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Lebensgefühle Wie es ist, ein Mensch zu sein Ferdinand Fellmann
Meiner
Ferdinand Fellmann
Lebensgefühle Wie es ist, ein Mensch zu sein
Meiner
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3433-9 ISBN eBook: 978-3-7873-3434-6
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Inhalt
Prolog
Der Mensch im Spiegel seiner Gefühle . . . . . . . .
7
Einleitung Überblick über die einzelnen Kapitel . . . . . . . . . .
15
Kapitel I
Lebensgefühl im Spektrum der Gefühle . . . . . . .
25
Kapitel II
Lust und Unlust aus lebensphilosophischer Sicht .
33
Kapitel III
Selbstbewusstsein, Ichgefühl und Erotik . . . . . . . 44
Kapitel IV
Sympathie, Empathie und Ironie . . . . . . . . . . . . .
61
Kapitel V
Wie Gefühle moralisch entscheiden . . . . . . . . . .
76
Kapitel VI Gelebte Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Kapitel VII Absoluter Raum und gefühlte Räume . . . . . . . . . 104 Kapitel VIII Lebensgefühle in der globalen und digitalen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Kapitel IX
Was Lebensgefühle sind und wie man damit umgeht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Epilog
So ist der Mensch – einfach so! . . . . . . . . . . . . . 127
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Prolog Der Mensch im Spiegel seiner Gefühle
Der Mensch ist, was wir alle kennen. (Demokrit)
I
n Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, in denen das Selbstverständnis des Menschen ins Wanken gerät, ist die Frage: »Was ist der Mensch?« aktueller denn je. Denn von der Antwort hängt ab, was wir Menschen aus der Welt, in der wir leben, und aus uns selbst machen. Philosophen haben das Wesen des Menschen verschieden definiert, aber keine Definition ist erschöpfend. Immer sind es einzelne Züge, die hervorgehoben werden. So etwa, wenn Friedrich Nietzsche den Menschen ein »krankes Tier« nennt oder Max Scheler ihn als »Nein-sagen-Könner« bezeichnet und Sigmund Freud vom »Triebverdränger« spricht.
Definitionen des Menschen Überblickt man die zahlreichen Definitionen, so lassen sich zwei Grundtypen feststellen: Zoon logikon – animal rationale – und Zoon politikon – animal sociale –, wie es bei Aristoteles heißt. Am bekanntesten ist die Definition des Menschen als animal rationale, als Vernunftwesen, das den Menschen vom Tier unterscheidet. In der rationalistischen Tradition der Neuzeit, namentlich bei Descartes, steht das Denken an vorderster Stelle. Das Cogito freilich verengt das Psychische, es macht aus dem Menschen einen »Engelskopf ohne Leib«, wie Arthur Schopenhauer ironisch formuliert hat. Dagegen ist unsere Selbsterfahrung an Befindlichkeiten gebunden, die intensiver und wechselvoller sind als der reine Intellekt. Gleichwohl stellten die antiken Stoiker die Vernunft über die Triebe, und | 7
auch Spinoza war davon überzeugt, dass die Vernunft die Affekte restlos beherrschen könne. So ist die rationalistische Auffassung des Menschen als vernünftiges Lebewesen zum Gemeingut der Philosophie der Aufklärung geworden und dominiert die theoretische und praktische Philosophie bis zu Immanuel Kant und den Neukantianern. Dagegen hat die Bestimmung des Menschen als soziales Wesen im Rahmen der idealistischen Philosophie Hegels, der das Individuum der Gesellschaft unterordnet, zunehmend an Bedeutung gewonnen. Die Vernünftigkeit des Menschen wird daher weniger im Erkennen als vielmehr im Handeln gesucht. Unter Handeln ist primär die politische und soziale Praxis zu verstehen, im Unterschied zum handwerklichen Herstellen. Auch Arnold Gehlen hat in seinem Klassiker Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940/1966) das Handeln in den Mittelpunkt gestellt. Anders als das Tier sei der Mensch darauf angewiesen, Handlungsformen zu entwickeln, die seine biologische Unangepasstheit ausgleichen und auf Veränderung der Umwelt ausgerichtet sind. Selbst die Sprache gilt Gehlen als spezifisch menschliche Form des Handelns. Die moderne Sprachhandlungstheorie der analytischen Philosophie im Gefolge von John Austin bewegt sich auf dieser Linie. Erkennen und Handeln machen aber nicht den ganzen Menschen aus. Hinzu kommt das Fühlen. Dieser Aspekt ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Rahmen des Pietismus zunehmend ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Daraufhin hat sich die Psychologie auf den Weg gemacht, den rationalistisch und soziologisch verengten Begriff des Menschen durch Beschreibungen des subjektiven Erlebens zu erweitern. Die Entdeckung des Unbewussten durch die Tiefenpsychologie und die Mechanismen der Verdrängung durch die Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben gelehrt, dass der Mensch neben der Außenwelt in einer Innenwelt lebt, die eigenen Gesetzen emotionaler Motivation unterliegt. Menschen sind Gefühlstiere höchsten Grades, mit triebhaften Willensimpulsen, die durch die Vernunft nur schwer zu kontrollieren sind.
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Phänomenale Subjektivität Vor diesem Hintergrund ist es angesagt, die anthropologische Frage neu zu formulieren. Nicht nach dem Wesen des Menschen fragen wir, sondern unsere Frage lautet: »Wie ist es, ein Mensch zu sein?« Mit dieser Formulierung knüpfen wir an den bekannten Aufsatz des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel an: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? (Nagel 1981) Da eine Fledermaus mit anderen Sinnen ausgestattet ist als der Mensch, können wir ihre Erlebnisperspektive nicht erschließen. Die Antwort auf Nagels Frage muss sich auf Zuschreibungen beschränken, die in Analogie zu menschlichen Gefühlen dem beobachtbaren Verhalten des Tieres angemessen sind. Dabei gehen die Verhaltensforscher davon aus, dass das Tier in Übereinstimmung mit seiner Umwelt lebt, so dass Verhalten und Empfinden sich weitgehend decken. Menschen können vom subjektiven Erleben her Auskunft darüber geben, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein. Allerdings erreicht nicht alles, was wir wollen und denken, unser Bewusstsein, und unser Sprechen verschleiert oft, was wirklich in uns vorgeht. Daraus ergibt sich der paradoxe Sachverhalt, dass wir über unser Innenleben kaum besser Bescheid wissen als über das der Tiere. Angesichts dieser Undurchsichtigkeit der Subjektivität hat der Philosoph Hans Blumenberg in seinem posthum erschienenen Buch Die Beschreibung des Menschen die anthropologische Frage umformuliert. Er fragt nicht: »Was ist der Mensch?«, sondern: »Wie ist der Mensch möglich?« (Blumenberg 2006, 535). Damit will er über eine bloße Zusammenfassung einzelner Züge des Menschen hinausgelangen. Das ist ein sinnvoller Schritt, da gemäß der Gestaltpsychologie das Ganze mehr ist als die Summe der Teile. Doch »Bedingung der Möglichkeit« ist eine Formulierung aus dem transzendentalen Idealismus Kants, der ins Reich der Ideen verweist. Auch der Begründer der modernen Phänomenologie, Edmund Husserl, wollte durch seine Methode der sogenannten transzendentalen Reduktion die Strukturen des reinen Bewusstseins freilegen, die der Wirklichkeit Regeln vorgeben. Er spricht von »Wesens anschauung« als einer eigenen Erkenntnisform, die zum Urgrund der Dinge vorstoßen soll. Eine derartige Erkenntnisform, auch »Intuition« genannt, bleibt jedoch ein problematisches Postulat. Der Mensch im Spiegel seiner Gefühle | 9
Lebenserfahrung und Lebensgefühl Um eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie es ist, ein Mensch zu sein, ist es erforderlich, beide Seiten der Lebenserfahrung, die objektive und die subjektive, miteinander zu verbinden. Dafür bietet sich der Begriff »Lebensgefühl« an. Obwohl in der deutschen Alltagssprache die Rede vom Lebensgefühl geläufig ist, fehlt es an einer klaren Definition. »Lebensgefühl« ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Lebensphilosophie vom Psychologen Philipp Lersch als Fachterminus verwendet worden (Lersch 1941). Der Begriff hat sich aber nicht durchgesetzt, wahrscheinlich weil er durch vitalistische Vorstellungen belastet war. Hinzu kommt, dass die modernen Emotionstheorien sich an der englischen Fachliteratur orientieren und im englischsprachigen Raum »feeling of life« oder »feeling of living« weder alltagssprachlich noch als wissenschaftliche Termini gebraucht werden. Trotz aller Einschränkungen macht es Sinn, am »Lebensgefühl« als Schlüsselbegriff der philosophischen Anthropologie festzuhalten. Die Nähe zum Begriff der Stimmung, soweit man darunter unbestimmte psychische Zustände versteht, ist offenkundig Doch »Lebensgefühl«, wie der Begriff hier verwendet wird, unterscheidet sich von Stimmungen, die schnell wechseln und das Verhalten kaum beeinflussen. Dagegen ist das Lebensgefühl eine Form der Überzeugung, die Handlungsbereitschaft impliziert. Sie verleiht dem Menschen die Gewissheit, in der Welt präsent zu sein – eine Gewissheit, die sich durch alle Befindlichkeiten, positive und negative, durchhält. Das macht die Absolutheit des Lebensgefühls aus, das wie die Liebe keiner rationalen Begründung bedarf. Das Lebensgefühl bezieht sich auf alles, was Menschen umgibt, es ist Lebensraum und Weltraum, Lebenszeit und Weltzeit zugleich. Man könnte auch von »Weltgefühl« sprechen, eine umfassende Befindlichkeit, die der Subjekt-Objekt-Spaltung des intentionalen Bewusstseins vorausgeht. Wie »Lebensgefühl« als Schlüsselbegriff des menschlichen In-der-Welt-Seins fungiert und nach welchen Kriterien es als eigene Klasse von Emotionen definiert werden kann, erfordert eine Zugangsweise, die sich quer zu den gängigen Methoden der Lebenswissenschaften verhält. Die Biologie hat den Ausdruck der 10 | Prolog
Gefühle bei Mensch und Tier verglichen und weitgehende Übereinstimmungen festgestellt (Darwin 2000). Die experimentelle Psychologie hat einzelne Verhaltensweisen und Gefühlsäußerungen untersucht und das Prinzip der »psychischen Kontraste« aufgestellt (Wundt 1914). Doch die Übersetzung der psychischen Elemente in Allgemeinbefindlichkeit bleibt ungeklärt. Auch die verstehende Psychologie von Wilhelm Dilthey, die das subjektive Erleben in den Mittelpunkt stellt, hat hier keinen definitiven Durchbruch gebracht. Um dem Gefühlsleben in seiner Ganzheit näher zu kommen, muss die Analyse von einzelnen Empfindungen absehen. Aber bleibt dann »Lebensgefühl« mehr als ein leeres Wort? Für die Antwort ist der erste Teil des Wortes aufschlussreich: »Leben«.
Leben als philosophischer Begriff Nun ist »Leben« selbst ein vieldeutiger Begriff, so dass man leicht vom Regen in die Traufe gerät. Der Begriff bewegt sich zwischen zwei Bedeutungen, die sich überschneiden. Zum einen das rein organische Entstehen und Vergehen, das dem Streben nach Selbsterhaltung bei Mensch und Tier zugrunde liegt. Zum anderen die menschlichen Lebensformen, die vom Streben nach Glück geleitet sind. Wie das individuelle Leben verläuft, ob Menschen das Glück finden, nach dem sie streben, äußert sich in Gefühlen, die mit Wertungen verbunden sind. Daher ist der Mensch in seinem Denken und Tun weder gänzlich frei noch vollständig determiniert, sondern er kann zwischen emotional vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten wählen. Dadurch wird der blinde Wille zur Vorstellung, die dem Dasein Sinn und Bedeutung verleiht. Als Vorstellung erhält das Fühlen eine den ganzen Menschen repräsentierende Bedeutung, die über einzelne Emotionen hinausweist. Insofern besteht zwischen Leben und Gefühl eine Strukturanalogie, wie sie auch sonst bei Allgemeinbegriffen anzutreffen ist. Die Analogie besteht darin, dass die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins erweitert werden und an die Grenze unseres Fühlens und Denkens gelangen, ohne diese vollständig auszu löschen. Insofern ist »Lebensgefühl« kein leeres Wort; es bezeichnet Der Mensch im Spiegel seiner Gefühle | 11
ein allgemeines Gefühl, das den emotionalen Hintergrund des intentionalen Bewusstseins bildet.
Die Selbstverständlichkeit des Lebensgefühls Lebensgefühle haben verschiedene Qualitäten, man kann sie »optimistisch«, »pessimistisch«, »tragisch« usw. nennen. Aber alle Lebensgefühle werden aus derselben Quelle gespeist, aus dem Willen zum Leben, den Sigmund Freud »Eros« genannt hat. Daher führt das Nachdenken über das Lebensgefühl stets auf das Liebesleben in der Natur zurück, auf die sinnlichen Erregungen, die den Menschen antreiben. Der dynamische Charakter des Lebensgefühls ist schon von Nietzsche hervorgehoben worden, der darin den aus dem Willen zur Macht gespeisten »Zusammenhang des Erlebten« sieht (KSA 14, 14). Sicherlich haben die meisten Betätigungen und Gefühle der Menschen nichts mit Sexualität zu tun, die zum Privatleben gehört. Und doch ist die erotische Dimension latent wirksam, wenn auch kulturell ausgerichtete Denker hier »Biologismus« vermuten. Aber die Erotik gehört nun mal zur Natur des Menschen, selbst wenn von Philosophen neuerdings bezweifelt wird, dass der Mensch überhaupt eine Natur hat. Das Leben, wie jeder es erlebt, bedarf keiner Begründung. Die Frage, warum jemand überhaupt leben will, ist ebenso unsinnig wie die Frage, warum man glücklich werden will. Sie verweist auf das Lebensgefühl, das sich von selbst versteht und lediglich in seiner inhaltlichen Ausrichtung der näheren Bestimmung durch Motive bedarf. Das heißt aber nicht, dass das Lebensgefühl leer und bedeutungslos ist. Denn Selbstverständlichkeit bedeutet nicht Gleichgültigkeit. Das Lebensgefühl hat eine innere Verbindung zur Lebenserfahrung, ein implizites Wissen, das den Menschen erste Orientierung im Umfeld bietet. Die Phänomenologie spricht von »Selbstgegebenheit« allgemeiner Vorstellungen, die dem objektiven Erkennen von Gegenständen vorausgeht. Kurzum: Bewusstseinszustände haben ihre subjektive Evidenz, die im Lebensgefühl als selbstverständlich erfahren wird. Der Begründer der biologischen Umweltlehre, Jakob von Uexküll, hat in seinem Erinnerungsbuch Niegeschaute Welten die Schwierigkeiten im Umgang mit dem 12 | Prolog
Selbstverständlichen klar ausgesprochen: »Das Selbstverständliche ist das dunkelste Forschungsgebiet« (von Uexküll 1936, 96). Um das Selbstverständliche verständlich zu machen, hat Hans Blumenberg eine »Theorie der Unbegrifflichkeit« entworfen, die gefühlte Bedeutungen durch Metaphern erschließen will. Dieses Programm beschreibt Blumenberg so: »Es geht um die schlichte Sistierung von Gegenwart als Selbstverständlichkeit, die den Zeitgenossen immer als das letzte Wort erscheinen wird, das zur Sache zu sagen war« (Blumenberg 1979, 83). Damit wird ein phänomenologischer Zugang zum Lebensgefühl eröffnet, bei dem »Leben« als Objekt und gleichzeitig als sich selbst genügende Subjektivität fungiert. In diesem Doppelsinn führt der Begriff des Lebensgefühls zur Beschreibung des Menschen, die so alt ist wie die Geschichte von Adam und Eva. Eine lebensphilosophische Anthropologie, wie sie in diesem Buch vertreten wird, sucht das Menschsein in verschiedenen Schichten des psychischen Lebens, von der unbewussten Triebhaftigkeit bis zu den symbolischen Formen des Bewusstseins. Sie beschränkt sich nicht auf Individual- und Sozialpsychologie, sondern bezieht die evolutionäre Psychologie mit ein. Das Erwachen der vorsprachlichen Gefühle, die wir Neugeborenen zuschreiben, wird von modernen Evolutionsbiologen in Szenarien der Menschwerdung auf die Gattung übertragen. So lässt sich im Vergleich mit dem Tier veranschaulichen, wie es dazu gekommen ist, sich als Mensch zu fühlen. In Anlehnung an Heinrich von Kleists Marionettentheater möchte ich mein methodisches Vorgehen etwas poetisch so formulieren: Das Paradies ist uns verschlossen, seit wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, doch »wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist« (Kleist 1984, 88). Das Lebensgefühl bringt uns durch seine Selbstreferenz zurück ins Paradies, freilich auf einer höheren Ebene der Reflexion. Damit ist das Leib-Seele-Problem zwar nicht gelöst, aber doch ein Weg aufgezeigt, wie die Sprache der Gefühle in Wortsprache übersetzt werden kann. Auf jeden Fall werden wir auf unserer Reise ins Reich der Lebensgefühle erleben, wie es ist, ein Mensch zu sein – selbstverständlich.
Der Mensch im Spiegel seiner Gefühle | 13
Einleitung Überblick über die einzelnen Kapitel
D
ie philosophische Anthropologie ist keine Fachwissenschaft, aber sie verarbeitet die Forschungsergebnisse der Wissenschaften vom Menschen, wie Psychologie, Soziologie, Linguistik usw. Darüber hinaus sind für die Beschreibung des Menschen literarische Texte unschätzbare Quellen. In der Fiktion lassen sich Bewusstseinszustände umfassender beschreiben als durch empirische Untersuchungen. Psychische Sachverhalte sind mehr als ein Bündel von Daten; subjektives Erleben umfasst Eindrücke, die in ihrer Gefühlsqualität durch Datensammlungen nicht vermittelbar sind. Wie sich beispielsweise Heimweh anfühlt, weiß nur, wer die Heimat verlassen musste. Oder was Sehnsucht heißt, erfährt nur ein Liebespaar, das sich trennen muss. Gefühle können am besten durch Lebensgeschichten vermittelt werden, die von Nirgendwo kommen und nach Überall führen. Die Verbindung gegensätzlicher Gefühle gehört zum Wesen des Lebensgefühls, das alles durchdringt und uns versichert, Mensch in der Welt zu sein. Um eine Vorstellung davon zu vermitteln, was die Leserinnen und Leser erwartet, folgt ein kurzer Überblick über die einzelnen Kapitel dieses Traktats.
I : Lebensgefühl im Spektrum der Gefühle Im ersten Kapitel geht es um die Frage, was Gefühle sind. Wir alle kennen unsere Gefühle, sind auch überzeugt, dass unsere Mitmenschen etwa die gleichen Gefühle haben wie wir. Aber wenn wir sagen sollen, was Gefühle sind, haben wir unsere liebe Not. Die Psychologie unterscheidet zwar zwischen Empfindungen, Gefühlen und Emotionen, aber klare Abgrenzungen fehlen. Auch in der Alltagssprache verschwimmen die Grenzen. Wir nennen Schmer | 15
zen Empfindungen, wir sagen aber auch, dass man den Schmerz fühlt. Ähnlich verhält es sich mit der Unterscheidung von Gefühl und Emotion, die durch die Übernahme der englischen Terminologie in der Wissenschaft gängig ist, im Alltag aber kaum eingehalten wird. Im Lehrbuch der Psychologie von Wilhelm Jerusalem findet sich folgender, heute lustig klingender Satz, der zeigt, wie fremd Anglizismen um 1900 noch waren: »Aber nicht nur die Verstandestätigkeit, auch die Funktion des Fühlens verlangt nach Betätigung. Neben den intellektuellen gibt es auch emotionelle (nach dem englischen Wort emotion, sprich: emoschen = Gefühl) Funktionsbedürfnisse, deren Befriedigung Lust gewährt« (Jerusalem 1907, 161). Um im terminologischen Chaos etwas Ordnung zu schaffen, gebe ich eine Übersicht über gängige Emotionstheorien. Der Übersicht ist zu entnehmen, dass der Begriff der Emotion sich gegen eine eindeutige Definition sperrt. Man kann allenfalls Listen von Emotionen aufstellen, die eine gewisse »Familienähnlichkeit« erkennen lassen und auf elementare Gefühle wie Wut, Trauer, Angst usw. verweisen. Damit ist man aber noch nicht beim Lebensgefühl, das als unbewusst wirkender Hintergrund einzelnen Emotionen ihre Evidenz verleiht. Den Gefühlshintergrund des intentionalen Bewusstseins hat schon Edmund Husserl thematisiert, der von »Weltglauben« spricht. Das emotionale Weltverhältnis bedarf weiterer Analysen, denen ich mich im nächsten Kapitel zuwende.
II : Lust und Unlust aus lebensphilosophischer Sicht Wenn man in die objektive Gegenstandswahrnehmung die subjektive Empfindung einbezieht, stößt man auf das Phänomen der Lust. Wir alle wissen natürlich, was Lust ist, oder meinen wenigstens, es zu wissen. Offenbar hängt Lust auch eng mit dem Lebensdrang zusammen, wie die Rede von der »Lebenslust« nahelegt. Aber welchen Anteil die Lust am Leben wirklich hat, darüber sind sich die »Lustexperten« alles andere als einig. Zu verschieden sind die Perspektiven, unter denen der Begriff der Lust beleuchtet werden kann. Die moralische Perspektive, also die Frage, wie der Mensch mit der Lust umgehen soll, dominiert in der antiken Lebens16 | Einleitung
kunst und ist von der Ethik der Neuzeit weitgehend übernommen worden. Ein lebensphilosophischer Begriff von Lust ist schwer zu bestimmen. Auf der einen Seite steht das »Lustprinzip«, das Sigmund Freud auf die Sexualität zurückführt. Auf der anderen Seite steht die geistige Lust, die sich von der geschlechtlichen Liebe emanzipiert hat. Beide Formen der Lust begegnen sich im Lebensgefühl. Daraus resultiert die Paradoxie, dass der Mensch sein Weltvertrauen aus der Ausweitung des Lustprinzips gewinnt. Darin gleicht das menschliche In-der-Welt-Sein der Liebe, die Nähe und Distanz in der intimen Beziehung zum anderen Geschlecht aufbaut. Wenn die Liebe auch alles andere als verlässlich ist, sie verbindet die Menschen doch mit konstanten Verhaltensmustern des sozialen Lebens. Der Lebensstrom ist mitreißend sinnlich und zugleich überirdisch, so dass die Sorge über den Fluss geht, wie Hans Blumenberg formuliert hat (Blumenberg 1997). Was das genau heißt, ob das mehr ist als eine rhetorische Volte, wird anhand der Geschichte des Begriffs der Lust deutlich.
III : Selbstbewusstsein, Ichgefühl und Erotik Mit dem Lebensgefühl verhält es sich wie mit der Lebenserfahrung: Ihr Inhalt ist allgemeingültig, und doch muss sie jeder selbst machen. Das führt zur Begegnung mit unserem Selbst. Auf die Frage nach dem Selbst operiert die moderne Philosophie mit dem Begriff »Selbstbewusstsein«, der mit einem Reflexionsmodell arbeitet, das erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt, weil es ein »inneres Auge« voraussetzt, für das es keine empirischen Anhaltspunkte gibt. Vieles deutet darauf hin, dass das Selbst auf Emotionen zurückgeht. Der Neurophysiologe Antonio Damasio hat ein Buch geschrieben, das im Jahre 2002 unter dem deutschen Titel Ich fühle, also bin ich erschienen ist und Furore gemacht hat. Damit wurde eine Alternative zum Cogito ergo sum von Descartes geboten, die dem auf Emotionalität ausgerichteten Zeitgeist entsprach. Mit dem Rückgang vom »Selbstbewusstsein« auf das »Ichgefühl« werden die logischen Probleme des Reflexionsmodells vermieden, aber es gibt Probleme mit dem Wechsel der Befindlichkeiten. Aller Überblick über die einzelnen Kapitel | 17
dings zeigt unsere Selbsterfahrung, dass bei allem Wechsel der subjektiven Zustände sich doch ein identisches Selbst durchhält, das nicht von außen durch Gegenstandswahrnehmung gestützt wird. Die Frage ist, woraus sich die gefühlte Einheit unseres Selbst entwickelt. Wie das Ichgefühl sich zum Selbstbewusstsein erweitert und kulturell geprägte Formen des Selbstverständnisses hervorbringt, lässt sich am Eros verdeutlichen. Der Eros ist mit der Sexualität verbunden, transformiert diese aber in Vorstellungen, die über bloße Bedürfnisbefriedigung hinausweisen. Das Fazit des dritten Kapitels lautet demnach: Erotik fungiert als ein Medium, in dem der Mensch zum Bewusstsein seiner selbst kommt.
IV : Sympathie, Empathie und Ironie Das vierte Kapitel behandelt die sozialen Gefühle. Wir alle leben mit anderen Menschen zusammen, die verschiedene Kreise sozialer Identität bilden: ich als Europäer, als Deutscher, als Münsteraner usw. Man kann von konzentrischen Kreisen sprechen, deren innerster das »liebe Ich« ist. Allerdings bleibt immer eine gewisse Exzentrizität, durch die wir uns selbst als Fremde erfahren. Für die Beschreibung der Stellung des Individuums in der sozialen Welt bietet sich der Begriff »Beziehung« an. Er hat um 1900 die Soziologie revolutioniert und die Formen der Vergesellschaftung in den Fokus gerückt (Georg Simmel; Leopold von Wiese). Dabei hat sich die Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft eingebürgert, die später allerdings weltanschaulich missbraucht worden ist. Sie verweist aber auf eine Dimension menschlichen Zusammenlebens, die sich nicht auf Verträge und rationale Normen reduzieren lässt. Gemeinschaften beruhen auf gefühlsmäßigen Bindungen, die zwar nicht direkt aus dem Blut kommen, aber aus gemeinsamen Erfahrungen, die in Fleisch und Blut übergehen. Sicherlich werden politische Ordnungen wie Staaten von Vereinbarungen zusammengehalten, die sich nicht auf Gefühle zurückführen lassen. Auch Recht und Moral unterscheiden sich von gefühlsmäßigen Bindungen, die sich sozial kontraproduktiv auswirken können. Aber soziale Gebilde sind doch auf Lebensgefühle angewiesen, ohne die eine noch so gut organisierte Gesellschaft auf 18 | Einleitung
Dauer nicht bestehen kann. Diese Dimension wird heutzutage gern »Empathie« genannt, ein Begriff, mit dem auch Biologen das Verhältnis zwischen Mensch und Tier beschreiben. Empathie beinhaltet aber nicht nur Sympathie oder Mitgefühl, sondern Verstehen, das innere Distanz voraussetzt – eine kommunikative Fähigkeit, die Tiere nicht oder nur in Ansätzen haben. Das äußert sich in der Ironie, die zum spezifisch menschlichen Lebensgefühl gehört und die dem Individuum die Möglichkeit bietet, in einer fremden Welt zu überleben. Es gibt aber Grenzsituationen, in denen auch Ironie nicht weiterhilft, so etwa in Todeskompanien oder Konzentrationslagern.
V : Wie Gefühle moralisch entscheiden Wir Menschen begreifen uns als Individuen, die in ihrem Handeln frei entscheiden können. Die Frage, nach welchen Kriterien wir unsere Entscheidungen fällen, scheint eine klare Antwort zu finden: durch Überlegung und Abwägung von Gründen und Folgen. Damit beschäftigen sich Handlungstheorie und Entscheidungstheorie, die im Gefolge von Kant in der praktischen Vernunft das Fundament des Menschseins sehen. Allerdings gibt es Situationen, in denen rationale Abwägungen in die Irre leiten. Das ist das weite Feld der moralischen Dilemmas, auf dem sich die angewandte Ethik betätigt. Wo die Gesetzgebung der Vernunft keinen Ausweg bietet, hilft letztlich nur das Gefühl, das oft den richtigen Weg weist. Was umgangssprachlich »Bauchgefühl« heißt, wird in der geisteswissenschaftlichen Psychologie im Gegensatz zur Reflexion »Intuition« genannt. Darunter versteht man ein spontanes Erfassen eines komplexen Sachverhalts, das allerdings im Nachhinein der Korrekturen bedarf. »Intuition« ist keine so geheimnisvolle Fähigkeit, wie es auf den ersten Blick scheint. Wie die evolutionäre Psychologie herausgefunden hat, beruht intuitive Einsicht auf angeborenen Verhaltensmustern. Im Alltag spielen Zuneigung oder Abneigung eine Rolle, über deren Gründe sich die Beteiligten selten Rechenschaft ablegen. Das gilt nicht nur bei Entscheidungen für dauerhafte Bindungen wie Freundschaft oder Liebe, die gut überlegt sein wollen, Überblick über die einzelnen Kapitel | 19
sondern auch für sachliche Entscheidungen wie Berufswahl oder Wahl des Wohnorts. In diesen Fällen spielen Gründe und Gefühle zusammen, und Entscheidungen verlieren ihren rein zweckratio nalen Charakter. Sie werden dadurch aber nicht irrational. Sie besitzen eine eigene Form der Rationalität, in deren Rahmen sich das normale Leben abspielt. Wie sich Subjektivität und Objektivität die Waage halten und das Angemessene ausmachen, von dem wir uns bei Entscheidungen leiten lassen, ist das Thema des fünften Kapitels.
