist – und wenn die Kunst erlernt wird, diesen zu heben. Hier geht es eben nicht darum, die alten Schützengräben einer konservativen Theologie von „oben“ und eines kämpferisch in Anschlag gebrachten „progressiven Gottesvolkes von unten“ neu zu beleben – diese Antagonismen erscheinen mir in der Tat mehr als überholt und einer Phase postkonziliarer Dialektik anzugehören, die in ihren letzten Epigonen vor allem medial inszeniert wird. Es geht vielmehr um einen unglaublichen Schatz: Die engagierten Christgläubigen, so erlebe ich es nicht nur im Münsterland, haben eine große Sehnsucht nach einer spirituell verwurzelten Vertiefung ihres Glaubensweges – nach einer neuen Weise, Theologie zu leben — Die Vision einer zukünftigen Kirche entfalten —
An einer Stelle haben wir die Pädagogik unseres Praxismoduls entscheidend verändert. Anstatt ein visionäres Schlussbild einer Kirche als Gemeinschaft von Gemeinschaften vorzugeben, haben wir die Teilnehmer eingeladen, ihr Zielbild selbst zu gestalten: In kleinen Gruppen und ausgestattet mit „Segmenten“ aus den verschiedenen Wegstationen der Kirchenentwicklung soll nun eine eigene Vision des Kircheseins in einem Bild dargestellt werden. Ein theologisches Spektakel. In allen Collagen wird deutlich, dass das Alpha und Omega zukünftiger Kirche darin besteht, dass Christus die Mitte von allem bildet. Ein heiteres Spektakel. Mit großer Heiterkeit und Freude machen sich die Gruppen an ihre Aufgabe. Und wieder zeigt sich die Tiefe und Intelligenz, mit der wir im Anschluss an diese Übung 37
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alle einander unsere „Visionen“ mitteilen: Die veränderte Rolle des Priesters, die Dienste und Aufgaben der Gläubigen, die große Gemeinschaft aller, die Sendung, die Feier der Eucharistie – und der Weg des Gottesvolkes, alles findet seinen Platz. Ich staune. Ich staune über die Reife des Gottesvolkes. — Feiern, was wir entdecken —
Tief eindrücklich sind dabei an jedem der Abschnitte die liturgischen Feiern: Die Vertiefung des eigenen Taufweges haben wir um den Taufbrunnen mit einer Tauferinnerung gefeiert – in einer Kapelle der Gemeinde haben wir versucht, unser Beten für die Gemeinde in einem Fürbittgottesdienst zu bündeln. Andere Formen einfacher mystagogischer Liturgien haben wir zum Abschluss gefeiert, und sie haben die Menschen, mit denen wir unterwegs waren, zutiefst berührt. Die Liturgie war wirklich immer die Feier und Verdichtung dessen, was wir miteinander gelebt, gedacht, besprochen hatten. Gerade diese kleinen „Wegliturgien“ führen in die Tiefe des Erlebten und zeigen deutlich, wie sehr dieser „Kurs“ eben kein „Kurs“ ist, sondern eine Transformationsund Wandlungsgeschichte des Volkes Gottes auf dem Weg.14
2.4 Evangelisierung in Bodenwerder und anderswo Ich habe keine rechte Motivation, heute morgen hier in Zürich. Wie so oft in den vergangenen Jahren dürfen wir als Team die Pfarrei in Maria Lourdes begleiten auf ihrem Weg der lokalen Kirchenentwicklung. Und auch heute morgen beginnen wir mit dem Bibelteilen. Und je weiter es voranschreitet, spüre ich, wie sehr sich die Atmosphäre in unserem Saal verändert. Im fünften Schritt wird deutlich, was genau diese Veränderung bedeutet: Was 14 Es mag sein, dass Interessierte jetzt fragen, ob sie die Inhalte dieses „kleinen Kirchenkurses“ und auch Modelle der Liturgie irgendwie erhalten können – das geht noch nicht, weil sie selbst erst am Anfang eines Entwicklungsprozesses stehen. Allerdings sind wir gerne bereit, Interessenten Anteil zu geben an unseren Erfahrungen. 38
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die Menschen hier teilen, was sie austauschen, das entspringt aus einer tiefen Christusbegegnung – das ist kein Kommentar zur Heiligen Schrift, sondern ein Teilen des Wortes, das direkt ins Leben spricht. Alle merken das – und auch Tränen fließen. Ich bin auch sehr berührt, und voller Energie. Der Tag geht weiter, mit dem Programm, das wir uns vorgenommen haben – aber es ist anders. Wir leben aus der Erfahrung des Morgens, aus dem Hören des Wortes, das uns verwandelt hat. So intensiv habe ich das noch nie vorher erlebt, aber es ist wahr, dass dieser Umgang mit dem Wort, wie er sich im Bibelteilen erfahren lässt, eigentlich immer den Zugang zu jedem Kirchenentwicklungsprozess eröffnet. Bei den vielen Workshops und Prozessen, die in den vergangenen Jahren stattgefunden haben, ist es immer dieser Umgang mit der Schrift, der den Horizont eröffnete, der Menschen bewegte und begeistert – und sie weitergehen lässt. — Eine Grundform der Spiritualität —
Bischof Norbert Trelle aus Hildesheim formuliert in seinem Hirtenbrief zur Lokalen Kirchenentwicklung: „Wir leben aus der Beziehung zu Gott unserem Vater, wir leben aus dem Hören auf das Wort Gottes, wir leben aus der Kraft der Geistes-Gegenwart. Im Gebet und im Gottesdienst kommt dies in besonderer Weise zum Ausdruck. Von hier aus erhalten unsere Aktivitäten ihren letzten Sinn. Deshalb stellt sich die Frage: Wie können wir lernen, unser Christsein aus dem Hinhören auf Gottes Wort zu gestalten? Und die andere Frage: Trauen wir uns zu, unsere Glaubenserfahrungen miteinander zu teilen? In den Gemeinden unseres Bistums habe ich ganz unterschiedliche Beispiele für solche Formen des geistlichen Lebens kennengelernt. Die Prozesse Lokaler Kirchenentwicklung werden nicht darauf abzielen, immer neue Gruppen zu gründen. Vielmehr liegt ihnen die Idee zugrunde, miteinander eine Grundform der Spiritualität in unseren Gemeinden zu entwickeln“.15 Es geht um diese Grundform einer gemeindlichen Spiritualität. Sie ist mehr als eine Beschäftigung mit dem Wort Gottes, 15 Bischof Norbert Trelle, Hirtenwort zur österlichen Bußzeit 2011. 39
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sie ist auch keine Form des besseren Verständnisses der Schrift, sondern im tiefsten Sinne des Wortes Evangelisierung: Gottes Vertrautwerden mit uns und unser Vertrautwerden mit ihm und so untereinander – durch sein Wort. Und diese Evangelisierung durch sein Wort führt zu einer neuen Sicht auf die Kirche, und einer Sehnsucht, das Leben aus dem Glauben tiefer zu gestalten. Seit Jahren hört man, dass gerade dieser existenzielle Umgang mit der Schrift, vor allem aber der Austausch über den Glauben, in deutschen Gemeinden schwierig sei. Das sei ein Tabu – und wir Deutschen seien das nicht gewohnt. Ich muss sagen: dieses Wanderlogion deutscher Pastoral stimmt überhaupt nicht. — Bodenwerder reloaded —
Am besten lässt sich das beschreiben im Blick auf einen Entwicklungsprozess, der seit Herbst 2010 in einer Pfarrei des Weserberglands läuft. „Wolfserwartungsland“: eine Gegend mit einer schwachen industriellen Infrastruktur, in der deswegen auch ein deutlicher Bevölkerungsrückgang und eine Überalterung festzustellen sind. „Hilf mir“, so bittet mich der sympathische Pfarrer. „Werde ich tun, aber nur wenn aus jeder der drei Teilgemeinden mindestens 5 Personen bei einer Zukunftswerkstatt mitmachen.“ Ganz gegen meine Erwartung hat er in zwei Monaten diese Menschen auch gefunden und ich fahre hin: Es beginnt ein nun mehr als zweijähriger Abenteuerweg, der tiefe Erkenntnisse und Einsichten über das Volk Gottes schenkt. Der erste Abend: Ich sitze mit zwanzig Personen zusammen und bin ein wenig ratlos. Wie genau könnten wir beginnen? Ich frage einfach: „Vielleicht machen wir eine Vorstellungsrunde. Und könnte nicht jeder auch erzählen, warum er heute hier zur Zukunftswerkstatt kommt?“ Ich – wir alle – erleben zwei wunderbare Stunden. Denn die Vorstellungsrunde wird zu einem tiefen Teilen der eigenen Glaubenserfahrungen und der eigenen Glaubensgeschichte. Die Offenheit und Freiheit, in der dies geschieht, ist beeindruckend. Und in meinem Herzen denke ich: „Das ist doch die Zukunft – sie ist schon da“. Und mir wird eines deutlich: Diesen Weg kann ich nicht als „Referent“ gehen. Es muss ein geistliches Team sein, das diesen 40
2.4 e va n g e l i s i e r u n g i n bo d e n w e r d e r u n d a n d e r swo
geistgeprägten Weg mit den Christen aus Bodenwerder geht. Zum Glück sind wir ja im Bistum in einem Team unterwegs – und so wird diese Zukunftswerkstatt ein gemeinsam vorbereiteter und gestalteter Weg. Es zeigt sich schnell, wie wesentlich und wie fruchtbar es ist, wenn wir, meine Kollegin und ich, gemeinsam diese Entwicklung begleiten. Denn in dem „Wir“, das wir sind, können die anderen entdecken, wie sie selbst ein „wir“ sein können – und dass dieses „Wir“ ein Ort der Christusgegenwart ist. In den nächsten Monaten erleben wir genau dies immer wieder: im Teilen des Wortes Gottes, im Nachsinnen über unsere Glaubensgeschichte, im Hinspüren auf unsere Charismen und Gaben, im Blick auf die Kirchenentwicklung und die Merkmale des Kircheseins – immer ist es die Erfahrung der Christusgegenwart, der Raum, der sich durch sie öffnet und den Austausch der eigenen Glaubenserfahrungen ermöglicht. — Das Wort erschließt sich neu —
Wieder so ein Abend. Ich bin müde. Heute abend muss ich allein nach Bodenwerder – und ich bin ganz unsicher. Und ich komme zu spät. Als ich dann da bin, beginnen wir mit dem Bibelteilen – nein, nicht sofort: In der Anfangsrunde lade ich zu einem Ankommen mit der Frage ein, was uns zur Zeit Hoffnung schenkt. Und das Teilen dieser Erfahrungen führt uns dann zum Austausch über die Schrift. Und hier mache ich wieder die Erfahrung, die ich schon so oft machen durfte. Es ist dieses Teilen, das den Unterschied macht. Im Teilen einer Stelle des Römerbriefs wachsen so viele lebensrelevante Einsichten, dass wir eigentlich den ganzen Abend im Nachdenken über die Konsequenzen dieser reichen Einsichten verbringen. Nach zwei Jahren – und zehn Abenden in Bodenwerder – stehen wir bei der Evaluation. Es ist ein langer Weg, aber es braucht diese langen Wege, um zu wachsen. Und genau das bezeugen alle Teilnehmer: wie nämlich dieser Weg sie persönlich verändert hat. Der eigene Glaube ist gewisser geworden, der eigene Weg in der Kirche deutlicher geworden – und der Austausch über das Wort ist „notwendig“ geworden. 41
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Wie könnte es jetzt in der Pfarrei weitergehen? Denn so sicher es ist, dass für die kleine Gruppe hier eine Revolution des Evangeliums stattgefunden hat – wie kann jetzt die Pfarrei als ganze mit auf den Weg kommen? Auch hier denken wir am letzten Abend darüber nach – und finden erste Schritte, die gemeinsam mit dem Pfarrer und dem Pfarrgemeinderat in den Blick genommen werden können. Es zeigt sich deutlich: die eigene Erfahrung will weitergegeben werden, will weiterwachsen – aber um dies zu können, braucht es ein Team, das sich gemeinsam weiter stärkt und begleitet wird. Das Abenteuer ist mit diesem kleinen Prozess nicht beendet – es fängt erst richtig an. — Evangelisierung neu buchstabieren ... —
Immer mehr zeigt sich das Bibelteilen in seiner großen Variantenbreite als eine zugängliche Grundform einer Spiritualität, die genau ins Licht rückt, was es für die Identitätsbildung der Christen in Zukunft braucht. Entscheidend ist ja hier nicht, dass man in einer Orthodoxie des Bibelteilens immer die sieben Schritte abgeht, sondern entscheidend ist und wird sein, wie sehr man im Umgang mit der Schrift die Tiefe eines Offenbarungsverständnisses entdeckt und pastoralpraktisch wirksam macht, wie es in der Offenbarungskonstitution des II. Vatikanums skizziert wurde. Das glaubende Hören des Wortes Gottes16 ist ja ausgerichtet auf den Grundvollzug der Offenbarung schlechthin – es geht darum, dass Gott sich den Menschen durch sein Wort zuwendet und sie in sein Leben einbeziehen will, ihnen eben Anteil geben will an seinem Leben. Im Hören des Wortes geschieht nun Begegnung mit dem lebendigen Christus. Damit ergibt sich eine wichtige Reflexion auf die Frage nach dem Umgang mit der Schrift. So sehr die exegetischen Methoden hilfreich sind, den Text der Schrift zu entdecken, und so sehr gerade die Exegese der Schrift vom Lehramt ermutigt und zugleich 16 „Dei Verbum fideliter audiens“, so der programmatische Auftakt der Offenbarungskonstitution des II. Vatikanums, DV 1. 42
2.4 e va n g e l i s i e r u n g i n bo d e n w e r d e r u n d a n d e r swo
relativiert wird, so sehr zeigt sich aber auch, dass lehramtliche und theologische Interpretation der Schrift eben den verbindlichen Rahmen und damit einen existenziellen Umgang des Volkes Gottes mit der Schrift ermöglichen, der nicht als graduelle Abstufung, sondern als eigener theologischer Ort verstanden werden will17. Das bedeutet nun, dass in den vergangenen Jahrzehnten bis heute der Umgang mit der Schrift im Volk Gottes häufig nicht die Tiefendimension erreichte, die das konziliare Offenbarungsverständnis nahelegte: Auch die Formen der Bibelarbeit und die vielfältigen Bibelkreise, die entstanden, orientierten sich vor allem an der korrekten Interpretation des Evangeliums und reflektieren damit weiterhin ein Offenbarungsverständnis, das mit der Richtigkeit der Auslegung verwechselt wird. Ginge es um korrekte exegetische Interpretation, dann hätte hier in der Tat die Sorge aller pastoral Verantwortlichen ihren Platz, die bei unbegleiteter Schriftauslegung Willkür und Häresie befürchten. Konsequenz einer solchen Bibelpastoral wäre dann aber, dass Bibelarbeit nur dort gelingt, wo kompetente oder doch hinreichend kompetent gemachte Christen solche Kreise verantworten. Damit aber bleibt eine solche Bibelpastoral hinter den Herausforderungen des Offenbarungsverständnisses des II. Vatikanums zurück und konstruiert eine Expertokratie, die ihrerseits genau das verhindert, was Dei Verbum treffend formuliert: „Der Zugang zur Heiligen Schrift muss für die an Christus Glaubenden weit offenstehen“ (DV 22). Dies muss so sein, denn im Hören des Wortes Gottes geschieht Teilgabe am Leben Gottes, mithin Evangelisierung in ihrem eigentlichen Sinn: „In den Heiligen Büchern kommt ja der Vater, der im Himmel ist, seinen Kindern in Liebe entgegen und nimmt mit ihnen das Gespräch auf“ (DV 21). Der existenzielle Umgang mit der Schrift, wie er in den vielfältigen Wegen des Bibelteilens geschieht, hat ja nicht die Auslegung der Schrift zum Ziel, sondern die Begegnung mit dem auf17 Vgl. dazu ausführlicher: R. Huning: Die Bedeutung der gemeinschaftlichen Bibellektüre der Gläubigen für die katholische Kirche – bibeltheologische und hermeneutische Überlegungen, in C. Hennecke (Hg.), Kleine Christliche Gemeinschaften verstehen, Würzburg 32011, 159–186. 43
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erstandenen Christus durch das Wort, die die Hörenden in eine Gemeinschaft hineinführt, Kirche wachsen lässt und durch das Wort Lebensveränderung, Zeugnis und Sendung ermöglicht. Die konziliaren Hinweise vertiefen auch noch einmal die Aufmerksamkeit für den ekklesialen Lebensraum dieses Hörens: Die Heilige Schrift soll „in dem Geist gelesen und ausgelegt werden, in dem sie geschrieben wurde“ (DV 12). Dieser Hinweis verweist auf die konstitutiv kirchliche, also gemeinschaftlich geprägte Grundwirklichkeit eines solchen Umgangs mit der Schrift. Denn vor dem Hören des Wortes Christi konstituiert sich die hörende Gemeinschaft schon in seiner Gegenwart, nimmt wahr, dass nicht sie die Schrift liest und sich zu eigen macht, sondern Christus selbst hier sein Wort durch das Wort der Schrift sagt. Dieser komplexe theologische Zusammenhang wird in den beschriebenen Erfahrungen und Prozessen einerseits in ungeahnter Einfachheit bezeugt – und zugleich zeigt sich, dass die Methoden des Bibelteilens eine anspruchsvolle Mystagogie voraussetzen und eine Umkehr zur Einfachheit der Begegnung mit Christus einleiten. Genau eine solche Evangelisierung des Volkes Gottes – eine solche Selbstevangelisierung – ist in der Situation des Umbruchs geeignet, Menschen auf ihrem Glaubensweg zu begleiten und ihnen einen immer tieferen Zugang zum Geheimnis Gottes zu eröffnen, die zu Umkehr, Zeugnis und Sendung führt. Damit wird klar, dass auch ein solcher generativer Prozess des Kirchewerdens der Einübung und Begleitung bedarf, damit die Einfachheit und Tiefe dieses Weges nicht verlorengehen und zugleich auch die Tragweite dieses Umgangs mit der Schrift als kirchengenerativer Prozess ansichtig bleibt.
2.5 Die kopernikanische Wende Wir hören fasziniert zu. Was bedeutet lokale Kirchenentwicklung für Verbände, was für Familienbildungsstätten, für eine Schule, eine katholische Altenheimseelsorge? In verschiedenen Studientagen versuchen wir vom Fachbereich Missionarische Seelsorge, die Konsequenzen der diözesanen Perspektive einer Lokalen Kir44
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chenentwicklung deutlicher zu verstehen, um unsere Arbeit entsprechend zu perspektivieren. Im Hirtenbrief Bischof Trelles zur Lokalen Kirchenentwicklung lesen wir: „Unsere Gemeinden bieten vielen Menschen Heimat. Damit könnten wir zufrieden sein, auch wenn wir zahlenmäßig weniger werden. Aber wir müssen einen Schritt weiter gehen. Innerhalb unserer Pfarreien werden unterschiedliche Gemeindegestalten wachsen. Gerade diese Vielfalt kann bereichernd sein. Neben den Gruppen, Gemeinschaften und Verbänden, die das kirchliche Leben schon jetzt prägen, werden Kleine Christliche Gemeinschaften in Stadtteilen und Dörfern wachsen; Kirche wird auch gelebt werden in Schulen, Kindertageseinrichtungen und Altenheimen – unabhängig von Kirchengebäuden und Gemeindezentren.“ „Das ist alles schon da – das wird nicht erst geschehen“, so entdecken wir. Schon seit Jahren verstehen sich viele Einrichtungen auf diesem Weg, und es wird immer deutlicher, dass sich hier eine deutliche Wende abzeichnet. In großen Städten und Mittelzentren wie Hannover und Salzgitter zum Beispiel werden die beiden katholischen Familienbildungsstätten zu Motoren einer familienorientierten und sozialraumorientierten Pastoral, die ihrerseits neue Orte des Anbrechens des Reiches Gottes bezeugt und dabei auch ein Baustein neuer Orte des Kircheseins ist. Besonders deutlich wird dies auch für die katholischen Schulen: Gerade Erfahrungen mit Tagen Religiöser Orientierung machen deutlich, welche Sehnsucht nach Glauben und spiritueller Erfahrung in den jungen Menschen vorhanden ist – diese gemeinschaftsbildende Erfahrung ist aber nicht mehr mit den klassischen Gemeindekontexten zusammenzubringen. Was wir in Exposurereisen nach London als „fresh expressions“ kennengelernt haben, was von den Bischöfen unter dem Stichwort „mixed economy“ hin zu einer Vielfältigkeit der Kirchenlandschaft führte, all dies ist für den deutschen Kontext nicht eine ferne Vision, es ist eher umgekehrt: Wer mit einer solchen Perspektive auf die lokalen Kirchenentwicklungen in unserem Land schaut, wird entdecken, dass dieser Wandlungsprozess schon lange begonnen hat – mit vielen Fragen. 45
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Mir kommt, während wir staunen über die sehr profilierten Kirchenentwicklungsgeschichten, an denen wir Anteil nehmen können, eine erste Konsequenz in den Sinn, die sich mir bildhaft mit dem Begriff der Kopernikanischen Wende verbindet. — Eine neue Einsicht in die kirchliche Wirklichkeit —
Was Kopernikus entdeckte, verwirrte die damalige Weltsicht, die ja auch gute philosophische Gründe hatte. Dass die Erde der Mittelpunkt des Kosmos ist und sein muss, weil ja der Mensch die Krone der Schöpfung, das war ein echter, aber verständlicher theologischer Fehlschluss. Dennoch – Kopernikus konnte belegen, dass die Sonne der Mittelpunkt des uns bekannten Planetensystems ist, zu dem die Erde gehört. Diese Relativierung macht die Erde nicht weniger wichtig, ordnet nur die Verhältnisse. Dennoch – eine solche Relativierung hatte gewiß weitreichende Konsequenzen. Analog gilt: Die Erfahrung, dass jenseits klassischer Gemeindegefüge neue Bezeugungsorte des Christseins entstanden sind und neue kirchliche Orte entstehen und wachsen, bedeutet einen pastoraltheologischen Umkehrprozess, der reich an Konsequenzen ist – und genauso verwirrend unerhört wie die kosmische kopernikanische Wende. Denn der Kirchenkosmos, der doch seit den siebziger Jahren nahezu auf die Pfarrgemeinde fixiert war, während zugleich kategoriale „Planeten“-Seelsorge irgendwie abgetrennt war – und alles hinzuordnen war auf den Rahmen einer gemeindetheologisch konfigurierten Pfarrei –, dieser Kirchenkosmos gerät nun unter eine neue Perspektive. Die gewachsene Gemeinde ist einer, zweifellos der klassische, Ort der Kirchenbildung innerhalb einer Pfarrei – aber er ist nicht mehr der einzige, und vor allem ist er nicht die „eigentliche“ Kirchenwirklichkeit. Es bildet sich seit einiger Zeit eine vielfältige Kirchenlandschaft, und gerade die ehemals „kategorialen“ Orte pastoralen Handelns gewinnen eine neue Relevanz: Vielfach sind sie Orte geworden, an denen Kirchenbildung geschieht. Was im englischen Sprachraum „Kirche für ,Beginner‘ “ benannt wird, zeigt sich bei 46
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uns in vielfältigen Einrichtungen und dem, was sich in ihnen als anfanghafte Kirchenbildung erkennen lässt. — Die Mitte ist die Sonne —
Diese attraktiven und gesuchten Bezeugungsorte des Evangeliums machen deutlich, dass eine bestimmte Sozialform der Kirche nicht das Ziel kirchlicher Pastoral ist: Kirche muss immer über sich hinauswachsen, denn sie bezeugt ja nicht sich selbst, sondern die Gegenwart Christi. Insofern ist diese Entwicklung genau im Einklang mit dem, was das II. Vatikanische Konzil programmatisch in seiner Kirchenkonstitution formuliert: Christus ist das Licht der Völker, die Kirche ist Zeichen und Werkzeug (vgl. Lumen Gentium 1). Im Blick auf unser Bild von der kopernikanischen Wende kann man dann in der Tat von einer „planetarischen Ekklesiologie“ sprechen. Jeder der kirchlichen Bezeugungsorte ist herausgefordert, auf seine Weise und in seiner spezifischen Sendung das Christusgeheimnis zu bezeugen – und Teil eines kirchlichen Gesamtgefüges zu werden. Diese Vervielfältigung kirchlicher Bezeugungsorte und der damit verbundenen anfänglichen Gemeindebildungen entspricht den Zeichen der Zeit. Das Ende einer milieuhaften Konfiguration des Christentums hatte zum Eindruck einer tiefen Krise der Kirche beigetragen. Die klassischen Messinstrumente kirchlichen Lebens und das damit verbundene Bild eines selbstverständlichen Christseins, das nur begleitet, verwaltet und differenziert werden will, stimmen nicht überein mit der faktischen Vervielfältigung der Glaubensbiographien und der damit verknüpften Glaubenssituation. In einer pluralistischen und individualisierten Gesellschaft ist die faktische Kirchenwirklichkeit nicht an einem einzigen Ort auffindbar: die klassischen Gemeinden sind nur noch ein Ort gelebter Kirchenpraxis, der sehr voraussetzungsvoll ist, insofern er als Sozialform die Konstitutionsbedingungen ererbter Christlichkeit reflektiert und eine selbstverständliche Glaubensweitergabe an die nächste Generation postuliert – und hier alle Energie einsetzt. Tatsächlich ist aber unsere Zeit schon längst eher einer grundlegend katechumenalen Situation vergleichbar: Menschen sind 47
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weder in Abgrenzung noch in Zuwendung mit der christlichen Botschaft und dem christlichen Glauben vertraut. Sosehr die Sehnsucht nach Glauben und Orientierung vorhanden ist, so sehr sind auch die klassischen Antwortmuster nicht mehr angemessen. Umgekehrt haben unsere Zeitgenossen schon längst ihre Antwort gefunden: Dort, wo sie das Evangelium vom Heil spüren, wo es ihnen glaubwürdig bezeugt wird, dort erwarten sie auch Heimat, Zugehörigkeit und Wachstumsmöglichkeiten und Nahrung für ihren Weg. Man könnte im pastoralpraktisch gewendeten Bild der kopernikanischen Wende formulieren: Dort, wo Christus als das Licht der Welt authentisch bezeugt und so erfahrbar wird – und diese Mitte wird gesucht –, dort kann der Wunsch nach Jüngerschaft wachsen, dort entsteht Kirche: „Seit einiger Zeit feiern wir in unserer Familienbildungsstätte Gottesdienste mit Familien – die Eltern haben uns gefragt“, so die Leiterin bei unserem Studientag. Und dass junge Menschen offen für eine ansprechende Verkündigung wie für soziales Engagement sind, dass sie sich für mystagogische Liturgien oft weiter als Erwachsene öffnen können – das lässt sich vielfältig entdecken. Das gilt aber genauso für erwachsene Zeitgenossen. Sowohl gewachsene und engagierte Christinnen und Christen als auch neugierig offene unkirchliche Menschen suchen unbefangen nach dem Ort des Findens und der Zugehörigkeit, über alle Konfessionen und Traditionen hinweg: Dort, wo die Erfahrung des Heils, der Heimat, der Würdigung der Person und ihrer Gaben, die Möglichkeit des angemessenen Engagements der Gaben besteht – dort wird Authentizität erfahrbar und dorthin bewegen sich Menschen auf ihrem Lebensweg, wenn hier gastfreundliche Offenheit erfahrbar wird. Der Vielfältigkeit der Glaubenssituationen und der Menschen entspricht deswegen die Vielfältigkeit alter und neuer, gewachsener und entstehender Orte der Bezeugung des Evangeliums. In der Tat ergeben sich daraus viele Fragen. Aber wer sich vor diesen Fragen nicht fürchtet, erlebt zur Zeit alles andere als einen kirchlichen Niedergang. Er erlebt vielmehr eine erstaunlich kreative Aufbruchssituation und eine ungeahnte Vielfalt kirchlicher 48
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Orte. „Ich habe gedacht, hier im Zentrum von Köln gibt es nur einige wenige Kirchengemeinden – und nach meiner Recherche bin ich ziemlich überrascht über den Reichtum so vieler kirchlicher Gemeinschaften und kirchlicher Orte“, so erzählt mir ein Journalist im Kontext eines Radiointerviews zur Zukunft der Kirche. „Und wenn Sie jetzt noch die Entwicklungen in der evangelischen Kirche und in den Freikirchen dazunehmen – wer käme dann auf die Idee, von einer Kirchenkrise zu sprechen?“, ergänze ich. In der Tat: Wenn die Mitte unserer Analyse der Kirchenentwicklung nicht mehr die Sozialform der klassischen Gemeinde steht, sondern die kirchenzeugende Kraft des gegenwärtigen Christus, dann leben wir in einer umwälzenden Aufbruchsbewegung. Allerdings: Viele Fragen bleiben. — Konsequenzen für die sakramentale Grundgestalt der Kirche oder: Welche Zukunft hat die Pfarrei? —
Vom Ende der Gemeindetheologie und einer monopolistischen Sozialform zu sprechen, ist dann also nur die eine Hälfte der Wahrheit. Aber mit dieser relativierten, dennoch weiterhin bedeutsamen Gestalt kirchlichen Lebens verknüpft ist die konstitutive Frage nach der sakramentalen Grundgestalt der Kirche. Hier braucht es neue Antworten, hier muss die „kopernikanische Wende“ weiter dekliniert und konjugiert und theologisch wie pastoralpraktisch entfaltet werden. Zum einen zeigt sich hier, dass neu über den konstitutiv sakramentalen Sinn der kirchlichen Basisgestalt nachgedacht werden muss. Die Pfarrei ist ja jener Raum, der die Vielfalt der kirchlichen Bezeugungsorte des Evangeliums ermöglichen und entwickeln hilft, indem durch die Feier der Sakramente, die sakramentale Verkündigung und die sakramentale Leitung diese zuallererst als Bezeugungsorte und Sammlungsorte der Christusgegenwart und seines Leibes konstituiert werden. Wie gestaltet sich diese Wirklichkeit aus der Sicht einer eucharistischen Ekklesiologie? Welche Bedeutung hat hier das sakramental verfasste Amt? Und weiter formuliert: Wie kann die Pfarrei neu beschrieben werden? Welche Kennzeichen hat der eine Leib Christi in der 49
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Vielfalt seiner Gestalten? Muss jeder der Orte des Kircheseins, jeder Ort der Bezeugung der Christusgegenwart alle Dimensionen der Wirklichkeit der Kirche widerspiegeln, oder ergibt sich das aus der vielfältigen Einheit eines Mosaiks unterschiedlicher Facetten der einen Kirche?
2.6 Von der Taufe her denken In den Begegnungen, Dekanatstagen und Vorträgen, zu denen ich eingeladen bin, zeigt sich eine durchgehende „Resonanz“: Es gibt ein starkes Suchen nach nährendem geistlichen Leben, ein hohes Engagement für den Ort, an dem Christen Kirche gestalten wollen, und eine sehr große Neugier, die eigenen Gaben zu entdecken. Ja, gerade diese letzte Perspektive gewinnt immer mehr an Gewicht: die eigene Gabe, das eigene Charisma zu entdecken. Schon vor Jahren haben wir das freikirchliche Engagement für diese Frage entdeckt. Über die Leitungskongresse von Willow Creek kamen wir in Berührung mit den D.I.E.N.S.T-Seminaren: „Dienen im Einklang mit Neigungen, Stärken und Talenten“ – auf eine typisch amerikanische Art ist hier umfangreiches Workshopmaterial zusammengefasst. Mit großer Klugheit und Inspiration hat eine unserer Referentinnen daraus eine katholische Version entwickelt, die immer mehr Resonanz findet. Die Begegnungen mit amerikanischen Kollegen im Rahmen des Crossing-over-Projektes hat uns entdecken lassen, das auch die US-Katholiken seit mehr als einem Jahrzehnt auf diese Weise Kirche entwickeln. Konsequent über mehr als 20 Jahre wurde das ursprünglich freikirchliche Grundverständnis der „stewardship“ katholisch weiterentwickelt. Hier geht es nicht zuerst darum, „Time, talent and treasure“ für die Gemeinden zu aktivieren, sondern die Frage steht im Mittelpunkt, wie Christen, die durch die Taufe zum Leib Christi gehören, ihr Gliedsein leben können – wie sie sich geben können.
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2.6 vo n d e r tau f e h e r d e n k e n
— Taufe und Charisma entdecken —
So gehört also zu einem Kirchenentwicklungsprozess beides: zum einen die Vergegenwärtigung der eigenen Taufe – und zum anderen der Blick auf die eigenen Gaben und Charismen. Eigentlich haben wir das in allen Kirchenentwicklungsprozessen mit an den Anfang gerückt. Die biblische Geschichte vom jungen Samuel dient als erster Schritt. Sie macht ja deutlich, dass die Gottesbegegnung eine Weggeschichte beinhaltet, eine Geschichte des Erkennens, des Wartens, des Aufbruchs – und auch eine Geschichte der Begleitung durch Menschen, durch viele Menschen: „Niemand von Ihnen ist heute Christ und glaubt an Christus, nur weil er irgendwann mal getauft wurde. In jedem Leben gibt es eine Weggeschichte mit Gott – in jedem Leben eines Christen gibt es Menschen, ,Elis‘, die sie begleitet haben. Nehmen Sie sich jetzt einfach einmal dreißig Minuten Zeit und gehen sie ihren ,Taufweg‘, ihren Begegnungsweg mit Jesus Christus. Welche Antworten haben Sie gegeben – welche Abbrüche und Aufbrüche sind auf diesem Weg? Welche Menschen haben sie auf ihrem Weg begleitet? Was haben sie entdeckt? Was verloren? Wo stehen Sie heute?“ Nach einer halben Stunde sind alle eingeladen, mit einem anderen einzelne Episoden zu teilen. In der Gruppe findet kein Austausch darüber statt – aber am Ende dieses intensiven Vormittags feiern wir eine Tauferinnerung. Immer sind dies ganz bedeutsame Erfahrungen, gerade auch die Feier mit Taufkerzen, die einmündet in einem großen Kreis um das Taufbecken. Jeder und jede ist eingeladen, an das Taufbecken zu treten, sich zu bekreuzigen und einen Satz darüber zu sagen, was Christus ihm bedeutet – oder auch zu schweigen. Das sind sehr intensive Momente. Ich erinnere mich an viele Tauferinnerungsfeiern, in denen Christen – manchmal auch Priester – zum ersten Mal so existenziell über ihre eigene Glaubensgeschichte reflektiert haben und ihre Taufwürde zum ersten Mal bewusst wahrnahmen. So führt dieser erste Schritt zum zweiten: zur Frage nach den Gaben. Das ist offensichtlich für viele eine ungewöhnliche Frage. Was für eine Persönlichkeit haben wir? Was können wir beson51
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ders gut? Was könnte unsere Gabe und unser Talent sein? Lange Zeit haben wir so nicht gedacht. Ich erinnere mich an eine Begegnung in der Zukunftswerkstatt in Bodenwerder. „Am Anfang habe ich mich für die Erstkommunionvorbereitung gemeldet – das ist wirklich mein Ding. Aber inzwischen habe ich so viele Aufgaben bekommen, dass ich gar nicht mehr weiß, warum ich das alles mache – und ich weiß auch nicht mehr, was ich wirklich gern mache.“ Eine nicht untypische Erfahrung: Menschen wollen sich engagieren – und das ist ja die gute Gelegenheit. Kirchengemeinden und ihre Pfarrer haben in der Vergangenheit immer wieder solche Menschen gefunden, die dann als „Allzweckwaffen“ alle möglichen Dienste übernahmen – und inzwischen gehört es auch zum guten Tun, dass sogenannte Ehrenamtliche „überlastet“ sind: Damit imitieren sie ihre Pfarrer und Hauptamtlichen – und bilden damit eine Kirchengestalt ab, die genau mit dem Thema von Taufe und Charisma nicht gemeint ist. — „Das kann ich nicht“ —
Auf der anderen Seite erzählt mir unsere Fachreferentin, dass immer wieder einmal Teilnehmer weinend herauslaufen und nicht mehr wiederkommen. Das ist mir auch schon passiert: „Was Sie von der Taufwürde erzählen – und von den Gaben, die ich haben soll –, das will ich gar nicht. Wir haben doch unseren Pfarrer, der uns die Aufgaben zuteilt, so habe ich es gelernt. Und das andere will ich nicht – ist das überhaupt katholisch?“ Und andere taten sich sehr schwer, ihren eigenen Wert zu entdecken und Wert zu schätzen. Damit wird deutlich, dass die Frage nach der Taufe und nach den Gaben eben nicht einfach eine Frage nach dem persönlichen Weg ist, sondern auch zutiefst ein Bild von Kirche impliziert, eine Kultur des Kircheseins, in der Taufe und persönliche Gaben kaum in den Blick, kaum ins Leben kamen. Im Hintergrund steht das Bild einer Kirche, in der er es interne Hierarchien gab. Insgesamt stellt sich diese Konfiguration als eine pseudohierarchische heraus: Oben steht der Pfarrer, die Räte, die vielen Ehrenamtlichen, die die Pfarrei am Laufen halten, dann die, die „nur sonntags“ 52
2.6 vo n d e r tau f e h e r d e n k e n
zur Kirche gehen – und dann die „treuen Kirchenfernen“ und die „Kasualienfrommen“, schließlich die Kirchensteuerzahler. Eine solche faktische Kirchenpyramide kennzeichnet unsere Praxis, ist Grundlage der Bewertungen. Deswegen wirkt es so merkwürdig, von der Taufe und den Gaben her zu denken: es wirkt nicht katholisch genug: wo doch Glauben eher „gegebene Wirklichkeit“ ist, und eine anerzogene Demut verhindern kann, die eigenen Gaben wirklich anzunehmen und ins Spiel zu bringen. — Auf das Kirchenbild kommt es an! —
Wir sitzen mit einer Gruppe zusammen und teilen einen Grundtext des Römerbriefs zum Thema: Römer 12, 3–8. Jedem, so der Brief, ist die Gnade Gottes zuteil geworden, wie es ihm angemessen ist ... Eine von uns sagt: „Wahnsinn, dann heißt das ja, dass ich mir keine Sorgen mehr machen muss. Jedem ist doch das Maß des Glaubens zugeteilt worden. Und auch wenn es mir wenig scheint – das ist doch genau das, was dieser Mensch braucht ...“ „ Ja, das heißt dann doch auch, dass ich meine Gabe einfach nur ernstnehmen muss – und die des anderen auch.“ An diesem Abend denken wir lange darüber nach, welche Konsequenzen dieses Denken für eine Kirche der Zukunft hat. Und plötzlich wird jedem von den Teilnehmern deutlich, dass er genau an diesem Platz, wo er steht, ja schon seine Gaben einbringt ... Das Denken wird weiter, und Kirche ist nicht mehr nur ein Gefüge, das weitergehen muss, sondern eine weite Wirklichkeit, wo jeder und jede seinen Platz hat. Und deswegen reagiere ich auch fast ärgerlich, als beim Treffen der Hauptberuflichen in diesem Dekanat jemand sagt: „Aber wir brauchen unsere Ehrenamtlichen doch, um die Strukturen des Dekanates am Leben zu halten.“ – „Sag mal, weißt du, was du da sagst? Es ist doch total umgekehrt: wir dienen den Getauften, damit sich der Leib Christi auferbauen kann ...“ Ja, genau das macht die Ambivalenz aus, unter der diese Erfahrungen stehen. Denn ja, man kann das Thema der Taufe und der Charismen in Zeiten der Krise weiterhin auf einem kirchlichen 53
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Betriebssystem sehen und gestalten, das die Verantwortung für den Leib Christi hierarchisch von oben sieht: Der Priester oder die Räte „bringen die Kirche zum Laufen, und viele machen mit“. In der Tat kann man den Eindruck gewinnen, dass gerade in Zeiten des Umbruchs und des Endes eines milieuchristlichen Gefüges die dominierende Wahrnehmungsstruktur weiterhin an diesem Grundparadigma einer versorgenden Kirche orientiert ist. Dann dient die Vertiefung des Taufbewusstseins als spirituelle Übung, und die Entdeckung der Charismen soll – in dem Maß, in dem die Charismen nutzbar sind – dem Leben der Gemeinde dienen, so wie es immer war. — Den Leib Christi entdecken —
Zutiefst geht es aber bei der Besinnung auf Taufe und Charismen um ein sakramentales und eucharistisches Grundverständnis des Kircheseins. Im Hintergrund steht ein Kirchenverständnis, das die Getauften eingefügt sieht in die Gemeinschaft des Leibes Christi. Von dort, vom Leib Christi denken, von der realen Gegenwart Christi, die uns eint und beschenkt und begabt, das ist die Wirklichkeit, die uns von der Taufe geschenkt wird. Hier wird dann erfahrbar und buchstabierbar, was genau die konziliare Rede vom gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen meint – und was eigentlich die Anteilhabe am Priestertum, Prophet- und Königsein Christi für Konsequenzen hat. Darauf wächst auch ein neuer Blick auf das sakramentale Dienstamt und die Rolle der Eucharistie in diesem Leib. Wer also anfängt, die Taufwürde und die Begabtheit eines jeden Christen in den Blick zu nehmen, der wird nicht umhinkommen, Kirche neu zu buchstabieren – andernfalls wäre es nicht fair für die, die sich darauf einlassen: Die Bewusstwerdung der eigenen Charismen, die Bewusstwerdung des eigenen Glaubensweges führt hinein in einen Paradigmenwechsel, der vor uns liegt.
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2.7 Mehr als lokal: Vom Ort der Verbände und charismatischen Bewegungen in der Kirche Die Erfahrungen aus dem Bistum Poitiers sind beeindruckend: Örtliche Gemeinden entstehen, indem in einem diözesanen Prozess eine Entwicklung gefördert wird, die den Christen vor Ort zutraut, Kirche zu gestalten. In diesem Wachstumsprozess hatte der Bischof von Poitiers nie die sakramentale Grundgestalt aus dem Auge verloren. Es ist ja wahr, auf dem Hintergrund einer tiefen kirchlichen Krise wächst in Poitiers die Einsicht, dass nur eine Kirche Zukunft haben kann, die differenziert zwischen den örtlichen Gemeinden am gegebenen Ort, die einem „secteur“ zugeordnet sind. Diese kirchliche Grundgröße umfasst nicht nur örtliche Gemeinden, sondern auch die Verbände der Katholischen Aktion und Orte besonderer Seelsorge. „Es kann nicht alles lokal sein – ist die Rede von lokaler Kirchenentwicklung nicht zu eng?“, fragt mich meine Kollegin häufig. Sie hat die Idee, mit Hadwig Müller die wichtigste Fachfrau zum Thema, einzuladen zum jährlichen Studientag mit den Verbänden unseres Bistums. — Der Hintergrund der örtlichen Gemeinden —
Lokale Kirchenentwicklung beinhaltet ein Risiko. Sie kann leicht als Rolle rückwärts verstanden werden: Das Bistum hat lange auf die Vergrößerung struktureller Einheiten gesetzt und neue Pfarreien gegründet. Dabei schien dann das Leben vor Ort nicht mehr im Blick zu sein – aus drei Pfarrgemeinden sollte „eine“ werden. Der Widerstand gegen diese Entwicklung war massiv, denn das Engagement der Christen, gerade auch der in den Verbänden, war auf Initiativen eigenständiger Gemeinden ausgerichtet. So könnte lokale Kirchenentwicklung auch meinen: „Endlich hat das Bistum verstanden – und wir können einfach weitermachen“. Aber genau das ist nicht gemeint. Es geht ja um einen Entwicklungsprozess, bei dem die Taufwürde gestärkt und ein Zukunftsweg für die Kirche am Ort gebahnt werden soll: Die Entdeckung unterschiedlicher Orte des Kircheseins, die Relativierung der 55
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„Gemeinde“ als des vermeintlichen Zentralorts des Kircheseins, die neu in den Blick kommende Vielfalt unterschiedlicher Bezeugungsorte des Christseins und die Aufmerksamkeit für die veränderte Glaubenssituation, die eben nicht nur als dekadente Abbruchgeschichte der Christenheit des Westens zu lesen ist, all das birgt ja Herausforderungen für eine Kirchenentwicklung mit sich, die im gemeinsamen Priestertum der Gläubigen gründet. Genau hier setzt der Studientag an: Wenn im Bistum Poitiers ein Prozess in Gang gekommen ist, der auf die Bildung örtlicher Gemeinden setzte, dann lag diesen Prozessen mehr zugrunde als nur die Frage, wie „man es denn vor Ort noch hinbekommen könnte“. Es geht um einen Weg, die im II. Vatikanum grundgelegte Kultur des gemeinsamen Priestertums zu entfalten. Und es ist staunenswert, die Mühe und das Engagement um die Begleitung und Förderung der Getauften am Ort zu entdecken. Auch das mutet an wie eine Umkehr bekannter Koordinaten der Pastoralplanung. Es geht eben nicht um die Restrukturierung, sondern um eine Reform des Lebens der Christen und eine spirituelle Erneuerung der Taufwürde. — Das zweifache Geheimnis der Kirche —
Hadwig Müller stellt dies an diesem Studientag in großer Klarheit dar – und löst viel Erstaunen aus. Denn so sehr der Erhalt lokaler Kirchenwirklichkeit ein wichtiges Anliegen ist, so unbekannt ist die Perspektive, aus der das französische Bistum schöpft. Es geht nicht um Selbsterhalt, sondern um einen Prozess des Wachsens und Werdens, der ansetzt bei den Menschen vor Ort und sie darin stützt, aus der Kraft des Evangeliums eine Kirche zu werden, die vor Ort das Geheimnis der Sammlung lebt: jene Wirklichkeit des Glaubens, durch die wir zum Leib Christi versammelt werden. Doch noch überraschender ist die Perspektive, die sich aus französischer Perspektive im Blick auf die Verbände auftut. Ende der 90er Jahre wurde in Poitiers deutlich, dass Kirche eben nicht nur auf eine territoriale Lokalität setzen kann. Denn die Wirklichkeit der Kirche erschöpft sich nicht in den Beziehungsnetzen, die im Lebens- und Sozialraum zu finden sind. 56
2.7 m e h r a l s lo k a l : v e r b ä n d e u n d c h a r i s m at i s c h e b e w e g u n g e n
So reflektierte der damalige Ortsbischof Albert Rouet die Rolle der Verbände, die im Französischen „mouvements apostoliques“ heißen. Gerade die Verbände zeigen sich als jene kirchlichen Gemeinschaftsbildungen, die in die Gesellschaft hineinreichen. Und gerade im Blick auf die Kirche, die ja als Kirche auch von der Gesellschaft lernt, zeigen sich die Verbände (und andere Orte) als sensible „Fühler“ für diesen Lernprozess, und orientieren sich dabei an Formulierungen von „Gaudium et spes“: „Christus schenkt der Kirche, was er von denen empfängt, die nicht einmal zur Kirche gehören und doch von seinem Geist belebt sind ... Daraus folgt, dass die Christen eine zweifache Mission empfangen: die Mission nämlich, den heute lebenden Christus sichtbar zu machen, indem sie seinen Leib aufbauen, der die Kirche ist; und zugleich die Mission, das Leben der Menschen auf die neue Welt hin auszurichten, in der Gott alles in allen sein wird (1 Kor 15, 28)“. Auf der einen Seite sind also Verbände und apostolische Gemeinschaften Brückenköpfe für einen gesellschaftlichen Lernprozess der Kirche. Durch das soziale Engagement und durch die Ausrichtung der Verbände in spezifischen Bereichen des sozialen Lebens ist hier ein wechselseitiger Prozess möglich: zu lernen, was in dieser Gesellschaft und durch sie für die Kirche wichtig werden muss – ein Seismograph der Zeichen der Zeit und der universalen Bewegung des Geistes Gottes. Und auf der anderen Seite geschieht durch die Verbände und alle apostolischen Gemeinschaften das Geschenk der Sendung: wie das Evangelium der Welt und den Menschen dient. „Die Christen können also gar nicht anders, als sich dafür zu engagieren, die neue Erde ankommen zu lassen. Das ist der Teil, eben ,der andere Teil des Geheimnisses der Kirche‘, der in den Bewegungen der Katholischen Aktion bzw. in den Verbänden zum Tragen kommt“, formuliert der Bischof von Poitiers. — Konsequenzen —
So wichtig also eine lokale Kirchenentwicklung in örtlichen Gemeinden ist, so wenig ist damit das Geheimnis der Kirche erschöpft. Wenn aber der Weg Gottes mit seiner Kirche möglichst 57
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umfassend entdeckt werden will, braucht es Orte, an denen diese Erfahrungen für das Gesamte einer kirchlichen Entwicklung zur Verfügung gestellt werden. Und so berichtet Hadwig Müller davon, dass in Poitiers die Verbände und apostolischen Bewegungen in einem Rat zusammenkamen und sich alljährlich mit dem Bischof trafen und treffen, damit im Austausch der Erfahrungen deutlicher werden kann, welchen Weg Gott mit seinem Volk geht. Wir alle sind sehr bewegt an diesem Studientag: Denn auf der einen Seite schenken diese Perspektiven allen Verbänden eine neue Perspektive, auf der anderen zeigt sich auch ein Weg, der jetzt zu beschreiten ist – wie können die reichen Erfahrungen der Verbände, die sie in ihrem besonderen Blickpunkt der Sendung machen, in das Ganze einer umfassenden Bistumsentwicklung einfließen? Müssten nicht gerade diese umfassenderen Erfahrungen auch eingespeist werden in die Prozesse lokaler Kirchenentwicklung? — Mehr als lokal? Auf den Ort kommt es an! —
Das gilt dann aber nicht nur für die Verbände. Das gilt für die karitativen Einrichtungen, das gilt für Ordensgemeinschaften und kirchliche Bewegungen – und das spricht für eine weit gefasste Perspektive der Kirchenentwicklung. Es spricht auch dafür, dass der Begriff des Lokalen nicht eng gefasst werden darf im Blick auf gemeindliche Territorialität. Wäre das gemeint, dann hätten all jene recht, die in der lokalen Kirchenentwicklung so etwas wie eine Rolle rückwärts sehen: „Wir wollen weiterhin die Gemeinden bewahren, jetzt geben wir euch den Raum frei, und ihr könnt weitermachen wie bisher“. Nein, es geht um etwas anderes. Es geht darum, nicht zuerst von der Gemeinde her zu denken, sondern immer wieder alle Orte gelebten Evangeliums wahrzunehmen, und gerade jene, die das Geheimnis der Sendung und des Empfanges wahrnehmen. Ihre „Örtlichkeit“ ist nicht gemeindlich fokussiert, sondern reicht zuweilen weit über Pfarrgrenzen hinaus, ist tatsächlich „Ortskirchlichkeit“, oder liegt an einem bestimmten Ort der Sendung. So gilt es hier, die Verbände und andere Gemeinschaften 58
2.7 m e h r a l s lo k a l : v e r b ä n d e u n d c h a r i s m at i s c h e b e w e g u n g e n
wahrzunehmen als „Andersorte“ der Kirche, die dann aber auch im jeweiligen Bereich ihres Wirkens wahrgenommen werden wollen, damit ihr Reichtum fruchtbar werden kann: Bräuchte es nicht auf verschiedenen Ebenen der Kirche „Räte“ oder „Observatorien“, in denen der Beitrag der Verbände weiter bedacht werden kann? — Die Herausforderung der Orden und kirchlichen Bewegungen —
Im Frühjahr 2011 wurde ich eingeladen zu einem Dialogtag der geistlichen Gemeinschaften und kirchlichen Bewegungen mit den deutschen Bischöfen. Ein sehr tiefer Tag, der deutlich macht, dass es einen neuen Blick auf diese vielfältige (und keineswegs zahlenmächtige) Wirklichkeit braucht. In den vergangenen Jahren wurde immer deutlicher, dass eine große Hilflosigkeit der Ortskirchen gegenüber den Phänomenen geistlicher Erneuerung besteht. So sehr sie von den Bischöfen begrüßt wurden – sie waren eben anders, nicht so leicht einzuordnen, auch weil hier Frömmigkeitsstile und Lebensentwürfe zutage traten, die in der klassischen Gemeindepastoral nicht aufgehen. An diesem Tag wurde deutlich, dass diese Gemeinschaften und Bewegungen schon lange einen wichtigen Beitrag zur geistlichen Erneuerung in der deutschen Kirche geben – und dabei in einer echten Kirchlichkeit eingebunden sein wollen in das Gefüge der Ortskirchen. Dennoch scheint mir ihr Beitrag noch wenig gesehen und fruchtbar geworden. Auch hier braucht es mehr als nur gelegentliche Kontakttreffen, wie es sie auch für die Ordensgemeinschaften gibt. Denn findet sich hier nicht ein charismatisches und prophetisches Profil der Kirche, das angesichts des hohen Institutionalisierungsgrades unserer Kirche oft so schmerzlich vermisst wird? Wenn kirchlicher Aufbruch nun im Wesentlichen nicht das Produkt der Pastoralplanung ist, sondern aus charismatischen Quellen stammt, wenn die Umkehr zum Evangelium und das Abenteuer der Nachfolge gerade in Ordensgemeinschaften und geistlichen Bewegungen sichtbar werden – wie kann dann dieses Geschenk an die Kirche nicht unterschätzt werden? Zu plädieren 59
2. da s w e r d e n d e r ki rc h e e r fa h r e n
ist für einen Ort, der einen weiteren Akzent des Geheimnisses der Kirche für alle Christen der Ortskirche fruchtbar macht. — Die Provokation des Ernstgenommenwerdens —
Was ist eigentlich, wenn Ortskirchen die Wirklichkeiten der Verbände auf neue Weise ernst nehmen und von den Orden und kirchlichen Bewegungen prophetische Inspiration einfordern? Es wirkt wie eine Provokation! Denn so sehr Verbände, Orden und Gemeinschaften nicht selten sich wenig beachtet fühlen, würde eine solche intensive und auch fordernde Beachtung sie herausfordern, immer mehr die zu sein, die sie vor dem Hintergrund ihres charismatischen Ursprunges und ihrer Gründerinnen und Gründer sind – auch sie würden sich erneuern und weiterentwickeln, denn es kommt ja darauf an, dass alle Dimensionen des Geheimnisses der Kirche, des Volkes Gottes ins Spiel kommen. Ich würde mir sehr wünschen, dass eine solche Dynamik aufbrechen kann.
2.8 Eine Neuentdeckung des Presbyteriums Keine Frage: Die Rolle des Priesters, die Rolle des Pfarrers ist in einem fundamentalen Umbruch. Man merkt es überall. Zwischen Überforderung und Burnout, persönlichen Grenzen und Berufszufriedenheit wird vor allem Ratlosigkeit sichtbar. Es gibt nur wenige Priester, die eine gefüllte Vision der Zukunft in sich tragen, und die Konsequenz ist fatal. Es geht ja immer weiter, „the same procedure as every year“ bei gleichzeitigen Folgen: denn die ihnen anvertrauten Christgläubigen werden durch eine solche visionsentleerte Pastoral nicht in dem gefördert, was der Geist Gottes in ihnen voranbringen will. Damit aber zeigt sich eine echte Herausforderung: Die Priester sind im Wesentlichen auf die innere Transformation, in der unsere Kirche steht, nicht vorbereitet. Das ist ein weltkirchliches Thema – und wahrscheinlich ein Thema der Priesterausbildung, die ihrerseits ja auch immer ein 60
2.8 e i n e n e u e n t d e c ku n g d e s p r e s by t e r i um s
bestimmtes Kirchenbild widerspiegelt. Ich erinnere mich daran, dass ich vor einigen Jahren in einer lokalen Regentenkonferenz die versammelten Kollegen darauf verwies, dass die zukünftigen Priester wohl eine erfahrungsgesättigte und farbige Grunderfahrung brauchen, die sie für die Zukunft befähigt und ihnen ermöglicht, das Volk Gottes zu leiten und so der neuen Weise des Kircheseins den Weg zu bereiten. Widerstand unter den Kollegen, damals (inzwischen ist es anders). Er gipfelte in dem Satz, den ich nie vergessen werde: „Christian, du musst wissen, Diözesanpriester haben noch nie die Kirche erneuert ...“ Mir fiel als Replik dazu nur ein: „Aber selbst wenn das wahr ist – es wäre schon viel, wenn sie diese Erneuerung nicht verhindern würden ...“ So ist es wohl. Denn wo immer ich in den letzten Jahren auch hingekommen bin, die Herausforderungen der Kirche liegen vor allem bei den Priestern, und näherhin bei den Pfarrern, in vielfacher Weise. — Ratlosigkeit als Wurzel? —
Der „Aufruf zum Ungehorsam“, der sich durch die Diskussionen vergangener Jahre zieht, und der sich in der Initiative österreichischer Pfarrer kristallisierte, zeigt mir auch deutlich, dass hinter den nicht originellen heißen Eisen eigentlich tiefer greifende Fragen liegen: Es gibt eine Ratlosigkeit bezüglich der Einordnung der Veränderungen unseres Kircheseins. Deutlich ist nur, dass eine klassische und eingeübte Pastoral der Erfassung in keiner Weise mehr funktionieren kann. Die Aufgabe der „Pfarrverwaltung“ und der „Verwaltung der Sakramente“ wäre ja missverstanden, orientierte sie sich an herkömmlicher Bestandserhaltung, geht es doch um den treuen Dienst an der Sakramentalität, die gerade die Veränderung und den Wandel gnadenhaft ermöglichen. Doch nicht immer wird dieser Dienst so verstanden. Das führt auch dazu, dass für viele Christen – übrigens auch für Hauptamtliche – das klassische Setting der Gemeinde, die in dieser Weise funktioniert, schon lange keine Option mehr ist. Dass Kirchengemeinden von „spiritueller Auszehrung“ (Zulehner) betroffen 61
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sind, das liegt oft an der routinierten, aber erfahrungsleeren Art der Verkündigung, der Leitung und der Feier der Sakramente. Wenn daher Christen sich ihren kirchlichen Ort suchen, an dem sie Nahrung finden, ist das mehr als natürlich – und lebenswichtig. Weltkirchlich gibt es die Herausforderung, dass Pfarrer sich keineswegs auf Prozesse örtlicher oder weltkirchlicher Entwicklung einlassen, dass aber Christgläubige allein keine Chance haben, wenn sie sich genau auf solche Wege einlassen wollen. Braucht es also einen „Aufruf zum Gehorsam“? — Ohne Vision ... verkommt das Volk —
Man darf gerne über all dies klagen – aber ich habe in meiner Zeit als Pfarrer eines gelernt: Wenn ich mich über etwas geärgert und beschwert habe, was nicht so gut ging, wie ich dachte – dann habe ich mich eigentlich über mich selbst beschwert. Ich erinnere mich noch gut an die vielen Sitzungen von Räten, deren erschreckende „same-procedure“-Mentalität ich nur schwer ertrug. Ich formulierte damals als mögliche Aufgabenbeschreibung eines Pfarrgemeinderates: „Wäre es nicht Ihre Aufgabe, die Tradition dieser Gemeinde zu bewahren und zu gestalten?“ (in unfeinen Worten: „weitermachen wie bisher, das können Sie gut.“) Mich berührte damals schon, dass mich eine Reihe von Ratsmitgliedern traurig anschaute: „Wir wollen eigentlich nicht nur das ...“ Ich habe lange darüber nachdenken müssen, und habe dann gemerkt, dass es hier eine Bringeschuld gibt, die ich nicht eingelöst hatte. Hatte ich denn je mit diesen mir anvertrauten Christen versucht, wirklich in einen visionären und partizipativen Prozess einzutreten? Hatte ich daran geglaubt und vertraut, dass in meinen Brüdern und Schwestern auch tiefe Visionen einer Zukunft waren? Oder dachte ich, sie würden einfach weiterverwalten wollen? Ich habe keine Entschuldigung für meine damalige Grundhaltung – aber ich selbst wusste nicht, wie ein solcher Prozess visionärer Begleitung gehen könnte, und mir selbst war damals – im Jahr 2006 – auch nicht klar, in welche Richtung Kirche sich entwickelt. 62
2.8 e i n e n e u e n t d e c ku n g d e s p r e s by t e r i um s
— Die Gelegenheit des Priesterjahrs —
Vor diesem Hintergrund wird noch einmal deutlich: Die Frage nach der Visionskraft der Priester kann und darf nicht auf die eventuell vorhandenen charismatischen Priestergestalten, die es natürlich immer geben wird, reduziert werden. Es geht um mehr, es geht um die konstitutive und notwendige Bedeutung des Presbyteriums, auf die schon das II. Vatikanum hingewiesen hat. Die Kirche stellt genau das Presbyterium der Priester, das um den Bischof versammelt ist, in den Mittelpunkt der Priesterweihe, und auch die alljährliche Erneuerung der Weiheversprechen steht in diesem Kontext. Und die Liturgie bringt im Kern genau das zum Ausdruck, was dann als Ekklesiologie und Amtstheologie reflektiert wird: lex orandi – lex credendi! Mehr als deutlich wird dies in den Weiheversprechen, die zentral auf diese Grundgestalt des Presbyteriums verweisen. Zuerst fragt der Bischof: „Bist du bereit, das Priesteramt als zuverlässiger Mitarbeiter des Bischofs auszuüben und so unter der Führung des Heiligen Geistes die Gemeinde des Herrn umsichtig zu leiten?“ Damit wird deutlich, dass die Leitung der Kirche ein gemeinsamer Dienst unter der Führung des Geistes ist – und die gemeinsame Handauflegung aller anwesenden Priester verweist deutlich auf ein „Wie“ dieses Geschehens: Es braucht einen gemeinsamen Raum unter der Leitung des Bischofs, in dem eine geistliche Unterscheidung der Wege Gottes gelingen kann. Genau diese Bedeutsamkeit des Presbyteriums für die Weiterentwicklung der Kirche wird häufig unterboten. Deswegen war ich sehr froh, dass im Priesterjahr 2010 unser Bischof – und ähnliche Initiativen gab es auch an anderen Orten – alle Priester einlud zu einem „Kurzwochenende“ von Sonntagabend bis Montagmittag, um gemeinsam im Gebet, Austausch, Hinhören jene Gemeinschaft zu bilden, die sich auf die Zukunft ausrichtet. Diese Wochenenden hatten eine innere Dynamik, die wirklich den Anfang eines Presbyteriums hervorbrachte: Am Anfang stand ein Gottesdienst, der uns in die Gegenwart Christi führte. Einen ersten Schritt bildete dann ein Austausch in kleinen Gruppen. In diesen Gruppen nahmen auch die Bischöfe teil, um zu hören. 63
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All das Gehörte und Geteilte, Freude und Hoffnung, Sorge und Trauer trugen wir dann in eine Zeit der Anbetung und des stillen Betens. Am nächsten Morgen sind die Bischöfe eingeladen, Ermutigungen und Ermahnungen auszusprechen, über die wir dann noch in Kleingruppen im Austausch standen. Mit einer Eucharistiefeier und dem anschließenden Mittagessen endete der gemeinsame Tag. Die erste Überraschung: Ungeahnt viele Priester ließen sich einladen und kamen – und das Echo war sehr gut. Tatsächlich gab und gibt es ein Bedürfnis nach Austausch und nach einem intensiven Kontakt mit dem Bischof. So wurde nach zwei Jahren diese Erfahrung wiederholt, und wieder nahmen viele Priester daran teil. Insgesamt wurde deutlich, wie hoch der Wunsch der Priester ist, gemeinsam mit ihrem Bischof im Austausch zu sein. — Eine Reform unseres Verstehens? —
Schon vor mehr als einem Jahrzehnt hatte ich das erstmals erlebt. Bei einer Visitation hat der Weihbischof eingeladen, eine ganze Woche alle Priester und Hauptberuflichen am Abend zu treffen, mit Gebet, Essen und Austausch. Bis heute habe ich nicht mehr so intensiv erlebt, wie groß die Kraft dieses Miteinanders ist. Wie viel Kreativität und Offenheit, geistlicher Austausch und Kraft zum Neuaufbruch in diesen Stunden vorhanden waren, wie viel gemeinschaftliche Stärkung dort entstand – noch immer erinnere ich mich daran. Mir scheint, eine erste Hinwendung zu diesem Zusammenhang steht sowohl für die Priester als auch für die Bischöfe an. Ich habe den Eindruck, dass wir unserer eigenen Theologie in der Praxis nicht glauben und die communio-orientierten Strukturen unserer Kirche nicht ausschöpfen. In der Tat sind diese Strukturen nicht zufällig, sondern genuiner Ausdruck jener Ikone, die die Kirche ist: Sie ist das Geheimnis anwesender Dreifaltigkeit, und dies zeigt sich gerade auch in den Konstitutionszusammenhängen des sakramentalen Dienstamtes. Gerade auch der Dienst der Bischöfe wird neu herausgefordert: Ihr Dienst an 64
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der Einheit ist auch und gerade ein Dienst an der Ausrichtung eines Presbyteriums auf die Verheißungen und das Lesen der Zeichen der Zeit. Natürlich steht dieses Tun unter dem Zeichen des tiefen Vertrauens, das zunächst einmal wieder wachsen muss. Und natürlich braucht das viel Zeit – aber entscheidend wird sein, dass wir unserer eigenen Theologie existenziell vertrauen, um in immer neuen Versuchen Wege der Praxis zu finden. — Wachtumsprozesse initieren —
Mich hat sehr beeindruckt, was ich durch die Initiative „crossing over“ wahrnehmen konnte. Der Umgang mit den Priestern ist im Erzbistum Chicago bestimmt durch eine Kultur der Wertschätzung, Evaluation und Wachstumsorientierung18. Alle fünf Jahre wird dort jeder Priester durch die Gemeinde evaluiert – und die Ergebnisse werden mit ihm im Blick auf das Weiterwachsen besprochen. Ich habe den Eindruck, dass dieser Umgang mit dem einzelnen Priester zu einer solchen Kultur des Vertrauens und Miteinanders gehört und sich wohltuend unterscheidet von einer Kultur der Intervention, wenn alles schwierig wird. Die hohe Solidarität mit dem Bischof und dem Bistum, die ich bei Priestern entdecken kann, wirkt sich hier zugunsten des Priester und seines Wachstumsweges aus auf das „sentire cum ecclesia“, das sich ja auch konkret ausdrücken muss: Wie oft sind mir in den vergangenen Jahren Priester begegnet, die nicht wirklich glauben konnten, dass sich der Bischof für ihr Tun und Ergehen interessiert, obwohl dies auf Seiten des Bischofs keineswegs so war. Wie auch im Zusammenhang des Presbyteriums fehlt hier offensichtlich eine Kultur – und eben nicht die Struktur –, in der das deutlich werden kann. Mit regelmäßigen Zusammenkünften der Bischöfe mit ihren Priestern und einer Kultur regelmäßiger Evaluation wären hier Kulturmerkmale einer presbyterialen Kultur des Vertrauens zu 18 Vgl. dazu M. Sellmann, Katholische Kirche in den USA. Was wir von ihr lernen können, Freiburg 2011. 65
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entwickeln, die für einen verheißungsorientierten Zukunftsweg der Kirche hilfreich wären – ich würde sogar sagen: notwendig und konstitutiv, um der kommunionalen Theologie des Presbyteriums, und mutatis mutandis aller Dienstaufträge der Kirche, zu entsprechen.