VI : Gelebte Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft Im sechsten Kapitel beschäftige ich mich mit der Frage, wie das Zeiterleben das Lebensgefühl prägt. Die mechanische Zeit der Daten und Uhren bekommt im Erleben eine qualitative Gliederung. Das gilt für die individuelle Entwicklung mit ihren Phasen von der Jugend bis zum Alter, aber auch für den Gang der Geschichte. Jede Epoche hat ihr eigenes Lebensgefühl, mit dem sie sich von der vorhergehenden absetzt. Das »tragische« Lebensgefühl vor dem Ersten Weltkrieg, das »heroische« Lebensgefühl vor dem Zweiten Weltkrieg und das »Wir-sind-noch-mal-Davongekommen« Lebensgefühl der Nachkriegszeit. Im Wandel der Lebensgefühle sind mehrere Faktoren wirksam: Kampf der Generationen, technischer Fortschritt, ökonomische Entwicklung, Aufstieg der Wissenschaften und so fort, die nicht isoliert voneinander wirken. In ihrer Vernetzung bilden sie eine Einheit, die von den Beteiligten als Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Epoche erlebt wird. Epochale Lebensgefühle äußern sich in Sprache, in Bildern, auch und immer stärker in der Musik. Um den epochalen Wandel der Lebensgefühle zu veranschau lichen, betrachte ich in diesem Kapitel das Zeitbewusstsein von der Romantik bis heute. Nach der nostalgischen Verklärung mittel alterlicher Vergangenheit hat sich der Zeithorizont hin zum Expressionismus der Gegenwart verschoben. Die utopische Zukunft wird zum bevorzugten Ziel von Zeitreisenden im 20. Jahrhundert. Was dort noch Utopie war, scheint heute in der synthetischen Biologie Wirklichkeit zu werden. In unserer Leistungsgesellschaft 20 | Einleitung
dominiert die Vorstellung »Zeit ist Geld«, wobei die Zeitansage immer stärker hin zu Echtzeitstrategien tendiert. In vielen Firmen wird von Mitarbeitern erwartet, dass sie jederzeit erreichbar sind, wodurch das innere Zeitempfinden parzelliert und mechanisiert wird. Allerdings mehren sich die Anzeichen, dass durch die Flexibilisierung der Arbeitszeit für die Berufstätigen die gefühlte Zeit im Privatleben wieder die Oberhand gewinnt. Diese Hinweise mögen genügen, um die Lebensgefühle aufzudecken, die mit dem Zeitbewusstsein verbunden sind.
VII : Absoluter Raum und gefühlte Räume Nach der Zeitreise folgt im siebten Kapitel eine Erkundung von Lebensräumen in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis ihrer Bewohner. Menschen sind von Natur aus geographische Wesen, ihre Lebensstile sind geprägt von der Umwelt, in der sie leben, insbesondere von Lage und Klima. Der geographische Raum mit seinen geometrischen Koordinaten wird als Raumgefühl erlebt, wobei Enge und Weite, Nähe und Ferne konstitutive Gegensätze sind. Mit dem Raumgefühl sind auch ästhetische Standards verbunden, die Welten trennen. Jeder Lebensraum hat für sich genommen eine emotionale Tönung, und daher ertönen in fremden Räumen andere Stimmen, die ans Herz gehen. Für moderne Weltreisende sind Lebensräume kulturrelativ und schnell erschließbar. In früheren Zeiten gab es noch die Fremde, die Reisenden erst nach langer Zeit vertraut wurde. Man musste schon ein besonderes Gespür haben, um die Eigenart der Lebensräume zu erfahren, die sich nicht beliebig verschieben lassen. Um zu erfahren, wie sich das geändert hat, begeben wir uns nach Afrika, das der schottische Arzt Mungo Park auf seinen Reisen ins Innerste Afrikas schon Ende des 18. Jahrhunderts erschlossen hat. Aus heutiger Sicht haben die Räume ihre Geheimnisse weitgehend verloren, alles ist wie überall und nirgendwo. Wie dieser Wandel das Lebensgefühl der Menschen tangiert, ist ein aktuelles Thema der philosophischen Anthropologie.
Überblick über die einzelnen Kapitel | 21
VIII : Lebensgefühle in der globalen und digitalen Welt Mit der Globalisierung hat sich das Lebensgefühl innerhalb kultureller Identitäten grundlegend geändert. Aus Lebensstil ist »Lifestyle« geworden, in dem alle Erfahrungen dem Wohlfühlen und dem Konsum untergeordnet sind. Das ist von konservativen Kulturkritikern als »Verlust der Mitte« beklagt worden. An diesen Klagen ist sicherlich etwas dran, aber man darf nicht in die alte Antithese von Gesellschaft und Gemeinschaft verfallen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den »deutschen Geist« ideologisch verwirrt hat. Vielleicht entfalten sich unter der Oberfläche neue Formate des Fühlens, die vorerst schwer zu verstehen sind. Hier ist die junge Generation am Zuge und insbesondere die Frauen, die infolge ihrer Emanzipation dem Individuum beiderlei Geschlechts eine bisher nie dagewesene Selbstsicherheit verleihen. Dieser Individualisierungsschub weist neue Wege der Lebensgestaltung, die über die traditionellen Rezepte der Lebenskunst hinausgehen. Noch spannender wird das Erleben der digitalen Welt, in der Raum und Zeit immer stärker komprimiert werden. Niemand weiß, was aus unserer herkömmlichen raum-zeitlich gegliederten Lebenswirklichkeit werden wird. Parallelwelten, in der »Wolke« angesiedelt, entstehen und vergehen in beliebiger Zahl und sensibilisieren uns dafür, dass man von »Wirklichkeit« nur noch in Anführungsstrichen sprechen kann. Hier stößt die Lebenserfahrung an ihre Grenzen, und Gründe verwandeln sich in Abgründe. Daraus ergibt sich für die philosophische Anthropologie die Aufgabe, virtuelle Gefühle mit realen Gefühlen zu vergleichen, um so eine Balance herzustellen, ohne die wir aus der Welt fallen würden. Die Lebenswelt ist kein Paradies, aber auch keine Hölle, in der man alle Hoffnung fahren lassen müsste. Digitales In-der-Welt-Sein gleicht einer Reise, auf der der Weg wichtiger ist als das Ziel.
22 | Einleitung
IX : Was Lebensgefühle bewirken und wie man damit umgeht Lebensgefühle werden nicht als besondere Gefühle wie Trauer oder Freude wahrgenommen. Sie sind untergründig und machen das Selbstverständnis aus. Als solche stehen Lebensgefühle für die Einstellung zu Ereignissen und Situationen, mit denen es Menschen zu tun haben. Hier geht es nicht um flüchtige Stimmungen, sondern um emotionale Motive, die unser Handeln oft stärker prägen als rationale Gründe. Lebensgefühle sind zwar unhintergehbar, aber man muss versuchen, zum eigenen Lebensgefühl auf Distanz zu gehen, es bewusst zu machen. Denn auf Gefühle allein lässt sich kein gelingendes Leben aufbauen. Die Gefahr eines unkontrollierbaren Emotivismus wäre zu groß. Allerdings kann man das Lebensgefühl durch Rationalisierung nicht vollständig kontrollieren und ihm die Tür weisen. Es kommt immer wieder zur Hintertür herein. Das macht die Paradoxie unserer Existenz aus, die zwischen Intuitionismus und Rationalismus schwankt.
Epilog : So ist der Mensch – einfach so! Auf den Reisen durch das wüste Land des Lebens haben wir überall Menschen mit ihrem elementaren Willen zum Leben angetroffen. Alle wollen glücklich sein, wenn auch die Vorstellungen, worin Menschen ihr Glück finden, weit auseinandergehen. Dabei spielen Maß und Mitte eine Rolle, die nicht nur im abendländischen, sondern auch im ostasiatischen Kulturkreis als Leitwerte gelten. Sie stellen sich aber nicht erst durch Reflexion ein, sondern sind als »Weisheit des Körpers« mit dem Lebensgefühl gleichursprünglich gegeben. Verstandeskategorien sind zugleich Gefühlskategorien, heute spricht man von »emotionaler Intelligenz«. Entsprechend sind Lebensgefühle vielschichtig, wobei die Schichten sich wechselseitig beeinflussen. Einsichten und Einstellungen, die erst auf höherer kultureller Integrationsebene in Erscheinung treten, verweisen auf Triebe und Antriebe, die uns mit dem animalischen Leben verbinÜberblick über die einzelnen Kapitel | 23
den. Daher lautet die Devise der lebensphilosophischen Anthropologie: eadem, sed aliter – dasselbe, aber in anderer Form. Denn, wie es in Ein Zeitalter wird besichtigt von Heinrich Mann heißt: »Unwiderstehlich ist allein das entfesselte Lebensgefühl – es begleitet jedes Verhängnis …« (Mann, H. 1976, 6) Zu ergänzen wäre: »und jede Verheißung«.
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Kapitel I Lebensgefühl im Spektrum der Gefühle
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n diesem Kapitel geht es um die Klärung von Begriffen. Im kulturellen Diskurs der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts war »Lebensgefühl« ein viel gebrauchter Begriff (so etwa bei Georg Simmel). Heute ist der Begriff heruntergekommen auf Lifestyle-Blogs, in denen banale Rezepte für gutes Leben angepriesen werden. Auf höherem Niveau sind an die Stelle von Lebensgefühlen »Geschichten« getreten. In unserer Erlebnisgesellschaft ist das Individuum darauf programmiert, seine Emotionen in Geschichten publik zu machen. Zwar ist jeder von der Einmaligkeit der eigenen Lebensgeschichte überzeugt, doch unterschwellig gibt das allgemeine Lebensgefühl vor, wie die Biographien einer Zeit gestrickt sind. Damit fungieren sie als Zeichen für das Gefühlsleben des modernen Menschen. Zwar sind Gefühle, die in der Romantik hauptsächlich Gegenstand poetischer Beschreibungen waren, Gegenstand wissenschaftlicher Analyse geworden, aber in modernen Emotionstheorien ist »Lebensgefühl« kein Thema. Das mag daran liegen, dass der Begriff ideologisch belastet ist. Oswald Spengler widmet in seinem nach dem Ersten Weltkrieg erfolgreichen Buch Der Untergang des Abendlandes dem Thema »Seelenbild und Lebensgefühl« ein ganzes Kapitel. Der Psychologie wirft er vor, das im Begriff der Seele angesprochene emotionale Potential nicht ausgeschöpft zu haben: »Man vermisst im Bilde, was unser Lebensgefühl erfüllt und was doch gerade ›Seele‹ sein sollte: das Schicksalhafte, die wahllose Richtung des Daseins, das Mögliche, welches das Leben in seinem bewussten Ablauf verwirklicht« (Spengler 1920, I, 410). Nun ist die Verbindung mit »Seele« und »Leben« nicht gerade dazu angetan, Klarheit in die Theorie der Gefühle zu bringen. Seele und Leben sind vieldeutige Begriffe, die zwischen dem Körper | 25
lichen und dem Geistigen schwanken. Aber gerade die Gegensätzlichkeit und Vieldeutigkeit verweisen auf eine Tiefendimension des Lebensgefühls, woraus die Vielfalt der intentionalen Gefühle entspringt. Insbesondere Leben als Bios und Zoé liefert Anhaltspunkte. Bios ist mit dem menschlichen Bewusstsein verknüpft und bezeichnet die Lebensdauer, die gelebte Zeit, die der französische Lebensphilosoph Henri Bergson in seinem Hauptwerk L’évolution créatrice (Schöpferische Entwicklung) »Dauer« (durée) genannt hat. Dagegen bezeichnet Zoé die Kontinuität des organischen Lebens, die der deutsche Biologe August Weismann vor hundert Jahren in seiner Lehre von der Keimbahn dargelegt hat. Beide Aspekte ermöglichen es, Leben als Subjekt sowie als Objekt des Fühlens zu lesen. Durch diese Doppeldeutigkeit des Begriffs »Leben« kann man das Lebensgefühl mit dem Licht vergleichen, das ein Spektrum von Farben enthält. Das macht »Lebensgefühl« zu einem Reflexions begriff, mit dem Kant die Zusammengehörigkeit von diversen Vorstellungen im Subjekt bezeichnet hat. Das Spektrum des Lebensgefühls enthält die großen und die kleinen Gefühle, die angenehmen und die schmerzlichen, die dauerhaften und die schnell verfliegenden, die sich gegenseitig durchdringen und die Dynamik des Lebensgefühls ausmachen. Als Integral des Gefühlslebens übersteigt das Lebensgefühl die Summe der einzelnen Gefühle und bindet den Menschen an die Welt. Wie sich das Gefühlsleben in seiner Ganzheit darstellt, darüber geben moderne Emotionstheorien kaum Auskunft. Sie konzentrieren sich auf Analysen einzelner Gefühle. Biologie, Soziologie, Neurowissenschaften und Informationstheorie werden herangezogen, um Struktur und Funktion von Emotionen auf den Begriff zu bringen. Die Emotionalität als Medium des In-der-Welt-Seins ist damit aber noch nicht erfasst.
Phänomenologische und kognitivistische Theorien der Gefühle »Es ist nicht bequem, Gefühle wissenschaftlich zu bearbeiten«, hat schon Freud festgestellt (GW XIV, 422). Die Unbequemlichkeit besteht darin, dass Gefühle sich bei der Beobachtung verändern und 26 | Kapitel I
durch die Mitteilung ihre Unmittelbarkeit verlieren. In der wissenschaftlichen Erforschung stehen sich derzeit zwei Lager gegenüber: Kognitivismus und Phänomenologie. Die Wende zur Kognition hat seit den 1970er Jahren die Psychologie revolutioniert. Gefühle werden neurowissenschaftlich auf Prozesse der Informationsverarbeitung, die der Introspektion unzugänglich sind, zurückgeführt. Aber die subjektive Qualität des Erlebens ist aller Rationalisierung zum Trotz immer ein Thema geblieben, das die Phänomenologie am Leben hält (Hartmann 2005). Zunächst zur Kognitionspsychologie. Ihr Verdienst bei der Analyse der Empfindungen liegt darin, dass sie die von William James vorgenommene Unterscheidung zwischen Gefühl (feeling) und Emotion (emotion) weiterentwickelt hat. Während James Emotionen an körperliche Vorgänge bindet, was seine Position heute für neurophysiologische Ansätze attraktiv macht, sieht der Kognitivismus Überzeugungen, Urteile und Wertungen als wesentliche Bestandteile von Emotionen an. Sieht man einmal von den phänomenologisch nicht immer überzeugenden Distinktionen und dem terminologischen Durcheinander ab, das durch schwankende Übersetzungen der englischen Ausdrücke sensation, feeling und emotion noch verstärkt wird, so gilt generell, dass im wissenschaftlichen Diskurs derzeit vornehmlich von »Emotionen« statt von »Gefühlen« die Rede ist. Der kognitivistische Ansatz verbindet Emotionen mit Sprachfähigkeit. Damit ist gemeint, dass angeborene Reaktionen wie Erschrecken bei plötzlich auftretenden Geräuschen durch soziale Konditionierung in Emotionen transformiert werden, die sich vom Anlass emanzipieren. Etwa wenn ein Säugling, der auf einen lauten Knall reflexartig mit Schreien reagiert, durch gutes Zureden der Mutter, die ihn zu beruhigen sucht, in die Lage versetzt wird, die Situation angemessen einzuschätzen. Dieser Prozess geht Hand in Hand mit dem Erlernen von Wörtern wie »Angst« oder »Scham«, die bestimmte emotionale Zustände benennen und zur Ausbildung höherer kognitiver Fähigkeiten anleiten. In diesem Zusammenhang spricht man heute gern von »Semantisierung«, um die Bedeutungsbildung von Emotionen zu kennzeichnen (Engelen 2007). Dagegen betrachtet der phänomenologische Ansatz Gefühle als ursprüngliche Lebensäußerungen. Dabei denkt man spontan Lebensgefühl im Spektrum der Gefühle | 27
an Hegels Phänomenologie des Geistes, in der die Formen vorsprachlicher Subjektivität analysiert werden. Wirksamer ist die um 1900 von Edmund Husserl gegründete Phänomenologie, die trotz Zurückweisung des »Psychologismus« die subjektive Seite des Bewusstseins berücksichtigt. Im Anschluss daran geht es in phänomenologischen Gefühlstheorien um die Art und Weise, wie Menschen von Sinneseindrücken emotional ergriffen werden. Der phänomenologische Ansatz vermeidet die Übersetzung in abstrakte Begriffe und fragt, »wie sich Gefühle anfühlen«. Bei »Gefühlen über Gefühle« tritt allerdings die Schwierigkeit auf, wie primäre und sekundäre Gefühle phänomenal unterschieden werden können. Während der Kognitivismus Emotionen mit Sprache verbindet, betont die phänomenologische Richtung das Medium der Musik. Arthur Schopenhauer hat der Musik eine Sonderstellung gegenüber den anderen Künsten eingeräumt. Nur die Musik bringe den Willen zum Leben unmittelbar zum Ausdruck, so dass sie das Innerste aller Menschen in gleicher Weise berührt: »Sie drückt daher nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude, diese oder jene Betrübnis oder Schmerz oder Entsetzen oder Jubel oder Lustigkeit oder Gemütsruhe aus; sondern die Freude, die Betrübnis, den Schmerz, das Entsetzen, den Jubel, die Lustigkeit, die Gemütsruhe selbst, gewissermaßen in abstracto, das Wesentliche derselben ohne jedes Beiwerk, also auch ohne die Motive dazu. Dennoch verstehn wir sie in dieser abgezogenen Quintessenz vollkommen« (WWV I, 364). Ernst Bloch hat diesen Gedanken in seiner Diktion auf den Punkt gebracht: »Musik und Philosophie in ihrem Letzten intendieren rein auf die Artikulierung dieses Grundgeheimnisses, dieser letzten Frage und unbegrifflichen, fremd vertrauten Lösung, unseres sich selbst in Existenz Verstehens« (Bloch 1923, 187). So verhält es sich mit dem zuständlichen Bewusstsein, in dem alles im Fluss ist. Der Fluxus ist aber nicht völlig ungegliedert, er hat Klang und Rhythmus. Man hat im Hinblick auf das Zustandsbewusstsein von »protophysischer« Einstellung gesprochen, man könnte auch von protopsychischer Einstellung sprechen. Diese bleibt nahe am dunklen Lebensgefühl, in dem sich aber erste Unterschiede von Empfindungen und Emotionen herausbilden (Rickert 1939, 69). 28 | Kapitel I
Lebensgefühl: Kognition und Intuition Von beiden Richtungen der Gefühlstheorien, der kognitivistischen wie der phänomenologischen, ist letztere am ehesten geeignet, sich dem Lebensgefühl als eigenständiger Kategorie des In-der-WeltSeins zuzuwenden. Dafür war Sein und Zeit (1927) von Martin Heidegger wegweisend. Für Heidegger war die Welt als Ganzes noch vor der gegenständlichen Erkenntnis durch Stimmungen erschlossen, wobei er, dem Geist seiner Zeit entsprechend, Angst als Grundstimmung in den Vordergrund rückte. Seine Beschreibungen der emotionalen Welterschließung sind überzeugend, nur der Begriff »Stimmung« ist etwas irreführend. Denn unter »Stimmung« verstehen wir normalerweise eine rein subjektive Gefühlslage, die wie das Wetter schnell umschlagen kann und kaum etwas über das Weltverhältnis aussagt. Lebensgefühle dagegen haben als Allgemeingefühle ein implizites Wissen, das den Menschen an die Welt bindet. Friedrich Bollnow ist in seinem bekannten Buch Das Wesen der Stimmungen gegen die Dominanz der Angst zu Felde gezogen und hat die positiven Gefühle rehabilitiert. Im Anschluss an Heidegger benutzt Bollnow zwar das Wort »Stimmung«, weist aber darauf hin, dass er »Stimmung« synonym mit »Lebensgefühl« gebraucht (Bollnow 1974, 33). »Lebensgefühl« verweist auf die Lebenserfahrung und sperrt sich gegen Heideggers ontologischen Ansatz, Stimmungen als Ausdruck des »Seins« hinzustellen. Für die Beschreibung der Gefühlszustände ist laut Bollnow eine Hermeneutik der Erfahrung angemessen, die dem vorbegrifflichen Wirklichkeitsbezug der Lebenserfahrung gerecht wird. Unübersehbar ist dabei die Nähe zu Max Scheler, der dem Lebensgefühl als Werthaltung eine eigenständige Bedeutung neben sinnlichen Gefühlen und Leibgefühlen gibt: »Als eine eigenartige und auf die Schicht der sinnlichen Gefühle unreduzierbare Schicht des emotionalen Lebens stellen sich das Lebensgefühl und seine Modi schon dadurch dar, dass sie in allen den Merkmalen, die für die sinnlichen Gefühle charakteristisch waren, abweichende Züge tragen« (Scheler 1980, 340). Scheler nennt drei phänomenale Charakterzüge des Lebensgefühls: Erstens ist Lebensgefühl noch an den Leib gebunden, lässt sich aber nicht eindeutig lokalisieren; zweitens Lebensgefühl im Spektrum der Gefühle | 29
gehen Lebensgefühle im Unterschied zu sinnlichen Empfindungen bruchlos ineinander über, und drittens tendiert das Lebensgefühl zum Gemeinschaftsbewusstsein. Infolge dieser Charakteristika vermögen Lebensgefühle noch vor der Entstehung des intentionalen Bewusstseins die Bedeutung von Ereignissen und Gegenständen für die betroffenen Menschen anzuzeigen. Also nicht erst die Sprache, sondern schon Gefühlszustände fungieren als Träger von Bedeutung oder besser von »Bedeutsamkeit«.
Vom Standpunkt der Immanenz Beim Lebensgefühl decken sich Subjekt und Objekt des Erlebens. Das Erleben in seiner Unmittelbarkeit hat Wilhelm Dilthey »Innewerden« genannt: »Das Bewusstsein von einem Erlebnis und seine Beschaffenheit, sein Fürmichdasein und was in ihm für mich da ist, sind eins: Das Erlebnis steht nicht als ein Objekt dem Auffassenden gegenüber, sondern sein Dasein ist für mich ununterschieden von dem, was für mich da ist« (GS VII, 139). An anderer Stelle heißt es: »Ein Zustand ist für mich da, indem er bewusst ist … Ich werde seiner inne« (GS V, 197). William James hat die »reine Erfahrung« auf ähnliche Weise beschrieben: »… ein einfaches Das, noch ohne Unterscheidung in Gegenstand und Gedanke« (James 1967, 74). Die undifferenzierte Gegebenheitsweise ist konstitutiv für das Lebensgefühl, das sich wie die ästhetische Erfahrung zwischen Sein und Schein bewegt. Sicherlich sind Lebensgefühle inhaltlich bestimmbar, etwa im Bezug auf eine bestimmte Epoche, einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Person. So das »tragische Lebensgefühl« der 1920er Jahre, das Gefühl der Weite beim Anblick des Meeres oder die Heiterkeit von Goethes Lebenskunst. Das ist das Feld der Sozialpsychologie und der Kulturgeschichte. Dagegen betrachtet die philosophische Anthropologie das Lebensgefühl als solches und abstrahiert von bestimmten Inhalten. Lebensgefühle haben atmo sphärischen Charakter, man könnte sie mit der Aura vergleichen. Als solche fungieren sie als Medium, das zwischen Innen und Außen vermittelt. Das heißt aber nicht, dass das Lebensgefühl vollkommen formlos ist. Wie die Lebenserfahrung weist es eine ele30 | Kapitel I
mentare Gliederung auf. Es hebt auf die Gegensätze ab, von denen das Dasein geprägt ist: Geburt und Tod, alt und jung, Mann und Frau, gesund und krank, schön und hässlich usw. – Grundformen des Daseins, die durch die Natur vorgegeben sind und durch die Kultur stilisiert werden. Die elementaren Gegensätze geben dem Erleben einen festen Rahmen noch vor der rationalen Begründung gesellschaftlicher und moralischer Normen. Allerdings ist nicht zu übersehen: Wo das Gefühlsleben aus dem Ruder läuft und sich in Emotivismus auflöst, ist der Einzelne oft emotional überfordert. Das ganz auf sich selbst gestellte Subjekt weiß vor lauter Gefühlsaufwallungen nicht mehr, was es eigentlich will. Diese Gefahr bringt der Individualisierungsschub der sogenannten »zweiten Moderne« mit sich, den der Soziologe Ulrich Beck darauf zurückführt, dass alle institutionellen Sinnquellen versiegt sind (Beck 1986). Doch auf lange Sicht behält das Lebensgefühl immer recht und gibt den Menschen die Gewissheit, nicht aus der Welt zu fallen. Die Lebenswelt als »das Allerbekannteste, das allem menschlichen Leben immer schon Selbstverständliche«, wie es bei Husserl heißt (Hua VI, 126), wird durch eine dichte Beschreibung der subjektiven Erfahrung verständlich. Sie macht auf Gefühlsqualitäten aufmerksam, die im alltäglichen Leben unbeachtet bleiben. Nehmen wir als Beispiel die Reaktion auf Vorhaben, die gelingen oder misslingen. Beim Gelingen hat der Mensch ein gutes Gefühl. Wenn das Gelingen öfter geschieht und wenn die Umstände unerwartet günstig sind, nennt man ihn einen »Glückspilz«. Beim Misslingen aus eigener Ungeschicklichkeit ärgert man sich, etwa darüber, dass man sich gestoßen hat, was Schmerzen verursacht. Auch wenn äußere Umstände ungünstig sind, wie Regenwetter im Urlaub, ärgert man sich, obwohl man selbst nichts dafür kann. Im Umgang mit anderen Menschen werden Erwartungen, die sich nicht erfüllen, als Enttäuschung empfunden. Aus der Alltagspsychologie ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele für Gefühlsqualitäten anführen, die mehrdimensional sind, nämlich gefühlsmäßige Reaktionen auf Gefühle. Blickt man auf die Tiere, so findet man keine Anzeichen für derartige Gefühlsverdoppelungen. Ein Raubtier, das seine Beute verfehlt, trollt sich davon, zeigt aber keinen Ausdruck von Ärger. Lebensgefühl im Spektrum der Gefühle | 31
Allerdings gehen die Interpretationen hier auseinander. Darwin war der Meinung, dass Affen Ärger in gleicher Weise kundtun wie Menschen, doch seine Beschreibungen legen nahe, dass es sich mehr um Wut als um Ärger handelt (Darwin 2000, 136). In die Wut können sich Menschen und Tiere hineinsteigern, aber das ist bei Ärger schwer vorstellbar. Man kann sich »ganz fürchterlich« ärgern, und dann geht der Ärger in Wut über. Bei Tieren dagegen handelt es sich von Anfang an um Zeichen der Wut. Dass von Ärger selbst bei höheren Tieren nicht die Rede sein kann, belegen die Spiele der Tiere. Sie sind von einer deutlichen Funktionslust begleitet und dienen der Einübung von Verhaltensweisen für den Ernstfall. Aber keines ihrer Spiele ist mit dem Mensch-ärgere-dichnicht-Spiel vergleichbar, das Menschen dazu erzieht, mit dem Zufall zu leben. Diese Überlegungen zur Vielschichtigkeit der Gefühle weisen darauf hin, dass es sich beim Lebensgefühl als der Gesamtheit der Gefühle immer schon um eine höhere Stufe des Gefühlslebens handelt, die dem Menschen vorbehalten ist. Auch Tiere haben bei ihren Verrichtungen eine Gesamtbefindlichkeit, so etwa das Wohlfühlen beim Spielen. Aber nur der Mensch ist in der Lage, seine Befindlichkeit auf das Leben als solches zu beziehen, ohne sich dabei schon auf der Ebene der Reflexion zu bewegen. Daraus ergibt sich keine neue Definition des Menschen, sondern die Einsicht, dass die konsequente Durchführung des subjektiven Standpunkts ein differenziertes Bild der menschlichen Emotionalität freilegt. Nicht erst das Verhältnis von Emotion und Kognition steht auf der Tagesordnung, sondern schon die Frage, wie sich im subjektiven Erleben widerstreitende Gefühle zum Allgemeingefühl verbinden. Die Verdoppelung der Gefühle führt beim Menschen zur Gefühlsambivalenz, insbesondere wenn es um das Zusammenleben der Geschlechter geht. Darüber mehr im nächsten Kapitel. Hier ging es nur darum, in welchem Sinne der Untertitel »Wie es ist, ein Mensch zu sein« zu verstehen ist.
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Kapitel II Lust und Unlust aus lebensphilosophischer Sicht
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eben« gehört zu den unbestimmten Begriffen, die ideologischer Instrumentalisierung Vorschub leisten. Das trifft auf die Lebensphilosophie zu, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Verruf geraten ist. »Irrationalismus« war noch der mildeste Vorwurf. Das gleiche Schicksal hat den Begriff des Lebensgefühls ereilt. »Biologismus« lautet die Keule, mit der man die Natur aus der Kultur austreiben möchte. Nun lässt sich das organische Leben mit seinen empirisch feststellbaren Erscheinungen wie Geschlecht, Alter und Gesundheit nicht aus der Welt schaffen. Sie prägen nach wie vor unser subjektives Erleben, unser Lebensgefühl. Zum Lebensgefühl gehören immer Lust und Unlust, die wir auch bei Tieren beobachten, deren Verhaltensäußerungen weitgehend auf die gegenwärtige Situation beschränkt bleiben. Wir Menschen dagegen tendieren dazu, gegenwärtige Gefühle mit vergangenen Erfahrungen zu vergleichen. Wenn auch unbewusst, haben wir selbst bei Lust ein Gefühl des Gegensatzes, so dass die Lustempfindung verschiedene Intensitäten aufweist. Mit dem Prinzip des Gegensatzes entsteht ein paradoxer Sachverhalt: Lebensgefühl als anonymer Hintergrund bestimmter Emotionen hat keine gegenständliche Ausrichtung, ist aber nicht unstrukturiert. Es ist zweckfrei, aber doch zielgerichtet. Als Ausdruck des Strebens nach Glück kann man das Lebensgefühl mit modernen Biologen »teleonomisch« nennen, ohne damit den Unterschied im Erleben von Mensch und Tier zu leugnen.
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Lebenstrieb und Lebensgefühl Einen Beitrag zur lebensphilosophischen Analyse des Gefühlslebens hat der Philosoph Erich Rothacker in seinem 1938 erschienenen Buch Die Schichten der Persönlichkeit geliefert. Rothacker, der in Deutschland bis Anfang der 1960er Jahre zu den bedeutendsten Vertretern der Kulturanthropologie zählte, wird heutzutage infolge wirklicher oder vermeintlicher nationalsozialistischer Verstrickungen kaum noch rezipiert. Damit gehen Einsichten in die Natur des Lebensgefühls verloren, die von der neuen Anthropologie wiederentdeckt werden müssen. Im Anschluss an Max Schelers Einteilung der Gefühlszustände und Gefühlsfunktionen betrachtet Rothacker die Lebensgefühle als eine Schicht der sogenannten Tiefenperson: »Sie sind nicht bloße Verschmelzungen von Lust und Unlust als sinnlicher Erscheinungen. Sie sind die Zustandsgefühle des ganzen Leibes … Ich kann bei stärkster Sinneslust mich matt und elend fühlen. Bei Verwundungen kann ich trotzdem das Gefühl aufsteigenden Lebens haben. Sinnliche Gefühle sind tote Zustände. Im Lebensgefühl fühle ich das Leben in (aufsteigender) Bewegung … Es gibt also analog zum Apperzipieren der Perzeptionen ein Fühlen der Gefühle, eine Verarbeitung des Inneseins durch das Ich« (Rothacker 1948, 73 f.). Trotz der vitalistischen Verklärung der »mütterlichen« Seite des Lebensgefühls bringt Rothacker doch die lebensphilosophische Dimension der Emotionalität zum Vorschein. Beim Lebensgefühl geht es um mehr als um das Festhalten am Leben, das auch Tiere im Kampf ums Überleben an den Tag legen, es geht um die Intensivierung des Erlebens um seiner selbst willen. Worin sich menschliches Lebensgefühl vom animalischen Lebenstrieb unterscheidet, wird deutlich, wenn man den phänomenologischen Ansatz mit der Psychologie des Willens verbindet. Dafür steht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Amerikaner William McDougall mit seiner »Antriebs-Psychologie« (hormic psychology). Er wendet sich gegen den Hedonismus, für den die Lust das Motiv alles menschlichen Strebens ist. Dagegen hält McDougall die Lust lediglich für eine Begleiterscheinung bei der Erfüllung von Wünschen, die immer auf bestimmte Objekte gerichtet sind. Antriebe identifiziert McDougall mit Instinkten, die Menschen und Tieren angeborenen sind. 34 | Kapitel II
McDougalls Theorie der Instinkte gilt infolge der Einsicht in die Instinktreduktion beim Menschen heute als überholt. Doch seine Lehre, dass zwischen den angeborenen Verhaltensmustern und dem subjektiven Erleben eine enge Verbindung besteht, bleibt davon unberührt. Mit Recht haben Verhaltensforscher McDougall schon früh angekreidet, dass er die Zahl der deutlich voneinander unterschiedenen Emotionen als zu gering ansetzt. Tierkenner sind sich darin einig, dass wir den Tieren viel mehr Arten von Emotio nen zuschreiben müssen als dem Menschen, weil die Verhaltensweisen von Tieren je nach Situation hoch differenziert sind und weitgehend getrennt voneinander ablaufen. Konrad Lorenz gibt dafür ein Beispiel: Die Fluchtreaktionen von Hühnern sind so unterschiedlich, dass sie nicht einem einheitlichen Gefühl zugeordnet werden können. »Der Ausdruck ›Furcht‹ genügt sicher nicht, um die beiden scharf voneinander gesonderten Erregungsarten des Vogels zu bezeichnen« (Lorenz 1965, I, 327). Lorenz bezieht sich auf den Ornithologen Otto Heinroth, der von »Stimmungen« der Tiere gesprochen hat, die dem jeweiligen Verhalten wie Flug, Nestbau usw. entsprechen. Sosehr sich die einzelnen Erregungsarten auch unterscheiden, allen liegt das Streben nach Selbsterhaltung zugrunde, das subjektiv als Lust und Vermeiden von Unlust empfunden wird. Das gilt in der Tierpsychologie als Selbstverständlichkeit, findet in den neueren Emotionstheorien aber kaum Berücksichtigung. Ein Grund dürfte sein, dass die Trennung von Gefühl und Empfindung bei Lust und Schmerz schwer durchführbar ist. Eine besondere Schwierigkeit bietet das Wort »Lust«, sowohl hinsichtlich der Qualität der Lust als auch hinsichtlich ihrer Bewertung. Im deutschen Sprachgebrauch wird Lust als Gefühl bezeichnet, wobei die Grenze zur Empfindung fließend ist. Wir machen umgangssprachlich keinen Unterschied zwischen Lustempfindung und Lustgefühl, was durchaus der Art entspricht, wie Lust subjektiv erfahren wird, nämlich als »Gefühlsempfindung«, um einen altmodischen Begriff des Psychologen Carl Stumpf zu gebrauchen. Erschwerend kommt hinzu, dass »Lust« im Deutschen in zweierlei Bedeutungen gebraucht wird: speziell als sexuelle Erregung, früher »Wollust« genannt, allgemein aber als Bereitschaft oder Neigung, etwas Bestimmtes zu tun. In diesem Sinne bezeichnet Lust und Unlust aus lebensphilosophischer Sicht | 35
Lust keine lokalisierbare Empfindung, sondern einen psychischen Gesamtzustand, eine Disposition: so wenn jemand sagt, er habe Lust, ins Kino zu gehen. Im Englischen wird dafür das Wort »Lust« nicht gebraucht, stattdessen heißt es »to like«, so etwa in dem Satz: »I like to go to the movies«. Welche der beiden Bedeutungen der Lust für das Lebensgefühl infrage kommt, ist auf Anhieb schwer zu entscheiden. Offenbar spielt die sinnliche Lust eine, wenn auch verdeckte Rolle, wie in der Rede von der Lebenslust ersichtlich.
»Lust« in Immanuel Kants Anthropologie Um den Begriff der Lust im Kontext des Lebensgefühls zu klären, ist ein Blick in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht hilfreich. Im zweiten Buch, überschrieben »Das Gefühl der Lust und Unlust«, definiert Kant im Anschluss an die empiristische Psychologie der britischen Tradition »Gefühl« als Wirkung von Sinnesempfindungen auf die Befindlichkeit. Zwei Gefühle stehen einander gegenüber: Lust und Unlust, die bei Kant auch Vergnügen und Schmerz heißen. Beide stehen sich nicht isoliert gegenüber, sondern im Wechselspiel, von dem es heißt: »der Schmerz ist immer das erste« (VII, 231). Den Primat des Schmerzes begründet Kant damit, dass der Mensch im Leben einem ständigen Wechsel von Zuständen unterworfen ist und das Verlassen eines Zustands immer Unlust erzeugt, »denn die Zeit schleppt uns vom Gegenwärtigen zum Zukünftigen (und nicht umgekehrt)«. Daraus folgert Kant, es gebe keinen dauerhaften Zustand des Wohlbefindens, sondern nur »ruckweise (mit immer dazwischen eintretendem Schmerz)« aufeinander folgende Lustmomente: »Der Schmerz ist der Stachel der Tätigkeit, und in dieser fühlen wir allererst unser Leben; ohne diesen würde Leblosigkeit eintreten«. Diese Auffassung vom Lebensgefühl bezieht sich offenkundig auf das tätige Leben, auf die vita activa, die im Menschenbild der Neuzeit den Sieg über passive Lebensformen davongetragen hat. Sicherlich ist Kant darin zuzustimmen, dass der Schmerz die erste Empfindung ist, die das Neugeborene durch Schreien kundgibt. Doch sobald der Schock des Verlassens des mütterlichen Schoßes überwunden ist, dominiert die Lust an der Selbstbewe36 | Kapitel II
gung, die den triebhaften Lebensdrang ausmacht. Die Befriedigung des Triebes wird als Lust empfunden, seine Verhinderung als Schmerz. In diesem Sinne ist auch der Schmerz Ausdruck des Lebensgefühls. Der Psychologe Wilhelm Jerusalem hat das »dunkle Lebensgefühl« so beschrieben: »Wir haben dieses Gefühl als die ursprüngliche, noch ganz und gar nicht differenzierte Reaktion des Bewusstseins auf die in der Umgebung und im Inneren des Körpers wirkenden Reize anzusehen. Dieses Gefühl scheint von gar keinen Vorstellungen begleitet und ganz verworrenen, chaotischen Charakters zu sein. Beim Erwachen aus tiefem Schlafe oder aus einer Ohnmacht erleben wir etwas dem Ähnliches und einen solchen Bewusstseinszustand dürfen wir bei neugeborenen Kindern voraussetzen« (Jerusalem 1907, 33). Statt »chaotisch« wäre »unbestimmt« das treffendere Adjektiv, um das erwachende Bewusstsein zu umschreiben. Das Lebensgefühl, das sich zunächst in einer Mischung von Lust und Schmerz äußert, wird durch Kontakt mit der Umgebung differenzierter und schrittweise auf eine höhere Ebene des Bewusstseins gehoben. Wenn der Schmerz als Verlust oder als Widerstandserfahrung auch intensiver empfunden wird als die Lust, sie gehört doch zum Lebensuntergrund und ist aus der Erfahrung nicht wegzudenken. Eine Bestätigung des Primats der Lust liefert der Sprachgebrauch, der sich in den Darstellungen der hedonistischen Ethik eingebürgert hat. Hier wird der Gegensatz von Lust nicht Schmerz, sondern »Unlust« genannt, wie ein Blick in ein beliebiges Lexikon belegen kann. So kann man beispielsweise lesen, Lust sei eine »angenehm erlebte Grundqualität einer Empfindung«. Diese Definition bewegt sich im Kreise, da »angenehm« ja nichts anderes als »lustvoll« bedeutet. Ferner fragt man sich, ob die Empfindungsqualität etwas anderes ist als die Empfindung selbst. Damit aber wird fraglich, ob Lust überhaupt ein bestimmtes Gefühl bezeichnet. Da jeder von beliebigen Tätigkeiten behaupten kann, er empfinde dabei Lust, bleibt als Inhalt des Begriffs nichts als der Wunsch, in einem bestimmten Zustand zu verweilen. Daher verstehen wir unter »Lust« keine organisch lokalisierbare Empfindung, wie etwa die »Schmetterlinge im Bauch«, sondern einen Allgemeinzustand, in dem der Mensch verweilen möchte. »Unlust« dagegen bezeichnet einen Zustand, den der Mensch flieht. Daraus folgt, dass Lust Lust und Unlust aus lebensphilosophischer Sicht | 37
und Unlust keine punktuellen, an den Augenblick gebundenen Empfindungen sind, sondern permanente Zustände des Lebensgefühls.
Zwei Arten der Lust Welche Probleme der Lustbegriff für die Ethik aufwirft, zeigt die Diskussion um die zwei Arten von Lust, mit denen John St. Mill in seiner Schrift Utilitarianism (1863) das Prinzip des größten Glücks begründet hat. Mit der Unterscheidung zwischen sinnlicher und geistiger Lust setzt sich Mill vom antiken Hedonismus ab, für den es nur eine Form der Lust gibt, nämlich die sinnliche. Doch selbst Epikur war bemüht, Lust mit Unlustfreiheit zu identifizieren, da er wusste, dass Lust als intensives Gefühl nicht auf Dauer gestellt werden kann. Man hat daher von »negativem Hedonismus« gesprochen. In dieser Hinsicht stimmt Mills Utilitarismus mit dem Epikureismus überein. Mill führt den höheren Wert der geistigen Lust nicht auf die Inhalte (etwa ein gutes Buch vs. ein gutes Essen) zurück, sondern auf die Modalität der Erfahrung. Während ein Tier fast ganz in der Gegenwart lebt, ist der Mensch durch die Erinnerung darauf programmiert, vergangene Erlebnisse mit gegenwärtigen zu vergleichen. Dabei hinterlassen vergangene Erlebnisse häufig einen nachhaltigeren Eindruck als augenblickliche Aufwallungen. Die Konfrontation der Empfindungen wird als qualitativ höhere Art der Lust erlebt, nämlich als Lust der Spannung zwischen widerstreitenden Gefühlen. Die Spannung macht das Glücksgefühl aus, das laut Mill kein Mensch mit dem Wohlbefinden der Tiere vertauschen möchte, obwohl er sich manchmal danach sehnen mag. In extremen Fällen von Schmerz und Unglück sind Menschen geneigt, auf die Reflexion zu verzichten, was auf den Verlust des Menschseins hinausliefe. Im Lichte dieser Überlegungen darf Glück (happiness) nicht mit Wohlbefinden (content) im Sinne von Bedürfnisbefriedigung (satisfaction) verwechselt werden. Daher müsste Mills horrender Satz, korrekt übersetzt, lauten: »Es ist besser, ein unbefriedigtes menschliches Wesen zu sein als ein befriedigtes Schwein« (Mill 1985, 18; Mill 2006, 16). Damit will Mill den Mangel an Befriedigung, der 38 | Kapitel II
beim Menschen schwere psychische Störungen hervorrufen kann, keineswegs als Wert an sich hinstellen. Gemeint ist vielmehr die aus dem Sexualleben bekannte Tatsache, dass die Lust der Vorstellung oft intensiver ist als die Lust der Erfüllung. Das unterscheidet menschliches Glücksgefühl vom Wohlbefinden der Tiere. Glück schließt Gefühlsambivalenzen ein und beruht auf einem gewissen Verlangen nach emotionaler Erregung (love of excitement). Der Lustgewinn geht weit über die erogenen Zonen hinaus, so dass Lust, wie bereits gesagt, sich nicht als eindeutig lokalisierbares Gefühl festlegen lässt. Das heißt aber nicht, dass dem Begriff der Lust in der Realität nichts entspricht. Lust, allgemein verstanden, prägt die Befindlichkeit von Tier und Mensch. Doch das Lebensgefühl unterscheidet sich von der Befindlichkeit der Tiere darin, dass der Mensch sein unmittelbares Empfinden als angenehm oder unangenehm einstuft – anders als beispielsweise das Wohlfühlen einer Katze, die schnurrt, wenn sie sich in der Sonne räkelt. Sie wird kaum das Gefühl haben, wie schön es ist, auf der Welt zu sein. Das Lebensgefühl umgreift verschiedene Empfindungen, ausgenommen starke körperliche Schmerzen, die weltlos machen. Allerdings spricht man von Schmerz auch im übertragenen Sinne, so etwa, wenn jemand hinsichtlich eines bestimmten Ereignisses sagt, es schmerze ihn, was aber nicht bedeutet, dass er Schmerzen hat. Hier wird also zwischen körperlichem Schmerz und seelischen Schmerzen oder Bedrückungen unterschieden. So gehören Lust und Schmerz im weitesten Sinne zum impliziten Wissen des Lebensgefühls, das uns bewusst macht, was es heißt, ein Mensch in der Welt zu sein. In diesem Sinne unterscheidet Schopenhauer beim Menschen zwischen einem »Leben in concreto« und einem »Leben in abstracto« und sieht in »diesem doppelten Leben« den Grund für die »von der tierischen Gedankenlosigkeit sich so sehr unterscheidende Gelassenheit« (WWV I, 139). Diese prägnante anthropologische Einsicht macht die Abhandlungen zum Thema Gelassenheit von Martin Heidegger bis zu Richard David Precht so eingängig.
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Der Strom des Lebensgefühls Im Lebensgefühl kommen die unbewussten Regungen zum Ausdruck; der Mensch wird zu einer Welle im »Lebensstrom«, wie sich der heute vergessene Lebensphilosoph Ludwig Klages ausgedrückt hat. Seine Ausführungen klingen verdächtig nach vitalistischem Irrationalismus, nach Schicksalsglaube, und sind auch ideologisch instrumentalisiert worden. Aber das kompromittiert den Begriff »Lebensgefühl« nicht, solange man mit Karl Popper unter »Leben« auch Problemlösen versteht. Probleme lassen sich nicht immer restlos durch Argumente lösen und werden ins Emotionale verschoben, wobei die Grenze zur Ersatzbefriedigung fließend ist. Das kommt in der Erotik besonders deutlich zum Ausdruck. In seinem 1926 erschienenen Buch Vom kosmogonischen Eros unterscheidet Klages zwischen Eros und Sexus. Während er sexuelle Lust rein animalisch für einen Ausdruck partiellen Mangels hält, ist die Lust des Eros aus der Fülle geboren und wird zur »Liebe aus der Ferne«. So »kosmogonisch« mystifizierend Klages als Kind der Schwabinger Bohème sich auch ausdrückt, seine Sensibilität macht sein Buch zu einer Fundgrube phänomenologischer Beobachtungen über die Bedeutung des Gefühlslebens. Klages zählt auch den seelischen Schmerz zum schöpferischen Impuls, so etwa den »Weltschmerz« der Romantiker. Im Lebensgefühl verbinden sich Nähe und Vertrautheit mit Ferne und Fremdheit, worin sich die Dynamik des Erlebens manifestiere . Klages unterscheidet zwischen »Ichgefühlen«, die auf den Sexus fixiert sind, und »Lebensgefühlen«, in denen der Mensch von kosmischen Energien ergriffen wird. Er beeilt sich aber, hinzuzufügen: »Wohl ist wahr, dass völlig ohne Lebensseite kein Ichgefühl, wie auch völlig ohne Ichseite kein Lebensgefühl vorkommen kann« (Klages 1928, 179). Wir haben es hier mit Weltvertrauen zu tun, einer Einstellung, zu der man sich nicht entschließen kann, da sie sich den intentionalen Bewusstseinsakten entzieht. Lebensgefühle sind verschieden emotional getönt; aber ob nun optimistisch oder pessimistisch, die Gewissheit, zur Welt zu gehören, bleibt davon unberührt. Es geht um Partizipation, die etwas anderes und mehr ist als bloße Zugehörigkeit. »Partizipation«, ursprünglich ein politischer Begriff, hat der französische Anthro40 | Kapitel II
pologe Lucien Lévy-Bruhl in »primitiven« Gesellschaften als »mystische Teilhabe« an kosmischen Kräften interpretiert. Man kann aber auch weniger mystisch von emotionaler Teilhabe sprechen, die das Individuum an die Gemeinschaft bindet. In dieser Form gehörte »participation« in den USA der 1980er Jahre zum Programm der sozialen Erziehung junger Menschen und ist bald zur Mode geworden, was der damaligen Empathie-Welle entsprach. Partizipieren sollte und konnte man an allen möglichen Dingen, an der Natur, an der Kultur, an den Institutionen und schließlich an sich selbst. Hier dreht sich das Einfühlungsbedürfnis im Kreise, und Partizipation verliert sich in eine die Individualität auflösende Gefühlsduselei. Aber das schließt nicht aus, dass partizipative Prozesse aus einer Mischung von Nähe und Distanz gespeist werden, wie sie für das Lebensgefühl charakteristisch ist.
Das Normale und das Außergewöhnliche Lebensgefühle gehören zur Normalität, was nicht ausschließt, dass sie eine einmalige Intensität entwickeln können, wie etwa im Rausch der ersten Liebe. Der weitere Verlauf folgt allerdings bekannten Verhaltensmustern, die eher ernüchternd sind. Sie beinhalten Schmerz und Leid und verweisen auf Entwicklungen und Lebensphasen, die durch äußere Ereignisse kaum beeinflussbar sind. Dennoch gibt es herausragende Momente der Lebensbejahung, in denen paradoxer Weise der normale Verlauf der Dinge aufgehoben ist. Der berühmte Autor der Forsyte Saga, John Galsworthy, hat das in seiner Novelle Das erste Rendezvous meisterhaft dargestellt. Als psychologisch geschulter Beobachter denkt der Erzähler beim Anblick eines jungen Liebespaares an den Verlauf vieler Ehen, die mit einer Trennung enden: »Dies alles trat mir vor Augen so deutlich wie die Bilder eines Kinematographen, aber gleichzeitig sah ich, wie sich ihre Hände heimlich unter dem Tische fanden, und meine ersten prophetischen Visionen zerrannen. Weisheit und Wissen und alles Übrige, was waren sie allesamt, verglichen mit dieser einzigen Liebkosung« (Galsworthy 1952, 386). Hier wird das Verhältnis von dauerhaften und punktuellen Gefühlen zugunsten der letzteren umgekehrt. Das ist eine Hommage an die Macht der Lust und Unlust aus lebensphilosophischer Sicht | 41
erotischen Liebe, die das Vorbild für das menschliche Glücksstreben abgibt. Darin äußert sich die dem Lebensgefühl eigene Tendenz, über sich selbst hinauszugehen und das Gegenwärtige zeitlos zu machen. Das Über-sich-Hinausgehen des Lebensgefühls verweist auf den Lebensstrom in neurobiologischer Sicht. Die Verbindung von Empfindungsqualitäten zu einem Kontinuum ergibt sich aus dem hohen Grad an Zentralisierung des menschlichen Nervensystems im Gehirn. Der gewaltige Informationsfluss, ja der Überfluss an Informationen, mit denen es das Gehirn zu tun hat, lässt darauf schließen, dass der Mensch neben den körperlichen Bedürfnissen eine Fülle von geistigen Bedürfnissen entwickelt hat. Auf die Liebe bezogen, hat William James das so ausgedrückt: »Dem tierischen Bedürfnis entsprungen, dass eine weitere Generation geboren wird, hat diese Leidenschaft sekundär so starke geistige Bedürfnisse entwickelt, dass auf die Frage, warum überhaupt eine weitere Generation geboren werden soll, die Antwort lautet: Hauptsache, die Liebe geht weiter« (James 1967, 97). Der Primat der Liebe steht auch hier für eine Umkehrung des Lebensdrangs, mit der die Abfolge der Geschlechter durch sexuelle Prokreation von der Überzeitlichkeit erotischer Kreativität überholt wird. Das Gefühlsleben weist verschiedene Typen auf, je nach der vorherrschenden Triebanlage. Für den Erwerbsmenschen kommt es darauf an, rastlos dem Gewinn nachzujagen, für den erotischen Menschen ist die ganze Welt der Polarität der Geschlechter unterstellt, um nur zwei auffällige Typen zu nennen. Aber bei allen ist das Lebensgefühl auf eine günstige Lust-Unlust-Balance ausgerichtet. Menschen erleben einmalige Momente des Glücks, die dann der Normalität des alltäglichen Lebens weichen oder gar Unglück bringen. Daraus folgt aber nicht, dass das Glücksstreben ein leerer Wahn ist, sondern nur, dass man in seinen Erwartungen die Bedeutung des Realitätsprinzips berücksichtigen sollte (vgl. Annerl 2017). Insofern gehören Lebensgefühle zur Lebenskunst, die mit rein rationalen Strategien nicht auskommt. Was der Theoretiker als Reflexionsbegriff benutzt, liegt für die Betroffenen auf einer anderen Ebene. Dort geht es nicht um Abwägen von Gründen, sondern um Ausleben von Emotionen. Es ist gut zu wissen, nach welchen Gesetzen sich Gefühle wandeln, aber das ist bereits eine höhere 42 | Kapitel II
Stufe der Erkenntnis. Elementarer als Erkenntnis ist die Bereitschaft, sich den eigenen Gefühlen zu stellen, um sich selbst besser zu verstehen und glücklicher zu leben.
Lust und Unlust aus lebensphilosophischer Sicht | 43
Kapitel III Selbstbewusstsein, Ichgefühl und Erotik
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ch vermag nicht zu sagen, wann ich mich zuerst als Ich fühlte, nur das Eine weiß ich, dass mein Ich nicht auf einmal geboren wurde, sondern in Schüben. Hand in Hand damit gingen Verlust und Gewinn von Erinnerungen: lange Zeiträume meines Lebens entschwanden mir, kehrten dann unversehens in Teilen zurück oder wenigstens so, dass ich von ihrem einstigen Dasein ein unbestimmtes Wissen empfing. Die philosophische Bedeutung des Ich offenbarte sich mir im Alter von etwa fünfzehn Jahren … Da ergriff mich die Einsicht: so wie die Sonne im Wasser nicht sein kann ohne die Sonne am Himmel, so diese nicht ohne mein Ich. Das Himmelsgestirn und alles Sichtbare lebt von meinen Gnaden …«. Diese Zeilen aus dem Buch der Erinnerung des deutschen Philosophen Max Dessoir fassen die Problematik zusammen, an der sich die Theorie der Subjektivität abarbeitet (Dessoir 1946, 30). Das »Ich« wäre begrifflich klar bestimmbar, wenn es nicht mit wechselnden Inhalten gegeben wäre, die emotional verschieden getönt sind und ständig ineinander übergehen. Damit wird die philosophische Frage akut, wie es mit der Einheit des Bewusstseins bestellt ist. Die Einheit lässt sich in zweierlei Hinsicht beschreiben: kognitiv oder emotional. Dafür stehen die Begriffe »Selbstbewusstsein« und »Ichgefühl«. »Selbstbewusstsein« oder das Adjektiv »selbstbewusst« wird in der Alltagssprache im Sinne von Selbstwertgefühl gebraucht. Die Philosophen dagegen verwenden den Begriff im Anschluss an Immanuel Kant zur Bezeichnung des Subjekts der Erkenntnis. In diesem wertneutralen Sinn bildet Selbstbewusstsein bis heute den Schlüsselbegriff in Theorien der Subjektivität. Gegenüber der Philosophie des englischen Empirismus hat Kant die Lehre von einer transzendentalen, d. h. auf die Möglichkeit von Erkenntnis bezo-
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genen Einheit des Bewusstseins vertreten. Die Einheit ist für Kant eine rein kognitive Funktion, die mannigfaltige Vorstellungen zum Gegenstand verbindet. Selbstbewusstsein und gegenständliche Erkenntnis bedingen sich gegenseitig, so dass das Selbstbewusstsein dadurch definiert ist, dass man sich selbst zum Gegenstand macht. Dabei operiert Kant mit einem »inneren Sinn«, der nicht nur für Selbsterfahrung, sondern auch für Erfahrung überhaupt konstitutiv ist. Die Problematik dieser Theorie liegt darin, dass die Verknüpfung von Vorstellungen immer schon einen Begriff voraussetzt, der im Erkenntnisprozess allererst gebildet werden soll. Da wir uns in der normalen Erfahrung keiner synthetischen Akte des Intellekts bewusst sind, führt es weiter, von der Kontinuität der Vorstellungsfolge auszugehen, die fundamentaler ist als einzelne Empfindungen. Die durchgängige Einheit des Bewusstseins verweist damit auf das Lebensgefühl, das Passivität und Rezeptivität miteinander verbindet. Soviel in Kürze zur transzendentalphilosophischen Konzeption von Selbstbewusstsein. Zwischen dem »Selbstbewusstsein« der Philosophen und dem der Psychologen klafft ein tiefer Abgrund. In der Psychologie hat sich zur Bezeichnung personaler Identität »Selbstgefühl« eingebürgert, das auch »Ichgefühl« genannt wird. Es handelt sich um einen psychischen Gesamtzustand, der zentripetal, zugleich aber auch zentrifugal ausgerichtet ist. Bewusstseinstheoretisch haben wir es hier mit dem Fall zu tun, dass die Relationen den Primat gegenüber den Relata haben. Zur Wahrnehmung gehören emotionale Beziehungen zum Gegebenen, unabhängig davon, um was oder wen es sich handelt. So erscheint uns ein Gegenstand als zuhanden oder tückisch, eine Person als sympathisch oder abstoßend, ohne dass wir dafür objektive Gründe anführen können. Der Philosoph Hermann Lotze hat gegenüber dem rein logischen und abstrakten Begriff der Beziehung die gelebte Beziehung als Medium des In-derWelt-Seins stark gemacht (Lotze 1989, 556 f.). Im Anschluss daran hat William James in einem Aufsatz mit dem Titel »The Thing and its Relations« die unmittelbare, noch nicht begrifflich gegliederte Erfahrung als Kontinuum von Beziehungen beschrieben. Zwar gebe es Enttäuschungen und Unsicherheiten, aber keine logischen Widersprüche oder Paradoxien. James nennt das den »sense of Selbstbewusstsein, Ichgefühl und Erotik | 45
living«, den der Mensch lustvoll empfindet (James 1967, 92). »Sense of living« kann man wohl am besten mit »Lebensgefühl« übersetzen. Um zu klären, wie dieses Gefühl sich anfühlt, wenden wir uns der Innenwelt des Selbst zu.
Höhlengleichnis Was wir in der Innenwelt erleben, erinnert an das berühmte Höhlengleichnis, das Platon in seinem Dialog Politeia von Sokrates erzählen lässt. In der Höhle leben Menschen, die dort so festgebunden sind, dass sie immer nur nach vorn auf die Höhlenwand blicken und ihre Köpfe nicht drehen können. Daher können sie den Ausgang, der sich hinter ihrem Rücken befindet, nie erblicken und von seinem Vorhandensein nichts wissen. Auch sich selbst und die anderen Gefangenen können sie nicht sehen. Erhellt wird ihre Behausung von einem Feuer, das hinter ihnen weit oben in der Höhle brennt. Die Gefangenen sehen nur dieses Licht, das die Wand beleuchtet, nicht aber dessen Quelle. Auf der Wand sehen sie ihre Schatten. Für Platon versinnbildlicht die Höhle die Welt, wie sie sich den Sinnen darbietet und die wir für die Realität halten. Aber Platon hält das für eine Täuschung. Hinter der Welt der vergänglichen Sinnesobjekte steht für ihn die intelligible Welt, in der sich die geistig erfassbaren Ideen befinden, die unwandelbaren Ur- und Vorbilder der materiellen Phänomene. Unter den rein geistigen Dingen nimmt die Idee des Guten den höchsten Rang ein. Zur Idee des Guten muss man vorgedrungen sein, um im privaten oder öffent lichen Leben vernünftig handeln zu können. Lässt sich dieses lehrreiche Gleichnis der antiken Philosophie auch auf die Innenwelt der Gefühle anwenden? Sehen wir im Blick nach innen nur Schatten, die wir für die alleinige Wirklichkeit unseres Selbst halten? Eine beunruhigende Frage, die durch die lebensphilosophische Anthropologie vielleicht eine Antwort findet, die Platons strikte Gegenüberstellung von sinnlicher und geistiger Welt überwindet. Schließlich gibt es noch den Eros, der in Platons Dialogen eine zentrale Rolle spielt. Für Plato offenbart der Eros den dialektischen Charakter der Seele, deren Streben nach außen und 46 | Kapitel III
zugleich nach innen gerichtet ist. Eros ist kein Gott, sondern ein Dämon, der zwischen Göttern und Menschen hin und her geht. Jede menschliche Seele hat am Eros teil; der Eros, so könnte man sagen, ist der Logos der Seele. Wir werden später sehen, was die Denker und Dichter der Moderne davon übernommen haben.