2.9 Brutstätten des Neuen Wenn wir in einem Prozess einer lokalen Kirchenentwicklung stehen, wenn es um Paradigmenwechsel geht, wenn es um eine Umkehr zu einer partizipativen Kirche geht, die im Wort Gottes und in seiner Gegenwart verwurzelt ist – dann braucht es andere Wege als gelegentliche Workshops, dann braucht es mehr als Vorträge und Inputs – dann braucht es eine Art „ekklesialer Mystagogie“. Es geht ja um das Hineinwachsen in ein Sein, Leben und Denken des Kircheseins, es geht um eine tiefe Selbsterkenntnis der eigenen Taufwürde und des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen – und es geht um das Erlernen von Wegen und Methoden, wie gemeinsame Visionen entdeckt werden können, wie Grundformen gemeinschaftlicher Spiritualität eingeführt und eingeübt werden können und wie Teams heranwachsen, die solche Prozesse durchführen. Wir haben damit wenig Erfahrung, weil in den vergangenen Jahrzehnten das Paradigma der Gemeindetheologie eine andere „Gestalt“ der Fortbildung präferierte: Es ging weniger um grundsätzliche Kirchenentwicklung, sondern um Einzelformate vor dem Hintergrund eines für selbstverständlich gehaltenen gemeindetheologischen Paradigmas. Fortbildung dient der Weiterentwicklung des Bisherigen und ist damit so etwas wie das „Update“ eines bewährten Betriebssystems, oder so etwas wie ein neues Teilprogramm. Insofern ist dieses Neubedenken ein sehr anspruchsvolles Unternehmen. Was können wir von anderen Ortskirchen lernen, die dabei sind, diesen fundamentalen Paradigmenwechsel vor dem Hintergrund einer partizipativen Kirchenentwicklung umzusetzen und ihre Erfahrungen mit uns zu teilen? 66
2.9 b r u tstät t e n d e s n e u e n
— Impulse aus Asien und Afrika —
Es war beeindruckend, im Frühjahr 2012 mit Altbischof Fritz Lobinger zusammenzukommen. Zusammen mit Oswald Hirmer gründete er in den 70er Jahren im abgelegenen Bistum Queenstown das Lumko-Institut, benannt nach dem Ort, in dessen Nähe es liegt. Der Bischof von Queenstown hatte ursprünglich ein Pastoralinstitut für die südafrikanische Kirche in Johannesburg angeregt (wo Lumko heute angesiedelt ist), aber die Bischöfe konnten sich nicht einigen. So entstand das Pastoralinstitut im Kontext eines missionarischen Instituts, und es arbeiteten nur zwei Theologen mit: Oswald Hirmer, der mit dem Bibelapostolat beauftragt war – und Fritz Lobinger, der sich mit der Frage des Aufbaus örtlicher Gemeinden und ihrer Dienste befasste. Zusammen entdeckten sie den wechselseitigen Zusammenhang zwischen der Entwicklung örtlicher Gemeinden (und ihrem ekklesiologischen Hintergrund im II. Vatikanum) und der Entwicklung einer biblischen Grundspiritualität in den Händen des Volkes Gottes. Zu zweit entwickelten sie einen einwöchigen Kurs für Presbyterien, um in einem spirituellen und partizipativen Prozess die damit verknüpften visionären Perspektiven gemeinsam zu entwickeln. Für die afrikanische Kirche, vor allem in den Ortskirchen Ost- und Südafrikas, stellte sich diese Entwicklung hin zu einer Kirche, die in den riesigen pastoralen Räumen die lokale Dimension des Kircheseins entwickeln wollte, als „Königsweg“ dar: Die ostafrikanische Bischofskonferenz sprach von den örtlichen Gemeinden als „the most local incarnation of the one, holy, Catholic and apostolic church“. Immer mehr Bischöfe, inzwischen auch aus Asien, wollten ihre Diözesen in diese Richtung entwickeln und schickten engagierte Laientheologen und Priester nach Lumko – und so entstand dort ein vierzigtägiger Kurs, in dem die Vision und die entsprechende Methodik vermittelt wurden. Man kann wohl mit Recht sagen, dass in Afrika, vor allem aber in Asien (Singapore, Indien, Philippinen, Korea) die Verantwortlichen für die ortskirchlichen und gesamtasiatischen Kirchenentwicklungsprozesse alle in Lumko gelernt haben. „Gibt es eigentlich Unterlagen für euren Kurs – mal jenseits der Lumko-Materialien, die bis heute Grundlage der afrikani67
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schen und asiatischen Entwicklungen sind?“, fragen wir Fritz Lobinger. Er schaut mich an und sagt: „Ja, ich kann euch den Ordner geben, denn was passiert, wenn ich sterbe? Er wird dann weggeworfen!“ Das ist ein feierlicher Moment, wie die Übergabe eines großen Erbes ... Ich werde diesen Moment nicht vergessen. — Zwischen Singapur, Mumbai, Nagpur und Manila —
Auf dem Katholikentag in Mannheim 2012 begegne ich Wendy Louis und Arthur Go. Sie verantworten das Pastoralinstitut der Diözese Singapur. Mit ihnen hatte in den 80er Jahren die Inkulturation des Lumkoansatzes in Asien begonnen. Für einige Jahre war Oswald Hirmer – noch vor seiner späten Bischofsweihe – hier ansässig und durch seine vielen Kontakte kam es im Jahr 1990 in Bandung bei der Vollversammlung der asiatischen Bischofskonferenzen zur Option für eine partizipative Kirchenentwicklung, die vor allem die Taufwürde und die Örtlichkeit der Gemeindebildung im Sozialraum in den Blick nahm19. Im Bistum Mumbai hatte Weihbischof Bosco Penha schon Jahre vorher eine Fortbildungsstruktur und ein Team aufgebaut, die es den Pfarreien ermöglichten, lokale Kirchenentwicklung in Kleinen Gemeinschaften zu ermöglichen. Einige Jahre später entstand unter der Leitung von Thomas Vijay ein Pastoralinstitut in Nagpur. Hier wurden die inkulturierten Materialien erarbeitet, hier fanden und finden prozessorientierte Workshops und Kongresse statt, bei denen Pastoralteams aus verschiedenen indischen Diözesen in den Weg einer lokalen Kirchenentwicklung eingeführt werden. Wie auch Bukal Ng Tipan: Mit dem dortigen Pastoralinstitut haben wir in den vergangenen drei Jahren eine tiefe Lerner19 So formuliert das Bandung-Statement: „Die Kirche wird eine Gemeinschaft von Gemeinschaften sein, wo Klerus, Laien und Ordensleute einander als Brüder und Schwestern anerkennen. Sie sind gemeinsam versammelt und vereinigt um das Wort Gottes. Dabei teilen sie miteinander die frohe Botschaft und entdecken Gottes Willen für sich in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld. Sie unterstützen sich gegenseitig in ihrem täglichen Leben. Es ist eine partizipierende Kirche, wo die Gaben und Charismen erkannt und aktiviert werden, um den Leib Christi aufzubauen, die Kirche in der Nachbarschaft.“ 68
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fahrung machen dürfen. Vor allem die Erfahrungen mit einem prozessorientierten und partizipationsfokussierten Ansatz einer visionsgeleiteten Kirchenentwicklung waren für unseren europäischen Kontext mehr als hilfreich: Eine hohe Anschlussfähigkeit an europäische Prozesse der Kirchenentwicklung ist hier gegeben – und zugleich können wir von dem erfahrenen Team um Father Mark Lesage und Dr. Estela Padilla lernen, wie umfassend solche Prozesse gedacht werden müssen, welchen langen Atem es braucht – und wie weitreichend Partizipation gedacht werden will. So verstanden wir hier auch, wie viel Zeit es braucht, um wirklich innerlich zu ergreifen, worum es sich beim Thema der örtlichen Gemeinden eigentlich handelt – eben nicht um die Bildung „Kleiner Christlicher Gemeinschaften“, sondern um einen jeweils neu zu inkulturierenden Pastoralansatz, der lebensraumorientiert und mit maximaler Beteiligung aller Betroffenen die Sendung der Kirche in den Mittelpunkt stellt. Dass dabei dann neue und beziehungsorientierte, also im weiteren und engeren Sinne nachbarschaftliche, Kirchenformen („Kleine basiskirchliche Gemeindeformationen“) hervorkommen im Netzwerk der Pfarrei – das ist eine Folge solcher lokaler Kirchenentwicklung. Vor allem aber lernen wir in Bukal Ng Tipan nicht nur die große Vision tiefer ergreifen, sondern auch die dafür notwendigen Methoden und Fähigkeiten, das „Wie“ einer solchen Entwicklung, eines solchen Ansatzes. Das Zusammen von Visionsarbeit, Spiritualität, partizipativen Methoden und theologischer Tiefe ist auch für unseren Kontext „neu“, auch wenn gerade die Methoden der Organisations- und Gemeindeentwicklung hier sehr anschlussfähig sind. — Lernen von Poitiers —
„Ein Seminar für das Volk Gottes“, so haben wir formuliert, als wir zum ersten Mal das Bistum Poitiers im August 2010 besuchen konnten. Denn so sehr wir die Entwicklung der örtlichen Gemeinden schon kannten, so wenig wussten wir von der Unterstützungsstruktur, die diese Entwicklung ermöglichte: Das Priesterseminar des Bistums ist der Ort, an dem die Begleitung der örtlichen Gemeinden durchdacht, gestaltet und durchgeführt wird. Ange69
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sichts der deutlich prekären Finanzlage waren wir einfach nur erstaunt, wie viel Energie in dieses Feld investiert wird, und wie der Pastoralprozess der örtlichen Gemeinden verknüpft ist mit einer Erneuerung der Fortbildungsstrukturen. Denn dort, wo örtliche Gemeinden entstanden, wurde von Seiten des Bistums auch ein „Grundkurs“ vor Ort angeboten: Zusammen mit den Verantwortlichen vor Ort konnten alle Interessierten einen „Weg“ gehen, der in einer spirituellen, theologischen und pastoralen Grundlegung besteht. Diese Begleitung geschah vor Ort, sehr intensiv (alle zwei Wochen) durchgeführt durch eine Fülle freiwilliger „Ausbilder“. Zugleich finden – besonders für Verantwortliche der einzelnen Grundvollzüge – Kurse am Priesterseminar statt, die die Grundvision unter dem Blickpunkt der spezifischen Aufgaben weiter entfalten, so dass Fortbildung und konkreter Austausch stattfinden können. Und auch ein akademisches Studium der Theologie ist dort – zusammen mit den Seminaristen – möglich. Es ist ein offensichtlich konstitutives Element eines ekklesialen Paradigmenwechsels, das sofort einleuchtet: Dort, wo Getaufte ihre Berufung, ihre Gaben, ihre Charismen und ihr Kirchesein als Ausdruck des gemeinsamen Priestertums der Gläubigen entdecken, dort braucht es Strukturen, Orte, Module und konkrete Wege, wie das Volk Gottes – und gerade auch diejenigen, die es als Pfarrer, Priester und Hauptberufliche begleiten und leiten – eine Möglichkeit, sich auf Dauer und prozesshaft diese Perspektive und ihre Konsequenzen zu eigen zu machen. Wie können wir dies für unseren Kontext ins Leben bringen, wie können wir „lernen“, wie man das macht, wenn wir es nicht einfach selber versuchen, versuchen und aus unseren eigenen Erfahrungen lernen? — Die Entwicklung der Summerschool —
Und so beginnt eine herausfordernde Lerngeschichte. Wir entwickeln eine eigene „Brutstätte“ des Neuen: 5 Tage für Interessierte, an denen wir mit Hilfe unserer weltkirchlichen Mentoren so etwas wie eine inkulturierte Variante einer „Einführung in den Ansatz lokaler Kirchenentwicklung“ versuchen. Und seit 2009 lernen wir: 70
2.9 b r u tstät t e n d e s n e u e n
Wir lernen, dass es einfach nicht geht, die asiatischen Module in unseren deutschen Kontext zu übernehmen; wir lernen, dass es wenig Sinn macht, mit einzelnen Interessierten zu arbeiten – ohne Teams geht es eigentlich gar nicht; wir merken, dass das Interesse immer größer wird; wir merken, dass es schon lange nicht mehr einfach nur um die Bildung örtlicher Gemeinden geht – sondern um die Frage, ob wir bereit werden für einen Ansatz einer Pastoralentwicklung und seiner Grundwerte – an dessen Ende neue Gestalten beziehungsorientierter kirchlicher Orte stehen. Und wir merken, dass wir unterscheiden müssen zwischen Teams aus Hauptberuflichen und Teams aus Hauptberuflichen und engagierten Interessierten. Jedes Jahr machen wir eine wunderbare und kreative Erfahrung – und jedes Jahr merken wir, dass es so noch nicht reicht, selbst dann, wenn alle begeistert nach Hause fahren. — 2012: Ein konkreter Werkstattbericht —
Man kann also wirklich sagen: Schritt für Schritt, Jahr für Jahr, können wir jeweils den Stand unseres Erkenntnisfortschrittes in die Summerschool einbringen. Angesichts des großen Andrangs im Jahr 2011 haben wir eine mutige Erweiterung gewagt: Im Sommer 2012 wollten wir zwei Summerschools gestalten, für Priester, Diakone und Hauptberufliche einerseits – und für pfarrgemeindliche Teams andererseits. Ende Juni 2012: Über 50 Priester, Diakone und Hauptberufliche kommen zusammen. Als Gast begleitet uns Thomas Vijay aus Indien. Gemeinsam mit ihm haben wir den Workshop geplant, der über zwei Tage geht, von Montagmittag bis Mittwochmittag. Die Dynamik des Workshops führt uns von den Grundlagen und Grundwerten eines Ansatzes lokaler Kirchenentwicklung zur Frage, wie genau so ein Anfang geschehen kann. Die Energie unter den Teilnehmern ist groß. Und so sehr dieser pastorale Grundansatz sofort einsichtig ist – die eigentliche Frage bleibt immer die: Wollen wir so viel Partizipation, und inwieweit verändert das unsere Rolle? Ganz intensive Diskussionen über diese Frage zeigen, dass dann, wenn wirklich ein Ansatz partizipativer Kirchenentwicklung auf den Weg kommt, die Frage nach der konkreten 71
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Ausgestaltung der Leitungsaufgabe wirklich die eigene Mentalität und die eigenen Bilder in Frage stellt. Und es stellt sich heraus, dass eine entscheidende Herausforderung in einer inhaltlichen Klärung des Teambegriffs besteht: Ein Team von Priestern, Diakonen und Hauptberuflichen ist eben mehr als eine Arbeitsgruppe, und es ist mehr als deutlich, dass nur mit einer gemeinsamen Vision der Aufbruch zu einer partizipativen Kirchenentwicklung gewagt werden kann ... Die Lernerfahrung bei diesem Workshop ist für uns fundamental: Unsere eigentliche Aufgabe besteht darin, mit Teams aus Bistümern, Dekanaten und Pfarreien solche Workshops zu machen. Denn wenn dieser Prozess Kraft gewinnen soll, dann wird dies nur geschehen können, wenn wir Priester und Teams dafür gewinnen, selbst den Raum für solche Prozesse zu öffnen. Das genau können wir von unseren weltkirchlichen Freunden überall lernen ... — Hinter den Kulissen des Dreamteams ... —
Einen Monat später ein ähnliches Bild: Insgesamt 70 Teilnehmer nehmen an den zwei Modulen der Summerschool für Teams Hauptberuflicher und Engagierter teil. Diesmal dürfen wir unseren philippinischen Freunden assistieren, im wahrsten Sinn, als Übersetzer, Helfer und Mitmoderatoren. Eine unglaubliche Erfahrung wird uns hier geschenkt. Wir werden mit hineingenommen in die Arbeitsweise und in die Weisheit eines Teams, das mit hoher Kompetenz Visionsarbeit und konkrete Entwicklungswege mit unseren Teilnehmern erarbeitet. So sehr erschöpfend dies auch ist (Übersetzen ist kein Ponyhof ...), so sehr begeisternd und erleuchtend ist es auch. Father Mark Lesage, Estela Padilla und Aleli Gutierrez ermöglichen uns, die Architektur und Struktur eines Weges zu entdecken, hinter dem eine lange Erfahrung steht. Und was so einfach und zugänglich wirkt, das ist wirklich ein durchdachtes Kunstwerk. Denn in der Tat: Hinter den konkreten Modulen und Erfahrungen steht ein Neuansatz einer Pastoraltheologie, die Spiritualität, Liturgie, Theologie und Pastoral mit einer hohen existenziellen Dynamik verbindet. 72
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Genau diese existenzielle Hinwendung ist es, die mich am Anfang so überrascht: am Anfang des ersten Moduls steht eine Reflexion auf den eigenen Namen und die eigene damit verbundene Biographie. Das ist scheinbar so leicht, und doch wird es schnell sehr tief. Denn anhand der Geschichte von Jakob und seinem Gotteskampf am Jabbok wird schnell deutlich, dass die Namensgebung immer auch mit eigenen erlittenen oder erfolgreichen Erfahrungen zu tun hat. Dieser Anfangsteil ist tief eingewurzelt in liturgische Feiern und in einen persönlichen und gemeinschaftlichen Umgang mit der Schrift. Von dieser besonderen persönlichen und geistlichen Erfahrung des Teilens der eigenen Namensgeschichte kommen wir dann zur Frage nach den neuen Namen für die Kirche heute, die sich ja ebenso in einer fundamentalen Namenskrise bewegt. Wenn wir dann in Kleingruppen den zukünftigen Namen unserer Kirche in den Blick nehmen und diese Visionsarbeit in einem neuen Bild verdeutlichen, dann wird überraschend deutlich (oder ist es gar nicht so überraschend?), dass sich gemeinsame Elemente einer zukünftigen Vision abzeichnen. Einen solchen Weg vor Ort zu gehen und mit den Menschen zu entwickeln, ist dann eine Frage konkreter Methoden, durch die möglichst viele Menschen teilhaben sollen an diesem Visionsprozess. Brillant und begeisternd! Vor allem ist an jeder Stelle deutlich, dass es hier um einen zutiefst geistlichen und verwandelnden Weg geht, einen Weg, der Energie verströmt und Menschen voller Leidenschaft auf den Weg führt. Wir dürfen das auch beim zweiten Modul erleben. Ausgangspunkt ist hier die eigene Familie. Und der Weg zur Gemeindebildung in den ersten frühchristlichen Anfängen führt zur Notwendigkeit einer lebensraumorientierten Kirchenentwicklung, an den Orten, wo wir leben und arbeiten. Die vielfältigen Methoden und Wege, die wir dabei ausprobieren, münden ein in eine aktualisierende Vertiefung der paulinischen Briefe: Im Abschlussgottesdienst schreiben die Christen von Galatien, Rom und Korinth an ihre eigenen Hildesheimer, Aachener und münsterländischen Gemeinden. Eine fantastische Erfahrung von Empowerment und gleichzeitiger theologischer, pastoralpraktischer und spiritueller Vertiefung. 73
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Die Frage am Ende heißt nicht: Wann können wir das auch? Sondern: Wie können wir das lernen? Wir – die verschiedenen Protagonisten dieses Weges in Deutschland – brauchen selbst eine solche „Schule“ des Lebens, des Lernens, des Evaluierens und des Austausches, damit wir in unseren Diözesen solche Prozesse begleiten können ... Und deswegen sieht im nächsten Jahr die Summerschool wieder anders aus: Sie wird eine Summerschool mit unseren Freunden aus den Philippinen für alle die, die diese Kunst der Summerschool erlernen können ... – damit wir dann auch mit anderen Teams diese Wege des Lernens gehen können. Ein unglaubliches Abenteuer, ein Geschenk, eine Herausforderung: Sie wird immer größer, je mehr wir uns auf sie einlassen.
2.10 Die Seminarkirche Seit Mitte der 90er Jahre ist das Priesterseminar Hildesheim kein Priesterseminar im klassischen Sinn mehr: Die Pastoralkurse, die bis dahin noch stattfanden, sind zu einem Gemeinschaftsunternehmen norddeutscher Diözesen geworden – und das wunderschöne Priesterseminar wurde zu einer Ausbildungsstätte für Haupt- und Ehrenamtliche. Die Kirche des Priesterseminars wurde seitdem nur noch selten benutzt. Zum einen war sie schwer beheizbar – aber auf der anderen Seite wuchs der Wunsch, diese Kirche für die vielfältigen Liturgien des Wortes zu benutzen, die im Zusammenhang mit diözesanen Fortbildungen stattfanden. Und schließlich wurde die Kirche auch für die Gottesdienste der katholischen Schulen genutzt. Auch hier zeigte sich ein neuer Bedarf: Immer seltener erscheint es sinnvoll, mit den Schülern Eucharistie zu feiern, weil ein immer kleinerer Teil der Schüler wirklich darin „erfahren“ ist. Dies führte zu einem neuen Nachdenken: Wenn wir die Gelegenheit haben, die Kirche neu zu gestalten – wie müsste sie dann aussehen, so dass sie erstens den Herausforderungen einer katechumenalen Situation der Schüler, zweitens der deutlichen Profilierung der Wortgottesfeiern und schließlich drittens den liturgischen Vorgaben für die Feier der Eucharistie entspräche. 74
2.10 di e s e m i n a r ki rc h e
Dem kleinen Team von Betroffenen und Fachleuten war klar, dass einer solche Neugestaltung – wenn sie der Bischof mittrug – eine wichtige Funktion für eine Kirche der Zukunft zukam: Denn kaum etwas anderes als die Raumerfahrung der Liturgie prägt Menschen so sehr. — Erfahrungen einer neuen Kultur der Liturgie —
Im November 2011 wurde die neugestaltete Seminarkirche durch die Altarweihe neu in Gebrauch genommen. Eine ungewöhnliche Kirche ist es geworden20: eine klar nach Osten orientierte Kirche, die einen großen liturgischen Raum bezeichnet, der durch die festen liturgischen Orte eine Wegachse beschreibt – vom Taufwasserbecken über den Ambo zum Altar, hinter dem das große Kreuz steht. In einer Kapelle, die diese Achse fortsetzt, sind der Tabernakel und ein Raum für die Anbetung. Spannend ist, dass die zu feiernde Liturgie diese Wegstruktur auch zu gestalten hat. Vom Einzug und dem Sich-Versammeln der Gemeinde über das Hören des Wortes führt der Weg der mitfeiernden Gemeinde vor oder um den Altar. Die Gestaltung der Stühle, des Fußbodens und der Lichtarchitektur unterstreicht diesen Wegcharakter. Es ist anders als gewohnt. Und als wir den Religionslehrerinnen und -lehrern dieses Konzept vorstellten, waren sie zunächst sehr erschrocken: „Wie sollen wir hier feiern – das geht gar nicht so wie sonst?“ In der Tat: wer hier Liturgie feiern will, muss sich vorher überlegen, wie genau das geht, auch wenn er gar nichts „Besonderes“ machen will. Der Raum verlangt ein inneres Teilnehmen und eine innere Beteiligung, aber er ermöglicht sie auch. Natürlich gibt es auch Fragen an diese Kirche, und manchem gefällt sie nicht – aber je länger, je mehr wird sie ein Ort, an dem ganz unterschiedliche Gottesdienstgemeinden sich treffen und mit innerem Gewinn Gottesdienste feiern. Dabei sind wir durch diese Kirche noch weiter beschenkt worden: Uns war gar nicht aufgefal20 Vgl. dazu den Artikel von E. Ballhorn, Ein Raum, eröffnet zur Feier des Gotteswortes. Die neugestaltete Seminarkirche in Hildesheim, in Bibel und Liturgie, Heft 1/2012, 49–53. 75
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len, welche unglaublich farbintensiven Fenster diese Kirche hatte und auch weiterhin hat. Durch die schlichte und fast kühle Gestaltung kann jetzt die Sonne in den verschiedenen Jahres- und Tageszeiten diese Kirche einfärben. Es ist ein Spektakel, in diesem Raum bei Sonnenschein längere Meditationszeit zu verbringen: Die ständig wechselnden und wandernden Farbkonstellationen schenken einen tiefen Frieden und eine tiefe Gebetsfülle. — „In diesem Raum wird jeder still“ —
Inzwischen ist die Seminarkirche vielleicht die am meisten benutzte Kirche in Hildesheim. Nachdem am Anfang die Schulen zögernd ihre Schulgottesdienste feierten, ist sie inzwischen fast jeden Tag mehrfach genutzt. Als wir nach einem Jahr eine Evaluation mit den Verantwortlichen und Lehrerinnen wagten, da hatte sich die anfängliche Skepsis völlig gedreht und war einer großen Begeisterung gewichen: „Ich habe das noch nicht erlebt. Ob man mit Fünfklässlern oder mit Oberstufenschülern hier Gottesdienst feiert, alle werden still, sobald sie diese Kirche betreten.“ Und eine Pastoralreferentin erzählte von einer sehr eigenen Erfahrung. Eines Tages saß sie in der Kirche und hatte beim Gebet die Augen geschlossen. Sie hörte, wie sich die Tür öffnete und offensichtlich einige Menschen in diese Kirche kamen. Als sie die Augen öffnete, war sie umgeben von einer Klasse von Jungen und Mädchen, die ganz still Platz genommen hatten. Das ist ein erster Effekt, der bei dieser Kirche auffällt. Der Raum schafft Stille und ermöglicht tiefes Hören auf die leise Stimme Gottes – er richtet demütig die Aufmerksamkeit auf den, der diesen Raum erfüllt, und ermöglicht das Gespräch mit ihm. Für das Hören des Gotteswortes ist dieser Raum ausgerichtet, weil die Mitfeiernden in U-Form um den Ambo sitzen. Neben den Schulgottesdiensten wird der Raum häufig für Feiern genutzt, in denen wir das Wort Gottes teilen: Im Hören auf Lesungen des Gotteswortes, beim Bibelteilen in seinen unterschiedlichsten Formen und bei der Lectio divina – immer ermöglicht dieser Raum das Hören auf den anwesenden Herrn, der durch sein Wort spricht. 76
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Sowohl diese Feiern des Wortes als auch die Feiern der Eucharistie, die Hochzeiten, und schließlich die Zulassungsfeiern der Taufbewerber strahlen. Die Liturgie selbst muss zwar durchdacht werden, damit sie gelingt – sie braucht aber keine neuen Formen, wenn die Gemeinschaft der Glaubenden und auch der Vorsteher aus einer gefüllten Glaubenserfahrung heraus feiern. Dann hilft der Raum und die vorgegebene Liturgie die Wirklichkeit einer tiefen Mystagogie und Begegnung mit dem Geheimnis Gottes zu erfahren und genährt zu werden durch Wort, Zeichenhandlungen und Sakrament. Wort, Zeichenhandlungen und die Feier der Sakramente strahlen in diesem demütigen Raum – und viele Menschen erleben hier eine Tiefe, die ihnen anderswo nicht geschenkt wurde. — Ein Seminar für das Volk Gottes —
Diese unerwarteten Erfahrungen bestätigen, was sich an vielen Orten abzeichnet. Der Feier der Liturgie kommt eine hohe Bedeutung für das Glaubenswachstum zu. Und gerade auch Umfragen in Kirchengemeinden und Pfarreien belegen, wie bedeutsam die sorgfältige und tiefe Mitfeier ermöglichende Liturgie ist – nicht nur für „hungernde Engagierte“, sondern gerade auch für Menschen, die erst am Anfang ihres Glaubensweges stehen. Ja, gerade auch für Menschen, die noch nie oder erst anfänglich mit dem christlichen Glauben in Kontakt gekommen sind, spielt die Liturgie eine zentrale Rolle. Die Erfahrungen bei den Weltjugendtagen, in Taizé, aber auch im Kontext unseres Experiments „Soul Side Linden“ in Hannover, sprechen eine deutliche Sprache21 und lassen sich durch eine Vielzahl von anderen Erfahrungen bestätigen, vor allem aber durch die Konzeption des altkirchlichen Katechumenats nach dem II. Vatikanischen Konzils: das Hineinwachsen in den christlichen Glauben geschieht eben „ganzheitlich“: durch den gemeinschaftlichen Weg mit Zeu21 Die entsprechenden Erfahrungen sind beschrieben in C. Hennecke, Kirche, die über den Jordan geht, Münster 52011, 35–39, und Ders., Glänzende Aussichten, Münster 22011, 97–102. 77
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ginnen und Zeugen des Glaubens, durch das Hineinwachsen in die Schrift und die lebensverwandelnde Kraft des Wortes Gottes, durch die selbstlose Diakonie, das Kennenlernen der kirchlichen Tradition und die Feier dieses Lebens in der Liturgie. Die Stufengottesdienste führen ein in das Geheimnis der Begegnung mit dem lebendigen Gott und markieren den Weg in die Eucharistie. Aber auch dann, wenn jemand getauft und in die christlichen Geheimnisse eingeführt ist, ist sein Weg nicht zu Ende, sondern er wächst zusammen mit dem Leib Christi weiter. Immer mehr entdecken wir, dass es gerade in einer Kirche, die sich neu entdeckt und neu „wird“ in der Entwicklung des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen, Orte braucht, an denen dieses Wachstum ermöglicht, begleitet und geprägt werden kann. Und so erfährt die Grundidee des Priesterseminars eine ungeahnte Wende: Es braucht ein Seminar des Volkes Gottes, einen Ort also, wo Christen immer tiefer ihre Berufung, ihre Gaben und ihre Sendung entdecken können. Weltkirchlich ist uns vor allem im Bistum Poitiers diese Entwicklung deutlich geworden: Das Priesterseminar von Poitiers hatte eine ähnliche Transformation erfahren – aber hier ging es nicht nur darum, ein weiteres kirchliches Bildungshaus zu errichten. Es ging um mehr. Hatte in den Synoden des Bistums und in den nachfolgenden Bemühungen um örtliche Gemeinden und ihre Verantwortungsträger sich ein deutlicher Weg der Begleitung und Unterstützung gezeigt, so wurde nun das Seminar zum Ort, in dem die Entwicklungsdynamik dieses Volkes begleitet wurde. Natürlich steht hinter vielen Bildungshäusern auch in unserem Land ein Kirchenbild – aber ganz häufig ist diese Bildungsbemühung einem milieuchristlichen Bild verpflichtet: Die eigentliche Kirchenentwicklung ist hier schon abgeschlossen und es geht um vertiefende Akzente und Weiterbildung. In unserer Situation aber gerät das Kirchenbild in verflüssigende Bewegung und es geht um einen Prozess der Kirchenentwicklung, um eine echte spirituelle Eingründung und um einen visionsgelenkten Zukunftsweg, zu dem es auch bestimmte Werkzeuge und Methoden zu erlernen gilt. Solche Orte sind dann weit mehr als Orte der Vermittlung speziellen Wissens, sie sind 78
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Räume, in denen die Vision ergriffen werden kann, in denen erfahren werden kann, wohin das Volk Gottes unterwegs ist – und in denen man sich vergewissern kann, wie sehr Gott uns alle auf diesem Weg begleitet. Aus diesem Grund ist aber auch die Seminarkirche ein wichtiger Ort in diesem Prozess: Der Weg, den wir als Volk Gottes in die Zukunft gehen können, kann sich auch spiegeln in den Liturgien, die hier möglich werden und eine tiefe Prägung und Nahrung aus der Kraft des Wortes und des Sakraments ermöglichen.
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3. Das Werden der Kirche verstehen 3.1 Die Umkehr zur Taufe: Die Erfahrung der Huysburg Eine brillante Idee wurde Wirklichkeit. Brillant, weil katholisch. Wir werden globale weltkirchliche Lerngemeinschaft, weil wir in ähnlichen Herausforderungen stehen und einander bereichern können mit unseren Erfahrungen: So werden wir universaler, relativieren eigene Lösungsversuche und werden inspiriert. Konkret ereignete sich das im Herbst 2011 auf der Huysburg. Verschiedene Exposurereisen und Erfahrungen hatten ein Thema in den Mittelpunkt gerückt: Wie kann aus der Taufe heraus die Verantwortung für örtliche Gemeinden wahrgenommen werden? Während im Bistum Magdeburg ein Prozess mit dem Namen V.O.L.K. (Vor Ort lebt Kirche) in Angriff genommen wird22, hat sich in Linz ein eigenes Modell entwickelt23. Zugleich konnten wir in Poitiers entdecken, wie Leitung in örtlichen Gemeinden durch eine scheinbar sehr einfache, aber theologisch durchdachte Pastoral ermöglicht wurde24 – was wiederum das eigene Bistum Hildesheim zu einigen Piloterfahrungen inspiriert hatte25. Es gelang, dass Theologen und erfahrene Praktiker sich für ein Wochenende im Benediktinerkloster der Huysburg trafen 22 Vgl. dazu A. Schleinzer/R. Sternal (Hg.), Um Gottes und der Menschen willen – den Aufbruch wagen. Dokumentation des Pastoralen Zukunftsgespräch im Bistum Magdeburg, Magdeburg 2011. 23 Vgl. dazu M. Udeani/H. Eder/M. Heilmann (Hg.): Kirche bleiben im Nahbereich. Pfarrgemeindliche Leitungsmodelle mit Beteiligung Ehrenamtlicher, Linz 2009. 24 Vgl. zuletzt R. Feiter/H. Müller, Was wird denn jetzt aus uns, Herr Bischof, Ostfildern 52012. 25 Vgl. dazu kritisch-sympathisch H. Hallermann, Neue Formen der Gemeindeleitung, Kanonistische Reflexionen zu neueren Entwicklungen in einzelnen Diözesen, in ArKKR 179 (2010), 38–69. 81
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und ihre Erfahrungen austauschten, miteinander Liturgie feierten, ihre Taufe erinnerten und erneuerten und ... miteinander feierten. Das war eine großartige Erfahrung, gerade weil so viel Kompetenz und Erfahrung nur darauf zu warten schienen, in ein Gespräch miteinander gebracht zu werden. Für unsere Gäste aus Poitiers war diese Erfahrung auch neu. Gerade die weltkirchliche Dimension und die Gemeinschaft mit Christen, die an anderen Orten auf ähnlichen Spuren sind, schaffen eben jene Universalkirchlichkeit, die wir alle brauchen, um katholisch zu sein und darin zu wachsen. — Was uns unterscheidet: die Strukturfalle —
Es gab nur einen Vortrag – über die Würde der Taufe. Und dieser Vortrag von Jean Paul Russeil gab mir zu denken. Mir fiel auf einmal genau die Grunddifferenz unseres deutschsprachigen Ansatzes zur Erfahrung auf. Diese Grunddifferenz beinhaltet wirklich eine Umkehrung des Denkens über Kirchenentwicklung und hat weitreichende Konsequenzen. Worin genau besteht sie? Es fiel und fällt auf, dass die deutschsprachige Pastoralentwicklung aus einem Strukturentwicklungsprozess heraus auf die Bedeutsamkeit der Taufwürde kommt. Im Wesentlichen geht es häufig darum, wie die die Strukturen einer örtlichen Gemeinde erhalten werden können – und wie es möglich ist, dass Laien „ehrenamtliche Verantwortung“ übernehmen könnten, als Einzelne oder als Teams. Ein solcher struktureller Zusammenhang bringt viele Herausforderungen mit sich und hat gewichtige Risiken und Nebenwirkungen. Man könnte auch von Geburtsfehlern sprechen. Im Bistum Hildesheim hat sich unter der Leitung des Diözesanrates eine Arbeitsgruppe zum Thema „Delegierte Verantwortung“ gebildet. Hier sollte und soll über Möglichkeiten, Erfahrungen und Herausforderungen der Bildung von Verantwortlichenteams in örtlichen Gemeinden innerhalb von Pfarreien nachgedacht werden. Schnell konnte man merken, dass der Ausgangspunkt tatsächlich sehr strukturlastig war: Denn wenn man von „delegierter Verantwortung“ spricht, ist der Ausgangspunkt die Pfarrstruktur 82
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– und dann geht es darum, in welcher Weise die sakramentale Leitungsverantwortung an Einzelne oder Teams übertragen werden kann – der Kanon 517,2 des Kirchenrechts lässt grüßen ...26. Den strukturellen Hintergrund verrät auch die Idee, dass das Team der Hauptberuflichen insgesamt die Leitungsstruktur unter der Pfarrverantwortung des leitenden Pfarrers abbildet, so dass in den Teilgemeinden Hauptberufliche „Bezugspersonen“ wurden: Dass dies tendenziell und leicht zu einer missverständlichen Klerikalisierung pastoraler Berufe führen kann, ist in der Vergangenheit nur allzu deutlich geworden. Deswegen wurde in unserem Bistum dann bald von „ehrenamtlicher Verantwortung“ gesprochen. Doch auch dies hat beachtliche Ambivalenz. Das kann ein Beispiel deutlich machen. Als in einer Pfarrei unseres Bistums ein solches Pilotprojekt versucht wurde, geschah dies vor dem Hintergrund der Erfahrung von Poitiers: Waren dort Verantwortlichenteams von fünf Personen über einen begrenzten Zeitraum von drei bis maximal sechs Jahren benannt und gesandt worden, so wurden hier drei Personen zum Team ehrenamtlicher Verantwortung ernannt und bischöflich gesandt. Das Problem, das sich schon bald stellte, zeigt deutlich die schon benannte Ambivalenz: Es gab eigentlich nur eine Verschiebung der Verantwortung vom Pfarrer auf das Team vor Ort. Und für die Christen am Ort hatte sich mentalitätsmäßig nichts geändert, mit der Konsequenz, dass nun die Ehrenamtlichenteams sich einerseits mitten in den Strukturkämpfen und Unklarheiten der großen Pfarreien fanden und sie andererseits nun als die „Zuständigen“ für die Institution vor Ort gesehen wurden. Und damit zeigte sich plötzlich auf der Ebene der „Ehrenamtlichen“ dasselbe klerikale Phänomen, das durch diese Maßnahme eigentlich den Priestern weggenommen werden sollte: die Überlastung. In der Tat macht für mich die Rede von der Überlastung der Ehrenamtli26 Es scheint, dass sich in der bundesdeutschen Pastoral mit Recht die Anwendung dieses Kanons als Kurzschluss herausgestellt hat. Vgl. zuletzt die Kongressdokumentation M. Böhnke/T. Schüller (Hg.): Zeitgemäße Nähe. Evaluation von Modellen pfarrgemeindlicher Pastoral, Würzburg 2011. 83
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chen deutlich, dass hier die Ausgangspunkte für die anstehenden Veränderung nicht von innen, sondern von außen gesetzt werden sollen: Es ändert sich aber – bei Licht gesehen – nichts, außer dass es jetzt die Ehrenamtlichen tun sollen. Das ist theologisch ein echter Missgriff, der in die Nähe der pastoralen Häresie greift. Denn faktisch wird dann Leitung doch „übertragen“ (und damit ihre sakramentale Grundstruktur missachtet). Und Ehrenamtliche fragen sich angesichts dieses Vorganges dann zu Recht, ob sie nicht einfach nur „Ersatz“ fehlender Priester und damit eine ambivalente Notlösung sind – und dass System der Pfarrgemeinde hier ein weiteres Mal einfach nur in das pragmatistische Strukturbett des Prokrustes gelegt und bis zum Zerreißen gedehnt wurde. — Reingefallen: Das Risiko der Schnittblumenpastoral —
Die Erfahrung der Huysburg bezeichnet hier eine mögliche Umkehr des Denkens. Denn auch wenn wir in Hildesheim meinten, wir hätten doch genau die Erfahrung von Poitiers übernommen, so haben wir in Wirklichkeit nur die „Blüte“ übernehmen wollen. Natürlich, das ist das Risiko jeder weltkirchlichen Rezeptionsbewegung – wir übernehmen, was wir verstanden zu haben meinen. Und so gilt die philosophische Binsenwahrheit: „quidquid recipitur, secundum modum recipientis recipitur“ – was man aufnimmt, hängt von der Wahrnehmung dessen ab, der es aufnimmt (Aristoteles). Oder auch einfach und etwas spitz: Wir haben nur das gehört und wahrgenommen, was wir wahrnehmen wollten – oder auch konnten. Das ist ein typischer Vorgang. Als in den siebziger Jahren die lateinamerikanische Befreiungstheologie im deutschsprachigen Bereich Einzug hielt, kam es zur Bildung institutionenkritischer Basisgemeinden – während in Lateinamerika Basisgemeinden pastorale Entwicklungen unter der Führung von Bischöfen waren, um die Örtlichkeit des Kircheseins zu ermöglichen. In den 80er Jahren wurde das Bibelteilen zur Bildung spiritueller Selbsthilfegruppen genutzt und als Bibelmethode – und die Rede von den Kleinen Christlichen Gemeinschaften wurde mit der Bildung 84
3.1 D i e Um k e h r z u r Tau f e : D i e E r fa h r u n g d e r H u y s b u rg
von Kleingruppen verwechselt. Die „Blüten“ weltkirchlicher Erfahrungen bedienten also in Wirklichkeit unsere Sehnsüchte ... Zurück zu Poitiers: Misstrauisch hätte uns machen müssen, dass es das Wort vom Ehrenamtlichen im Französischen gar nicht gibt; wir hätten darauf achten können, welchen Namen die Christen in Poitiers ihren Verantwortlichenteams gaben: „équipe d’animation“ hat ja eigentlich nichts mit ehrenamtlicher Verantwortung zu tun. Schließlich ist auffällig, dass die Bildung örtlicher Gemeinden in Poitiers spätes Ergebnis eines intensiven Prozesses im ganzen Bistum war – und also verschiedene Bewusstwerdungsprozesse im Volk Gottes voraussetzt. Und schließlich stellte sich die Kirche von Poitiers der Frage nach der Begleitung sowohl der betroffenen Priester als auch der „équipes“ vor Ort mit hoher Priorität. Und deswegen ist es nicht einfach „ähnlich“, was wir versucht haben. Die eigentliche Frage ist nämlich nicht, ob Verantwortliche in einer örtlichen Gemeinde ernannt werden und ob sie als Team wirken – sondern vor welchem ekklesiologischen Hintergrund dies geschieht. Genau diese Erkenntnis ließ mich tiefer entdecken, welche Umkehrung der Kirchenentwicklung damit verknüpft ist. — Was uns einen kann: Kirchenentwicklung im Ausgang der sakramentalen Taufe —
Jean Paul Russeil berichtete in seinem Vortrag von einer Kirchenentwicklung, die ihren Ausgang von der Taufwürde und vom gemeinsamen Priestertum aller Getauften nahm. Konkret bedeutet das zunächst einmal, dass nicht die Erhaltung oder Transformation der Strukturen Ausgangspunkt des pastoralen Wandels war – sondern eine ganz andere Frage. Eine Frage, die angesichts der zweifellos notwendigen Strukturprobleme in den Hintergrund hätte rücken können – die aber erst wichtig wurde: „Was wird denn jetzt aus uns, Herr Bischof?“, fragten die Menschen vor Ort, nicht nur die Christen. Es war diese Frage, die einen anderen Prozess freisetzte. Es ging auf einmal nicht zuerst um zentralisierende Strukturfragen, so wichtig diese theologisch und vor allem sakra 85
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mententheologisch auch sind, sondern um die Frage, wie den Christen vor Ort ermöglicht werden kann, lokal Gemeinde zu sein. Diese Frage ist letztlich die Frage vor allen Fragen – die Frage nach der „salus animarum“, sie ist die Frage, was die Taufe für die Christen vor Ort bedeutet und was letztlich die Implikationen der Initiation durch Taufe, Firmung und Eucharistie für das Kirchesein sind, zumal dann, wenn vom gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen die Rede ist. Während Strukturfragen auf die Gemeinschaftsstruktur der Kirche zielen und die sakramentale Ermöglichung der Sammlung, hat hier von vornherein ein sakramentales Sendungsverständnis der Kirche im Vordergrund gestanden: Es ging um die Frage der Menschen am Ort, wie die Christen hier ihr Kirchesein verwirklichen könnten – in Dienst und Sendung. Die Rede vom gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen verdeutlicht ja genau diesen ekklesialen Sendungaspekt: das priesterliche Gottesvolk hat Anteil an der Sendung Christi zum Priester, König und Propheten und ist somit gerufen, als Kirche am Ort diese Berufung zu leben. Vor diesem Hintergrund wird der entscheidende Unterschied greifbar: Es geht zunächst um die Taufe und das gemeinsame Priestertum aller Getauften – und alle Strukturen der Kirche und auch alle Strukturreformen in der Kirche dienen der Ermöglichung eines Lebens aus der Taufe, das sich bewusst als Kirchesein versteht. Gerade die sakramentale Grundwirklichkeit der Kirche, die in der Taufe gründet und durch die Eucharistie immer wieder ihre aktualisierende Vollendung erhält, soll ja durch die Struktur der Pfarrei ermöglicht werden: Die Begleitung und Ermächtigung der Getauften ist Aufgabe des sakramentalen Leitungsamtes, die Verkündigung des Evangeliums soll ermöglichen, dass die Gemeinschaft der Getauften aus der Begegnung mit dem auferstandenen Herrn im Wort leben kann – und die Eucharistie feiert die Hingabe Christi im Opfer, damit das so genährte Volk Gottes seine Eucharistie als Hingabe und Dienst am gegebenen Ort leben kann. Damit stellt sich weniger die unfruchtbare Frage nach dem Maß von Zentralisierung und Lokalisierung, sondern mehr die 86
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Frage, wie und in welcher Struktur das Leben des Volkes Gottes als gesandte Gemeinschaft der Gläubigen am besten ermöglicht wird. Die Strukturfrage wird zur konkreten und theologisch relevanten Frage des Dienstes am Volk Gottes. So wird auch klar, dass die Erfahrung von Poitiers nur dann erfolgversprechend inkulturiert werden kann, wenn zuvor das Volk Gottes um seine Würde wissen kann. Das verlangt Prozesse gemeinsamer Vergewisserung der Taufe und ihrer kirchenentwicklerischen Dynamik vor Ort. Wenn ein solcher Prozess im Blick ist, kann auch die Frage nach der Verantwortung vor Ort anders gestellt werden: Denn eigentlich wissen sich die Christen vor Ort als gesandte Gemeinschaft des Glaubens – und die Wahl von Verantwortlichen geschieht vor dem Hintergrund gemeinsamer Verantwortung, die stellvertretend übernommen, aber nicht klerikalisierend „abgenommen“ wird. Je tiefer uns dieser Umkehrprozess unseres ekklesialen Denkens gelingt, desto zentraler wird die Frage nach einem Begleitprozess für das Volk Gottes – desto weniger umstritten werden Strukturfragen sein, und desto weniger wird der Eindruck entstehen, es solle doch einfach weitergehen wie bisher.
3.2 Im Garten des Bischofs: Die Geschichte in den Blick nehmen Juni 2012: Wir stehen mit Jean Paul Russeil, dem Bischofsvikar von Poitiers und einem der engsten Mitarbeiter von Bischof Rouet, im Garten des Erzbischöflichen Hauses: „Schaut euch um, hier hat der erste Bischof von Poitiers gelebt. Hilarius von Poitiers war ein großer Kirchenlehrer, ein Trinitätstheologe – und hier nebenan begegnete er dem Heiligen Martin, der in unserem Bistum sein erstes Kloster gegründet hat. Hier im Garten war eine kleine Kapelle. Und die Kirche hier in der Nähe ist der heiligen Radegunde geweiht – sie alle sind die großen Heiligen unserer Kirche, und in ihrer Erfahrung gründen auch wir.“ Schon nach dem ersten Besuch in Poitiers, dann aber vor allem beim Kongress auf der Huysburg, der die Diözesen Hildesheim, 87
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Linz, Magdeburg und Poitiers um die Fragen einer örtlichen Kirchenentwicklung zusammenbrachte, hatten unsere Gäste aus Poitiers in uns einen tiefen Eindruck hinterlassen. Nach dem Kongress waren wir noch für einen Tag in Hildesheim gewesen, und ich erinnere mich wie heute an unserem Besuch im Römer-Pelizäus-Museum, wo sich zur Zeit die Bernwardstür befindet: „C’est magnifique“, höre ich heute noch Jean Paul ausrufen, „C’est toute une catechèse“ – die ganze Tür ist eine Väterkatechese über Schöpfung und Erlösung. Das wusste ich auch, und ließ mich von der Begeisterung mitreißen, als wir dann die Michaeliskirche und die dorthin ausgeliehene Bernwardssäule sahen. An diesem Tag ist eine tiefe Freundschaft gewachsen, durch die nun dieser Gegenbesuch möglich wurde. Es war kein „Exposure“, es war ein Besuch bei Freunden, mit denen wir den Glauben, eine Vision zukünftiger kirchlicher Entwicklung und ein tiefes gemeinsames Verstehen der Theologie teilen. Dort, im Garten, ging mir noch tiefer ein Nebensatz vom Kongress auf der Huysburg auf. Jean Paul hatte mir dort gesagt: „Ihr habt einen ganz anderen Ansatz in eurer Theologie. Irgendwie ist euer theologisches Denken sehr stark von der Reformation geprägt, es ist viel stärker rational fokussiert – wir schöpfen aus der Theologie der Väter.“ Jeder, der sich mit den kreativen Aufbrüchen der französischen Theologie befasst und die Geschichte dieser Theologie im 20. Jahrhundert kennt, wird sofort die präzise Unterscheidung bestätigen. Große Theologen wie Chenu, Danielou und Congar, und viele andere, haben jenes „ressourcement“ des II. Vatikanischen Konzils, jenen Rückgriff auf die Theologie der Väter und deren biblischen Zugang durch ihre Forschung ermöglicht. Hier im Garten des Bischofs verstehe ich den Unterschied. Er wird mir in den Tagen, die wir gemeinsam verbringen, noch deutlicher. Nicht zufällig besuchen wir am nächsten Tag ein kleines Dorf. Hier war das Zentrum protestantischer Christen. Ja, denn in Poitiers war der Ort, an dem Calvin, im Protest gegen die katholische Kirche seiner Zeit, als Laie zum ersten Mal ein Abendmahl gefeiert hatte, und hier lebten die protestantischen Christen, immer auch der Verfolgung ausgesetzt. In dem kleinen 88
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Museum und in der benachbarten Kirche, die heute die kleine protestantische Gemeinde versammelt, werden die Entstehungsgeschichte und vor allem die grausame Verfolgungs- und Fluchtgeschichte dokumentiert. Diese Flucht führt übrigens in das Bistum Hildesheim, nach Celle und Wolfenbüttel. Auch hier gibt es Verbindungen ... Und dann besuchen wir noch das Kloster, von dem aus der Heilige Martin das Land evangelisiert hat. Alles Geschichte. Mir geht zum einen auf, dass gerade diese Geschichte für meine Freunde hier so zentral ist. Denn es ist nicht einfach nur eine Geschichte der Heiligen – es ist die Heilsgeschichte Gottes im Poitou, es ist sein Handeln mit seinem Volk, es ist seine lokale Kirchenentwicklung, die immer wieder durch charismatische Gestalten (ja, auch der Heilige Vinzenz lebte in Poitiers ...) und durch die Abgründe und Aufbrüche der Kirche und der Gesellschaft führt. Dass Gott immer wieder Kraft und Zukunft schenkt, dass Gott durch Menschen das Leben seines Volkes gestaltet und verändert und immer neu verwandelt. Auf diesem Hintergrund verstehe ich jene existenzielle Theologie der Geschichte, die hier einen echten Unterschied macht. Es ist jenes tiefe Vertrauen darin, dass die Kirche nicht ein Objekt unseres Handelns ist, nicht abhängig von unserem Planen, sondern dass Gott selbst in jeder Zeit sie baut. Der Weg Gottes durch die Geschichte, der uns im Alten Testament begegnet und den das Evangelium und besonders auch die Apostelgeschichte bezeugen, führt weiter. Und diese Begegnung mit dem lebendigen Gott in der Geschichte seines Volkes und das daraus gewachsene Leben sind jener Schatz, aus dem die Christen hier im Poitou schöpfen. — Ein neuer Ansatz der Theologie? —
Aus dieser tiefen Tradition schöpft die Theologie, und ist damit der Theologie der Väter sehr nah. Wenn die Theologie der Freunde aus Poitiers hier einen Unterschied zu unserer als rational empfundenen Theologie markiert, dann markiert sie auch noch eine weitere Differenz, die in der Tat auffällig ist. Pastorales 89
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Handeln, theologische Reflexion und spirituelles Tun sind in der Entwicklung der örtlichen Gemeinden eine tiefe Einheit. Bei unserem Besuch in Poitiers drückte das Eric Boone, der Leiter der theologischen Fortbildung, so aus: „Von Hilarius haben wir eine reiche Trinitätstheologie empfangen. Sie wirkt sich doch ganz konkret in unserem kirchlichen Leben aus: Dreifaltigkeit heißt doch in unserer Pastoral und unserem geistlichen Leben nicht anderes als fundamentale Gleichheit aller Getauften, die Wesentlichkeit der liebenden Beziehung, und die Gegenseitigkeit der Beziehungen – das sind die Grundsätze unserer Entwicklung ...“ Ich denke, dass eine solche Direktheit an anderen Orten ein Schlucken auslöst. Kann man das so sagen? Genau hier liegt ja der wahrgenommene Unterschied: Im deutschen Sprachraum sind diese drei Felder zumeist gut differenziert und voneinander getrennt. Zum Schaden aller drei Dimensionen der einen Theologie des Volkes Gottes. Pastorales Handeln und Pastoraltheologie sind häufig getrennt von Spiritualität und Dogmatik, vor allem aber von konkreten Aufbruchserfahrungen der Kirche – und das führt sie in eine Metareflexion, die nun gar nichts mehr mit dem konkreten Leben einer Glaubensgemeinschaft zu tun zu haben scheint: Sie gründet ihr Denken nicht mehr in einer gelebten Erfahrung – ist dafür hochspezialisiert, aber ohnmächtig. Umgekehrt: Pastorales Handeln vor Ort wirkt dann so seltsam technisch, wiederholend, und ist weder eingebunden in Theologie noch in pastoraltheologische Reflexion. Spiritualität scheint verengt auf spirituelle Innerlichkeit und kann die konkrete Sozialität des Glaubensvollzugs nicht integrieren. Somit verbleibt sie im Bereich des Religiösen und kann genau das Denken und Handeln nicht von einer lebendigen Erfahrung der Christusgegenwart erschließen: Spiritualität bleibt etwas für angeblich „religiös Musikalische“ – kann aber nicht das Ganze des Denkens und Handelns durchdringen. Und welche Wirkungen kann eine Dogmatik haben, die zwar den Ansprüchen moderner und (leider nur selten) postmoderner Rationalität genügt, aber keinen Dienst mehr an der konkreten Lebenswirklichkeit des Volkes Gottes tun kann, weil sie es in 90
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ihrer oft ziemlich fruchtlosen Auseinandersetzung mit dem Lehramt aus dem Blick verloren hat? Dies mag ein wenig schroff erscheinen und wäre somit auch ungerecht – es erklärt aber die erstaunliche Theologievergessenheit einerseits und die hohe Abstraktion und drohende Unfruchtbarkeit theologischer wie pastoraltheologischer Reflexion andererseits. Es erklärt auch die merkwürdig individuelle Abstraktion und Losgelöstheit spiritueller Theologie für das pastorale Handeln. Hier in Poitiers erlebe ich etwas anderes: Gerade im Anschluss an den Gott, der konkret und lokal Heilsgeschichte schreibt, und an eine Vätertheologie, die aus einer lebendigen Erfahrung der Gegenwart des Auferstandenen inmitten der Geschichte seines Volkes kommt, kann – im Anknüpfen an die große Tradition einer großen Theologie (Hilarius) – neu und für die heutige Zeit eine ursprüngliche Theologie wachsen, in der pastorales Handeln, theologische Reflexion und gelebte Spiritualität eine ursprüngliche komplexe Einheit bilden und sich gegenseitig befruchten. — Große Theologie in lebendiger Tradition —
Eine solche Theologie ist mir in meinem Leben und meinem Studium immer wieder begegnet – aber nur sehr selten an der Universität. Sie ist mir begegnet in der Geschichte der Theologie bei den Vätern, bei Thomas und Bonaventura, in der Neuzeit bei Bonhoeffer, und auch in den theologischen Versuchen geistlicher Aufbrüche – etwa der integrierten Gemeinde und der Fokolarbewegung. Gemeinsam ist diesen Ansätzen die Gründung in einer charismatischen Grunderfahrung, die aus sich eine Erfahrung der Kirche freisetzte und hervorbrachte, aus der die theologischen Denker dann wie selbstverständlich und inspirierend schöpfen konnten. Dort aber, wo dies nicht mehr geschieht, verwirklicht sich eine Auflösung eines ursprünglichen Zusammenhanges, der uns ja geradewärts in die Erfahrung der ersten Jünger und der urchristlichen Gemeinde zurückführt. Aber nicht nur in Poitiers begegnet mir diese „große Theologie“, die – ja! – die Herzen brennen lässt und den Geist inspiriert. 91
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Die Erfahrungen mit den Kleinen Christlichen Gemeinschaften in Südafrika, die Inspiration des AsIPA-Ansatzes durch Thomas Vijay, vor allem aber die Erfahrung mit dem Weg einer partizipativen Kirche, die wir in den Philippinen mit dem Team um Father Mark Lesage und Dr. Estela Padilla machen können, sprechen dieselbe Sprache. Es ist ein Zusammenklang von theologisch reflektierter Vision, pastoraltheologischer Intelligenz und Methodik, die ihrerseits zugleich – und ergreifend – ein geistlicher Weg in Gemeinschaft ist. Diese inspirierte Perspektive scheint mir wesentlich zu sein für einen fruchtbaren Entwicklungsweg des Volkes Gottes. Poitiers, Manila, Nagpur, Lumko – und es wären noch weitere Orte hinzuzufügen: Hier darf oder durfte ich das Anbrechen einer großen Theologie erleben, die anknüpft an die große Geschichte der Vätertheologie, die sich gründet in einen lebendigen Umgang mit der Schrift und somit an die lebendige Tradition der Kirche heranführt. Vor allem aber rückt sie den Gott in den Blick, der in jeder Zeit je neu eine Geschichte mit seinem Volk schreibt.