Die Entgrenzung des Ichgefühls Dass jeder Mensch von sich als »Ich« spricht, ist tief in unserer psychischen Konstitution verankert. Aber personale Identität könnte eine anerzogene Täuschung sein. Daher wollen Charaktere wie Harry Haller in Hermann Hesses Steppenwolf »den Wahn der Persönlichkeitseinheit durchbrechen und sich als mehrteilig, als ein Bündel aus vielen Ichs empfinden« (Hesse 1970, 242). Das ist sicherlich ein Spiegel des Zeitgeistes der 1920er Jahre, aber auch die empirische Forschung bekundet Zweifel an der substantiellen Einheit des Bewusstseins: »Das Bild des alternden Peer Gynt, wonach der Mensch einer Zwiebel gleiche, drängt sich auf. Wir fragen bei der letzten, inneren Schale entsetzt mit ihm: ›Wie, schon zu Ende? Nur Schalen gegeben? Und nirgends ein Kern?‹« (von Wiese 1933, 137). So sicher wir uns auch unserer Existenz sind, die Psychologie des Ich zeigt ein komplexes Bild. William James hat in The Principles of Psychology die verschiedenen Komponenten des Ich oder des Selbst aufgelistet (Kap. X). Dabei zeigt sich, dass die Grenzen des Ich fließend sind. Das Schwanken dieser Grenzen hängt vom Gefühl ab, das Menschen an Dinge der Umgebung bindet, aber auch und vor allem an andere Personen. Unter »Selbstgefühl« im engeren Sinne subsummiert James Selbstzufriedenheit und Selbsterniedrigung, zwei konträre Emotionen, die sich in zwischenmenschlichen Beziehungen oft überlagern. Sigmund Freud spricht von übertriebenem Selbstgefühl oder »Hochgefühl« des jüdischen Volkes gegenüber anderen Völkern, das mit Selbsthass eng verbunden ist (GW XVI, 213). Für die Identität stiftende Funktion der widersprüchlichen Qualitäten des Selbstgefühls ließen sich noch zahlreiche Belege aus der Literatur anführen (vgl. Gay 1999).
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Lebensgefühl und Existenzgefühl Wie bereits erwähnt, erklärt Kant in der Kritik der reinen Vernunft Selbstbewusstsein als synthetische Einheit von Vorstellungen. Obwohl sich Kant auf den Erkenntnisprozess konzentriert, hat er das Subjekt mit seinen Gefühlszuständen nicht ganz unbeachtet gelassen. In der Kritik der Urteilskraft bezeichnet Kant den Zustand des Subjekts als »Lebensgefühl«. Vom Lebensgefühl heißt es, es beziehe alle Vorstellungen »unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust« auf das Subjekt. Mit Lust oder Unlust sei ein rein subjektives »Unterscheidungs- und Beurteilungsvermögen« verbunden, das keinen Erkenntnisgewinn bringe, »sondern nur die gegebene Vorstellung im Subjekte gegen das ganze Vermögen der Vorstellungen hält, dessen sich das Gemüt im Gefühl seines Zustandes bewusst wird« (KdU § 1). Kants Beschreibung des Lebensgefühls erinnert an das Existenzgefühl (»sentiment d’existence«) von Rousseau, der beschreibt, wie er, auf dem Genfer See im Boot dahintreibend, der Welt den Rücken kehrt. Dabei löst sich seine Individualität auf und verschmilzt in das, was man »ozeanisches Gefühl« genannt hat. Aller dings lassen die Schilderungen von Rousseau erkennen, dass das Ich sich nicht vollständig in subjektive Befindlichkeit auflöst. Die Umgebung von außerordentlicher Schönheit spielt in das Glücksgefühl mit hinein. Das aber besagt, dass im eigenen Empfinden, so intensiv es auch gepflegt wird, die Offenheit für äußere Eindrücke und ihre Verarbeitung in ästhetischen Vorstellungen erhalten bleibt. Damit kommt die schöpferische Phantasie zum Zuge. Nur sie, so heißt es in dem 1761 erschienenen Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloise, erzeuge glückliche Zustände: »Das Land des Wahns ist auf dieser Welt das einzige, das bewohnt zu werden lohnt; so nichtig ist das Menschenwesen, für das nur das schön ist, was nicht ist« (Rousseau 1988, 80). Mit solchen Sätzen hat Rousseau dem modernen Subjektivismus den Weg geebnet, der sich zwischen Aufklärung und Pietismus, Welterkundung und Innerlichkeit bewegt. Karl Philipp Moritz hat 1785 in seinem psychologischen Roman Anton Reiser das Modell für die Selbst(er)findung geliefert, das bis heute nachwirkt. Narrative Identitätsmuster treten an die Stelle der Introspektion, so etwa bei Dieter Thomä: Erzähle 48 | Kapitel III
dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem (Thomä 1998). Wie Lebensgeschichten personale Identität jenseits des angeborenen Charakters prägen und nach welchen Mustern sie gestrickt sind, ist ein unerschöpfliches Thema. Die Protagonistin der Münchener Bohème, Franziska zu Reventlow, ist schon vor einem Jahrhundert zu dem Schluss gekommen, »jeder Mensch habe nun einmal seine Biographie, die er nachleben müsse. Es käme nur darauf an, das richtig zu verstehen – man müsse selbst fühlen, was in die Biographie hineingehört und sich ihr anpasst – alle andere solle man ja beiseitelassen oder vermeiden« (Reventlow 1987, 111). Das Beiseitelassen gehört zum »Handwerk des Lebens«, das der italienische Schriftsteller Cesare Pavese darin gesehen hat, ein überzeugendes Bild seiner selbst zu entwerfen. Und Max Frisch hat auf die Frage, was die Person ist, die bedenkenswerte Antwort gegeben: »Geben Sie jemand die Chance zu fabulieren, zu erzählen, was er sich vorstellen kann, seine Erfindungen erscheinen vorerst beliebig, ihre Mannigfaltigkeit unabsehbar; je länger wir ihm zuhören, um so erkennbarer wird das Lebensmuster, das er umschreibt und zwar unbewusst, denn er selbst kennt es nicht, bevor er fabuliert« (Johnson 1975, 127). Das Fabulieren gehört auch zum Lebensgefühl der Existentialisten. Ihr Protagonist, der Dichter-Philosoph Jean-Paul Sartre, hat in seiner 1939 erschienenen Esquisse d’une théorie des émotions Gefühle als ungegenständliche Selbsterfahrung beschrieben, wie sie oft im Dämmerzustand des Erwachens auftritt. Er nennt sie auch einen »Existenzmodus des Bewusstseins«, in dem Spontaneität und Rezeptivität sich vermischen (vgl. Frank 2002, 240). Im vorreflexiven Bewusstsein erscheint die Welt als magischer Raum. Der magische Raum ist bevölkert von einer Fülle der »feineren Emotionen« (Sartre 1965, 55), bei William James heißen sie die »subtler emotions«, d. h. »the moral, intellectual, and aesthetic feelings«, die sich von den elementaren Gefühlen absetzen (James 1950, II, 468). Damit wird das Spektrum des Selbstgefühls um ästhetische Momente erweitert, die in der Kunstwissenschaft ausführlich diskutiert worden sind. So auch bei Max Dessoir, der ästhetische Lust »erhöhtes Lebensgefühl« nennt, worin mehrere Arten von Gefühlen zusammenspielen: Sinnes-, Form- und Inhaltsgefühle (Dessoir 1923, 108 ff.). Selbstbewusstsein, Ichgefühl und Erotik | 49
Mit den Neurowissenschaften hat sich die Situation weiter verkompliziert. Allgemein hat die Gehirnforschung das Fühlen von der Einheit des Bewusstseins weitgehend abgelöst. Furcht, Zorn, Ekel und Freude werden als elementare Emotionen behandelt. Für jede Emotion wird ein »Affektprogramm« angenommen (Ekman 1999). Die Informationsverarbeitung durch neuronale Systeme läuft automatisch ab. Hinter diesem Modell steht die Idee der Modularisierung, die keinen Zentralprozessor erfordert. Das entspricht dem postmodernen Pluralismus, der es dem Menschen gestattet, seine Identitäten selbst zu wählen: ein Spiel mit dem Mosaik der »Selbste«, die man beliebig austauschen kann, ohne sich dabei auf einen bestimmten Charakter festzulegen. Das ist sicherlich eine verlockende Perspektive, die in den neuronalen Kartierungen ihre Bestätigung findet. Die Frage bleibt, ob das Zusammenspiel von neuronalen Emotionssystemen genügt, die Selbsterfahrung zu erklären. Gegen neuronale Modularisierung der Emotionen spricht, dass die Quellen unseres Selbst im Gehirn nicht vollständig repräsentiert sind. Hier springt das Unbewusste ein, das laut Freud im psychischen Apparat permanent am Werke ist.
Selbstgefühl und Lustprinzip Die Selbsterfahrung legt nahe, dass das Selbst sich zwischen Bewusstsein und Unbewusstem bewegt und zum Lustprinzip ein fließender Übergang besteht. Allerdings bleibt unklar, welche psychodynamischen Prozesse für den Übergang verantwortlich sind. Sigmund Freud lehrt, dass das »Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs« für uns das sicherste ist, ferner dass das Ichgefühl aber Störungen unterworfen ist und »die Ichgrenzen nicht beständig sind«. Ursprünglich sind die Empfindungen mit der Umgebung verwoben, und erst im Laufe der individuellen Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen setzt sich das Ich als selbständige Entität vom Umfeld ab: »Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weitumfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach« (GW XIV, 422 ff.). Karl Jaspers beschreibt in seiner Psychologie der Weltanschauungen »Prozesse des Selbst50 | Kapitel III
werdens« so: »Das Selbst ist ein Lebensbegriff; das Selbst ist nur in Paradoxen zu umkreisen, nicht zu erkennen; es ist zugleich das Allgemeine und Einzelne; da es aber das nicht sein kann, ist das Selbst bloß werdend« (Jaspers 1971, 413). Das Werden aber ist im Lebensgefühl erfahrbar, das mehrere Schichten aufweist. Freud hat die Genese des Ich bekanntlich auf die geschlechtliche Liebe zurückgeführt, von der es heißt, sie habe »uns die stärkste Erfahrung einer überwältigenden Lustempfindung vermittelt und so das Vorbild für unser Glücksstreben gegeben« (GW XIV, 441). Freud war sich allerdings im Klaren darüber, dass das Lustprinzip nicht reicht, um dem Glück Dauer zu verleihen: »Das Programm, welches uns das Lustprinzip aufdrängt, glücklich zu werden, ist nicht zu erfüllen, doch darf man – nein, kann man – die Bemühungen, es irgendwie der Erfüllung näherzubringen, nicht aufgeben« (ebd., 442). Das klingt wie ein verzweifelter Versuch, den kulturellen Pessimismus zu überwinden. Die Rückführung des Ichgefühls auf die Sexualität, auf die Sigmund Freud das Lustprinzip zugeschnitten hat, war und ist immer noch Gegenstand kontroverser Interpretationen. Wie immer man dazu steht, unbestreitbar ist, dass im Bereich des Geschlechtslebens ein »Reizhunger« entsteht, in dem die Zusammengehörigkeit von Lustempfindungen und Begehren besonders greifbar wird. Freuds Schülerin Lou Andreas-Salomé hat 1917 in einem »Psychosexualität« betitelten Aufsatz klargestellt, dass das Neugeborene in der Zuwendung der Mutter gleichsam sich selbst fühlt: »Die frühesten Äußerungsweisen des Kindes entsprechen einem Liebeszustand, für den das In-allem-umfangen-sein selber steht: es lebt die Mutter, ehe es die Mutter ›liebt‹; – weshalb sie ihm bei seiner ersten späteren Objektfindung nicht als ein ganz Erstmaliges, eher als ein ›Wiederfinden‹ (Freud), Wiedersehen, naht. Mitten in dieser urhaften Verschmolzenheit mit dem Objekt ergeben sich die ersten Lustgefühle an der wahrgenommenen Welt durch das Behagen an den eigenen Körperlichkeiten; Lust, eng noch angeschlossen dem Selbsterhaltungstrieb … Diese Periode des Autorerotismus, wobei der ganze kindliche Körper gewissermaßen noch ein einziges Sexualorgan darstellt, hat Freud mit großem Nachdruck unterschieden von der nächstfolgenden Periode bewussteren Daseins, die schon erlaubt, die Sondergelüste zusammenzuschließen um ein zentrales Selbstbewusstsein, Ichgefühl und Erotik | 51
Objekt, als welches jedoch noch die eigene Person gewählt wird« (Andreas-Salomé 1979, 155). Von diesem narzisstischen Ausgangspunkt erfolgt dann die Entwicklung des Ichgefühls im Bezug zu anderen Personen, ein Prozess, der in die Welt der Erwachsenen führt und in intimen Beziehungen hochgradig störungsanfällig ist. Die Aufwertung der sexuellen Lust gehört zu den Verdiensten von Freuds psychoanalytischer Erkundung des Menschen. Zu welchen emotionalen Exzessen die »Fleischeslust« die Menschen in ihren Vorstellungen treiben kann, belegt Mynheer Peeperkorn, der Hans Castorp folgende Belehrung gibt: »Das Leben – junger Mann – ist ein Weib, … das in herrlicher, höhnischer Herausforderung unsere höchste Inständigkeit beansprucht, alle Spannkraft unserer Manneslust, die vor ihm besteht oder zuschanden wird, – zuschanden, junger Mann, begreifen Sie, was das hieße? Die Niederlage der Gefühle vor dem Leben, das ist die Unzulänglichkeit, für die es keine Gnade, kein Mitleid und keine Würde gibt …«. Und im Laster, so Peeperkorn weiter, brauche keine Beleidigung des Lebens zu liegen, sondern es beweise, wie sehr das Leben der Rauschmittel bedarf, »der Stützen und Steigerungen der Gefühlskräfte, weshalb dann also doch das Leben ihr Zweck und Sinn ist, die Liebe zum Gefühl, das Trachten der Unzulänglichkeit nach Gefühl …« (Mann, Th. 1926, 739 ff.). Es ist nicht überliefert, ob und wie Freud auf derartige Exaltationen reagiert hat, aber wahrscheinlich hätte er Verständnis für das Davoser Lebensgefühl gezeigt, das in den 1920er Jahren die Intellektuellen umtrieb.
Von der Sexualität zur Erotik Lust als Stoff, aus dem das Lebensgefühl gemacht ist, hat verschiedene Aggregatzustände, je nachdem, worauf die Begierde sich bezieht. In Analogie zu den zwei Arten von Lust, die wir bei John Stuart Mill kennengelernt haben, kann man im Liebesleben zwischen unmittelbarer und reflektierter Lust unterscheiden. Da niemand auf Dauer im Zustand sexueller Erregung leben kann, verschiebt sich die Lust in die Vorstellung. Das ist der Schritt von der Sexualität zur Erotik, von der Lust der Bedürfnisbefriedigung zur Lust an der Erwartung (Fellmann/Walsh 2016). In der Erotik 52 | Kapitel III
lebt der Mensch ständig mit der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, einer Diskrepanz, die dem Eros allerdings nichts von seiner psychischen Energie nimmt. Im Gegenteil. Der geläufige Vorwurf, der Eros reduziere den Menschen auf die Sexualität, verkennt, dass der Konflikt zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip das Selbstgefühl steigert. Mit der »Psychosexualität« hat die Psychoanalyse den Lebensdrang über die sexuelle Begierde hinaus erweitert: Eros nennt Freud eine der beiden »himmlischen Mächte«, die miteinander kämpfen. Damit ist die psychoanalytische Kulturtheorie nicht so weit von der Dialektik der platonischen Eroslehre entfernt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dass Erotik ein Kulturprodukt ist, in dem triebhafte Energie mit Bewusstsein zusammenwirkt, hat im 18. Jahrhundert schon der berühmte »Lustexperte« Giacomo Casanova klargestellt. In seinen Memoiren lesen wir: »Denn Lust verlangt Bewusstheit, und Tiere sind dazu nicht fähig. Einzig der Mensch ist wirklicher Lust fähig, denn er ist mit dem Vermögen des Denkens begabt …« (Casanova 1966, Bd. IV, 43). Hier ist die Reflexivität der Lust angesprochen, die beim Menschen die intimen Beziehungen über den bloßen Konsum von Lustobjekten erhebt. Nun ist bekannt, dass viele Tiere, insbesondere Vögel, bei der Werbung Verhaltensweisen an den Tag legen, die über das biologisch Notwendige hinausweisen und sich oft geradezu exotisch ausnehmen. Doch sosehr der Pfau sich auch aufplustert, niemand wird seine Darstellung als erotisch bezeichnen, da sie auf alle anwesenden Weibchen gerichtet ist. Zur menschlichen Erotik gehört Intimität, die in der Evolution sehr spät anzutreffen ist. »Sexus«, »Nexus«, »Plexus« lauten bei Henry Miller die drei Stadien der Geburt des Eros, in dem Lust nach Ewigkeit strebt, wie schon Nietzsche verkündet hat.
Transformationen der Höhlenmetapher Im Licht des erotischen Lebensgefühls lässt nun auch die Höhlenmetapher eine neue Deutung zu. Platons Höhlengleichnis ist lehrreich, bleibt aber abstrakt. Es sagt nicht, weshalb und wie die Menschen in die Höhle gekommen sind. Es ist auch psychologisch vormodern, denn es entspricht nicht der heutigen Erforschung unSelbstbewusstsein, Ichgefühl und Erotik | 53
serer Innenwelt der Gefühle. Sehen wir auch bei der Nabelschau nur Schatten, die wir für die alleinige Wirklichkeit unseres Selbst halten? Eine beunruhigende Frage, auf die der Eros eine Antwort gibt, die Platons strikte Gegenüberstellung von sinnlicher und geistiger Welt überwindet. Die Schatten, die wir Menschen sehen, sind die Reflexe unseres körperlichen Selbst, die aber nicht nur Schein sind, sondern Ausdruck des Willens zum Leben, dessen Feuer die Höhle unserer Intimität erhellt. Der Weg dorthin führt über Hans Blumenbergs Höhlenausgänge (1989), die neuzeitliche Umformungen des antiken Höhlengleichnisses von Francis Bacon über Descartes und Kant bis zu Wittgenstein vorführen. Am Ende formuliert Blumenberg seine eigene Position im Anschluss an Arnold Gehlen als Ausdruck des Strebens nach Selbsterhaltung. Damit bleibt Blumenberg im Rahmen der theoretischen Neugierde. Die Perspektive der erotischen Lebensfülle wird ausgespart. Warum Blumenberg darauf nicht eingeht, ergibt sich daraus, dass sein Interesse auf die Formen des Logos gerichtet ist. Entsprechend bleibt seine Höhle wie bei Platon ein Konstrukt ohne körperliche Lokalisierung und ohne gefühlsmäßige Tönung. Wo und wie man »die Höhle« findet, sagt Blumenberg nicht. Anders Botho Strauß, der in seinem Buch Oniritti Höhlenbilder verschiedene Aspekte der Höhlenmetapher durchgespielt hat. So ist die Straußsche Höhlenwelt mal Zufluchtsstätte, mal Ort der Unmündigkeit. Den Aspekt der Horizontverengung entwickelt Strauß im Anschluss an Francis Bacon, der in seiner Idolen-Lehre Höhlenbilder dem individuellen Menschen zuordnet. Jeder steckt demnach in seiner eigenen Höhle des Nichtwissens, die »das Licht der Natur bricht und verdirbt«. Die Höhle wird in diesem Changieren der Bedeutung zum Gleichnis für die Dialektik des menschlichen Lebensgefühls überhaupt. Wie zu erwarten, nimmt in den Höhlenbildern von Strauß die intime Beziehung zwischen Mann und Frau eine zentrale Stellung ein. Eine Sie und ein Er im Gespräch, oder die wankelmütige Cécile und ein »Ich«, das dem Autor ähnelt, unterhalten sich in der Körpersprache. Strauß ist seit jeher ein subtiler Interpret der unergründlichen Liebesdynamik und aller zugehörigen Abgründe. Die Präzision seiner Beobachtung von Paar-Bindungen macht ihn 54 | Kapitel III
zu einem Psycho-Analytiker. Blumenberg ist auch ein Analytiker, aber in seinen Höhlenausgängen bleibt er beim Trauma der Geburt stehen, das den von Freud beschworenen sexuellen »Wißtrieb« überdeckt. Übrig bleibt die nüchterne Subjekt-Objekt-Spaltung, die zur Isolierung des erkennenden Subjekts geführt hat. Um das Subjekt im Sinne des Lebensgefühls zu erweitern, muss der Eros als Komplement des Logos in Aktion treten.
Kreativität des Eros Die Formung des Selbst nach dem Schema des Eros ist entwicklungspsychologisch ein langer Weg. Die ersten Lustgefühle des Neugeborenen sind noch ganz an die Empfindung der eigenen Körperlichkeit gebunden. Aber mit der Pubertät verschiebt sich der Bezugspunkt und damit verändert sich die Qualität der Lust. Sie verlagert sich in die Einbildungskraft oder besser, sie erzeugt Einbildungskraft, die das ursprüngliche Behagen sprengt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Schriftsteller die Lebensgefühle der Heranwachsenden beschrieben, darunter Robert Musil in Die Verwirrungen des Zöglings Törleß oder ekstatischer noch der Expressionist Walter Hasenclever in seinem Bekenntnisroman Irrtum und Leidenschaft: »Wohin, ihr Kinder, im Labyrinth der Gefühle? Noch rührt sich kein Finger, euch den Weg zu weisen. Ihr seid verirrt und verloren in Unwissenheit. Ganz tief, ganz unten ist am dämmernden Horizont die Venus aufgegangen. Die Trommeln der Sehnsucht begrüßen das steigende Gestirn« (Hasenclever 1969, 33). Was aus den Kindern geworden ist, zu welchen Persönlichkeiten sie sich zwischen Geltungstrieb und Resignation, zwischen Sentimentalität und Zynismus entwickelt haben, ist mitunter ziemlich ernüchternd. Aber so ist das Gefühlsleben nun einmal, und so wird es immer sein, auch wenn Weltverbesserer das nicht wahrhaben wollen. Im Vergleich zur Sorge, die Martin Heidegger zur Grundbefindlichkeit des In-der-Welt-Seins gemacht hat, zum »Existenzial«, ist die Liebe ursprünglicher. Wenn sich die Sorge ausschließlich auf das eigene Selbst richtet, handelt es sich um eine solipsistische Schwundstufe des Lebensgefühls. Dagegen gehört zur Liebe die Dialektik, die Platons Eros prägt und die Heideggers Existenzial Selbstbewusstsein, Ichgefühl und Erotik | 55
der Sorge fehlt. Erst mit dem Übergang zum französischen Existentialismus, der den Lebensstil und das Lebensgefühl der Nachkriegsgeneration in Europa geprägt hat, wird der Eros virulent. Seine Dialektik von Nähe und Distanz, die sich in der Liebe am deutlichsten manifestiert, prägt das Verhalten des Individuums zur Gesellschaft. Dabei spielt die ästhetische Dimension eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sorge lässt keinen Raum für das Überflüssige, Erotik dagegen kann sich ohne emotionalen Luxus nur schwer entfalten, sie ist geradezu dessen Kultivierung. Immerhin wird in Platons Symposion Eros als Sohn des Mangels und der Fülle vorgestellt. In diesem Sinne gehört das Erotische auch zur theologischen Anthropologie. Um einen Menschen zu formen, musste den alttestamentarischen Schöpfergott die Lust anwandeln, diesen Akt zu vollbringen. Die Schöpferlust ist dem Menschen nach dem Vorbild Gottes als vitales Lebensgefühl eingepflanzt. Gerade wenn man den Menschen mit der modernen philosophischen Anthropologie als kreatives Wesen begreift, das sich selbst immer neu erschafft, bekommt die Verbindung von Eros und Religion unerwartete Aktualität. Die »Schöpfungswonne«, wie sie genannt wurde, ist ein religiöses Gefühl, das dem mystischen Weltbild entspricht und zur Dynamik des Selbst gehört.
Eros als Medium des Selbstseins Der Eros als Quelle des Selbst erhält damit den Status eines Mediums, insofern man unter »Medium« einen Stoff versteht, der Impulse und Energie überträgt. Die Inhalte treten in den Hintergrund, wenn das Medium selbst zur Botschaft wird. Das ist in der Liebe der Fall, die sinnliche Übermittlung und geistige Vermittlung zugleich ist. Genau diese Doppelfunktionen erfüllt die Erotik als Lebensgefühl, das den Menschen sich selbst in den dunklen Tiefen seiner Psyche begegnen lässt. Darin gleicht der Eros dem äußeren Medium des Lichts, in dem und durch das alles sichtbar wird, das aber selbst nicht ohne weiteres zum Gegenstand werden kann. Das macht den Eros zu einer Art Letztmedium, das selbst die Botschaft ist – die Botschaft des Lebens. 56 | Kapitel III
Als Letztmedium unterläuft der Eros alle Distinktionen der Emotionspsychologie, so die Unterscheidung zwischen körperlich und geistig, zwischen zuständlich und intentional, kognitiv und voluntativ. Das entspricht der Struktur des Lebensgefühls, das durch die Unbestimmtheit der Emotionen geprägt ist, die unvorhersehbare Selbstentwürfe ermöglicht. Während der Begriff des Selbstbewusstseins das Ich auf den Logos reduziert, nimmt der Eros die Innenwelt des Individuums in seiner Gefühlsambivalenz ernst. Der Eros führt den Menschen aus der Höhle des Ichgefühls heraus und bringt ihn in Kontakt mit den Mitmenschen. Die körperliche Berührung in der Intimität bei gleichzeitiger Distanzierung prägt den Menschen nachhaltiger als rein sprachliche Kommunikation. Hier erweist sich die zentrale Stellung der Sprache des Eros, deren gefühlte Bedeutung dem theoretischen Verständnis vorausgeht, ja ihm zugrunde liegt.
Paradigmen der Sprache des Eros Der Kulturphilosoph Günther Anders hat in seinem Buch Lieben gestern, das den Untertitel Notizen zur Geschichte des Fühlens trägt, sehr eindrucksvoll beschrieben, wie die Liebe den Partner verwandelt und in sich aufnimmt: »Ziel der Liebe ist nicht die Lust durch die Frau, sondern die Lust mit der Frau; sie zu haben; nein, einfach sie« (Anders 1989, 80). Wie sich Partner im Liebesakt anfühlen, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Aber große Schriftsteller sind in der Lage, elementare Situationen zu schildern, in denen die Liebeslust nachfühlbar wird . Ein bekannter Topos ist das Gleiten von Strümpfen oder Röcken auf der nackten Haut. Es wird von Frauen lustvoll empfunden und versetzt Männer in sexuelle Erregung. Ich gebe eine Stelle aus einem beliebigen Roman wieder, wo es von einer Lebedame heißt: »Sie zog sich ihre Seidenstrümpfe an und seufzte vor Wohlbehagen. Das Material glitt so sanft auf ihrer Haut, es fühlte sich an wie das Streicheln eines Geliebten«. Im Roman Der lange Weg zu zweit, der den allmählichen Verfall einer Ehe beschreibt, schildert John Updike, wie der Frau der schwarze Rock von den »hochgezogenen Knien über die Schenkel rutscht, die Schenkel hinaufgleitet«. Diese Beschreibung genügt, um beim Selbstbewusstsein, Ichgefühl und Erotik | 57
Leser die Lustwelle zu evozieren, die den Ehemann überflutet. Das mag heute etwas altbacken klingen, trotzdem ist es ein poetisches Plädoyer für das erotische Lebensgefühl einer Epoche. Es ließen sich noch viele Beispiele anführen, so die Schwabinger Bohème vor dem Ersten Weltkrieg, deren Lebensgefühl die bereits genannte Franziska zu Reventlow in ihren Romanen festgehalten hat. Aus Herrn Dames Aufzeichnungen geht hervor, welch zwingende Wirklichkeit eine bestimmte Lebensform und das daraus resultierende Lebensgefühl für die Zeitgenossen hat. Das gilt auch für das Wien um die Jahrhundertwende, dessen zwischen Sekurität und Zukunftsängsten schwankendes Lebensgefühl Arthur Schnitzler eingefangen hat. Im dritten Band seiner Kulturgeschichte der Neuzeit (1931) präsentiert Egon Friedell eine Topographie der Wiener Seelenverfassung des Fin de Siècle. Von Schnitzlers Romanen und Theaterstücken heißt es, sie würden »eine ganze Stadt mit ihrer einmaligen Kultur, mit dem von ihr genährten und entwickelten Menschenschlag, wie er sich in einem bestimmten Zeitpunkt der Reife und Überreife auslebte« einfangen (Friedell 1931, 311). Friedell gebraucht das Wort »Lebensgefühl« nicht, aber seine Darstellung entspricht voll und ganz unserem Begriff. Friedell entwirft ein breites Panorama von Lebensgefühlen, die sich in Europa um 1900 überlagern und nationale Unterschiede hervortreten lassen. So verschieden die Tonlagen auch ausfallen, der Grundtenor des Lebensgefühls der Moderne ist und bleibt die Erotik.
»Für-und-in-etwas-Leben« Am Ende der »empfindsamen Reise« durch die Innenwelt, die so »empfindsam« nicht war, wie es zunächst aussah, wird eines klar: So kulturell und sozial formbar das menschliche Selbst auch ist, das Lebensgefühl bleibt für die Entwicklung des Selbst der unverzichtbare Hintergrund. Anders als die Lust der bloßen Bedürfnisbefriedigung erzeugt der Eros ein Gefühl der Spannung, die durch Aufschub verstärkt wird. So kennt die Erotik keine Grenzen, sie ist unbegrenzt steigerbar, bis sie sich in Tagträumen verflüchtigt. Der Eros versetzt den Menschen ins Reich der Möglichkeiten, das zu durchwandern lustvoller sein kann als die oft enttäuschende Wirk58 | Kapitel III
lichkeit konkreter Begegnungen. Robert Musil hat in Der Mann ohne Eigenschaften der Wirklichkeitserfahrung den »Möglichkeitssinn« zur Seite gestellt. Dieser gehört zur erotischen Liebe, deren Natur er mit dem Begriff des »Für-und-in-etwas-Leben« erläutert. Die Liebe lebt von der Dialektik des Lebensgefühls, in dem intentionales und zuständliches Bewusstsein sich verschränken, was immer eine Art falsches Bewusstsein erzeugt: »… denn Für etwas leben ist der Zustand des weltlichen Daseins. In dagegen immer das, wofür man jenes zu leben vorgibt und vermeint, und das Verhältnis dieser beiden Zustände ist ein äußerst verstocktes. Weiß der Mensch doch im Geheimen von der wunderbaren Tatsache, dass alles, wofür es sich zu leben lohnt, etwas Unwirkliches, wenn nicht gar Absurdes wäre, sobald man ganz darin eingehen wollte, ohne dass man es natürlich zugeben dürfte« (Musil 1952, 1329). So beispielsweise, wenn jemand für die Familie lebt, in der er lebt, der er aber zugleich entfliehen möchte. Liebe und Hass gehören bekanntlich zusammen, und selbst Schmerz kann Lust erzeugen, wie der Masochismus belegt. Im Kapitel »Es ist nicht einfach zu lieben« mokiert sich der Autor darüber, dass die Worte »Libido« oder »Eros« nichts Bestimmtes über das Wesen der Liebe aussagen, sondern ihr Gebrauch lediglich darauf hinweist, dass kein Gefühl genau das ist, was es zu sein scheint. Musil stellt in Frage, dass die Liebe überhaupt als ein eigenes Gefühl bezeichnet werden kann. Er bezweifelt, dass die Liebe so eindeutig als Gefühl erkennbar ist, wie sich beim Anfühlen das Glatte vom Rauen unterscheidet. Vielmehr handele sich bei der Liebe um ein »ganzes Bündel von Gefühlen«, das den Zugang zur Selbsterkenntnis eröffnet (1137). Wenn es richtig ist, dass die Erotik das Medium ist, aus dem und durch das der Mensch sein Selbst gewinnt, dann muss sich Selbstbewusstsein als Artikulation des Lebensgefühls darstellen lassen. Artikulation darf allerdings nicht mit Sublimierung gleichgesetzt werden, auf die Sigmund Freud die geistige Entwicklung zurückgeführt hat. Sublimierung hat bei Freud immer etwas Kompensatorisches und Zwanghaftes, wohingegen Artikulation die Vorstellung der schöpferischen Entfaltung beinhaltet. Max Scheler hat daher gegen Freud Sublimierung als indirekte »Verlebendigung des Geistes« definiert. Das geschieht im Lebensgefühl, das emoSelbstbewusstsein, Ichgefühl und Erotik | 59
tionale Wertungen erzeugt, die nicht beliebig außer Kraft gesetzt werden können. Lebensgefühle enthalten Wachstumsprozesse, die das Individuum in seiner Lebensgeschichte durchlaufen muss. Aus evolutionärer Perspektive könnte man sagen, dass das Ich auf halbem Wege vom Ichgefühl zum Selbstbewusstsein liegt. Eben dieser Weg ist für die Selbstkonstitution des Menschen leitend, wobei das Lebensgefühl als biologisches Radikal auch im moralischen Gefühl mit seinen ethischen Wertvorstellungen wirksam bleibt. »Dispositive der Lust«, um einen Begriff von Michel Foucault aufzugreifen, betreffen nicht die rein sexuelle Befriedigung, die punktuell bleibt, sondern die Liebe, die auf Dauer gerichtet ist. Anders als die Tiere kann der Mensch die Lust in Vorstellungen oder Bilder transformieren, die das Selbstgefühl beflügeln und zusammenhalten. In der Liebe spiegelt sich die eigene Lust in der Lust des Anderen. Die Einheit des Selbst, die alle sozialen Rollen umfasst, ist somit kein leerer Wahn, sondern das Werk der erotischen Liebe. Wir sind mehr als »ein Bündel von vielen Ichs«, wie es in Hesses Steppenwolf heißt, wir erfahren uns als unersetzbare Person, die einen anderen begehrt und vom anderen begehrt wird. Das Lebensgefühl verbindet uns mit der Welt, aber es bleibt doch immer ein Gefühl der Einsamkeit, der eigenen Unzulänglichkeit. »Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?« – eine offene Frage, die das Lebensgefühl der Moderne geprägt hat. Ob die Menschen auf dem Weg in eine andere Moderne noch so »herzig« empfinden, kann bezweifelt werden. Aber selbst der flexible Mensch der Postmoderne, der sich »cool« gibt, lebt in einem Netz von Gefühlen. Nur ihre Qualität hat sich verändert; sie wirken durch ihre Austauschbarkeit eher unsentimental. Seit der Jahrtausendwende ist der Ton merklich härter geworden. Gleichwohl bleibt das Lebensgefühl konstitutiv für die Art, wie Menschen ihre soziale Welt gestalten. Das gilt auch und insbesondere für die Paarbeziehungen, in denen der Eros heute weniger als Gefühl erlebt wird, sondern mehr als symbolischer Code, der Gefühlsdifferenzen aufhebt.
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Kapitel IV Sympathie, Empathie und Ironie
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ch habe im vorigen Kapitel dargestellt, wie die Subjektivität durch die Dialektik des Eros eine Horizonterweiterung erfahren hat. Die Einheit des Selbstbewusstseins, die im Zeitalter des Rationalismus durch den Logos und das gegenständliche Erkennen garantiert war, hat sich in der Moderne auf das subjektive Erleben verschoben. Seither gehört das Lebensgefühl zum Selbstverständnis des Individuums im gesellschaftlichen Zusammenleben. Die Soziologie hat die Formen der Vergesellschaftung vom Standpunkt des Subjekts detailliert beschrieben (von Wiese 1933, 138). Sie verwendet dabei Kategorien der Verhaltensforschung, wobei die Grenzen zur Psychologie offen sind: Annäherung, Vereinnahmung, Distanzierung, Isolierung usw. sind Begriffe der Sozialpsychologie. Sie werfen Licht auf die Besonderheit personalen Seins, das sich im Rahmen kommunikativer Prozesse herausbildet. Die personale Identität des Menschen tritt klar hervor, wenn man auf das Tierleben blickt. Gesellige Tiere kennen sich und behandeln ihre Artgenossen als »Kumpane«, die verschiedene soziale Rollen erfüllen. Konrad Lorenz hat eine erheiternde Schilderung davon gegeben, wie seine zahme Dohle »Tschock« ihn selbst als ›Mutterkumpan‹ behandelte. Tschock wählte das Stubenmädchen als ›Liebeskumpan‹, vor dem Tschock Balztänze bis zur Erschöpfung aufführte. Es gab dann auch noch eine junge Dohle als ›Adoptivkumpan‹, die Tschock fütterte, sowie Lorenz selbst als ›Flugkumpan‹, den sie zum Mitfliegen bewegen wollte. Ausgelöst werden diese Verhaltensmuster durch triebhafte Erregung, die in der Biologie »Appetenzen« genannt werden. Wie schon erwähnt, haben die Ornithologen auch von »Stimmungen« gesprochen, etwa von »Balzstimmung«, die im Frühjahr die Vögel zur Paarung bewegt, oder von »Flugstimmung«, die im Herbst die Zug | 61
vögel unruhig werden lässt, so dass sie ihre letzte Brut oft zurücklassen. Auch der Mensch ist ein soziales Tier, das urgeschichtlich in Gemeinschaften aufgewachsen ist, deren Mitglieder sich gegenseitig kannten und auch gefühlsmäßig aneinander gebunden waren, wie die Horde der Schimpansen oder der Clan der Naturvölker belegen. Doch im Laufe der Entwicklung haben sich die Wege getrennt. Dass Tiere Gefühle haben und gefühlsmäßig miteinander kommunizieren, bestreitet heute niemand mehr. Allein der Mensch hat Bindungen entwickelt, die dem Individuum den Status einer unverwechselbaren und unersetzbaren Person verleihen. Die Individualität der Tiere dagegen beruht auf konstitutioneller Verschiedenheit, die sie nicht aus der Gattungszugehörigkeit heraushebt. Menschen unterscheiden sich darüber hinaus durch ihr Lebensgefühl, das zwischenmenschliches Zusammenleben vom bloßen Schwarmgeist unterscheidet. Wie sich das Menschsein im Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft entwickelt hat und welche Rolle Lebensgefühle dabei spielen, werden wir bei der Analyse der emotionalen Bindungen erfahren.
Gefühle und Rollenspiele Person, lateinisch »persona«, heißt ursprünglich Maske und gehörte auf die Bühne. Das gilt übertragen für das alltägliche Leben, in dem wir unseren Mitmenschen in bestimmten Rollen, etwa als Kunde, als Freund oder Nachbar usw. begegnen. Wir alle spielen Theater, so lautet der deutsche Titel eines 1969 erschienenen sozialwissenschaftlichen Beststellers, der deutlich macht, wie das alltägliche Leben, insbesondere das Berufs- und Geschäftsleben, ohne tieferes emotionales Engagement oder mit bloß gespielten Gefühlen abläuft. Das ist keineswegs negativ zu beurteilen: denn nur wer sich nicht alles zu Herzen nimmt, kann im Umgang mit Menschen seine Aufgaben erfüllen. So erfasst die Theatermetaphorik die spielerische Seite der Lebenswelt, die Außenseite, die mit dem Inneren nicht übereinstimmen muss. Hier sei nur an den »Chamäleon« genannten britischen Entertainer David Bowie erinnert, der mit seinen Verwandlungen die Menschen vom Druck der eigenen 62 | Kapitel IV
Persönlichkeit befreit hat. In diesem Sinne bringt die Titelfrage des Bestsellers von Richard David Precht, Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? (2007) das postmoderne Lebensgefühl auf den Punkt. Um es mit dem Hochstapler Felix Krull auszudrücken: »Wenn es gälte, ein so erhabenes Gefühlsgut wie dasjenige der Freiheit für die Vernunft zu bestimmen und auszurichten, so ließe sich sagen, dass dies eben … figürlich, aber nicht wörtlich, dass im Gleichnis leben zu dürfen eigentlich Freiheit bedeute (Mann, Th. 1965, 108). Eben diese Freiheit gewährt uns die zeitgenössische Popkultur. Wie der französische Dichter-Philosoph Denis Diderot bereits im 18. Jahrhundert in seiner Schrift Paradoxe sur le comédien gezeigt hat, spielt derjenige am überzeugendsten, der gegenüber der eigenen Identität Distanz einnimmt und sich in die Person, die er darstellt, einfühlt. Wir alle spielen Theater, aber die Wirklichkeit, in der wir leben, ist keine Bühne, auf der man auf- und abtreten kann, wie es einem beliebt. Lebensphasen wie Jugend und Alter, auch Mutter und Vater sind keine Rollen, aus denen man einfach aussteigen kann. So wichtig es ist, sich in sozialen Rollen nicht zu sehr vom Gemütsleben leiten zu lassen, so unmöglich ist es, im praktischen Leben auf die emotionale Dimension vollständig zu verzichten. Wenn es ernst wird, kommen Gefühle zum Zuge, die sich nicht beliebig in ein Als-ob verwandeln lassen. Damit stößt die soziale Rollentheorie an ihre Grenzen. Wir nehmen uns nahestehende Mitmenschen nicht nur als Mitspieler wahr, sondern als Personen, deren Schicksal uns anrührt. Und wir erfahren uns selbst in dem Maße, wie wir uns mit den uns möglichen Rollen gefühlsmäßig identifizieren. Das hängt nicht von einzelnen Affekten wie Wut oder Begeisterung ab, die schnell verrauschen, sondern vom Lebensgefühl, das die verschiedenen Emotionen zur Ganzheit unserer Persönlichkeit verbindet.
Wandlungen der kollektiven Mentalität Der französische Soziologe Émile Durkheim hat das Zusammenge hörigkeitsgefühl von Menschen auf eine geistige Verfassung zurückgeführt, die er »Kollektivseele« oder »kollektives UnbewussSympathie, Empathie und Ironie | 63
tes« nennt. Derartige vitalistische Hypostasierungen haben sich als trügerisch und politisch höchst gefährlich erwiesen wie in der unsäglichen Instrumentalisierung durch die Blut-und-BodenIdeologie der Nazis. Theodor Adorno hat darauf hingewiesen, dass die angebliche Dignität der kollektiven Mentalität durch die Ideologien des 20. Jahrhunderts blutig widerlegt worden sei. Daher tue man gut daran, das Kollektivbewusstsein nicht als überindividuelle Kraft, als Macht des Schicksals zu verehren, das über die Menschen gottgleich herrscht. Träger der Gefühle sind immer nur einzelne Menschen, die durch ihre Lebensform ein bestimmtes Lebensgefühl entwickeln. Wie Lebensgefühle soziale Differenzierungen hervorbringen, hat der Ethnologe Bronislaw Malinowski in seinem Buch Sex and Repression in Savage Society (1927) am Geschlechtsleben von Naturvölkern deutlich gemacht. Er ersetzt den Begriff der Kollektivseele durch »sentiment«, das der britische Psychologe A. F. Shand zur Bezeichnung von Gefühlskomplexen eingeführt hat, die zur inneren Einstellung werden. Im sentiment als Standardisierung von Emotionen erkennt Malinowski zwar noch ein triebhaftes Moment, das aber immer kulturell in Erscheinung tritt und damit die Bindung an die Instinktlehre lockert (Malinowski 1960, 176). Der Ethnologe Gregory Bateson hat den funktionalistischen Ansatz in Richtung auf die Emotionalität weiterentwickelt. Die Konfiguration der Gefühle nennt er »Ethos«, dessen Charakteristik voll und ganz dem Lebensgefühl entspricht. Im Blick auf die Geschichte der europäischen Kulturen heißt es, dass man die verschiedenen, oft widerstreitenden Lebensgefühle einzelner Gesellschaftsschichten und ihre Verbindung zu einem harmonischen Ganzen beachten muss. Als Beispiel führt er an, dass Bauern durch ihr Lebensgefühl dazu in der Lage waren, unter Feudalherren, denen sie Tribut zollten, relativ zufrieden zu leben. Das dauerte viele Generationen, bis die beteiligten Gruppen anfingen, an der Verbindlichkeit ihres Wertekanons zu zweifeln, was immer dann eintritt, wenn die Unterschiede zu groß werden (Bateson 1958). Die Hierarchie der ständischen Gesellschaft war übrigens auch in Wien um die Jahrhundertwende noch ein prägender Faktor für das Lebensgefühl. Mit einer Ausnahme vielleicht: Liebe, die gesellschaftliche Schranken durchbricht. Aber das erfolgte damals auch nur in bestimmten 64 | Kapitel IV
emotional interessanten Konstellationen, so, wenn der adlige Leutnant ein Ladenmädchen zur Frau nahm.
Wissenssoziologische Perspektiven In Deutschland hat die Wissenssoziologie von Karl Mannheim die kollektive Gestaltung der Gefühle untersucht und den Begriff »Lebensgefühl« im Sinne von »sentiment« verwendet. Lebensgefühle haben laut Mannheim als »Gefühlskombinationen« immer eine Sinndimension, die sie von rein sinnlichen Zuständen unterscheidet. Die Sinnhaftigkeit von Lebensgefühlen demonstriert Mannheim an der Rezeption von Werken der bildenden Kunst und der Musik, also an der ästhetischen Erfahrung, die Menschen verbindet und dennoch Welten trennt (Mannheim 1970, 130 ff.). Man nehme das Beispiel eines Liebespaares, das heiraten möchte. Dem Paar ist dringend zu raten, zuvor ins Einrichtungshaus zu gehen und zu sehen, was dem Partner gefällt. Wenn einer darauf besteht, das Bild der röhrenden Hirsche für das Schlafzimmer zu erwerben, dann sollte der andre, der lieber eine Picasso-Reproduktion hätte, sich gut überlegen, ob er die Ehe eingeht. Derartiges, wenn auch auf höherem Niveau, hat der Dichter T. S. Eliot im Auge, wo er von »künstlerischer Emotion« spricht, die er als etwas Unpersönliches verstanden wissen will, als schöpferischen Impuls, der sich im Kunstwerk eine gegenständliche Entsprechung schafft. Dieses Beispiel verweist auf eine weitere Charakteristik, die man die Flexibilität des Lebensgefühls nennen könnte. Diese liegt darin, dass Lebensgefühle sich an Gebrauchsgegenständen festmachen lassen, wie vor einigen Jahrzehnten am Auto namens »Golf« oder heutzutage an einer Designer-Küche, die den Besitzern das Gefühl vermittelt, auf der Höhe der Zeit zu sein. Durch den Symbolwert der Gegenstände geht Lebensgefühl in Zeitgeist über, dessen Bedeutung für die Selbsterfahrung nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Das entspricht nicht mehr dem Begriff von Persönlichkeit, wie er zur Goethezeit üblich war. Georg Simmel hat in seiner Monographie Goethe (1913) überzeugend dargestellt, wie der Dichter das Prinzip der Polarität einsetzt, um sein Lebensgefühl als Ausdruck einer übergreifenden Lebenseinheit darzustellen. Davon Sympathie, Empathie und Ironie | 65
ist heutzutage nichts mehr zu spüren, woran deutlich wird, wie der Wandel der Lebensformen das Selbstwertgefühl und damit unsere Vorstellung vom Dasein verändert.
Kommunikation und Gesellschaft Überschaubare Gemeinschaften haben sich im Laufe der kulturellen Entwicklung in Richtung auf größere Gebilde entwickelt, die wir »Gesellschaft« nennen. Für die Rationalität der Vergesellschaftung hat die Staatslehre verschiedene Modelle von Thomas Hobbes’ Leviathan zum Gesellschaftsvertrag von Rousseau entwickelt. Rechtliche und moralische Normen sind rational begründet. Aber die Gründe sind nicht alles. Menschen identifizieren sich gefühlsmäßig auch mit Institutionen. »Meine Firma« oder »mein lieb Vaterland« sind dafür bekannte Beispiele. Die Tiefendimension gesellschaftlicher Organisation bildet die Emotionalität. Auch das tägliche und tätige Leben, insbesondere die Arbeit, prägt das Gefühlsleben. Die Struktur der Öffentlichkeit untersteht dem Leistungsdruck, der das Lustprinzip in Konsum verwandelt hat. Daher mag es den Anschein erwecken, als habe sich die Beschreibung des gesellschaftlichen Lebens von den Gefühlen fern zu halten. Aber damit erfasst man nur die Außenseite der Gesellschaft. Die Innenseite ist und bleibt das Lebensgefühl, das auf emotionaler Kommunikation beruht. In den Augen des französischen Philosophen Michel Serres hat Kommunikation seit den 1968er Jahren ihr Gesicht verändert.« (Serres 1985). In seiner durch die Kybernetik beeinflussten Kommunikationstheorie erweitert Serres die Zweierbeziehung durch Mittler, die wichtiger sind als das direkte Gegenüber. Kommunikation wird damit zu einem sekundären System. Das trifft auch auf die Liebe zu, die entsprechend der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann von einem symbolischen Code getragen ist, der darüber informiert, ob und wie es um die intime Verbindung mit einem Partner bestellt ist. Unbestimmtheit, Schwankungen und Rauschen erzeugen ein Netz von Informationen, das allein durch die Vernetzung sich selbst trägt. Dieser Sachverhalt prägt das kollektive Lebensgefühl, von dem es abhängt, ob politische und 66 | Kapitel IV
wirtschaftliche Organisationen von den Bürgern akzeptiert oder abgelehnt werden. Das ist die emotionale Seite der Zivilgesellschaft, ihr vom Regierungshandeln abgekoppeltes Lebensgefühl.
Sympathie und Empathie Für die intersubjektive Dimension des Lebensgefühls bietet sich der Begriff »Empathie« an. Das Wort hat eine Geschichte mit Umwegen. »Empathy« lautet die englische Übersetzung des Begriffs »Einfühlung«, den der Kunstwissenschaftler Theodor Lipps gebraucht hat. In seiner Grundlegung der Ästhetik versteht Lipps unter Einfühlung die Projektion der Gefühle des Betrachters in einen dargestellten Gegenstand. Es ist ein einfühlendes Verständnis, das im Vergänglichen ein Bleibendes, im Kontingenten ein Allgemeines heraushebt und so der Erfahrung Sinn und Bedeutung verleiht. Für die ästhetische Erfahrung hat Wilhelm Worringer 1908 der Abstraktion die Einfühlung entgegengestellt, die dem ästhetischen Gegenstand Leben einhaucht und ihn zum Kunstwerk macht (Worringer 1948). Diesen Gedanken hat Friedrich Märker in Lebensgefühl und Weltgefühl zu einer Gegenwartsdiagnose weiter ausgebaut (Märker 1920). Der amerikanische Psychoanalytiker Heinz Kohut hat Empathie in die Psychologie des Selbst eingeführt. Er gebraucht den Begriff synonym mit Sympathie für das Verhältnis der Mutter zum Neugeborenen, so wie es schon Freud dargestellt hat. Kohut nennt das: »empathische Resonanz im mütterlichen Selbstobjekt«. Durch Berühren und Zureden schaffe die Mutter die Voraussetzung dafür, dass das Kind ihre höher entwickelten Gefühlszustände übernimmt und internalisiert (Kohut 1981, 84; 94 ff.). Neben Empathie als spontanes Mitfühlen gebraucht Kohut den Begriff in methodologischer Bedeutung, nämlich als Instrument der psychoanalytischen Behandlung. Der Arzt brauche Empathie oder Einfühlungsfähigkeit, aber er müsse damit rational umgehen und unter Umständen die einfühlende Haltung gegenüber dem Patienten aufgeben. Wenn Psychologen den distanzierten Umgang mit der Einfühlung nicht beherrschen, »führt dies zu einem Verfall der wissenschaftlichen Maßstäbe und einer sentimentalen Regression Sympathie, Empathie und Ironie | 67
zur Subjektivität, das heißt, zu einem kognitiven Infantilismus im wissenschaftlichen Bereich« (Kohut 1976, 339). »Empathie« hat sich mittlerweile in soziologischen und biologischen Texten eingebürgert, wobei das Wort oft synonym mit »Sympathie« verwendet wird. Das ist eine Bedeutungsverkürzung, wenn man beachtet, dass Kohut den Begriff in zweierlei Bedeutungen verwendet hat. Wichtiger als das Gefühl der Zuneigung, etwa zwischen Mutter und Kind, ist für Kohut Empathie als Fähigkeit, sich in den Gefühlszustand einer anderen Person zu versetzen, ohne sich mit ihr zu identifizieren. In diesem Sinne hat – was zunächst verblüffen mag – der amerikanische Emotionspsychologe Paul Ekman Empathie nicht zu den elementaren Emotionen gezählt. Sie liegt eben auf der Ebene des Lebensgefühls, in dem sich verschiedene Emotionen ganzheitlich zu einer Einheit verbinden.
Die Evolution der Gefühle Zur Abgrenzung von Empathie gegenüber Sympathie ist ein Blick in vergangene Jahrmillionen der Evolution aufschlussreich. Charles Darwin hat sich in seinem zweiten Klassiker aus dem Jahre 1871, Die Abstammung des Menschen und die sexuelle Selektion, ausführlich mit der Sympathie befasst. Laut Darwin ist das Zusammenleben höherer Tiere durch soziale Instinkte geleitet, deren Ausübung von Befriedigung oder Lust (satisfaction or pleasure) begleitet wird. Das heißt aber nicht, dass das Gefühl der Lust das vorherrschende Motiv wäre. Vielmehr geht Darwin davon aus, dass Handlungen instinktiv auf ein bestimmtes Ziel (z. B. Nestbau) gerichtet sind. Das sei auch beim Menschen zu beobachten, der viele Dinge tut, die zwar von Lust begleitet sind, aber nicht durch Streben nach Lust ausgelöst werden. Damit distanziert sich Darwin klar vom antiken Hedonismus und geht auch auf Abstand zum Utilitarismus. Mit John Stuart Mill ist sich Darwin zwar darin einig, dass nicht die Vernunft, sondern das Gefühlsleben die Quelle der Moral ist, aber im Unterschied zu Mill ist Darwin davon überzeugt, dass die Gefühle, die das Zusammenleben der Menschen leiten, nicht nur kulturell erworben, sondern auch instinktiv angeboren sind. Unter den sozialen Instinkten weist Darwin der Sympathie eine heraus68 | Kapitel IV
ragende Rolle zu. Sympathie entschärfe die oft grausamen Verhaltensmuster, bleibe bei Tieren aber auf den eigenen Nachwuchs oder die Verwandtschaft beschränkt. Beim Menschen dagegen habe die Evolution zur Ausweitung der Sympathie zu einem alle Menschen verbindenden Gemeinschaftsgefühl geführt. Darwin geht sogar einen Schritt weiter und bezeichnet die Ausweitung des menschlichen Gefühls auf alle Lebewesen als höchste Stufe der Humanität: »Diese Tugend, eine der edelsten, scheint aus unseren Sympathien zu entstehen, und sie wird immer zarter, umfassender, bis sie sich auf alle fühlenden Wesen erstreckt« (Darwin 2012, 99). Man könnte hier geradezu eine Vorstufe der modernen »Tierethik« erkennen. Den Übergang zum »moralischen Sinn«, zur Unterscheidung von gut und böse, die Tiere nicht kennen, erklärt Darwin mit der höheren geistigen Kraft (mental power) des Menschen. Diese führt er auf das Zusammenspiel von Sinneseindrücken und Gefühlen zurück. Ähnlich wie Mills Unterscheidung zweier Arten der Lust durch Verbindung von vergangenen mit gegenwärtigen Empfindungen geht Darwin davon aus, dass der Mensch einen permanenten Widerstreit seiner Emotionen erlebt. Aktuelle Affekte treffen auf eingespielte emotionale Zustände – eine Affektinterferenz, bei der die sozialen Gefühle die Oberhand gewinnen und sich als moralischer Sinn äußern. Unter diesen evolutionsbiologischen Voraussetzungen kommt Darwin zu dem Schluss, dass die sozialen Instinkte im Tierreich nicht dem Glück des Individuums, sondern dem allgemeinen Wohlergehen und Gedeihen (general good or welfare) der Gemeinschaft dienen. Gegenüber der Erhaltung der Art als dem primären Impuls muss individuelles Glück als sekundärer Maßstab (secondary guide) der Moral angesehen werden (96). Bei Tieren fallen Selbsterhaltung des Individuums und Arterhalt emotional zusammen. Der Mensch dagegen ist das einzige soziale Tier, bei dem diese Kongruenz aufgehoben ist und das Individuum die Wahl hat, in seinem Verhalten nicht der Spezies zu dienen. Aus dem Widerstreit der Gefühle folgt, dass der Mensch moralisch tief unter die Tiere sinken kann. Darwin sieht diese Feststellung durch seine eigenen Erfahrungen mit den Feuerländern bestätigt (306). Anders als Rousseau hält er die Naturvölker für barbarisch und weist auf die Absurdität und Grausamkeit vieler Sitten und Gebräuche hin. Sympathie, Empathie und Ironie | 69
Dagegen lobt Darwin das soziale Verhalten der höheren Tiere. Angeregt durch Brehms Tierleben, in dem von Fällen gegenseitiger Hilfeleistung bei Pavianen berichtet wird, verklärt Darwin die Abstammung des Menschen vom Affen (66). Der Traum vom ›edlen Wilden‹ wird zeitlich nach hinten verschoben und zum Traum vom ›edlen Affen‹. Damit will Darwin den Menschen zwar nicht wieder auf die Bäume schicken, aber ihm schwebt vor, dass der Mensch durch die kulturelle Evolution die Sympathie wieder gewinnt, die den Tieren von Natur aus gegeben ist.