3.3 „Money talks“: Die ambivalente Sprache des Geldes „Dann sprach der Heilige Geist die Sprache, die alle Bischöfe verstehen ... money talks“, so John Finney, Bischof der anglikanischen Kirche, in Erinnerung an den Wendepunkt der Kirche von England zu Beginn der 90er Jahre. Was war passiert? Es hatte in London einen Börsencrash gegeben, und aufgrund der geplatzten Spekulations-Blase mussten die anglikanischen Bischöfe zur Kenntnis nehmen, dass ein großer Teil wichtiger Rücklagen nun verloren war. So kam es aber auch zu einer weiteren Erkenntnis. Hatte man bisher das Modell einer anglikanischen „Volkskirche“ auch ohne wirklichen Rückhalt in der Bevölkerung einfach institutionell weiterführen können, so stellte sich auf einmal mit der Finanzfrage auch die Zukunftsfrage dieses Gefüges. Die Bischöfe reagierten: Nach dem Ende der Sicherheiten kam es zum evangelisierenden Aufbruch. John Finney, damals noch nicht Bischof, war verantwortlich für die „Dekade der Evangelisie92
3.3 „ mo n e y ta l k s“: D i e a m b iva l e n t e s p r ac h e d e s g e l d e s
rung“, die in den 90er Jahren zur Unterstützung und Förderung von Glaubenskursen für Erwachsene wie dem „Alphakurs“ und dem „Emmauskurs“ führte – und zur Erfahrung neuer Kirchenbildung. Nach anfänglichen Irritationen unterstützten die Bischöfe diesen Aufbruch und ermöglichten die Bildung von „fresh expressions of church“ innerhalb des anglikanisch-parochialen Gefüges27. Wie dies konkret aussieht, hat sich durch eine Frage an einen der Protagonisten neuer Gemeindebildungen geklärt: Wenn eine neue Gemeindebildung sich zeigt, dann kann ein anglikanischer Geistlicher sehr wohl dort Pfarrer werden – mit einigen Risiken: Denn die anglikanische Kirche stellt ihm für drei Jahre finanzielle Mittel zur Verfügung, für den Start also – und dann muss eine Gemeinde gewachsen sein, die ihn trägt. Was in klassischen Pfarreien normal und üblich, ist hier eine Herausforderung, denn diese „Gemeindeform“ muss ja überhaupt erst entstehen. Wer tut so etwas? Wer riskiert dies? Auch auf diese Frage bekamen wir bei unseren Exposurereisen eine klare Antwort. Die anglikanische Aufbruchserfahrung verknüpft sich eng mit ordinierten Amtsträgern, die eher aus einer gemäßigten evangelikalen Tradition stammen. Sie zeichnet eine echte Leidenschaft für das Evangelium und seine Bezeugung aus. Sie sind risikofreudig ebenso, wie eine Reihe von Amtsträgern der gemäßigten katholischen Flügel der anglikanischen Gemeinschaft – und, wie John Finney uns erzählt: Diese beiden Strömungen sind die einzigen in der Kirche von England, die wachsen. Money talks. Dieser erste Einblick in die transformierende Bedeutung des Geldes gibt zu denken. Denn wenn einerseits der Zusammenbruch der Strukturen immer schmerzlich ist, so wird doch auf der anderen Seite deutlich, dass dann Kräfte geweckt und Schritte des Aufbruchs ermöglicht werden. So wahr es einerseits ist, dass man einfachhin Geld braucht, so sehr steuert die Herausforderung geringerer Ressourcen geistgewirkte Aufbrüche. 27 Vgl. dazu die deutsche Übersetzung des Berichts „Mission shaped church“ der anglikanischen Bischöfe zum Thema: M. Herbst (Hg.): Mission bringt Gemeinde in Form, Neukirchen, 2010. 93
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Und da dem Heiligen Geist zu eigen ist, sich wirklich auf unsere Möglichkeiten des Verstehens der Wege einzulassen – denn wie sollten wir sonst verstehen? – ist wahrscheinlich die Frage nach dem Geld eben auch eine Frage nach den Wegen Gottes, die er mit seinem Volk in der ganz konkreten Geschichte unserer Zeit wie aller Zeiten geht. Die Konsequenzen sind herausfordernd. — Die Fee von Poitiers —
Das wird an einer anderen kleinen Erfahrung deutlich. Als wir im August 2010 in Poitiers waren, hatte Bischof Rouet mit uns Eucharistie gefeiert und sich dann einen ganzen Vormittag für uns Zeit genommen. Wir hatten ein spannendes Gespräch. Einer der Mitfahrer war ein Kollege aus der Organisationsentwicklung. Er stellte die „Fee“-Frage, die offensichtlich als Methode für die Szenarienarbeit bekannt ist: „Lieber Bischof Rouet, stellen Sie sich doch einmal vor, dass Ihnen eine Fee erscheint und Ihnen Wünsche erfüllt. Sie haben doch in Ihrem Bistum nur sehr wenig Geld, und auch nur wenige pastorale Hauptberufliche ... Sie wachen am nächsten Morgen auf, und vor der Tür des Bischofshauses stehen 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für das Bistum Poitiers arbeiten wollen – und außerdem 10 Lastwagen, in denen das Geld für deren Bezahlung ist ... Was würden Sie dazu sagen?“ Bischof Rouet lächelt leise: „Das hat für mich alle Anzeichen einer Versuchung ...“, sagt er. Nicht nur dem Bischof haben wir diese Frage gestellt – einen Tag früher waren wir in einer örtlichen Gemeinde in einem Stadtteil von Poitiers, einer kleinen und armen Gemeinde. Im Hinterhaus treffen wir den pastoralen Koordinator der Equipe, den ehemaligen Stadtdirektor von Poitiers: „Ich hätte nie gedacht, dass ich für so eine Aufgabe in Frage käme, aber nun bin ich dabei ...“ Auf unsere Feefrage hin bricht er in lautes Lachen aus: „Um Gottes willen, nein, das nützt uns gar nichts“, antwortet er ... Für uns wichtige Antworten. Das „Mangelszenario“ in Poitiers ist zweifellos der Ausgangspunkt für die Entwicklung, über die wir hier schon nachgedacht haben. Aber es fällt doch auf, dass dieser Mangel eben nicht zu Notlösungen führte, sondern zu ei94
3.3 „ mo n e y ta l k s“: D i e a m b iva l e n t e s p r ac h e d e s g e l d e s
ner Neuorientierung, die theologisch und praktisch ausgerichtet ist. Natürlich würde sich der Bischof von Poitiers über finanzielle Ressourcen und MitarbeiterInnen freuen, aber eben nicht im Blick auf die „Rückkehr“ zu einer „glorreichen“ Vergangenheit, sondern um die Entwicklung der örtlichen Gemeinden und vor allem die Begleitung der Christen vor Ort zu fördern, ja sicherzustellen. — Das Risiko des Geldes —
Geld ist nicht unwichtig, Geld ist eine Größe, die steuert – das ist klar. Aber eines ist angesichts kirchlicher Entwicklungen auch klar: Die steuernde Funktion kann das Geld auch dann gut wahrnehmen, wenn es nicht da ist. Es ist eben ambivalent und hängt entscheidend mit der Frage zusammen, wie sich das Verhältnis von organisierter (und deswegen zu finanzierender) institutioneller Dimension des Kircheseins mit der charismatischen Dimension des Kircheseins verknüpft. Ein weiteres Beispiel dafür sei erzählt. Die amerikanischen Denominationen nehmen deutlich wahr, dass ihre klassischen Gemeinden oft von ererbten milieukirchlichen Voraussetzungen leben, die es heute nicht mehr gibt – und das heißt: An manchen Stellen sterben Gemeinden einfach aus. Doch wie entstehen neue? Bei einem Besuch im März 2010 in Chicago im Rahmen des Projekts Crossing over treffen wir am letzten Tag unseres Aufenthalts Chris Coon, einen methodistischen Pfarrer – ein ebenso leidenschaftlicher wie vernünftiger Theologe, verheiratet mit zwei Kindern, der im Chicago-Loop, also Downtown, lebt. „Unsere Kirche hat das Gemeindesterben gesehen und daraufhin einen ,Kurs für Gemeindegründer‘ über zwei Jahre angeboten. 20 Pastoren haben daran teilgenommen – und dann wurden wir zu zweit gesandt. Zu zweit – nie allein. Unser Bischof hat mir und meinem Kollegen gesagt: Die nächsten drei Jahre finanzieren wir euch – bis dahin solltet ihr eine Gemeinde gegründet haben ...“ Coon und sein Kollege sind zwei Jahre durch die Downtown von Chicago gewandert und haben nichts anderes getan, als mit Men95
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schen in Beziehung zu treten, „ ... und Kaffee zu trinken“, lacht Chris Coon. Über eine Facebook-Community sind die Kontakte verständigt worden. Coon wandert mit uns zur Michigan Avenue in der Nähe des Millenniumparks: „Morgen ist der erste Gottesdienst unserer ‚Urban Village Church‘, und unsere Vision ist es, dass wir hier im Stadtkern zehn weitere Gemeinden in den nächsten Jahren gründen werden ...“ — Das Soul-Side-Linden-Experiment und die Folgen —
Die amerikanische Erfahrung lässt theologisch weiterdenken. Es geht also im pastoralen Kontext darum, dass die gegebene institutionelle Dimension des Kircheseins Räume eröffnet und Wege ermöglicht, die Christen befähigt, ihre Gaben und Charismen ganz ins Spiel zu bringen für das Wachsen des Reiches Gottes. In den vergangenen Jahren ist mir dies ansichtig geworden in einem begeisternden Projekt in Hannover-Linden.28 Angesichts der Umbrüche unserer Kirche stellte das Bistum für ein exploratives Kirchenprojekt Geld und eine Person zur Verfügung. Insgesamt konnte so über vier Jahre ein Projekt mit bemerkenswerten Erfahrungen entwickelt werden. Aber viele Fragen stellten sich: Auch wenn wir für unsere Verhältnisse viel Geld zur Verfügung stellten – wir hatten doch nur eine Person, die dafür arbeiten konnte. Und ohne Gemeinschaft im Ursprung – wie kann man da eine Gemeinde gründen? Und noch dazu: Kann der Spagat zwischen „Veranstaltungskirchenprojekt“ und „lebendigem Aufbruch“ überhaupt geleistet werden, und ist er institutionell steuerbar? Welche Chancen hat ein solcher Aufbruch, wenn er doch – wie jedes Projekt – ein evaluierbares Ende und Ergebnis haben muss? Wir haben eine ungeheuer hohe Resonanz für dieses Projekt im deutschsprachigen katholischen Raum erlebt, und eine Spätfolge ist der Kongress „Kirche2“, der im Februar 2013 stattfinden29 28 Vgl. A. Reus, Kirche mit „Beginnern“, in P. Elhaus/C. Hennecke (Hg.): Gottes Sehnsucht in der Stadt, Würzburg 2011, 263–270. 29 Zur näheren Information siehe www.kirchehochzwei.de 96
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soll. Diese Resonanz zeigt die aufbrechende Sehnsucht in den Kirchen nach neuen Formen des Kircheseins – aber gerade die Frage nach dem „Wie“ des Wachsens will noch geschärft werden. Damit verknüpft ist die Frage, in welcher Weise hier von Seiten der kirchlichen Institution solche „Aufbrüche“ begleitet werden können. Gerade die Gestaltungsmacht des Geldes fordert hier zu einer demütigen Logik der Ermöglichung heraus. Es ginge also weniger darum, Projekte zu finanzieren. Die Erfahrungen mit Jugendkirchen sprechen hier eine sehr deutliche Sprache. Mehr Geld heißt eben gerade nicht: mehr Leben.30 Zugleich aber ist die finanzielle und auch personelle Unterstützung und Ermöglichung eines Aufbruchsprozesses genau das, was ein Bistum, eine Landeskirche zu leisten hätte. Das setzt voraus, dass die Vision einer kirchlichen Zukunft sich ausrichtet auf ein Paradigma jenseits betreuender Hauptamtlichkeit. Es ginge vielmehr darum, klug wie die Schlangen zu sein: Wenn wir doch wissen, dass Organisationen der Logik der Bewahrung folgen, dann gilt es gerade innerhalb der Kirche jene Ermöglichungs- und Fortbildungsräume zu schaffen, in denen einerseits die Bildung und Formung von „Gründerinnen und Gründern“ ermöglicht wird, andererseits Räume eröffnet werden, in denen die damit verknüpften Aufbruchsprozesse in einen evaluierbaren und förderlichen Austausch geraten, damit die Kirche als ganze davon lernen kann – und damit Mittel bereitstehen, aufbrechenden Erfahrungen ihr Entstehen zu erleichtern. Ich bin sehr froh, dass in unserem Bistum diese Perspektive Gehör und Offenheit findet. Für mich ist auch das ein Zeichen dafür, dass die Zukunft der Kirche schon lange begonnen hat.
30 Vgl. hierzu C. Hennecke, Jugendkirche und Lebenswelten. Ein Beschreibungsversuch, in Pastoralblatt 64 (2012), 98–106. 97
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3.4 Zwischen Iloilo, Calapan und Hildesheim: Wie ein Bistum sich auf den Weg macht „Der, der leitet, ist dafür verantwortlich, dass es in der Pfarrei eine Vision gibt.“ In einem kleinen Videointerview meint das Father Mark Lesage, Leiter des Pastoralzentrums in Bukal Ng Tipan. „... dass es in der Pfarrei eine Vision gibt“ und nicht: „Dass er eine Vision hat“ – das macht nachdenklich. Denn natürlich ist klar: Wenn die Verantwortlichen der Pastoral keine eigene Vision haben, dann kann ein Aufbruch nicht gelingen, dann werden alle Schritte gleichgültig – dann gibt es keine echte Entwicklung, sondern „same procedures“ ... Bewahrungspastoral. Aber umgekehrt: Wenn ein Pfarrer oder ein Verantwortlicher eine Vision hat, dann kann es leicht passieren, dass die Menschen zum Objekt der Vision werden: „Der Pfarrer hat eine Idee“ – sie machen halt mit – oder auch nicht. Und eigentlich denken dann viele Gemeindeglieder in ihrem Herzen, dass auch dieser Pfarrer ja einmal wieder gehen wird, und dann kommt der nächste und hat wieder neue Ideen, denen wir dann anhangen sollen. Beides reicht also nicht aus, wenn unsere Kirche in die Zukunft hineinwachsen will. Wie geht es dann? In meinem pastoralen Tun war meine Erfahrung immer genau die: Immer mehr habe ich entdeckt, dass in mir eine Vision entsteht. Ich konnte sie mit meinem Pastoralteam teilen – und wir haben gemeinsam die Situation anschauen können, unsere geistlichen Quellen, und unsere gemeinsame Perspektive ... Ich erinnere mich, dass wir in dieser Zeit auf dem Weg waren, eine pastorale Vision zu entwickeln, und wirklich ein echtes Team waren. Da intervenierten die Gemeindeberater, die uns beim Zusammenführungsprozess begleiteten: „Ihr seid viel zu stark! Eure Räte, habt ihr die schon ins Boot geholt?“ Hatten wir nicht, und ich kann mich an ganz viele Situationen in meiner Pastoral erinnern – mit guten, ja vielleicht sogar sehr guten Ideen, ja mit Visionen – aber es war doch immer nur meine Vision, bestenfalls die des Teams. Und deswegen ging es nicht weiter ...
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3.4 Zwi s c h e n i lo i lo, c a l a pa n u n d h i l d e s h e i m
— „Und nichts passierte ...“ —
Ich höre Father Mark Lesage genau zu. Er erzählt die dreißigjährige Geschichte seiner Pastoral in Las Pinas, einer Pfarrei mit 80 000 Katholiken31. Lesage war immer auf der Suche, denn seine Grundfrage war von Anfang an: Kann es eine Pastoral geben, die wirklich möglichst viele Getaufte ins Spiel bringt? Sein Suchen führte ihn an viele Orte in den Philippinen, bewirkte große Veränderungen in der Pfarrei – aber die Beteiligung des Volkes Gottes gelang nicht, auch wenn er alles versuchte: „ ... and nothing happened“, so beendet er verschmitzt jedes Kapitel dieser spannenden Pastoralgeschichte. Bis er verstand. Es geht nicht darum, dass er seine Idee irgendwie vermitteln konnte, sondern dass Menschen sich einbringen können, ihre Ideen und Visionen ins Spiel bringen können. Erst dann konnten sie selbst entdecken, dass eine Kirchengestalt mit einem Maximum an Partizipation sich dann lokal verwirklichen kann, wenn örtliche Gemeinden entstehen ... Das Mantra heißt also: Es braucht eine gemeinsam geteilte Vision, eine „shared vision“, sonst bewegt sich eine Kirche als Ganze nicht. Das ist der Grund, warum sie uns in Bukal Ng Tipan erzählen, dass sie nicht auf Einladungen von Pfarreien eingehen. Denn diese Erfahrung haben sie überall gemacht: Der Pfarrer wechselt, und dem Nachfolger gelingt es in kurzer Zeit, jene gewachsene gemeinsame Vision auszuhebeln. Und das ist noch schlimmer: Dann erfahren nämlich die Getauften, dass es einfach wieder wird wie vorher, ohne echte Partizipation. — Iloilo ist überall —
Aber wenn es nur so gehen kann, dass zum einen ein Bistum gemeinsam einen solchen Weg wollen muss – und andererseits möglichst viele Christen beteiligt werden sollen: Wie geht das dann 31 Vgl. M. Lesage/E. Padilla, Basiskirchliche Gemeinschaften. Wie Kirche sich ereignet, in C. Hennecke (Hg.), Kleine Christliche Gemeinschaften verstehen, Würzburg 32011, 75–88. 99
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konkret? Ich frage Estela Padilla, ob ich nicht einmal „dabei“ sein kann, wenn sie in die Diözesen fahren ... „ Ja klar, aber dann musst du mal im November/Dezember kommen, da sind wir unterwegs“, lächelt sie mich an. Ich nutze die Chance, als unerwartet meine Sommerferien 2011 ausfallen – und ich sie verschieben kann, in den November ... So kann ich mitfahren, mit meinen vielen Fragen: Wie kann es gehen, dass sich in einem Bistum eine Vision der Zukunft eingründen kann? Wie kann dafür gesorgt werden, dass die getauften Christen gemeinsam mit ihren Priestern und Bischöfen einen Weg in die Zukunft gehen? Eine erste Station. Ich lande mit Mark Lesage und Estela Padilla in Iloilo. Eine Inseldiözese im Süden der Philippinen, in der seit einem Jahr ein Prozess läuft, der die dortige Kirche weiterentwickeln helfen will. Und wie fing das an? Immer dann, wenn das Team aus Bukal gebeten wird, einen solchen Prozess der Begleitung zu starten, ist der erste Schritt ein geistlicher Workshop mit allen Priestern und dem Bischof. Ja, denn es geht darum, dass zunächst einmal ein gemeinsamer Prozess der Bewusstseinsbildung im Presbyterium zustande kommt. Das ist ein geistlicher Weg, der vor allem dazu dient, sich der kirchlichen Entwicklung und der eigene Rolle neu bewusst zu werden. Wenn nach einer solchen Tagung der Beschluss gefasst wird, einen solchen Prozess der visionären Entwicklung partizipativ anzugehen, dann beginnt der zweite Schritt. Zu fragen ist ja, wie eine gemeinsame Vision in einem Bistum erarbeitet werden kann. „Dazu fragen wir die Menschen“: Mich hatte schon in einer Mittelstandspfarrei in Manila sehr beeindruckt, auf welche Weise Kirchenentwicklung hier möglich wurde. Die Menschen in diesem abgeschlossenen Quartier kannten sich nicht. Sie fuhren nur Auto – die Nachbarschaft, der Beziehungsraum fand nicht statt. Als in diesem so atypischen, weil reichen Stadtviertel Manilas die engagierten Christen mit ihrem Pfarrer Kirche vor Ort gestalten wollten, war der erste Schritt klar für sie: Wir besuchen 50–100 Nachbarfamilien und fragen sie, was sie bewegt: „Was erwartet ihr von der Pfarrei? Was ist euch in eurer Nachbarschaft wichtig? Was ist das Schönste, was hier im letzten Jahr passiert ist? Was macht 100
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euch diesen Wohnort wertvoll?“ Die kleine Initiativgruppe hat alle besucht und dann die Fragen ausgewertet. Mich hat damals tief beeindruckt, mit welcher Ernsthaftigkeit und Kreativität daraus Konsequenzen abgeleitet wurden: Nein, Kirche ereignet sich hier vor Ort nicht in kleinen Gruppen, sondern die Menschen vor Ort wollen sich in Straßenfesten und karitativen Initiativen beteiligen. Und so entstehen ein Stadtteilfest, ein Sponsorenlauf und andere Initiativen, die die Menschen zusammenführen. Es geht also gar nicht um eine bestimmte vorgefertigte Form des Kircheseins, sondern darum, dass Menschen mitwirken können, ihre Gaben einbringen, Meinung bilden können und ihnen ermöglicht wird, ihr Kirchesein in der Nachbarschaft zu leben. Partizipation wird ernstgenommen. Genau dasselbe erlebe ich jetzt auf der Ebene des Bistums, eben in Iloilo. Bei dem Auswertungstreffen, bei dem ich dabei sein kann, höre ich erstaunt zu, wie dies im vergangenen Jahr ablief. Nachdem das Presbyterium und der Bischof sich gemeinsam auf den Weg einer partizipativen Kirche machen wollten, die sie als Vision für sich in den Kirchenexerzitien mit Bukal Ng Tipan entdeckt hatten, fand eine erste Umfrage auf allen Ebenen des Kircheseins dieser Diözese statt: „Bis in die kleinen Dörfer! Jede und Jeder muss sich beteiligen können“, sagt Estela. Und wie geht das? Zunächst werden im ganzen Bistum Leute geschult, die zu zweit „alle“ befragen nach dem, was sie im Blick auf ihren Glauben und ihr Christsein bewegt. Vor allem aber: Was ist das wichtigste, was wir als Kirche in den nächsten Jahren tun sollten. „Wir befragen jeden zehnten Haushalt“, sagt Estela zur Erklärung. Dann werden die Ergebnisse zusammengetragen und schließlich werden auf der Bistumsebene eine vorläufige Vision und vorläufige Prioritäten formuliert, die dann wieder auf allen Ebenen diskutiert werden, auch in den Dörfern: „Findet ihr euch darin wieder? Was muss ergänzt werden? Was fehlt? Und was ist eure erste Option?“ Und wieder werden alle Anregungen zusammengefasst, und gemeinsam wird eine erste Option für das kommende Jahr formuliert und abschließend in einem großen Fest ratifiziert. Und dann ist die Aufgabe der Verantwortlichen der Pastoral, nun die konkreten Möglichkeiten, Workshops, Instrumente und Werkhefte zur Verfügung zu stellen. 101
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„A vision cannot be taught, is has to be caught“ – Visionen müssen ergriffen werden, so ein weiteres Mantra der Freunde aus Bukal: Man kann eben nicht einen Pastoralplan aufstellen und ihn dann zur Umsetzung vorlegen. Und es wird auch nicht reichen, ihn als Information allen zur Verfügung zu stellen. Es braucht mehr. Eine Vision will gemeinsam entdeckt und ergriffen werden, sonst ist sie nur die Idee einiger Wissender, die anderen dürfen dann mitmachen. Um aber einer eigenen Vision ansichtig zu werden, braucht es der Beteiligung möglichst vieler, braucht es der Wege, wie viele sich engagieren können. Diese Wege einer wirklichen Teilhabe sind vielleicht noch viel wichtiger als das konkrete Programm. Aber genau hier wird sichtbar, dass hier die Struktur der Ortskirche im Dienst dieser vom Bischof und seinen Priestern initiierten und vom Gottesvolk getragenen Pastoralentwicklung steht. Die nun gefundenen Prioritäten werden dann ganz konkret umgesetzt: „Hier stellte sich heraus, dass für die Christen vor Ort die Fragen der Familien die Hauptpriorität sind. Im Bistum hat man nun diese Priorität weiter entfaltet; Programme wurden ausgearbeitet und den Pfarreien und Gemeinschaften vor Ort zur Verfügung gestellt, Fortbildungsmodule werden entwickelt und durchgeführt – und am Ende wird alles evaluiert und man schaut nach der nächsten Priorität“ – so erklärt es mir Epee, einer der Mitarbeiter aus dem Team vor Ort. Das ist beeindruckend konsequent – und deswegen werde ich noch neugieriger: Wie kann es gelingen, dass eine gemeinsame Ausrichtung eines Bistums geschieht? Während ich nach Iloilo nur ganz en passant gekommen bin, war doch das mein eigentliches Ziel: „Wie geht eine solche Bewusstseinsbildung des Presbyteriums?“ — Der Kalamanziritus und seine Folgen —
Die nächste Station dieser Reise ist Bakolod. Mit einem Boot fahren wir auf die nächste Insel und kommen am Abend in „Maryshore“ an, einem weiteren Bildungshaus, das die Kongregation von Mark Lesage an Bukal Ng Tipan weitergegeben hat. Hier findet nun der 102
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fünftägige „Retreat“ des Bistum Calapan statt. Am nächsten Tag kommen wir zusammen, und ich darf einfach mitmachen. Diese „Besinnungstage“ versammeln alle Priester samt ihrem Bischof – eine sehr bunte Mischung. Am Anfang steht ein sehr intensiver Ankommimpuls. Auf einem Tisch steht eine Glasschale, und neben ihr liegen viele kleine gehälftete Zitronen, Kalamanzis heißen sie hier: „Jeder von euch hat etwas, was ihm weh tut, was ihm einfach sauer aufstößt. Wir können nicht miteinander auf dem Weg sein, wenn das nicht auch Thema sein kann. Ich lade euch jetzt ein, eine oder mehrere Kalamanzis auszudrücken ...“ Ich bin gespannt. Und dann geht es los. Ja, die Priester, auch der Bischof, öffnen sich mit unglaublicher Offenheit und erzählen in diesem Ritus, was in ihrem Bistum, in ihrem Leben ... und überhaupt ihnen sauer aufstößt. „Aber ihr wärt nicht hier, wenn es nicht auch schönes, süßes in eurem Leben gäbe ...“, und Father Mark hält eine große Schale Zucker bereit. Auch hier schaufeln die Priester mit Leidenschaft Zucker in die Schale, Offenheit und Heiterkeit machen sich breit. Und dann hebt Father Mark eine große Flasche Gin hoch: „Und das alles braucht den Geist, damit wir es leben können – wie viel soll ich eingießen?“ Unter großem Beifall entsteht so ein Drink, den wir gemeinsam trinken. Wir bringen einen Trinkspruch auf das Bistum aus und stoßen miteinander an. Dieser Anfang ist das Vorzeichen der folgenden Tage, die unter dem Thema „Leitung in einer Kirche der Partizipation“ stehen“. Mit einfachen Mitteln, aber mit einer tiefen geistlichen und theologischen Gründung werden wir vom Bukal-Team Schritt für Schritt weitergeführt. Und immer ist es eine Verknüpfung von Theologie und Praxis, von Partizipation und spiritueller Tiefe. Ob wir über Kirchenentwicklung seit dem II. Vatikanum sprechen, über die aktuelle Situation des eigenen Bistums, über einen visionären Leitungsstil – immer sind alle beteiligt, immer werden wir hineingeführt in die Christusmitte, in die Schrift. Vielleicht ist der intensivste Moment die Feier der Versöhnung, bei der jeder den Zuspruch der Versöhnung erhalten kann. Sie orientiert sich an der Geschichte vom verlorenen Sohn – und am Ende wird die biblische Geschichte verkündet bis zu dem Moment, wo vom Fest und vom geschlachteten Schwein die Rede ist. Da geht das Licht an, Musik erklingt – und unter lautem Rufen 103
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werden wir alle in den Garten eingeladen. In der Tat: Wir feiern ein Fest mit Bier, Wein, Fisch und Spanferkel. Die Atmosphäre ist unglaublich schön – es ist wirklich ein „ganzheitlicher“ Zugang. Ich bin begeistert. Und auch wenn jetzt viele Fragen beantwortet sind – so stellt sich doch eine weitere: Wie könnte das in einem westeuropäischen Bistum, wie könnte das bei uns sein? — Wie beginnt ein Prozess lokaler Kirchenentwicklung? —
Es ist eben zu kurzschrittig und eine Sackgasse, einfach nur Pilotprojekte zu entwickeln. Das haben leider die vergangenen Jahre gezeigt. Dann ist es viel zu leicht, die Entwicklungen als persönliche Vision und Charisma einzelner Priester, Diakone und Hauptberuflicher zu sehen. Man braucht nur das Personal auszutauschen, und es gilt dann für viele Aufbrüche – ganz biblisch: „Fährt der Wind darüber, ist sie dahin. Der Ort, wo sie stand, weiß von ihr nichts mehr“ (Psalm 103,16). Das gilt auch für die Prozesse lokaler Kirchenentwicklung in unserem Bistum. Natürlich befinden wir uns in einer solchen Entwicklung, weil viele engagierte Christen, Hauptberufliche und Geweihte kreative Ideen einbrachten, und so mehr und mehr sich ein Bild einer zukünftigen Kirchengestalt abzeichnet: Erfahrungen in vielen Gemeinden und an Orten der Caritas, der Schule und anderswo, Workshops und Studientage in allen pastoralen Feldern und Fortbildungen in Sachen Evangelisierung, Bibelpastoral und Kleinen Christlichen Gemeinschaften, schließlich die wichtigen Erfahrungen der Gemeindeberatung – zusammen gesehen ist das eine deutliche Entwicklung, die allerdings nur selten ansichtig wurde: Schön versäult wussten viele voneinander nicht, und die Grundfrage stellte sich, ob dieses hohe Engagement nicht zielorientierter ausgerichtet werden könnte. Ich erinnere mich an einen Studientag für Pilotprojekte ehrenamtlicher Verantwortung. Als unsere Koordinationsgruppe die verschiedenen Möglichkeiten der Begleitung und Förderung vorstellte, da schauten viele mit großen Augen: „Davon haben wir noch nie etwas gehört.“ 104
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Das ist nicht verwunderlich und hängt mit den zugrunde liegenden Kirchenbildern zusammen, die nicht auf eine konzertierte Entwicklung, sondern auf eine bewahrende Entfaltung zielten. Um so erstaunlicher und wirklich beeindruckend ist es, dass der vom Bischof auf den Weg gebrachte Prozess lokaler Kirchenentwicklung zu einer umfassenden konzertierten Bewegung führt. Aber dennoch steht das konkrete „Wie“ des Vorgehens noch in den Anfängen unseres Verstehens. Und die Fragen häufen sich – gerade vor dem Hintergrund der gemachten Erfahrungen: Wie könnten wir – im Aufgreifen der oben beschriebenen Erfahrungen mit den Priestern des Bistums und den Weihekurswochen/Berufsgruppentreffen, die alle schon das Thema aufgreifen – zu einer gemeinsamen Visionsentwicklung kommen? Es ist wohl klar, dass ein Bistum hier zu groß ist, und dass wir ja nicht nur die Priester, nicht nur Diakone und Hauptberufliche, sondern auch Lehrer, Mitarbeiter der Caritas einbeziehen müssten – und auch die Räte. Wir könnten wir dafür sorgen, dass Visionen nicht nur vorgestellt, sondern auch innerlich ergriffen werden können? Wie können wir diese Verbindung von Theologie, Spiritualität, Pastoral und menschlichem Miteinander in unseren Kontext einschreiben? Und schließlich: Wie können wir dafür sorgen, dass durch dieses immense Aufgebot professioneller Kompetenz wirklich die zum Zuge kommen, die die eigentlichen Akteure des Kircheseins sind? Wie kann eine maximale Partizipation des Volkes Gottes bei uns gelingen? Viele Fragen – erste Antworten. Erste Erfahrungen – viel Wohlwollen. Wir sind auf einem spannenden Weg.
3.5 Zwischen Vision und Aktion: The What and the How In kleinen Arbeitsgruppen üben wir den Unterschied ein: „Stellt euch einmal vor, ihr seid ein Pfarrgemeinderat und hättet das alljährliche Pfarrfest zu organisieren – wie würdet ihr das machen?“ Das hat jeder und jede schon mal erlebt, und eigentlich ist es ganz 105
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einfach: ein großer Grill, Würstchen, Steaks und Salate, Kinderprogramm, Musik, vielleicht Tanz – das sind die ersten Vorschläge. Ein schöner Familiengottesdienst, Einladungen an die kommunalen Vereine, ... so geht es weiter. „Wie war das Pfarrfest im vergangenen Jahr? Und im Jahr davor?“ Unsere Gruppe schaut sich an: „Fast genau so“. „Wie immer“ ... Und so werden wir aufmerksam auf den Unterschied, der vieles verändern kann. Mark Lesage nennt es den Unterschied zwischen dem „Was“ und dem „Wie“: „Zunächst sollten wir uns bei allen anstehenden Initiativen, Vorhaben und Programmen fragen: Was möchten wir eigentlich? Was soll sich ereignen? Was ist unser Ziel? Was möchten wir, dass die Beteiligten erleben und erfahren? Wenn wir das klären können, dann können wir uns in einem zweiten Schritt über das konkrete ,Wie‘ unterhalten.“ Das ist einleuchtend. Und so kommt es zu einer zweiten Runde: Wir sammeln die möglichen Ziele und Ereigniswünsche ein. Jeder und jede bringt sich ein – „Das ist wichtig, denn sonst würden immer nur einige reden. Ihr wisst doch, uns geht es darum, dass jeder wirklich Anteil hat ...“, höre ich Father Mark sagen. Dann versuchen wir zu sehen und zu clustern, ob es gemeinsame Anliegen gibt. Und schließlich kommen wir zum „Wie“: In Kleingruppen versuchen wir die verschiedenen Ziele zu operationalisieren. Als wir alles zusammentragen, wird schnell deutlich: Das ist ein ganz anderes Gemeindefest, was hier entsteht. Und es zeigt sich auch, dass mit diesem neuen Blick auch ein andere Offenheit für „Neue“, für den „Stadtteil“ und für alle Generationen wirklich wird. — Eine zentrale Frage —
Was uns bei der Summerschool 2012 von unseren philippinischen Partnern als „Werkzeug“ zur Verfügung gestellt wird, ist eigentlich „ganz klar“ und „selbstverständlich“ – und doch spektakulär und aufregend, in seiner Einfachheit. Es geht ja schlichtweg um eine zentrale Frage: Wenn Kirchenentwicklung nicht die Sache einiger weniger Hauptberuflicher und Priester sein soll, wenn es nicht nur um die Gestaltung und Entdeckung einer weitreichenden Zukunftsvision gehen soll, dann stellt sich die Frage nach dem „Wie“ 106
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und dem zugrundeliegenden „Was“ immer und vor allem ganz konkret. Wenn es darum gehen muss, dass die Christen vor Ort sich in das Werden und Wachsen einer Vision und ihrer Gestaltung einzubringen, wie geht das dann? Zentral ist und bleibt dabei immer die Frage, die in erster Line die Frage der Verantwortlichen ist – seien sie nun Priester oder Hauptberufliche, Mitglieder der Gremien oder andere Engagierte: „Was wollen wir, dass sich in den Menschen ereignet? Was für eine Erfahrung soll ermöglicht werden?“ Unsere weltkirchlichen Lernpartner haben uns immer wieder deutlich gemacht, dass die Reihenfolge des „Was“ und „Wie“ nicht beliebig, sondern entscheidend ist. So wichtig ist die Reihenfolge: erst das „Was“ und dann das „Wie“! Es geht auf keinen Fall so, dass in einer Pfarrgemeinde immer kurzfristig und aktionsorientiert gearbeitet werden kann. Dann geht es nämlich immer nur um das „Wie“, und tendenziell um die Wiederkehr desselben, oder aber um beliebige gute Ideen, die eben dieses Jahr umgesetzt werden sollen. Alle erahnen ja schon seit Jahren, dass ein „weiter so“ irgendwie schlecht funktioniert, gleichzeitig aber gilt auch: Ein „anders so“ wirkt auch nicht ermutigender, denn den eher eventmäßigen und wenig nachhaltigen Charakter des „anders so“ spüren alle. Schon in den 90er Jahren, in meiner ersten Pfarrei in Achim, machte ein Mitarbeiter des Kirchenvorstands darauf aufmerksam: „Sie kennen doch den Spruch: Als sie das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten sie ihre Anstrengungen.“ Es war diese Erfahrung, die mich damals unruhig werden ließ – als wir gemeinsam nach einer Vision für die Zukunft ausschauten32, allerdings als Team keinen Weg wussten, wie wir die uns anvertraute Gemeinde mit auf diesen Weg nehmen konnten. So sehr es richtig ist, in Dekanatstagen und Zukunftskonferenzen gemeinsame Ziele in den Blick zu nehmen, Wochenenden in Pfarrgemeinderäten entsprechend zu gestalten – so sehr ist es eben auch wahr, dass die Ergebnisse immer ernüchternd sind, 32 Und es war der Hintergrund für meine ersten Reflexionen: C. Hennecke, Sieben fette Jahre, Münster 2002. 107
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wenn es dann um konkrete Schritte geht: Warum kommen wir dann immer wieder zu denselben Aktionen? — Die Vision hinter dem „Was“ —
Woran genau es fehlt, das habe ich an diesem Sonntagvormittag bei der Summerschool erlebt. Es geht eben nicht nur um eine vordergründige Vergewisserung des „Was“ und des „Wie“, denn genau darin verbirgt sich, welche Vision von Kirche wir haben. Wenn das „Was“ geklärt wird, wenn wir nicht im „Wie“ stecken bleiben, wird damit auch etwas sehr Konkretes über die dahinterliegende Vision von Kirche ausgesagt – und nicht zuletzt, dass tatsächlich eine Vision von Kirche das Handeln bestimmt. Was es braucht, das sind Visionäre – und vor allem Teams, die die visionäre Kraft des Volkes Gottes ins Licht rücken können. Aber eben: Das setzt eben schon eine Vision voraus – eine Theologie, die mit Gottes Handeln in den Getauften rechnet, die das Wirken des Heiligen Geistes in der Welt und in den Christen glaubt und erkennt – und ihm vertraut. Die Vision einer Kirche, die aus der Fülle der Gaben und Kreativität aller Getauften lebt, die der Heilige Geist schon in sie hineingelegt hat, kann dann auch „Geburtsort“ für ein Maximum an Partizipation sein. Der Leitgedanke der Partizipation ist eben nicht eine kurzschlüssige Übertragung eines gesellschaftlichen Demokratieverständnisses, sondern einer tiefen trinitarischen und sakramentalen Theologie verpflichtet, die aber eben doch immer eines ans Licht rückt: Die Christen haben als Gemeinschaft der Glaubenden Anteil am unendlich fruchtbaren trinitarischen Leben Gottes – und in dem Maß, in dem ihnen ermöglicht wird, aus diesem Leben zu schöpfen, wächst Kirche in ihrer Neuheit und wird geboren. Dem Volk Gottes fehlt keine Gabe für die Zukunft, so hat diese Wahrheit mein ehemaliger und inzwischen leider verstorbener Bischof Josef Homeyer immer zum Ausdruck gebracht, und dann ein wenig verzweifelt gefragt, warum denn in Caritaskreisen immer nur über 70-Jährige anzutreffen seien (was damals wie heute natürlich eine Karikatur ist – aber man versteht, was gemeint ist). 108
3.5 Zwi s c h e n vi s i o n u n d a k t i o n : t h e w h at a n d t h e h ow
Umgekehrt: Das hohe Engagement vieler Ehrenamtlicher wird in Pfarreien gerne genutzt, um ganz konkretes Handeln oder auch nur den Erhalt eines Aktivitätenportfolios zu ermöglichen – aber nur ganz selten wird ermöglicht, dass die vielen Engagierten ihre Grundperspektive zum Ausdruck bringen können, geschweige denn dass eine gemeinsame Perspektive entsteht, die dann auch leitend werden könnte für einen Kirchenentwicklungsprozess. — Noch einmal: das Was und das Wie —
Wenn aber im Hintergrund eine solche Vision steht, die sehr tief verwurzelt ist in der eucharistischen Communio-Perspektive des II. Vatikanums, dann stellt sich nur die Frage, welche Prozesse es braucht, welche konkreten „Werkzeuge“ dieser Vision entsprechen, damit diese Grundperspektive Leben des Volkes Gottes werden kann. Und das genau meint der Dienst der Leitung. Genau an dem Lernen und Einüben solcher Werkzeuge mangelt es ja. Viel zu schnell geht Pastoral in zuweilen interessanten Aktionismus über und verrät dabei die eigene Theologie und Ekklesiologie – und das führt dann genau dazu, dass Handeln an vielen Orten und in Gemeinden oft so „spirituell erschöpft“ wirkt und Christen sich deswegen an andere inspirierendere Orte begeben. Wie oft ist es geschehen, dass begeisterte junge Leute nach einer Periode im Pfarrgemeinderat im großkirchlichen Nirvana verschwanden, enttäuscht und ausgebrannt? Umgekehrt stellt sich ja die Frage, wie ein Prozess der Kirchenentwicklung so in Gang kommen kann, dass möglichst viele Menschen sich sinnvoll darin engagieren und kreative Wege beschritten werden können. Dieses kleine Werkzeug des „Was“ und „Wie“ bietet deswegen eine formidable Entwicklungsmöglichkeit. Denn dieses Werkzeug ist nicht gebunden an bestimmte Vollzüge – man kann es einsetzen in jedem spezifischen Feld. Es ist nicht „schwierig“, und damit für alle Menschen zugänglich. Aber auch wenn es einfach ist, ist es doch anspruchsvoll. Hier braucht es wirklich einen „Ermöglicher“, der die Grundregeln immer wieder vergewissert. Dazu gehört auch, dass er immer wieder dafür sorgt, dass wirklich alle Beteiligten Anteil nehmen, teilhaben und teilgeben können. 109
3. da s w e r d e n d e r ki rc h e v e r st e h e n
— The method is the message —
Es ist nicht das erste Mal, dass ich dieses Mantra höre, aber im Kontext mit diesem kleinen Hebammenwerkzeug der Kirchenentwicklung wird mir die Wahrheit dieses Wortes noch einmal kristallklar: Die Methode selbst ist die Botschaft, sie bezeugt die Vision oder falsifiziert sie. Und voller Freude entdecke ich: Der Weg zu einer partizipierenden Kirche ist nicht schwierig, sondern einfach – aber er setzt natürlich voraus, was hier schon am Anfang beschrieben wurde. Wenn einem die Vision einer partizipierenden Kirche nicht leidenschaftlich wichtig geworden ist, werden auch diese einfachen Instrumente nicht wirken können. Doch dort, wo sie ins Spiel kommen, bricht Neues auf, ist die Resonanz im Volk Gottes begeisternd – und ist die Kirche im Kommen.
3.6 Die fabelhafte Geschichte von St. Simon Ich kann mich sehr gut erinnern. Im Februar 2009 sind wir in Nagpur. Father Thomas Vijay begleitet unsere Studienreise durch die immer umfassender werdende Welt des asiatischen und indischen Pastoralansatzes. Und an diesem einen Tag lesen wir aus dem berühmten „Werkbuch Kirchenentwicklung“, das in Lumko erstellt wurde. Dieses Werkbuch – in Fachkreisen unter dem Stichwort „Lumko 10“ bekannt33 – stellt nun eben keinen konkreten Workshop vor, sondern reflektiert den Weg der Kirchenentwicklung insgesamt. Und wir lesen gemeinsam die ersten Zeilen der Geschichte von St. Simon – und diskutieren sie den ganzen Vormittag. Es war eine der intensivsten Diskussionen, an die ich mich in diesen Tagen erinnere. Warum? Weil uns allen dramatisch aufging, dass hinter der Rede von den Kleinen Christlichen Gemeinschaften mehr 33 F. Lobinger, Towards non-dominating leadership, Lumko 10, Lumko o. J., Südafrika. 110
3.6 di e fa b e l h a f t e g e s c h i c h t e vo n st. s i mo n
steckte, als wir je dachten: eben nicht eine neue Sozialgestalt des Kircheseins, nicht eine Vergruppungs- und Vergemeinschaftsperspektive, sondern ... was? Ein Pastoralansatz, eine „neue Art des Kircheseins“, ein Neuansatz der Theologie, zumal der Pastoraltheologie? Wir konnten es damals nicht ins Wort bringen, aber wir waren mehr als elektrisiert ... Die Story ist brillant, so emblematisch – sicherlich erfunden. Autor der Geschichte ist zweifellos Fritz Lobinger. Und als wir ihn einmal fragten, ob diese Geschichte wirklich wahr ist, da schaute er uns freundlich wie immer an: „Na klar, das ist die Geschichte der kleinen Gemeinde, die neben Lumko liegt – da haben wir immer Vertretung gemacht.“ — Der Ausgangspunkt —
Wie und wann geschieht Veränderung? Das ist die Grundfrage dieses spannenden Entwicklungsweges. Und was sind die Voraussetzungen für diese Veränderung? Welche Rolle spielt der „Ermöglicher“: der Priester, der den Prozess ins Rollen bringt? Was genau sind die wichtigen Akzente? Wie leitet der Priester? Die spannende Szene und der Ausgangspunkt der Geschichte haben ja eine Vorgeschichte: Da ist ein Priester, der in sich eine Vision trägt, die Vision einer partizipierenden Kirchengestalt, ein dienendes Leitungsverständnis, und der sich auf Prozesse einlassen kann. Das ist schon ein erster Ausgangspunkt, der mir hier wichtig scheint. Ein dominierendes Leitungsverständnis hätte ja bequem neue Ideen und Impulse einbringen können – und das kennen wir doch alle gut. Aber es scheint, dass er eben diesen Ehrgeiz nicht hatte ... Und so kam dieser erste Moment der Intervention, der so überraschend ist: Die Messe beginnt, es ist kein Lektor da – und als es zur Lesung kommt, da bleibt einfach der Raum leer, keiner steht auf, aber eben auch nicht der Priester. Es bleibt zwei Minuten still, dann singt der Priester das Halleluja und verkündet das Evangelium. Und die Messe geht weiter ... So weit, so gut. Damit hätte es enden können, und der Ärger wäre sicher wieder vorbeigegangen – wie so oft in der Pastoral. 111
3. da s w e r d e n d e r ki rc h e v e r st e h e n
Aber nein. Nach der Messe fragt der Priester die gottesdienstliche Gemeinde, wie sie diese Situation empfunden habe. Und an diesem Tag entsteht eine neue Wirklichkeit – genau durch diese Frage: Zum einen werden alle Betroffenen beteiligt, sie werden nach ihrem Eindruck gefragt, und zugleich eingeladen, sich selbst einzubringen. Ihnen werden neue Möglichkeiten angeboten, eine neue Begleitung. So ist ein erster Schritt getan. Leitung, das heißt hier Eröffnung von Wegen, Ermöglichung von Beteiligung – vor allem aber: Lange Zeit passiert ja nichts – für den Leitenden ist es wesentlich, zunächst die Situation wahrzunehmen und sich einzulassen, und dann den Moment zu erkennen, an dem ein nächster Schritt möglich wird. — Kirchenentwicklung im Kairós —
Ja, denn es ist immer ein Kairós. Und dieser Kairós ist hier die eigentlich schwierige Situation und so ergibt sich hier ein weiterer wichtiger Punkt. Kirchenentwicklung lebt aus der tiefen Einsicht, dass es die Krise ist, die meistens erst einen neuen gemeinsamen Weg eröffnet. Es entspricht einer Pastoral, die aus dem Ostergeheimnis schöpft und deswegen auch gerade die krisenhaften Momente als Orte der nächsten Schritte sehen kann. Von daher hat eine solche österliche Pastoral des rechten Augenblicks auch eine existenzielle Voraussetzung: Die österliche Erfahrung muss schon innerlich erfahren und erlebt worden sein ... Das wird auch an einer zweiten Stelle deutlich, bei der nach einer Phase des Aufbruchs wieder regressive Prozesse erkennbar werden. Hier können wir einen Leiter erleben, der sehr rigoros die Gemeinschaft der Glaubenden schützt, als wieder pseudoklerikale Anwandlungen und interne Machthierarchien den Prozess bedrohen. Auch hier: Nie geht es um einen abstrakten Prozess, sondern in allem immer um das Leben der Glaubensgemeinschaft, die so immer tiefer ihr wirkliches Kirchesein entdecken kann.
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— Konkret —
„Wir haben einen Messplan erstellt, und kurzfristig fiel einer der Priester aus. Da habe ich einfach gedacht: ,Ich möchte jetzt nicht intervenieren, sondern allen die Chance geben, sich einzubringen.‘ Aber es geschah ... nichts, die Messe fiel aus“. Damit aber wurde die Chance auf einen Bewusstseinsprozess vergeben ...! Jenseits des professionellen Einspringens oder des professionellen Beobachtens geht es eben um etwas anderes: Wie kann diese Situation dafür genutzt werden, dass eine partizipative Kirchenentwicklung möglich wird? Können die Betroffenen in einen kreativen Prozess gelockt werden, um ihre Perspektive einzubringen? Wir haben alle gemerkt, dass dies ein anspruchsvolles Lernfeld ist. Und dass wir diejenigen sind, die üben müssen. Aber – wie immer in diesen Lernprozessen – es blieben uns jener Geschmack der Freude, der Energie und Kraft, die Lust und die Leidenschaft, uns in diese Schule des Leitens zu begeben: es winkt eine Kirchenentwicklung, die immer wieder Anfänge des Reiches Gottes durchscheinen lässt ...
Die Pfarrei St. Simon Als ich in näheren Kontakt zu der Pfarrei St. Simon kam, bestand sie aus etwa 1000 Katholiken. Es war eine Xhosa-Gemeinschaft, die in dem hügeligen Gebiet nahe des Indischen Ozeans lebte. Das Evangelium war ihnen vor etwa 50 Jahren gebracht worden und in etwa so lange bestand auch die Pfarrei. Von Zeit zu Zeit kam ich als Priester in diese Pfarrei zur Eucharistiefeier, es gab dort keinen residierenden Pfarrer, der in der Pfarrei lebte, aber es gab einen Katechisten. Dieser stammte gebürtig aus dem Dorf und war einer der ersten, die zum Glauben an Jesus Christus gekommen waren. Er hatte eine Vollzeit-Anstellung, seine Aufgabe bestand darin, die Katholiken im Dorf zu besuchen und zu stärken, Nichtglaubende zu bekehren, die katholischen Kinder und die Katechumenen zu unterrichten, mit den Kranken zu beten und Beerdigungen durchzuführen, wenn kein
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Priester da war – insgesamt also eine breite Palette von unterschied lichen Leitungsaufgaben, die in dieser Gemeinde anfielen. Nach einigen Sonntagsmessen fiel mir auf – und das fand ich sehr merkwürdig –, dass immer nur dieser eine Katechist als Lektor fungierte. Ich habe ihn freundlich darauf angesprochen und gefragt, ob es nicht von Vorteil wäre, wenn auch einmal andere die Lesung lesen würden. „Wie!?“, antwortete er äußerst überrascht, „glauben Sie wirklich, dass andere das auch können?“ Ich antwortete ihm, dass ich sehr wohl davon ausginge, dass bei einer solch großen Anzahl von Christen bestimmt auch jemand dabei sein würde, der Lektor sein könnte. Aber er war davon nicht zu überzeugen und so blieb alles beim alten. Dann war ich länger nicht mehr in dieser Pfarrei und hörte in der Zwischenzeit, dass es Ärger mit dem Katechisten gab. Der Pfarrgemeinderat hatte beschlossen, dass auch die Ehefrau des Katechisten beim Putzen der kleinen Kirche mithelfen sollte, aber mit diesem Beschluss war dieser Katechist überhaupt nicht einverstanden. Aus seinem Ärger heraus hatte er versucht, den Pfarrgemeinderat einfach aufzulösen. Das hatte aber nicht geklappt, stattdessen war er selber aus seinem Dienst entlassen worden und hatte eine andere Anstellung in der Stadt gefunden. Das Bistum hat dann einen anderen Katechisten in die Pfarrei entsandt, der den gleichen Aufgabenbereich wie der vorherige hatte. Eines Tages jedoch hatte dieser Katechist einen Autounfall und musste für längere Zeit ins Krankenhaus. Es wurde bald klar, dass er nicht an seine Arbeitsstelle in dieser Pfarrei zurückkehren konnte. — X-Beliebige Leitung — In der Zwischenzeit hatte das Bistum beschlossen, dass die Pfarrei St. Simon eigentlich keinen Vollzeit-Katechisten brauchte, sondern dass sie die anstehenden Aufgaben auch allein übernehmen könnte. Zu dieser Zeit war auch ich wieder einmal in der Pfarrei und konnte so die Entwicklung mitverfolgen: Am folgenden Sonntag kam einer der Männer zu mir in die Sakristei, zog das liturgische Gewand des Katechisten an und ging mit mir an den Altar – soll heißen, in diesem Gottesdienst tat er alles, was vorher der Katechist getan hatte. An den darauf folgenden Sonntagen tat dieser Mann immer genau das Gleiche und so habe ich
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mich, ganz vorsichtig, danach erkundigt, ob er dazu von irgendjemandem beauftragt wäre. Nein, war die Antwort, er hätte das einfach von sich aus übernommen und niemand hätte dazu etwas gesagt. Dieser Mann war ein etwas merkwürdiger Typ, wenig kommunikativ, sehr viel Distanz gegenüber den anderen. Und für die Gemeinde war es eben normal, dass man zum Gottesdienst ging, sonst aber keine Fragen stellte, eben „Zuschauer“ war. Eines Sonntags habe ich den treuen Lektor gefragt, ob er es nicht gut fände, wenn sich die Mitglieder der Pfarrei beim Lektorendienst abwechseln würden. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie sehr ihm meine Frage missfiel und wie er erwiderte: „Wer außer mir könnte denn die Lesung vortragen? Niemand!“ Weniger als ein Jahr später war ich wieder einmal in St. Simon und zu meiner Überraschung erlebte ich dieses Mal einen anderen Mann, der nicht nur die Lesung vortrug, sondern auch den Gesang organisierte und am Ende des Gottesdienstes die Vermeldungen verlas. So ganz beiläufig, wie das am ehesten ein Priester tun kann, der nicht immer vor Ort ist, fragte ich nach und erfuhr so, dass der letzte Mann einfach kommentarlos mit seiner Arbeit aufgehört hatte und derjenige, der eine Zeitlang in der Stadt gearbeitet hatte, inzwischen zurückgekommen war. Als er feststellte, dass es hier Arbeit für ihn gab, hat er einfach diesen Job wieder übernommen. Es war niemand da, den er hätte fragen können und ohnehin waren alle froh, dass die Aufgaben irgendwie erledigt wurden. So hat er einfach wieder diese Arbeit fortgesetzt und alle waren zufrieden. Dieser Zustand der Zufriedenheit fand aber ein jähes Ende, als genau dieser Mann einige Monate später einfach nicht mehr erschien. Es gab keinen Lektor, und anstelle der ersten Lesung gab es einen langen Moment des Schweigens, denn, genau wie alle anderen, habe auch ich nur auf den Boden gestarrt, als der Moment der Lesung kam, und die Lesung nicht übernommen. Nach einem langen Augenblick des Schweigens habe ich dann das Evangelium verkündet. — Erste gemeinschaftliche Beauftragung — Nach dem Ende dieser hl. Messe habe ich einen Schritt gewagt, der, zugegeben, etwas außergewöhnlich war, denn ich hatte ja nicht direkt
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3. da s w e r d e n d e r ki rc h e v e r st e h e n
die Verantwortung für die Pfarrei – ich war nicht der Pfarrer dort, sondern nur ab und zu, quasi als „Besuch“ da. Ich habe die Gottesdienstgemeinde eingeladen, uns für einen kurzen Augenblick nach der Messe zu treffen. Da habe ich sie gefragt, wie sie das denn fanden, dass die Lesung einfach weggefallen ist. Viele der Menschen sagten, dass sie das traurig oder enttäuschend fänden, und suchten nach einer Lösung für dieses Problem. Sie fragten, wer denn den Lektorendienst übernehmen könnte und ob vielleicht sogar auch Frauen dies tun könnten. Ich sagte ihnen darauf, dass das natürlich möglich sei und allein in ihrer Entscheidung läge. Noch bei diesem Treffen stellten sie eine Liste von etwas 30 Personen auf und so funktioniert das bis zum heutigen Tag eigentlich ganz gut. — Das erste Team — Einige Monate später war ich wieder in dieser Pfarrei und am Sonntag bemerkte ich zu meiner großen Freude, dass sich nicht nur ein Mann in der Sakristei umzog, um den Dienst am Altar zu tun, sondern fünf, und der zweite Katechist, der vor einigen Monaten verschwunden war, weil er sich spirituell ausgelaugt gefühlt hatte, war auch wieder dabei. So ging das eine Reihe von Sonntagen, aber nach einigen Monaten zeigte ich dann, dass nur noch zwei von diesen fünf Männern ihren Dienst am Altar versahen, während die anderen in den Bänken saßen. Als ich mich vorsichtig nach dem Grund dafür erkundigte, stellte sich heraus, dass sie den diskreten Hinweis bekommen hatten, sie würden nicht gebraucht. Nicht, dass sie darüber glücklich gewesen wären, aber sie wollten auch keine Spannungen und Konflikte produzieren, indem sie auf ihre Beteiligung gepocht hätten. Daraufhin habe ich mit den beiden anderen Männern gesprochen und sie gefragt, ob es nicht besser wäre, wenn mehrere Männer Dienst am Altar täten, dann könne man sich doch auch noch nach der Messe als kleine Gruppe versammeln und den Dienst am Altar auch mit anderen einüben. Mein Vorschlag stieß auf keinerlei Gegenliebe und sofort kam die Gegenfrage in ziemlich schroffem Ton: „Aber wer außer uns beiden könnte denn an diesem Üben teilnehmen? Wo sind denn die anderen?“ An diesem Punkt habe ich allerdings auf meinem Vorschlag beharrt und ihn am darauf folgenden Sonntag nochmal einmal
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wiederholt, denn ich wusste, dass ich auch die Rückendeckung der Pfarrei hatte, mit allen aus dieser Gruppe arbeiten zu können. Als den beiden genannten Männer klar wurde, dass ich nicht nachgeben würde, weil ich überzeugt davon war, dass es besser sei, wenn mehrere Männer Dienst am Altar täten, fanden sie sich dann doch noch zur Mitarbeit bereit. Sie konnten sich relativ schnell umstellen, ohne dass ich erst noch mit irgendwelchem Druck von oben hätte nachhelfen müssen, und an jedem Sonntag traf sich nun diese Gruppe nach dem Gottesdienst zum Üben. Der kurze Rückfall jener beiden Männer in eine monopolistische Geisteshaltung hat sich bis heute nicht wiederholt, obwohl es natürlich nie auszuschließen ist, dass sich Fehler auch wiederholen können. Ich möchte auch betonen, dass ich durchaus bewundere, mit welcher Haltung diese beiden Männer, die sehr starke Charaktere und auch die am besten Gebildeten aus der ganzen Gruppe sind, mit den anderen zusammenarbeiten. Sie kommen geduldig zu allen Übungsstunden, auch wenn sie sicher oft versucht sind, einfach wegzubleiben, weil die anderen machmal etwas länger brauchen, um alles zu verstehen. — Konkrete Beauftragung— Mehr als ein Jahr später erfuhr ich dann, dass es nun offiziell in der Pfarrei eine Ausbildung zum Kommunionhelfer gab; auch diese beiden Männer nahmen daran teil. Der Pfarrgemeinderat von St. Simon hatte dem zugestimmt und die ganze Gemeinde akzeptierte sie voll und ganz. Die beiden Männern wurden offiziell in diesen Dienst eingeführt, zusammen mit verschiedenen Männern aus Nachbargemeinden. — Nachbarschaftlich orientierte Gemeinschaften — Nur kurze Zeit später kam einer der beiden Männer zu mir und erklärte mir voller Enthusiasmus, dass es doch eine gute Idee wäre, innerhalb der Pfarrgemeinde kleine „Gruppen“ zu bilden. Er wollte diese Idee unbedingt der ganzen Pfarrgemeinde vorstellen und ich war ungemein froh, dass er mich dabei um Unterstützung bat. Ich zeigte ihm einiges an Literatur über „Kleine Christliche Gemeinschaften“ und er erkannte sofort, dass das genau mit seiner Idee übereinstimmte, ohne dass er
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es so formuliert hätte. Bei verschiedenen Treffen wurde nun die ganze Pfarrgemeinde mit diesen Gedanken vertraut gemacht. Nachdem sie zugestimmt hatten, wurden in den Dörfern mit fünf Kleinen Christlichen Gemeinschaften begonnen. Die Menschen wussten selber sofort, wo und wie sie sich nachbarschaftlich organisieren könnten, so dass dieses Vorgehen eine ganz natürliche Basis hatte. Die Gemeinschaften haben dann damit begonnen, Aufgaben zu übernehmen, wie z. B. bedürftigen Nachbarn zu helfen, oder auch kirchliche Aufgaben, wie z. B. Kinderkatechese. Weiterhin wurden auch Frauen ausgebildet, den Katechismus zu unterrichten und das Bibelteilen zu leiten. Nach sechs Monaten stellte sich dann aber heraus, dass sich viele der Gemeinschaften nicht mehr wöchentlich trafen, und so wurde ein Plan gemacht, wie man diese Gemeinschaften neu beleben könnte. Auch wurden zwei oder drei neue Gemeinschaften gegründet. — Gemeinschaft von Gemeinschaften — Ein nächster Schritt war die Erkenntnis, dass es notwendig war, dass die sieben oder acht Gemeinschaften in regelmäßigem Kontakt miteinander stehen. Der Pfarrgemeinderat wurde so umgestaltet, dass nunmehr auch diese Gemeinschaften mit jeweils einem Vertreter dort vertreten waren und sie bei jeder Sitzung von den Aktivitäten der Gemeinschaft berichteten. Dies verhalf dazu, die Gemeinschaften lebendig zu halten und führte zu einem immer größeren Austausch von Ideen zwischen ihnen. Dies führte auch dazu, dass sie sich, auch in ihrem Handeln, immer mehr als Gemeinschaft von Gemeinschaften verstanden. Auch die Sonntagsliturgie wurde jetzt abwechselnd jeweils von einer der Gemeinschaften vorbereitet. Gleichzeitig konnte man auch erkennen, dass jetzt ein Rahmen gegeben war, in dem alle in der Gemeinschaft ihre Ideen einbringen konnten und dass nicht mehr nur eine kleine Gruppe starker Leiter die Initiative ergriff. Aus diesen Kleinen Basisgemeinden heraus entwickelte sich im jeweiligen Lebensraum und in der Pfarrei ein stärkerer Sinn für die Gemeinschaft und es wurde damit begonnen, Leiter für die verschiedenen Aufgaben zu schulen. Außerdem nahmen die verschiedenen Leiter von
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3.7 m ix e d e co n omy: k at h o l i s c h s e i n h e i sst v e r b i n d e n
St. Simon an Treffen und Schulungen auf Diözesanebene teil. Dadurch konnten sie sich fortbilden und merkten auch, dass sie in ihrem Entwicklungsprozess nicht isoliert dastehen, sondern die gesamte Ortskirche in eine ähnliche Richtung geht. Sie stellten fest, dass sie dazu einen Beitrag geben und an den Beiträgen der anderen teilhaben konnten. So war dieser Prozess nicht nur Sache von einzelnen Individuen oder kleinen Gruppen, sondern Sache der vielen Kirchen in der Nachbarschaft. Sicher wird es einen nächsten Schritt geben, aber wir können noch nicht sagen, wie der aussehen wird. Ein weiteres Bedürfnis, ein neuer Mangel wird sich zeigen, auf den wir eine Antwort finden müssen. Wir wollen aufmerksam sein im Blick auf die Zeichen der Zeit, denn sie zeigen uns, wie die Kirche ihre Sendung im Dienst in der Welt realisieren kann.