»Affenliebe« Der evolutionsbiologische Exkurs hat scheinbar weit vom Thema »Lebensgefühl« weggeführt. Aber indirekt wirft der Exkurs doch Licht auf die Funktion der Emotionalität bei der Entstehung des menschlichen Bewusstseins. Konrad Lorenz ist in seinem Buch Die Rückseite des Spiegels der Frage nachgegangen, wie der Mensch erkennt, was er erkennt. Seine Antwort beschränkt sich auf eine systemtheoretische Beschreibung der Gehirnfunktion, die mittlerweile durch eine Phänomenologie der Emotionen ergänzt worden ist (Wollheim 2001). Wie bereits erwähnt, hat Darwin dafür mit seiner Ausweitung der sozialen Instinkte den Weg geebnet, der dem Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Bewusstsein seine Absolutheit nimmt. Die Stimmungen der Tiere, ihre Bereitschaft zu bestimmten Verhaltensweisen, werden beim Menschen in Lebensgefühle verwandelt, die verschiedene Verhaltensmöglichkeiten zulassen. Bedenkenswert ist die Art, wie Darwins Lehre in der gegenwärtigen Biologie umgesetzt wird. Was Darwin als »Sympathie« beschrieben hat und was derzeit gern »Empathie« genannt wird, spiegelt die Weltanschauung, aus der heraus der Forscher die Lebenswelt betrachtet und bewertet. Als Viktorianer verstand Darwin den Menschen als egoistischen Kämpfer ums Dasein. Heute dagegen neigen Primatologen dazu, im Menschen ein von Natur aus gutmütiges Tier zu sehen, das erst durch die Kultur aggressiv geworden ist. An vorderster Stelle in der Erforschung der emotionalen Seite des sozialen Verhaltens steht der Primatologe Frans de 70 | Kapitel IV
Waal mit seinem Bestseller Der Affe in uns (de Waal 2009). Seine Studien an Primaten haben gezeigt, dass Affen weitaus friedlicher und kooperativer sind, als die klassischen Ethologen annahmen. Das alte Bild vom ›Raubaffen‹, das noch Edgar Rice Burroughs in Tarzan bei den Affen gezeichnet hat, ist von den Bonobos abgelöst worden, die zur Lieblingsspezies der Tierfilmer aufgerückt sind. So begrüßenswert die Erforschung der Emotionalität unserer nächsten Verwandten auch ist, bedenklich bleibt die Tendenz, soziale Normen direkt aus Affekten abzuleiten. Was Primatologen aus Begeisterung für ihre Schützlinge als belastbare Daten ausgeben, erweist sich oft genug als anthropomorphe Projektion. Hier folgen sie dem Beispiel von Darwin, der mit seinem »heldenhaften Pavian« den sentimentalen Geschichten von Alfred Brehm auf den Leim gegangen ist. Hätte Darwin, der selbst kein Zoologe war, sich mehr an Brehms allgemeine Charakteristik der Paviane gehalten, so hätte er sie kaum zum Vorbild sozialverträglichen Verhaltens gemacht. Brehm beschreibt den Pavian nämlich als die aggressivste Affenart, die es gibt: jähzornig, hinterlistig, gefräßig und lüstern. Hier könnten sich die Menschen wiedererkennen, die schon in der Antike sich im Affen gespiegelt haben (Ingensiep 2013). Zu Großmutters Zeiten nannte man »Affenliebe« übertriebene Formen der Zuneigung, ähnlich wie man unter »Krokodilstränen« unechte Äußerungen von Schmerz verstand. Heute dagegen ist der Ausdruck »Affenliebe« als Bezeichnung für den Umgang der Primaten untereinander durchaus angemessen. Ja, Frans de Waal ist sogar mit seiner Lieblingsbonobofrau verheiratet! Ob das eine glückliche Ehe ist, bleibt fraglich, da unbeschwerter Sex allein keine dauerhafte Bindung erzeugt.
Emotionale Selektion Was das Lebensgefühl des Menschen vom Tier trennt, ist die Freiheit von starren instinktiven Verhaltensmustern. Der Mensch ist zwar auch durch seine gewohnte Lebensweise geprägt, doch ist er in der Lage, die Bindungen zu lockern, zu versachlichen und sich andere Beziehungen vorzustellen. Traditionell wird die Wahlfreiheit des Menschen auf die Denkfähigkeit zurückgeführt. Damit wird Sympathie, Empathie und Ironie | 71
die Verschränkung von Fühlen und Denken aber nicht erfasst, die für das Lebensgefühl konstitutiv ist. Hier führt die Spezifizierung des Gefühlslebens weiter, die Unterscheidung zwischen elementaren elementaren Emotionen und solchen Emotionen höherer Stufe, die dem Menschen vorbehalten sind. Ein gutes Beispiel für die spezifische Differenz ist das dem Menschen verbundene Haustier, der Hund, über dessen Beschränkungen der Tierpsychologe Bastian Schmid folgendes geschrieben hat: »Wenn uns ein Hund nach längerer Abwesenheit wiedererkennt, so ist trotz dieser nun eintretenden Erinnerungsbilder noch nicht gesagt, dass ich die ganze Zeit in seiner Psyche gelebt habe, selbst wenn er in den ersten Tagen der Trennung sehr traurig gewesen ist« (Schmid 1939, 218). Die Gedanken an andere Personen, die losgelöst von der augenblicklichen Situation das Lebensgefühl prägen, führen zum moralischen Gefühl, das man bei Tieren nicht finden kann. Intersubjektivität ist mehr als Kooperation und gegenseitige Hilfeleistung, die auch bei Tieren anzutreffen sind. In hierarchisch gegliederten Gemeinschaften folgen sie arterhaltenden Verhaltensmustern, die kaum veränderlich sind. Dagegen ist das soziale Verhalten beim Menschen subjektiv hoch differenziert und in einer Weise flexibel, die alle tierischen Instinkte weit hinter sich lässt. Eine evolutionstheoretische Erklärung der Entstehung von Lebensgefühlen liefert Darwins Theorie der sexuellen Selektion. Diese habe ich in Richtung auf eine »emotionale Selektion« erweitert (Fellmann/Walsh 2013). Sie verdeutlicht den gefühlsmäßigen Unterschied in persönlichen Beziehungen des Menschen gegenüber dem Zusammenleben der Tiere. Individuelles Verhalten von Tieren ist angeboren oder sozial konditioniert, aber nicht Ausdruck eines »verstehbaren« Subjekts. Der Akt des Verstehens ist mehr als Mitfühlen, das man auch bei höheren Tieren antreffen kann. Anders als Sympathie impliziert Empathie immer Nähe durch Distanz, eine »exzentrische Positionalität«, um die bekannte Formel des Philosophen Helmut Plessner zu gebrauchen, die menschliches Lebensgefühl vom Gemeinschaftsgefühl der Tiere trennt.
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Solidarität, Verantwortung und Ironie Es gibt genügend empirische Untersuchungen, die belegen, dass Empathie ein spezifisch menschliches Gefühl ist, das Solidarität und Verantwortung einschließt, von denen man bei Tieren nicht sprechen kann. Das Solidaritätsprinzip, das Individuum und Gesellschaft miteinander verbindet, setzt Gefühle höherer Ordnung voraus, hat aber einen durchaus biologischen Hintergrund. Der über jeden Verdacht des Biologismus erhabene Philosoph Richard Rorty hat in seinem Buch Kontingenz, Ironie und Solidarität (1989) Beispiele dafür gebracht, die zeigen, »dass unser Solidaritätsgefühl am stärksten ist, wenn die, mit denen wir uns solidarisch erklären, ›zu uns‹ gehören und ›wir‹ etwas enger Begrenztes als die Menschenrasse ist. Das kommt daher, dass die Begründung ›weil sie ein Mensch ist‹ eine schwache, nicht überzeugende Erklärung für eine großzügige Handlung liefert« (Rorty 1989, 308). Hier prägen die Zugehörigkeit zum Clan oder die Verwandtschaft das Lebensgefühl stärker als der politische Egalitarismus, demzufolge alle Menschen gleiche Behandlung erfahren sollten. Wie Solidarität Verantwortung voraussetzt, hat Hans Jonas hat im Prinzip Verantwortung (1984) dargelegt. Verantwortung, ursprünglich ein juristischer Terminus, interpretiert Jonas als ethischen Begriff. Verantwortung gehört für Jonas zur Gefühlsseite sittlichen Verhaltens, die von Moralphilosophen zu wenig beachtet worden sei. Damit wendet er sich gegen die reine Vernunftethik der Kantischen Tradition. Mit dem Verantwortungsgefühl werde die »Grunderfahrung fühlenden Lebens« in ihr Erstlingsrecht eingesetzt (Jonas 1984, 128). Ob Jonas mit seinem Prinzip Verantwortung als Gegenentwurf zu Ernst Blochs Prinzip Hoffnung wirklich die Versöhnung zwischen Mensch und Natur gelingt, bleibe dahingestellt. Doch unbestritten ist, dass die »Affizierung unseres Gefühls« durch den Mitmenschen moralischen Normen allererst zur Wirksamkeit verhilft (170). Die Erkundung der Empathie hat die Komplexität und die Multifunktionalität der sozialen Gefühle vor Augen geführt. Soziale Gefühle verbinden Menschen, aber in einer anderen Weise als Tiere. Freilebende Tiere nehmen auf das Gefühlsleben ihrer Artgenossen nur in Ausnahmefällen Rücksicht, etwa wenn eine AffenSympathie, Empathie und Ironie | 73
mutter ihr Junges verloren hat und die Mitglieder der Horde einen traurigen Eindruck machen. Aber das vergeht schnell, während das menschliche Lebensgefühl auf Erfahrungen und Erwartungen beruht, die von Mitmenschen dauerhaft geteilt werden. Allerdings gibt es Ereignisse im Leben, die den Einzelnen überfordern und seine Sinnerwartung sprengen. Hier kippt das normale Lebensgefühl in subjektive Ironie, in der das tragische Lebensgefühl der modernen Romantiker seine stärkste Ausprägung erfahren hat. Von der Ironie zum Zynismus der Weltverdrossenheit, die Tiere nicht kennen, ist es nur ein kleiner Schritt. Eben diese Wechselstimmung von Nähe und Distanz ins Bewusstsein zu heben, macht sich die lebensphilosophische Anthropologie zur Aufgabe. Sie bewegt sich damit im Rahmen der sozial geprägten Lebensformen, schließt aber auch Grenzsituationen ein, deren emotionale Bewältigung jede Vorstellung übersteigt.
»Ist das ein Mensch?« Der italienisch-jüdische Chemiker Primo Levi (1919 – 1987), der Auschwitz überlebt hat, berichtet in seinem autobiografischen Buch Ist das ein Mensch? (Se questo è un uomo) (1958) über die Verhaltensweisen und Gefühlsäußerungen der zum Tode geweihten Häftlinge. Dabei geht es um Verhaltensmuster, die eine Chance auf mittelfristiges Überleben bieten. Im Mittelpunkt steht die mentale Veränderung der Häftlinge. Durch den Kampf ums Überleben werden grundlegende ethische Grundsätze ausgeschaltet. Allerdings fehlt es im Lager auch nicht an vereinzelten Beispielen von Solidarität. Levi ist vom Körperbau her häufig überfordert, aber ein Mitgefangener unterstützt ihn bei der schweren Arbeit, die er zu verrichten hat. Es gibt sogar auch Tage, an denen es genug zu essen gibt. Solche Tage wirken auf das Lebensgefühl der Gefangenen eher bedrückend. Sind sie einmal satt, erinnert der Anschein von Normalität die Häftlinge an die Jahre, die sie zu Hause verbracht haben, und damit an Gefühle und Gedanken, die sie im harten Alltag des Lagerlebens verdrängen müssen. Angesichts dieser Situa tion bekommt die Antwort auf die Frage, wie es ist, ein Mensch zu sein, eine tiefere, die Normalität überschreitende Bedeutung: »Alle 74 | Kapitel IV
wissen, früher oder später in ihrem Leben, dass perfektes Glück nicht realisierbar ist, aber wenige halten sich bei der gegenteiligen Feststellung auf: so ist es auch mit dem perfekten Unglück. Die Momente, die sich bei der Realisierung beider Grenzzustände gegenüberstehen, sind von derselben Natur. Sie folgen aus unserer conditio humana, die allem Unendlichen feindlich gesinnt ist« (Levi 1967, 23). Levi will damit sagen, dass selbst in der Gewissheit des baldigen gewaltsamen Todes die gegenwärtigen Befindlichkeiten das Lebensgefühl beherrschen. Das hängt damit zusammen, dass Leben zunächst Überleben ist, bei dem es um die unmittelbaren Körperempfindungen geht. So paradox es klingt: Durch die somatische Verankerung des Lebensgefühls wird das psychische Leben aller Leiden zum Trotz erträglich. Der Lebenswille und der Destruktionstrieb, Eros und Thanatos, wie Sigmund Freud sie genannt hat, werden dem Menschsein immer ihren Stempel aufdrücken. Die horrende Erfahrung von Grenzsituationen, wie sie Levi wiedergeben hat, wirft Licht auf den Normalzustand des Lebens. Sicherlich haben die Lebensformen im Laufe der Kulturgeschichte an Vielfalt zugenommen und die Grenzen zwischen dem Normalen und dem Pathologischen haben sich verschoben. Bei aller Anerkennung der kulturellen Differenzierung darf die philosophische Anthropologie aber die biologischen Grundlagen nicht unbeachtet lassen, die den kulturinvarianten Rahmen bilden, in dem sich das Leben der Menschen bewegt. Unterschiedliche angeborene Temperamente und erworbene Charaktere begegnen sich in Lebensgefühlen, die alle Differenzen besiegen. Wenn man das nicht beachtet, würden die Lebensgefühle zu bloßen Phantasien und reinen Simulationen, die nicht den Halt bieten, den Menschen brauchen, um sich in der schnell wandelnden Welt dauerhaft zu behaupten. Was immer mit und aus Menschen gemacht wird, was immer sie tun und leiden – ja, das ist und bleibt ein Mensch.
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Kapitel V Wie Gefühle moralisch entscheiden
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es Menschen Wille, sagt man, ist sein Himmelreich. Aber das Himmelreich ist ein weites Feld. Oft führt die Durchsetzung unseres Willens zu Resultaten, die alles andere als himmlisch sind. Trotzdem lässt sich kaum jemand von einem einmal gefassten Entschluss abbringen. Das wirft die Frage auf, nach welchen Kriterien Entscheidungen getroffen werden. Neuere Forschungen belegen, dass nicht Fakten unsere Entscheidungen direkt bedingen, sondern kognitive Deutungsrahmen, »Frames« genannt. Sie werden über Sprache im Gehirn aktiviert und bestimmen, welche Fakten als relevant erkannt und welche zurückgestuft oder gar ignoriert werden. Frames sind also ideologisch selektiv, sie bewerten und leiten unser Fühlen und Denken, ohne dass wir es merken. So einflussreich die sprachlich bedingten Deutungsrahmen auch sind, sie verweisen auf Emotionen, die sich der Logik der Sprache entziehen. So machen unsere Entscheidungen auf andere oft den Eindruck des Wahns, aber der Wahn verweist auf eine andere Logik, auf die Pascal mit dem bekannten Diktum: »Das Herz hat seine Gründe (raisons), die der Verstand (raison) nicht kennt« hingewiesen hat. Die Gründe des Herzens heißen »Motive«, die in der Psychologie streng von Gründen unterschieden werden. Gründe sind rational nachvollziehbar, da sie der Logik der Sache entsprechen. Motive dagegen bleiben oft verborgen, und nicht immer ist in Entscheidungssituationen klar, was Sache ist. So heißt es bei Shakespeare: »Gründe sind billiger als Brombeeren«. Damit will er sagen, dass man durch Aufspüren von Gründen menschliches Verhalten kaum angemessen verstehen kann. Kognitive Motivationstheorien übersehen, dass Motive anderen Gesetzen unterliegen als Gründe; sie gehören in die Welt der Gefühle. Selbst der radikale Dezisionismus, jene Willensphilosophie 76 |
also, die davon ausgeht, dass vieles, was Menschen tun, auf irrationalen Entscheidungen beruht, ist so beliebig nicht, wie es aussieht. Auch eine einsame Entscheidung erfolgt nicht im luftleeren Raum, sondern wird von einem Netz aus Gefühlen getragen. Wie immer man die Frage der Entscheidung dreht und wendet, stets spielt das Lebensgefühl eine Rolle, auch und insbesondere im alltäglichen Leben, wo entgegen der Meinung der Handlungstheoretiker Entscheiden eher selten ist. Meist verhalten wir uns so, wie wir es gewöhnt sind und wie wir es tagtäglich wiederholen. Wiederholung und Gewöhnung prägen unser Lebensgefühl, und wir sind vom Stress permanenter Entscheidungen entlastet. Im Folgenden begeben wir uns ins Reich der emotionalen Motivierung, das zur Innenwelt gehört und unerforschte Regionen enthält. Denn die tief hinter den Gründen verborgenen Motive selbst sogenannter vernünftiger Entscheidungen lassen uns in emotionale Abgründe blicken, die uns Angst machen. Hinter der Welt der Gründe liegt die Welt der Abgründe, die von unkontrollierbaren Affekten gebildet werden. Sosehr wir nach Gründen suchen, Gefühle haben immer schon entschieden, und manchmal sogar in letzter Instanz. Wie Entscheidungen durch Lebensgefühle zustande kommen und welche Rolle dabei das Glücksstreben spielt, das zu erkunden ist das Ziel der weiteren Untersuchung.
Zustimmung der Vernunft Die stoische Ethik, deren Grundzüge bis in die Gegenwart in Geltung sind, hat eine allgemeine Tugendlehre entwickelt, deren Herzstück die Theorie der Affekte ist. Das Wesen der Tugend ist für die Stoiker die Beherrschung der Affekte durch die Vernunft. Die Vernunft sagt dem Menschen, welche Handlungen für ein glückliches Leben angemessen sind. Nämlich die Handlungen, die zur Erfüllung unserer Wünsche führen, so dass Wollen und Können übereinstimmen. Zenon von Kition hat diesen Sachverhalt in die Formel gebracht, man müsse »einstimmig leben«. Nun ist der Mensch ein Wesen, das durch vernünftige Einsichten allein nicht zum Handeln motiviert wird. Vielmehr sind es Gefühle, die zum Handeln antreiben. Diese aber sind oft alles andere Wie Gefühle moralisch entscheiden | 77
als einstimmig und stürzen den Menschen oft ins Unglück. Wie die Vernunft dennoch zu ihrem Recht kommt, dafür haben die Stoiker die Theorie der synkathathesis, der Zustimmung der Vernunft, entwickelt. Dieser Theorie zufolge ist die Vernunft nicht der Alleinherrscher, aber sie entscheidet darüber, welche Affekte zugelassen werden. Damit schien ein Modell für ein ausgewogenes Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand gefunden zu sein. Das Modell der Vernunft als Zustimmungsinstanz funktioniert allerdings nur, wenn sich die Affekte der Zensur unterwerfen. Das ist bei Affekten, die sich auf die Zukunft beziehen, leicht möglich, aber beim gegenwartsbezogenen Gefühl der Lust ist das schwer vorstellbar. Lust und Schmerz sind unmittelbar mit Wertempfindungen verbunden, die sich durch Argumente nicht aufheben lassen. Ein krasses Beispiel: Zahnschmerzen lassen sich nicht durch Argumente beseitigen. Die Stoiker haben zwar versucht, den Tugendhaften als resistent gegenüber dem Körpergeschehen darzustellen, aber das ist wenig überzeugend. Nun mag der Indianer keinen Schmerz kennen und der Fakir sich lächelnd bei lebendigem Leibe rösten lassen, aber das sind Fantasien, die die stoische Ethik ad absurdum führen. Dass die Stoiker auf Biegen und Brechen an der Lehre von der Zustimmung der Vernunft festgehalten haben, liegt an ihrer Überzeugung von der Weltvernunft, an der alle Wesen, seien es Tiere oder Menschen, gleichermaßen teilhaben.
Abgründe des Gefühls Immanuel Kant hat in seine Vernunftethik stoische Elemente aufgenommen, doch gibt es hinsichtlich der unvermeidbaren Gefühlswertungen eine entscheidende Differenz. In einer seiner populären Schriften, Muthmaßlicher Anfang des Menschengeschlechts, gibt er eine anthropologische Umdeutung der biblischen Sündenfall-Geschichte. Er erzählt nach, wie das erste Menschenpaar infolge der Einbildungskraft sich von den instinktiv festgelegten Triebzielen der Tiere gelöst hat und damit in den Zustand der Freiheit eingetreten ist. Vom Menschen allgemein heißt es in seinem Aufsatz: »Er entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Tieren an eine einzige gebun78 | Kapitel V
den zu sein. Auf das augenblickliche Wohlgefallen, das ihm dieser bemerkte Vorzug erwecken mochte, musste doch sofort Angst und Bangigkeit folgen.« (Akad. Ausg. VIII, 112). Die verführerische Fülle der weltlichen Angebote mit ihren emotionalen Ambivalenzen gehört für Kant zu den moralischen Herausforderungen, an denen sich der Mensch in seinen Entscheidungen zu bewähren hat. Die Triebfedern sind die Gefühle der Lust und der Unlust, die das Verhalten leiten. Sittliche Freiheit dagegen bedeutet Selbstbestimmung durch Gesetze, die der Vernunft entstammen. Mit diesem Konzept befreit Kant die moralischen Normen von affektiver Unberechenbarkeit; doch entsteht das Problem, dass die Form der Gesetzmäßigkeit allein kein Grund ist, sein Handeln danach einzurichten. Das scheint Kant gespürt zu haben. Als Ausweg ist er darauf verfallen, die »Achtung vor dem Gesetz« als Handlungsmotiv anzunehmen. Nun sieht sich Kant dem Vorwurf ausgesetzt, dass er damit Zuflucht »in einem dunklen Gefühle« suche. Er versucht sich in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten damit zu retten, dass er Achtung als ein »intellektuelles Gefühl« darstellt, das die Vernunft selbst hervorgebracht habe. Damit gerät Kant in dieselben Schwierigkeiten, die der stoischen Lehre von der Zustimmung der Vernunft anhaften. Das Beharren auf rationaler Entscheidungsfreiheit gegenüber der Affektabhängigkeit führt Kant zur Annahme einer intelligiblen Parallelwelt, in der der Mensch die Kette von Ursache und Wirkung durchbrechen und absolute Anfänge setzen könne. Dieses Verfahren, Moralität als unbedingtes Befolgen von vernunftbegründeten Normen darzustellen, beruht auf dem traditionellen Leib-Seele-Dualismus, den heute kein philosophischer Anthropologe mehr befolgt. Im praktischen Leben ist die absolute Geltung eines kategorischen Imperativs auch nicht wünschenswert, da er unserem Lebensgefühl widersprechen würde. Der Begründer der psychosomatischen Medizin, Viktor von Weizsäcker, hat gezeigt, dass aufgrund der gestalthaften Wahrnehmung der inneren Zeit die freie Zwecksetzung durchaus mit der Emotionalität vereinbar ist. Der Unterschied zwischen der Unabänderlichkeit der Vergangenheit und der Unvorhersehbarkeit der Zukunft bilde einen Freiraum, der eine notwendige Bedingung für die menschliche Handlungsfreiheit sei (Weizsäcker 1942). Allerdings gehören zum Wie Gefühle moralisch entscheiden | 79
menschlichen Handeln Unsicherheiten, die ratlos machen. Oft genug wissen wir nicht, was wir eigentlich wollen, und werden zum Spielball widerstreitender Affekte. Auch Kant ist nicht entgangen, dass Sittlichkeit einer Dialektik unterworfen ist; doch ist er optimistisch, die Antinomie der praktischen Vernunft logisch auflösen zu können. Diesen Optimismus teilt heute niemand mehr, da Gefühle sich nicht so klar klassifizieren lassen, wie Kant noch meinte. Psychische Abgründe tun sich auf, wenn in unserer zivilisierten Welt Lügen aufgedeckt werden oder abscheuliche Verbrechen geschehen. Dann fragen wir uns, wie es in der Innenwelt dieser Menschen aussieht, welche Empfindungen, welche Gefühle und Affekte sie zu ihren Wahnsinnstaten motiviert haben. Das gilt aber nicht nur für die anderen, sondern auch für uns selbst. In Zuständen, in denen der Boden unter unseren Füßen wankt, blicken wir in Abgründe unserer eigenen Innenwelt, die normalerweise durch das Bewusstsein nicht erhellt werden. Die von der Psychoanalyse erschlossenen Abgründe des triebhaften Unbewussten konfrontieren uns mit der unbändigen Macht der Psychosexualität, die vielfach maskiert unsere Entscheidungen bestimmt.
Kleine und große Entscheidungen Neben äußeren Entscheidungen des alltäglichen Lebens, die keine Spuren hinterlassen, gibt es tiefgehende Entscheidungen, die das ganze Leben betreffen. Sophokles hat in seiner Antigone dafür ein klassisches Beispiel geliefert. Im ersten Dialog mit Kreon fällt der berühmte Satz: »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da«. Damit verschiebt Antigone die Auseinandersetzung über Normen und Gründe des politischen Handelns auf die emotionale Ebene. Die Entscheidung des Gefühls beim Anblick der nicht bestatteten Leiche des Bruders ist absolut und lässt keinerlei Kompromiss zu. Das erscheint dem Realpolitiker als sinnloses Beharren auf weiblichem Eigensinn, aber aus Antigones Bereitschaft, in den Tod zu gehen, spricht ein authentisches Lebensgefühl, das stärker ist als alle rationalen Normen. Die streng rationale Entscheidungstheorie hat es mit dem sprichwörtlichen Esel Buridans zu tun, der zwischen zwei gleich 80 | Kapitel V
gefüllten Krippen verhungert, da es keinen hinreichenden Grund gibt, aus einer bestimmten zu fressen. Ein wirklicher Esel freilich wird sich spontan einer der Krippen zuwenden. Wenn er über seine Entscheidung Auskunft geben könnte, würde er antworten, er habe eine beliebige Krippe gewählt, weil der Selbsterhaltungstrieb stärker ist als die Abwägung von Vernunftgründen. Was nach purem Dezisionismus aussieht, hat also durchaus emotionale Wurzeln. Das gilt für das Wollen allgemein. Der Wille ist kein von anderen getrenntes psychisches Vermögen, er entwickelt sich immer im Rahmen des Lebensgefühls. Zum Lebensgefühl gehört das Streben nach Glück, das bewirkt, dass wir bei der Lösung von Problemen auf unser Gefühl hören, wenn Gründe nicht weiterführen. Man kann mit Schopenhauer die These vertreten, dass der dranghafte Wille immer schon entschieden hat und die Vernunft nicht mehr tun kann, als die Entscheidung im Bewusstsein zuzulassen. Es geht um Rationalisierungen des Irrationalen. Nun sind wir normalerweise Herr unser selbst und halten uns in unseren Entscheidungen für frei, aber wir spüren doch, dass der Freiheit des Willens Grenzen gesetzt sind. Wir sind nicht nur souverän Handelnde auf Grund objektiver Erkenntnisse, sondern auch getriebene Opfer, »verführte Verführer« (Fellmann 2008). Darin gleichen wir Süchtigen, die, wenn auch nicht im wirklichen Leben, so doch in unseren Phantasien psychische Grenzzustände ausleben. Die Finsternis unseres inneren Afrikas stößt uns ab und zieht uns zugleich an, ein Widerstreit von Ich und Es, der nie definitiv durch die Vernunft gelöst werden kann. Das Lebensgefühl hat aber auch eine helle Seite. Wir werden mit Realitäten konfrontiert, die uns die Distanz und Sachlichkeit wiedergewinnen lassen, ohne die wir Opfer unserer Affekte wären. Darin liegt die Chance der existentiellen Krisen, von denen kaum ein Mensch verschont bleibt.
Natürliche Normativität Affektive Entscheidungen sind ein schwieriges Thema für die Ethik. Hier liefert die Evolutionspsychologie wichtige Hinweise. Im Sinne von Darwins Naturgeschichte der Moral wird der rationalen Begründung moralischer Normen die emotionale Disposition zu Wie Gefühle moralisch entscheiden | 81
sozialverträglichem Verhalten entgegengestellt. So kommt Frans de Waal zu dem Schluss, dass es ein Gefühl der Verpflichtung gebe, das er »natürliche Normativität« nennt (de Waal 2014). Damit macht de Waal sicherlich auf emotionale Vorformen der Vernunftmoral aufmerksam, die zu wenig Beachtung gefunden haben. Bei aller Übereinstimmung im subjektiven Erleben von Tier und Mensch bleibt ein Hiatus, der im Lebensgefühl liegt, das einzelne Gefühle zu einer Ganzheit verbindet. Die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein, ist, wie Kant schon bemerkt hat, kein ursprünglicher Besitz des Menschen, sondern ein aus der Natur der Bedürfnisse resultierendes Problem. Das Streben nach Glück erzeugt das Gefühl der Verpflichtung, das zugleich Grundlage des Rechtsempfindens ist. Es ist ein Lebensgefühl, das Tieren nicht zur Verfügung steht, da diese an die aktuelle Situation gebunden sind. Moralische Gefühle gehören zu den Emotionen »zweiter Ordnung«, um die vom amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt eingeführte Unterscheidung zwischen Wünschen erster und zweiter Stufe aufzunehmen. Im Unterschied zu elementaren Empfindungen sind Emotionen höherer Stufe geprägt durch Gegensätze, wie z. B. im Falle von Liebe und Hass, die im Lebensgefühl der Menschen als Hassliebe auftreten können. Zu den Emotionen höherer Stufe gehört beispielsweise auch die Hoffnung. Schon Ludwig Wittgenstein hat in den Philosophischen Untersuchungen gefragt, warum man Hoffnung einem Hund nicht zuschreiben könne. Der Grund ist, dass das Tier sich keine von der augenblicklichen Situation unabhängige Vorstellung möglicher Ereignisse machen kann. Daraus folgt: Emotionen höherer Ordnung, also auch und vor allem moralische Gefühle, setzen die Fähigkeit der Distanzierung von unmittelbaren Affekten voraus. Nur der Mensch ist in der Lage, seine Gefühle im Lichte des Gegensatzprinzips zu bewerten und daraus ein Bild seiner selbst zu entwickeln, das ihm den Status einer moralisch verantwortlichen Person verleiht. In der Emotionalität sieht de Waal keinen wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Obwohl wir nicht wissen können, was Tiere wirklich fühlen, legen ihr Verhalten, ihre Gestik und ihr Gesichtsausdruck nahe, dass sie in Basisemotionen wie Freude und Wut mit unserem Gefühlsleben übereinstimmen. Aber de Waal geht noch einen Schritt weiter. Auch Emotionen höherer 82 | Kapitel V
Ordnung, die nach Harry Frankfurt den Menschen als Person auszeichnen, sollen das Verhalten der Primaten bestimmen. Diese weitgehende Angleichung von Mensch und Tier ist schon von der älteren Tierpsychologie vorgenommen worden. Der seinerzeit bekannte Leiter zoologischer Gärten Heini Hediger schreibt in seinem 1984 erschienenen Buch Tiere verstehen. Erkenntnisse eines Tierpsychologen: »Zum Gegenstand der Tierpsychologie gehören u. a. Subjektives, Individuelles, Persönliches, Charakteristisches. Ebenso gehören dazu Affekte wie Angst, Furcht, Wut, Mut, Eifersucht, Neid, Zutrauen, Geborgenheit, Freude, Enttäuschung, Trauer, Humor, Stolz, Neugierde« (Hediger 1984, 21). Hier sind Zweifel angebracht. Ein Tier mag stark sein und aggressiv auftreten, aber man wird kaum sagen, es sei »mutig« oder »tapfer«. Und umgekehrt, ein schwächliches Tier, das Kämpfen ausweicht, wird man nicht als »Feigling« bezeichnen. Diese Bezeichnungen setzen eine wertende Distanzierung von der Situation voraus, die nur menschlicher Subjektivität angemessen ist. Daher kann man dem Tierpsychologen nicht folgen, wenn er behauptet, das Tier sei nicht nur Individuum, das gefühlsmäßig auf seine Umgebung reagiert, sondern es lebe als ein freies Subjekt, »als ein empfindendes, erlebendes und – in Grenzen – verstehbares Subjekt, als Individuum, ja unter Umständen als Persönlichkeit« (28). Hediger geht sogar so weit, den Tieren Eigennamen zuzusprechen. In Zoos erhalten einzelne Tiere Kosenamen, die sie weltbekannt machen, aber Tiere untereinander würden sich nicht auf diese Weise verständigen. Sicherlich gibt es Eigenarten, an denen sich Tiere wiedererkennen, aber ein Eigenname ist mehr als die Benennung eines Exemplars der Gattung. Der Eigenname steht für den Status personaler Identität, der Menschen für ihre Taten zurechnungsfähig macht. Wenn im Mittelalter Tieren auch ein Strafprozess gemacht wurde, heute würde selbst der größte Tierversteher das nicht mehr billigen.