3.7 Mixed economy: Katholisch sein heißt verbinden Was mich in England, bei unseren Fahrten zu den „fresh expressions of church“ – zu den Aufbrüchen innerhalb der anglikanischen Kirche –, so bewegte, war die kirchliche Weite. Mir bleibt besonders in Erinnerung, dass ich an einem Sonntagmorgen, vor meinem Besuch in der Gemeinde von Holy Trinity Brompton, in der katholischen Kirche des Oratoriums in einer römischen Liturgie in ihrer außerordentlichen Form gelandet war – eine mir eher fremde Erfahrung. Im Nachgespräch hatte mir der charmante Pfarrer von Holy Trinity Brompton, Nicky Gumble, auf meine Nachfrage, wie er denn mit den katholischen Nachbarn auskomme, einfach nur lächelnd gesagt: „We love them“. Und weiter in mein etwas irritiertes Gesicht: „Wir alle gehören zum Leib Christi, und sie gehen ihren Weg, wir tun unseren Teil – und sie leihen uns die Kirche oft aus, wenn bei uns zu viele Leute sind“. Diese theologische Lektion einer katholischen und also weiten Ekklesiologie, die im Leib Christi ihr Zentrum hat, und so in der Tat eucharistisch verwurzelt ist ist mir in London an sehr vielen Orten begegnet. Ich bin ihr auch sehr oft begegnet in den 119
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verschiedenen Varianten der „Kirchen für Beginner“: im Hintergrund stand nie zuerst die Konfession oder Denomination – sondern die Frage, ob Menschen hier einen Zugang zu Christus und zum Geheimnis der Nachfolge finden können. Evangelisierung bringt Menschen zuerst mit Christus zusammen, und erst auf dem Wachstumsweg zur Taufe werden die Tradition und die Konfession relevant. Das gibt zu denken, zumal ja gerade die Verkündigung des Evangeliums eine ökumenische Aufgabe sein wird. — Alt gegen Neu? —
Psychologisch war und ist es aber gar nicht so einfach. In keiner Kirche. Die Erfahrungen unseres Bistums sprechen da eine deutliche Sprache. Dort, wo in den 90er Jahren von einer „neuen Art des Kircheseins“ gesprochen wurde, da wurde schnell Widerstand geweckt. Damals, in den 90er Jahren, schien es so, als solle eine überkommene und überholte Kirchengestalt abgelöst werden – und genau das löste heftige Reaktionen aus: War das, was gewachsen war, nicht ebenso wertvoll? Ja, war nicht gerade die gemeindetheologische Geschichte der Pfarreien eine der viele Prägungen, die vonseiten der Bistümer und der Pfarrer wirklich auch viele Menschen berührt hatten und sie dieser Vision folgen ließen? Sollten sich jetzt die Verbände sagen lassen, dass ihre Gefolgschaft gegenüber dem Bischof dazu geführt hatte, dass sie jetzt eigentlich unter dem kritischen Auge neu angelegter Kriterien als zu wenig dynamisch, zu wenig spirituell, zu wenig lebendig galten – wo sie doch vorher als Garant der Beständigkeit der Gemeinden geschätzt waren? Das gilt ja auch für die vielfältigen Prozesse der Strukturveränderungen. Natürlich muss es Widerstand geben, wenn die Botschaft heißt: Bis jetzt wart ihr eine selbständige Gemeinde, aber die wird jetzt aufgelöst – und ihr werdet zu „einer Gemeinde“ zusammenwachsen. Das kann und darf nicht sein, so spüren viele, die ihr Leben für diesen Aufbau einer lokalen Gemeindekultur gegeben haben – und dazu von ihren Pfarrern angesteckt wurden. 120
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Das kann und darf nicht sein, so spüren auch viele, wenn eine Kirche geschlossen werden soll. „Ihr solltet jetzt zur Zentralkirche gehen – es ist außerdem viel schöner, mit einer großen Gemeinde Eucharistie zu feiern“, so kann mit Recht gesagt werden, nur es fühlt sich anders an: Die beziehungsreiche Heimat soll anscheinend ersatzlos gestrichen werden, man erfährt Auflösung und Zerstreuung. Diese Widerstände wenden sich dann auch gegen neue Initiativen: Wieso unterstützt das Bistum Initiativen der Evangelisierung, wieso den Katechumenat, die Kleinen Christlichen Gemeinschaften, das Bibelteilen, oder Projekte wie „Soul side Linden“: „Uns wird alles weggenommen, uns wird Geld entzogen – aber da wird investiert. Wir sind nicht mehr so viel wert, eben altes Eisen, Auslaufmodell.“ Man muss das nicht nur laut verkünden und protestieren, es kann auch in einem passiven Widerstand auslaufen. Aber immer steht im Hintergrund die Ablösung von etwas Altem, das Sterben von etwas Überholtem zugunsten neuer Aufbrüche. Und immer steht dahinter: Wieso eigentlich verändert sich so viel, wieso kann es nicht einfach so weitergehen? Für viele ist das unverständlich, und die Struktur- und Finanzmaßnahmen erklären sich nicht aus sich. Und es reicht wohl auch nicht, einfach diesen kontrollierten Abbruch auch gegen Widerstände durchzuführen. Es braucht eine katholische Vision, die das, was gewachsen ist, verbindet mit dem, was sich neu zeigt. Es braucht eine Hermeneutik der Reform und Erneuerung, die nicht einfach Brüche konstruiert. — Der Wald Gottes —
Eben deswegen ist die Rede von der „Mixed economy“, der kirchlichen Mischwirtschaft, so weiterführend und hilfreich. Der „ABC“ (so kurz für den „Archbishop of Canterbury“) Rowan Williams hatte seinerzeit so auf die Unruhe unter den anglikanischen Bischöfen reagiert, die das Aufbrechen neuer kirchlicher Erfahrungen mit Misstrauen betrachteten. Angesichts der Tatsache, dass viele neue Gemeindeexperimente entstanden, stellte sich die Frage, ob man jetzt auf diese Gemeinden setzen solle ... Mit seiner 121
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Rede von der mixed economy eröffnete Williams einen weiteren Raum. Mich erinnert diese Perspektive an die erste große Herausforderung der jungen Kirche, als es um die Frage der Beschneidung ging. Die Frage nach Juden- und Heidenchristen wurde seinerzeit einmütig und unter der Leitung des Heiligen Geistes in einer erstaunlichen Klarheit gelöst: Angesichts der Treue zum jüdischen Ursprung einerseits und angesichts der realen Erfahrungen der Gegenwart des Geistes auch bei den Heidenchristen konnten sich die Verantwortlichen nur zu einer begleitenden und nach vorne offenen Zweigleisigkeit entscheiden: Weil die Zukunft nicht absehbar ist, erlauben wir beiden Erfahrungen, ihren Weg weiterzugehen, in der Treue zur Tradition und der Treue zu dem, der sein Volk führt und mit seiner inspirierenden Gegenwart begleitet.34 „Mixed economy“ beschließt also nicht, sondern eröffnet einen weiteren Entwicklungsprozess. Bei der vorerst letzten Reise zu den neuen Gemeindeaufbrüchen, die katholische Priesteramtskandidaten wie evangelische Pastorenanwärter gemeinsam unternahmen, haben wir deswegen nicht nur „fresh expressions“, sondern auch einfach klassische Erfahrungen anglikanischer Gemeinden „besichtigt“: Es ist ja in der Tat so, dass auch die „klassischen“ Gemeinden sich weiterentwickeln und weiter profilieren, vielleicht auch angesichts der Herausforderungen der neuen Aufbrüche, wahrscheinlich aber auch, weil an allen Orten der Kirche Veränderungsprozesse gespürt und aufgegriffen werden. Im Blick auf diesen Vorgang ist mir – Laie in diesem Fall – das Bild des Waldes nahegekommen. Ein Wald ist ein lebendiges, organisches Gefüge. Sterben und Leben, Veränderung, Wachstum und Krankheit gehören wesentlich dazu. Und immer wieder bricht Neues auf. Wer nun – als Jäger oder Förster – für ein solches Ökosystem verantwortlich ist, der muss immer das Gesamte im Blick haben: Weder werden einfach alle alten Bäume gefällt, 34 Es ist unglaublich spannend, die Apostelgeschichte als geistgewirkte Entwicklungsgeschichte der Kirche zu lesen, die einige normative Grundhaltungen und Modelle zur Begleitung von Innovation beschreibt. Ich habe diese Perspektive ausführlich beschrieben in Chr. Hennecke, Glänzende Aussichten, Wie Kirche über sich hinauswächst, Münster 22011. 122
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noch dürfen sich bestimmte Pflanzen einfach durchsetzen. Der Wald ist eine klassische „mixed economy“, ein Wachstumsprozess, der der guten Begleitung bedarf (von Dschungeln sprechen wir hier nicht!). Aber dann ist auch klar, dass dieses Gefüge tatsächlich so etwas wie ein Leib ist: Es gibt ganz viele Verbindungen, Zusammenhänge, die gerade die Entwicklung ermöglichen und befördern. In diesem Gefüge dient selbst das Sterben neuen Aufbrüchen, wächst gerade aus dem, was gestorben ist, Neues. Dieses Bild kann uns also helfen, die derzeitigen Prozesse in unseren Kirchen in den Blick zu nehmen. Klar ist dabei vor allem: Alt steht nicht gegen neu – es kommt vielmehr darauf an, die Verbindungen und Kontexte zu entdecken, und dem, was gewachsen ist, weiteres Wachsen zu ermöglichen – und dem, was kommt, Raum zu schaffen. Insgesamt wird ja auch deutlich – und gerade die Apostelgeschichte zeigt dies mahnend –, dass nicht wir die „Jäger und Förster“ sind, sondern die wichtige Aufgabe haben, zu entdecken, welchen Wachstumsweg Gott mit seinem Volk gehen will. — Wandlung als pastorale Evolution? —
Im Sommer 2012 konnte ich meinen Urlaub in Chicago verbringen. Mich hat nachhaltig eine Ausstellung im Field-Museum beeindruckt, die die Geschichte der Evolution beschrieb. Sich so dem Geheimnis des Menschen und seiner Entwicklung zu nähern, lässt einfach nur staunen. Und eigentlich kann man kaum anders, als sich hier als Teil eines Wunders zu sehen: Ein so langer Prozess, mit so vielen Katastrophen, führt zu einer unvorhersehbaren Entwicklung: zum Werden des Menschen. In weiter Analogie: Ereignet sich nicht in der Kirche ein ähnlicher Prozess, den wir wirklich nicht in der Hand haben? Besonders beeindruckend ist für mich der Blick auf die großen Wendepunkte der Evolutionsgeschichte: Es waren die Katastrophen, die nie selbst gemacht waren, die dazu führten, dass im Zuendegehen einer Entwicklungsgeschichte neue Entwicklungswege möglich wurden. Jenseits voreiliger Übertragungen ereignet sich der Wachstumsprozess der Kirche durch die Zeit ähnlich. Deutlich wird ja, 123
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dass Wandlungen, auch schmerzliche Veränderungsprozesse wesentlich zum Weg der Kirche gehören. Es ist uns Christen nicht ungewohnt, ja es liegt in der eucharistischen Logik, dass das Sterben Weg zum neuen Leben ist, dass der Tod eine Fruchtbarkeit besitzt.35 Und vielleicht sollten wir angesichts der Sterbeprozesse, in die manche gewachsenen Formen hineingeraten, uns an diese Perspektive heranwagen? Im Blick auf die Geschichte charismatischer Aufbrüche in der Kirche wird dies besonders deutlich: Wie viele Ordensgemeinschaften sind in jedem Jahrhundert der Kirche neu entstanden – aber eben auch: wie viele sind gestorben? Welche langen Wege der Entwicklung gingen Inspirationen und Charismen? In der Tat eröffnet diese vorsichtige Perspektive noch einen neuen Blick: Das Wachsen der Kirche und das Miteinander von traditionsreichen Formen und neuen Aufbrüchen schließen das Ende gewachsener Gestalten nicht aus, sondern fordern es ein. Dass wir keine Angst um die Kirche und ihren Bestand zu haben brauchen, hängt mit einem Grundvertrauen in die Verheißungen Gottes zusammen. Dass wir alte und neue Kirchengestalten katholisch miteinander verbinden können und müssen, hängt mit unserer Ehrfurcht vor dem je neuen Handeln des Geistes Gottes in der Kirche zusammen. Dass wir das Sterben von Formen und Gestalten zulassen können, hängt mit der Hoffnung zusammen, dass gerade das Sterben neues Leben zeugt. Und schließlich: Kirchenentwicklung lebt nicht zuerst aus unseren Plänen, sondern ist ein hörendes Mitgehen mit den Wegen Gottes: voller Überraschungen, voller Freude für die unerhörten Volten, die sich zeigen. — Noch einmal: Mixed economy —
Es ist überraschend: Kirche entwickelt sich eben nicht nur in neuen Formen – seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass totgesagte Gestalten des Kircheseins neues Leben, neue Perspektiven entfal35 Und es gilt ja weiterhin: „Sanguis martyrum semen Christianorum“ (Ter tullian, † nach 220) – Das Blut der Märtyrer ist Samen für neue Christen. 124
3.8 „l a ss m i c h di c h l e r n e n ...“: k e n o s i s u n d i n ku lt u r at i o n
ten (man denke nur an die Kreativität der Verbände). Deswegen kommt es gerade darauf an, die notwendigen Strukturveränderungen nicht gleichzusetzen mit der Kirchenentwicklung: Dort, wo die Struktur in eins gesetzt wird mit dem Leben der Kirche, kann dieser Fehlschluss zu den berechtigten Widerständen führen. Dort aber, wo geduldig versucht wird, das Leben der Kirche, vor Ort wie in anderen Kontexten, weiterzuentwickeln, werden wir schon bald entdecken, dass die Kirche in einem spannenden Aufbruch steckt. Die Strukturen, die der sakramentalen Verwurzelung dieses Aufbruchs dienen, sollen jenen Raum der Gegenwart Christi schaffen, in dem die Geschichte des Lebens Gottes mit seinem Volk weitergeschrieben werden kann. Deshalb gehört die Rede von der „mixed economy“ zum Zentrum einer wirklich katholischen Kirchenentwicklung.
3.8 „Lass mich dich lernen ...“: Kenosis und Inkulturation Jedes Jahr im Sommer gibt es eine Art „Kirchentag für neue Aufbrüche“ in England: Das „Greenbelt-Festival“ in Cheltenham. Es kommen auch ein paar berühmte Persönlichkeiten dorthin, etwa der amerikanische Franziskaner Richard Rohr. Es ist eine „Messe“ mitten auf einem großen Komplex, der eigentlich für Pferderennen vorgesehen ist. Und wir sind dort gelandet, weil die möglichen Ziele unserer Reise nach London zu den „fresh expressions“ an diesem Wochenende alle hier in Cheltenham vertreten sind. Und so haben wir einen Tag diesem Festival gewidmet. Eine Veranstaltung hat mich angezogen: „Sind die fresh expressions schon tot?“ – das ist das Thema einer Podiumsdiskussion. Mich beeindruckt eine junge afroamerikanische Pastorin. Sie erzählt von ihrer jungen Gemeinde: „An einem bestimmten Punkt haben wir festgestellt, dass wir im Durchschnitt jünger sind als die Menschen in unserem Stadtteil – und da habe ich gesagt: Das ist inakzeptabel. Wir müssen uns fragen, wie wir mit den Menschen leben, für sie da sind. Was brauchen die Älteren? Und dann kam raus, dass sie am liebsten am Sonntagmorgen so um 11 Uhr 125
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zur Kirche gehen würden. Und ich habe vorgeschlagen, dass wir einen Gottesdienst um 11 Uhr machen ... Riesenproteste! Wie so sollten wir das tun, sagten sie – wir haben doch einen wunderbaren Gottesdienst am Sonntagabend ...“ Ich höre gebannt zu: es sind – unter umgekehrten Vorzeichen – ähnliche Fragen, wie wir sie stellen müssten ... Und ich bin beeindruckt von der Diskussion, die sich vor meinen Augen abspielt. „Ja, unsere Bewegung ist tot, bevor sie zum Leben kommt, wenn wir uns nicht mehr einlassen auf die Menschen, die in unserem Umfeld leben ...“ Und der theologische Ansatz für diesen Weg heißt „Kenosis“, so nehme ich begeistert und überrascht wahr: im Philipperbrief wird im bekannten Hymnus, den Paulus aufnimmt, gesagt: „Er war wie Gott, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich (auf Griechich ,heauton ekenosen‘) und wurde den Menschen gleich ...“ Diese christologische Grundperspektive wird nun ganz praktisch: Es geht darum, sich ganz auf die Menschen im Umfeld einzulassen. Es ist eine ganz praktische Übersetzung für das Wort von Dietrich Bonhoeffer: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“: Dieses Für-andere-Dasein ist für Bonhoeffer die Grundwirklichkeit Christi, des Gekreuzigten, und deswegen kann die Kirche, die ja nichts anderes ist als die Wirklichkeit des Leibes Christi in dieser Welt, nur wirklich Kirche sein, wenn sie sich auf die Menschen einlässt, mit denen sie lebt. Ein entschiedenes Plädoyer für eine lokale Kirchenentwicklung: Sich darauf einzulassen, Kirche mit den Menschen zu sein. Mich beeindruckt hier auf dem Greenbelt-Festival, dass die Herausforderung einer neuen Kirchengestalt konsequent aus einer Haltung liebender Hingabe heraus beantwortet wird: Nicht die konkrete Gestalt der Kirche steht im Mittelpunkt, sondern die Frage, wie das Evangelium die Menschen am konkreten Ort erreichen kann – die Kirchengestalt ist die Folge eines solchen Weges.
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3.8 „l a ss m i c h di c h l e r n e n ...“: k e n o s i s u n d i n ku lt u r at i o n
— „Lass mich dich lernen ...“ —
„ ... dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“36 So formuliert diese Wirklichkeit der verstorbene Bischof von Aachen, Klaus Hemmerle. Das ist ein fulminanter Satz. Er spricht in unglaublicher Radikalität aus, worum es geht. Ja, die Kirche ist in einer ständigen Lernbewegung. Kirche ist in einer lernenden Dynamik – und sie muss es sein, denn immer wieder neu geht es darum, den Graben von Kirche und Kultur zu überwinden. In allen Zeiten müssen wir die Sprache der Zeit neu lernen, um das Eigene des Evangeliums neu sagen zu können. Ein kurzer Blick auf Jesus genügt: Er knüpft an die Rede vom Reich Gottes an, er erzählt Gleichnisse, damit die Menschen seiner Zeit anknüpfen können, um ihn zu verstehen. Die Apostelgeschichte führt diesen Weg weiter: Wenn jeder aus den vielen Nationen von Gottes großen Taten hören soll – dann müssen die Apostel in der Sprache reden, die der andere versteht. Paulus tut dies beispielhaft auf dem Areopag: „Wie eure Dichter sagen, wir sind von seiner Art.“ Diese Wirklichkeit ist aber nicht einseitig, nicht etwa lediglich ein strategischer Schachzug, um möglichst viele Menschen für das Evangelium zu gewinnen. Dass es um mehr geht, hat das II. Vatikanum in der Konstitution „Gaudium et spes“ deutlich gemacht. In GS 44 formulieren die Väter: „Es ist jedoch Aufgabe des ganzen Gottesvolkes, vor allem auch der Seelsorger und Theologen, unter dem Beistand des Heiligen Geistes auf die verschiedenen Sprachen unserer Zeit zu hören, sie zu unterscheiden, zu deuten und im Licht des Gotteswortes zu beurteilen, damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfasst, besser verstanden und passender verkündet werden kann.“ Mit anderen Worten: Das Evangelium selbst findet seine ganze Wahrheit gerade dann, wenn es sich beschenken lässt durch die Kulturen seiner Zeit. 36 Klaus Hemmerle, Spielräume Gottes und der Menschen, Freiburg 1996, 324–342, hier 329. 127
3. da s w e r d e n d e r ki rc h e v e r st e h e n
Die Kirchengeschichte bezeugt dies: Das Wachsen der Kenntnis und Erkenntnis des Evangeliums hängt mit dem Mut zusammen, sich auf die Wirklichkeit der umgebenden Kultur einzulassen, die Sprache der Zeit zu lernen – und, wie Hemmerle, von dort aus das Evangelium neu zu sagen. — Der Weg der Mangyanen —
Ich muss an den Satz von Klaus Hemmerle denken, als ich zum ersten Mal Pater Ewald Dinter begegne. Er ist ein Steyler Missionar, und lebt seit 40 Jahren auf der Insel Mindoro, in den Philippinen. Er lebt bei den Mangyanen, den Ureinwohnern, und ist mit ihnen auf dem Weg, das Evangelium zu verkünden. Wie hat er das gemacht? Die ersten Jahre hat er einfach mit ihnen gelebt, absichtslos. Er hat versucht, die Kultur und das Leben dieser Menschen von innen her aufzunehmen und zu verstehen. Erst nach langer Zeit kamen die Mangyanen zu ihm und wollten wissen, was das Christentum denn wirklich sei. Sie hatten schon andere Erfahrungen gemacht. Da waren Missionare gekommen und hatten anders gehandelt: Sie hatten eben etwas gewollt, etwas aufgedrückt – und waren so dem Volk der Mangyanen fremd geblieben. Während Pater Dinter erzählt und ich fasziniert lausche, kommt mir in den Sinn, dass wir ja in Deutschland auch mit Ureinwohnern zu tun haben, denen unsere christliche Tradition fremd ist. Nicht: fremd geworden ist. Nein, für viele ist es so, dass sie nie von innen einen Zugang gefunden haben. Vielleicht haben sie an äußeren Feiern teilgenommen, zu Weihnachten oder zu Beerdigungen; vielleicht waren sie bei der Erstkommunion oder Firmung, haben kirchlich geheiratet – aber einen inneren Zugang? Dazu ist es nicht gekommen. In einer solchen Situation sind wir als Christen herausgefordert. Denn es geht nicht darum, Menschen in eine ihnen als fern und fremdartig wirkende Kultur einfach so einzuführen, sondern es geht um eine Bemühung der Inkulturation. Und echte Inkulturation ist in den Worten des verstorbenen Bischofs Klaus Hemmerle beschrieben. Das ist kein kurzer Weg, sondern ein echter Prozess des InBeziehung-Tretens, der Würdigung und Hochschätzung. Es geht 128
3.8 „l a ss m i c h di c h l e r n e n ...“: k e n o s i s u n d i n ku lt u r at i o n
darum, den Geist Gottes, der in jeder Kultur eingewebt ist, zu entdecken und von hier aus, in der Sprache dieser Kultur, das Evangelium neu sagen zu lernen. Dietrich Bonhoeffer formuliert mutig, angelegentlich der Taufe seines Patenkindes: „Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun. Bis du groß bist, wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein. Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen – an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert ...“37 So kann man die Herausforderung klar formulieren: Die Entwicklung einer Kirche der Zukunft hängt auch und gerade davon ab, ob wir den Mut haben, in der Sprache der Menschen unserer Zeit das Evangelium neu und ganz zu sagen. Das setzt eine tiefe Identität der Christen voraus, denn es geht ja nicht darum, das Evangelium zu verwässern und irgendwie Menschen zu erreichen und zu gewinnen. Es geht wirklich darum, dass das Evangelium in den Sprachen der Menschen zum Klingen kommt. Genau das ist ja die Absicht auch der neuen Kirchengestalten, die mehr und mehr ansichtig werden. Es stellt sich heraus, dass es nicht zuerst um eine neue Sprache geht. Es geht um die Authentizität des Lebens, des „Betens und Tuns des Gerechten“ unter den Menschen. Authentische Gotteserfahrung und authentische Zuwendung zu den Menschen führen auch zu einer neuen Sprache, in der das Evangelium klingt. In England wie in Deutschland ist deswegen genau acht zu geben auf die kirchlichen Aufbrüche, die es schon gibt und die sich schon entwickeln. Dort können wir auch entdecken, wie der christliche Glaube in seiner Fülle in neuen Worten, Taten und Gestalten ansichtig wird.
37 D. Bonhoeffer, DBW 9, 435. 129
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3.9 Wachsen können: Die Bedeutsamkeit von Relecture und Evaluation Die Begegnungen mit den Freunden im Erzbistum Poitiers haben eine Wirklichkeit in den Blick gerückt, die uns bislang nicht so zentral erschien. Es geht um die „Relecture“, die mehr ist als nur eine Rückschau auf das, was passiert ist. Für die Brüder und Schwestern geht es hier um einen geistgewirkten Prozess – und deswegen kann es nicht verwundern, dass sich dieser Prozess der „Relecture“ an der Geschichte der Jünger von Emmaus (Lk 24) orientiert. Denn hier geschieht „Relecture“ im ursprünglichen Sinne: Die Jünger erzählen sich ihre Erfahrungen und bleiben dennoch blind. Solange nicht der Auferstandene mit ihnen auf dem Weg ist – und ihnen die erlebte Wirklichkeit auslegt, indem er ihnen die Schrift erschließt, bleibt das „Lesen“ der Wirklichkeit hoffnungslos. Und erst die Begegnung mit dem Auferstandenen lässt entdecken, was wirklich ist und was zu tun ist. Für die örtlichen Gemeinden und den „secteur pastoral“ im Bistum Poitiers sind die regelmäßigen Treffen zur „Relecture“ vielleicht der wichtigste Moment einer geistlichen Gründung des Entwicklungswegs der Verantwortlichen vor Ort.38 — Sehen – Urteilen – Handeln —
Für eine solche Relecture braucht es genügend Zeit – denn es geht ja um eine Art Standortbestimmung im Licht des Evangeliums und darum, die Bedeutung für das Zukünftige zu erkennen. So wird deutlich, dass der Prozess dieser Relecture im Grund die Gemeinschaft der Gläubigen noch einmal neu konstituiert und ihr Identität gibt. Denn natürlich riskieren auch die Gemeinden von Poitiers die aktivistische Versuchung und so wird gerade die Relecture zum geistlichen Wachstumsmoment: „Was sind das für Gespräche, die ihr unterwegs miteinander führt?“ Die Christen werden 38 Vgl. Manuel pour les secteurs pastoraux et les communautés locales, nachsynodales Dokument, Weihnachten 2004, Kapitel 10. 130
3.9 wac h s e n kö n n e n : di e b e d e u ts a m k e i t vo n r e l ec t u r e u n d e va luat i o n
eingeladen, ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen und Sichtweisen im Blick auf die vergangene Zeit auszutauschen, um gemeinsam zu einer Einschätzung der gesellschaftlichen und kirchlichen Wirklichkeit vor Ort zu kommen. Dabei reicht auch hier der Blick über die konkreten Erfahrungen gemeindlichen Lebens hinaus. Denn auch die Lebenswirklichkeit der Menschen, die im unmittelbaren Umfeld leben, ihre Fragen und Sehnsüchte, ihre „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ kommen in den Blick. „Brannte nicht unser Herz in uns, als er auf dem Weg mit uns redete und uns die Schrift erschloss?“ Vor diesem Hintergrund einer angemessenen Analyse der Wirklichkeit soll das, was sich als Leben zeigt, im Blick auf die Schrift und auf die Tradition der Kirche erschlossen werden. Oft braucht es viel Zeit, um genau zu evaluieren, was an Leben da ist. Im Grunde findet jetzt nämlich eine geistliche Standortbestimmung statt. Sie fragt nach den Werten und Motiven und versucht, eine geistliche Unterscheidung der Situation vorzunehmen: „Wie kann unser Glaube an Christus Licht in die Wirklichkeit, bringen, die wir wahrnehmen (z. B. im Blick auf die Armen)? Welche biblische Schriftstelle, welcher Text aus dem Evangelium kann uns Licht schenken? Wo sind wir – als Einzelne und als Gemeinschaft – in unserer Mentalität zur Umkehr gerufen? Welche Haltungen sollten wir uns zu eigen machen? Wo entdecken wir den Ruf das Heiligen Geistes?“ – das sind Fragen, die hier gemeinsam reflektiert werden. Hierfür braucht es Zeit, Aufeinander-Hören und auch Stille. Gebet, Austausch und Gottesdienst dienen dazu, wirklich in einen geistlichen Prozess einzutreten, Klarheit zu gewinnen und so einen Grund zu legen für Handlungspfade, die Wachstum ermöglichen. „Und sie standen auf und kehrten zur selben Stunde nach Jerusalem zurück ....“ Aus dieser Klarheit wachsen dann Optionen und Prioritäten für das nächste Jahr – und zugleich wird überlegt, wie die Erfahrungen mit dem Bischof und den anderen Ebenen des Bistums geteilt werden können. Diese „Relecture“ wird auf allen Ebenen des Kircheseins durchgeführt, in manchen örtlichen Gemeinden auch jedes Mal, wenn sich die Verantwortlichen treffen, mindestens aber einmal im Jahr. 131
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Eine solche Relecture ist mehr als eine Auswertung, die wir aus unseren pastoralen Kontexten auch gut kennen. Der explizite Bezug in Inhalt und Form auf die Schrift, wie z. B. auf die Emmausgeschichte, lässt aufmerken: Die Relecture ist ein Wesensmerkmal einer Kirche, die sich von Gott begleitet weiß. Sie dient nicht nur der Frage, wie man es beim nächsten Mal besser machen kann – sie ist vielmehr eingebunden in die große heilsgeschichtliche Perspektive: Gott ist mit unserer Gemeinde, mit unserer Kirche auf dem Weg; er lässt uns wachsen, er macht uns unsere Sendung deutlich. Er will uns neue Wege zeigen: Wie können wir das entdecken? — Unterscheiden in Gemeinschaft —
Die lukanische Emmausgeschichte ist ja auch der Ursprung für die Grundhaltung der Apostel nach dem Pfingstfest. Auch sie wissen, dass sie nicht die Kirchenentwickler sind, sondern herausgefordert, den Weg mit Gott immer wieder neu zu entdecken, im Blick auf das, was geschieht: Im Blick auf das Wort Gottes, das diese ambivalenten Zeichen der Zeit deutet. Ein solcher Prozess des gemeinsamen Wahrnehmens, Unterscheidens und Handelns ist aber auch eminent kirchenbildend. Hier wächst eine gemeinsame spirituelle Grundlage im Wort Gottes und im Feiern seiner Gegenwart, die eben gerade Kirche hervorbringt. Gerade die Verbundenheit mit dem Ganzen der Kirche ist bedeutsam: Zum einen birgt die „Relecture“ eben nicht nur die Geschichte der örtlichen Gemeinde oder des lokalen Sektors in sich, sondern konfrontiert sich auch immer mit der Ortskirche (hier: von Poitiers) und den konziliaren und lehramtlichen Dokumenten; zum anderen kommt es darauf an, dass die Ergebnisse einer solchen „Relecture“ eingespeist werden in den Erkenntnisweg des Bistums: Was vor Ort entdeckt wurde, das soll auch die Ortskirche bereichern, denn die Leitung der Ortskirche durch den Bischof braucht die lokalen Wahrnehmungen und Entdeckungen, so dass auch insgesamt hingeschaut werden kann, welche Prioritäten für das Bistum anstehen. Mit anderen Worten: Die Praxis der „Relecture“ entwickelt eine kirchliche Kultur der Unterscheidung, die auf allen Ebenen 132
3.9 wac h s e n kö n n e n : di e b e d e u ts a m k e i t vo n r e l ec t u r e u n d e va luat i o n
mit dem Weg Gottes in seiner Kirche vor Ort und als Ortskirche rechnen will. — Evaluation und Kirchenentwicklung —
Diese regelmäßige Suche nach den Wachstumshorizonten nicht nur einer Gemeinschaft von Gläubigen, sondern auch von pastoralen Mitarbeitern und überhaupt allem pastoralen Handeln hatte ich vorher schon in Chicago und in der US-amerikanischen Kirche wahrgenommen.39 Wenn hier alle fünf Jahre die Pfarrer ihre Pfarrei evaluieren, und umgekehrt die Gemeinde ihren Pfarrer evaluiert, damit im Blick auf Weiterbildung und notwendige zukünftige Prioritäten Klarheit gewonnen werden kann, dann wächst hier eine Kultur, in der das Interesse des Bistums an einer fruchtbringenden Entwicklung sowohl der Personen wie auch der Gemeinden deutlich wird. In ganz ähnlicher Weise treffen sich hier Perspektiven, wie sie zum Beispiel in der Diözese Rockford (Illinois) eingeübt werden40, mit der Pastoralkultur, von der uns Father Mark Lesage aus seiner Erfahrung in Manila berichtete. Jedes Jahr fand hier eine umfassende Evaluation der Tätigkeiten der Pfarrei statt: Predigt, Liturgie, Katechese, Feste – zu allem konnten die Christgläubigen ihre Wahrnehmung einbringen; und alles diente dazu, einen wirklich umfassenden Blick auf die Entwicklung der Kirche vor Ort zu werfen und gemeinsam die Zukunft zu entdecken. — Keine Kontrolle, sondern Ermöglichung des Wachstums —
Die Instrumente für einen solchen Weg der Evaluation liegen auch in unserer Kirche in Deutschland vor – aber wir nutzen sie nicht in dieser Perspektive: Jahresgespräche, Visitationen, Fortbildungsgespräche – all das gibt es ja auch bei uns. Aber wir haben 39 Vgl. hierzu beeindruckend Matthias Sellmann, Katholische Kirche in den USA. Was wir von ihr lernen können, Freiburg 2011. 40 Vgl. M. Sellmann, a.a.O., 95–106. 133
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diese Kultur so nicht entwickelt. Vor allem aber gibt es in diesem Sinn keine umfassende und schon gar nicht geordnete Beteiligung des Volkes Gottes. Das hängt wohl mit einem Kirchenbild und einem Kirchenentwicklungsszenario zusammen, das uns die letzten Jahrzehnte geprägt hat. Im Grund war die Gemeindegestalt kein dynamisches Gefüge in einem geistlichen Wachstumsprozess, sondern eine organisierte und gelebte Vorgegebenheit. Natürlich konnte man sie speziell gestalten, konnten einzelne Pfarrer, Diakone und Hauptberufliche und auch Ehrenamtliche spezifische Elemente einbringen, aber eigentlich wusste „man“, wie „es sein soll“. Die Perspektive eines möglichen geistlichen Wachstumsprozesses fehlte, vielleicht auch, weil die Volkskirche ja virtuell allen „Raum“ schon umfasste. Und deswegen war die Entwicklung eigentlich abgeschlossen – die Gemeinde war „fertig“ entwickelt, man brauchte bloß den Standard zu halten und hier und da einiges zu verbessern. Die spirituelle Perspektive der „Relecture“ und „Evaluation“ war selten im Blick. Eigentlich war sie nur dann notwendig, wenn Krisen bei Personen oder Gefügen ausbrachen. Im Wesentlichen riskieren wir dadurch eine Kirchenkultur, die so die Chance versäumt, im Licht des Evangeliums auf das Geschehene zu schauen und die Bedeutung für das Zukünftige zu erkennen. Die Erfahrungen der Weltkirche können uns aber heute, gerade in der Situation eines fundamentalen Umbruchs, helfen, unsere eigene Kirchenentwicklung neu als einen geistgewirkten Prozess zu sehen – und selbst eine Kultur zu entwickeln, die einfach regelmäßig geistliche Prozesse einübt, um zu entdecken, was Gott getan hat und wohin er uns führen will. Dabei hätten wir wohl tatsächlich die Chance, tiefer Kirche zu werden und zu sein, weil wir eine gemeinschaftliche Kultur des Hörens, des Unterscheidens und des Handelns einüben könnten. Diese Chance sollten wir uns nicht entgehen lassen.
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3.10 Abenteurer des Neuen Ich bin in Vierzehnheiligen, eingeladen zu einem Fortbildungsworkshop mit ca. 50 Novizinnen aus deutschen apostolischen Ordensgemeinschaften. Ein wenig Sorge habe ich schon – was kann ich diesen jungen Frauen wirklich sagen? Das steigert sich noch nach der Vorstellungsrunde: So viele profilierte junge Frauen, das beeindruckt mich. Junge Frauen, die oft schon einen anderen Beruf hatten; junge Frauen, die lange Wege zum Glauben gegangen und dann auch in ihre Gemeinschaft gekommen sind – sie sind doch schon ein deutlicher Hinweis auf die Zukunft der Kirche. Wir kommen intensiv ins Gespräch. Es ist ja in der Tat ein sehr individueller Weg, den jede Einzelne gegangen ist – und alle diese Wege wären in der Tat zu wenig begriffen, wenn man sagen würde, hier seien einfach Frauen in einen Orden eingetreten: Denn es geht um etwas anderes, um das Abenteuer des Lebens, eines Lebens mit Gott in Gemeinschaft. Kann man das deutlich machen? Wie wird deutlich, dass Frauen und Männer nicht einfach in häufig sehr überalterte Gemeinschaften eintreten, sondern ihr Leben dem Abenteuer des Neuen anvertrauen – mit vollem Bewusstsein, mit hoher Intelligenz und mit Begeisterung. Im Blick auf diese jungen Frauen wird schnell ansichtig, worin dieses Neue besteht. Und zugleich wird in diesem Schauen auch deutlich, wie eine Kirche der Zukunft sich zeigen wird. Denn die charismatischen Gemeinschaften und Orden unserer Kirche waren eben schon immer deutliche Indikatoren für zukünftige Entwicklungen. — Berufungswege und Schulen des Glaubens —
Wie auch bei Priesteramtskandidaten gibt es keinen „Typ“ mehr, der in einen Orden eintritt. Jede und jeder ist eine individuelle Persönlichkeit – und hat einen sehr persönlichen Glaubensweg. Dies klingt banal – aber das ist es nur auf den ersten Blick. Natürlich kann man soziologisch bewährt auf die Trias von Individuali135
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sierung, Mobilität und Wahlfreiheit verweisen – aber die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis fallen gesamtkirchlich schwerer, ja sind überhaupt noch nicht eingeholt: Während wir uns weiterhin schwertun, den Weg zum Glauben als einen Weg für Erwachsene zu begreifen – und schon gar mit langen Wegen, die nicht „kursartig“ abbuchbar sind –, ist dies schon ein langer Lernweg für die in tiefem Wandel befindlichen Ordensgemeinschaften: Sie haben gelernt, dass junge Frauen (und wohl auch Männer) sehr lange Wege gehen, um überhaupt den Glauben für sich anzunehmen. Sie lernen, was es bedeutet, junge Frauen in ihre Gemeinschaften aufzunehmen – junge Frauen, die mit hohem Selbstbewusstsein und vielen Gaben, mit schon gemachten Karrieren, mit Erfahrungen von Partnerschaft kommen – und doch am Anfang eines Weges stehen. — Merkmale des Christwerdens —
Einiges wird deutlich: Zum einen wird in Zukunft das Christwerden und Christsein unter dem Vorzeichen eines persönlichen Berufungsweges stehen, der auch dann, wenn Menschen sich ein Leben in Ordensgemeinschaften vorstellen können, noch nicht zu Ende ist – ja, vielleicht sogar erst richtig anfängt. Entsprechend stellt sich eine Ordensgemeinschaft deutlich als ein Raum dar, in dem eine „Wachstumsschule“ des Glaubens, eine Schule des Christwerdens möglich wird – zum einen dadurch, dass diese „Schule“ eingebunden ist in eine profilierte Gemeinschaft des Glaubens, die dieses Glaubenswachstum mitlebt (im besten Fall!), zum anderen dadurch, dass in abgestufter Verbindlichkeit (Postulat, Noviziat, zeitliche Versprechen) ein Rahmen ermöglicht wird, in dem klare Schritte möglich sind, aber eben auch Evaluation und Auswertung. Wenn ich auf die Intensität schaue, mit der junge Anwärterinnen begleitet werden, und wie lang solche Begleitwege dauern, dann wird sehr deutlich, worauf wir uns in den nächsten Jahrzehnten im Blick auf das Christwerden einzulassen haben. Ich bin mir zum einen sicher, dass unsere Kirche in Zukunft sich sehr viel mehr auf die verschiedenen Stufen der Evangelisierung einlas136
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sen muss, ohne daraus zunächst „Gewinn“ an neuen Christen zu ziehen. Was schon passiert: Tatsächlich sind ja Kasualien, anlassbezogene Gottesdienste, sakramentliche Feiern im Kontext von Initiation und Ehe in erster Linie die Gelegenheit einer ersten Verkündigung. Der Blick ist dann also darauf zu richten, dass Evangelisierung nicht zu verwechseln ist mit einer echten Glaubensschule, einer Möglichkeit, mit einer Gemeinschaft und im Lebensraum dieser Gemeinschaft im Glauben zu wachsen und Schritt für Schritt in die Tiefe des Glaubens einzutreten. Daraus ergeben sich zwei weitere Erkenntnisse: Es wird nicht der Normalfall sein, dass Menschen in dieser Intensität glauben werden – es werden eher wenige sein. Um so wichtiger wird es sein, dass die Gemeinschaft der Glaubenden einen Raum und einen Weg des Wachsens ermöglicht, in gemeinsamer Zeugenschaft. Das scheint im Übrigen das Grundproblem sowohl der Kirchengemeinden wie der Orden zu sein: dass nämlich die tragende Gemeinschaft existenziell eine Gemeinschaft gegenseitiger Bezeugung des Evangeliums ist, und dass die Formen der Gemeinschaft und ihre Riten lebendig sind. Weder in Ordensgemeinschaften noch in Gemeinden ist ja so klar, dass zum einen der Modus des Glaubenlernens nicht nur „Neue“ betrifft, sondern Gläubige aller Generationen, zum anderen die Art der Gemeinschaft und die Weise der liturgischen Feier dies verdeutlichen oder verunklaren, mit der Konsequenz, dass dann Menschen keine Heimat und keine Zugehörigkeit empfinden und leben können. Für die Ordensgemeinschaften wie für andere Orte des Kircheseins gilt im übrigen gemeinsam auch: Dort, wo die Sendung klar ist, können sich Menschen auch besser orientieren, sich beteiligen, sich geben. Denn das erfahre ich in diesen Tagen mit den jungen Frauen: Sie wollen eine klare Identität und einen klaren Ort ihrer Hingabe. Denn das ist ja ein Zeichen dieser Entwicklung, die auch in den Orden postmodern ist: Identität, Radikalität und Beheimatung müssen klar profiliert werden.
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— Die erfolgreiche Rezeptionsgeschichte der Bewegungen —
Szenenwechsel nach Würzburg. Als Team sind wir eingeladen zu einem Treffen der Cursillos in Deutschland. Eine interessante Begegnung bahnt sich an, denn es geht um die Frage der Zukunftsentwicklungen der Gemeinschaft, die immerhin schon vor dem Konzil entstanden ist – wie viele andere Erneuerungsgemeinschaften auch. Hier kommen jetzt viele Fragen, auch einige Unzufriedenheiten auf. Wie kann es sein, dass die Kirche in den letzten Jahren so sehr auf „Wege erwachsenen Glaubens“ und andere Glaubenskurzkonzepte setzt, wo doch über dreißig Jahre lang der Cursillo dies mit hoher Intensität und großemEngagement in die Kirche bringen wollte? Das gilt ja auch für andere Erneuerungsbewegungen in der Kirche, die ja zweifellos in Deutschland nicht immer einen leichten Stand haben. „Wie wäre es, wenn man die Perspektive einfach einmal umdreht?“, versuche ich eine Antwort. „Kann es nicht sein, dass gerade euer Engagement dazu beigetragen hat, dass die Kirche heute sensibler für die Gestaltung von Glaubenskursen geworden ist? Ist euer Engagement nicht eigentlich eine Erfolgsgeschichte? Hat nicht die Kirche vieles von dem rezipiert, was ihr einbringen wolltet?“ Staunende Gesichter. Aber ich denke, es ist wirklich so. In allen Zeiten. Denn Orden wie Erneuerungsbewegungen sind ja kein Selbstzweck, sondern haben einen spezifischen Dienst an der Kirche zu tun: ihr nämlich als geistgewirkte Gabe zu schenken, was sie aus der Logik einer normalen Pastoral nicht generieren kann. Die neuen Aufbrüche, auch alle Ordensgemeinschaften, verdanken sich Charismen und ihren Gründerinnen und Gründern. Sie verdanken sich jener Dynamik der Zeichen der Zeit, die der Geist Gottes selbst immer wieder seiner Kirche schenkt. Wenn und insofern dann diese Aufbrüche ihr Charisma in die Kirche einbringen, heißt das sicher auch, dass Menschen einen Zugang in eine solche Gemeinschaft finden – der größte Einfluss der Gemeinschaften geschieht aber dann, wenn die Kirche insgesamt von ihnen geprägt wird. Im Jahr der Bibel 2003 ist mir dieser Zusammenhang zum ersten Mal aufgefallen: Auf der Suche nach Bibelgruppen und einer 138
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intensiven Untersuchung zum Thema stellte sich nämlich heraus, dass ein großer Teil gemeindlicher Bibelgruppen sich Menschen und ihrer Initiative verdankt, die mit geistlichen Gemeinschaften in Kontakt standen, ihnen aber nie näher zugehörig waren. Diese Perspektive ließe sich vertiefen, schaute man auf die innerkirchliche Rezeption der Einflüsse charismatischer Gruppierungen, der Fokolare und anderer: Die Intensität der Suche nach Spiritualität wirkt sich eben nicht in der Beteiligung an einer Gruppierung, sondern in der Übernahme des Charismas aus. Auch wenn also im deutschsprachigen Raum kaum ein Wachstum geistlicher Gemeinschaften feststellbar ist, spielen sie doch gerade auf dem Weg zu einer spirituell gegründeten Taufwürde eine entscheidende Rolle. Und auch in Zukunft wird dieser Prozess weitergehen. Nicht weil die Gemeinschaften so stark sind, sondern weil sie als „kreative Minderheiten“ geistgewirkte Trends vorabbilden, einüben und weitergeben. — Nicht ein Problem, sondern ein Reichtum —
Sowohl die Ordensgemeinschaften als auch die geistlichen Gemeinschaften sind in den vergangenen Jahren neu in den Blick gekommen. Sah man in Zeiten der ausgeprägten Gemeindetheologie diese Aufbrüche eher als Problem, als Gemeinschaften und Gruppierungen, die Menschen „aus den Gemeinden ziehen“, so wird heute eher deutlich, was für ein großer Reichtum gerade die Gemeinschaften sind, die sich nicht ortsgemeindlich engagieren. Sie spiegeln zum einen die neue Vielfalt des Kircheseins wider, die sich eben nicht nur lokal-ortsgemeindlich, sondern an vielen Orten manifestiert. Zum anderen zeigt sich die neue Gestalt der Kirche in Ordensgemeinschaften wie in geistlichen Gemeinschaften schon deutlich als beziehungsorientierte Netzwerkstruktur kleinerer und deswegen lebensraumorientierter Gemeinschaften. Ja, sie sind Abenteurer des Neuen, selbst wenn sie Pioniere wider Willen wären: Die grundgelegten Charismen ermöglichen neue Wege, die häufig schon dazu geführt haben, dass das Neue von der ganzen Kirche Schritt für Schritt übernommen werden konnte. 139
4. Grundhaltungen der Kirchenentwicklung entfalten 4.1 Staunen: Die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums deuten „ Am Anfang steht das Staunen – das ‚thaumazein‘, wie die Griechen sagen.“ Ich erinnere mich immer noch an diesen einen Satz. Es ist der einzige Satz, der mir aus meiner Schulzeit übriggeblieben ist, und die liegt ja auch schon lange zurück. In der 11. Klasse hat ihn Frau Kelle in einem Grundkurs Philosophie, von dem ich sonst nichts mehr behalten habe, am Anfang des Kurses gesagt. Der Ausgangspunkt aller Philosophie sei das Staunen. Können und müssen wir das nicht auch für jede echte Bemühung um die Kirche und ihre Entwicklung sagen? Denn es geht ja nicht um die Mechanik einer Bestandwahrung gewachsener Kirchengestalten und auch nicht um die Umsetzung interessanter Ideen – sondern um ein Sich-Einlassen und Sich-Öffnen für die Wege Gottes mit seinem Volk in seiner Welt. Mich hat in den letzten Jahren immer wieder diese zutiefst biblische Perspektive berührt. Sie ist eine Einladung: „Seht, ich schaffe Neues, es sprießt schon auf – merkt ihr es nicht“ (Jes 43, 19). In der Geschichte Gottes mit seinem Volk geht es immer darum, die ungeahnten Möglichkeiten Gottes anzunehmen und aufzunehmen. Sie verlangen zweifellos eine Perspektive, die sich umkehrt und löst von einer Vergangenheit, die prägend war. Aber sie ist Vergangenheit. Die Ambivalenz ist auf den ersten Blick deutlich: Die Widerstände und Krisen der derzeitigen Veränderungsprozesse lassen sich eigentlich nur so erklären: Die prägende und gelungene pastorale Formation der Vergangenheit hat auch durchdringend die Perspektive des Nachdenkens geprägt. Ein Loslassen der klassischen 141
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
Logik der volkskirchlichen Konfiguration ist mit sehr vielen Ängsten verknüpft: angefangen mit der Frage der Glaubensweitergabe an die nächste Generation, mit der Frage nach den priesterlichen Berufungen, mit der Frage nach der Zentralität der Eucharistie in einer Kirche der Zukunft – bis hin zur Rolle des Priesters und der Ortskirche in einer sich abzeichnenden lokalen und von der Taufwürde her bestimmten Kirchengestalt. In der Tat gerät hier etwas außer Kontrolle. Denn die Veränderung dieser wesentlichen Gefügekonstellation berührt eben auch die klassischen Parameter des Denkens, der Theologie. Ein Aufbruch der Kirche ist im Kommen, der verlangt, auch theologische Kriterien und die Tradition unserer Kirche neu zu formulieren. Und das verlangt Mut. — Bereitschaft zur Umkehr —
Diesen Mut, dieses neue Handeln und Leben, das nennt Paulus Umkehr (vgl. Röm 12, 1–2). Und diese Umkehr und Aufmerksamkeit für das Neue, die führt zum Staunen. Vor vielen Jahren beschrieb Pablo Picasso dies eindringlich: „Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen
und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuem.
Finden – das ist das völlig Neue! Das Neue ist auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer!
Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in die Ungewissheit, in die Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen, die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht – menschlich beschränkt und eingeengt – das Ziel bestimmen.“ Genau das aber ist die existenzielle Herausforderung: Pastoral und Nachdenken über pastorales Handeln gelingen nicht abstrakt, ohne eine Erfahrung, die einen in die Gegenwart Gottes hineinstellt und selbst verwandelt: Das Nachdenken über Gottes Wege gelingt nicht, ohne selbst in diesen Weg hineingerissen zu werden. Es ist die Erfahrung des Abraham, der sich auf einen Weg in ein ihm noch unbekanntes Land einlässt, es ist die Erfahrung des Mose, der staunend vor dem brennenden Dornbusch steht und 142
4.1 stau n e n : D i e z e i c h e n d e r z e i t i m l i c h t d e s e va n g e l i um s d e u t e n
hier auf einen Weg gerufen wird, der dem ganzen Volk Gottes gilt. Diese Erfahrung leuchtet auch auf in der Erfahrung des Jakob – und sie kann uns Licht sein für unser Nachdenken über den Grundweg des Staunens, den eine Reflexion über die Wege Gottes in unserer heutigen Zeit verlangt: „Jakob zog aus Beerscheba weg und ging nach Haran. Er kam an einen bestimmten Ort, wo er übernachtete, denn die Sonne war untergegangen. Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der Herr stand oben und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich unaufhaltsam ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden und durch dich und deine Nachkommen werden alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe. Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: Wirklich, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht. Furcht überkam ihn und er sagte: Wie Ehrfurcht gebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels. Jakob stand früh am Morgen auf, nahm den Stein, den er unter seinen Kopf gelegt hatte, stellte ihn als Steinmal auf und goss Öl darauf. Dann gab er dem Ort den Namen Bet-El (Gotteshaus). Früher hieß die Stadt Lus“ (Gen 28, 10–19). „Wirklich, der Herr ist an diesem Ort – und ich wusste es nicht“, ruft Jakob aus. Und um diesen staunenden Ausruf geht es. Was nur ein steiniger Ort zum Übernachten ist – eine gewöhnliche Stadt –, das zeigt sich als Ort Gottes, als Ort der Verheißung der Zukunft, die nicht irgendwo ist, sondern gerade hier. Ein Ort des Wachstums und ein Ort der behütenden und liebenden Gegenwart Gottes. Für uns und unsere Situation des Umbruchs gilt es also, das Hier und Jetzt im Licht dieser Erfahrung zu deuten und zu fassen. Dabei muss es wesentlich darum gehen, die Gegenwart und das Handeln an seinem Volk wahrzunehmen und fruchtbar zu ma143
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
chen für den Weg in die Zukunft. Die Rede ist von den Zeichen der Zeit. — Die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums deuten —
Das II. Vatikanische Konzil hat – im Anschluss an Johannes XXIII. – in der Konstitution „Gaudium et spes“ diesen Zugang eröffnet und mit großem Mut den Horizont für eine verheißungsvolle Zukunft geöffnet: „Im Glauben daran, dass es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind.“ (GS 11) Die Zeiten, in denen wir leben, sind zweifellos ambivalent, aber Ausgangspunkt einer Kirchenentwicklung, wie wir sie hier im Blick haben, kann nur die Erkenntnis sein, dass inmitten der in jeder Zeit erkennbaren Zeichen des Abbruchs und der Krisen dieser Welt zugleich auch der Aufbruch des Geistes zu entdecken ist.41 Denn der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis, erfüllt auch die Menschen unserer Zeit – und es kommt darauf an, im Glauben „alles mit einem neuen Licht“ (GS 11) zu erhellen. Dabei geschieht dieser Prozess nicht von außen, sondern von innen: Wir Christen teilen ja mit den Menschen unserer Zeit „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ (GS 1), und deswegen braucht es einen Weg der Unterscheidung, der es möglich macht, diese Zeichen im Licht des Evangeliums zu lesen, zu deuten, zu prägen: „Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben. Es gilt also, die Welt, in der wir leben, 41 Vgl. zum Folgenden W. Schaupp, Die Welt mit Gott ins Gespräch bringen, in M. Eckholt/P. Rheinbay (Hg.), ... weil Gott sich an die Menschen verschenkt. Ordenstheologie im Spannungsfeld zwischen Gottesrede und Diakonie, Würzburg 2012, 71–93. 144
4.1 stau n e n : D i e z e i c h e n d e r z e i t i m l i c h t d e s e va n g e l i um s d e u t e n
ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen. So kann man schon von einer wirklichen sozialen und kulturellen Umgestaltung sprechen, die sich auch auf das religiöse Leben auswirkt. Wie es bei jeder Wachstumskrise geschieht, bringt auch diese Umgestaltung nicht geringe Schwierigkeiten mit sich.“ (GS 4) Dabei bleibt die Perspektive wichtig: das Konzil sieht den Wandel, in dem wir als Gesellschaft und Kirche stehen, als „Wachstums krise“. Es entspräche nun nicht der theologischen Tiefe dieser Konstitution, unterstellte man einfach eine optimistische Zeitgeistigkeit der Konzilsväter. Es geht um die Ernsthaftigkeit jener Perspektive, die das Konzil zuinnerst trägt. Das Volk Gottes ist pilgernd auf dem Weg zum Reich Gottes, und deswegen sind – in jeder Zeit – die Zeichen des Wachstums zu entdecken. — Staunen lernen – und die Zeichen der Zeit deuten lernen —
Staunen lernen – das ist also ein erster wichtiger Schritt: Es geht darum, in der Kultur und der Gesellschaft unserer Zeit die Spuren und Prägungen des Geistes Gottes zu entdecken und sie – in einem gemeinschaftlichen Unterscheidungsprozess – für die Zukunft der Kirche fruchtbar zu machen. Das wird noch aus einem anderen Grund dringender: Die Christen unserer Zeit teilen ja, wie GS 11 deutlich macht, die Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte mit ihren Zeitgenossen – und es braucht einen echten Lernprozess, auch in den Ambivalenzen dieser Entwicklungen die Spur des Evangeliums zu entdecken. Auch hier gilt ja für die Entwicklung der Kirche, was zunächst eine soteriologische Aussage ist: „Quod non assumptum, non est sanatum“ – nur was angenommen wird, kann auch geheilt werden. Die Kultur unserer Zeit braucht also jene heilende Annahme durch die Kirche, damit das Evangelium hier wirken und alles durchwirken kann.42 42 Paul VI. hat dies in der Enzyklika Evangelii Nuntiandi (20) pointiert formuliert: „Der Bruch zwischen Evangelium und Kultur ist ohne Zweifel das Drama unserer Zeitepoche, wie es auch das anderer Epochen gewesen ist. Man muß somit alle Anstrengungen machen, um die Kultur, genauer die Kulturen, auf mutige Weise zu evangelisieren.“ 145
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
4.2 Vertrauen Die Begegnung mit Bischof Rouet in Poitiers bleibt unvergessen. Sie war so, wie uns Martin Lätzel bei unserem Kongress im Jahr 2008 gesagt hatte: Es ist ein Bischof des Vertrauens. Vertrauen setzen in die Kraft der Taufe, darum geht es Rouet: „Ich frage mich manchmal, ob meine Mitbrüder im bischöflichen Dienst, wirklich in das vertrauen, was sie tun, wenn sie mit den Christen Firmung feiern – der Heilige Geist lebt doch in den Gläubigen ...“ Dem ist ja kaum zu widersprechen: der Heilige Geist lebt in der Gemeinschaft der Gläubigen, aber es braucht natürlich die Begleitung und Ermöglichung der Entwicklung dieses Sensus fidelium. Und genau das geschieht ja in Poitiers: Wenn Vertrauen eine Grundperspektive einer partizipativen Kirchenentwicklung ist, die im gemeinsamen Priestertum der Gläubigen gründet, dann bedeutet dies zugleich auch, dass die Begleitung der Getauften im Blick auf ihre Charismen und Gaben, die Formung des Leitungsverständnisses, die Bewusstwerdung des eigenen Kircheseins und der damit zusammenhängenden Sendung in die Welt und Zeit von heute eine unbedingte Priorität braucht. Der Aufbau einer Struktur, die dieses gemeinsame Priestertum weiter fördert und sein Engagement ermöglicht – und der Aufbau einer Kultur der Evaluation, die in aller Verschiedenheit Wachstum ermöglicht, das sind dann die Schwerpunkte einer solchen Entwicklung. — Krise des Vertrauens —
Aber genau die Frage nach dem Vertrauen in die Taufe ist die Herausforderung schlechthin. Das wird mir im Zusammenhang mit verschiedenen Veranstaltungen deutlich, die ich im Kontext des bundesdeutschen Dialogprozesses erlebte: In unserem Bistum haben wir sehr intensiv über die Frage nach einer Kultur der Sonntagsgottesdienste nachgedacht – und jedes Mal, wenn wir von diesen Abendveranstaltungen zurückkehrten, war ich beeindruckt von der Diskussionskultur der Christen vor Ort. 146
4.2 v e rt r au e n
Immer wieder ging es um die Eucharistie. Angesichts der geringer werdenden Zahl der Priester wird es immer schwieriger, dass in jeder Kirche die sonntägliche Eucharistie gefeiert werden kann. In allen Äußerungen, die ich miterlebte, kam zum Ausdruck, wie zentral wichtig die Eucharistie für die Christen vor Ort ist – und deswegen fragen viele an, ob sie nicht einen Wortgottesdienst mit Kommunionfeier gestalten können. Wissen sie deswegen nicht um die Bedeutung der Eucharistiefeier? Manchmal wird den Christen unterstellt, sie würden sich dann doch lieber am Sonntag ohne Eucharistie treffen. Ohne Eucharistie ...? Und vielleicht, so ist zu fürchten, wissen sie den Unterschied nicht mehr zu benennen, zumal ja die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte in diese Richtung zielt: immer weniger Menschen kommen zur Eucharistie – und die Versammlung in der Gemeinde vor Ort scheint wichtiger zu sein als die Erfahrung der eucharistischen Feier. Ein Testfall, so scheint mir. Ein Testfall des Vertrauens in einer ohnehin schwierigen Situation. In den vergangenen Jahren konnte das Vertrauen in die Leitung der Bistümer nur in eine tiefe Krise geraten: Der Missbrauchsskandal, aber auch die schwierigen Entscheidungen im Kontext der Zusammenführung und Neuordnung – all das zeigt zum einen die Krise, die das Gottesvolk durchlebt, das – und das würde ich wirklich sagen – in sehr großer Solidarität zur Kirche steht. Auf der anderen Seite braucht es natürlich auch das Vertrauen der Bischöfe und der Verantwortlichen in die Gläubigen. Und dieses Vertrauen zu gestalten, darum geht es wohl. Gerade die Fragen im Umfeld der Liturgie können diese Frage weiter zuspitzen. Ich erinnere mich an eine Erfahrung in der ersten Pfarrei, in der ich Pfarrer sein durfte43: „Wissen Sie, Herr Pfarrer, ich habe gelernt, dass ich die Messe andächtig hören soll. Und als der Altar nach dem Konzil vorgerückt werden sollte, da haben wir uns alle hier geweigert. Es kam zum Konflikt. Der damalige Bischof sagte: ,Wenn ihr das nicht tut, dann kom43 Vgl. Christian Hennecke, Sieben fette Jahre. Pfarrer und Gemeinde im Umbruch, Münster 2002. 147
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
me ich nicht mehr zur Firmung hierher‘ – da haben wir das halt gemacht.“ Und als ich mit interessierten Gemeindemitgliedern eine „Liturgiewerkstatt“ zur Vertiefung des Kennenlernens der Eucharistie durchführte – und dies auch Konsequenzen für unsere Gemeindeliturgie am Sonntag haben sollte, erinnere ich mich auch noch an die Äußerung eines Mitglieds des Pfarrgemeinderates: „Wissen Sie, Herr Pfarrer, Sie machen das jetzt so – das ist o. k. Aber dann kommt Ihr Nachfolger, und der macht es dann wieder anders ...“ Das hat mich damals sehr berührt. Denn daraus sprach eine interessante Grundfigur kirchlichen Lebens: „Wir wissen es nicht – und du kannst uns alles sagen, was bleibt uns anders übrig, als das zu akzeptieren?“ Vor diesem Hintergrund wird noch einmal deutlich, dass die Frage nach dem Vertrauen eine Grundausrichtung der Pastoral sein will. Vertrauen in die Kraft der Taufe, in die Präsenz des Geistes inmitten der Christen ist kein blindes Vertrauen, sondern eine echte Prioritätensetzung: Sie verlangt, dass die Kräfte für die Zukunftsentwicklung ganz zentral auf die Begleitung und Entwicklung der Christen auf ihrem Weg zur geistlichen Mündigkeit zu richten sind. Von daher braucht es eine intensive Bemühung um jene Formen intensiver geistlicher Grundbildung, liturgischer Formung und biblischer Jüngerschulung des ganzen Volkes Gottes. Und es braucht eben auch die Kunst, mit den Christen vor Ort gemeinsam den Glaubenssinn des Gottesvolkes zu entfalten, einen Weg der geistlichen Unterscheidung zu gehen. — Eine notwendige Umkehr —
Mit anderen Worten, und etwas bitter (vielleicht sarkastisch?) formuliert: Man kann angesichts der vorenthaltenen liturgischen Bildung dem Volk Gottes nicht vorwerfen, dass es keine liturgische Bildung hat. Der Vorwurf kehrt wie ein Bumerang zurück, denn eine echte und tiefe Mystagogie der Liturgie hat vor Ort in der Regel nicht stattgefunden – bis heute. Das gilt ja nicht nur für die Liturgie – das gilt auch für die Glaubensbildung insgesamt, die in der Regel für die Gemeinde 148
4.2 v e rt r au e n
vor Ort nicht stattfindet. Hier braucht es eine grundlegende Umkehr. Es braucht diese Umkehr, weil auch die Entwicklung der Kirche auf eine solche Umkehr zielt. Und diese Umkehr betrifft das gesamte Gottesvolk. Die Wahrnehmung der eigenen Taufwürde, der eigenen Gaben und Charismen, der eigenen Wirklichkeit des Kircheseins verlangt die Umkehr von einem Kirchenbild, das „unten“ und „oben“ gegeneinander denkt, die Umkehr von einem überwiegend institutionell-hierarchischen Kirchenverständnis, das auch von der Öffentlichkeit weiter gefördert wird – und die Hinkehr zu einem Verständnis der Kirche als Leib Christi und als Volk Gottes auf dem Weg zum Reich Gottes. Einen Umkehrprozess braucht es aber auch für die, die im Volk Gottes Verantwortung tragen. Die Investition in einen Vertrauensprozess ist theologisch geboten – aber führt auch zu praktischen Optionen: Neue Formen des Hinhörens und des Austauschs sind weiterzuentwickeln, wie sie anfänglich etwa im Dialogprozess der deutschen Bischöfe auf den Weg gebracht wurden. Mich hat tief beeindruckt, dass der Bischof von Poitiers sich jedes Jahr mit den Verbänden, aber auch den geistlichen Gemeinschaften und Orden getroffen hat, um gemeinsam zu hören auf das, was sich in diesen Ausdrucksformen der Kirche entwickelt hat und was entdeckt wurde. Genauso tief hat es mich beeindruckt, als Gisèle Bulteau, die in Poitiers mit Bischof Rouet Woche um Woche an vielen Abenden durch das Bistum gefahren ist, um die Entwicklung der örtlichen Gemeinden zu fördern, davon erzählte, wie er den Menschen in den Communautés zugehört hat. Das hat bei den Menschen tiefes Vertrauen in ihren Bischof begründet und so die Erfahrbarkeit des einen Leibes. Mich hat auch tief beeindruckt, dass bei den Treffen, die die Bischöfe mit den Priestern in unserem Bistum Hildesheim anboten, immer mehr deutlich wurde, wie wichtig der regelmäßige hörende und gebende Austausch ist, um gemeinsam eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln. Wir sind auf dem Weg, wenn gemeinsam mit allen Protagonisten Wege eröffnet werden, wenn regelmäßig und verbindlich 149
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
die Entwicklung der Pastoral in den Blick genommen wird – und Wege einer neuen Form von „Gemeindemission“ entwickelt werden, die einen Glaubensweg innerer Partizipation für viele eröffnet. — Eine Kultur des Vertrauens schaffen —
Vertrauen war nicht die Stärke unserer kirchlichen Kultur. Sie lebte eher aus anderen Parametern. Misstrauen ist in den vergangenen Jahren von allen Seiten gewachsen. Und um eine Kultur des Vertrauens zu entwickeln, die der neu entdeckten Würde der Getauften entspricht und einem gemeinsam geteilten Verstehen des Kircheseins, braucht es, so scheint mir, einen langen Weg. So ist es nicht verwunderlich, dass Bischof Norbert Trelle aus Hildesheim in seinem Brief zur Lokalen Kirchenentwicklung genau hier einen Schwerpunkt gesetzt hat. Denn in der Tat gibt es theologisch keine Alternative zur Entwicklung einer solchen Kultur, entspricht sie doch zutiefst der Logik des Evangeliums. Er schreibt: „Wie geht es weiter? Schnell können unsere Überlegungen wieder dazu verführen, ehrgeizige Pläne, Konzepte und Programme zu entwerfen. Aber nicht wir gestalten die Kirche; der Geist Gottes gestaltet die Kirche – in uns und durch uns. Auf ihn zu hören und ihm zu vertrauen, ist entscheidend für das zukünftige kirchliche Leben. Hinzu kommt: Gott zu vertrauen ist die Grundlage dafür, auch einander vertrauen zu können. Dieses Vertrauen möchte ich Ihnen meinerseits ausdrücklich zusichern, wenn Sie an ihrem Ort die Prozesse Lokaler Kirchenentwicklung beginnen. Zugleich bitte ich Sie um ihr Vertrauen für mich und für diejenigen, die mit mir zusammen für das Bistum Verantwortung tragen. Wenn ich an bestimmten Stellen Vorgaben für die Prozesse Lokaler Kirchenentwicklung machen werde, dann tue ich dies, um nach dem Maßstab des Evangeliums Orientierung zu geben. Wir werden lernen müssen, das Vertrauen zueinander zu intensivieren. Wo eine einhellige Sichtweise nicht sofort gefunden werden kann, werden wir noch besser als bisher aufeinander 150
4.3 d e n wa n d e l b eg r ü ss e n : di e wü r dig u n g d e r k r i s e
hören müssen. Ich bin zuversichtlich, dass dies gelingen kann. Denn gemeinsam leitet uns die Frage: Welchen Weg führt uns Gott in die Zukunft?“ Einen solchen Weg zu gehen, lohnt die Mühe. Ein solcher Weg wäre die Konsequenz der tiefgehenden Umkehr, zu der wir alle eingeladen sind. Die Erfahrungen, die wir wahrnehmen dürfen – sei es in Afrika, in Asien oder besonders auch in Poitiers – zeigen, dass sich alle Mühe und Bemühungen lohnen!
4.3 Den Wandel begrüßen: Die Würdigung der Krise Frag hundert Katholiken, was das Wichtigste ist in der Kirche. Sie werden antworten: Die Messe. Frag hundert Katholiken, was das Wichtigste ist in der Messe. Sie werden antworten: Die Wandlung. Sag hundert Katholiken, dass das Wichtigste in der Kirche die Wandlung ist. Sie werden empört sein: Nein, alles soll so bleiben, wie es ist! „Sag 100 Katholiken, dass das wichtigste in der Kirche die Wandlung ist ...“ Dieser bekannte Text von Lothar Zenetti spricht in die Mitte unseres eucharistisch geprägten Kirchenverständnisses und provoziert es. Denn er stellt die Frage, ob die gewohnte Rede von der Krise so einfach stimmen kann. Jedenfalls dann, wenn Krise konnotiert wird mit Untergang. Im griechischen Original ist die Krisis ja ein Scheide- und Wendepunkt, zunächst einmal losgelöst von jedem Untergangsszenario. So klingt es aber häufig nicht: Die Rede vom Mangel orientiert alle Maßstäbe in eine scheinbar normative Vergangenheitskonstellation milieu christlicher Volkskirchlichkeit und schafft nur selten den Sprung in eine eucharistisch geprägte Theologie der Wandlung. 151
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
Eine solche Perspektive aber wäre und ist voraussetzungsreich: Zum einen verlangt sie die Gewissheit, dass die Kirche als „semper reformanda“ stetig in einem Wandlungsprozess steht, der durch das Geheimnis von Tod und Auferstehung gezeichnet ist. Genau das, was nach der eucharistischen Anamnese, den „Wandlungsworten“, vom Volk Gottes als Geheimnis des Glaubens verkündet wird, gilt auch für den Leib Christi selbst, der aus diesem Geheimnis wächst: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Mit anderen Worten: Es wäre zu kurzschlüssig, die Krisenszenarien als Untergangsszenarien zu beschreiben. Und es ist einfach auch soziologisch zu kurzschlüssig: Die zu gewohnte Rede vom Mangel an Gläubigen, vom Priestermangel, der schon seit fast 100 Jahren beklagt wird, vom Verlust an Glaubenssubstanz – all das orientiert seine Normvorstellungen nicht in der Tradition der Kirche, sondern in geschichtlichen Kontexten und besonderen Konstellationen. Beispielhaft gilt dies für die Belegstudie zum Krisenszenario, die Sinusmilieustudie. Was in ihr dargestellt wird, wird einem Praktiker in der Pastoral nicht fremd sein. Damit lässt sich trefflich zeigen, dass die größte Zahl der Katholiken in den Sozialformen der Gemeinde auch in Zukunft nicht so schnell ein Zuhause findet. Doch vorschnell wäre das Urteil, hier von einer Krise der Kirche zu reden – vielmehr erweist sich der Blick als sehr verengt, wenn man das tut. Die Studie macht klar und deutlich, dass sich ein grundlegender Wandel nicht nur abzeichnet, sondern schon mitten im Vollzug ist: Die meisten Menschen, auch die meisten Christen, sind eben nicht mehr in einem vererbten Christentum groß geworden, sondern in fast schon allen Altersgruppen (auch bei den „Alten“) sind diejenigen in der Minderheit, die in einer Selbstverständlichkeit „praktizierende Katholiken“ sind. Sind die anderen vom Glauben abgefallen? Haben sie ihr Glaubenswissen verloren? Wissen sie die Eucharistie nicht mehr zu schätzen? Es ist gänzlich anders: Diese Brüder und Schwestern, ob getauft oder nicht, haben in den meisten Fällen noch nie einen Zugang zum Christusgeheimnis und zum Geheimnis der Kirche gefunden. Der eigentliche Wandel besteht eben darin, dass 152
4.3 d e n wa n d e l b eg r ü ss e n : di e wü r dig u n g d e r k r i s e
Christsein und Christwerden heute im Modus der persönlichen Glaubenswege und persönlichen Berufungen bestehen – wir also in einer grundsätzlich und für uns neuen Situation stehen, auf die die Kirche insgesamt erst langsam eine Antwort findet. — Kirche als Hospiz —
Das II. Vatikanische Konzil hat das Paschageheimnis, die Dimension des österlichen Sterbens und Werdens, zur geheimen Mitte des Nachdenkens gemacht.44 Dennoch sind wir es weiterhin nicht gewohnt, dieser Dimension in unserem Wandlungsprozess Raum zu schenken. Täten wir es, würden wir anders mit der derzeitigen Krise umgehen: Denn so sehr eine Gestalt der Kirche vergeht, so sehr würden wir in aller angebrachten Trauer den Blick ausrichten auf die Frage, welche Zeichen des österlichen Aufbruchs schon erkennbar sind. Der US-amerikanische Theologe Paul Lakeland hat deswegen einen mutigen ekklesiologischen Vorschlag gemacht.45 Er versucht, neue Bilder für die Kirche in der heutigen Zeit zu installieren und spricht unter anderem von dem Bild der Kirche als Hospiz: Es ist klar und deutlich erkennbar, dass die Volkskirche in ihrer klassischen Gestalt zu Ende geht, ja an vielen Orten zu Ende gegangen ist. Und für viele Menschen ist das ein Augenblick tiefster Trauer. Doch zugleich ist dieses Sterben ja ein Übergang in ein neues Leben, das nicht einfach eine Kopie der Vergangenheit ist, wohl aber die konstitutiven Wesenszüge des Kircheseins in sich trägt. Diese Prozesse des Sterbens in der Hoffnung der Auferstehung zu begleiten, das ist die Herausforderung pastoraler Reflexion in unserer Zeit. 44 Vgl. den Hinweis von Josef Kardinal Ratzinger/Benedikt XVI. in seinem Beitrag: 40 Jahre Konstitution über die heilige Liturgie. Rückblick und Vorblick, Liturgisches Jahrbuch 4/2003. Vgl. dazu auch Kurt Kardinal Koch, Das Geheimnis des Weizenkorns, Grundzüge des theologischen Denkens von Papst Benedikt XVI., Regensburg 2010. – Einen Versuch der Interpretation dieser Paschalogik im Konzil habe ich vor einigen Jahren vorgelegt: Chr. Hennecke, Die Wirklichkeit der Welt erhellen, Paderborn 1995. 45 Vgl. zum Folgenden P. Lakeland, Church. Living communion, Collegeville (Minnesota) 2009, 147–149. 153
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
— Was heißt das konkret?—
Der protestantische Religionssoziologe Philip Jenkins rät der katholischen Kirsche, den größten der Teil der Priester, die in Europa agieren, in die Südhalbkugel zu senden – denn dort leben die meisten Katholiken46. Eine solche weltkirchlich korrekte Wahrnehmung mögen wir hier kaum annehmen. Und dennoch: Der Rückgang der Priesterzahlen in europäischen Ländern sollte eben eher dazu führen, intensiv darüber nachzudenken, welche Rolle der Priester in einer Kirche hat, die sich im II. Vatikanischen Konzil als Geheimnis des dreifaltigen Lebens, als Volk Gottes auf dem Weg und als Leib Christi beschreibt und das sakramentale Weihepriestertum als Dienst am Volk sieht. Die Krise und die Wandlung, in der unsere Kirchen stehen, fordern also nicht dazu heraus, mit allen Mitteln die Vergangenheit zu konsolidieren. Strukturveränderungen, so nötig sie sind, größere pastorale Räume, so sehr sie aus der Logik von einer sakramentalen Theologie her erforderlich sind, sind aber nur die Hälfte der Herausforderung. Man könnte sie missverstehen als retrospektive Erhaltungslogik, wenn nicht zugleich ein neuer Blick auf gewohnte Zusammenhänge gerichtet wird. Welche Bedeutung wird in Zukunft das gemeinsame Priestertums der Gläubigen haben und wie kann es intensiver ins Spiel gebracht werden in seinen Gaben, Charismen und Verantwortlichkeiten? Wie kann der Dienst des Priesters und seiner hauptberuflichen Mitarbeiter und Diakone in diesem neuen Kontext beschrieben werden? Wie kann die Eucharistie Mitte und Quelle des kirchlichen Lebens sein – gerade auch angesichts der Herausforderung intensiver Evangelisierungs- und Glaubenswachstumsprozesse? Welche Spiritualität des Volkes Gottes braucht es, damit Kirche wachsen kann? Alle diese Fragen lassen sich natürlich vor dem Hintergrund einer endenden volkskirchlichen Kultur leicht beantworten: Dann sucht man nach mehr Ehrenamtlichen und fördert sie entsprechend, dann entlastet man Priester und Team von Verwaltungsaufgaben, dann zentralisiert man Gottesdienste 46 Vgl. P. Jenkins, Die Zukunft des Christentums, Asslar 2005. 154
4.3 d e n wa n d e l b eg r ü ss e n : di e wü r dig u n g d e r k r i s e
und führt auch den einen oder anderen Glaubenskurs für Erwachsene durch. — Auf die Vision kommt es an —
Alle diese Initiativen, so scheint mir, haben ihren Sinn und ihre Bedeutung je nach dem zugrundeliegenden Bild der kirchlichen Entwicklung. Sie können gelesen werden vor dem Hintergrund eines krisenhaften Unterganges und sind dann nicht viel mehr als hilflose Verteidigungsmaßnahmen zum Erhalt eines zweifellos in der Vergangenheit erfolgreichen Gefüges. Durch „Downsizing“ allerdings geschieht keine Erneuerung – und angesichts der retrospektiven Orientierung werden sich für diesen Weg kaum Zeitgenossen begeistern können. Begeisterung wächst hingegen mit gefüllten Visionen – Bildern des Volkes Gottes im Blick auf die Verheißungen des Evangeliums, des Reiches Gottes, die schon heute wirklich werden. Deswegen kommt es in der Zeit des Wandels und der Wandlung entscheidend darauf an, ob diejenigen, die diese Wandlungsprozesse begleiten, eine eigene inhaltsreiche und begeisternde Vorerfahrung neuer Wege der Kirche haben, die dann auch theologisch durchdacht und in der katholischen Tradition eingegründet sind. Eine solche Vision funktioniert hermeneutisch: Sie erhellt und rückt ins Licht, was vorher nicht gesehen werden konnte. Sie bewirkt eine Umkehr des Blickes und richtet ihre Aufmerksamkeit auf das Handeln Gottes in unserer Zeit. Die Weitung und Schärfung des Blickes sind also dann möglich und für den möglich, der die ankommende Zukunft selbst erfahren hat. Dann aber öffnet sich ihm ein neues Bild. Unsere Kirche tritt dann ein in eine katholische Lernerfahrung. Dier Blick kann entdecken, dass Gottes Handeln an vielen Orten der Weltkirche schon neue Impulse und Gestaltungen erwirkt hat – wir können hier nicht so sehr einzelne Erfahrungen kopieren, wohl aber innerlich aufnehmen, welche Grundperspektiven und Grundansätze sich hier finden, die in unserem Kontext inkulturiert werden wollen. Der Blick weitet sich aber auch, wenn wir „ökumenisch“ schauen: Auch hier zeigt sich nämlich in überraschender Konso155
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
nanz ein Aufbruch, von dem wir lernen können. Geprägt durch solche Erfahrungen ist es dann nicht nur möglich, sondern auch erstaunlich fruchtbar, die vielfältigen Aufbrüche des Kircheseins wahrzunehmen. — Den Wandel begrüßen —
Die Krise, in die eine gewachsene Kirchengestalt und ihr gesamtes Gefüge geraten sind, ist also zu verstehen als Wandlungsprozess. Er ist nicht von uns angestoßen, wir finden uns eher darin. Wir erleiden ihn, weil er uns das Loslassen eines Kirchengefüges zumutet, das uns geprägt und reich beschenkt hat. Es ist aber das sich bis zur Wiederkunft des Herrn ereignende österliche Geheimnis des Samenkorns – das nur dann, wenn es stirbt, reiche Frucht bringt –, an dem wir in der Kirche und auch in der Geschichte dieser Welt Anteil haben. Das Handeln Gottes in unserer Zeit „muss“ das Geheimnis von Tod und Auferstehung in sich tragen. Es gibt also eine Kirche nach dem Karfreitag des sterbenden kirchlichen Gefüges, und es gibt eine Kirche nach dem Karsamstag der Orientierungslosigkeit. Es kommt darauf an, den unerwarteten und ungeahnten Aufbruchsorten nachzuspüren, sie zu entdecken und zu unterscheiden – und jenen Wandel zu begrüßen: Denn er ist die Antwort des Geistes auf die Herausforderungen der Zeichen der Zeit – und er bringt eine neue Gestalt der Kirche hervor, die doch alle konstitutiven Merkmale, ja auch die Wunden ihrer sakramentalen Grundgestalt trägt und so erkennbar Kirche ist.
4.4 Partizipation maximieren Partizipation ist ein Zeichen der Zeit, schon seit einigen Jahren: Der Kampf um Stuttgart 21 – die Bürgerinitiativen um Nachtflüge in Frankfurt und Berlin – das immer höhere bürgerschaftliche Engagement und die deutliche (und vielleicht nicht immer berechtigte) Politikverdrossenheit, die zur Entstehung einer Partei, den Piraten, führte, deren Programm die Partizipation und Kom156
4.4 pa rt i z i pat i o n m a xi m i e r e n
munikation zum Hauptthema macht. Mit Recht: Unsere demokratische Gesellschaft verlangt geradezu nach neuen Formen der Partizipation. Partizipation – das drückt sich auch in den Wünschen und Sehnsüchten der Christen aus: Der Wunsch, wirklich Verantwortung übernehmen zu können und teilzuhaben an Entscheidungsprozessen, zeigt sich allenthalben. Die Wiederentdeckung der Taufwürde führt – meist ohne zielgerichtete diözesane Initiativen – zur Frage, welche Gaben und Charismen zum Aufbau des Leibes Christi eingebracht werden können. Und je mehr Christen aus ihrer Berufung heraus ihr Christsein gestalten, desto wichtiger wird die Frage nach ernsthafter Partizipation. Mit Recht – denn Partizipation ist ein Grundwert des Evangeliums und eine Grundkategorie der Theologie des II. Vatikanums. Dabei geht es um eine genuine Qualität der Nachfolge und der ersten christlichen Gemeinden. — Eine kleine Theologie der Partizipation —
Gerade dort, wo intensiv eine eucharistische Ekklesiologie in den Vordergrund gerückt wird, rückt auch der Gedanke der Partizipation ins Zentrum: Der Leib Christi wächst ja aus der tiefsten Teilgabe am Lebensgeheimnis Gottes, das wir in Brot und Wein feiern dürfen. Das innere Ziel dieser Feier ist die Kommunion, die tiefste Gemeinschaft mit Jesus Christus, die diesen Leib zu einer sozial fassbaren Wirklichkeit werden lässt. Paulus ist zutiefst von dieser Erfahrung geprägt: Wir sind in Christus, in seiner Gegenwart, einer geworden, jenseits aller Unterschiede – wir sind ein Leib geworden, in dem jeder und jede ein Glied mit einer besonderen Aufgabe ist. Im Epheserbrief wird die Tiefe dieser Theologie der Partizipation gerade im Kontext der vielen Dienste und Aufgaben ausdrücklich beschrieben: Es geht darum, „zum vollkommenen Menschen zu werden und Christus in seiner vollkommenen Gestalt darzustellen“. Daran wird deutlich, worum es geht: die Teilhabe am Geheimnis der Christusgegenwart zeugt eine Gemeinschaft – die Kirche –, die ihrerseits „Christus als Gemeinde existierend“ ist (Dietrich Bonhoeffer). Partizipati157
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on reicht aber noch weiter: die eucharistische Dynamik endet ja eben gerade nicht in der Sammlung einer Gemeinschaft, sondern diese Gemeinschaft ist gesandt, teilzuhaben am Leben der Gesellschaft und ihr an dem Leben Gottes teilzugeben, damit die ganze Welt Erlösung erfahren kann. Es ist genau diese Grundperspektive, die sich im II. Vatikanischen Konzil als roter Faden der Konstitutionen zeigt. Gerade die Liturgiekonstitution macht ja den Begriff der Participatio zum theologischen Leitbegriff: Weil Christus in seinem Paschageheimnis die Menschheit erlöst hat und ihr so am Leben des dreieinigen Gottes teilgibt, feiert die Kirche diese Teilgabe in der Liturgie, in Opfer und Sakrament. „So werden die Menschen durch die Taufe in das Pascha-Mysterium Christi eingefügt. Mit Christus gestorben, werden sie mit ihm begraben und mit ihm auferweckt. Sie empfangen den Geist der Kindschaft, ‚in dem wir Abba, Vater rufen‘ (Röm 8,15) ... Ebenso verkünden sie, sooft sie das Herrenmahl genießen, den Tod des Herrn, bis er wiederkommt“ (Sacro sanctum Concilium 6). Es reicht dem Konzil nicht, dass sich dieses Geschehen recte rite ereignet – es soll das „Vollmaß der Verwirklichung“ erreicht werden – und diese Verwirklichung geschieht durch die bewusste, tätige „participatio actuosa“. Was die Liturgiekonstitution anstößt, wird in der Kirchenkonstitution in allen Teilen weiterentwickelt: Die Kirche ist das Geheimnis der Teilgabe des trinitarischen Lebens (Lumen gentium 4), und als solche „Zeichen und Werkzeug“ eben jener Einheit zwischen Gott und den Menschen und den Menschen untereinander (LG 1). Auch hier begnügt sich das Konzil eben nicht mit der objektiven Beschreibung der Teilgabe – das Verständnis des Konzils zielt auf eine existenzielle Dimension dieser Teilhabe im Leben der Kirche. Das Leben der Kirche orientiert sich an einer „Spiritualität der Gemeinschaft“, die Johannes Paul II. zur Glaubwürdigkeit eines trinitarischen Communio-Verständnisses der Kirche einfordert. Wenn daher auch die Offenbarungskonstitution von der Teilgabe des göttlichen Lebens spricht, die auf die Antwort des Menschen zielt47, und wenn die Konstitution „Gaudium 47 Dieses Offenbarungsverständnis, das sich in der Antwort des Menschen 158
4.4 pa rt i z i pat i o n m a xi m i e r e n
et spes“ diesen Prozess der Partizipation zur Mitte des Weltverhältnisses der Christen macht – und auch hier die Gegenseitigkeit beschreibt (GS 44) –, dann wird deutlich, dass es tatsächlich eine Grundkategorie zum Verstehen des christlichen Lebens ist. — Ein Kairós der Rezeption —
„Wir wollen nicht nur Partizipation, wir wollen ein Maximum an Partizipation“, das ist die Linie jener Kirchenentwicklung, die wir in den Philippinen kennengelernt haben. Warum reicht es nicht, einfach von Partizipation zu reden? Sie könnte verwechselt werden mit demokratischer Teilhabe, mit Ratgeben und Ratnehmen – und wäre dann ähnlich verstanden wie in einer ersten Phase der Konzilsrezeption, als viele Mitsprachegremien gebildet wurden. Aber es geht um mehr. Partizipation ermöglichen, das heißt, die Taufwürde aller Getauften in den Blick zu nehmen, den sonst Sprachlosen das Wort zu geben, ihnen zu ermöglichen, ihre Visionen ins Spiel zu bringen. Partizipation maximieren heißt dann, eine Kirchenentwicklung voranzubringen, die alle Getauften zu Verantwortlichen des kirchlichen Handelns macht. Auch wenn dies natürlich immer nur eine Annäherung an die Vollendung der Geschichte sein wird, so drückt sich hier ein Wachstumsprozess in einem neuen Paradigma des Kircheseins aus. Das verlangt eine echte Umkehr: Getaufte sind eben nicht Mitarbeiter des Pfarrers oder auch anderer Leitungsverantwortlicher in der Kirche – sie sind als Volk Gottes mitverantwortlich Handelnde beim Aufbau der Kirche. Die Zeichen der Zeit sprechen eine deutliche Sprache: Kirche wird sich dann weiterentwickeln, wenn sie – auch lernend von der sie umgebenden Gesellschaft – ihre eigene Theologie auch praktisch versteht und umsetzt. Noch gelingt das nur in Anfängen. Denn natürlich haben wir eine Kultur der Ehrenamtlichkeit entwickelt, aber bis in die Voin der Geschichte erfüllt, steht am Anfang der Habilitationsschrift von Benedikt XVI. (Jetzt vollständig in Josef Ratzinger, Gesammelte Schriften Bd. 2, Freiburg 2009). Vgl. hierzu K. Koch, Benedikt XVI. und Bonaventura, in Ders., Das Geheimnis des Senfkorns, Regensburg 2010, 45–68. 159
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
kabeln hinein kann das Ehrenamt leicht missverstanden werden auf der Folie eines Kirchenbildes, das „von oben nach unten“ Kompetenzen verteilt. Dass sich so Ehrenamtliche als Ersatz und geringerwertig erfahren, ist dann nicht verwunderlich. Natürlich sprechen wir von Charismen und Gaben, handeln in den Pfarreien aber weiterhin nach zu besetzenden Aufgabenfeldern: Im Hintergrund steht dann eben noch die gemeindekirchliche Konstellation mit einem scheinbar festgefügten Ensemble von Aufgaben, die nolens volens zu besetzen sind. Je weniger Hauptberufliche und Pfarrer zur Verfügung stehen, desto mehr müssen die Ehrenamtlichen ran: was für eine Demütigung. — Wann es gelingen kann ... —
In den Kontinenten, in denen eine lokale Kirchenentwicklung unter dem Stichwort der Kirchlichen Basisgemeinschaften stattfinden konnte, wurde schnell deutlich, dass maximale Partizipation ein Neuverständnis des priesterlichen Leitungsdienstes braucht. Und hier liegt wahrscheinlich einer der entscheidenden Gründe dafür, dass uns diese umwälzende Betonung der Partizipation schwerfällt. Denn solange mit einem solchen Verständnis der maximalen Teilnahme die Sorge verbunden ist, dass dies auf Kosten des sakramentalen Dienstamtes gehen kann, dass also gewissermaßen ein solches Partizipationsverständnis die Integrität und die originären Kompetenzen des amtlichen Dienstes in Frage stellt, werden sich Verantwortliche nicht zu einem solchen Schritt entscheiden können. Sie hätten recht, wenn es so wäre: Dann würde nämlich die konziliare Erkenntnis nicht ernst genommen, die in LG 10 formuliert wird: „Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich zwar dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach. Dennoch sind sie einander zugeordnet: Das eine wie das andere nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil.“ Sie wird nicht ernst genommen, wenn Priester Aufgaben erfüllen, die dem gemeinsamen Priestertum der Gläubigen zukom160
4.5 v e r w u r z e l n : di e k r a f t d e s e va n g e l i um s u n d s e i n e g e sta lt
men – und sie wird nicht ernst genommen, wenn Laien Aufgaben übernehmen sollen, die dem Priester zugeordnet sind. Beide Male ginge es dann letztlich um Macht, und um die Aufteilung einer gemeinsamen Aufgabenmasse. Dann wären Laien bestenfalls Mitarbeiter des Klerus. Genau anders sieht es das Konzil. Und deswegen braucht es eine akkurate theologische Reflexion über den Kern des priesterlichen Amtes und die damit verknüpften verschiedenen Aufgaben. Damit wäre ein erster Schritt getan – zugleich aber bräuchte es eine tiefergehende Ausbildung der Seminaristen und eine Fortbildung der Priester, die diese Erkenntnisse mit einer Vision verknüpft, die erlebbar und erfahrbar ist.
4.5 Verwurzeln: Die Kraft des Evangeliums und seine Gestalt Die Sorge ist spürbar: Es wird uns gelingen, neue Strukturen zu schaffen; es wird uns gelingen, die Verantwortung auf viele Schultern zu legen – aber wird es uns gelingen, dass der Prozess der Verwandlung und Erneuerung wirklich ein Prozess geistlichen Wachsens ist? Diese Sorge ist bei den Verantwortlichen zu spüren – aber zugleich stellt sich die Frage, wie dies gelingen kann. Auf der anderen Seite wird immer deutlicher, dass Christen an den verschiedenen Orten des Kircheseins sehr auf der Suche sind: nach nährender Liturgie, nach einem eigenen Zugang zur Schrift, nach einer Theologie, die mehr als akademische Reflexion, vor allem eine Reflexion gemeinsam gelebter Glaubenserfahrung und ihrer Verknüpfung mit der großen Tradition der Kirche ist, und nach Formen der Zugehörigkeit, in denen ein geistliches Zuhause spürbar wird: Kirche will werden, aus der Wurzel des Evangeliums.48
48 Vgl. dazu die beeindruckenden Reflexionen von P. Bacq, J. Donegani und C. Theobald in R. Feiter/H. Müller, Frei geben, Ostfildern 2012, 31–138. 161
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
— Heute das Evangelium frei geben —
Je mehr wir das Bibelteilen und andere Formen wie die US-amerikanischen Formen der „question of the week“ kennenlernten, desto deutlicher wurde, dass es hier nicht um Formen der Bibelarbeit geht, nicht um Formen spiritueller Exegese, auch nicht um Wege kontemplativer Spiritualität, wie sie etwa in der lectio divina vorgestellt werden, sondern dass es vor allem um Formen des Umgangs mit der Schrift geht, die das gemeinsame Priestertum der Gläubigen ins Spiel bringen. Immer mehr stellt sich nämlich die Frage, wie eine echte „Volksfrömmigkeit“, die aus der Schrift schöpft, Menschen an den Orten, an denen sie leben, Kraft und Nahrung für ihren Weg als Christen geben kann. Damit das geschehen kann, braucht es die Entwicklung einer spirituellen Alltagskultur, die aus dem Evangelium schöpft – und zwar nicht nur für jene, die gesteigertes spirituelles Interesse haben, sondern als – wie Bischof Norbert Trelle es ausdrückt – „Grundform“ einer gemeindlichen Spiritualität. Einen solchen Prozess auf den Weg zu bringen, das wird allerdings nur gelingen, wenn die zugrunde liegende Vision geteilt wird: Es geht tatsächlich darum, den Gläubigen den Tisch des Wortes reicher zu decken, wie es das Konzil in Dei Verbum ausdrückt. In der Nachkonzilszeit ist dies geschehen: Drei Lesungen in der Sonntagsliturgie wurden eingeführt, ungezählte Bibelkurse fanden statt – viele Bibelgruppen haben sich gebildet. Aber es blieb und bleibt ein Unbehagen bei vielen Experten und Priestern: Kann man den Gläubigen das Evangelium in die Hand geben? Welches Risiko falscher Bibelauslegung entsteht dann? Natürlich lässt sich diese Frage klären, im Blick auf die verschiedenen „loci theologici“ und ihre unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Kompetenzen – aber entscheidend ist auch hier zunächst die Tatsache: Nur wer selbst die Tiefe und Weite eines existenziellen Umgangs mit dem Wort Gottes erfahren hat – und seine gesellschaftliche und kirchenbildende Dimension, der kann selbst in eine solche Praxis einführen und sie begleiten. 162
4.5 v e r w u r z e l n : di e k r a f t d e s e va n g e l i um s u n d s e i n e g e sta lt
Da stimmt es doch sehr nachdenklich, dass die spirituelle Bildung in vielen Priesterseminaren genau dies nicht ermöglicht. Eine gemeinschaftliche Bibellektüre, ein echter Austausch der eigenen Glaubenserfahrungen, eine Prägung durch einen existenziellen Umgang mit der Schrift – wo geschieht das wirklich? Ich finde das fatal, denn diese fehlende Mystagogie in das Leben der Schrift erschwert auch, dass das Evangelium wirklich in den Pfarreien seinen Raum einnehmen kann. Ich erinnere mich daran, dass ich als Jugendlicher erstaunt und verwundert in den siebziger Jahren „Das Evangelium der Bauern von Solentiname“ las49, das so einen völlig unwissenschaftlichen und lebensrelevanten Zugang zum Evangelium (aus wohl eher marxistisch-befreiungstheologischer Perspektive) bot. Was mich damals verwirrte, habe ich dann selbst neu verstehen dürfen, als ich das Bibelteilen kennenlernte. Der Gewinn einer solchen verantworteten und begleiteten Frei-Gabe des Evangeliums ist dann nämlich tatsächlich, dass das Evangelium eben jene Nahrung für das Volk Gottes wird, die es braucht, damit die Taufwürde wachsen kann. Es ist jene „Evangelisierung“, die gerade heute einen Weg des Christwerdens und des Wachsens eröffnet. — Das offenbarte Geheimnis: Christus ist unter euch —
Paulus formuliert: „Ich diene der Kirche durch das Amt, das Gott mir übertragen hat, damit ich euch das Wort Gottes in seiner Fülle verkündige, jenes Geheimnis, das seit ewigen Zeiten und Generationen verborgen war. Jetzt wurde es seinen Heiligen offenbart; Gott wollte ihnen zeigen, wie reich und herrlich dieses Geheimnis unter den Völkern ist: Christus ist unter euch, er ist die Hoffnung auf Herrlichkeit“ (Kol 1,25–27). Dieses Hören des Evangeliums, das Teilen des Evangeliums in der Gemeinschaft der Getauften, der Austausch der Erfahrungen und zugleich die daraus entspringende Sendung sind ein Selbst49 E. Cardenal, Das Evangelium der Bauern von Solentiname, Gütersloh 1977. 163
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
vollzug des Kircheseins. Und diese Erfahrung wächst, wird „gezeugt“ durch die Erfahrung jenes Geheimnisses, von dem Paulus spricht. Es ist genau diese Wirklichkeit der Gegenwart des Auferstandenen, die die Perspektive gerade dieser Spiritualität des Wortes umdreht: Es wird noch einmal deutlich, dass es hier eigentlich um die Vergegenwärtigung der Emmauserfahrung geht, um die überwältigende Erfahrung der Gegenwart Christi unter den Menschen, der dann selbst der „Ausleger“ der Schrift ist, sie zur Kirche macht und sendet. Es ist diese Erfahrung, die im Zentrum und an der Wurzel des Evangelisierungsprozesses und der Kirchenentwicklung stehen will und muss. An dieser Stelle ist aber innezuhalten: Kirche – und auch die Gemeinschaft um das Wort – als den Ort der Erfahrung des auferstandenen Herrn wahrzunehmen, die Gegenwart des Auferstandenen als Wurzel und Mitte allen kirchlichen Tuns erfahrbar zu entdecken, das ist eine für unsere Kirche nicht selbstverständliche Erfahrung. Natürlich wissen wir um die reale sakramentale Gegenwart in der Eucharistie und in den anderen Sakramenten – aber sind wir uns bewusst, dass der auferstandene Herr wirklich unter uns lebt, agiert, uns prägen will? Dass es die Erfahrung der Auferstehung und der Gegenwart des Auferstandenen ist, die kirchliches Leben kennzeichnet – und den Unterschied markiert zu anderen Gemeinschaftserfahrungen? Zuweilen mag man den Eindruck gewinnen, dass diese Erfahrung zu den großen unbekannten Geheimnissen der Kirche gehört: Es ist jene Wirklichkeit, die eben jene Gemeinschaft des Glaubens überhaupt erst möglich macht, jene Atmosphäre, die lebensspendend ist – jene überzeugende Erfahrung der Kirchwerdung, die sich auswirkt in einer wirklich geschwisterlichen Weise des Miteinander, in einer Spiritualität in Gemeinschaft. — Kirche wird aus dem geteilten Wort —
Von dieser Wurzelerfahrung der Gegenwart Christi her erschließt sich jener Umgang mit der Schrift, der kirchenbildend und prägend für das Leben der Christen ist. Hier vollzieht sich Tag für Tag das eucharistische Geheimnis im Leben der Christen: Wir 164
4.5 v e r w u r z e l n : di e k r a f t d e s e va n g e l i um s u n d s e i n e g e sta lt
werden, was wir empfangen haben, je neu im Hören auf das Wort, und leben diese Wirklichkeit an den vielen Orten unseres Lebens. Eine solche Verwurzelung der Kirchenentwicklung setzt dann aber vor allem auf die Nähe. Das ist gar nicht mal nur lokal gemeint (im Hintergrund steht nicht unbedingt das Paradigma der Gemeinde), sondern vor allem beziehungsorientiert. In den alltäglichen Beziehungen im Lebensraum, im Sozialraum wächst Kirche als Erfahrung des Auferstandenen, als Vorerfahrung des Reiches Gottes, das „nah“ ist. Damit wird auch deutlich, dass eine solche geistliche Kirchenbildung wie von selbst in verschiedenste Formen örtlicher Gemeindebildung führt, zu Lebenszellen des Glaubens, deren Kraft das Evangelium ist. Eine solche Verwurzelung im Geheimnis der Christusgegenwart ist in der Tat die Grundform der Spiritualität, aber noch mehr: die Grundform des Kircheseins schlechthin, die sich einerseits ausstreckt nach der Tiefe der eucharistischen Mitfeier, und andererseits sich öffnet in die Sendung in die Welt. Nicht eine spirituelle Gruppe, sondern das Kirchesein in seinen verschiedenen Vollzügen und Diensten ist angestrebt. Und während das Teilen des Evangeliums in Gemeinschaft eine Erfahrung des Leibes Christi wird, in der sich Charismen, Gaben und Dienste sehr unterschiedlich profilieren, führt auf der anderen Seite das in Gemeinschaft gelebte Evangelium in eine Offenheit und Teilhabe an den Herausforderungen, Nöten und Lebensaufgaben dieser Zeit am konkreten Ort. Dieses „Sich-Geben“ führt ja eben nicht aus dem Wort heraus, sondern es ist umgekehrt das Wort, das in der Gemeinschaft der Glaubenden sich erschließt und die konkrete Sendung ermöglicht: Nächstenliebe, Dienst an der Gesellschaft, Nähe und Zuwendung zu den Armen, das Miteinander gelebter Solidarität in den Anliegen vor Ort – das ist nicht weniger „spirituell“ als das Teilen des Evangeliums selbst, sondern dessen integraler Vollzug – das Wort will „Fleisch“ werden unter uns. So eröffnet eine solche Verwurzelung eben gerade eine große Weite für die „Männer und Frauen der Seligpreisungen“, wie sie P. Bacq benennt: Der Dienst am Anderen wird zur gemeinsamen Frucht des gelebten Evangeliums und ist umgekehrt Zugangs165
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
möglichkeit für viele, das Evangelium als frohe Botschaft auch für sie wahrzunehmen – und so ihren persönlichen Zugang Schritt für Schritt zu finden.
4.6 Nähe ermöglichen: Von der Gegenwart des Reiches Gottes Neighbourhood? Nachbarschaft? Nächstenschaft? – Immer wieder haben wir in den Anfangsjahren unseres Weges darüber gebrütet: Was meint das genau? Mit großem Selbstverständnis hatte Fritz Lobinger uns dazu eingeladen, „so naiv zu sein und in der Nachbarschaft anzufangen ...“ Und als wir Jahre später einen Workshop mit Wendy Louis aus Singapur erlebten, wurde uns schnell klar: Nachbarschaft ist konstitutiv für diesen Pastoralansatz. Kleine Christliche Gemeinschaften setzen auf Beziehungsorientierung und auf Partizipation – die Bildung örtlicher Gemeinden, die sich als Kirche am Ort verstehen, setzt Lebensraumorientierung voraus. Geschieht dies nicht, dann werden aus Kleinen Gemeinschaften Selbsthilfegruppen, dann geht es nicht um lokale Kirchenentwicklung, sondern um spirituelle Gruppen. Aber was bedeutet „Nachbarschaft“ in unserem Kontext? Ist nicht angesichts der intensiven Mobilität dieses Thema für die Kirchenbildung verbrannt? Ist Kirchenbildung vor Ort denkbar? Zu unserer Überraschung gibt es deutliche Anzeichen, dass auch in unserer mobilen und globalen Gesellschaft seit längerem eine Gegenbewegung im Gang ist: Die Erfahrungen des Community-organizing50, aber vor allem auch die unübersehbar intensive Entwicklung lokaler Sozialinitiativen, die Klaus Dörner beschreibt51, wie auch die immer stärkere Ausrichtung Gemeinwesenarbeit z. B. des Caritasverbandes sprechen eine deutliche Sprache. Menschen engagieren sich gerne vor Ort, wählen den Raum ihrer höchsten Beziehungsdichte für ihr Engagement – 50 Vgl. Leo Penta (Hrsg.), Community Organizing. Menschen verändern ihre Stadt, Hamburg 2007. 51 Vgl. K. Dörner, Kirche im Sozialraum, in C. Hennecke/M. SamsonOhlendorff (Hrsg.), Die Rückkehr der Verantwortung, Würzburg 2011, 23–36. 166
4.6 n ä h e e r mö g l i c h e n : vo n d e r g eg e n wa rt d e s r e i c h e s g ot t e s
und wenn die Daten stimmen: Die Zahl derer, die sich bürgergesellschaftlich engagieren, wächst stetig an ... Somit ist die Nachbarschaft, verstanden als Lebens- und Beziehungsraum, als Stadtteil, Dorf oder Lebensraum, in dem ich „zu Hause“ bin, ein „Zeichen der Zeit“: Nirgendwo wie hier verwirklicht sich auch der Wunsch nach Partizipation, nach Mitwirkung und Entscheidungsbeteiligung. Man könnte paradox formulieren, dass gerade auch dort, wo die Welt mobiler und globaler wird, der Wunsch nach lokaler Beheimatung und Zugehörigkeit wächst – und auch die Bereitschaft, sich dort zu engagieren, wo das Leben für mich, meine Familie, meine Mitmenschen relevant wird. — Proximité —
Doch das Thema der Nähe und der Nachbarschaft ist mit dieser soziologischen Zeitdiagnose nicht abgeschlossen. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass Menschen sich in ihrem Heimatraum engagieren – und so wird die Frage nach Kleinen Christlichen Gemeinschaften als Kirche in der Nachbarschaft wieder neu relevant. Die Frage nach der Örtlichkeit der Kirchenentwicklung ist aber auch theologisch noch tiefer zu erforschen. Schon bei unserem ersten Besuch im Bistum Poitiers fiel der Begriff der „proximité“, der „Nähe“ immer neu. Der Ausgangspunkt für die Entwicklung örtlicher Gemeinden im Bistum Poitiers war ja die Anfrage örtlicher Bürgermeister und Repräsentanten, und vor allem auch der ganz „einfachen“ Menschen, die dem Bischof bei seinen Fahrten durchs Bistum diese Frage gestellt haben: „Was wird denn jetzt aus uns, Herr Bischof ?“, wenn neben den Institutionen und Geschäften auch noch die Kirche den Ort verlasse. Dieser äußere Anruf war der Anlass für eine theologische Reflexion. Nähe ist ein Hauptwort des Evangeliums: „Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist nah – Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium“ (Mk1,14). Die Nähe des Reiches Gottes ereignet sich in den Begegnungen Jesu, bei seinen Heilungen, in seiner Verkündigung. Und diese Nähe des Reiches Gottes wird ansichtig und konkret in ihm, in seiner Gegenwart. Die Nähe des Reiches zu 167
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bezeugen, Zeichen und Werkzeug der Gegenwart Christi zu sein – das ist deswegen die Aufgabe der Kirche. Reich Gottes ereignet sich dann also in den konkreten Beziehungsräumen, an den Orten gelebten Lebens. Kirchenentwicklung muss also in der Treue zum Evangelium solche Örtlichkeit entwickeln, die das Reich Gottes nahe sein lässt. Dabei wird zum einen deutlich, dass eine solche Kirchenentwicklung nicht zuerst Strukturentwicklung ist – es geht um die Entwicklung des Bewusstseins aller Getauften, dass sie dort, wo sie sind, Kirche in dieser Bezeugungsqualität sein können: Es ist die „proximité“, die Nähe des Evangeliums zum Menschen, die sich hier konkretisiert. Und zugleich kann „proximité“ nicht nur lokal und ortsgemeindlich gesehen werden: Es sind die Beziehungen und die konkrete Sendung, die mit dem Wert der „Nähe“ ausgesprochen sind. Deswegen spielen Verbände, apostolische Bewegungen und auch Einrichtungen von Caritas und Bildung hier eine wichtige Rolle. Doch auch hier geht es nicht zuerst um die Strukturen und Organisationen, sondern darum, dass die Handelnden die konkrete Sendung und Aufgabe, die hier in den Blick genommen werden soll, eben jene „Nähe des Reiches Gottes“, ansichtig und erfahrbar machen. — Die Logik der Kirchenentwicklung —
Nähe, Nachbarschaft gehören zu den konstitutiven Elementen der Kirchenentwicklung. Das wird noch deutlicher, wenn man sich die Entwicklung der frühen christlichen Gemeinden ins Gedächtnis ruft. Sie sind als „Hauskirchen“ entstanden: als ein dichtes Beziehungsgefüge, das den nahen Lebensraum prägte. Denn die Hauskirchen umfassten eben nicht nur die Familien, sondern auch alle, die zum jeweiligen Haushalt gehörten. Die ersten Gemeinden bildeten sich somit aus allen Klassen und Bevölkerungsschichten und bezeugten auf ihre Weise die neue Welt des Evangeliums. Die konkrete Nächstenliebe, das konkrete Engagement zeigte sich auch hier örtlich. Denn in dieser lokalen Konkretion wird das Reich Gottes sichtbar. Es ist nicht eine Frage der Menge an Personen, sondern eine Frage an die Zeugnisqualität: „Dar168
4.6 n ä h e e r mö g l i c h e n : vo n d e r g eg e n wa rt d e s r e i c h e s g ot t e s
an werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr einander liebt“, erinnert Jesus im Johannesevangelium. Und der Evangelist Matthäus fasst die jesuanische Gemeinderegel in dem Satz: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18, 20). Kirchenentwicklung braucht also diese Dimension. Sie ist nicht nur örtlich, aber sie ist immer beziehungsorientiert und perspektivisch auf die Sendung ausgerichtet: Es geht darum, die Nähe des Reiches Gottes in einer beziehungsvollen Lebenswirklichkeit zu bezeugen. Wie kann eine solche Logik ermöglicht werden? Die Strukturdebatte in unserer Kirche ist nicht ihre Zukunftsdebatte. So sehr es notwendig ist, angesichts der geringer werdenden Zahl an Priestern und vielleicht auch aus finanziellen und demographischen Gründen größere pastorale Räume zu errichten, so muss doch dann die Frage gestellt werden, welchem Ziel die sakramentale Grundstruktur der Kirche dient: Es geht hier doch zunächst darum, dass die Christgläubigen in ihrem Christsein und in ihrem Bewusstsein des gemeinsamen Priesterseins gestärkt werden, damit sie die Nähe Gottes für die Menschen leben und bezeugen können. Die Bildung kirchlicher Sozialformen dient dieser Zeugenschaft: Örtliche Gemeinden, Kleine Christliche Gemeinschaften, katholische Einrichtungen, Orden, Verbände und auch neue Gemeindegründungen können sich so als „Kirche der Nähe“ und „Kirche in der Nähe“ entwickeln. — Lokale Kirchenentwicklung als Ermöglichung der Nähe —
So stellen die Prozesse lokaler Kirchenentwicklung, die an vielen Orten initiiert werden, hohe Ansprüche an die Entwicklung neuer und bewährter Sozialformen: Es geht eben nicht darum, Gemeinden einfach zu erhalten oder das Profil der Einrichtungen zu schärfen, sondern darum, Kirche neu zu verstehen. Damit verknüpft ist eine intensive Begleitung der Christen vor Ort, die ihnen die spirituelle und theologische Perspektive ihrer örtlichen Wirklichkeit des Kircheseins erschließen soll. Und zugleich braucht es die Begleitung der Priester und ihrer Teams: sie sind 169
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
dazu gerufen, in ihrem Dienst der Leitung jene Räume der Nähe zu ermöglichen und die Christen vor Ort zu befähigen, dieses Zeugnis der Nähe des Reiches Gottes in ihrem spezifischen Kontext zu leben.