Moralische Dilemmas Normenkonflikte beschäftigen die Ethik unter dem Titel »moralische Dilemmas« seit längerem und haben manche Denker dazu bewogen, an der Vernunftethik überhaupt zu zweifeln. Für EntWie Gefühle moralisch entscheiden | 83
scheidungen von moralischer Tragweite, die oft unter Zeitdruck gefällt werden müssen, lassen sich keine allgemeingültigen Gründe finden. Man denke nur an das viel diskutierte Beispiel zweier Menschen, die am Ertrinken sind – der eine ist meine Frau oder mein Mann, den anderen kenne ich nicht. Viele würden sich für die Rettung der Angehörigen entscheiden und damit einer Norm folgen, die aus der Struktur der Familie als sozialer Wert folgt. Nun aber kann man folgende Variante konstruieren: von zwei Ertrinkenden ist einer meine Frau, der andere unser gemeinsames (kleines) Kind. Da beide zur Familie gehören, gerate ich in ein moralisches Dilemma. Wenn ich meine Frau rette, machen wir uns nachher Vorwürfe, wenn ich unser Kind rette, verliere ich die Frau, ohne die ich nicht leben kann. Noch komplizierter wird die Situation, wenn das Kind nicht von mir ist, sondern aus der geschiedenen Ehe meiner Frau stammt. Da die Blutsbande ihre normative Kraft verloren haben und in der sog. »Regenbogenfamilie« jeder für sich selbst steht, ist eine von allen Beteiligten akzeptierte Entscheidung ausgeschlossen. Wie immer man sich verhält, jeder würde jedem vorwerfen, die individuellen Bedürfnisse und Gefühle des anderen verletzt zu haben. Der Fall des moralischen Dilemmas unterscheidet sich von der reflexartigen Reaktion, mit der jemand bei Gefahren sich oder einen anderen rettet. Beim Dilemma bleibt immer noch ein, wenn auch kurzer, Hiatus zwischen Absicht und Handlung. Zwar gibt es Versuche, auch in dieser Situation durch rationale Abwägung die Vernunftmoral zu retten, aber die Praxis sieht anders aus. Offenbar liefert die rationale Entscheidungstheorie keine Lösung, mit der man leben kann. In diesen Zwischenraum springt das Lebensgefühl ein. Das ist keine mystische Kraft, sondern Ausdruck von allgemeinen Überzeugungen. Diese sind den Beteiligten weitgehend unbewusst, aber emotional präsent. Das Zusammenspiel der Emotionen, das von Shand »sentiment« genannt wurde, hat erkenntnisanalogen Charakter. Dieser beruht nicht auf der Logik der Schlüsse und der Kette von Gründen, sondern auf dem Netz der Gefühle. In diesem Sinne ist auch der von Shaftesbury verwendete »moralische Sinn« zu verstehen, der kein eigenes Erkenntnisvermögen darstellt, sondern eine Ganzheit von Gefühlen, die sich aufeinan84 | Kapitel V
der richten. Shaftesbury spricht daher von »Reflexionsgefühlen«, die in der ästhetischen Erfahrung wirksam sind. Die Affinität von ästhetischen und moralischen Gefühlen hat später George Edward Moore in seinen Principia Ethica gestaltpsychologisch als organische Ganzheit interpretiert (Moore 1996). Die organische Metaphorik ist verführerisch, aber richtig verstanden, macht sie klar, dass Denken und Fühlen bei der Bildung von Überzeugungen nicht voneinander getrennt werden können. Das Lebensgefühl als Grundlage einer Entscheidung ist nicht unfehlbar, aber es hat eine Evidenz, die eingespielten Maximen entspricht, nach denen wir unser Leben gestalten.
Zur Freiheit verdammt Jean-Paul Sartres berühmter Satz, dass der Mensch zur Freiheit verdammt sei, lässt zahlreiche Lesarten zu, über die sich die Interpreten endlos streiten. Er ist, wie Goethe über einen anderen Satz gesagt hat, »von unendlicher Anwendung«. Im Hinblick auf das existentialistische Lebensgefühl, das von innerer Zerrissenheit geprägt ist, da es kein substantielles Ich gibt, heißt »Freiheit« mehr als bloße Indifferenz. Die Wahlmöglichkeit ist, wie wir schon sahen, immer eingeschränkt durch die Situation, in der sich die Handelnden befinden: »Es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit« (Sartre 1995, 845). Die Situation aber ist nie rein objektiv gegeben, sondern wird immer durch ein Lebensgefühl vermittelt wahrgenommen. Infolge dieses emotionalen Perspektivismus werden aus objektiven Situationen »Grenz situationen«, wie der Philosoph Karl Jaspers sich ausgedrückt hat, in denen Freiheit ihren positiven Charakter verliert. Freiheit wird zu einer Last, die der Mensch nie ganz abschütteln kann. Freiheit als ambivalentes Gefühl ermöglicht es dem Individuum, sich selbst als Subjekt zu konstituieren, auch wenn sich seine Handlungen als falsch erweisen. Die französische Sängerin Edith Piaf hat in ihrem Chanson Nein, ich bereue nichts das existentialistische Lebensgefühl in die ganze Welt getragen. Im Text erinnert sich die Protagonistin an ihre Vergangenheit mit guten und schlechten Erlebnissen, ohne dadurch in Trauer und Zerknirschung zu verfallen. Wie Gefühle moralisch entscheiden | 85
Das Chanson schließt optimistisch mit der Bekräftigung, nun ihr Leben und ihre Freude mit einem neuen Geliebten zu beginnen. Das dunkle und trotzige Intro Nein, »Non«, steigert sich, um dem Lied ein jubelndes und triumphierendes Ende zu bereiten und das schlechte Gewissen gegenüber der Vergangenheit aufzugeben: »Nein, ich bereue nichts, weder das Gute noch das Böse, das ich getan habe!« Man kann diesen Ausruf als musikalische Realisierung der Freiheitstheorie Sartres betrachten: »Die menschliche Realität begegnet überall Widerständen und Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die menschliche Realität ist … Es ist meine Stellung, mein Körper, meine Vergangenheit, meine Position, insofern sie durch die Indikationen der anderen bereits bestimmt ist, schließlich meine grundlegende Beziehung zu anderen« (Sartre 1995, 560).
Die Moral der emotionalen Entscheidung Die Betrachtung der Kriterien für Entscheidungen hat uns gelehrt: Sosehr wir uns um Gründe des Handelns bemühen, das Lebensgefühl hat immer schon entschieden und ist schwer auszuhebeln. Gründe klären die Gefühle, aber heben sie nicht auf. Emotionale Entscheidungen sind nicht irrational und berauben uns nicht unserer Freiheit. Im Gegenteil: Lebensgefühle stehen für den ganzen Menschen, von dem es abhängt, ob wir ihn als einen guten oder bösen Charakter erleben. Vernunftnormen geben dem Menschen Halt, pressen ihn aber auch in feste Formen, die das Leben vergewaltigen. Konrad Lorenz hat das aus biologischer Sicht so formuliert: »Was wir an einem Mitmenschen als einen ethischen Wert empfinden, ist nicht die Leistung seiner verantwortlichen Moral, sondern diejenige seiner angeborenen und arteigenen ›Neigungen‹! Die objektive Führung eines Menschen mag noch so sehr dem Ideal der sozialen Anforderungen an das Individuum entsprechen, wir empfinden ihn nicht als ›gut‹, wenn seine Motive nicht den tiefen, gefühlsmäßigen Schichten des angeborenen, erbgebundenen Verhaltens entspringen. ›Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen, wenn es euch nicht von Herzen kommt‹ (Goethe)« (Lorenz 1966, 86 | Kapitel V
II, 164). Nun geht es nicht allein um angeborenes Verhalten, hinzu kommt der erworbene Charakter, die kulturelle Prägung, von der unsere individuellen Entscheidungen abhängen. Lebensgefühle sind nicht nur resistent gegenüber der Vernunftmoral, sondern auch gegenüber Affekthandlungen. Die gefühls mäßigen Entscheidungen sind kontrapunktisch der Lebensgeschichte zugeordnet. Ernest Hemingway hat das prägnant ausgedrückt: »Gut ist, wenn du dich hinterher gut fühlst«. Darin unterscheidet sich das moralische Gefühl von stürmischen Leidenschaften, die Menschen unter Umständen zu Taten antreiben, die mit ihrem wahren Ich nichts zu tun haben. Der Romancier Somerset Maugham berichtet in seiner Erzählung Fußspuren im Dschungel von der Geschichte eines kaltblütigen Mordes, der nie gesühnt wurde. Die Täter, ein Ehepaar, leben unbehelligt weiter, und der Polizist, der mit der erfolglosen Aufklärung beschäftigt war, erklärt seinem überraschten Freund: »Ein durchaus anständiger Mensch kann durch bestimmte Umstände dazu getrieben werden, ein Verbrechen zu begehen …, aber es sind nicht immer die Handlungen einer Person, die Aufschluss über ihr Wesen geben. Wenn Sie so lange Polizeibeamter gewesen wären wie ich, würden Sie wissen, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was ein Mensch tut, als darauf, was er ist« (Maugham 1972, 508). Was er ist, betrifft das Ganze der Gefühle, das sich aus Erinnerungen und Erwartungen zusammensetzt. Sie prägen die innere Einstellung eines Menschen, die für seine Beurteilung bedeutsamer ist als einzelne Handlungen, und seien sie noch so verdammenswert. Hier zeigt sich, dass Lebensgefühle uns Wege weisen, mit dem individuellen Schicksal, zu dem Schuld und Sühne dazugehören, verständnisvoll und gelassen umzugehen. Lebensläufe sind an Raum und Zeit gebunden. Manchmal sind es wenige Zentimeter oder Sekunden, die über ein Schicksal entscheiden. Arthur Schopenhauer hat Raum und Zeit Prinzipien der Individuation genannt, die Ursachen für die Vielfalt der empirischen Erscheinungen. Allerdings verweist das Individuationsprinzip auf etwas Grundlegenderes und Einheitliches. Das ist der dranghafte Wille zum Leben, der die Menschen in Freud und Leid am Leben hängen lässt: »Dem Willen ist das Leben, dem Leben die Gegenwart sicher und gewiss« (WWV I, 384). Durch den LebensWie Gefühle moralisch entscheiden | 87
drang erhalten die Einzeldinge eine Bedeutsamkeit, ohne die sie als leere Schatten am Bewusstsein vorüberziehen würden. Intensivster Ausdruck des triebhaften Willens zum Leben ist die Sexualität, die in Schopenhauers Menschenbild eine zentrale Rolle spielt: »Der Ernährungsprozess ist ein stetes Zeugen, der Zeugungsprozess ein höher potenziertes Ernähren; die Wollust bei der Zeugung die höher potenzierte Behaglichkeit des Lebensgefühls« (383). Im Lebensgefühl, das unser ganzes Wesen in Anspruch nimmt, sind Raum und Zeit aufgehoben, »aufgehoben« im doppelten Sinne des Wortes: bewahrt und überwunden. Die raum-zeitliche Doppelseitigkeit des Lebensgefühls soll im Folgenden genauer expliziert werden. Dabei erhellen sich die Begriffe Raum und Zeit sowie Lebensgefühl wechselseitig. Aus der Sicht der raum-zeitlichen Erfahrung erweist sich das Lebensgefühl nicht als bloßes Gefühl, sondern als symbolischer Code, und umgekehrt erscheinen Raum und Zeit aus der Perspektive des Lebensgefühls nicht als reine Anschauungsformen, sondern als emotional getönte Vorstellungen.
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Kapitel VI Gelebte Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft
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n diesem Kapitel geht es um die Frage, wie Lebensgefühl und Lebenszeit sich zueinander verhalten. Das herauszufinden ist keineswegs einfach, da der Begriff der Zeit lauter Rätsel aufgibt. Der Kirchenvater Augustinus hat auf die Frage, was Zeit sei, geantwortet: »Wenn mich niemand fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht« (629). Für den Begriff der Zeit stehen sich zwei Theorien gegenüber. Im Rationalismus wird die objektive Zeit oder die Zeit der Uhren als homogenes Kontinuum, als Abfolge von Momenten interpretiert, die wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind. Das hat sich mit der Phänomenologie des Zeiterlebens geändert. Ein Meilenstein ist Husserls Beschreibung des inneren Zeitbewusstseins (Husserl 1928). Die Zeit vergeht, sie bewegt sich zwischen Vergangenheit, die nicht mehr ist, und Zukunft, die noch nicht ist. Dafür bietet sich die Metapher des Flusses oder des Stroms an. Gelebte Zeit erweist sich als heterogenes Kontinuum, das qualitativ verschiedene Empfindungen verbindet. Die Subjektivierung der Zeit gehört zum Lebensgefühl, doch wird dadurch die objektive Zeit nicht vollständig außer Kraft gesetzt. Ethnologen tendieren dazu, die kulturelle Relativität des Zeitbewusstseins, die in rituellen Praktiken dominiert, zu überschätzen. Wo es dagegen um normale Aktivitäten geht, folgen die Menschen einem universalen Begriff der objektiven Zeit. Ein arabischer Wüstenbewohner empfindet den Zeitverlauf sicherlich anders als ein europäischer Geschäftsmann. Aber wenn sie sich treffen wollen, müssen beide zur selben Zeit am vereinbarten Ort sein. Das Zeiterleben orientiert sich immer an festen Parametern, sei es der Sonnenstand oder die Jahreszeit. Für den Einzelnen ändert sich das Zeiterleben je nach der Situation, in der er sich befindet. Bei angenehmen Erlebnissen vergeht die Zeit im Fluge, beim War | 89
ten schleppt sich die Zeit dahin, und wenn sich nichts tut, wird es langweilig. Das sind alles bekannte Erfahrungen aus dem Alltagsleben.
Die Zeit des Eros Das Nebeneinander von objektiver und subjektiver Zeit ist pro blemlos. Es gibt aber eine besondere Zeiterfahrung, die nicht dieser Einteilung folgt, nämlich die Zeit des erotischen Erlebens. Der Liebesakt ist punktuell, wird von den Beteiligten aber oft als ewig empfunden. Daraus resultiert die Paradoxie der Zeitlichkeit, die da lautet: Alles ist im Fluss und trotzdem unvergänglich. Wer sich selbst beobachtet und seine Jugend nicht vergessen hat, weiß, dass junge Menschen in der Blüte ihres Lebens so empfinden, als lebten sie ewig. Das trifft bei besonders intensiven Erlebnissen auch für ältere Menschen zu. Im Eros haben wir es mit dem nunc stans zu tun, mit dem ewigen Jetzt, in dem das Bleibende im Vergänglichen in Erscheinung tritt. Die zeitlose Zeit des Eros ist nicht nur subjektiven Ursprungs. Sie hat eine genetische Entsprechung in den Keimzellen, die sich unendlich teilen und in diesem Sinne unsterblich sind. August Weismann hat darüber unter dem provokanten Titel »Über die Ewigkeit des Lebens« geschrieben (Weismann 1884). Wie Viktor von Weizsäcker deutlich gemacht hat, kann die biologische Zeit nicht am homogenen Kontinuum der objektiven Zeit gemessen werden. Auch die im Gedächtnis aufbewahrte geschichtliche Zeit fällt nicht mit der biologischen Zeit zusammen, diese sei »zeitüberbrückende Gegenwart, Vergangenheit an die Zukunft bindende Aktualität« (Weizsäcker 1942, 19). Daraus folgt, »dass das Leben nicht in der Zeit ist, sondern die Zeit im Leben ist oder genauer durch dessen Selbstsetzung wird« (16). Natürlich wissen alle erwachsenen Menschen, dass sie einmal sterben müssen, aber das ändert nichts an ihrem auf die Gegenwart konzentrierten Lebensgefühl der Zeitlosigkeit (Edelman 1987). Die in der biologischen Zeitgestalt fundierte Lebenszeit transzendiert den Unterschied zwischen alt und jung. Der Spruch, man sei so alt, wie man sich fühlt, ist so dumm nicht, wie er angesichts 90 | Kapitel VI
des Geburtsdatums zu sein scheint. Das gleiche gilt für den Unterschied von gut und böse. Menschen können zu einem bestimmten Zeitpunkt eine böse Tat begangen haben, aber sie können trotzdem ein guter Mensch bleiben. Denn gut oder gutmütig ist eine die Lebenszeit umfassende Disposition, die durch ein punktuelles Ereignis nicht aufgehoben wird. Auch Glück und Unglück transzendieren die Zeit der Uhren. Fragt man alte Paare, die ein bewegtes Liebesleben hinter sich haben, so erhält man meist die Antwort: »Wir hatten eine glückliche Ehe«.
Dauer und Gedächtnis Wie kein anderer hat Henri Bergson die Paradoxie des Zeitbewusstseins im Begriff der »Dauer« auf den Punkt gebracht. Während Immanuel Kant Raum und Zeit noch als gleichberechtigte Formen unserer Anschauung betrachtet, sind sie für Bergson wesensverschieden. Der Raum ist für ihn eine in sich homogene Summe von Punkten, die von Objekten eingenommen werden kann. Die ratio nal und analytisch verfahrende Naturwissenschaft, so Bergson, betrachtet nur diesen Raum bzw. Teile davon. Wenn sie vorgibt, Zeit zu messen, misst sie in Wahrheit nur Bewegung im Raum, also die aufeinanderfolgenden Veränderungen der räumlichen Lage der Objekte. Die derart physikalisch verstandene Zeit ist eine »fragmentierte« Zeit. Die Zeit der lebendigen Dinge ist für Bergson nicht in Abschnitte einteilbar, sie ist wesentlich die unteilbare Bewegung selbst, das ständige, unvorhersehbare und irreversible Anders-Werden oder die »Dauer« (Bergson 1994). Die Dauer, wie sie Bergson versteht, ist also kein messbarer Zeitabschnitt, sondern ein Gefühl, ein Zustand, der allerdings nicht statisch verharrt, sondern sich in der Erinnerung dynamisch entwickelt. Im Bereich des Lebendigen – mit dem sich das Hauptwerk Schöpferische Entwicklung (L’évolution créatrice) befasst – sind Gegensätze die treibende Kraft, die ununterbrochen Neues schafft. Dagegen ist die leblose Materie Energieverfall, sie unterliegt der Entropie. Trotz dieses Gegensatzes trennt Bergson Materie und Leben nicht absolut: Das Leben bedarf schließlich der Materie, deren Energie es sich zunutze macht. Diesen beiden Seinssphären Gelebte Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft | 91
sind verschiedene Formen der Erkenntnis zugeordnet: Die anorganische Materie wird durch den analytischen Verstand erfasst, durch die Naturwissenschaften, die Dauer hingegen durch die philosophische Methode der Intuition, die auf Gedächtnis beruht. Allerdings besteht hier eine linguistische Unbestimmtheit. Wenn Bergson von »mémoire« spricht, schwingt immer auch Erinnerung mit, die anders als das quantitativ bestimmbare Gedächtnis immer subjektiv ist und zum Lebensgefühl gehört (Kensinger/Schacter 2014). Was den persönlichen Erfahrungshorizont betrifft, urteilen Skeptiker über die Zukunft eher zurückhaltend. So im 18. Jahrhundert der Neapolitaner Ferdinando Galiani, von dem der Ausspruch stammt: »Wir und unsere Kinder, der Rest ist Träumerei«. Aber das Leben ist auch ein Traum, und ohne Träume wäre das Menschsein unerträglich. Zum Träumen gehört das Bewusstsein der Dauer, das uns mit der Endlichkeit des wirklichen Lebens versöhnt. Gelebte Zeit, in der Erinnerung und Erwartung sich durchkreuzen, hebt das Lebensgefühl aus der objektiven Zeit heraus. Wie ich schon erwähnt habe, darf man die von den Uhren angezeigten Zeitpunkte nicht zu gering einschätzen. Es gibt Ereignisse, in denen ein Augenblick über Leben und Tod entscheidet. Stefan Zweig hat in seinen Sternstunden der Menschheit derartige Schicksals momente dargestellt. So beispielsweise in der Schlacht von Waterloo: »Zwei Uhren ticken leise wie Vogelherzen in ihrer Hand über die gewitternden Massen. Napoleon und Wellington, beide greifen sie ununterbrochen nach dem Chronometer und zählen die Stunden, die Minuten, die ihnen jene letzte entscheidende Hilfe bringen müssen« (Zweig 1949, 112). Aber das sind natürlich nur ganz seltene Momente, eben »Sternstunden« oder »Weltstunden«. Normalerweise läuft im Leben alles nebeneinander und nacheinander ab, ohne dass die Menschen davon sonderlich berührt werden. Aber im Alltag gibt es herausgehobene Momente, in denen die »Dauer«, wie sie Bergson versteht, den Fluss der Zeit anhält und dem Einzelnen eine neue Sicht auf die Welt eröffnet.
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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Marcel Proust hat in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Bergsons Theorie der Dauer in Lebensgefühl umgesetzt. Das Lebensgefühl der Dauer wird dem Autor durch unwillkürliche Erinnerungen zuteil, unter denen die Madeleine-Episode die berühmteste ist. Der Geschmack des Kuchens evoziert und transformiert die Erinnerung an den kleinen Marcel, der jeden Abend im Bett erregt auf den Gute-Nacht-Kuss der Mutter wartet. Der entscheidende Passus lautet wie folgt: »Viele Jahre lang hatte von Combray außer dem, was der Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens war, nichts mehr für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertag, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich aber, ich weiß nicht warum, eines anderen. Sie ließ daraufhin eines jener dicklichen, ovalen Sandtörtchen holen, die man ›Petites Madeleines‹ nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, ohne mir etwas dabei zu denken, doch bedrückt über den trüben Tag und die Aussicht auf ein trauriges Morgen, einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Es hatte mir mit einem Schlag die Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig werden lassen, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und es erfüllte mich mit einer köstlichen Essenz; oder vielmehr: diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen« (Proust 1981, 62). Das Gefühl der Zeitlosigkeit, das der Geschmack der Madeleine vermittelt, verweist auf sexuelle Empfindungen. Das ergibt sich nicht zuletzt aus der Form und der Weichheit des Kuchens, der an die Vulva erinnert. Die Art, wie Proust die Madeleine beschreibt, lässt eine Ambivalenz der Gefühle erkennen, so wenn die Muschel Gelebte Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft | 93
»schwer sinnlich« und zugleich »streng und fromm« genannt wird (66). Die Madeleine steht für die erotische Bindung an die Mutter des Erzählers, verweist zugleich aber phylogenetisch auf die Anfänge des Menschengeschlechts überhaupt. So führt die unwillkürliche Erinnerung zurück zum dunklen Lebensgefühl, das sich in den gegensätzlichen Zuständen von Unlust und Lust bewegt, aber noch nicht in zielgerichtete Emotionen ausdifferenziert ist. Proust schiebt in seinen Schilderungen Vergangenheit und Zukunft ineinander. Diese literarische Technik entspricht der Gegensätzlichkeit des menschlichen Erlebens mit seinen wechselnden Inhalten. Der Begründer der Hermeneutik, Wilhelm Dilthey, zitiert in seinem Buch Das Erlebnis und die Dichtung die Antwort Fausts auf die Äußerung seines Famulus über die Freude, sich in den Geist vergangener Zeiten zu versetzten: »Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. Was ihr den Geist der Zeiten heißt, dass ist der Herren eigener Geist …«. Dann führt Dilthey aus, dass Goethe in seinen Dramen »mit der größten Lebendigkeit vergangenes Leben sichtbar« macht und die historischen Verhältnisse »in der Stimmung des Beschauers« darstellt. Damit aber werde die Darstellung »im Grunde ungeschichtlich«, da im Lichte des Lebensgefühls die einschneidenden Ereignisse nicht in den Blick kommen (Dilthey 1957, 147). Genau nach diesem Schema verfährt auch Proust, der damit den Weg zu den unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins ebnet.
Romantisches Zeitbewusstsein Die emotionale Eroberung der gelebten Zeit, die bei Bergson und Proust ihren Höhepunkt erreicht, ist von der Romantik, insbesondere der deutschen, vorbereitet worden. Man könnte Proust geradezu einen Spätromantiker nennen. Die deutsche Romantik ist geprägt von einer schwärmerischen Idealisierung des Mittelalters, die einer Flucht aus der Wirklichkeit gleichkommt. Man hat zu Recht vom »Okkasionalismus« der Romantik gesprochen. Damit ist gemeint, dass der Romantiker die Faktizität für unberechenbar und sinnlos hält und in die Subjektivität ausweicht, die der Wirklichkeit Sinn verleiht. Dadurch verliert Wirklichkeit ihre Materialität, sie 94 | Kapitel VI
wird zur Vorstellung. Das hat einem »Naturalisten« wie Heinrich Mann natürlich nicht gefallen. »Das Lebensgefühl der deutschen Romantiker ist das niedrigste, das eine Literatur haben kann«, so sein Verdikt (Mann, H. 1976, 18). So »niedrig« war die Gefühlslage der Romantiker aber dann doch nicht, da sie sich nicht mit einer kitschigen Sentimentalität zufrieden gaben. Das romantische Erleben äußert sich in kreativer Phantasietätigkeit, die oft hellsichtiger ist als das positivistische Registrieren von Fakten. Der bedeutendste Psychologe der Romantik, Carl Gustav Carus, hat sich in seinem wirkungsgeschichtlich stärksten Werk Psyche (1846) mit dem Gefühlsleben aus morphologischer Sicht beschäftigt, dabei an Goethe anschließend. Carus nennt Gefühle »Strahlungen des Seelenlebens«, die dem Bewusstsein mitteilen, was im Unbewussten vor sich geht. Er unterscheidet Grundgefühle: Freude und Trauer, Liebe und Hass, und zeichnet von jedem dieser Gefühle die Entwicklungsgeschichte nach. Viele Feststellungen wirken heute im Licht der evolutionären Psychologie anachronistisch, aber das schmälert nicht den Reichtum an Einsichten in die Natur der Lebensgefühle. Man wünscht sich, die heutigen Gefühlstheorien würden sich daran erinnern. So etwa die Verbindung von Liebe und Hass, deren zerstörerische Wirkung Carus so beschreibt: »Das Zerstörende richtet sich hier mittelbar gegen das Äußere, aber eigentlich unmittelbar gegen sich selbst, so dass, wenn die Liebe sich bei Erreichung ihres Gegenstandes und voller Befriedigung Leben fördernd und die Blüte der Gesundheit hervorrufend bewährt, der Hass in aller Befriedigung und Erreichung und Verletzung seines Gegenstandes nur Zerstörung des eigenen Lebens und oft bittere Krankheitszustände veranlasst« (Carus 1926, 196). Derartige Schilderungen haben nichts an Aktualität eingebüßt – eher im Gegenteil, angesichts des immer ruppigeren Umgangstons im öffentlichen Raum und der Hass-Mails im Internet. Hier geht es nicht nur um Wutausbrüche frustrierter Zeitgenossen. Schon Carus gibt zu verstehen, dass es sich um Verschiebungen des Erlebens der inneren Zeit handelt, durch die problematische Charaktere von Gefühlsambivalenzen heimgesucht werden. So harmonisierend das romantische Existenzgefühl aus der Rückschau auch erscheinen mag, schon in der Frühromantik haben sich widerstreitende Gefühle gemeldet, die nicht mehr zu einem Gelebte Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft | 95
ganzheitlichen Lebensgefühl verschmelzen. Die Vergangenheitsorientierung kontrastiert mit dem Gefühl einer unbestimmten Zukunft. Das erfährt beispielsweise bei Joseph von Eichendorf der junge Graf Friedrich auf einer Reise durch Europa, auf der er verschiedenen Frauengestalten begegnet, die gegensätzliche Lebensformen repräsentieren: das ruhige Landleben des niederen Adels und das aufregende Stadtleben der Hofgesellschaft. In seinem Roman Ahnung und Gegenwart hat von Eichendorff das gespaltene Lebensgefühl seiner Zeit des Umbruchs so formuliert: »Verloren ist, wen die Zeit unvorbereitet und unbewaffnet trifft; und wie mancher, der weich und aufgelegt zu Lust und fröhlichem Dichten, sich gern mit der Welt vertrüge, wird, wie Prinz Hamlet, zu sich selber sagen: ›Weh; dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam‹! Denn aus ihren Fugen wird sie noch einmal kommen, ein unerhörter Kampf zwischen Altem und Neuem beginnen, die Leidenschaften, die jetzt verkappt schleichen, werden die Larven wegwerfen, und flammender Wahnsinn sich mit Brandfackeln in die Verwirrung stürzen, als wäre die Hölle losgelassen …« (Eichendorff 1982, 291). Die objektive Zeit wird ins Affektive verlagert, in dem sich der Abgrund einer apokalyptischen Gegenwart auftut. Das trifft auch auf Prousts Roman zu, in dessen Band Sodom und Gomorrha ähnliche Erfahrungen dargestellt werden.