4.7 Über sich hinauswachsen: Kirche in und von ihrer Sendung neu verstehen Es geht nicht um die Sozialform, es geht um das Zeugnis für das Reich Gottes und seine Nähe. Deswegen sammelt Gott sein Volk, damit es in der Gegenwart des Auferstandenen „Zeichen und Werkzeug“ sein kann und das Licht des Auferstandenen alles erhellen kann (GS 11). — Diakonische Ohnmacht? —
Und genau an dieser Stelle wird den Gemeinden vor Ort häufig eine „diakonische Ohnmacht“ unterstellt: Hier geht es doch nur um die bloße Sammlung, die Kirchengemeinden wirken in der Regel hermetisch, ihnen mangelt es an Sensibilität für ihr soziales Umfeld, langsames Aussterben scheint die logische Konsequenz. Die Dramatik und die Härte dieser Beurteilungen beeindrucken – und stimmt so nicht. Nicht nur in Köln-Vingst52, an vielen Orten entwickeln sich Initiativen im Ausgang der Pfarrei, wird das Mitwirken im Stadtteil, das Leben für die Stadt oder das Dorf in neuer Weise bedeutsam. Und dort, wo dies geschieht, wächst Kirche vor Ort, gerade dann, wenn der Sozialraum deutlich wahrgenommen wird und zum Ausgangspunkt lokaler Kirchenentwicklung wird. Und es sind gerade die Verbände, die in beeindruckender Weise auf gesellschaftlicher und politischer Ebene – wie berichtet – aus einer klaren Sendungsperspektive heraus agieren. Was verhindert einen positiven Blick auf diese Entwicklung? 52 Vgl. hierzu F. Meurer, Ort Macht Heil, Münster 2007, und Ders./P. Otten, Wenn nicht hier, wo sonst. Kirche gründlich anders, Gütersloh 2011. 170
4.7 ü b e r s i c h h i n au swac h s e n : K i rc h e n e u v e r st e h e n
— Ist die Caritas Kirche? —
Die Problematik dieser Wahrnehmungen gilt auch umgekehrt: Von außen werden die Caritas und ihr Engagement hoch geschätzt; sie hat eine hohe Glaubwürdigkeit erworben – und steht doch innerkirchlich unter einem kritischen Vorbehalt: Ist Caritas eigentlich Kirche? Ist sie eingegründet in das Evangelium und in eine wirkliche Spiritualität? Welche Rolle spielt sie im Kontext der Gesamtentwicklung der Kirche? Ich erinnere mich an einen Studientag in Köln im Oktober 2011 zum Thema Kirche und Caritas. Im Hören der Referate und im Austausch der Erfahrungen wird vor allem eines deutlich: Die Caritas ist „ein starkes Stück Kirche“, sie lebt die Sendung der Kirche in außergewöhnlich professioneller Weise – und ist in den vergangenen Jahren sehr intensiv auf der Suche nach ihrem spirituellen Profil. Und trotzdem: Auch auf diesem Studientag wird am Ende von einem „Wir“ und einem „Ihr“ gesprochen: Es gebe die Sprache der Pastoral und die Sprache der Caritas – und die müssten noch zueinander finden. Nach meinen Erfahrungen sind es auch gerade die von der Caritas getragenen oder unterstützten kirchengemeindlichen Kindergärten, die in den letzten Jahren durch eine intensive Suche nach ihrem eigenen kirchlichen Profil als Orte gelebter Kirchlichkeit überzeugen können. Und hinzuzufügen sind die beeindruckenden Erfahrungen der Altenheimseelsorge, der Klinikseelsorge, katholischer Familienbildungsstätten, der Schulen und anderer Einrichtungen: die Aufmerksamkeit für „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen, besonders der Armen und Bedrängten jedweder Art“ (Gaudium et spes) belegt die milieusensible sozialräumliche Aufmerksamkeit dieser kirchlichen Wirklichkeiten. Warum wird hier so kritisch gefragt? Das wirft umgekehrt Fragen auf: Welches Verständnis von evangeliumsgemäßer Spiritualität haben wir? Könnte es sein, dass das Evangelium auf religiöse Vollzüge reduziert wird? Hat nicht gerade auch das Hören der Schrift wesentlich mit dem Handeln zu tun – und gilt nicht sogar umgekehrt, dass das Handeln Ausweis einer Spiritualität des 171
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Evangeliums ist? Wenn Spiritualität nicht einfach nur spirituell, sondern ganzheitlich gesehen wird, dann wird hier eine neue Perspektive auf das Thema Spiritualität notwendig. — Liturgie für Suchende —
Ob man von Ritendiakonie sprechen soll – da bin ich mir nicht sicher. Aber eine Entwicklung der vergangenen Jahre ist einfach nicht zu übersehen: Wenn einerseits die jährlichen Zählungen der Gottesdienstbesucher angesichts der veränderten Glaubenssituation nur einen Teil der kirchlichen Entwicklung reflektieren und durch die Zahlen deutlich wird, dass wir nicht mehr eine volkskirchlich gewachsene Milieukirche haben und haben werden, in der durch eine gelungene religiöse Erziehung Christen heranwachsen, die einen inneren Zugang zum eucharistischen Geheimnis haben, dann gilt andererseits: Immer mehr Gottesdienste werden mit Menschen gefeiert, die nicht regelmäßig Liturgie feiern oder auch noch nie gefeiert haben – die aber ungeheuer offen sind für Liturgien, die einen ersten Zugang eröffnen. Beispiele ließen sich beliebig vervielfältigen: Ein- und Ausschulungsgottesdienste, die Feiern im Kontext von Heiligenfesten (St. Martin, Valentin), Gottesdienste bei Stadtfesten und ähnlichen Gelegenheiten (in Hildesheim z. B. beim Jazzfestival, das alljährlich stattfindet), aber auch die Krippenfeiern zu Weihnachten, zeichnen sich aus durch hohe Akzeptanz und Zustimmung der Teilnehmer: Was suchen die Menschen, die hierher gerne kommen? Immer mehr Gottesdienste bei Kasualien finden eine hohe Zuhörbereitschaft: Beerdigungen, Kommunionfeiern, Hochzeiten – aber eben auch Gottesdienste an ungewohnten Orten. Die Ansprechbarkeit nimmt nicht ab, sondern zu. Wie ist sie zu deuten? — Eine neue Konfiguration der Kirche? —
„In der heiligen Liturgie erschöpft sich nicht das ganze Tun der Kirche; denn ehe die Menschen zur Liturgie hintreten können, müssen sie zu Glauben und Bekehrung gerufen werden ... Darum 172
4.7 ü b e r s i c h h i n au swac h s e n : K i rc h e n e u v e r st e h e n
verkündet die Kirche denen, die nicht glauben, die Botschaft des Heils, damit alle Menschen Gott erkennen, und den, den er gesandt hat, Jesus Christus ...“ (Sacrosanctum Concilium 9) Das Konzil legt hier – und an anderen Orten (z. B. Lumen Gentium, Ad gentes, Gaudium et spes) – eine Spur, die wir hier aufgreifen können, und die im Kontext steht mit der grundsätzlichen Veränderung der religiösen Situation, die sich soziologisch wie theologisch greifen lässt: Man kann – wie Benedikt XVI. – davon sprechen, dass die meisten Getauften sich im Status des Katechumenats befinden, man kann mit der Religionssoziologin Danielle Hervieu-Leger von „Pilgern und Konvertiten“ sprechen53 – immer zeigt sich eine neue Vieldimensionalität des christlichen Glaubens, die sich auch und gerade auf das Verständnis des Kircheseins auswirkt. Nimmt man ernst, dass aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen eine persönliche Glaubensentwicklung und eine Loslösung aus Milieus, und eben auch aus kirchlichen Milieus möglich und wirklich geworden sind, dann dürfen wir auch wahrnehmen, dass die Christen sich „wie von selbst“ neu geordnet haben, entsprechend ihren inneren Glaubenswegen und dem Wunsch nach Zugehörigkeit, der sich in ihnen zeigt. Man braucht diese Neukonfiguration nicht als Werk des Heiligen Geistes zu bezeichnen, aber es entwickelt sich eine neue Gestalt der „Kirche“, die nicht nur in vielen unterschiedlichen Gestalten zum Tragen kommt. Es geht nicht nur um eine „Verbuntung“ (Paul Zulehner) und Vervielfältigung des Christlichen, es geht auch um eine neue Dimension, die in Zeiten des Milieuchristentums so nicht existierte. Während seinerzeit eigentlich alle in dem Rahmen einer milieuchristlichen „Pfarre“ waren, ob sie wollten oder nicht, und als „ausgewachsene Christen“ galten, wenn sie erwachsen waren – so ist heute zu beachten, dass junge wie alte Menschen sich jenen Orten und Erfahrungsräumen zuordnen, die ihrem persönlichen Glaubenswachstum entsprechen. Im Ergebnis haben wir damit heute schon eine tendenziell „vorkatechumenale oder katechumenale Kirchengestalt“, die ge53 D. Hervieu-Leger, Pilger und Konvertiten, Würzburg 2005. 173
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tragen wird von einem kleinen Kern Christgläubiger, die weiter hineingewachsen sind in das Christusgeheimnis und für die so das Geheimnis der Eucharistie auch ausdrücklich „Quelle und Höhepunkt“ geworden ist. Damit wird auch deutlich, warum die genannten Herausforderungen uns vor eine Revision, vor eine Reform der gewohnten Koordinaten unter den Bedingungen postmoderner Gesellschaften stellen. — Das kirchliche Koordinatensystem neu gewichten und bewerten lernen —
Das ist eine große Herausforderung. Aber sie ist nicht aussichtslos – und wir werden nicht umhinkommen, uns ihr zu stellen: Im Blick auf die beschriebenen Erfahrungen und Dilemmata zeigt sich, dass der geistgewirkte Umbruch in vollem Gange ist. Was aussteht, ist eine tiefere Reflexion dieser neuen Wirklichkeit. Einige erste Pflöcke können eingeschlagen werden, stellen aber eher eine Agenda zum Weiterdenken dar: In der Tat findet zur Zeit eine – durch die Strukturmaßnahmen beschleunigte – Relativierung der klassischen Konfiguration der Pfarrgemeinde als Kirchengestalt „all in one“ statt. Zugleich entwickelt sich Kirche vor Ort – und das ist die Pfarrei – als Netzwerk vieler verschiedener Orte, die in unterschiedlicher Weise Zugänge zum Geheimnis der Christusgegenwart ermöglichen. Die Zugänglichkeit ist häufig verknüpft mit der jeweiligen Sendungsorientierung: Kirche zeigt sich in Selbsthilfegruppen, Sozialinitiativen, Fairkaufhäusern, Kindergärten – und unterstreicht hier eine Spiritualität, die sich zeigt im konkreten Dienst an Menschen, im Besuch der Kranken, in Tafelinitiativen, im politischen Engagement, das sich deutlich orientiert an der anonymen Christusspiritualität von Matthäus 25. Kirche geschieht aber auch in den vielen Gottesdiensten und Initiativen im evangelisierenden und katechumenalen Kontext und kann hier durch ihre mystagogische Erfahrung und eine kontextualisierte Verkündigung pfingstlich einen Zugang ermöglichen. 174
4.7 ü b e r s i c h h i n au swac h s e n : K i rc h e n e u v e r st e h e n
Eine solche Sicht der Dinge hat Konsequenzen: zum einen scheint es mir angesichts dieser interessanten und wachsenden Entwicklung wirklich überholt, von einer Krise der Kirche zu sprechen – es geht eher um eine geistgewirkte Reform, die an uns geschieht. Und wie immer verlangt diese Reform uns eine Umkehr ab: Es ist nicht angebracht, angesichts dieser Entwicklungen den größten Teil der Christen, aber auch derer, die noch nie das Christentum in seiner Fülle, sondern erst in seinen Anfängen kennengelernt haben, als defizitär zu beschreiben und damit an einer „Normform“ zu messen, die kontextlos geworden ist. Eher dürfen wir von einer Zeit des Neuaufbruchs sprechen, in der neue Fragen in den Mittelpunkt rücken: Wenn hier von einer evangelisierenden und katechumenalen Situation die Rede ist, dann stellt sich die Frage, ob Evangelisierung und Katechumenat – wie durch Weltkirche und Päpste angeregt, die in den vergangenen Jahren in ihren Synoden und Initiativen genau diese Perspektive unterstützen – schon Priorität unserer Pastoral geworden sind? Wenn viele der Initiativen im Rahmen der Liturgie und der diakonischen Aufmerksamkeit einen spirituellen Zugang zum Geheimnis der Christusmitte eröffnen, dann stellt sich die Frage, ob für die, die den Zugang weiter beschreiten wollen, und für die Christen, die die eucharistische Mitte unserer Kirche sehnsüchtig suchen, genügend Tiefe und Identität in den Gottesdiensten und im Umgang mit der Schrift zu finden sind? Schließlich: Kirche zeigt sich als eine vielfältiges und mehrdimensionales Geschehen, und dies schon auf der Ebene der Pfarrei. Wird genügend dafür gesorgt, dass diese Neukonfigurierung des Kircheseins nicht mehr von der vermeintlichen Mitte der Gemeindezugehörigkeit ausgeht, sondern von der zugänglichen Christusmitte? Ist damit auch deutlich, dass Pfarrer und Pfarrteams in Zukunft nicht für die Summe der Gemeinden in ihrer Pfarrei verantwortlich sind, sondern für den Kosmos der unterschiedlich wachsenden Gestalten des Kircheseins? Wie können sie ihre Aufgabe neu verstehen – und welche Wege braucht es, damit an allen diesen Orten die werdenden Christen auf ihrem Glaubensweg begleitet werden? 175
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
Nach außen öffnet sich der Horizont der Welt, der Menschen, den „Männern und Frauen der Seligpreisungen“ (Philip Bacq), die keinen Zugang zur Kirche zu suchen scheinen – aber die engagiert an einer neuen „Zivilisation der Liebe“ mitwirken. Welche Räume und möglichen Zugänge eröffnen wir ihnen? Offene Fragen, die uns unsere Heilsgeschichte stellt. Antwortversuche sollen im letzten Teil unserer Überlegungen versucht werden.
4.8 Einen langen Atem haben: Lokale Kirchenentwicklung als Prozess Ich erinnere mich an einen Vortrag von Bill Hybels bei einem Leitungskongress von Willow Creek. Er sprach über die Herausforderungen des Moses. Seine Sendung war ja, das Volk Israel aus Ägypten ins verheißene Land zu führen. Aber, so Hybels, das war nicht einfach. Über lange Zeit hatte sich das Volk daran gewöhnt, in der gesicherten Abhängigkeit von den Ägyptern zu leben, an den Fleischtöpfen – mit hohen Arbeitsnormen. Und nun auf einmal auf neuen Wegen zu gehen, war deswegen nicht einfach, weil es auf diesem Weg völlig neue Grundhaltungen brauchte. Und neue Grundhaltungen brauchen sehr viel Zeit. Immer wieder – so kann man es nachlesen hinter den Erfahrungen des Volkes in der Wüste – fielen sie zurück in gewohnte Haltungen. Sie waren ein abhängiges Volk gewesen, und es braucht einen langen Weg, um eine neue Kultur der Freiheit und des Lebens unter dem lebendigen Gott einzuüben. Ich habe vor meinen Augen das Gesicht des verstorbenen Bischofs Oswald Hirmer, der uns bei unseren ersten Begegnungen immer deutlicher machte, dass hinter der Praxis der Kleinen Christlichen Gemeinschaften ein Rezeptionsversuch des II. Vatikanischen Konzils und ein Ansatz der Kirchenentwicklung stehe, der „wohl ein paar Hundert Jahre braucht“, bis er sich durchsetzt.
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4.8 e i n e n l a n g e n at e m h a b e n : lo k a l e K i rc h e n e n t wi c k lu n g a l s p roz e ss
— Schmerzhafte Erfahrungen, aus denen zu lernen ist —
Das war am Anfang nicht so klar: Es ist doch relativ einfach, das Bibelteilen einzuüben, kleine Gruppen zu formen. Ja – das stimmt, doch damit hat sich noch kein Entwicklungsprozess der Kirche vor Ort ereignet, geschweige denn auch nur begonnen! Es scheint dann so, als seien die Gruppen nur dazugekommen zur bunten Vielfalt gemeindlicher Gruppen, es scheint, als sei hier nun ein Pfarrer im Dienst, der besonderen Wert auf spirituelle Gruppen legt – es scheint, als könne ansonsten alles so weitergehen, auch wenn der Pfarrer nun andere Prioritäten setzt. Und es scheint so, als wäre mit der Bildung dieser Gemeinschaften alles getan ... Zweierlei wird deutlich: zum einen, dass diese Art von Pastoral in der Tat überhaupt nicht den Raum eröffnen will für eine Mentalitätsänderung. Es wird dabei nicht in den Blick genommen, dass Kirchenentwicklung ein Prozess ist, bei dem es darum geht, Grundhaltungen des II. Vatikanischen Konzils zu fördern. Aber dies wird – zweitens – ohne einen Prozess der Mentalitätsentwicklung – Schritt für Schritt und ohne Abkürzungen – nicht zu haben sein. Es schien insgesamt einfacher, weil auch sonst die Pastoral eher mit dem Begriff der Anwendung, Umsetzung und Durchführung arbeitet. Das schließt natürlich Prozesse mit ein, ist aber einfacher, weil hier nicht direkt auf Umkehr und Mentalitätsveränderung abgezielt wird, sondern auf konkrete Ergebnisse: Wenn sie da sind, sind wir fertig, können auswerten und neu beginnen. Wir fangen mal wieder etwas Neues an ... Es hat in der Tat Folgen, wenn man auf diese Weise zum Beispiel „pastorale Südfrüchte“54 importiert: Es kommt zu einfachen und simplizistischen Übertragungsversuchen, bei denen zumeist keine „Inkulturation“ und also Reifung in unserem Kulturraum stattfindet (weswegen diese Früchte auch irgendwie fad schmecken ...). 54 Davor warnt mit Recht B. Spielberg, Vitaminspritze aus dem Süden?, in C. Hennecke/M. Samson-Ohlendorff (Hg.), Die Rückkehr der Verantwortung, Würzburg 2011, 127–142. 177
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
Eine weitere Folge: Weil einfach nur ein neues Modell installiert, aber insgesamt kein Prozess in Gang gebracht wurde, kann ein Nachfolger relativ schnell alles wieder „abbauen“. Das geht tatsächlich sehr schnell und entspricht auch genau der Zielperspektive einer gewohnten milieuchristlichen Pastoral. Denn eigentlich ist ja alles ganz klar geordnet, angefangen von der religiösen Sozialisation bis hin zur Gruppen- und Verbandsstruktur einer Pfarrei – im Rahmen dieser Selbstverständlichkeiten kann ein Pfarrer dann auch eigene Akzente setzen, so wie der Nachfolger dann auch wieder andere Akzente setzt. Man kann das für alle Bereiche der Pastoral durchspielen: am interessantesten sicherlich bei der Erstkommunionpastoral, denn hier kommen mit den Ideen der Verantwortlichen immer wieder neue Methoden und Wege in den Blick, ohne dass je die Grundfrage gestellt würde: Was wollen wir eigentlich? Welche Erfahrung wollen wir ermöglichen? Solche Fragen zu stellen und gemeinsam darüber nachzudenken, würde die Mentalität der Gemeinden verändern. — Nichts weniger als ein Umkehrprozess —
„Wandelt euch und erneuert euer Denken ...“, ruft Paulus der Gemeinde in Rom zu (Röm 12,2). Das ist nicht so leicht. Wenn ich den Lernweg bis hierher in Sachen Kleine Christliche Gemeinschaften anschaue, dann haben wir – mit intensivem Ringen um die Fragen – nicht weniger als 10 Jahre gebraucht, und das Lernen mit wirklich vielen Herausforderungen ist noch lange nicht, wenn je überhaupt am Ende. Erst langsam habe ich, haben wir gemerkt, woraus sich die eigentliche Begeisterung für diesen Zukunftsweg des Kircheseins speist: Es geht nicht um eine spezifische Sozialform, auf die hin unsere Gemeinden zu gestalten wären – sondern um eine Kultur des Kircheseins: um eine Erneuerung des Christseins, die es jedem Christen ermöglicht, aus der Quelle des Wortes Gottes, aus der Schrift zu schöpfen und mit anderen seine Glaubenserfahrungen zu teilen: um eine Kultur der Taufe und des gemeinsamen Priestertums aller Getauften, die zu einem neuen Bewusstsein führt, sich als Kirche zu verstehen; um eine neue Ausrichtung 178
4.8 e i n e n l a n g e n at e m h a b e n : lo k a l e K i rc h e n e n t wi c k lu n g a l s p roz e ss
auf die Sendung mit den Menschen und für sie am jeweiligen Ort; um ein Neuverstehen der Rolle des Priesters und der sakramentalen Grundgestalt des Kircheseins; um die Entdeckung von Partizipation und Vertrauen als Grundhaltungen einer Kirche, die aus der Nähe des Auferstandenen lebt und diese bezeugt. Das bedeutet einen langen Weg. — Kirchenentwicklung heißt: einen Dom bauen —
Über mehr als eine Generation Bauzeit sind viele Dome und Kathedralen entstanden. Um Kirche im benannten Sinne zu entwickeln, brauchen wir also Baumeister, Steinmetze und Bauleute, die gemeinsam eine Vision haben: ein Bild eines „Baus“, dessen Fertigstellung sie nicht erleben werden. Und noch mehr: Um Begeisterung für so einen langen Weg entwickeln zu können, der ja auch mühsam und mit Rückschlägen verbunden ist, brauchen wir eine Leidenschaft, eine Passion – die eigentlich nur dann zustande kommt, wenn uns eine Erfahrung ergriffen hat: etwas, was wir gesehen haben, berührt: „Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens“ (1. Joh 1,1). Die Fülle dieses Wortes, das Fleisch wird, ist eben nicht eine Doktrin, es ist eine Person – die Wirklichkeit des Auferstandenen, „Christus unter euch, die Hoffnung auf Herrlichkeit“ (Kol 1, 27), wie Paulus sekundiert. Doch diese Begeisterung will und muss geteilt werden: Es reicht nicht, einfach anzufangen. Die Grunderfahrung, die sich sehnsuchtsvoll ausstrecken und die besten Kräfte investieren lässt, muss geteilt werden. Das gehört zur Vision selbst, zu ihrem tiefsten Inhalt. Denn es geht ja um das Volk Gottes auf seinem Weg zum Ziel. — Gott führt sein Volk —
Ein solcher Entwicklungsprozess lebt aus der Gewissheit, dass die Kirche geführt und insofern immer wieder durch Erneuerung und Reinigung weiter „entwickelt“ wird, im Blick auf die Zeit, in 179
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
der sie lebt. Darum darf einem Kirchenentwicklungsprozess das Appellative zunächst einmal fehlen. Ein solcher Prozess geht im Gegenteil davon aus, dass die Sehnsucht nach dem Ziel in den Menschen unserer Zeit schon verborgen ist. Deswegen geht es darum, Schritt für Schritt freizulegen, was Gott schon in die Menschen hineingelegt hat. Darum geht es in den partizipativen Prozessen, die deswegen auch nicht nur in bestimmten Repräsentationsgruppen allein stattfinden dürfen, sondern von dort aus möglichst vielen Menschen die Gelegenheit geben, an der Zukunft der Kirche und der Gesellschaft mitzuwirken. Die Anfänge dafür sind gemacht. Veranstaltungen im Rahmen von Visitationen und auch Dialogprozesse auf allen Ebenen können erste Schritte auf diesem Weg sein. Ein Weg kann sich eröffnen, wenn aus diesen Begegnungen so etwas wächst wie eine Wegbegleitung. Erst dann wird deutlich, dass es hier nicht um „Ereignispastoral“55, sondern um eine ernst gemeinte Logik des Teilens von Erfahrungen, Vertrauen und Glauben, um eine ernsthafte Partizipation. Dort, wo das gelingt, entwickelt sich Kirche weiter – in der Spur des II. Vatikanums. Die Frage nach den daraus wachsenden Sozialformen ist vielleicht eine der spannendsten Fragen der Zukunft: Denn selbst wenn deutlich ist, dass diese Sozialform beziehungsorientierter, sendungsorientierter und partizipierend ist, wenn also die Nähe und Örtlichkeit eine höhere Bedeutung bekommt, und wenn sich diese Gestalt aus der Kraft des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen konfiguriert, dann werden sicherlich viele Orte des Kircheseins sich weiterentwickeln oder auch neu wachsen, die den Aufbrüchen der Weltkirche vielleicht nicht in der Form, wohl aber in der darunterliegenden Kultur entsprechen. In einem europäischen Kontext wird dabei eine unüberschaubare Vielfalt wachsen – entsprechend den Herausforderungen unserer Zeit.
55 Der Vorwurf, dass viele pastorale Wirklichkeiten „Eventcharacter“ tragen, wirkt auf mich zuweilen wie eine Projektion: Welche Prozesshaftigkeit in Wachstum und Partizipation lässt sich denn an „normalen“ Orten der Pastoral erkennen? 180
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
4.9 Visionen teilen: Wie kann man den Dienst des Priesters neu profilieren? Erst in Südafrika habe ich verstanden. Bei unserer Studienreise 2010 nach Aliwal erklärte uns Bischof Michael Wüstenberg, warum in seiner Diözese Beerdigungen grundsätzlich durch gut geschulte und beauftragte Teams der Christen der jeweiligen örtlichen Gemeinde durchgeführt werden: „Das ist mehr als eine Beerdigung – hier ist es Trauerpastoral. Insgesamt dauert der ganze Begleitprozess mehr als eine Woche: Das gemeinsame Beten in den Familien, die Begleitung der Trauernden, die Vorbereitung der Beerdigung, die Beerdigung, ... und danach ...“, so zählt er auf. Und da ging mir auf: Es geht nicht darum, einen Ersatz für nicht vorhandene Priester (oder hauptberufliche „pastoral workers“) zu finden, die es doch eigentlich machen müssten (und – eventuell! – „professioneller“ könnten), es geht um etwas anderes: Eine Kultur der Trauer und der Bestattung geschieht im konkreten Lebensraum, im Beziehungsnetz der örtlichen Gemeinde – und am besten und authentisch können das jene, die wirklich miteinander, mit dem Verstorbenen und seiner Familie, gelebt haben. Beides geschieht bei uns in der Regel nicht. Eine echte Trauerbegleitung ist nicht möglich, weil zum einen die Hauptberuflichen, Diakone und Priester, den verstorbenen Mitchristen und sein Umfeld nicht kennen – und oft auch nicht kennen können. Und zugleich stellt sich meistens auch heraus, dass die Hauptamtlichen gar nicht die Zeit haben, sich wirklich auf eine länger dauernde Trauerbegleitung einzulassen. Deswegen ist es fatal, wenn angesichts der künftigen fehlenden Priester und Hauptberuflichen nun andere als Ersatz diesen Dienst tun sollen ... Es geht nämlich nicht um einen Ersatz, sondern um eine Neuorientierung angesichts einer Krise.
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4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
— Die Kompetenzparabel —
Die Kirchenentwicklung in unseren Landen ist in den vergangenen Jahrzehnten einer interessanten Parabel gefolgt. Am Anfang dieser Entwicklung stand eine Alleinzuständigkeit. In der sehr stark hierarchisch gefassten Kirche war der Pfarrer alleine für alle pastoralen Vollzüge zuständig. Die Charismen der Getauften waren nicht wirklich im Blick – und waren gewissermaßen auf das Amt übertragen worden. Die Getauften waren in diesem Gefüge des Kircheseins Mithelfer des Priesters, der es ja nicht immer alleine schaffte: Laienapostolat galt als der verlängerte Arm des Klerus. Das änderte sich in der jüngeren Vergangenheit.56 Zusammen mit dem Aufkommen der hauptamtlichen pastoralen Mitarbeiter kam es zur Entwicklung und Explosion ehrenamtlicher Dienste in der Kirche: Christen engagierten sich intensiv in der Gemeinde, als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hauptberuflichen und des Pfarrers. Von ihrer theologischen Kompetenz konnten sie lernen und wurden begleitet und fortgebildet. So konnten – gerade im katechetischen Bereich – viele Männer und Frauen einen wichtigen Dienst übernehmen, sich weiterbilden und Kompetenz erwerben. Dennoch gibt es in dieser Entwicklung eine Kehrseite: Die eigentlichen Akteure der Pastoral sind die Priester und Hauptamtlichen – die Ehrenamtlichen sind und fühlen sich häufig immer noch als Mithelfer und Mitarbeiter des Pfarrer und seines Teams. Es gibt daher weniger eine hierarchische Strukturlogik, die ja ihr Recht im sakramentalen Raum hat, als eine hierarchische Kompetenz- und Beteiligungslogik, die von oben nach unten reicht. Neben den professionellen und amtlichen pastoralen Akteuren gibt es die ehrenamtlichen Mitarbeiter, die aus der Schar der engagierten Kirchgänger herauswachsen. Und dann gibt es immer noch die, die nur selten kommen – und am Ende, die, die 56 Vgl. hierzu instruktiv D. Steinebach, Getauft und engagiert. Vom innovativen Umgang mit den alten und neuen Formen des kirchlichen Ehrenamtes, Würzburg 2011. 182
4.9 wi e k a n n m a n d e n di e n st d e s p r i e st e r s n e u p ro f i l i e r e n?
sich gar nicht aktiv beteiligen: die treuen Kirchenfernen und Kasualienchristen. Ein Schelm, wer hier keine Wertungen hört. — Die Aufgabe der Relegation ... führt erst zur Delegation —
Im beschriebenen Kirchenbild wird eine hierarchische Logik weitergeführt, die vor dem Hintergrund der konziliaren Erkenntnisse einer Revision bedarf. Auch hier scheint es noch so, dass das Engagement des Christen zumeist durch Delegation der Hauptberuflichen oder des Pfarrers legitim wird. So hat es sich auch ereignet im Kontext der Versuche ehrenamtlicher Verantwortung in örtlichen Gemeinden innerhalb größerer Pfarreien57. Das Ringen um die richtige Terminologie deutet an, welche theologischen Herausforderungen hier zu bewältigen sind: es geht ja nicht darum, dass der Pfarrer an Teams von Ehrenamtlichen einen Teil seiner originären Verantwortung für die Leitung der Pfarrei abgibt und sie delegiert, was ja in Ausnahmefällen vom Kirchenrecht ermöglicht wird (§ 517,2). Es geht vielmehr um die Frage, wie unterhalb und innerhalb der kirchenrechtlich konstituierten Pfarrei und ihrer Leitung durch den Pfarrer in bestehenden und neu entstehenden Gemeinden und Kirchorten Leitungsstrukturen errichtet werden. Hier geht es nicht so sehr um die Delegation der Leitung, sondern um die bestätigende Beauftragung von Christen, die ein Mandat der örtlichen Gemeinde bekommen. Kirche konstituiert sich unterhalb und innerhalb der sakramental-kirchenrechtlichen Ebene aus der genuinen Kompetenz und den Charismen der Getauften. Diese Erkenntnis führt zu einer weiteren Überlegung. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich aufgrund dieser Unschärfe eine wirklich komplexe und explosive Gemengelage ergeben. Sie resultiert aus der merkwürdigen Grundsituation, dass de facto alle Charismen dem Pfarrer zugeordnet waren. Entsprechend bestand eine monopolistische Stellung des Priesters, der dann Anteil an der Mitwirkung gab. Egal, ob man das „verlänger57 Vgl.. dazu die wichtigen Anmerkungen von H. Hallermann, a. a. O. 183
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
ten Arm des Klerus“ oder „ehrenamtliche Mitarbeit“ nannte und nennt, der Eindruck wird vermittelt, dass die Kirche vor allem ein institutioneller Zusammenhang ist, und dass die Verantwortung eigentlich nur beim Klerus oder den Hauptberuflichen liegt: „The priest runs the parish ...“ Es ist in einer zunehmend partizipativen Gesellschaftsordnung, in der sich die Bürgerinnen und Bürger, und also auch die Christinnen und Christen, ihrer eigenen Gaben und Talente mehr und mehr bewusst sind, schwer zu vermitteln, warum nur manche an der Verantwortung teilhaben dürfen – eben Priester, und im geringeren Grad, andere Professionelle. Etwas spitz formuliert: Wenn nur das Amt Kompetenz und Charisma hat, wieso sollten die anderen nicht auch dieses Amt bekleiden dürfen? Aber die in diesem Buch beschriebenen Erfahrungen und unsere anfängliche theologische Reflexion laden zu einer anderen Sichtweise ein: sie zeigen auf, dass vor jeder notwendigen Beauftragung und auch vor jeder öffentlichen Delegation ein anderer Schritt steht, ein Bewusstseinswandel, mit dem ein Prozess der „Relegation“ einhergeht. Die Rolle des Priesters ist in ihrer Sakramentalität zu profilieren, und dies bedeutet zugleich eine umfassende Relegation der Charismen und Gaben in das Volk Gottes: Wenn heute Personen aufgrund von Kompetenz und Charisma einen Dienst, eine Aufgabe übernehmen, dann geschieht das vor dem Hintergrund eines Kirchenverständnisses, das von der Taufe her diese Gaben und Charismen ursprünglich im gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen verankert. Relegation – Zurückgabe, heißt also: dafür zu sorgen, dass Charismen und Gaben, dass Beteiligung und Partizipation, Verantwortung für einen Dienst ursprünglich in der Wirklichkeit des Leibes Christi verwurzelt sind. Die öffentliche Beauftragung, die Delegation einer Aufgabe im Namen der Kirche – genau das ist die Aufgabe des Priesters und Ausdruck jener sakramentalen Kompetenz der Einheit des Leibes, für die er steht.
184
4.9 wi e k a n n m a n d e n di e n st d e s p r i e st e r s n e u p ro f i l i e r e n?
— „stewardship“ —
Wenn die US-amerikanischen Katholiken von „stewardship“ sprechen, dann meinen sie die Bereitschaft der Getauften, „Zeit, Talente und Geld“ (englisch klingt es besser: time, talents and treasure) in das Ganze des Leibes Christi einzubringen und so den Leib Christi, die Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche als lebendige Wirklichkeit entdeckbar zu machen58. Auch hier liegt die Aufgabe des amtlichen Dienstes darin, die Einheit der Kirche in der Vielfalt der Aufgaben, Charismen und Dienste zu wahren – und gleichzeitig jene Vielfalt zu schützen, die ja als Taufwirklichkeit sakramentalen Ursprungs ist: die Teilhabe der Gemeinschaft der Getauften am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Christi. Damit ist noch einmal neu zu fragen – und das lädt zum Weiterdenken ein – in welcher Weise die genuin sakramentale Aufgabe des Priesters, und auch die Aufgabe seines Pastoralteams, zu beschreiben ist: Denn es ist ja deutlich geworden, dass es hier nicht darum gehen kann, wie auf einer Waage genuine Aufgaben des Volkes Gottes mit genuinen Aufgaben des sakramentalen Dienstamtes abzugleichen. Genau das ist ja die Pointe der Theologie des II. Vatikanums, die in Lumen Gentium 10 formuliert wird: Das Priestertum des Dienstes und das gemeinsame Priestertum der Gläubigen sind „dem Wesen und nicht bloß dem Grade verschieden.“ Das heißt doch ganz klar, dass genuine Kompetenzen unübertragbar sind – dass dies dennoch oft versucht wird, führt zu schmerzhaften und unnötigen Konkurrenzen. Dann geht es weder darum, dem priesterlichen Amt genuine Kompetenzen wegzunehmen, noch darum, dass genuine Charismen und Gaben des Gottesvolkes auf das Dienstamt übertragen werden. Zurück zum Anfang: Vor diesem Horizont wird noch einmal sehr einsichtig, dass die Frage nach einer Trauerpastoral, einer Krankenpastoral und auch der evangelisierenden Katechese nicht einfach eine Frage im Streit der Kompetenzen ist. Und es geht auch nicht um die pragmatische Lösung problematischer 58 Vgl. hierzu M. Sellmann, Katholische Kirche in den USA, a. a. O., 84–94. 185
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Situationen in Zeiten geringerer Priesterzahlen, es geht nicht um Ersatzlösungen, sondern – eigentlich – um die Vision des Kircheseins und ihrer praktischen Auswirkungen. — Visionen teilen —
Mir scheint, dass hier auch eine wichtige Aufgabe der pfarrlichen und priesterlichen Verantwortung liegt. Jede Konfiguration dieses Dienstes gründet auf einer Vision kirchlichen Lebens, gründet auf einem Kirchenbild. Wie Stellenwechsel zeigen, kann sehr schnell die Vision eines Kirchenbildes, die sich über Jahrhunderte in den Gläubigen eingeprägt hat, wieder durchsetzen gegenüber den Aufbrüchen, die sich im Blick auf eine neue Bewertung des gemeinsamen Priestertums der Gläubigen zeigen. Umso wichtiger ist es, dass die verantwortlichen Pfarrer sich ihrer Leitungsverantwortung an dieser Stelle bewusst sind: Wer leitet, setzt Visionen frei – entscheidend wird sein, ob es gelingt, dass die Ekklesiologie des II. Vatikanums geistliche Ekklesiopraxis wird. Sie ist ja nicht beliebig, sondern sie ist für unsere Zeit vorgegeben. Die Grundfrage ist also nicht nur, ob der Leitungsstil eines Pfarrers ermöglichend ist – ob er also seinen Dienst darin sieht, die Charismen und Gaben der Getauften ins Spiel der Einheit des Leibes Christi zu bringen, sondern vor allem, ob es ihm gelingt, die dahinterliegende Vision einer Kirche als sakramentaler Gemeinschaft von Gemeinschaften erfahrbar zu machen, sie mit den Getauften zu teilen. Noch einmal: Visionen wollen ergriffen werden von allen, damit sie wirkmächtig werden und eine neue Kultur des Kirchewerdens ermöglichen. Dazu braucht es Amtsträger, die sich selber diese Perspektive des II. Vatikanischen Konzils so zu eigen gemacht haben, dass sie die Getauften darin unterstützen, diesen Geist in sich zu wecken und zu entfalten. „Nein“, sagt uns Bischof Wüstenberg, „da braucht man keine Angst zu haben, dass man nichts mehr zu tun hat oder dass das Amtspriestertum nicht mehr wichtig wäre – ganz im Gegenteil: Meine Hauptaufgabe besteht darin, die Gläubigen auf diesem 186
4.10 ki rc h l i c h k e i t e r mö g l i c h e n : di e s a k r a m e n ta l e g r u n d st r u k t u r
Weg zu begleiten, sie zu fördern und zu unterstützen – und natürlich die Einheit zu bewahren, denn Konflikte gibt es genug ...“
4.10 Kirchlichkeit ermöglichen: Vom Sinn der sakramentalen Grundstruktur Pfarreien werden aufgelöst, zusammengeführt, fusioniert, in Seelsorgeeinheiten zusammengelegt, sollen zusammenwachsen zu einer „Gemeinde“. Pfarrverbünde, Großpfarreien, XXL-Pfarreien, Seelsorgeeinheiten, Pfarreiengemeinschaften – die Namen sind Legion. Trotz aller Bemühungen59 kommt es zu keiner gemeinsamen Sprache. Das wäre an sich nicht tragisch – die Frage ist nur, ob klar ist, worum es geht. Was macht eine Pfarrstruktur sinnvoll? Wozu ist sie – kirchenrechtlich als Normalfall pastoraler Struktur – vorgesehen? Wozu dient sie? Denn das ist klar: Strukturen sind ja nicht das Grundgerüst, in welches dann das Leben des Glaubens irgendwie hineingezwungen werden soll. Sie existieren nicht, damit sie ausgefüllt werden. Vielmehr gilt umgekehrt: Das Leben der Gläubigen, das Leben der Christen braucht einen Raum des Wachsens, braucht eine Ermöglichungsgestalt – und das ist nicht nur eine soziologische Frage: Jedes Leben braucht ein ordnendes Skelett. Es ist also eine Wesensfrage, und sie ist theologisch hochbedeutsam. In Zeiten der Selbstverständlichkeit einer funktionierenden milieuchrist lichen Volkskirchlichkeit braucht darüber nicht nachgedacht zu werden – in Zeiten des Wandels sehr wohl. — Zusammenwachsen —
Im Jahr 2004 war mir die gnadenvolle Aufgabe zuteil geworden, drei sehr unterschiedliche und durch ihre wechselseitige Geschichte vorbelastete Pfarreien zu einer neuen Pfarrei zusammenzuführen: Kirchenrechtlich genau wurden die drei Pfarreien 59 Vgl. dazu Die deutschen Bischöfe, „Mehr als Strukturen...“, Arbeitshilfe 216, Bonn 2007. 187
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aufgelöst und eine neue wurde im selben Augenblick gegründet. Es ist das Recht des Bischofs, dies zu tun. Freiwillig käme keiner auf den Gedanken. Der Bischof ist – so die Theologie des II. Vatikanums – der eigentliche Seelsorger seiner Diözese. Weil er aber eine Diözese in den Ausmaßen eines halben Bundeslandes nicht seelsorgerlich alleine begleiten kann, weiht er Priester in ein Presbyterium. Pfarrern vertraut er einen Teil des Volkes Gottes an – und dies ist in Pfarreien umschrieben. Seelsorge meint hier die sakramentale Seelsorge an der Gemeinschaft der Gläubigen. Denn klassischerweise versteht man unter Seelsorge („Cura animarum“) die Feier der Sakramente, besonders Eucharistie und Buße, die sonntägliche Homilie und die Katechese der Initiierten, sowie – zuvörderst – den Dienst der Leitung an der Einheit der ganzen Kirche. Damit ergibt sich schon ein wichtiger Hinweis, auch im Kontext der Strukturmaßnahmen: Es ist zu unterscheiden zwischen den Lebensvollzügen und Wirklichkeiten der Gemeinschaft der Gläubigen einerseits – und der sakramentalen Ermöglichung dieses Lebens andererseits. Das hat unmittelbar praktische Konsequenzen. Ich konnte den Christen der drei Pfarreien, die nun eine „neue Pfarrei“ werden sollten, immer wieder sagen: Es ist nicht so, dass das gewachsene Leben eurer Gemeinden fusioniert werden soll. Es geht nicht darum, „eine Gemeinde“ zu werden – es geht darum, dass wir in den vielen Gemeinden, Gemeinschaften, gewachsenen und neuen Formen des Kircheseins, die eine Kirche sind. Oder anders: die Pfarrei, die Kirche am Ort, will und muss die Vielfalt der unterschiedlichen Gemeinden und Verbände, Einrichtungen und gewachsenen Formen schützen und begleiten: dies bedeutet nicht, dass wir zusammenwachsen müssen – aber es bedeutet, dass wir herausgefordert sind, zusammen zu wachsen. Zu wachsen in unserem Glauben, in unserer Christusverwurzelung, in unserem Kirchesein. Das war in der Hoch-Zeit der Zusammenführungen und Fusionen nicht im Blick, zuweilen bis heute nicht. Im Bewusstsein vieler Pfarrer – und vielleicht auch vieler Administrationen – ging es in der Tat um Zentralisierungsprozesse und um den merkwürdi188
4.10 ki rc h l i c h k e i t e r mö g l i c h e n : di e s a k r a m e n ta l e g r u n d st r u k t u r
gen Gedanken, dass man Heimat, Verbundenheit und gewachsene Tradition recht schnell zusammentopfen könnte. Das aber ist nicht berechtigt und auch nicht rechtens. Es fehlte die klare Unterscheidung zwischen notwendiger Restrukturierung und noch notwendigerer Entwicklung eines Kirchenverständnisses, das auf dem gelebten gemeinsamen Priestertum gründet. — Die sakramentale Grundgestalt der Kirche —
Eine lokale Kirchenentwicklung, die ermöglicht, dass Christen aus ihrem Bewusstsein des gemeinsamen Priestertums der Gläubigen heraus an den verschiedenen gemeindlichen Orten, in den Dörfern und Stadtteilen, in Verbänden und Einrichtungen Kirche werden und ihre Taufverantwortung wahrnehmen, ist sakramental. Denn sie gründet in der Taufe, dem Grundsakrament des Kircheseins. Nun ist mit Taufe immer schon mehr gemeint als das Faktum der Kindertaufe. Kirche können wir ja gar nicht aus uns sein, wir werden aufgrund der Begegnung mit Jesus Christus und der Berufung, die wir darin erfahren, in den Leib Christi eingefügt – wir sind durch die Taufe hineingenommen in den Leib Christi, sind „einer in Christus“ (Gal 3, 28) geworden, ein Leib und viele Glieder, mit seinen unterschiedlichen Charismen und Gaben. Gemeint und vorausgesetzt ist also ein persönlicher Glaubensweg, der Antwort gibt auf die Erfahrung der Liebe Gottes – und die existenzielle Bewegung dieser Antwort wird sakramental gefeiert in den Sakramenten des Christwerdens: Taufe – Firmung – Eucharistie. Taufe – Getauftsein ist gegenwärtiges Geschehen, kein einmaliges Ereignis, das sich in der Vergangenheit ereignet hat. Auch deshalb sprechen wir von Taufwürde. Wie die gemeinsame Taufwürde, so ist das Eingefügtsein in den Leib Christi, das Kirchesein kein einmal erreichter seliger Zustand, sondern er lebt aus dem Rhythmus von sakramentaler Gnade und Leben aus dieser Gnade, als einzelne Getaufte und zugleich als Leib Christi. Kirche ist also kein Verein, kein Club, keine Gemeinschaft von Gleichgesinnten oder Ähnlichen – Kirche ist ein Zeichen der 189
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Gegenwart Christi, ein „Zeichen und Werkzeug der Einheit Gottes mit der Menschheit und der Menschen untereinander“, sie ist wirklich der Leib Christi, und das heißt: In ihr wird in aller Gebrochenheit Christus ansichtig und „in seiner vollkommenen Gestalt“ dargestellt (vgl. Eph 4,12). — Eucharistie als Mitte und Höhepunkt —
Ich habe lange Zeit Dietrich Bonhoeffer nicht verstanden, jenen mystischen und prophetischen evangelischen Theologen, der eine intensive sakramentale Theologie vertritt60. Im Zusammenhang mit dem Abendmahl sagt er: Am tiefsten ist die eucharistische Wirklichkeit erfahrbar, wenn man sie mit Menschen feiert, die man gar nicht kennt; am tiefsten ereignet sie sich in der Großstadt. In Paris habe ich das dann vor ein paar Jahren eindrücklich erlebt. In der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der vielen oder wenigen Menschen, mit denen ich zu unterschiedlichsten Zeiten Eucharistie feiern durfte, konnte ich diese Erfahrung des Leibes Christi machen – eine unmögliche Wirklichkeit. Eben die Erfahrung des Kircheseins. Genau diese Erfahrung ereignet sich eben nicht aus dem Willen der Menschen, sondern aus der Gnade der Einheit, die die vielen in den einen Leib versammelt und so einen Vorgeschmack der Zukunft, des Reiches Gottes, gibt. Eucharistie ist – wie das Konzil es sagt – Höhepunkt und Quelle des gesamten kirchlichen Lebens. Sie ist die Feier, in der zuhöchst und im Ursprung das Paschageheimnis gefeiert, vergegenwärtigt und teilgegeben wird – und so deutlich wird, dass ohne diese sakramentale Gegenwart Kirche nicht sein kann. Was hier geschieht, will im Alltag gelebt werden: Eucharistie ohne eucharistische Existenz, Feier des Leibes Christi ohne Vergegenwärtigung dieser Leiblichkeit in der gemeinschaftlichen Existenz des Volkes Gottes, die Hingabe Christi ohne die Hingabe seines Leibes in der Welt bleibt ein Gegenzeugnis, bleibt unglaubwürdig. 60 Vgl. G. L. Müller, Bonhoeffers Theologie der Sakramente, Frankfurt 1979. 190
4.10 ki rc h l i c h k e i t e r mö g l i c h e n : di e s a k r a m e n ta l e g r u n d st r u k t u r
Und gleichzeitig gilt: Was sich hier zuhöchst ereignet, ereignet sich auch in den sakramentlichen Feiern, ereignet sich im Hören des Wortes, ereignet sich in der Diakonie und Verkündigung jeder kleinen Gemeinde. — Kirchlichkeit ermöglichen —
Die Bildung, Neubildung und Neustrukturierung von Pfarreien dient diesem Ziel: dass die Gemeinschaft der Glaubenden in der Vielzahl ihrer Gemeinschaften und Gemeinden, Verbänden und Einrichtungen sich als Kirche erfährt: eben nicht nur als menschliches Netzwerk der Verschiedenheit, sondern als gottgewirkte Einheit, in einem Einssein, das in seiner Unterschiedlichkeit und Inkompatibilität die Beziehungen der Dreieinigkeit widerspiegelt, dessen Ikone sie ist (so Lumen Gentium 4). Kirchlichkeit sakramental ermöglichen: Es geht darum, dass das Zeugnis des lebendigen Christus an allen Orten erfahrbar, ergreifbar, „sichtbar“ wird. Das ist die Aufgabe der „Pfarreistruktur“ und damit auch der amtlichen Gestalt des Kircheseins. Sie steht im Dienst an allen Getauften, denn diese sind darauf verwiesen, dass sie immer wieder neu hineingefügt werden in den Rhythmus des trinitarischen Lebens, der sich in der Feier der Geheimnisse des Pascha teilgibt. In der Tat haben die Getauften auf diese „konstitutive Nahrung“ Anrecht, und sind, wenn das nicht so legalistisch klänge, auch dazu „verpflichtet“. Man kann erleben, was das bedeutet, wenn man z. B. in die kleinen Teilgemeinden der Teresa-Mission in Aliwal-North (Südafrika) kommt. Auch wenn hier nur alle zwei Wochen Eucharistie gefeiert werden kann – man kann spüren, dass die Getauften hier eine große Sehnsucht haben, die genährt ist durch die im Bibelteilen verwurzelten „small christian comunities“: Selten habe ich eine so nährende Liturgie erlebt wie dort. Das zeigt: Dort, wo man aus der Wirklichkeit des gemeinsamen Priestertums der Gläubigen Kirche alltäglich aus dem Wort wachsen lässt, wächst eine innere Sehnsucht nach dem „Mehr“ an Kirchlichkeit, nach der Eucharistie. 191
4. g r u n d h a lt u n g e n d e r ki rc h e n e n t wi c k lu n g e n t fa lt e n
— Kirchlichkeit ermöglicht Katholizität —
Doch genau diese Perspektive weitet sich noch: Die sakramentale Grundstruktur, die Kirchlichkeit ermöglicht, ermöglicht diese immer über den eigenen Horizont hinaus. Kirchesein ist eben nicht nur „vor Ort“, obwohl sie auch dort „ganz“ ist (vgl. Lumen Gentium 26), „the most local incarnation of the one, holy, catholic and apostolic church“, sondern die sakramentale Dimension ermöglicht auch das Entdecken der je größeren universalkirchlichen Einheit – der Katholizität. Ohne diese Katholizität ist die gemeinsame Lerngeschichte, die dieses Buch beschreibt, gar nicht denkbar.
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5. Impulse zum Weiterdenken 5.1 Baustellen der Zukunft Die Zukunft ist schon Gegenwart. Und weil das so ist, kann man auch schwerlich davon sprechen, dass erst am Horizont neblige Ansätze einer neuen Kirchengestalt zu erkennen seien. Die Erfahrungen dieses Buches sprechen eine deutliche Sprache: Sie sprechen von einer Evangelisierung, die zu anderen Kirchengestalten führt; sie verweisen auf eine Kultur des Kircheseins, die wir schon in Grundzügen beschreiben konnten. Und sie führt zu einer „Relecture“ theologischer Traditionen. Lässt sich das noch deutlicher und „in Farbe“ beschreiben? — Die Zukunft bebildern —
Es geht nicht um „Farbfotos“ der Zukunft, sondern um farbige Erfahrungen. Deswegen scheint es mir weithin unabdingbar, auch in den nächsten Jahren vor allem Hauptberuflichen und Priestern, aber auch Verantwortlichen in den Seelsorgeämtern, und am besten auch Bischöfen, solche reflektierten Erfahrungen des Kircheseins zu ermöglichen. Denn die Grundsituation scheint mir in vielen Fällen gut beschrieben in der Aussage eines guten Kollegen und Freundes, der nur wenig älter ist als ich: „Ich weiß vom Kopf her, dass wir auf eine neue Kirchengestalt zugehen. Und ich habe ja auch schon erlebt, dass sich die Rolle des Priesters verändern wird, und dass wir in der Tat längere Entwicklungsprozesse vor uns haben, die auf eine Erneuerung des gemeinsamen Priestertums der Gläubigen setzen. Ich sehe, dass ich nicht zurückkann in den kleinen Hof meiner Vergangenheit. Ich komme mir vor wie auf einer Mauer. Ich muss springen, ich werde springen – aber ich habe Angst“. 193
5. i m p u l s e z um w e i t e r d e n k e n
Das gilt für viele. Und das ist auch verständlich. Und das erklärt auch die überhaupt nicht stimmige Handlungsweise an vielen Orten. Ein Beispiel: Seit 10 Jahren ist es möglich, dass in unserem Bistum Christen ausgebildet werden könnten, die Beerdigungsdienste wahrnehmen, als Einzelne wie als Team. Aber bis heute liegt diese Ausbildung im Belieben des Ortspfarrers, obwohl eigentlich jedem deutlich ist, dass in den nächsten sieben Jahren hier durch das Fehlen von Hauptberuflichen und Priestern eine drängende Situation aufkommen wird. Nun kann man sagen: Wenn es nicht mehr geht, wird es schon irgendwie klappen. Aber durch solch eine Nichthandlungsweise, die sich auf die Dynamik der Katastrophe verlässt (und ich bin sicher: irgendwie würde es sich schon regeln), lassen sich zwei große Problemfelder entdecken: Zum einen werden Getaufte, die dann am Ende beauftragt werden, wenn gar nichts mehr „amtlich geht“, sich in erster Linie als Ersatzleute verstehen – und zum anderen wirkt diese Perspektive wie ein ideenloser und unzureichend reflektierter Rückbau. Niemand aus dem Volk Gottes ist dann nämlich wirklich vertraut geworden mit der Frage, wer eigentlich verantwortlich ist für die Kirche am Ort. Das ist nur ein Beispiel: Man könnte es an fast jedem pastoralen Feld in Gemeinden und Einrichtungen ausfalten. Es geht in der Tat um einen theologisch begründeten Perspektivwechsel. Ihn zu vollziehen, darauf kommt es an: für Priester, Hauptberufliche – und für das ganze Volk Gottes. Aber genau das hängt an der Frage, welche „farbigen Bilder“ dieser möglichen Zukunft uns allen in Herz und Kopf übergegangen sind. Exposure – „sich aussetzen lassen in eine fremde Situation“ – ist also ein Gebot der Stunde: In einem ersten Schritt gilt es, sich von einer Vision ergreifen zu lassen – eben nicht, um Erfahrungen aus anderen Teilen der Weltkirche kurzschlüssig zu übertragen („copy and paste“), sondern zuzulassen, dass Erfahrungen der Catholica uns bereichern, zur Umkehr führen können, zu einem neuen Denken, Handeln und Spüren der Kirche – und zu einem der Wirklichkeit angemessenen pastoralen Handeln.
194
5.1 b au st e l l e n d e r z u ku n f t
— Gemeinsam unterwegs mit der Zukunft —
Der nächste Schritt ist in der Tat ein Dialogprozess: Was symbolisch auf der bundesdeutschen Ebene und was in vielen Bistümern auf verschiedenen Ebenen schon begonnen hat – das könnte zu einem interessanten Pastoralstil führen. Allerdings setzt das voraus, dass der Blick auf die nahegekommene kirchliche Entwicklung sich leiten lässt von einer Kultur des Kircheseins und einem tiefen Vertrauen auf geistliche Prozesse. Eine solche Perspektive würde aus einem Dialogprozess eben nicht die ewige Wiederkehr der sogenannten heißen Themen machen, sondern einen gemeinsamen Suchweg für die Zukunft. Ein solches gemeinsames Entdecken aber setzt aufseiten der verantwortlichen Dekane und Pfarrer eben voraus, dass sie – ergriffen von der theologischen Vision einer partizipatorischen Kirche, wie sie das II. Vatikanum im Blick hat – mit den Gläubigen gemeinsam den Weg in die Zukunft wagen. Ein riskantes Abenteuer! Denn in der Tat setzt das voraus, dass Bischöfe, Seelsorgeämter, Priester, Diakone und Hauptberufliche innerlich ergriffen sind von einer Vision des Kircheseins, die sie die Konsequenzen dieser Vision durchdenken, theologisch verantworten und dann auch praktisch gestalten lässt. Zum Beispiel: Wie können wir die Kirchenentwicklung „umkehren“ und wirklich jenen Blick wagen, den Papst Benedikt bei seinem Deutschlandbesuch angeregt hat? Es waren vor allem zwei Hinweise, die er gegeben hat: Auf der einen Seite verwies er in seiner Rede vor den Vertretern des ZdK darauf, dass es neue Formen des Kircheseins geben müsse, die es ermöglichen, für die vielen Suchenden eine Gemeinschaft im Glauben zu finden: „In Deutschland ist die Kirche bestens organisiert. Aber steht hinter den Strukturen auch die entsprechende geistige Kraft – Kraft des Glaubens an den lebendigen Gott? Ich denke, ehrlicherweise müssen wir doch sagen, daß es bei uns einen Überhang an Strukturen gegenüber dem Geist gibt. Und ich füge hinzu: Die eigentliche Krise der Kirche in der westlichen Welt ist eine Krise des Glaubens. Wenn wir nicht zu einer wirklichen Erneuerung des Glaubens finden, werden alle strukturellen Reformen wirkungslos bleiben. 195
5. i m p u l s e z um w e i t e r d e n k e n
Aber kommen wir zurück zu den Menschen, denen die Erfahrung der Güte Gottes fehlt. Sie brauchen Orte, wo sie ihr inneres Heimweh zur Sprache bringen können. Und hier sind wir gerufen, neue Wege der Evangelisierung zu finden. Ein solcher Weg können kleine Gemeinschaften sein, wo Freundschaften gelebt und in der regelmäßigen gemeinsamen Anbetung vor Gott vertieft werden. Da sind Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz und im Verbund von Familie und Bekanntenkreis von diesen kleinen Glaubenserfahrungen erzählen und so eine neue Nähe der Kirche zur Gesellschaft bezeugen. Ihnen zeigt sich dann auch immer deutlicher, dass alle dieser Nahrung der Liebe bedürfen, der konkreten Freundschaft untereinander und mit dem Herrn. Wichtig bleibt die Rückbindung an den Kraftstrom der Eucharistie, denn getrennt von Christus können wir nichts vollbringen (vgl. Joh 15,5).“ 61 Einen Tag später, im Konzerthaus in Freiburg, formuliert er: „Seit Jahrzehnten erleben wir einen Rückgang der religiösen Praxis, stellen wir eine zunehmende Distanzierung beträchtlicher Teile der Getauften vom kirchlichen Leben fest. Es kommt die Frage auf: Muss die Kirche sich nicht ändern? Muss sie sich nicht in ihren Ämtern und Strukturen der Gegenwart anpassen, um die suchenden und zweifelnden Menschen von heute zu erreichen? Die selige Mutter Teresa wurde einmal gefragt, was sich ihrer Meinung nach als erstes in der Kirche ändern müsse. Ihre Antwort war: Sie und ich! An dieser kleinen Episode wird uns zweierlei deutlich. Einmal will die Ordensfrau dem Gesprächspartner sagen: Kirche sind nicht nur die anderen, nicht nur die Hierarchie, der Papst und die Bischöfe; Kirche sind wir alle, wir, die Getauften. Zum anderen geht sie tatsächlich davon aus: Ja, es gibt Anlass zur Änderung. Es ist Änderungsbedarf vorhanden. Jeder Christ und die Gemeinschaft der Gläubigen als Ganzes sind zur stetigen Änderung aufgerufen.“62 Der Papst benennt zwei Merkmale einer Kultur des Kircheseins, die hier noch weiter bedacht werden wollen. Er unterscheidet zwischen den Strukturen des Kircheseins, die noch keine Sozialform 61 Rede von Papst Benedikt XVI. am 24. 9. 2012, VAS 189, Ansprache an die Vertreter des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, 123. 62 Benedikt XVI., Rede am 25. 9. im Freiburger Konzerthaus, VAS 189, Begegnung mit engagierten Katholiken aus Kirche und Gesellschaft, 145f. 196
5.1 b au st e l l e n d e r z u ku n f t
meinen, und der konstitutiven existenziellen Grundgestalt des Kircheseins, die der Ausgangspunkt auch einer evangelisierenden Kirche sein wird: Es geht darum, Orte und Räume zu gestalten in den Beziehungsfeldern und Lebensräumen der Menschen der heutigen Zeit. Kirche der Zukunft wird sich wohl immer in gelebten Beziehungsräumen abbilden, die eingebunden sind in die sakramentale Grundgestalt der Kirche. Das vertieft Benedikt XVI. in seiner Rede im Konzerthaus: Es geht ihm ganz offensichtlich nicht um bestimmte Gemeindeformen, sondern um eine Grundfreiheit, die sich in Sachen Gemeindeformen einstellt. So wie einerseits die Frage nach den Gemeindeformen letztlich eine Frage nach der Erfahrbarkeit der Gottesgegenwart in der Mitte der Getauften ist, die in ihrem Lebens- und Beziehungsraum den auferstandenen Herrn und seine Sendung gewinnend bezeugen können, so ist andererseits Kirche in ihrer Grundform die Wirklichkeit gemeinschaftlich gelebter Taufgnade, die in einem fortlaufenden Prozess der existenziellen Erneuerung steht. Benedikt XVI. äußert sich dabei eben nicht zu der Frage, welche konkreten Gemeindeformen sich dabei zeigen, sondern er profiliert gewissermaßen die zugrundeliegende Kultur einer neuen Kirchengestalt: Sie ist spirituell, sendungsorientiert, lebensraumnah und eingebunden in das Größere der sakramentalen Grundstruktur des Kircheseins. Damit sind Horizonte eröffnet, die eine Strukturorientierung zugunsten echter geistlicher Bewusstwerdungsprozesse überwinden. Benedikt XVI. hat in seiner Rede die Konsequenzen nicht gezogen, die sich aus solchen Prozessen ergeben könnten und müssen. Sie zu ziehen, steht mit einer gewissen Dringlichkeit an. Aber sie wollen auch theologisch eingegründet werden in die katholischen Denktraditionen. — Im Raum der sakramentalen Grundgestalt: Kirchenentwicklung hier und heute —
Die diözesane Ortskirche und ihre Untergliederung in Pfarreien sind der gegebene sakramental gegründete Rahmen jeder Kirchenentwicklung. Aber wie eine Kirche sich entwickelt, hängt 197
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natürlich von der Wirklichkeit ab, in der sie steht. Wenn sich im weltkirchlichen Kontext die Kultur einer partizipativen Kirche entfaltet als ein Netzwerk lokaler Gemeinden mit einer im Evangelium gegründeten Spiritualität der Sendung, so wird sich in unserem kulturellen Kontext eine mehrdimensionale Vervielfältigung dieses Prozesses ereignen. Zum einen ist diese Vervielfältigung begründet in der evangelisierenden Grundsituation, in der die Kirche im deutschsprachigen Raum steht: Die geringe Zahl an Priesterberufungen, die seit Jahrzehnten bekannt ist, aber in den nächsten Jahren zu wirklich spürbaren Veränderungen führen wird, ist ja nur ein Ausdruck einer grundlegenden Veränderung der Prozesse des Christwerdens. Es wird auch in den nächsten Jahren deutlich werden, dass nur noch wenige jüngere Christen einen selbstverständlichen Zugang zur Eucharistie haben werden. Und das bedeutet: Die Feier der Eucharistie, die ja inneres Zentrum und Mitte des Kircheseins ist und bleibt, wird eine Feier weniger Christen sein. Erheblich weniger Priestern und erheblich weniger Christen, die einen Zugang zur Eucharistie gefunden haben, stehen nun sehr viele „Beginner“ im Glauben gegenüber: Sie sind zuweilen getauft, vielfach aber auch nicht – doch sie verbindet ein Interesse und zuweilen ein tiefes Suchen nach dem Evangelium und seinen Verheißungen. Unterschiedliche Räume der Zeugenschaft haben sich schon gebildet: Das Interesse an einer unverfälschten und identischen Verkündigung, Formen katechumenal geprägter Liturgien, Beteiligung an christlichen Initiativen der Sendung – all das beschreibt eine Grundsituation, die zu einer Vervielfältigung kirchlicher Orte führt, die sehr intensiv von der Sendung und dem Dienst an der Welt geprägt sind. Umso notwendiger werden Räume und Orte des Glaubens, wie sie der Papst beschreibt. Hier wird es im deutschsprachigen Raum darum gehen, dass gerade die Christen, denen die Eucharistie die Kraft zum Kirchesein gibt, sich auf einen Weg machen, die örtlichen Gemeinden zu Gemeinschaften des Glaubenswachstums zu gestalten. Eine örtliche Gemeinde lebt aus der Kraft des Evangeliums. So sehr es richtig ist, dass wohl die Eucharistie sinnvoll an einem zentralen Ort gefeiert wird, so notwendig ist es, dass 198
5.1 b au st e l l e n d e r z u ku n f t
diese Eucharistie eine eucharistische Ekklesiogenese vor Ort ermöglicht und vertieft. Kirchesein am Ort – darum geht es meist in der Diskussion um die Feier von Wortgottesdiensten. Dahinter steht aber eine ganz andere, tiefere Herausforderung. Letztlich nämlich geht es um die Frage nach der alltäglichen Wirklichkeit einer örtlichen Gemeinde: Wie wird das, was in der Eucharistie gefeiert worden ist, in der konkreten Wirklichkeit des Lebens erfahrbar und erlebbar? Wie wird die gemeinsame Sendung gelebt – und vor allem: Wie können Menschen einen Zugang zum Glauben finden und gemeinsam mit Zeugen des Glaubens im Glauben wachsen? Die spirituelle Dimension örtlicher Gemeinden ist hier zentral. Das fordert heraus: Gerade die Frage, wie Menschen aller Generationen einen Zugang zum Christusgeheimnis finden können – also die Frage der Evangelisierung und Katechese – wird die gewachsenen Christen herausfordern, selbst Wege des eigenen Glaubenswachstums zu gehen: den Umgang mit dem Wort Gottes, den Austausch der eigenen Glaubenserfahrungen zu fördern, die eigene Taufwürde und die eigenen Charismen zu entdecken und ins Spiel zu bringen, den Glauben in den Dienst der Sendung zu stellen – dies ist der Vollzug örtlicher Kirchlichkeit in Gemeinden, Verbänden und Einrichtungen. Das fordert zu einer Umkehr und zu neuen Prioritäten heraus. Allerdings setzt dies auch voraus, dass dieses farbige Bild einer Kirche, die sowohl vielgestaltig ist in ihren unterschiedlichen Bezeugungsorten des Evangeliums als auch in einer vielgestaltigen Bemühung um den Weg zum Glauben, einen Platz gefunden hat in Herz und Verstand des Gottesvolkes und aller pastoral Handelnden. Bewusstseinserweiterung ist hier das Gebot der Stunde. Aber zugleich ist auch das theologische Denken herausgefordert: Umkehr ist hier ein Prozess des Umdenkens. Es geht darum, vor dem Hintergrund dieser Skizze die Tradition der Kirche neu in den Blick zu nehmen.
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— Denkbaustellen einrichten —
Das ist der letzte Schritt, den wir im folgenden Kapitel wagen wollen. An ausgewählten – aber wohl zentralen – Fragestellungen wollen die Konsequenzen theologisch ausgelotet werden, die sich aus unseren Reflexionen ergeben haben. Die praktischen Konsequenzen gewinnen Gewicht und Seriosität, wenn sie eben nicht nur Antwort auf eine Krise sind, sondern auch eine stimmige Theologie und Ekklesiologie an ihrer Wurzel haben. Allerdings können fertige Antworten nicht Ziel dieses Buches sein. Worum es gehen kann, sind die Eröffnung der Fragehorizonte und vorsichtige Antwortversuche, die hier zur Diskussion gestellt werden sollen – eine Einladung, mit- und weiterzudenken63.
5.2 Theologie in einer anderen Perspektive Es braucht einen theologischen Aufbruch – und er wird wohl nicht durch die Theologischen Fakultäten, egal ob kirchlich oder staatlich, gelingen. Das Grundproblem akademischer Theologie ist ihre Abgelöstheit von den anderen theologischen Orten, vor allem aber von einem Raum gelebter Nachfolge und ekklesialer Existenz. Die Praxis der Nachfolge und die Praxis erfahrbarer Kirchlichkeit sind aber Voraussetzungen für eine Theologie, die Spiritualität und pastorale Praxis umfasst, und die fruchtbar sein kann für das Weiterdenken der Tradition wie für das Volk Gottes, das einer Reflexion seiner Praxis dringend bedarf. Die Grenzen dieses Gefüges sind ja bewusst gesetzt und lassen sich im Gefüge der gewachsenen Kirchengestalt überall wiederfinden: Wie kommt es eigentlich, dass Erwachsenenbildung nur selten eingebunden ist in einen Lebensraum gelebter christlicher Existenz? Wie kommt es, dass diözesane Fortbildungshäuser keinesfalls selbstverständlich ihre Fortbildung verknüpfen mit der li63 Mit dieser Veröffentlichung ist auch die Einrichtung einer theologischen Entwicklungswebsite verknüpft: www.istesmöglich.de. Sie dient dem Austausch von Erfahrungen und Reflexionen und will so einem Prozess gemeinsamer Wegfindung dienen. 200
5.2 t h e o lo gi e i n e i n e r a n d e r e n p e r s p e k t iv e
turgischen und spirituellen Dimension? Und wie kommt es umgekehrt, dass es in Klöstern diese selbstverständliche Verknüpfung gibt? Wie kommt es, dass auch in den Pfarreien und Einrichtungen Spiritualität und biblische Gruppen als strukturelle Randsiedlerei für Spezialisten gelten, Sitzungen und pastorale Initiativen einfach durchgeführt werden – und tendenziell keine theologische Erkenntnis am Wachsen ist: Ist Pastoral theologiefreie Praxis? Hier ergeben sich Fragen und Desiderate: Es geht darum, spirituelle geprägte Nachfolge, ekklesiale Existenz, pastorale Praxis und theologisches Nachdenken als ein Gesamtgefüge neu wahrzunehmen, das seinen Ausgang von einer neuen Kultur gelebten Glaubens und des partizipativen Kircheseins nimmt. Es braucht eine neue Art der Theologie, die aus der reflektierten Praxis lebt und eine Sprache spricht, die in aller Einfachheit zugänglich ist – und doch die theologische Komplexität nicht unterschreitet. Es braucht eine Theologie, die ihre Kategorien und ihre Tradition aus einem gelebten Leben des Gottesvolkes schöpft – und die darauf aufmerksam macht, dass die eigentliche Theologie, das eigentliche Sprechen Gottes, ihren Ort im Volk Gottes hat. Wie könnte eine solche Theologie aussehen? — Spuren —
Ein theologischer Vordenker des 20. Jahrhunderts, der protestantische Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, hat in seinem theologischen Lebenslauf schnell erkannt, dass ein abstraktes Nachdenken über die Kirche kaum fruchtbar sein kann: eine theologische Erkenntnis – so schreibt er in seinem Buch „Nachfolge“ – kann nicht unabhängig von der Existenz gewonnen werden. Die Konsequenzen waren für ihn klar. In einem Brief von 1935 an seinen Bruder schreibt er, dass die Erneuerung der Kirche wohl nur aus einer Art neuen Mönchtums und einem Leben aus der Bergpredigt gelingen wird. Bonhoeffer hat auch die praktische Konsequenz gezogen: das Predigerseminar in Finkenwalde, das die Bekennende Kirche in demselben Jahr seiner Leitung anvertraute, war der Versuch einer solchen existenziellen gemeinsamen Nachfolge, in 201
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der und durch die auch eine biblische Theologie, Dogmatik, Predigtlehre und Liturgik eine andere Gründung bekamen. Ähnliche Erfahrungen werden auch in einigen Ordensgemeinschaften und Kirchlichen Bewegungen angezielt. Die charismatische Lebenspraxis einer Glaubensgemeinschaft führt hinein in eine Art des Denkens und der Theologie, die das Gesamte der kirchlichen Tradition in einem neuen Licht erscheinen lässt – und neue Perspektiven hervorbringt. Das war die Stärke der Theologie der Väter, die deswegen ein konstitutives Ineinander von gelebter Nachfolge, theologischer Einsicht und Praxis des Kircheseins auszeichnete. Deutlich wird das in der Theologie eines Bonaventura, eines Thomas von Aquin oder der ersten Theologen der Jesuiten: Sie denken das empfangene Charisma, aber eben nicht unabhängig von der gelebten Existenz in Gemeinschaft, einer charismatischen Kirchlichkeit. Versuche in dieser Art gibt es auch bei der Gemeinschaft Emmanuel64 und in der Bewegung der Fokolare65. Überall zeigte und zeigt sich eine erstaunlich kreative Theologie, die weniger neue Inhalte hervorbringt als vielmehr „ganzheitlich“ das Erfahrene und Erlebte neu bedenken kann66. Welche Konsequenzen das haben könnte für die Ausbildung der Priester und Theologen, soll hier eigens in einem zweiten Schritt bedacht werden. Aber welche Konsequenzen hat dies vor allem für eine Erneuerung des Gefüges des Kircheseins?
64 Vgl. Akademie für Evangelisation in Altötting und Wien. Erste Informationen unter www.emmanuel-info.de. 65 Vgl. das Istituto Universitario Sophia in Loppiano. Erste Informationen unter www.iu-sophia.org. 66 Meine eigene theologische Denkbewegung ist von diesem Typus einer Theologie geprägt, die zunächst aus einem gemeinsamen geistlichen Leben wuchs, sich Schritt für Schritt in erste pastorale Erfahrungen auswirkte – und letztlich aber auch eine theologische Durchdringung nötig machte. Vgl. meine Versuche in C. Hennecke, Die Wirklichkeit der Welt erhellen, Paderborn 1997. 202
5.2 t h e o lo gi e i n e i n e r a n d e r e n p e r s p e k t iv e
— Ein Erfahrungsraum der Jüngerschaft und der Theologie? —
Dass sich im Kontext universitärer Theologie in absehbarer Zeit Veränderungen ereignen können, halte ich für eher unwahrscheinlich. Auch wenn es – gerade im Bereich der Lehramtsstudien für katholische Theologie – den Versuch von Mentoraten gibt, so zeigt doch auch hier die Ausgestaltung, dass letztlich eine gelebte Nachfolge wie auch ein gemeinschaftlicher Weg des Glaubens als Zusatz gedacht ist67, um vielen Studenten einen Weg zu einem gelebten Christwerden zu ermöglichen. Der Vorschlag hier ist ein anderer: um eine Kirchenentwicklung spirituell wie praktisch als auch in theologischer Tiefe zu ermöglichen, braucht es einen Erfahrungsraum, in dem Christinnen und Christen eine Praxis ekklesialer Nachfolge leben und auf eine pastorale Praxis vor Ort hin bedenken könnten. Die Erfahrungen, die in den vergangenen Jahren mit der „Summerschool“ im Bistum Hildesheim gemacht wurden, geben eine Richtung an, wie auf der Ebene der Pfarrei solche Räume wirken können. Auch die Gestaltung der „Workshops“ über einen Zeitraum von einem Jahr weist auf ein Format hin, das für die Zukunft weiter zu entwickeln ist: Der Rahmen eines solchen Gefüges spielt dabei eine entscheidende Rolle. Es braucht ein pastorales Team, das sich ganz hinter einen geistlichen, theologischen und pastoralen Entwicklungsprozess stellt und mit seiner Vision von einer partizipativen Kirche zu einem Weg einlädt, der die interessierten Christen zu Protagonisten eines kommenden Zukunftsprozesses macht. Gemeinsam verbrachte Zeit, gerade auch Abende und gemeinsames Essen gehören ebenso wesentlich dazu wie die liturgische und biblische Vertiefung des eigenen Glaubens. Formen des Bibelteilens und Stationsliturgien, Stille und Austausch prägen jeden Schritt auf einem theologischen Lernweg, der in einfacher Weise die Grundelemente einer Theologie der Kirche, einer 67 Keine Frage, Mentorate sind sinnvoll – aber die Grundproblematik ist damit nicht gelöst. 203
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Theologie der Kirchenentwicklung und der dahinterstehenden Theologie des II. Vatikanischen Konzils auf eine sehr partizipative Weise erarbeitet. Natürlich gründet eine solche Volkstheologie in einer Theologie, die akademischen Standards gerecht wird und die große kirchliche Tradition hinter sich weiß – entscheidender ist es aber, dass diese Theologie vom Leben und der angezielten Ekklesiopraxis geprägt ist, und dass sie auf eine Theologie und Praxis zielt, die für möglichst viele Menschen zugänglich ist. Der hier gemachte Vorschlag zielt mithin auf einen dreifachen Weg: –– Es wäre hilfreich und für die Zukunft geradezu notwendig, wenn für die Theologenausbildung Erfahrungsräume geschaffen werden, in denen das Leben aus dem Glauben, Erfahrungen einer gemeinsamen gelebten Spiritualität und das gemeinsame theologische Nachdenken in pastoraler Absicht möglich werden. –– Es braucht für die pastoralen Teams eines Dekanats oder einer Pfarrei, zu denen auch Leiter von Einrichtungen, Schulen und der Caritas gehören, zunehmend Tage der Reflexion und geistlicher Vertiefung, die es ermöglichen, eine gemeinsame Zukunftsvision zu entdecken und eine partizipative Kultur des Kircheseins zu „erfahren“ und zu durchdenken. Dort, wo dies geschieht, kann auch ein pastoraler Prozess vor Ort sehr fruchtbar werden, gerade auch deswegen, weil aus allen Teilen des Gottesvolkes weitere Teammitglieder in ein solches Entwicklungsteam gehören. –– Schließlich braucht es Erfahrungsräume für die Christen in den Gemeinden, die zusammen mit ihren Verantwortlichen die Zukunft der Kirche vor Ort gestalten und verantworten. Es ist unschwer zu erkennen, dass dies gewichtige Konsequenzen für die gesamten Fortbildungsstrukturen hat. Vor allem aber wird ein theologisches, spirituelles und pastorales Grundverständnis zugrunde zu legen sein, das doch nur mit einer Neuausrichtung und einem Neuverstehen der Theologie als Frucht gemeinsam gelebter Nachfolge einhergehen kann. Wann kommt der Kairós für eine solche neue Theologie und Pastoral? 204
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5.3 Lernen von den Zeichen der Zeit Die Rede von der Krise ist allgegenwärtig – und zuweilen hat es den Eindruck, als ob wir in einer Welt leben, die von vielfältigen Abbrucherscheinungen gekennzeichnet ist. Zu allen Zeiten ist das wahr: Die Ambivalenz der jeweiligen Zeitepoche, der Wandel von Werten und Kulturen, die Bedrohungen der Menschlichkeit, Machtstreben und Untergangsbefürchtungen – all das kann jede Zeitdiagnostik aller Jahrhunderte bezeugen. Zugleich ist aber auch wahr, dass in jeder Zeit der Geist Gottes am Wirken ist – und die Welt in all ihrer Ambivalenz erreicht und durchdrungen wird von einer Kraft, die „das Angesicht der Erde“ erneuert. Das pfingstliche Ereignis, die Gabe des Geistes über alle Kreatur, verhindert einen dekadenzorientierten Blick. Und sie ermöglicht, mitten in den Krisen und Umbrüchen die Hinweise auf die Zukunft zu entdecken. Das staunende Entdecken dieser Zeichen ist für die Kirche lebenswichtig, um das Evangelium verkünden zu können. — Die eigene Botschaft tiefer erfassen —
Kirche ist nicht nur eine Lerngemeinschaft als Catholica, die durch die globale Vernetzung immer wieder neue Impulse des charismatischen Aufbruchs erhält. Die Kirche lernt auch von der Welt: „Es ist jedoch Aufgabe des ganzen Gottesvolkes, vor allem auch der Seelsorger und Theologen, unter dem Beistand des Heiligen Geistes auf die verschiedenen Sprachen unserer Zeit zu hören, sie zu unterscheiden, zu deuten und im Licht des Gotteswortes zu beurteilen, damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfasst, besser verstanden und passender verkündet werden kann.“ (Gaudium et spes 44) Das ist ein herausfordernder Gedanke: denn es geht nicht darum, Zeichen der Zeit zu entdecken und bei der eigenen Verkündigung zu berücksichtigen – es geht vielmehr um die Botschaft vom Heil und ihr Verstehen in einer ganz grundsätzlichen Weise: Die Wahrheit des Evangeliums erschließt sich immer mehr durch die Welt und ihre „Sprachen“, ihre „Zeichen der Zeit“: Sie machen das Evangelium in der jeweiligen Zeit für uns Christen deutlicher – und ermöglichen eben auch die Verkündigung des Evangeliums 205
5. i m p u l s e z um w e i t e r d e n k e n
in der Sprache der Menschen. Noch einmal: Werte wie Freiheit, Selbstbestimmung und Vielfalt bezeichnen dann nicht zuerst und vor allem das Ende einer bestimmten Kultur und Sozialgestalt des Evangeliums, sondern schließen dieses Evangelium auch für die Christen neu auf, ermöglichen und vertiefen seine relevante Bezeugung: „Die Welt, als Welt Gottes verstanden, ist ein ‚Text‘, der unvoreingenommen und wohlwollend studiert werden will, damit er seinen Sinn enthüllt ...“68 – und noch mehr: das Evangelium neu erschließt. Mit anderen Worten gesprochen: „Im Glauben daran, dass es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind.“ (Gaudium et spes 11) Theologisch bleiben hier die Frage und die Herausforderung, wie die Zeichen gedeutet werden können – und wie daraus ein Neuverständnis des Evangeliums wächst, das der Verkündigung dienen kann. Partizipation, die eigene Freiheit und der eigene Weg, die lebenslangen Lern- und Suchprozesse, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Entschiedenheit und Identität, die Bereitschaft zur Gabe und der Wunsch, die eigenen Gaben einzubringen – das sind nur einige Hinweise, die gedeutet werden wollen angesichts einer globalisierten Welt und in einer Kirche, deren milieuhafte Grundgestalt kaum Zukunft haben wird. Wie Benedikt XVI. in Deutschland deutlich angemerkt hat, kann es nicht darum gehen, aus diesen Grundhaltungen und ihrer Deutung heraus neu Menschen an eine Institution zu binden: Der Modus christlicher Existenz ist existenziell und wegorientiert. Ohne eine personale Beziehung zum Christusgeheimnis ist Glaube nicht denkbar: Alle kirchlichen Strukturen sind dafür da, diese Begegnung und ihre Wachstumsdynamik zu eröffnen, zu ermöglichen, zu begleiten und zu reinigen. Insofern haben sie Sinn – und sind unverzichtbar 68 W. Schaupp, a. a. O., 74f. 206
5.3 l e r n e n vo n d e n z e i c h e n d e r z e i t
Natürlich kann der Blick auch auf all die negativen Zeiterscheinungen fallen, denen aus der Sicht des Evangeliums deutlich zu widersprechen ist. Es fällt nicht schwer, verschiedene Zeittendenzen zu verurteilen, und mit Recht. Allerdings braucht es auch hier eine deutliche Unterscheidung der Geister: Es könnte ja auch sein, dass sich hinter menschenunwürdigen Entwicklungen und Trends genau jene Ratlosigkeit verbirgt, die dann eintritt, wenn Menschen eben nicht die gnadenhafte Begegnung mit dem Christusgeheimnis in sich verspüren konnten. Genau das macht noch einmal dringlich, danach zu fragen, wie die hervorkommenden Werte unserer säkularen Gesellschaft zum einen uns selbst neue Einsicht in die Tiefe der offenbarten Wahrheit schenken – und wie andererseits die Ambivalenz dieser Werte im Licht des Evangeliums unterscheidbar wird. — Im Licht des Evangeliums unterscheiden lernen —
Wer die Apostelgeschichte unter diesem Fokus liest, dem wird schnell deutlich, dass die Voraussetzung für einen solchen Unterscheidungsprozess eine echte vielfache Herausforderung bedeutet: Zunächst und vor allem setzt ein Unterscheidungsprozess eine Gemeinschaft des Evangeliums voraus, die sich der Tradition der Offenbarung bewusst ist: Was zeigt sich im Wort Gottes und in dessen gelebter Tradition? Damit wird deutlich, dass eine solche Unterscheidung der Geister immer eine tiefe Verwurzelung im Christusgeheimnis bedarf. Es ist die Erfahrung der Emmausjünger, die hier leitend wird. Erst dann, wenn eine kirchliche Gemeinschaft sich selbst dem Wort Gottes öffnet und dieses Wort in der Christusgegenwart sich erschließt, können die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums gedeutet werden. Es reicht also weder, sich auf eine aktualistische Zeitgenossenschaft und Geistesgegenwart zu berufen, noch ist es genügend, die Tradition und die Schrift zu kennen. Im Dreiklang von Austausch der Erfahrungen und Hören der Schrift im Lebensraum des gegenwärtigen Christus wird eine Entdeckung neuer Wege möglich, die Gott mit seinem Volk geht. 207
5. i m p u l s e z um w e i t e r d e n k e n
Ohne diesen Dreiklang wird eine Deutung der Zeichen der Zeit unausgewogen. Vor allem wird es dann nicht möglich sein, durch diese Zeichen selbst das Evangelium neu zu lernen, wie es die Jünger von Emmaus taten: „Musste nicht der Menschensohn all das erleiden ...“ Der Tag der Auferstehung ist für die Jünger in der Tat eine Erfahrung lernender Nachfolge, die sich ihnen einbrennt. Nicht nur die Begegnung mit dem Auferstandenen, sondern vor allem die neue Perspektive des eigenen Glaubens, des eigenen Lebens und der eigenen Tradition sind hier bedeutsam. — Lernen von Aufbrüchen —
Ein solcher Lernprozess kann nicht in erster Linie theoretisch geschehen, sondern nur praktisch. Natürlich braucht es auf der einen Seite Konzilien und Prozesse lehramtlicher Entscheidungsfindung, natürlich braucht es auch theologische Reflexion – der grundlegende Unterscheidungsprozess aber liegt, so will mir scheinen, in der Konsonanz des Geistes Gottes in seiner Kirche. Es ist ja derselbe Geist, der den Erdkreis erfüllt und die Kirche erneuert: Die Charismen und Neuaufbrüche in unseren Kirchen sind geradezu evangeliumsgemäße Antwortversuche auf die Zeichen unserer Zeit. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Geschichte der Kirche aus der Perspektive der Aufbrüche, Ordensgemeinschaften und charismatisch-prophetischen Impulsen lesen. Johannes Paul II. hatte hier von der marianischen Dimension der Kirche gesprochen, die als charismatische Dimension den Strukturen vorausgeht. Benedikt XVI. formuliert seinerseits nüchtern: „Es gibt die bleibende Grundform des kirchlichen Lebens, in der sich die Kontinuität ihrer geschichtlichen Ordnungen ausdrückt. Und es gibt die immer neuen Einbrüche des Heiligen Geistes, die dieses Gefüge lebendig und neu machen, aber dieses Neumachen geht kaum je ganz ohne Schmerzen und Reibungen ab“. Es sind eben diese oft „schmerzhaften“ Neuaufbrüche, aber auch die schmerzhaften Entwicklungen alter Aufbrüche, die einen Hinweis auf die Neuheit des Evangeliums geben können – 208
5.3 l e r n e n vo n d e n z e i c h e n d e r z e i t
und zugleich aufgreifen, was von den Entwicklungen der Gesellschaft und ihrer Kultur aufzugreifen ist für die Kirche als Ganze. Mir scheint, dass dies ein Schritt ist, vor dem vor allem die Ortskirchen noch stehen: Verbände und Geistliche Gemeinschaften, Kirchliche Bewegungen und neue pastorale Impulse „passen“ zuweilen nicht in das Gefüge ortskirchlicher Gewohnheit. Auch in den Pfarreien wird eine Inkompatibilität sehr schnell spürbar. Häufig aber lernen wir als Kirche zu wenig von diesen scheinbaren Inkompatibilitäten. Wir halten sie aus. Konkret aber sind diese Aufbrüche entstanden, um eine Antwort und eine neue Art der Verkündigung zu urgieren – und natürlich auch, um neue Gestalten und Sozialformen des Kircheseins zu bezeugen. Das Volk Gottes vor Ort, und auch die Kirche in ihrer verfassten sakramentalen Struktur, könnten sich sehr leicht einlassen auf diese Steilvorlagen des Heiligen Geistes. Gewiss, und das tut die Kirche auch, ist dies verknüpft mit einer Prüfung, ob denn der Geist Gottes wirklich in einem neuen Aufbruch spricht (was man im Wesentlichen an seiner Kirchlichkeit erkennt). Doch diese Prüfung darf nur der erste Schritt sein. Es darf nicht passieren, dass man im Namen katholischer Vielfalt einfach auch neue Formen aushält, sich im Wesentlichen aber am „Normalgefüge“ (Benedikt XVI.) ortskirchlicher Pfarreien orientiert. Die charismatischen und prophetischen Aufbrüche wollen tiefer wahrgenommen werden. In Poitiers habe ich gelernt, dass die Ortskirche in ihren Verantwortlichen sich in jedem Jahr mit den unterschiedlichen Gemeinschaften und Bewegungen zusammensetzt und versucht, in einer „Relecture“ zu lernen, was das Evangelium in Verbänden, Orden und Gemeinschaften erneuert hat und erneuern will. Für eine kirchliche Deutung der Zeichen der Zeit im Sinne des Lernens der Neuheit des Evangeliums und einer angemessenen Evangelisierung halte ich es für unabdingbar, dass die Begegnung mit Verbänden, Orden und geistlichen Gemeinschaften nicht nur der Kontaktkontinuität und der Lösung von Problemen gilt – so wichtig das ist –, sondern zu einem Lernort für die Aktualität des Evangeliums und seiner neuen Lebensformen wird. 209
5. i m p u l s e z um w e i t e r d e n k e n
In der Tat scheint mir, dass wir erst am Anfang eines solchen Lernprozesses stehen – auch in der Wahrnehmung der jeweiligen Lernorte. Deshalb gälte es, Begegnung des Lernens zu in stallieren, z. B. mit den vielfältigen Einrichtungen der Caritas, der Schulen und der vielen Einrichtungen in allen Bereichen, die ja so etwas wie die „Außenhaut“ der Kirche darstellen. Nicht die Erstellung von Programmen, sondern das regelmäßige dialogische Hören, das sorgfältige Verknüpfen mit dem Evangelium und die daraus folgenden Lernschritte könnten so den Weg zu einer lernenden Kirche bahnen, die ihre Tradition und das Evangelium neu verstehen kann und Antworten findet, wie das Evangelium den Menschen angeboten werden kann.
5.4 Jenseits der treuen Kirchenfernen Es mag einfach praktisch sein – aber es führt nicht in die Zukunft. Denn die Kategorien stimmen so nicht, und sie sind theologisch nicht zu rechtfertigen. Es geht um die Vielfalt der impliziten Bewertungen. Die Rede vom „praktizierenden Katholiken“ führt genauso in die Irre wie das Sprechen von „Kasualienfrommen“, von denen, die „nur Dienstleistungen wollen“ oder von „Fernstehenden“, selbst wenn sie „treue Kirchenferne“ sind. Dies lässt sich soziologisch noch klüger zum Ausdruck bringen, macht es theologisch aber auch nicht besser. Die Sinusstudie hat den deutschen Katholizismus darüber aufgeklärt, was als Erfahrung schon immer deutlich war: die Feier der Sonntagseucharistie, aber auch die Beteiligungsstruktur der „Gemeinden“ ist begrenzt auf inzwischen sehr wenige Milieus zwischen Postmateriellen und Konservativen. Was zweifellos in den meisten Fällen stimmt, sagt dennoch erst mal weniger aus, als es der alarmierende Befund provoziert. So sehr die soziologischen Untersuchungen wie auch die Kategorisierungen der Getauften einleuchten, sie beinhalten, reflektieren immer auch ein bestimmtes, historisch gewachsenes Kirchenbild. Und das scheint dann normative Grundwirklichkeit zu sein. Zugleich zeigt sich dabei auch eine Theologie, die vor dem Hinter210
5.4 j e n s e i ts d e r t r e u e n ki rc h e n f e r n e n
grund einer milieuorientierten Volkskirchlichkeit davon ausgeht, dass alle Christen initiiert sind und deswegen ja eigentlich eine volle Teilhabe zur geforderten Normalität gehören würde. Aber genau das stimmt ja nicht. Wir leben jenseits einer gemeindekirchlich transformierten Milieukirche in einer neuen Situation. Schon Danielle Hervieu-Leger hat für den französischen Sprachraum eine Überprüfung gewohnter Kategorien angemahnt: Der „Normtyp“ des französischen Katholiken ist eben nicht der „praktizierende Katholik“, sondern sind eher die „Pilger und Konvertiten“69: Damit wird eine Dynamisierung der Christwerdungsprozesse deutlich ansichtig: Sobald nicht mehr der praktizierende Katholik die für selbstverständlich erachtete „Norm“ ist, sondern Weg und Wegstrecke zum Christusgeheimnis den Lebens- und Lernprozess der Zeitgenossen beschreiben, gerät alles in Bewegung. Urteile über die Beweggründe jener, die auf ihrem Entdeckungsweg sind, können sich zwar an der Norm der milieuhaft geprägten Christen und ihrer volkskirchlichen Gemeindegestalt orientieren, verraten aber eine soziologische Binnensicht und unterbieten die theologischen Standards der konziliaren Ekklesiologie. — Von Christus aus schauen lernen —
Faktisch ereignet sich, so zeigte sich, eine Art kopernikanische Wende der Ekklesiopraxis: Das innere Empfinden der Gemeindetheologie orientierte alle anderen Sozialformen wie auch den Beteiligungsgrad der Christen an der als Normform gedachten Sonntagsgemeinde. Die Überlegung stammt aus einer milieuhaften Volkskirchlichkeit und ihrer Theologie selbstverständlichen Christseins. Im Blick auf die Transformationen der Kirchengestalt in ein vielfältiges und vielpoliges Netzwerk kirchlicher Orte, die sich im Gefolge der gesellschaftlichen Wandlungen ergeben haben, rückt jene Theologie in den Blick, die von Christus aus die Kirche als eschatologisch ausgerichtetes Volk Gottes versteht und damit 69 Vgl. Danielle Hervieu-Leger, Pilger und Konvertiten, Würzburg 2005. 211
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auch einen neuen Zugang zur Weggestalt des Glaubens und einer Vielfalt kirchlicher Sozialformen findet. Was sich als kopernikanische Wende der Kirche zeigt, rückt Christus in die Mitte und beschreibt den Pilgerweg des Glaubens wie die daraus wachsenden Sozialformen aus dieser Perspektive. Das II. Vatikanische Konzil hat dieser Theologie den Raum bereitet und griff dabei zurück auf die Theologie des großen Kirchenlehrers Thomas von Aquin. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes formuliert diese christozentrische Perspektive: „Da nämlich Christus für alle gestorben ist und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein“ (GS 22). — Vom Wachsen und Über-sich-Hinauswachsen der Kirche —
Damit greift Gaudium et spes auf, was in der Kirchenkonstitution Lumen Gentium für eine zukünftige Kirchenentwicklung grundgelegt wurde. Denn das ist eine wichtige Perspektivöffnung, die das Konzil mit der Rede vom Volk Gottes auf dem Weg und der ihr innewohnenden eschatologischen Dynamik ermöglicht. Zum einen weiß sich das Volk Gottes auf dem Weg zum himmlischen Jerusalem, und so sind historisch gewachsene Sozialformen immer im Übergang, nie „fertig“: Es gehört zu den jeweils in jeder geschichtlichen Epoche wiederkehrenden Versuchungen, die „Zeltgestalt“ gemeinschaftlichen Glaubens verstetigen zu wollen. Und diese Versuchung wird übermächtig, wenn die eschatologische Sicht einer kontinuierlichen Weggeschichte der Überschreitung hin zum Eschaton aus dem Blick gerät. Man könnte formulieren: Je weniger eine lebendige Christuserfahrung und damit eine Christusorientierung vorhanden sind, desto mehr riskieren eine Ekklesiopraxis und ihre Sozialformen eine Gestaltsklerose, desto weniger öffnet sich der Blick für das je neue Zelt Gottes auf Erden: Das „Haus voll Glorie schauet“ wird in die Jetztzeit verlegt. Zum anderen legt aber die Rede vom Volk Gottes unterwegs auch eine Pluralität und Vielpoligkeit der Kirchengestalt nahe, 212
5.4 j e n s e i ts d e r t r e u e n ki rc h e n f e r n e n
die sich gründet in der Pilgergestalt des Glaubens selbst. Lumen Gentium entfaltet eine Theologie der Katholizität, die einen neuen Blick auf die ekklesiale Zugehörigkeit wirft und eine Dynamisierung und ein Wachsen der Glaubensprozesse impliziert. Dies hat Konsequenzen für den Blick auf die pastorale Situation. „Zum neuen Gottesvolk werden alle Menschen gerufen. Darum muss dieses Volk eines und ein einziges bleiben und sich über die ganze Welt und durch alle Zeiten hin ausbreiten. So soll sich das Ziel des Willens Gottes erfüllen, der das Menschengeschlecht am Anfang als eines gegründet und beschlossen hat, seine Kinder aus der Zerstreuung wieder zur Einheit zu versammeln“ (LG 13). Indem das Konzil von einer Berufung aller Menschen durch Christus ausgeht, wird es möglich, eine dynamische Hinordnung aller Menschen in Bezug auf das von Christus gesammelte und zu sammelnde Gottesvolk zu formulieren. Das Konzil greift dabei die kühnen theologischen Überlegungen auf, die Thomas von Aquin in der Summa Theologica (III 8, 3) wagte: Christus ist als Erlöser aller Menschen auch ihr Haupt. Er eröffnet den Raum möglicher Antwort jedes Menschen, ernötigt sie jedoch nicht: „Wo die Zustimmung zum Haupt-Sein Christi fehlt, ist er gleichsam reales, aber nicht realisiertes Haupt ... Er ist Haupt, d. h. reales Angebot erlösten Menschseins auch dort und für den, der dies nicht weiß oder nicht will. Aber solange menschliche Freiheit sich nicht darauf einlässt, steht sie nur in der Möglichkeit (potentia) zur Eingliederung in den Leib dieses Hauptes.“ 70 — Konsequenzen der Zugehörigkeit —
Damit öffnet sich ein weiter Horizont. Denn vor diesem Hintergrund wird die neue Glaubenssituation, in der wir stehen, nicht als Defizitorientierung zu einer bestehenden Kirchengestalt, sondern in ihrer Wachstumsorientierung auf Christus hin gesehen. Das hat Folgen: Mit der Tradition der Kirche, mit dem Denken 70 Max Seckler, Das Haupt aller Menschen, in Ders., Die schiefen Wände des Lehrhauses, Freiburg 1988, 26–39, 32. 213
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des Thomas und der Linie des II. Vatikanischen Konzils wird formale Zugehörigkeit nicht mit der existenziellen Zugehörigkeit gleichgesetzt. Das bedeutet nun aber auch, dass in einer missionarischen Grundsituation der Evangelisierung und des Katechumenats die verschiedenen „Stufen“ auf dem Glaubensweg als Orte der Glaubensverkündigung beschreibbar werden – und zugleich ermöglichen, dass unterschiedliche Orte kirchlichen Lebens nicht im wertenden Sinn von „eigentlich“ und „uneigentlich“ benannt werden können: Ja, es wird in Zukunft eher so sein, dass viele Orte anfänglicher Kirchlichkeit wachsen und entstehen, dass zugleich viele Orte des Kircheseins den katholischen Kosmos der Zugehörigkeitsmöglichkeiten abbilden – und sie reichen weit über die Grenzen kirchlicher Sozialformen hinaus. Auch hierfür ist Thomas Zeuge: „Wo die Liebe ist, ist verwirklichter Leib Christi, und zwar, wir wir hinzufügen dürfen, auch ohne ausdrücklichen und sich seiner selbst als solcher bewussten Glauben. Freier und sachgerechter wurde theologisch in dieser Frage kaum je gedacht.“71 — Treue Kirchenferne? Von der Notwendigkeit des hervorbringenden Blicks —
Warum es einerseits so bequem, andererseits unangemessen (und theologisch unangebracht) ist, von „treuen Kirchenfernen“ zu sprechen, wird also mehr als deutlich. Eine soziologische Analyse wie die der Sinusstudie kann zwar Bezüge zu einem bestimmten Kirchentyp beschreiben, ist aber dennoch nicht aussagefähig ist für den eigentlichen Wandlungsprozess der Kirche. Die Kirchenferne lässt sich nicht messen – oder doch nur dann, wenn mit Kirche ein gemeindlicher Rahmen verwechselt wird. Sie lässt sich auch nicht an Gottesdienstbesucherzahlen messen. Die geringe Zahl derer, die am eucharistischen Opfer teilhaben, weist nur darauf hin, dass die existenzielle Wende des Christseins in Prozesse des Christwerdens dazu führt, dass weniger Menschen das Christusgeheimnis in seiner Tiefe entdecken konnten. Zugleich aber 71 Ebd. 39. 214
5.5 di e s a k r a m e n ta l e g r u n d st r u k t u r d e r ki rc h e e n t fa lt e n
kann es gelingen, unsere Zeitgenossen wahrzunehmen auf ihren unterschiedlichen Wegen zur Vollendung der einen göttlichen Berufung – und die Konsequenzen zu ziehen. Vor allem wird es eben darum gehen, einen defizitorientierten Blick zu transformieren in einen hervorbringenden Blick: Denn wen Christus erlöst hat, der ist auf dem Weg zu ihm. Und es wird dann immer unmöglicher, ihn als reinen Klienten oder Kunden einer Dienstleistung wahrzunehmen. Vielmehr stellt sich die Frage, wie auf den verschiedenen Wegstrecken des Lebens und der damit verknüpften Offenheit für das Christusgeheimnis dieses Geheimnis angemessen erschlossen werden kann. Ja, die eigentliche Konversion steht hier an: vielfältige Gelegenheiten zu eröffnen, auf dass die vielen „Männer und Frauen der Seligpreisungen“ (P. Bacq) den entdecken dürfen, der ihnen Leben und Licht schenken kann. Das ist eine große Herausforderung. Doch wenn man nur genau hinschaut, dann entdeckt man, dass die Chancen und Möglichkeiten alle vorhanden sind. Vielleicht ist die Gesellschaft, in der wir leben, eben doch viel geöffneter für das Christusgeheimnis, als wir ihr unterstellen. Und vielleicht dürfen wir offener werden für die vielgestaltigen katechumenalen Kirchengestalten, die „Kirchen mit ,Beginnern‘ “, die es zu gestalten, zu schützen und zu fördern gilt.
5.5 Die sakramentale Grundstruktur der Kirche entfalten: Die Dreiheit der Kommunionen „Das Erfordernis der Weitergabe des Glaubens, die keine individualistische oder einsame Aktion darstellt, sondern ein gemeinschaftliches, kirchliches Ereignis ist ... muss zu einer Frage werden, welche die Kirche sich selbst stellt. Das führt dazu, das Problem nicht in einer äußerlichen Weise anzugehen, sondern es betrifft die Kirche in ihrem Sein und in ihrem Leben. Mehr als eine Teilkirche bittet die Synode, zu überprüfen, ob die Unfruchtbarkeit der Evangelisierung heute, der Katechese in der jüngsten Zeit, vor allem ein ekklesiologisches und spirituelles Problem 215
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ist. Man denkt über die Fähigkeit der Kirche nach, sich als wahre Gemeinschaft, als wahre Bruderschaft, als Leib darzustellen, und nicht als Betrieb“.72 Der Hintergrund ist deutlich konturiert: Der Weg zum christlichen Glauben ist nicht zuerst eine Frage an die Evangelisierung und Katechese und ihre Wege und Methoden, sondern vielleicht vor allem eine Frage an die grundlegende Erfahrung des Kircheseins. Denn die Erfahrung des Christseins in Gemeinschaft als sakramentale Erfahrung der Gegenwart des Auferstandenen ist die gründende Wirklichkeit der Kirche. Wenn die Synode zur Neuevangelisierung diese Perspektive öffnet, dann ist nach einem tiefen Ineinander der sakramentalen Communio gefragt, das erfahrbar sein will. — Drei Kommunionen —
Die Grundfrage ist eucharistisch: Ist das, was wir in der Eucharistie feiern, im Leben des Gottesvolkes erfahrbar? Und wie könnte es erfahrbar werden? Der lehramtliche Text spricht von wahrer Gemeinschaft, wahrer Bruderschaft und einer Erfahrung der Kirche als lebendiger Leib Christi. Im Hintergrund des theologischen Nachdenkens steht eine Ekklesiologie der Communio. Communio ist aber nicht als statische Wirklichkeit und Vorfindlichkeit zu verstehen, sondern als Ineinander sakramentaler Vollzüge, die sich wechselseitig hervorbringen und aufeinander verweisen. Dies soll kurz bedacht werden. Theologisch beschreibbar wird dies im Blick auf die vielfachen Erfahrungen des Bibelteilens. Der gestaltete innere Vollzug hat kirchenbildende Kraft: Die Wahrnehmung der Gegenwart des Auferstandenen schafft einen Raum des Hörens und der Geschwisterlichkeit, lässt einen Ort des Kircheseins entstehen, der um die anvertraute Sendung weiß. Die Kommunion mit dem Wort des Evangeliums ist also hineingewoben in einen spezifischen 72 So das Instrumentum Laboris der Bischofssynode zur Evangelisierung, Nr 11. 216
5.5 di e s a k r a m e n ta l e g r u n d st r u k t u r d e r ki rc h e e n t fa lt e n
Horizont gegenseitiger Annahme und Offenheit. Dieser aber ist nicht gegründet in Vertrautheit und Sympathie, sondern ist selbst Folge der Gegenwart des Auferstandenen. Die Kommunion mit dem Wort Gottes macht deutlich, dass die Kirche „creatura verbi“ ist: Geschöpf des anwesenden Herrn, der sich sein Volk sammelt durch sein ansprechendes und rufendes Wort – als wahre Gemeinschaft, als Leib. — Die sakramentale Grundstruktur der Kirche —
Kirche wird verstehbar als „Grundsakrament“, wenn sie erfahrbar wird als Gemeinschaft in der Gegenwart des Auferstandenen. Dann wird auch erfahrbar, dass gelebte Geschwisterlichkeit eine sakramentale Erfahrung ist: Wo Menschen lieben, wo einer für den anderen einsteht, begegnen wir einander in Christus und begegnen wir Christus: Ubi carias et amor, Deus ibi est. So wird auch deutlich, dass die Sakramentalität der Communio der Christen nicht in ihrer Vorfindlichkeit, sondern im Vollzug ihrer Wechselseitigkeit „wirklich“ werden kann. Das hat überzeugend Johannes Paul II. verdeutlicht, als er in seinem apostolischen Schreiben „Novo Millennio Ineunte“ genau diese Herausforderung beschrieb: „Vor der Planung konkreter Initiativen gilt es, eine Spiritualität der Gemeinschaft zu fördern, indem man sie überall dort als Erziehungsprinzip herausstellt, wo man den Menschen und Christen formt, wo man die geweihten Amtsträger, die Ordensleute und die Mitarbeiter in der Seelsorge ausbildet, wo man die Familien und Gemeinden aufbaut. Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet vor allem, den Blick des Herzens auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu lenken, das in uns wohnt und dessen Licht auch auf dem Angesicht der Brüder und Schwestern neben uns wahrgenommen werden muß. Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet zudem die Fähigkeit, den Bruder und die Schwester im Glauben in der tiefen Einheit des mystischen Leibes zu erkennen, d. h. es geht um ,einen, der zu mir gehört‘, damit ich seine Freuden und seine Leiden teilen, seine Wünsche erahnen und mich seiner Bedürfnisse annehmen und ihm schließlich echte, tiefe Freundschaft anbieten kann. Spiritualität der Gemeinschaft 217
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ist auch die Fähigkeit, vor allem das Positive im anderen zu sehen, um es als Gottesgeschenk anzunehmen und zu schätzen: nicht nur ein Geschenk für den anderen, der es direkt empfangen hat, sondern auch ein ,Geschenk für mich‘. Spiritualität der Gemeinschaft heißt schließlich dem Bruder ,Platz machen‘ können, indem ,einer des anderen Last trägt‘ (Gal 6,2) und den egoistischen Versuchungen widersteht, die uns dauernd bedrohen und Rivalität, Karrierismus, Mißtrauen und Eifersüchteleien erzeugen. Machen wir uns keine Illusionen: Ohne diesen geistlichen Weg würden die äußeren Mittel der Gemeinschaft recht wenig nützen. Sie würden zu seelenlosen Apparaten werden, eher Masken der Gemeinschaft als Möglichkeiten, daß diese sich ausdrücken und wachsen kann.“ So gelebte „Kommunion“ ist also sakramental, weil in ihr der Leib Christi in seinem Vollzug erfahrbar wird. Was Mt 18,20 also benennt, wenn von der Versammlung zweier oder dreier in seinem Namen die Rede ist, ist die Gegenwart des Herrn inmitten der Seinen, die aus der Kraft seiner Gegenwart die Gemeinschaft gestalten: „Christus ist unter euch. Er ist die Hoffnung auf Herrlichkeit“ (Kol 1,27). „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug der Einheit Gottes mit der Menschheit und der Menschen untereinander“, wie Lumen Gentium 1 programmatisch formuliert. Diese gnadenhafte Wirklichkeit wird genährt durch die Feier der Eucharistie, die ihrerseits ja den Raum der Kirche voraussetzt: Durch die Taufe zum Volk Gottes gesammelt in den einen Christus, wird diese sakramentale Wirklichkeit lobpreisend gefeiert und durch das eucharistische Mahl neu aktualisiert. Das geschieht natürlich in jeder Feier der Eucharistie – und zugleich ermöglicht die gelebte Communio die Erfahrung nährender Liturgie. Das bekannte Wort des Augustinus: „Empfangt, was ihr seid: Leib Christi, werdet was ihr empfangt: Leib Christi“ will eben vom Vollzug der Communio her gelesen werden. Die drei Kommunionen beschreiben somit in ihrem Ineinander den Raum der göttlichen Gegenwart. Aber dieser Raum ist selbst Ausdrucksgestalt der Communio und Ausdruck einer Spiri218
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tualität, die sich nicht auf sichtbare Grenzen kirchlicher Gemeinschaften begrenzen lässt. Die Gemeinschaft im Wort und die Feier der Eucharistie werden ermöglicht und ermöglichen zugleich die Gemeinschaft der Brüder und Schwestern, in einer Liebe, die vom Geheimnis der Anwesenheit Christi in der Kirche dann bezeugend spricht, wenn sie wechselseitige Ekklesiopraxis wird. Umgekehrt gilt aber eben auch: Dort, wo das Wort Gottes nicht im Raum gelebter Communio gehört wird, bleibt es als Wort Gottes kaum vernehmbar und wird dann nicht Nahrung zum Aufbau des Leibes Christi. So sehr also das Wort Gottes verkündigt wird, so sehr fehlt ihm der Resonanzraum in der Gemeinschaft der Christen. Was im Bibelteilen existenziell eingeübt wird, ist ja nicht eine optionale Orientierung, sondern beschreibt den Wesensvollzug des Hörens in Gemeinschaft, das eine konstitutive Dimension kirchlicher Communio ist. Ähnlich gilt das wohl für die Feier der Eucharistie. Schon im 1. Korintherbrief weist Paulus darauf hin, dass gelebte Communio wesentliche Vorbedingung für die Feier des Herrenmahles ist. Man kann nicht glaubhaft Eucharistie feiern, wenn sie nicht durch eine Spiritualität in Gemeinschaft bezeugt wird, die „Christus in seiner vollendeten Gestalt“ (Eph 4,12) darstellt. — Konsequenzen —
Mit der Rede von den „drei Kommunionen“ und ihrer wechselseitigen Wirkung wird die sakramentale Grundstruktur der Kirche existenziell erschlossen. Vor allem aber wird deutlich, dass dieses dynamische Gefüge der Kommunionen Vereinseitigungen verhindern kann: Ohne die gelebte Communio der Kirche hängen das Hören des Wortes und die Feier der Eucharistie irgendwie in der Luft und können ihre kirchenbildende Kraft nicht entfalten. Und umgekehrt wird der Verlust von Wort und Eucharistie die Gemeinschaft der Kirche verkümmern lassen zu einer Versammlung einzelner Interessierter, zu einem Verein. Bedeutsam wird dann aber immer mehr die Frage, wie aus der Kraft der Eucharistie eine alltägliche Lebensgestalt des Kircheseins erwachsen kann: Das Hören des Wortes ist die alltägliche 219
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Nahrung der Gemeinschaft, die aus der Eucharistie hervorgeht und sie zugleich ermöglicht. Vielleicht kann hier auch noch einmal ein Licht geworfen werden auf die umstrittene Frage nach den Wortgottesdiensten am Sonntag. Natürlich kann die Feier des Wortes kein Ersatz sein für die Feier der sonntäglichen Eucharistie. Doch zugleich ist noch einmal darüber nachzudenken, ob sich nicht in dem Wunsch vieler Christen, sich um das Wort zu versammeln und Gottesdienst zu feiern, die Frage nach möglichen Wegen verbirgt, die Erfahrung des Kircheseins, wie sie sich zutiefst in der Feier der Eucharistie ereignet, am jeweiligen Ort kraftvoll zu entwickeln. Es braucht so etwas wie eine Alltagspraxis der Kommunion. Nicht der sonntägliche Wortgottesdienst mit oder ohne Kommunionausteilung ist hier die erste Frage, sondern es geht um die konkrete Einübung ekklesialer Praxis und Erfahrung diesseits und jenseits der gottesdienstlichen Feier. Es braucht die Einübung einer Grundform gelebter ekklesialer Spiritualität, die sich durch die Gemeinschaft im Wort aktualisiert. Dann kann Kirche vor Ort auch wachsen, wenn die Pfarrstrukturen größer werden und Eucharistie nicht jeden Sonntag vor Ort gefeiert werden kann.
5.6 Die Wiederentdeckung der Ortskirche Kirche vor Ort, Ortsgemeinde, lokale Kirchenentwicklung – die Verwirrung ist groß. Eben erst sprach man noch von Gemeindefusionen, um dann in einem späteren Schritt deutlicher zu unterscheiden zwischen der Gemeindegestalt und der Pfarrei. Immer noch wird aber weiter zwischen der kanonischen Struktur und den Sozialformen der Gemeinde unzureichend unterschieden. Und in der Pastoraltheologie wird zuweilen immer noch das Ende der Pfarreistruktur mit dem Ende der postkonziliaren Gemeindetheologie verbunden. Wie kann hier Klarheit wachsen?
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5.6 di e wi e d e r e n t d e c ku n g d e r o rts ki rc h e
— Die Risiken des Örtlichen und Lokalen —
Jede Rede, die von einer lokalen Kirchenentwicklung spricht, birgt in sich Risiken und Gefährdungen, und ja: Nebenwirkungen. Ohne einen tiefergehenden geistlichen Bewusstseinsprozess wird lokale Kirchenentwicklung zu einem regressiven Erhaltungsdiskurs: „Jetzt endlich haben wir die Möglichkeit, alles weiter so zu machen wie bisher ... endlich hat es das Bistum eingesehen.“ Die Folge ist ein „weiter so“, solange es geht. Und das eben ist keine Entwicklung. Entwicklung sieht anders aus. Im Hintergrund steht eine Vergessenheit des Geheimnisses der Kirche, die die lokale Gemeinde dann leicht in die Nähe eines Vereins bringen konnte: Wir vor Ort – gegen die Institution des Bistums. Verein gegen Institution, Leben gegen Verordnung, gallisches Dorf gegen die Römer – das ist die Verkürzung eines theologischen Verständnisses, das keine Zukunft haben wird. Viele Auseinandersetzungen haben mit einem reduzierten Kirchenverständnis zu tun, auch und vor allem damit, welche Rolle die gesetzten Strukturen der Ortskirche in der Gesamtheit kirchlicher Erfahrung spielen. Aber so ganz ohne Grund geschieht das natürlich nicht. Lange Zeit galt die Ortsgemeinde als „eigentliche Kirche“, die ein Pfarrer praktisch zu eigen hatte. Damit geriet eine Ortspfarrei praktisch zu einer Eigenwirklichkeit, und die Sendung des Pfarrers wurde nicht hinreichend beschrieben. Ein theologisches und pastoralpraktisches Verstehen der Ortskirche und ihrer Aufgaben halte ich für eines der großen Desiderate einer kommenden Kirchenentwicklung. Denn je lokaler und örtlicher Kirchenentwicklung sich ereignet, desto mehr bedarf sie der Ermöglichung und Begleitung durch die Ortskirche. — Die Rolle der Ortskirche —
Unsere Kirche verwirklicht sich konkret in der Ortskirche: Hier wird das Ganze der Kirche ansichtig, und hier ist die Kirche auch eingebunden in die gesamte Catholica. Die durch den Bischof repräsentierte Ortskirche ist die Garantin der Einheit, der Authentizität und Echtheit des Lebens der Nachfolge, indem sie in 221
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der Einheit der Gesamtkirche steht und in der Verbundenheit der normativen Tradition. Dies bedeutet eine doppelte Verpflichtung. Die Ortskirche ist eingebunden in die Lerngemeinschaft der Weltkirche. Damit ist nicht zuerst gemeint, dass sie Impulse der römischen Kurie aufnimmt. Auch das erscheint mir zunehmend wichtiger, weil die Frage der Kirchenentwicklung in einer globalen Welt von Rom her wichtige Impulse erhält, die zu wenig in unseren pastoralen Entwicklungen aufgenommen werden. Dazu bedarf es allerdings einer weltkirchlichen Hermeneutik, die sich löst von der auf allen Ebenen der Kirche anzutreffenden Dialektik zwischen lokaler Identität und Eingebundenheit. Es geht für die Ortskirche wie für die Ortspfarreien – und auch für das in ihnen befindliche Netzwerk kirchlicher Lebenswirklichkeiten – darum, die ihnen innewohnende Spiritualität der Communio und der Partizipation zu entdecken und fruchtbar zu machen. Auf allen Ebenen der Kirche gilt es, sich auf ein wechselseitiges Vertrauen einzulassen, das jenseits der Unterstellungen der Macht oder Eigenmächtigkeit wirkt: Dann könnte deutlich werden, dass auch die Vielfalt der ortskirchlichen Traditionen und die zugrundeliegende Bewahrung der Einheit kein Widerspruch sind, sondern sich gegenseitig fordern müssen. Ein Beispiel: Die deutsche Kirche hat den Impuls der Evangelisierung, der seit Mitte der 70er Jahre (mit Evangelii Nuntiandi) weltkirchlich urgiert wurde, erst sehr spät aufgegriffen. Und auch jetzt noch steht die Frage nach der Evangelisierung hinter den scheinbar unvermeidbaren Strukturfragen zurück. So sehr es stimmt, dass hinter den zweifellos notwendigen Strukturmaßnahmen auch die Vision einer missionarischen Kirche stehen könnte, fällt auf, dass nur sehr zögerlich eine echte Reflexion zum Thema des Christwerdens in Gang kommt: Sakrosankt scheint die intensive Beschäftigung mit den Themen der Erstkommunion und der Firmung. Weltkirchliches Lernen – der große Reichtum der katholischen Kirche und Vollzug der Universalkirchlichkeit – steht ebenfalls erst seit wenigen Jahren auf der Agenda einer Kirche, die viel zu lange mit einem relativ ungebrochenen Selbstbewusstsein von dem eigenen Modell überzeugt war. Schmerzlich vermisst wird – 222
5.6 di e wi e d e r e n t d e c ku n g d e r o rts ki rc h e
nicht nur in Deutschland – ein echter Austausch der kreativen Theologie, die es überall gibt. — Die Vision der Ortskirche ... —
Eine der großen Schwächen der pastoralen Entwicklung ist es bislang, dass es keinen gemeinsamen Prozess gibt, bei dem sich eine gemeinsame und geteilte Vision zeigt. Das wäre aber wichtig. Wie wichtig das ist, zeigte sich mir bei den Erfahrungen in den Philippinen: Wenn nämlich nicht eine Diözese als Ganze, oder doch zumindest ein Dekanat eine gemeinsame Zukunftsperspektive teilen, erscheinen länger dauernde und prägende Prozesse nicht sinnvoll. In der klassischen Hermeneutik ortskirchlicher Pastoral war vorausgesetzt, dass die sakramentale Cura animarum („Seelsorge“) überall gleich war – eine echte gemeinsame Weiterentwicklung war nicht vorgesehen: Es ging um die Begleitung einer Volkskirche, die mindestens mental alle Menschen umfasste. Mit den Zeiten des Umbruchs änderten sich diese Perspektive und auch der Weg: Es braucht eine klare Suchbewegung der Ortskirche als ganzer und es braucht eine gemeinsame Vergewisserung des gemeinsamen Weges. Vor allem dann, wenn der Paradigmenwechsel eine neue Ausrichtung der priesterlichen Rolle, der Aufgaben der Hauptberuflichen und der wesentlichen Zusammenarbeit aller in sich birgt. Und vor allem dann, wenn es um die Profilierung einer Kirche geht, die das gemeinsame Priestertum der Gläubigen in seiner Würde ins Spiel bringt und freisetzt. Das Presbyterium, das zusammen mit dem Bischof und unter seiner Verantwortung die Kirche auf dem Weg ihres Wachsens geleitet, braucht deshalb dringend die Erfahrung einer Lerngemeinschaft, des Austauschs und der gegenseitigen Inspiration, um gemeinsam einen Lernweg mit dem Volk Gottes gehen zu können. — Der sakramentale Urgrund der Kirche —
Dass die Mitte der Kirche die sonntägliche Feier der Eucharistie ist, das wird in jeder Pfarrei einer Ortskirche am Sonntag sichtbar. 223
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In einer nahen Vergangenheit galt die Gleichung Pfarrei = Gemeinde: Die sonntägliche Versammlung im Hören auf das Wort und in der Feier des eucharistischen Mahles war geprägt durch die selbstverständliche und in Gruppen sich differenzierende Pfarrfamilie. Man konnte den Eindruck gewinnen, es gäbe einen „Rechtsanspruch der Gemeinde auf die Eucharistie“. Die geringer werdende Anzahl der Priester sowie die Strukturmaßnahmen, die zu größeren Pfarreien mit mehreren Kirchen führen, ändern diesen scheinbar selbstverständlichen Zusammenhang und gewähren noch einmal einen tiefen Einblick in die Herausforderungen und Chancen dieser Veränderungen: Auf der einen Seite wird deutlicher werden, dass die Feier der Eucharistie nicht an eine Ortsgemeinde gebunden ist, sondern eine Feier ist, in der die Kirche als ganze erfahrbar wird. Auf der anderen Seite wird noch deutlicher, dass die Liturgie der Eucharistie zwar die Mitte des kirchlichen Lebens ist, dass es aber noch mehr darum gehen muss, Eucharistie vor Ort zu leben. Denn die Feier der Eucharistie fordert zugleich eine eucharistische Existenz vor Ort. — Die sakramentale Grundstruktur als Ermöglichung der Kirchenentwicklung —
Und das wird die zentrale Herausforderung, die sich durch die Feier der Eucharistie ergibt: In der existenziellen Wende des sakramentalen Lebens, die in der Frage nach der persönlichen Berufung und Sendung durch die Taufe und den geschenkten Gaben ihren personalen Ausdruck findet, kommt auf der Ebene des kirchlichen Lebens auch die Frage deutlich ins Licht, wie eine eucharistische Ekklesiologie sich in einer lokalen Praxis ausdrückt. Aus der Kraft der Eucharistie kann so die örtliche Gemeinde hervorwachsen – der Leib Christi am gegebenen Ort, der sich in der eucharistischen Logik der Hingabe als Dienst an den Menschen zeigt. Die Wiederentdeckung der Ortskirche und die neue Würdigung der sakramentalen Grundgestalt der Kirche, die sich in der Pfarrei zeigt, haben vor diesem Hintergrund eine ganz präzise Be224
5.7 da s g e m e i n s a m e p r i e st e rt um a l l e r g l äu b ig e n ...
deutung: Ortskirche wie Ortspfarrei sollen ermöglichen, dass die Christen vor Ort Kirche in der Fülle des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen leben können. Dies geschieht durch den Dienst der Leitung, der Verkündigung und der Feier der Sakramente. Denn in der Rückbindung der lokalen Kirchenentwicklung an das Ganze der Kirche und ihre Tradition (und das auch im Sinn einer Korrektur), in der Vergegenwärtigung der Verheißungen des Evangeliums, die das Leben der Christen vor Ort nähren kann, und in der Vergegenwärtigung der Wirklichkeit des Leibes Christi, von dem wir leben und der wir sind, kann Kirche gnadenhaft wachsen.
5.7 Das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen ... „Jeder Getaufte ist ein geweihter Seelsorger“73. Ein atemberaubender Satz. Und doch, Karl Rahner schrieb schon 1936 von der „Weihe des Laien zur Seelsorge“. Was Rahner hier so prägnant behauptet, ist die Folge der neuen Bewusstwerdung der Taufgnade, die auch die spätere konziliare Ekklesiologie kennzeichnet. Die Wiederentdeckung des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen, die Wiederentdeckung von Ruf, Berufung und Charisma, die alle Gläubigen betrifft, die gemeinschaftliche Dimension der Anteilhabe am priesterlichen, königlichen und prophetischen Amt Christi sind gewissermaßen das energiegeladene Erbe des Konzils, das darauf wartet, ausgelotet zu werden. — Die Krise der Verwandlung —
Aber es braucht offensichtlich Krisen, um vom Geist immer mehr in die Wahrheit und also die praktische Konsequenz für unser Verstehen des Kircheseins eingeführt zu werden. Das Ende des volkskirchlichen Gefüges liegt schon hinter uns, selbst wenn vitale Reste noch zu anderen Deutungen verleiten. Das ist kein Wunder, sondern hat sich schon lange abgezeichnet. 73 So K. Rahner, Weihe des Laien zur Seelsorgern, Schriften zur Theologie III, 313–328, 323. 225
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Solange aber das Bild einer versorgenden Institution herrschte, ergab sich eine Konfiguration, die weiterhin einer Amtszentrierung entsprach und diese entsprechend ausfaltete. Dabei fiel wohl kaum auf, dass die schon rezipierte Rede von der Würde der Taufe und der Mitwirkung der Christgläubigen mit ihren Gaben und Charismen immer noch um die Frage kreiste, welche Aufgaben vom Pfarrer delegiert werden können und welche „Erlaubnisse“ und welche „Machtbefugnisse“ innerhalb der hierarchischen Gestalt übertragen werden könnten. Oder umgekehrt: Wenn jetzt weniger Priester und weniger hauptberufliches Personal sich auf immer weitere Räume pastoraler Gestaltung verteilen, dann können die Aufgaben nicht mehr vom Pfarrer und seinem Team allein geleistet werden – jetzt werden die „Laien“ und „Ehrenamtlichen“ diese Aufgabe erfüllen müssen. Als Ersatz? Mit derselben Perspektive? Dann geschieht eine „Über tragung“ von Hierarchieebenen: Ehrenamtliche fühlen sich jetzt verantwortlich für die klassische Gestalt des Kircheseins – und das führt dann dazu, dass sie schnell „überlastet“ sind in ihren Aufgaben. Im Hintergrund steht dann aber wiederum ein Bild versorgender und institutioneller Kirchlichkeit. Und schnell bildet sich dann eine laikale Hierarchie – und zwischen dem multitaskenden Ehrenamtlichen und dem dienstleistungsorientierten Fernstehenden liegt der ganze ekklesiale Problemkosmos einer weiterhin normativen Kirchenerfahrung aus volkskirchlichem Erbe. Weder die Verlängerung amtlicher Kompetenzen auf begabte Gläubige noch die „Ersatzfunktion“ des Ehrenamtes entsprechen aber jener Theologie des gemeinsamen Priestertums, aus der das II. Vatikanum schöpft. Allerdings ist auch klar, dass mit der Rede vom gemeinsamen Priestertum und seinem Dienst auch eine neue Praxis des Kircheseins einhergehen muss, sonst bleibt es dabei, dass die Unterstreichung der Taufwürde und des gemeinsamen Priestertums eigentlich verdeckter Selbsterhaltungsabsichten einer vergehenden Kirchengestalt dienen soll.
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5.7 da s g e m e i n s a m e p r i e st e rt um a l l e r g l äu b ig e n ...
— Die Verwandlung weiterdenken —
Was aber könnte es bedeuten, wenn man diese Spur mühseliger Bestandswahrung, die zudem das gemeinsame Priestertum zu einer Ersatzfunktion des sakramentalen Leitungsamtes macht, verlässt – und sich theologisch auf sehr dünnes Eis begibt. Die konziliare Theologie, vor allem in ihrem Hinweis auf den wesenhaften Unterschied der beiden Priestertümer, macht deutlich, dass eine solche Pragmatik eigentlich häretisch ist: das eine kann das andere nicht ersetzen, auch wenn es eine wechselseitige Zuordnung gibt (vgl. Lumen Gentium 10). Die Erfahrungen der kirchlichen Basisgemeinden in Lateinamerika, die Bemühungen um einen asiatischen Pastoralansatz, aber auch die Perspektive der örtlichen Gemeinden in Poitiers sprechen eine andere Sprache: Die Verantwortung für die Pastoral der Kranken und die Trauerpastoral, die Verkündigung des Glaubens und die Vorbereitung der liturgischen Feiern sind Aufgabe der Gemeinschaft vor Ort. Dort, wo Christen sich in dieser Verantwortung ernst nehmen und ernst genommen werden, konstituiert sich Kirche. Sie lebt dabei aus der Kraft einer Spiritualität, die das Evangelium in Wort und Tat verkündet. Und Menschen übernehmen hier Verantwortung – auch für die Koordination dieses gemeinschaftlichen Lebens. Davor aber liegt ein Entwicklungsprozess, der wirklich versucht, die Menschen vor Ort in ihr eigenes Kirchesein einzuführen. Nicht die strukturelle Frage, wer hier was zu sagen hat, ist also zentral, sondern es geht um den Aufbau des Leibes Christi, einer Kirche, die in Beziehungen der Nähe existiert. Die Verantwortung für diese beziehungsreiche Seelsorge, für die spezifischen Dienste in Gemeinschaften und Bewegungen, liegt ganz selbstverständlich beim Volk Gottes selbst: Verantwortungsträger wollen gefunden werden, natürlich – aber die Voraussetzung ist ein gemeinsamer Prozess der Bewusstwerdung der eigenen Würde. Anders ist, so denke ich, Seelsorge in Zukunft auch nicht zu denken. Denn der nahe Beziehungs- oder Sendungsraum ist der Ort, an dem auch Gott gegenwärtig ist und lebt: „Der seelsorgen227
5. i m p u l s e z um w e i t e r d e n k e n
de Mensch muss den Weg in Gott hinein und muss den Weg von Gott her zum Nächsten finden. Das geschieht in der Liebe, die in uns ausgegossen ist durch den Heiligen Geist ... Liebe kann Mitsorge sein mit dem sorgenden Gott um das Heil des andern. Das kann sie, weil sie Liebe des Nächsten um Gottes willen ist.“74 Das ist ein Ansatz mystagogischer Seelsorge, der tief in einer existenziellen spirituellen Haltung verwurzelt ist. Mitsorgen mit dem sorgenden Gott – darin also besteht die konkrete Ausfaltung dessen, was das Anteilhaben am priesterlichen, königlichen und prophetischen Amt Christi grundlegend beinhaltet. — Verantwortung wahrnehmen vor Ort —
In einer solchen Perspektive lässt sich auch die Frage der Verantwortung vor Ort unbefangener stellen. Sie steht ja nicht und nie in Konkurrenz zum sakramentalen priesterlichen Dienst, sondern will ein Dienst an der konkreten Gemeinschaft vor Ort sein. Unterhalb der Ebene sakramentaler Verantwortung muss hier – vielleicht in der Analogie zu den Erfahrungen der ersten Christen, wie sie im Blick auf Entwicklungsprozesse der Jerusalemer Urgemeinden in der Apostelgeschichte beschrieben werden – die genuine Verantwortung der vor Ort lebenden Christen gewürdigt werden. Die Apostelgeschichte erzählt ja den begeisternden Aufbruch und die Probleme des Wachstums: Das sechste Kapitel setzt die Existenz unterschiedlicher Gemeinden innerhalb Jerusalems voraus und macht deutlich, in welcher Weise Probleme zum Weiterwachsen der Kirche beitragen können. Als nämlich die hellenistischen Witwen bei der Verteilung des Lebensgüter benachteiligt werden, ermöglichen die Apostel eine lokale Meinungsbildung: Alle Betroffenen werden zusammengerufen, und den Getauften wird die Lösung der problematischen sozialen Schieflage zugetraut und anvertraut. Aus ihrer Mitte benennen sie sieben Personen, die in Zukunft Verantwortung übernehmen sollen. Die Gemeinschaft also erwählt sich ihre Ver74 K. Rahner, a. a. O., 318. 228
5.7 da s g e m e i n s a m e p r i e st e rt um a l l e r g l äu b ig e n ...
antwortlichen, weil sie ihnen zutraut, die notwendigen Entscheidungen zu treffen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Die Apostel ihrerseits bestätigen diese Wahl und Beauftragung offiziell. Stehen diese „Diakonoi“ in Konkurrenz zu den Aposteln? Die Übernahme von Verantwortung wächst hier aus der Entscheidungsfindung der gesamten Gemeinschaft, die diesen Sieben die Lösung der anstehenden Probleme zutraut. Die Bestätigung dieses Prozesses durch die Apostel macht gerade deutlich, dass es unterschiedliche Dimensionen der Verantwortung braucht und gibt. Das wird in einer Kirchenentwicklung, die ihren Ausgang nimmt in der Würdigung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften, oft schon in der Begrifflichkeit klar: Wenn in Honduras die Verantwortung vor Ort durch „delegados della palabra“ (Verantwortliches des Wortes) wahrgenommen wird, wenn in Poitiers von einer „équipe d’animation“ gesprochen wird und von pastoraler Koordination vor Ort die Rede ist, dann wird deutlich, dass solche Übernahme von Verantwortung in keiner Weise die Verantwortung des sakramentalen priesterlichen Dienstes einschränkt, sondern sie im Gegenteil voraussetzt und fordert. — Wie kann das gelingen? —
Nach meinen Erfahrungen in den Entwicklungsprozessen im deutschen Sprachraum setzt eine solche Perspektive eine veränderte Grundeinschätzung der Getauften voraus – und eine entsprechende Begleitung. Ich habe vielfach erfahren, dass in den vergangenen Jahrzehnten an kaum einer Stelle die Würde der Taufe und die Hinführung zu einer verantworteten Wahrnehmung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften zusammen mit den Christen vor Ort reflektiert wurden. Dort hingegen, wo aus gewachsener Selbstverständlichkeit Christen vor Ort leben, ist diese Perspektive unausgefaltet präsent: Wie viel an Engagement für die lokalen Bedürfnisse, wie viel an Sehnsucht nach einer tieferen Spiritualität und wie viel an Fragen nach dem Einsatz der eigenen Gaben und Charismen ist allüberall zu bemerken? 229
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Dort, wo es gelingt, mit den Menschen vor Ort gemeinsame Prozesse in dieser Richtung zu entfalten, lässt sich oft erleben, wie bereit die Christen vor Ort sind, Kirche zu sein und zu gestalten. Doch das gelingt nicht ohne Begleitung. Es gelingt auf Dauer nicht, wenn Christinnen und Christen nicht eingeführt werden in eine Spiritualität des gemeinsamen Priestertums aller Getauften: einer Spiritualität der „drei Kommunionen“, die wir ansatzhaft ausgefaltet haben. Wessen Aufgabe ist das eigentlich? Liegt hier nicht die zentrale Aufgabe aller Hauptberuflichen und vor allem der Priester? Wird hier nicht der konkrete Dienst an der Einheit und am Wachstum lokaler Kirche genauer beschreibbar? Und was bräuchte es von Seiten eines Bistums, damit gehoben werden kann, was der Geist Gottes schon längst in die Herzen der Gläubigen eingesenkt hat?
5.8 ... und der sakramentale Dienst des Priesters in einer Kirche, die kommt „Christus, der Herr, hat, um das Volk Gottes zu weiden und ständig zu mehren, in seiner Kirche verschiedene Dienste eingesetzt, die sich auf das Wohl des ganzen Leibes richten. Denn die Diener, die über heilige Vollmacht verfügen, dienen ihren Brüdern, damit alle, die zum Volk Gottes gehören und sich daher der wahren christlichen Würde erfreuen, zum Heil gelangen, indem sie frei und geordnet auf dasselbe Ziel hin zusammenwirken.“75 — Konziliare Hinweise —
Lumen Gentium 18,1 ist das „Libretto“ der Amtstheologie des II. Vatikanums. Der Text ist am Ende der langen Diskussionen entstanden und verdichtet so die Kernpunkte der folgenden Theo75 LG 18. Vgl. zum Folgenden G. Bausenhart, Ein (bislang) unfruchtbar gebliebener Text: Lumen Gentium 18, 1, in Norbert Clemens Baumgart/ Gerhard Ringshausen (Hg.), Philosophisch-theologische Anstöße zur Urteilsbildung (FS Werner Brändle) (Lüneburger Theologische Beiträge 5), Berlin: Lit 2007, 19–30. 230
5.8 ... u n d d e r s a k r a m e n ta l e di e n st d e s p r i e st e r s
logie des sakramentalen Amtes. Wer angesichts der Restrukturierungen der sakramentalen Kirchengestalt und angesichts der inneren Erneuerung des Gottesvolkes nach dem Wandel in der Rolle des sakramentalen priesterlichen Dienstes fragt, der muss sich hier orientieren. Und umgekehrt: Eine Theologie des priesterlichen Dienstes findet hier Orientierung. Das ist auch gerade deswegen notwendig, weil die Herausforderungen immens sind: Der Paradigmenwechsel, der sich in der Praxis der größeren pastoralen Räume in der Vielfalt örtlicher Gemeinden abzeichnet, ist gewaltig. Bemerkenswert: Es ist kein Zufall, dass hier als erstes Subjekt „Christus Dominus“ genannt wird. Es ist eben Christus, der Herr, der immer das Subjekt des Handelns bleibt. Die Präsenz des handelnden Herrn bringt auf den Punkt, worum es beim sakramentalen Dienst geht: Amt und Autorität werden nicht „Ersatz“ oder „Stellvertretung eines Abwesenden“, sondern stehen dafür ein, dass wirklich der gegenwärtige Herr bleibend sein Volk leitet. Das wirft einen wichtigen ersten Blick auf das sakramentale Amt. Dieses ist eigentlich vor allem dafür da, zu verdeutlichen, dass es eben immer der Herr selbst ist, der sein Volk leitet: „Er allein ist Herr seiner Kirche, und alle Autorität in der Kirche ist legitim nur, wenn und insoweit sie sein Herr-Sein zur Geltung und ihn zur Sprache bringt.“76 Das Konzil bezieht das kirchliche Amt ganz konkret auf den Dienst am Volk Gottes, es geht um einen konkreten und spezifischen Dienst am Volk Gottes. Und diese Dimension des konkreten Dienens an einem konkreten Volk wird vielfach unterstrichen: hier kommt eine Konzilsdiskussion zum Abschluss, die sich auch in Lumen Gentium 10 niedergeschlagen hat. Dabei wird gerade hier noch einmal deutlich, dass das sakramentale Amt gerade durch seine Dienstdimension wesentlich, und nicht nur graduell, vom gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen unterschieden ist: „Christus der Herr, als Hoherpriester aus den Menschen genommen (vgl. Hebr 5,1–5), hat das neue Volk ,zum Königreich und zu Priestern für Gott und seinen Vater gemacht‘ (vgl. Offb 76 Ebd. 22. 231
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1,6; 5,9–10). Durch die Wiedergeburt und die Salbung mit dem Heiligen Geist werden die Getauften zu einem geistigen Bau und einem heiligen Priestertum geweiht, damit sie in allen Werken eines christlichen Menschen geistige Opfer darbringen und die Machttaten dessen verkünden, der sie aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hat (vgl. 1 Petr 2,4–10). Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heißt, das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich zwar dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach. Dennoch sind sie einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil.“ (LG 10) Noch einmal: Das Konzil lässt hier eine „Ontologie des Dienstes“ erkennen. Der entscheidende Unterschied liegt nicht in einer Überordnung, sondern in einem proexistenten „für“. Zugleich unterstreicht das Konzil hier – wie dann auch an anderen Stellen der Konzilskonstitution – die wahre gleiche Würde der Brüder und Schwestern. Damit verweist das Konzil gerade in diesem programmatischen Text auf eine Praxis, in der der amtliche Dienst dem Hervorkommen und der Profilierung des gesamten Gottesvolkes dient: „In eigener – geschenkter – Kraft geht das Volk Gottes seinem Weg durch die Geschichte seiner eschatologischen Vollendung als Reich Gottes entgegen, in ,ermächtigter Macht‘ leben die Glieder des Volkes ihre ‚Berufung zur Heiligkeit in der Kirche‘ (LG V). Das kirchliche Amt ist diesem theologisch bestimmten Subjektsein der Kirche und ihrer Glieder verpflichtet und erfährt eben darin seine tiefste Begründung.“77 Damit – und dies ließe sich in den Konzilstexten weiter erschließen78 – zeigt sich auch das zugrundeliegende Kirchenbild des II. Vatikanums, das ekklesiopraktisch gewendet eine spirituell anspruchsvolle in der Taufe gründende Praxis des Miteinanders in der Kirche erahnen lässt. Und in unserem Kontext ist dann zu fragen, ob sich denn der Dienst des Priesters in einer solchen 77 Ebd. 25 78 Bausenhart gelingt in seiner Arbeit eine sehr ausgewogene und dennoch provozierende Darstellung der hier eingebetteten Paradigmenwechsel im sakramentalen Verständnis des Amtes. 232
5.8 ... u n d d e r s a k r a m e n ta l e di e n st d e s p r i e st e r s
kirchlichen Grundkonstellation noch deutlicher konturieren lässt. Denn wenn es darum geht, die Herausforderungen geringerer Priesterzahlen nicht nur als überforderndes Defizit zu sehen, sondern tiefer zu verstehen, dass durch diese Herausforderung ein Paradigmenwechsel ans Licht kommt, der im II. Vatikanum prophetisch formuliert wurde, dann darf versucht werden, den Dienst des sakramentalen Dienstamtes noch praktischer und präziser zu formulieren. — Lex orandi – Lex credendi —
Vielleicht kann das nirgendwo authentischer geschehen als im Blick auf die Weiheliturgie selbst. Sehr direkt formuliert die Tradition, dass das, was gefeiert wird, zum Ausdruck bringt, was Inhalt des Glaubens, hier Theologie des Amtes ist. Und natürlich hat dies dann auch praktische Konsequenzen. Denn gerade wenn LG 18 so deutlich die dienende Bezogenheit des Amtes auf das Volk Gottes beschreibt, konturiert jede Wandlung im Selbstverständnis des Volkes Gottes auch einen Wandel in der Entdeckung dessen, was mit dem sakramentalen Dienst denn konkret gemeint ist. Deswegen soll versucht werden, anhand der Weiheversprechen der Priesterweihe noch einmal deutlicher zu fassen, wie dieser Dienst in veränderter Kirchengestalt nach den Maßgaben der Texte gelebt werden könnte. „Bist du bereit, das Priesteramt als zuverlässiger Mitarbeiter des Bischofs auszuüben und so unter der Führung des Heiligen Geistes die Gemeinde des Herrn umsichtig zu leiten?“ So lautet bezeichnenderweise die erste Frage des Bischofs an den Kandidaten bei der Priesterweihe. Die Sakramentalität des Amtes wird ja im Konzil im dreifachen Amt Christi gesehen. Die priesterlichkultische Dimension ist eingebettet in die prophetische und königliche Dimension: die Letztere steht am Anfang, und dies ist nicht zufällig. Offensichtlich geht es der Liturgie darum, die Erkenntnis des Konzils in die Weihehandlung einzutragen. Deutlich wird hier, dass das „munus regendi“, also der Anteil am königlichen Amt Christi, hier zunächst dem Bischof zugesprochen wird. Damit nehmen der Priester und auch der Pfarrer An233
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teil am Dienst der Leitung des Bischofs. Seine Leitung besteht nun aber sakramental darin, dass es eben Christus selbst und durch ihn der Geist Gottes ist, der das Volk leiten soll. Das ist eine Aufgabe, die ein sehr verschränktes Beziehungsfeld beschreibt. Denn ausgeschlossen ist hier jene Praxis, die die Übertragung der Weihe als Ermächtigung zur Leitung einer Pfarrei sieht. Vielmehr geht es darum, dass die gesamte „Gemeinde Gottes“ – und gemeint ist hier die Ortskirche – unter der Leitung des Bischofs zusammen mit seinem Presbyterium steht. Erinnert werden soll daran, dass dies alles andere als ein formales Geschehen ist, wenn bei der Priesterweihe alle anwesenden Priester dem Weihekandidaten die Hände auflegen. Unbenommen von der Autorität des Bischofs wird doch hier sehr deutlich, dass auch hier das Presbyterium jener primäre gemeinschaftliche Raum ist, in dem und durch den die Leitung der Ortskirche als ganzer unter der Führung des Geistes geschehen soll. Mir scheint dies in mehrfacher Hinsicht ein Paradigmenwechsel zu sein: Denn es geht hier tatsächlich um einen Dienst an der Einheit des ganzen Gottesvolkes, und nicht um gemeindliche Fürstentümer: Die Leitung der ganzen Ortskirche widersteht einem pfarrlichen Gemeindeprovinzialismus. Damit wird die Zuordnung zum konkreten Volk Gottes durch die Inkardination theologisch bedeutsam und praktisch wirksam: Der Priester leitet dann im Sinne sakramentalen Leitens, wenn er in der Linie diözesaner Sendung steht. Er steht dafür, dass das, was sich vor Ort entfalten und entwickeln soll, eingewoben ist in die Ortskirche und mit ihr in die Catholica der Weltkirche. Je mehr also es darum gehen muss, das gemeinsame Priestertum der Gläubigen zu profilieren und zu ermächtigen, je notwendiger ist es, dass dies in der Einheit mit der ganzen Kirche geschieht. Darum liegt die Verantwortung für diese mögliche Entwicklung immer beim Priester, näherhin beim Pfarrer und seinen Mitarbeitern: Ihnen muss daran gelegen sein, genau jene Entwicklungen zu ermöglichen, die das Wachsen des Volkes Gottes vor Ort befördern. Die Begleitung und Ausbildung der Getauften und ihre Bewusstseinsbildung stehen daher im Zentrum des Dienstes der Leitung: Immer muss es ja darum gehen, dass 234
5.8 ... u n d d e r s a k r a m e n ta l e di e n st d e s p r i e st e r s
Christen in die Tiefe ihrer Berufung geführt werden und die Kompetenzen erwerben können, die es ihnen möglich machen, im Gefüge des Volkes Gottes ihre Verantwortung wahrzunehmen. Aber damit ist noch längst nicht alles gesagt: Der Dienst der Leitung, der ja ein Dienst daran ist, dass der gegenwärtige Christus sein Volk zum verheißenen Heil führt, besteht nun auch wesentlich darin, dass der Priester jemand ist, der diese gottgeschenkte Wirklichkeit des Reiches Gottes im Volk Gottes präsent hält. Das Dienstamt der Einheit besteht eben genau darin, den Christen dabei Hilfe zu leisten, diese inspirierenden Verheißungen präsent zu haben und gemeinsam mit dem ihm anvertrauten Volk Gottes die Zeichen der Zeit im Licht der Verheißungen des Evangeliums lesen zu können und den Kairós der Veränderung zu ergreifen. Es ist seine Aufgabe, die Christgläubigen in einen solchen Prozess der Visionsfindung einzubeziehen und gleichzeitig kritisch den Maßstab des Evangeliums und der Tradition einzubringen. „Bist du bereit, in der Verkündigung des Evangeliums und in der Darlegung des katholischen Glaubens den Dienst am Wort Gottes treu und gewissenhaft zu erfüllen?“, so wird die zweite Frage der Weiheliturgie gestellt. Und sie verweist auf das munus propheticum: Die Verkündigung des Evangeliums ist zweifellos der Maßstab, an dem Wege des Volkes Gottes immer wieder zu messen sind. Dies kann allerdings nur dann in der Perspektive des Dienstes geschehen, wenn die Verkündigung des Evangeliums begleitet wird durch die Ermöglichung eines selbständigen Umgangs mit der Schrift, durch die Einführung in eine Grundform biblischer Spiritualität. Je mehr das Volk Gottes in seine eigene Verantwortung gesetzt wird, desto intensiver bedarf es der nährenden Begegnung mit Gott in seinem Wort. Ja, denn die Kirche ist Frucht des gelebten Evangeliums – und die Begleitung und Förderung einer Grundform der Spiritualität ist letztlich die Voraussetzung dafür, dass Evangelisierung und Bezeugung des Glaubens letztlich gelingen können. Aber hier geht es dann nicht nur um die Einführung in eine Praxis des Umgangs mit dem Wort Gottes, denn diese Praxis ist verknüpft mit der Ermöglichung örtlicher und lebensraumorientierter Gemeindebildung, in der Sammlung und konkreter Dienst am Nächsten geschehen können. 235
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Die Frage nach der Katechese und nach einer inhaltlichen Vertiefung des Glaubens ist ihrerseits ja eine Frage nach dem „Raum des Glaubens“: „Das Erfordernis der Weitergabe des Glaubens, die keine individualistische oder einsame Aktion darstellt, sondern ein gemeinschaftliches, kirchliches Ereignis ist ... muss zu einer Frage werden, welche die Kirche sich selbst stellt. Das führt dazu, das Problem nicht in einer äußerlichen Weise anzugehen, sondern es betrifft die Kirche in ihrem Sein und in ihrem Leben. Mehr als eine Teilkirche bittet die Synode, zu überprüfen, ob die Unfruchtbarkeit der Evangelisierung heute, der Katechese in der jüngsten Zeit, vor allem ein ekklesiologisches und spirituelles Problem ist. Man denkt über die Fähigkeit der Kirche nach, sich als wahre Gemeinschaft, als wahre Bruderschaft, als Leib darzustellen, und nicht als Betrieb“ – so formuliert es das Instrumentum Laboris der Bischofssynode 2012. Entsprechend gehört es zum Dienst des sakramentalen Amtes, jene Gemeindebildungen zu ermöglichen, in denen Christen den Glauben aus seiner Tiefe heraus teilen und anderen daran Anteil geben. „Bist du bereit, die Mysterien Christi, besonders die Sakramente der Eucharistie und der Versöhnung, gemäß der kirchlichen Überlieferung zum Lobe Gottes und zum Heil seines Volkes in gläubiger Ehrfurcht zu feiern?“ Die Feier der Eucharistie macht unübertroffen deutlich, dass der sakramentale Dienst am und im Volk Gottes diese Volk überhaupt erst konstituiert: Christus schenkt sich – durch das Handeln des Priesters – und so wird Kirche wirklich Leib Christi. Auch hier geht es ja um mehr als um liturgische Feiern und ihre Korrektheit: Es geht darum, gerade diese Christuswirklichkeit als tiefste Würde dieses Volkes deutlich zu machen. Es ist ja gerade Vollzug des gemeinsamen Priestertums aller Getauften, wenn durch das von der Eucharistie genährte Leben Christus ansichtig wird in einer Praxis der Communio. Der Priester verrichtet seinen Dienst hier also nicht nur als Liturge, sondern auch als ekklesialer Mystagoge: „Empfangt, was ihr seid – und werdet, was ihr empfangt: Leib Christi“, so sagt es Augustinus. Der priesterliche Dienst muss diese priesterliche Dimension des Volkes Gottes ansichtig und bewusst werden lassen: die Verantwortung für die nährende Feier der Ge236
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heimnisse umfasst auch die Verantwortung für die Ermöglichung kirchlicher Wirklichkeit, die diesem eucharistischen Geheimnis der Sammlung und Sendung im alltäglichen Leben entspricht. Die Bildung und Förderung solcher sendungsorientierten eucharistischen Gemeinden am Ort sind eine prioritäre Aufgabe des sakramentalen Dienstes, damit das Volk Gottes in der Fülle seines gemeinsamen Priestertums der Welt Christus bezeugen kann.
5.9 Ohne Teams wächst Kirche nicht In den immer größer werdenden pastoralen Strukturen wirken häufig mehrere Priester und Hauptberufliche zusammen. Zugleich werden in den örtlichen Gemeinden und an anderen Orten des Kircheseins viele Getaufte gemeinsam Verantwortung übernehmen: Deswegen verwundert es nicht, wenn allüberall von Teambildung die Rede ist. Jedoch scheint es mir so, dass die inneren Bilder von dem, was denn wirklich ein Team ausmacht, was es braucht, um ein Team zu sein, äußerst unterschiedlich und vielfältig sind. Daher ist diese Rede von einem Team höchst ambivalent und erklärungsbedürftig. Natürlich ist es relativ einfach, eine Arbeitsgruppe zu kon stituieren und ans Arbeiten zu bringen, selbst wenn es nach meinem Dafürhalten keineswegs selbstverständlich ist, wenn dies gut gelingt. Für eine zukünftige Kirchenentwicklung jedoch scheint mir die Klärung der Frage, was ein echtes Team ausmacht – und somit die Frage nach einer echten Teambildung – unumgänglich. — Drei Teams —
Im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte durfte ich eine Teamerfahrung machen, die beschreiben lässt, was ein Team ausmacht: In den beiden Pfarreien, in denen ich Pfarrer sein konnte, entstand eine Teamwirklichkeit, die sehr viele fruchtbare Entwicklungsschritte in den Pfarreien ermöglichte. Wie kam es dazu? Von Anfang an konnten alle Beteiligten den Unterschied erkennen zwischen einer (notwendigen) Dienstbesprechung und einer 237
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geistlich geprägten Teamentwicklung, daher teilten auch alle den Wunsch nach einer gemeinsamen Reflexion der Umbruchsprozesse, in denen wir uns wiederfanden. Dieses gemeinsame Nachdenken war immer auch geprägt durch den Wunsch, miteinander Glaubenserfahrungen und Prägungen zu teilen. Das dies gut gelang, liegt sicher auch daran, dass wir uns die Zeit dafür nahmen, ein- bis zweimal im Monat: für ein Bibelgespräch, für das gemeinsame Wahrnehmen der Situation und die daraus folgenden Initiativen. Es scheint mir in diesem Zusammenhang zwar auch wichtig zu sein, dass wir uns nicht ausgesucht und alle sehr unterschiedliche Persönlichkeits- und Spiritualitätsstile hatten; aber das Entscheidende war doch die klare Option, in ein geistliches Miteinander einzutreten, das in der Schrift verwurzelt war. Vor diesem Hintergrund war es in den Pfarreien auch möglich, diesen Stil eines Miteinanders vorzuleben und so prägend zu wirken. Auch die Entwicklung, die wir im Bistum Hildesheim im Blick auf eine partizipative Kirchenentwicklung fördern dürfen, wäre ohne ein solches Team nicht denkbar. Wie ich es wahrnehme, ist das ein großes Geschenk, dass wir in einem echten Miteinander eine Entwicklung der Kirche begleiten dürfen. Die Entwicklung dieses Teams, das Kongresse, Studientage, Summerschools und Workshops plant und gestaltet, lebte in den vergangenen Jahren vor allem aber auch durch gemeinsame Lern- und Erfahrungsräume, bei denen wir miteinander eine gemeinsame Vision entdeckten und entfalteten. Diese Vision einer Kultur lokaler Kirchenentwicklung war und ist immer eine spirituelle Vision: Grundlage ist das Teilen des Wortes Gottes – und um das als Weg weiterzugeben, musste es uns selbst zur Mitte werden. In diesem Miteinander wurde auch sehr schnell deutlich, dass wir unterschiedliche und komplementäre Gaben haben, die miteinander sehr fruchtbar eingebracht werden können: In der Regel werden alle Workshops und Veranstaltungen von mindestens zwei Mitgliedern unseres Teams begleitet. Es ist einfach beeindruckend, wie aus diesem Miteinander Kraft, Inspiration und Fruchtbarkeit wachsen. Darüber hinaus gewährt es eine geistliche Beheimatung und lässt genau das erfahren, was wir vermitteln wollen: Der Weg der Kirchenentwicklung, 238
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zumal einer Entwicklung, die aus dem gemeinsamen Priestertum aller Getauften schöpft und spirituell in einer Praxis der drei Kommunionen gründet, kann nicht nur gelehrt werden. Er will innerlich ergriffen werden – und deswegen muss jedes Tun diese Wirklichkeit mindestens in Ansätzen wiederspiegeln. In der Tat: Wenn ich in den vergangenen Jahren eine fruchtbare pastorale Entwicklung in unserem Bistum entdecken durfte, dann steckten dahinter immer geistlich geprägte Teams. Das dürfte nicht verwundern: Es gibt eine geistliche Fruchtbarkeit, die über die Spiritualität des Einzelnen hinausreicht. — Die Theo-logik des pastoralen Miteinanders —
Die Grundwirklichkeit der Partizipation gründet in der dreifaltigen Lebenswirklichkeit Gottes. Anteil an diesem Leben erhalten wir in der Taufe, in der Feier der Sakramente – und erfahren diese Wirklichkeit dann, wenn Communio umfassend gestaltet wird. Genau diese umfassende Gestaltung der Communio ergibt sich auf allen Ebenen des Kircheseins als Desiderat. Denn gerade in ihren Strukturen ist die Kirche ebenfalls „Sakrament“: Ikone der Dreifaltigkeit (LG 4). Nach dem II. Vatikanischen Konzil entstand im Blick auf die konziliare Ekklesiologie der Communio eine Fülle von Strukturen des Ratgebens und Ratnehmens. Von der Bischofssynode bis zum Pfarrgemeinderat, von Bischöflichen Räten bis zu Pfarrteams stellt sich aber weiterhin als Herausforderung, diese theologisch gegründete Struktur von innen zu verstehen: Sie will ja Ermöglichung eben jener Spiritualität der Communio sein, die ein gemeinsames Handeln erst ermöglicht. Insofern spiegeln Strukturen der Communio eben jene trinitarische Logik der Beziehungen, als ein Teilgeben und Teilnehmen eben einen „Raum der Beziehungen“ notwendig macht. Auf der anderen Seite ist es aber gerade die Erfahrung der nachkonziliaren Zeit, dass die Ermöglichungsräume des pastoralen Miteinanders eben nicht von selbst dieses Miteinander generieren. Es kann ebenso gut zu einem unerträglichen Sitzungskatholizismus kommen, der in Anlehnung an demokratische Gepflogenheiten die trinitarische Grundgestalt eben mehr als unterbietet. 239
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Hier stoßen wir auf eine Grundherausforderung jenes gesellschaftlichen Wandels, den das II. Vatikanische Konzil aufgegriffen hat: Das Zerbrechen beherbergender Milieus führte auch zur Auflösung selbstverständlicher Milieukirchlichkeit. Wahlfreiheit und Individualisierung hatten nun zur Konsequenz, dass eine neue Communiokompetenz notwendig ist. Hier geht es nicht nur um technische Kompetenzen, sondern eben auch – wie das II. Vatikanum sagt – um das Ergriffenwerden von einer Wirklichkeit des Kircheseins. Hinter der Rede von der Communio steht auch das Verständnis der Kirche als Leib Christi: Einander zugehörig sein führt zu einer „Praxis des Einander“ (G. Lohfink), die lebt aus einer gemeinsamen Erfahrung, die sich in Christus gründet – eben einem Neuverstehen spiritueller Vollzüge in Gemeinschaft. Es geht dabei um jene „Spiritualität in Gemeinschaft“, von der Johannes Paul II. gesprochen hat: Ohne eine solche Spiritualität bleiben die strukturierten Ermöglichungsräume ungenutzt, ja führen eher zu einem Sitzungsüberdruss. Die Grundfrage, die sich hier stellt, durchzieht wie ein roter Faden die Überlegungen und Reflexionen dieses Buches. Eine existenzielle Wende der Ekklesiologie, die sich im Vollzug zeigt, ist das große Desiderat der heutigen Rezeptionsphase des Konzils: real zu erfahren, was es bedeutet, dass der anwesende erhöhte Herr „die Schrift deutet“ und eine geistliche Entscheidungsfindung ermöglicht. — Pastoralteams in größeren pastoralen Strukturen —
Vor dem Hintergrund der vorhergehenden Überlegungen stellt sich für die Zukunft der pastoralen Entwicklungen eine dringliche Frage: Die Förderung und Entwicklung örtlicher Gemeinden und des kirchlichen Lebens an den verschiedenen Orten sind gerade als ganzheitlicher und damit geistlicher Prozess wohl nur möglich, wenn die pastoral Verantwortlichen durch ihr Miteinander bezeugen, welchem Stil der Communio sie den Weg bahnen wollen. Damit ist klar, dass in den zukünftigen Pfarreien deutlich werden muss, dass Pfarrer, weitere Priester, Diakone und Hauptbe240
5.10 p r i e st e r au s b i l d u n g m i t vi s i o n: vo r s c h l äg e
rufliche nicht als Einzelne auf der Ebene von Gemeinden oder anderen Orten des Kircheseins wirken, sondern als ein gesandtes Team, das unter der Leitung des Pfarrers im Dienst an der Einheit und in der Förderung der Christen am Ort wirkt. Solche gesandten Teams zu entwickeln, wird eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft sein. Dabei geht es, wie gesagt, nicht um Homogenisierung von Spiritualitäten, sondern eher darum, dass im Miteinandersein und -agieren der Personen ein gemeinsame Vision und ein gemeinsamer Geist erfahrbar werden. Denn erst vor diesem Hintergrund eines gemeinsamen Bildes zukünftiger kirchlicher Entwicklungen werden auch gemeinsame Prioritäten und gemeinsames Handeln zielorientiert möglich werden: ein Handeln, das aus dem Geist Gottes heraus ermöglichend wirkt und die Gaben und Charismen der Christen vor Ort ins Spiel bringt.
5.10 Priesterausbildung mit Vision: Vorschläge für die weitere Diskussion Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass im Umfeld einer Kirche, die sich im Prozess der Wandlung befindet, die Frage nach der Ausbildung der Priesteramtskandidaten von großer Bedeutung ist. Angesichts der geringen Zahlen geeigneter Bewerber und entsprechend geringer Weihezahlen ist klar, dass die Zukunft des priesterlichen Dienstes herausfordernd anders ist: Das Bild eines Priesters, der vor Ort eine überschaubare Pfarrei gestaltet, ist nicht realistisch. Doch welche Vision des priesterlichen Dienstes kann Kraft und Energie freisetzen? Und welche Art der Ausbildung braucht es dafür? — Eine farbige Vision ermöglichen —
Auch wenn die konziliaren Texte und die dogmatische und pastorale Theologie das neue Bild einer Kirche zeichnen und reflektieren, reicht dies nicht aus, um eine farbige Perspektive pastoralen Dienstes zu ermöglichen. Mir scheint es hier wichtig zu sein, dass 241
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Seminaristen (und Priester) sich auf Erfahrungen einlassen, die Bezug nehmen auf die zu erwartenden kirchlichen Rahmendaten ihres Dienstes. Die Erfahrungen anderer katholischer Ortskirchen in Afrika, Lateinamerika und Asien, aber auch in Frankreich könnten dabei sehr unterstützen. Denn die größeren pastoralen Strukturen, die dort und überall zu finden sind, fordern ein anderes Pastoralverständnis heraus und eine andere Gestaltung des Leitungsdienstes. Nirgendwo ist weltkirchlich in Frage gestellt, dass das sakramentale Dienstamt die Verantwortung der Leitung hat – aber die Frage stellt sich hier nicht in der Konkurrenz zu anderen Leitungsfunktionen, sondern als Frage nach der konkreten Dienstgestalt. Diese Frage ist nicht unabhängig zu beantworten von der Weise des konkreten Kircheseins und der einprägsamen Bilder, die sich daraus ergeben. Es ist deswegen sinnvoll, dass Seminaristen wenigstens für einige Monate in Pfarreien anderer Kulturkreise mitleben und reflektieren, wie in anderen Kontexten das Leben der Kirche und der Dienst des Priesters in ihr gestaltet werden. Es geht ja um eine partizipative Kultur des Kircheseins, die aus der Fülle des gemeinsamen Priestertums lebt. Das Mitleben und Hineinwachsen in eine solche Kultur erscheint mir wichtig: Die Art und Weise, wie der sakramentale Dienst des Priesters das Wachsen dieser Fülle des gemeinsamen Priestertums ermöglicht, will ja nicht nur verstanden, sondern zutiefst erfahren werden. Die postmodernen Zeiten, in denen wir leben, bringen es mit sich, dass Priesteramtskandidaten deutlich nach einer eigenen priesterlichen Identität suchen. Das ist verständlich und schenkt ja auch eine notwendige Beheimatung. Gerade in diesem Kontext erweist sich aber die derzeitige Ausbildungsgestalt als ergänzungsbedürftig. Natürlich gibt es eine Reihe von Praktika, die dazu verhelfen könnten, einen realistischen Blick in die Praxis des Volkes Gottes zu werfen – aber das prägende Alltagsleben geschieht in (oft zu großen) Seminaren, in denen Seminaristen unter sich bleiben. So sehr es solche Wachstumsräume und Orte der Vergewisserung braucht, so sehr braucht es allerdings auch die perspektivischen Erfahrungen. Sonst wird das Wachsen einer 242
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priesterlichen Identität abstrakt bestimmt und formt sich aus der wechselseitigen Perspektive der Seminaristen: Eine solche Standesbildung ist nicht das Ziel des II. Vatikanums! — Mit dem Volk Gottes leben —
Deswegen wird viel darauf ankommen, die Priesterausbildung tiefer in ein Wechselspiel von Praxis im Volk Gottes und gemeinsamer Formung und Reflexion im Seminar zu verbinden. In anderen Ortskirchen ist es üblich, dass Seminaristen während der Zeit ihrer Ausbildung in einer Bezugspfarrei ab dem ersten Semester mitwirken und alle ihre Praktika, aber auch immer wieder andere Zeiträume dort verbringen. Das kann einen tieferen wechselseitigen Kontakt und eine Lerngeschichte mit dem dortigen Volk Gottes ermöglichen – und zugleich zu einer intensiven Beziehung des Lernens mit dem Pfarrer und seinem Team führen. In solchen Pfarreien, die sich praktisch als Ausbildungspfarreien erweisen, habe ich inzwischen viele Christen angetroffen, die ein hohes Interesse an der Priesterausbildung haben und gerne auf die eine oder andere Art ihr Feedback geben wollen. Ich halte diese Wachsamkeit des Volkes Gottes für beachtlich und erfreulich. Es gibt eine hohe Sympathie und Solidarität mit den Kandidaten, aber auch einen wohlwollenden Blick auf die Wachstumspotentiale. Es wäre wichtig, wenn diese Kompetenz noch intensiver genützt werden könnte. — Eine Kultur der Relecture —
Ausgangspunkt des Nachdenkens ist eine Erfahrung aus dem Exposureprojekt „Crossing over“: Die Erfahrungen in den USA und vor allem im Erzbistum Chicago zeigten gerade im Blick auf Priester und pastorales Personal, aber auch insgesamt in der Pastoral einer Pfarrei, dass hier ein ernsthaftes Bemühen um ein Wachsen in der Qualität vorhanden ist79. So werden die Priester 79 Vgl. zur Information M. Sellmann, Strukturen der Anerkennung, in Ders., Katholische Kirche in den USA, 143–153. 243
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nach fünf Jahren durch die Pfarrei evaluiert. Der Unterschied zu unserer deutschen Pastoralkultur ist deutlich: Auch wenn es natürlich Visitationen und damit so etwas wie eine regelmäßige Erhebung der Pfarrentwicklung gibt, wirkt auf mich diese Chance regelmäßiger Relecture und Evaluation oft ungenützt. Es fehlt dabei an zwei Akzenten: Auf der einen Seite sind die pastoralen Ziele zu wenig präzise beschrieben und reflektieren damit eine volkskirchliche Vergangenheit. Denn in dieser Zeit war klar, was zu tun war – und eine Weiterentwicklung des volkskirchlichen Musters war bestenfalls optional. So kam es zu einer Interventionskultur: Wenn massive Störungen auftauchten, kommt es zu einem intensiven Dialog, um möglichst bald einen Normalzustand zu ermöglichen. Damit echte pastorale Wachstumsprozesse wie auch Wachstumsprozesse der Priester wie der Hauptamtlichen möglich werden, braucht es eine andere Kultur – eine Kultur der Relecture und der Evaluation. Ich denke, dass es Zeit braucht, um eine solche Kultur zu etablieren – und wahrscheinlich wäre es gut, sie schon in der Priesterausbildung einzuüben. Im Zusammenhang mit der Aufnahme der Kandidaten werden ja in der Tat Erwartungen und Standards formuliert – aber bleibt es nicht dennoch eine Aufgabe, noch deutlicher die Inhalte und Kriterien zu formulieren und regelmäßig zu evaluieren? Wäre es nicht denkbar, hier nachhaltiger und systematischer mit den Kandidaten zusammenzuarbeiten, aber auch mit den Gemeinden und Praktikumspfarrern? Könnte man zum Beispiel zu Beginn der Ausbildung etwas deutlicher die Ziele der Ausbildung formulieren und damit Wachstumshorizonte im persönlichen, spirituellen, theologischen wie pastoralen Bereich angeben, die dann im Seminar, aber gerade auch von den Praktikumspfarrern und dem Volk Gottes, mit dem der Kandidat verbunden ist, genutzt werden könnten zu einer regelmäßigen Standortbestimmung? Dann wären auch die möglichen Wachstumshorizonte gut auszuleuchten und die Förderung von Kandidaten wäre präziser möglich. Das setzt eine Atmosphäre des Wohlwollens und des Vertrauens voraus. Es geht ja nicht darum, Druck auszuüben oder Kon 244
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trollen einzuführen, sondern um die Ermöglichung eines Wachstumsprozesses, an dem die Kirche wie der Kandidat Interesse haben sollten. Vielleicht könnten dann die Pfarrer der Ausbildungspfarreien als Mentoren für diesen geistlichen und ganzheitlichen Wachstumsprozess wirken. Langfristig würde sich hier eine neue Kultur der Relecture entwickeln, die nicht nur die Ausbildung der Kandidaten transparenter und kriterienorientierter machen könnte, sondern insgesamt die Pastoralkultur verändert: Evaluation und Relecture würden zu Grundkonstanten eines Bemühens um pastorale Entwicklung und persönliches Wachstum der pastoralen Akteure, besonders der Priester. — Spiritualität in Gemeinschaft einüben —
Wohlwollen und Vertrauen – das sind Voraussetzungen für eine pastorale Kultur, die ihrerseits grundgelegt sein wollen in einer Spiritualität, die von Gemeinschaftsvollzügen geprägt ist. In den Seminaren gibt es in der Tat viele gemeinschaftliche Vollzüge auch der Spiritualität, aber nach meinem Eindruck sind die Seminare immer noch herausgefordert, über die liturgische und persönliche Spiritualität hinaus sich selbst weiter zu entwickeln als „Schulen der Gemeinschaft“: Eine Spiritualität in Gemeinschaft zu entwickeln erscheint mir auch deswegen so notwendig, weil genau hier sich eine grundlegende Frage stellt in Bezug auf die zukünftige Entwicklung der Kirche. Zum einen erweisen sich Seminarien als Spiegelbild gruppendynamischer Prozesse, die es auch in vielen Gemeinden gibt. Da aber häufig genau hier kaum eine geistlich geprägte Gestaltung des Miteinanders erfolgt oder doch auch eher von einer Interventionslogik bestimmt bleibt, wird in den Seminaren nicht wirklich eingeübt, wie eine Spiritualität der Gemeinschaft gelebt werden kann: Das existenzielle Leben der drei Kommunionen reduziert sich zu stark auf liturgische Vollzüge und persönliche Spiritualität. Damit fehlt ein Eintauchen in die ekklesiale Wachstumsdynamik. Das Seminar darf aber nicht darauf verzichten, sich als existenzieller kirchlicher Ort zu begreifen: das gemeinsame Hören auf 245
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das Wort Gottes, das Teilen der eigenen Glaubenserfahrungen und eine Praxis gelebter Wechselseitigkeit der Liebe. Die sakramentale Grundgestalt des Kircheseins und damit die Erfahrung des auferstandenen Herrn gilt es zu ermöglichen. Dies umso mehr, weil ja das Handeln des amtlichen priesterlichen Dienstes genau diese Erfahrungen des Kircheseins ermöglichen soll. Deswegen ist eine solche Erfahrung so bedeutsam: sie schenkt eine Perspektive für das spätere pastorale Ziel des priesterlichen Dienstes, bei dem es ja darum geht, Wachstumsprozesse des Volkes Gottes zu ermöglichen.
5.11 Eschatologie und Pastoral: Vom langen Weg der pastoralen Entwicklung Es erscheint an vielen Stellen herausfordernd utopisch: ein Maximum an Partizipation zu ermöglichen, die Bildung unterschiedlicher Orte kirchlichen Lebens zu fördern und in ein Netzwerk einzubringen, eine Kirchenentwicklung zu fördern, die vom gemeinsamen Kirchesein und vom gemeinsamen Priestertum der Gläubigen her denkt. All dies sind ja Zielangaben eines langen Entwicklungsprozesses, in dem unsere Kirche schon steht. Aber all dies ist auch schon Gegenwart: Die ersten Erfahrungen und Aufbrüche sind durch diese Signaturen gekennzeichnet – und bezeugen vielversprechende Anfänge. Dabei geht es nicht zuerst um die Frage nach der Sozialform des Kircheseins, sondern es geht im Anschluss an das II. Vatikanum darum, das Volk Gottes als Gemeinschaft im Leib Christi ins Spiel zu bringen und so zu ermöglichen, dass das Leben der Christen am jeweiligen Ort, im jeweiligen Lebens- und Sozialraum und in der jeweiligen Sendung Ausdruck gelebten Kircheseins mitten in der Welt ist. Aber damit geht es eben nicht um eine Gemeindegestalt, sondern um das, was durch sie gezeigt werden soll: Zeichen und Werkzeug zu sein für das anbrechende Reich Gottes. Da das Wegziel des Volkes Gottes auf das Eschaton ausgerichtet ist, haben wir es hier mit einem Evolutionsprozess der Pastoral zu tun, der die Entwicklungslogik geradezu umkehrt: Es geht 246
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um ein Hineinwachsen in die Fülle des Reiches Gottes, und die Gegenwart kann als Meilenstein auf diesem Weg der Wandlung und Transformation gesehen werden; es geht darum, zu entdecken, wie und in welcher Weise die Zukunft schon in der Gegenwart ankommt, „vorscheint“; es geht darum, in vorsichtigen Schritten einer Kultur den Weg zu bereiten, in der das Reich Gottes – die gemeinsame Vision unseres Weges – vorerfahren werden kann. — Eine „Prozessionslogik“ —
Es geht, so machten die Erfahrungen und Reflexionen dieses Buches ja hinreichend deutlich, nicht einfach darum, eine pastorale Handlungsweise durch eine andere zu ersetzen – einfach etwas Neues zu tun. Das ist nicht schwer und uns gewohnt. Die Herausforderung besteht eher darin, sich gemeinsam mit dem Volk Gottes auf einen Suchweg zu machen. Man könnte das katholisch formulieren: Es geht um eine „Prozession“, an der alle beteiligt sind. Eine solche Prozessionslogik braucht es, damit nicht nur Strukturveränderungen und Veränderungen im geringer werdenden Personal zur Kenntnis genommen werden müssen – um dann zu versuchen, den Restbestand irgendwie zu gestalten. Es braucht vielmehr eine gemeinsame Bemühung aller Betroffenen um die Ausrichtung auf die Zukunft: Eine Prozession muss um das Ziel wissen – und kann dann auch sehr lange auf dem Weg sein. Was also zur Zeit noch fehlt, ist die gemeinsame Vergewisserung eines Zieles, auf das hin wir als Kirche unterwegs sind. Ohne eine solche Vision „verkommt das Volk“ (Spr 29,18). Es ist die Aufgabe der Verantwortlichen, eine solche Zielperspektive in sich zu tragen – und es ist auch ihre Aufgabe, Schritt für Schritt mit allen diese Zielperspektive zu ergreifen und zu bewohnen. Häufig finden solche Prozesse allerdings gar nicht statt. Gemeint sind ja nicht das Ringen um die Regelung von Gottesdienstzeiten und -räumen, die strukturellen Fragen in Räten und Dienstbesprechungen und die gesamte finanzielle Verwaltung: 247
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Eine solche Reorganisation der Strukturen darf nicht verwechselt werden mit einer wirklichen Entwicklung des Kircheseins. So sehr Strukturentwicklung zu jeder Kirchenentwicklung gehört – so sehr ist auch klar, dass Strukturen lediglich einen „Rahmen der Ermöglichung“ schaffen, die ja die eigentliche Entwicklung kirchlichen Lebens hervorbringen soll. Kirchliches Leben zu entwickeln, das geht aber nur vor dem Hintergrund einer Zielperspektive, und es wird auch nur dann einem pastoralen Positivismus entgehen, wenn möglichst viele Menschen dieses Ziel sich zu eigen machen können. Sonst bleibt jeder Schritt merkwürdig gleichgültig. Dort, wo Krisen und neue Situationen zu meistern sind, braucht es solche gemeinsamen Vergewisserungen um das Ziel. Dabei geht es immer um praktische Lösungen – aber niemals nur um einen visionsfreien Regelungswunsch. Denn hinter jeder Regelung steht auch ein Bild der Kirche – und gerade dieses Bild der Kirche gemeinsam in den Blick zu nehmen, darum geht es. Das ist zweifellos mühselig. Und es wird nicht schnell gehen – aber gerade die Langsamkeit des Weges entspricht der Herausforderung, ein gewohntes Bild gelebter Versorgungskirche durch die Wirklichkeit einer echten Partizipation im Sinne des gemeinsamen Priestertums der Gläubigen zu transformieren. — Experimente wagen und evaluieren —
Auf dieser Schiene einer suchenden und zielorientierten Entwicklungsbewegung braucht es Vertrauen und Mut zu Experimenten. Aber auch hier gilt: Eine Logik immer neuer Initiativen und Angebote ist möglichst zu verhindern. Auch hier geht es darum, pastorale Innovation einerseits zu ermöglichen, andererseits aber auch die Erfahrungen auf dem Weg zu erheben. Für die vielen Experimente und Aufbrüche, die es in unseren Kirchen gibt, fehlt häufig eine entsprechende Kultur der Evaluation. Zugleich fehlt auch ein Raum, in dem diese sehr spannenden Erfahrungen ausgetauscht und fruchtbar gemacht werden können. Auch das verweist auf den anstehenden Paradigmenwechsel: Pastorale Entwicklung lässt sich nicht wirklich produzieren, weil 248
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sie von Inspirationen und unerwarteten Aufbrüchen lebt – vom Kairós des Geistes. Das heißt aber nicht, dass hier keine Steuerung stattfinden könnte oder sollte, im Gegenteil: Die Steuerung besteht aber darin, das gemeinsame Ziel zu vergewissern, den Raum zu eröffnen für neue Aufbrüche, Vertrauen zu investieren – und Räume und Gelegenheiten zu schaffen, immer wieder darauf zu schauen, wie sich die einzelnen Projekte entwickeln – und ob sie auf dem gemeinsamen Weg einen Fortschritt bedeuten. Wir, die Kirche, sind dann lernende Gemeinschaft auf dem Weg. Wir brauchen dabei zum einen die tiefe Verwurzelung im Ursprung der göttlichen Verheißungen, zum anderen die Bereitschaft, uns „auszustrecken“ auf das Ziel unseres Weges und gelassen neue Wege zu wagen. — „Pragmatismus: Vom Charme der offenen Welt“ —
Matthias Sellmann reflektiert in seinem lesenswerten Erfahrungsbuch über die US-amerikanischen Katholiken80 intensiv über die Geisteshaltung, die eine solche prozessorientierte Logik – eine „Prozessionslogik“ – hervorbringt. Möglicherweise ist der tiefe genetische Sozialcode der ersten amerikanischen Siedler dafür verantwortlich, dass eine experimentelle Pastorallogik leichter möglich ist – und nicht einfach nur überaktivistische Energie verrät. Im Hintergrund steht ein denkerisches Paradigma: „Es ist die ‚offene Welt‘, in die man sich handelnd hinein entwirft und deren Wahrheit man nicht gehorsam entdeckt, sondern leidenschaftlich erfindet ... Man geht fehl, wenn man im Pragmatismus nur eine Haltung des ‚Zupackens‘ vermutet. Vielmehr ist er eine spezifische Form der Weltzugewandtheit, die den Adel des Menschseins gerade darin sieht, im problemlösenden Handeln der Signatur der Wirklichkeit zu entsprechen. Man findet Wahrheit, wenn man sich vom Handeln führen lässt“81. 80 Vgl. zum Folgenden M. Sellmann, Katholische Kirche in den USA, Was wir von ihr lernen können, Freiburg 2011. 81 Ebd. 42. 249
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Der Ausgangspunkt einer solchen Prozesskultur der Neuentdeckungen ist also immer ein wahrgenommenes Problem: Insofern haben wir in Deutschland und im deutschsprachigen Raum Chancen über Chancen. Gerade die „Probleme“ sind es dann, die auffordern, den Blick in eine kirchliche Zukunft zu wagen, gemeinsam über das nachzudenken, was uns durch diese Herausforderung über die Kirche und ihre Zukunft erzählt wird: hier ist ein Kairós der Begegnung mit dem Reich Gottes, hier ist ein „heiliger Boden“, unerwartet. Genau hier ist dann auch der Ort, mit möglichst vielen Betroffenen gemeinsam neue Lösungen auszuloten und die Verheißung tiefer zu entdecken. Dann kann mutig gewagt werden. Das Entdecken der neuen Wege, das leidenschaftliche Finden geschieht in einem Prozess des mutigen Betreten des Neulandes. Und dann spielt sich in der Tat eine Art pastoraler Evolutionsprozess ein: Viele der Aufbrüche werden misslingen – aus dem, was da geschehen ist, müssen alle lernen können. Zugleich aber werden sich unerwartete Resonanzen und Wachstumsprozesse ereignen, die ansichtig machen, wie das Volk Gottes in die Zukunft geführt wird. Das ist in der Tat ein nach vorne offenes Land, ein offener Prozess – ein Weg des Glaubens daran, dass wir Gottes Spuren und Gottes Führung entdecken können, indem wir uns einlassen auf seine Verheißungen. Ja, es stimmt: Die Kirche ist immer dabei, über den Jordan zu gehen. Sie kommt in diesem Sinne nicht an, sondern ihr Kennzeichen ist gerade dieser Übergang. Glücklich macht, dass wir als Grundwirklichkeit in der Gegenwart des Herrn stehen – und dass uns Geleit gewährt wird bis zum Ziel.
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6. Nichts ist unmöglich ... Ist eine partizipative Kirche möglich? Wie kann dieses Ziel erreicht werden in einem komplexen Wandlungsvorgang des Sterbens? Werden wir einen geistlichen Weg finden, damit hier nicht reine Strukturlogik zum Vorschein kommt, wie wir sie nur viel zu gut aus allen vergangenen Umbildungsversuchen der Kirche kennen? Wie lange wird ein echter Umbruchsprozess dauern? So viele Fragen. Und erste Antwortversuche, die in diesem Buch versucht werden und nun zur Diskussion stehen. Immer klarer wird allerdings, dass dieser Prozess schon lange in Gang ist. Und zwar weltweit. Denn wenn auf der einen Seite die Globalisierung eines freiheitlich-konsumistischen Lebensstils auch die hintersten Dörfer Südafrikas fast zeitgleich mit den Metropolen Europas erreichen kann, dann wird auch ebenso gleichzeitig an vielen Orten der Welt die Antwort des Evangeliums versucht zu formulieren. — Bloemfontein, im Oktober 2012 —
Im Oktober 2010 lernten wir sie kennen: die Jugendlichen von St. Mark, in der Township von Bloemfontein. Unglaublich: Während die anderen Kleinen Gemeinschaften durch einen neuen Pfarrer nicht weiter gefördert wurden und jetzt nur noch dem gezielten Kollektensammeln dienen, hat sich die „Zellgruppe“ der Jugendlichen lebendig erhalten. Warum das so war, wurde uns damals deutlich: Wenn nämlich Jugendlichen das Evangelium vom reichen Prasser und vom armen Lazarus mit uns lesen, und dann einer der jungen Männer sagt: „Ich fühle mich reich, weil wir hier das Evangelium teilen können – wie kann ich Anteil geben an diesem Reichtum?“, dann bleibt einem die Spucke weg ... Auch im Oktober 2012 sind wir in Südafrika. Eine Priesterfortbildung: Wenn nämlich Visionen ergriffen werden wollen 251
6. n i c h ts i st u n mö g l i c h ...
und ergreifen wollen, dann muss man sie auch ansehen können, in Johannesburg, in Soweto, in Aliwal North – und schließlich in Bloemfontein. Es ist ein Wiedersehen: „Wie wichtig das gewesen ist, dass ihr seinerzeit gekommen seid – und auch heute wieder“, sagt Sebabatso, die junge Frau, die im Team mit einem Jugendlichen die Gruppe leitet. Etwa 40 Jugendliche sitzen in einem Raum dieser Gemeinde. Wir sind 10 Priester plus Bischof Wüstenberg. Sie singen – und Afrikaner singen unglaublich. Wir stellen einander vor. Und es ist zum Staunen: Tanzlehrerinnen, Poeten, Tänzer, Studenten, Arbeitslose, Schülerinnen – für sie ist die Zellgruppe Halt und Gemeinschaft im Evangelium. Wir lesen das Evangelium vom kommenden Sonntag und die zwei Lesungen: in Englisch, Sutu und Deutsch. Und wir erzählen. „Keine Gedanken, sondern euer Leben ...“, mahnt der Leiter. Und so teilen wir unglaubliche Erfahrungen des Leidens, der Neuanfänge, des Rassismus, der zerstörten Familien. Und wir staunen über diese jungen Menschen. Sie sind diese Kirche der Zukunft: im Leben aus dem Evangelium, in der Gemeinschaft, die standhält in einer häufig sehr brutalen Wirklichkeit. Und man merkt: Sie haben stupende Bibelkenntnisse. Aber das ist es nicht. Vor allem lässt sich in ihrer Mitte das Geheimnis des Auferstandenen, der wirklich da ist, erspüren. „Wie sollten wir Angst um die Zukunft der Kirche hier in Südafrika haben – wenn es solche Jugendlichen gibt“, sagt einer der Priester, die mit uns auf dem Weg. Wir sind angerührt, ergriffen. Ja, es ist möglich ... — Es ist möglich —
Klar wird: Die Christen der Zukunft werden Menschen sein, die wirklich von einer inneren Erfahrung mit dem lebendigen Gott erzählen können. Für sie ist die Schrift Quelle ihres alltäglichen Lebens: ob in Bodenwerder in Niedersachsen, in den Stadtvierteln von Mumbai, ob in Soweto oder in London – dies ist eine erste Konstante dieses neuen christlichen Kairós. 252
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Klar wird auch: die Christen der Zukunft werden so aus der Würde ihrer Teilhabe am priesterlichen, prophetischen und königlichen Priestertums leben. Sie werden es gemeinsam tun, und sie tun es schon, indem sie in örtlichen Gemeinden, kleinen christlichen Gemeinschaften, in Netzwerken örtlicher Kirchengemeinden und Verbänden, in Bewegungen und Orden, aber auch in ganz neuen Sozialformen eine Selbständigkeit und Treue zu Evangelium und Tradition bezeugen. Klar ist: Dieses Zeugnis richtet sie aus auf einen Dienst an der Welt und an ihren Menschen – ja es kommt zu einer Sendungsorientierung, die gleichzeitig auch lernt von den Erfahrungen jener, die nicht „zur Kirche gehören“, denn dieser Weg macht die Kirche zum Licht, in dem Christus erstrahlt: sie wird Zeichen und Werkzeug des anbrechenden Reiches Gottes. Die Erfahrungen solcher Aufbrüche, die ich in den vergangenen Jahren erleben konnte, sprechen eine konsonante und überzeugende Sprache. Klar lässt sich auch erkennen: Die Christen, die in dieser Weise Zeichen und Werkzeug sind, werden vielleicht wenige sein, aber sie werden mit ihren Brüdern und Schwestern in der Welt „Sauerteig“ sein: sie werden der Welt ihre Seele geben. Und sie werden Stellvertreter vor Gott für die ganze Menschheit sein. Denn entscheidend bleibt in dieser Zukunftsentwicklung: in ihrer Mitte lebt der Herr, und er allein kann erlösen, heilen, erneuern. Was können wir tun? Nichts ist unmöglich für den, der glaubt. In der Tat: Mit diesem Glauben wächst eine neue Kultur des Kircheseins, die im II. Vatikanum prophetisch formuliert wurde. Wie jeder Mentalitätswandel braucht diese Kultur gut fünf Jahrzehnte, um wirklicher zu werden. Die derzeitigen Krisen ermöglichen ein Offenbarwerden dieses Weges in unserer Zeit. Weltweit, überall, mit Kraft. Häufig im Dunkel mancher Regressionen und Rückschläge – und deswegen braucht es diesen Glauben an die unbegrenzten Wege Gottes mit uns: Nichts ist unmöglich für den, der glaubt.
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Christian Hennecke
Kirche, die über den Jordan geht Expeditionen ins Land der Verheißung
Kirche, die über den Jordan geht ... Der Titel klingt doppeldeutig, beschreibt aber eine eindeutige Richtung: Das Volk Israel, das aus der Sklaverei in Ägypten aufgebrochen ist in das verheißene Land, findet sich in der Wüste wieder. Zweifel, Murren, rückwärtsgewandte Sehnsucht behindern den weiteren Weg Gottes mit seinem Volk. Die Situation unserer Kirche ähnelt dem biblischen Szenario. Der Exodus liegt hinter uns, unser Ort ist die Wüste. Wie geht es weiter? Dieses Buch lädt ein, der Führung Gottes zu vertrauen, den Jordan zu überschreiten und den Einzug in das unbekannte Land zu wagen.
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Christian Hennecke
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Wie Kirche über sich hinauswächst CHRISTIAN HENNECKE ist mittlerweile im deutschsprachigen Raum ein vielbeachteter Autor und geschätzter Gesprächspartner, wenn es um Fragen der Zukunft von Christentum und Kirche geht. Seine »GLÄNZENDEN AUSSICHTEN« bleiben diesen drängenden Themen treu. Hennecke richtet seinen Blick vielfach über den deutschen Tellerrand hinaus und erzählt von neuen Gruppen, kirchlichen Initiativen und christlichen Aufbrüchen in Europa und rund um den Globus. Diese vielfältigen Erfahrungen im Kontext der Weltkirche weiß er für die Suche nach einer Zukunft von Kirche und Christentum hierzulande fruchtbar zu machen.
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