Die epochalen Veränderungen des Zeitbewusstseins Die Zeitproblematik betrifft nicht nur die Individualpsychologie, sie prägt auch das historische Bewusstsein und den Wandel der Epochen. Unter der Oberfläche der Ereignisgeschichte bewegt sich die Mentalitätsgeschichte, wo sich subtile Veränderungen des Lebensgefühls vollziehen. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die deutsche Geschichte im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Mit der Reichsgründung hatte zunächst ein optimistisches Lebensgefühl alle Schichten der Bevölkerung ergriffen, und das Bürgertum schwelgte in einer zukunftsorientierten Sekurität, vermehrt durch Einkünfte aus Kontributionen und Kolonien. Dann aber erfolgte unterschwellig der Umschwung noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das Lebensgefühl des Abschieds von der Welt 96 | Kapitel VI
der Sekurität hat der Literaturwissenschaftler Paul Fechter in der Schilderung eines Festes des Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen im Mai 1914 eingefangen. Im Schlossgarten wurde am Abend Goethes Laune des Verliebten aufgeführt: »Die leichte Maskerade der Gefühle klang mit der heiteren sommerlichen Festlichkeit des sinkenden Maitags zusammen wie zu einem Sinnbild des ganzen Unternehmens. Die leichte Schar aus fröhlichem Jahrhundert blieb mühelos Sieger über alles Gegenwärtige, bis auf einmal statt des hellen Pfeiffens der Schwalben aus der abendlichen Höhe ein anderer Gruß niederklang. Ein leises, tiefes, metallisches Summen kam näher, alle Geräusche des Tages, zuletzt auch die Worte des jungen Goethe übertönend; über Schloß und Garten zog ein Flieger seine Bahn. 1914 war das noch nicht so selbstverständlich wie wenige Jahre später … Erst als der Flieger über dem Schloß im Abend entschwand, kam das Schäferspiel wieder zu seinem Recht; ein Rest aber blieb, etwas wie eine Warnung, ein erstes, fernes Murren des Schicksals, das vier Wochen später mit den Schüssen von Sarajewo über Europa hereinbrechen sollte«. Anschließend wurde auch noch Hofmannsthals Tod des Tizian aufgeführt. Die letzten Verse lauten: »Das Schlimmere – das Schlimmste endlich … nein … Das Schlimmste kommt, wenn gar nichts Schlimmeres mehr, das tote, taube, dürre Weitersein … Heut ist es noch, als ob’s undenkbar wär … und wird doch morgen sein«. Diese Verse verstärkten die Stimmung des Abschieds von der Welt von gestern, die als Herrlichkeit des Lebens empfunden wurde: »Es waren nur Augenblicke, Sekunden, in denen ein unterirdisches Grauen vor etwas Ungreifbarem ebenso an die Seelen rührte wie wenige Stunden zuvor draußen das drohende Vorüberziehen des Flugzeugs; das Erdbeben meldete sich, und die Menschen spürten es, wenn sie es auch sehr bald wieder vergaßen« (Fechter 1948, 34 f.). Hier zeigt sich, wie das Lebensgefühl Veränderungen ankündigt, eine prognostische Leistung, die kein kausales Denken jemals vollbringt. Die Futurologie als die wissenschaftliche Untersuchung möglicher zukünftiger Entwicklungen ist daher gut beraten, wenn sie im sozialen Bereich quantitative und qualitative Methoden verbindet. In diesem Sinne hat Marcel Proust die unwillkürliche Erinnerung als Medium zum Verständnis der Zeitenwende eingesetzt.
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Zeitmaschine und Maschinenzeitalter Die Welt von gestern verweist auf die Welt von morgen. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat der englische Romancier H. G. Wells sich nicht wie Proust auf die Reise in die Vergangenheit, sondern in die ferne Zukunft begeben, auf der wir ihm nun folgen wollen. In seinem Science-Fiction-Roman Die Zeitmaschine (1895) erzählt Wells von einem Zeitreisenden, der sich eine Maschine gebaut hat, mit deren Hilfe er sich in die Vergangenheit und in die Zukunft bewegen kann. Das ist insofern unlogisch, als sich die Maschine wie ein Hubschrauber im Raum bewegt. Die Bewegung erfordert Zeit, aber wie ist es vorstellbar, dass durch die Bewegung die Zeit selbst sich verändert? Der Erzähler gibt dafür folgende theoretische Erklärung: »Es gibt keinen Unterschied zwischen der Zeit und einer der drei Dimensionen des Raumes, außer dass sich unser Bewusstsein auf ihrer Linie bewegt« (Wells 1951, 7). Die Auffassung, dass die Zeit nur eine vierte Dimension des Raumes ist, erinnert an den Mathematiker Hermann Minkowski. Um 1907 erkannte Minkowski, dass die 1905 veröffentlichte Arbeit von Albert Einstein zur Relativitätstheorie nur in einem nicht-euklidischen Raum verstanden werden könne. Er vermutete, dass Raum und Zeit in einem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum miteinander verbunden sind. Minkowski hielt darüber 1908 den Aufsehen erregenden Vortrag Raum und Zeit auf der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, in dem er sagte, dass Raum und Zeit für sich genommen zu reinen Schatten würden (Minkowski 1909). Seine Ideen zum Raum-Zeit-Kontinuum verwendete Einstein später in seiner allgemeinen Relativitätstheorie. Im Licht dieser Voraussetzung gewinnt die Vision von Wells eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Wells äußert seine Befürchtung, er könne »die eigenartigen Gefühle des Reisens in der Zeit nicht klarmachen« (Wells 1951, 26f). Damit wird deutlich, dass die Zeit als vierte Dimension des Raumes die Emotionalität ist. Die Zeitreise ist eine Reise auf dem Strom der Lebensgefühle, die noch vor einschneidenden Ereignissen und realen Bedingungen epochale Veränderungen anzeigen. Die Historiker, die sich allein an den datierbaren Ereignissen orientieren, verfehlen die Realität, wie sie von den Beteiligten erfahren wird. 98 | Kapitel VI
Bei seiner ersten Reise in die Zukunft erreicht Wells das Jahr 802.701. Dort findet er die Welt von zwei gegensätzlichen Arten von Lebewesen menschlicher Abstammung bewohnt, die sich im Verlauf von Jahrtausenden zu zwei Menschenrassen weiterentwickelt haben: den oberirdisch lebenden Eloi und den unterirdischen Morlocks (in der deutschen Übersetzung Morlocken). Wir sind zwar erst im Jahre 2017, doch die Spaltung der Weltbevölkerung in wenige Superreiche und alle Übrigen weist doch in Richtung der von Wells beschriebenen Zustände. Während Proust die Vergangenheit vergoldet, entwirft Wells eine negative Utopie. Es gibt zwar keine Konfrontation, geschweige denn Revolution, aber auch keine Gerechtigkeit. Dieser Zustand äußert sich emotional in einer Art von Gleichgültigkeit ohne gegenseitige Hilfeleistung. Besondere Bedeutung hat auf der Zeitreise die Begegnung mit einem zarten Geschöpf aus der Spezies der Eloi, die der Zeitreisende vor dem Ertrinken rettet. Sie erweist sich als dankbar wie ein Kind: »Dann versuchte ich zu plaudern und fand, dass sie Weena hieß; ich wusste zwar nicht, was der Name bedeutet, aber irgendwie schien er mir passend genug« (61). Der Roman gibt keine weitere Erklärung für den Namen, aber die Handlung deutet darauf hin, dass es sich bei Weena um eine Art Kindsfrau handelt, der gegenüber der Reisende zwischen Zuneigung und Ablehnung schwankt. Trotz aller evolutionären Veränderungen bleibt mit Weena das Liebesleben mit seinen ambivalenten Gefühlen so, wie es war, wie es ist und wie es immer sein wird. Zwar betrachten Soziologen wie Niklas Luhmann die moderne Liebe nicht mehr als romantisches Gefühl, sondern als symbolischen Code der schwierigen Verständigung zwischen den Geschlechtern, aber dadurch wird die »zwischenmenschliche Interpenetration« von Mann und Frau auch in Zukunft nicht aufgehoben (Luhmann 1994, 200). Trotz der alarmierenden Ankündigung, dass es mit dem Sex definitiv zu Ende geht, die Liebe bleibt ein »unordentliches Gefühl« (Greely 2016; Precht 2010).
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Die zwanziger Jahre Ein Blick auf die Epoche nach Erscheinen der Zeitmaschine von Wells, die für uns heute allerdings auch schon Vergangenheit ist, zeigt, wie tiefgreifend sich Lebensgefühle ändern. Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Nostalgie des ausgehenden 19. Jahrhunderts verflogen und ein zukunftsorientiertes Lebensgefühl hat sich breit gemacht. Das Lebensgefühl der Roaring Twenties in Berlin ist häufig überschwänglich beschrieben worden. Walter Hasenclever hat das Jahrzehnt von 1920 bis 1930 an der Figur seiner Freundin Oktavia festgemacht, die durch und durch ein Geschöpf dieser Zeit war: »Mit all ihrer Schwäche und Unzulänglichkeit. Aber auch mit der ganzen Sehnsucht ihres Herzens, das Leben bis zur Neige auszukosten.« Hasenclever ist davon überzeugt, dass die Frau stärker als der Mann für epochale Lebensgefühle empfänglich ist: »Aber die Atmosphäre der Zeit, der sie als Frau in besonderem Maße unterlag, erzeugte diesen eigenartigen Typus erotischer Wandlungs fähigkeit … Sie hatte etwas Universales. Freilich nur das Universale einer einmaligen Epoche« (Hasenclever 1969, 192). Dieses einmalig Universale der Weimarer Republik mit ihren Brechungen und Vorzeichen kommender Katastrophen hat Erich Kästner in Fabian. Die Geschichte eines Moralisten geschildert. Die seelische Depression, die während der Weltwirtschaftskrise die Menschen in Berlin befallen hat, fällt dem Moralisten besonders beim weiblichen Geschlecht auf, das unter den Verhältnissen stark zu leiden hatte. So ist es nicht verwunderlich, dass es der »NS-Frauenschaft« gelang, bei Mädchen und jungen Frauen massenhafte Begeisterung und den Glauben an eine bessere Zukunft zu erwecken. Selbst als sich im Krieg die Niederlage abzeichnet, dominiert das trotzige Gefühl des Durchhaltens der Menschen an der »Heimatfront«. Der greise Gerhard Hauptmann hat das zum Kriegsende auf den Punkt gebracht: »Ob einer sich leben fühlt, und wie er sich leben fühlt – das ist wichtig, und darauf kommt es an … Solange der Mensch von diesem Strom getragen wird, gehört er zur Welt und die Welt zu ihm; solange lebt er und hat alles andere, Sehen und Hören, und was es sonst noch gibt, von selber« (Fechter 1948, 106). Hier überwindet das individuelle Lebensgefühl die Zeichen der Zeit, die im Sauseschritt über die Welt läuft. 100 | Kapitel VI
Am 8. Mai 1945 war der Krieg in Deutschland zu Ende, aber es hat noch einige Jahre gedauert, bis das Faktum in das Gefühlsleben der Menschen eingedrungen war. Denn Lebenswirklichkeit ist für die Menschen das, was sie empfinden und woran sie sich gewöhnt haben. Erst als im Jahre 1950 der Wirtschaftsminister Ludwig Erhard das Ende der Nachkriegszeit verkündete, war für viele Deutsche der Krieg auch mental überwunden. Hier haben wir die Umkehrung des von Fechter geschilderten Gefühls eines Epochenwandels, der dort vor dem Beginn, hier nach dem Ende des Krieges von den Menschen emotional realisiert wurde. »Wer spricht von Siegen, überstehn ist alles«, so lautet der Rilke-Vers, mit dem Gottfried Benn das Lebensgefühl seiner Generation gekennzeichnet hat, zumal längst ein neuer Kalter Krieg begonnen hatte.
Lust jetzt! Ein weiterer epochaler Umbruch des Lebensgefühls erfolgte in den 1970er Jahren im Schatten des Vietnamkriegs. Hier decken sich die realen und die emotionalen Bedingungen weitgehend, aber es war ein lang hingezogener Prozess, der in Nordamerika und in Europa pazifistische Gefühle erweckte. Die gesellschaftspolitische Ausrichtung ergreift die junge Generation, die auf Liebe statt auf Krieg setzt. Vorbereitet ist dieser Stimmungswechsel durch die BeatGeneration der 1950er Jahre, die in Jack Kerouacs On the Road (dt. Unterweges, 1959) ihren prominentesten Vertreter gefunden hat. Ziellos durchstreift der Anti-Held Amerika auf der Suche nach einer besseren Welt. Er wird von Emotionen überwältigt und bemerkt, dass die Herausforderungen dieses weiten Landes ihn überfordern. In der »BRD« bäumt sich Bernward Vesper in Die Reise (erschienen 1977) gegen die Verdrängung der Vergangenheit der Väter auf. Er macht die inneren Widersprüche seiner Zeit öffentlich, endet dabei allerdings in der Psychiatrie. Alles in allem kein trauriger Abschied von der Vergangenheit, auch keine futuristische Vision einer besseren Welt, sondern der zeitlose Vorschein einer scheinbar grenzenlosen Freiheit über den Wolken. Über den Wolken bewegt sich auch Erica Jongs Roman Angst vorm Fliegen (1976), der zum Kultbuch der Generation emanzipierGelebte Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft | 101
ter Frauen wird. Auf der Reise kreuz und quer durch Europa erkennt die Heldin Isadora Wing, dass das totale Ausleben sexueller Wünsche nicht die Freiheit schenkt, von der sie träumt. »Das Leben kennt keinen vorgefassten Plan« lautet ihr Lieblingssatz. Aber die Planlosigkeit belegt, dass das moderne Lebensgefühl der »freien Liebe« zwischen Freiheit und Bindung schwankt. Am Ende siegt doch die Einsicht, dass ohne die Anerkennung der Polarität der Geschlechter ein gutes Zusammenleben von Mann und Frau nicht gelingt. So ist es wohl bis heute geblieben. Das postmoderne My-WayLebensgefühl der Risikogesellschaft, das dem Einzelnen »Selbstverwirklichung« verspricht, war zweifellos ein Schritt nach vorn. Das Abwerfen aller Zwänge, das Auslüften des »Muffs von tausend Jahren« weckt Hoffnungen, doch das Versprechen eines neuen Lebens wird nur selten einlöst. Selbstverwirklichung kann den einzelnen Menschen überfordern und zum Trauma werden. Schon in Kerouacs On the Road fragt sich der Ich-Erzähler: »Hast du denn noch nicht genug von dir selbst?« Die Antwort ist immer dieselbe: Nein, die junge Generation hat nie genug von sich selbst, ihr Lebensgefühl sucht stets neue Erregungen. »Lust jetzt« lautet die Parole zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wobei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich überschneiden und verschmelzen. Entsprechend paradox klingen die Selbstcharakteristiken der jungen Menschen von heute: »phantastische Realisten«, »fröhliche Fatalisten« oder Ähnliches.
Uhren ohne Zeiger Zum Begriff der gelebten Zeit ließe sich noch manches sagen (Minkowski, E. 1933; Kubler 1962). Doch schon die angeführten Belege und Überlegungen lassen erkennen, dass sich die Menschen auf die Suche nach einer neuen, die Parameter der biologischen Zeit sprengenden künstlichen Zeit begeben haben. Die Zeitmaschine erzeugt einen neuen »Maschinenmenschen«, der weit über das hinausgeht, was La Mettrie im 18. Jahrhundert vorschwebte (La Mettrie 1990). Die synthetische Biologie ist auf dem Weg, komplette künstliche biochemische Systeme zu erzeugen. Wie wird das Zeiterleben die102 | Kapitel VI
ser Geschöpfe beschaffen sein? Um sie überhaupt noch als Mitmenschen zu bezeichnen, brauchen sie ein Gefühlsleben, das mit unserem Lebensgefühl kompatibel ist. Immerhin hat auch La Mettrie seinen Maschinenmenschen mit Gefühlen ausgestattet, unter denen die sexuelle Lust an erster Stelle steht. Uhren ohne Zeiger verweisen auf die offene Zukunft des Menschengeschlechts. Niemand, kein Individuum, kein Volk weiß, wem die Stunde schlägt, aber jeder fühlt, wie die Vergangenheit in die Gegenwart eingreift und die Zukunft hinter dem Schleier des gelebten Augenblicks aufscheint. Auf der sentimentalen Reise in die Vergangenheit und in die Zukunft sind wir wieder dort angekommen, wo wir begonnen haben: in der Gegenwart. Was wir von der Reise durch die Zeit mitbringen, sind keine neuen Erkenntnisse, doch die Gewissheit, dass die objektive Zeit nicht alles ist. Im imaginären Museum des inneren Zeitbewusstseins haben wir drei Typen der Zeitlichkeit kennengelernt: vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsorientiertes Erleben. Aus der historischen Distanz erscheint uns der Geist vergangener Zeiten als schnell vergänglich und obsolet, aber es besteht kein Zweifel daran, dass die Zeitgenossen ihre Zeit als dauerhaft und selbstverständlich empfunden haben. Die Zeit verdichtet sich zu Lebensgefühlen mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Daraus geht hervor, dass das Zeiterleben der Menschen ihre Selbsterfahrung stärker als andere Faktoren prägt.
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Kapitel VII Absoluter Raum und gefühlte Räume
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ach der Erörterung der Zeitlichkeit als Lebensgefühl nun einige Klärungen hinsichtlich des Raumbegriffs. Der Begriff des Raumes hat eine lange und verwickelte Geschichte. An ihr lässt sich verfolgen, wie die gefühlsbetonte Raumerfahrung abgelöst wird vom abstrakten Raum der reinen Ausdehnung. Euklidische Geometrie und klassische Mechanik haben den Raumbegriff, in dem der Gesichtssinn dominiert, wissenschaftlich etabliert. Der Sehraum hat sich vom Hörraum und vom Tastraum emanzipiert und in Newtons Begriff des absoluten Raumes seine definitive Form erhalten (Jammer 1960; Cornford 1936).
Der empirische Ursprung der Raumanschauung Immanuel Kant hält an der Realität des absoluten Raumes von Newton fest. Zugleich aber vertritt Kant die transzendentale Idealität des Raumes als Anschauungsform. Die Subjektivität des Raumes hat die Psychologie im 19. Jahrhundert stark beeinflusst (Jammer 1960, 154). Auch die Verhaltensforschung hat an Kants Subjektivierung des Raumes angeknüpft. Jakob von Uexküll hat in seinem Buch Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen dargelegt, wie jedes Lebewesen seine eigene Umwelt erlebt. Allgemein bekannt ist das Beispiel der Zecke, die nur drei Sinne besitzt und reflexartig reagiert. Wenn die Verhaltensbiologie das Zeckenleben heute auch weitaus differenzierter beurteilt, von Uexküll behält darin recht, dass er für das Tierleben die Sinnesempfindungen zum Leitfaden nimmt. Entsprechend interpretiert von Uexküll Kants Raumbegriff im Sinne eines subjektiven Relativismus, in dem alle Sinne an der Bildung eines spezifischen »Umweltraumes« beteiligt 104 |
sind (von Uexküll 1956, 30 ff.). Auch uns Menschen ist die Welt durch Sinnesempfindungen, durch Hören, Sehen, Fühlen usw. haut-nah oder auch -fern gegeben. Die Sinne liefern Daten, aus denen unser Gehirn ein Bild der räumlichen Wirklichkeit macht, in der wir leben. Doch anders als die Tiere sind Menschen in der Lage, ihren Umwelthorizont in der Vorstellung zu überschreiten. Insofern lebt der Mensch in Umwelt und Welt zugleich, was die »Weltoffenheit« ausmacht, die Jakob von Uexküll in seiner Umweltlehre zu wenig berücksichtigt hat. Wahrnehmungspsychologie und Gestaltpsychologie sowie die biologische Umweltlehre und die Anthropogeographie haben den Weg bereitet für die Entfaltung eines integralen Begriffs des Lebensraumes in der Kulturwissenschaft. Eine Schlüsselrolle kommt neben Friedrich Ratzel, der 1901 eine Studie unter dem Titel Der Lebensraum veröffentlicht hat, dem Afrikaforscher Leo Frobenius zu. Vor dem Hintergrund des Kolonialismus hat Frobenius um 1900 den biologischen »Umweltraum« als »Lebensraum« gegen den bloß vermessenen Raum ausgespielt; der Lebensraum erzeuge ein bestimmtes »Seelenraumgefühl« (Frobenius 1921, 93; 99). Frobenius unterscheidet gegensätzliche Formen des Raumgefühls, das der Höhle und das der Weite (94). Entsprechend gibt es zwei Formen der Kultur: »Flachkultur« des Dorfes und »Hochkultur« der Städte in Afrika. Dieses Schema überträgt Frobenius auf Europa (11 ff.). Die Großstadtbildung bewertet er negativ als »Tod für alles Geniale« (93 f.). Darin sieht sich Frobenius durch Oswald Spengler bestätigt, kritisiert aber, dass dieser sich allein an die Hochkulturen hält und an der Erforschung der »primitiven« Kulturen vorübergeht (107 f.; vgl. Koktanek 1968, S. 332 ff.) Im Anschluss an die Kulturkreislehre von Frobenius hat Spengler in Der Untergang des Abendlandes einen organizistischen Begriff der Kultur entwickelt (Spengler 1920/1921, Band I, 29). Alle Kulturen folgen einem festen Ablaufschema, das den Phasen des individuellen Lebenslaufs entspricht. Leben beschränke sich nicht auf rationales Problemlösen, sondern sei Verwirklichung des seelisch Möglichen, das in spezifischen Lebensgefühlen seinen Ausdruck findet, wie Spengler in dem Abschnitt »Seelenbild und Lebensgefühl« ausführt (I, 405 ff.). Laut Spengler ist das für eine Kultur spezifische Lebensgefühl oder Weltgefühl geprägt durch Absoluter Raum und gefühlte Räume | 105
das Raumerleben, das im Kapitel »Das Raumproblem« abgehandelt wird ( 233 ff.). Der erlebte Raum als ein Raum im Werden, als ein lebendiger Akt fungiert als »Ursymbol einer Kultur« (243). Die antike Kultur, die Spengler »apollinisch« nennt, habe den Raum als Tastraum, als körperlichen Nahraum (»soma«, 254) erlebt. Die faustische Kultur des Abendlandes dagegen erlebt den Raum als Weite, wobei unter »Weite« nicht bloß Ausdehnung zu verstehen ist, sondern ein dynamischer Drang der Grenzüberschreitung. Es geht also um eine Geisteshaltung, um ein Lebensgefühl der »Vertiefung« (233). In der Spätphase der Kultur, in der sich Europa befinde, erstarrt laut Spengler das dynamische Raumerleben zum geometrischen Raum. Spengler hat seine These in intensiver Auseinandersetzung mit Kants Auffassung vom Raum als Anschauungsform a priori untermauert. Bei der Subjektivierung des Raumes habe Kant nicht beachtet, dass die Form der Anschauung eine Funktion der Distanz ist (235). Kant habe sich zu sehr auf die euklidische Geometrie verlassen und als rein abstrakt denkender Theoretiker sei er nicht empfänglich gewesen für den Antagonismus zwischen der Flächenwelt und der Tiefendimension der lebendigen Anschauung. Das Tiefenerlebnis übersteigt für Spengler den geometrischen Raumbegriff, der abstrakt und blutlos ist. Gegen den erkenntnistheoretischen Ansatz spreche auch die ästhetische Erfahrung, etwa die Landschaftsmalerei. In der mathematischen Naturwissenschaft wird nach Gründen gesucht, statt sich ins Werden einzufühlen (Spengler II, 121 ff.) Für Spengler findet das Raumerleben des faustischen Menschen in der Stadt seinen stärksten Ausdruck. Die Großstadt repräsentiert die Zivilisation, markiert also den Untergang des Abendlandes. Entsprechend werden Intellektualismus, Individualismus und Demokratie kritisiert, wie es in der konservativen Kulturkritik der Weimarer Republik üblich war. Spengler schildert das Lebensgefühl der Weltstadt im zweiten Band im Kapitel »Städte und Völker«, wo der Aufstieg von New York beschrieben wird (111). Er gibt auch einen Ausblick auf die Zeit nach 2000, in der laut Spengler in riesigen Stadtanlagen der Übergang von der Kultur zur Zivilisation abgeschlossen sein wird (119). Die Weltstadtmenschen verkörpern die »letzten Menschen« (121 ff.). In Spenglers Typologie der 106 | Kapitel VII
Großstadtbewohner dominiert die emanzipierte Frau, die ihre angestammte Rolle als Mutter hinter sich lässt (I, 32; II, 124). Spaßgesellschaft, Pazifismus, »Ibsenweib« (124) lauten die Stichworte der neuen Eliten. Spengler spricht auch von »intellektuellen Nomaden« in der »absoluten Stadt« (105, 117). Spengler plädiert zwar für den kulturellen Pluralismus, hält aber doch an der Überlegenheit der »faustischen Kultur« fest, was in der Industrialisierung und Urbanisierung zum Ausdruck komme. Das Lebensgefühl des modernen Menschen sei durch das Auge als Fern-Sinn geprägt, der zugleich ein Machtgefühl ausdrückt, das dem Geist der Urbanisierung entspricht. Vom Raum der Großstadt gehe trotz seiner fortgeschrittenen Mechanisierung eine unwiderstehliche Faszination aus. Die Gegensätzlichkeit des urbanen Lebensgefühls, in dem sich Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremdheit treffen, hat Georg Simmel in seinem Klassiker Philosophie des Geldes (1900) dargestellt. Er legt zwar Wert auf die Feststellung, dass er die Zirkulation des Geldes nicht psychologisch, sondern rein formallogisch betrachtet, doch kommt er nicht umhin, im zweiten Teil seines Buches auf die Bedeutung der Geldwirtschaft für den Lebensstil der Großstadtbewohner und ihr damit verbundenes Lebensgefühl einzugehen. Dabei geht es darum, die Wirkungen der Ökonomie auf die innere Welt der Menschen aufzudecken: »auf das Lebensgefühls der Individuen, auf die Verkettung ihrer Schicksale, auf die allgemeine Kultur« (Simmel 1958, VI). Am Beispiel Berlins, wo Simmel sein Leben zugebracht hat, zeigt er, wie durch die Zirkulation des Geldes das Leben an Tempo zugenommen hat und durch das rechnende Wesen die Einheit der Persönlichkeit aufgelöst wird: »Zwischen dieser Sonderung und der Zusammengehörigkeit unserer Daseinsmomente pendelt unser intimstes Lebensgefühl: bald scheint einem das Leben nur so erträglich, dass man sein Glück und seine Höhen in reiner Absonderung von allem Leid und allem Stumpfen genießt, wenigstens diese spärlichen Momente von jeder Berührung mit dem Darunter- oder Gegenüberliegenden frei hält. Und dann wieder erscheint es einem als die größte, ja die eigentliche Aufgabe, Lust und Leid, Kraft und Schwäche, Tugend und Sünde als eine Lebenseinheit zu fühlen, eines die Bedingung des anderen, jedes weihend und geweiht« (Simmel 1958, 75). Sieht man Absoluter Raum und gefühlte Räume | 107
einmal vom Pathos dieser Aussagen ab, so lassen sie doch erkennen, wie das rechnende Wesen der modernen Stadt schon um die Jahrhundertwende ein in Äußerlichkeit und Innerlichkeit gespaltenes Lebensgefühl erzeugt hat. Der amerikanische Soziologe David Riesman unterscheidet in Die einsame Masse (1950) zwischen dem innen-geleiteten und dem außen-geleiteten Menschen. Letzterer ist der typische Stadtmensch, der gelernte Konsument, der auch die Sexualität als Ware betrachtet. Auf dieser Linie bewegt sich auch der Typus des »unbehausten Menschen«, den Egon Holthusen nach dem Zweiten Weltkrieg geschildert hat. So erweist sich das moderne Lebensgefühl bedingt durch das kapitalistische Wirtschaftssystem, das die urbanen Lebensräume beherrscht. Dadurch wird das Lebensgefühl in sich widersprüchlich, es verbindet Heimatgefühle der Geborgenheit mit der Freiheit der anonymen Lebenswelt. In diesem Spannungsgefüge liegt die beunruhigende Aktualität großstädtischer Raum erfahrung, die mit dem Leben der antiken Stadt nicht vergleichbar ist.
Lebensgefühle fremder Räume Räumliche Lebensbedingungen wie geographische Lage, Klima, Vegetation und anderes prägen die Lebensformen. Was die Ethno logen »Kulturkreise« oder »patterns of culture« genannt haben, hängt von äußeren Bedingungen ab. Wichtiger aber ist die Art und Weise, wie Menschen ihre Lebensformen empfinden. Insofern gehören Lebensstile und Lebensgefühle zusammen, sie beeinflussen sich wechselseitig. Allgemein gilt: Jedes Land erzeugt ein unverwechselbares Lebensgefühl, das dem Besucher fremd bleibt. Erst wenn man sich länger dort aufhält, teilt sich dieser Seelenzustand mit, verbreitet sich in uns wie ein Fluidum, das man mit der Luft in sich aufnimmt. In Abwandlung von Truman Capotes Buch Andere Stimmen, andere Räume (1948) erfahren wir: Andere Räume, andere Lebensgefühle. Auch Vladimir Nabokov führt in seinem Roman Lolita die Leser in andere Räume auf der Suche nach neuen Lebensgefühlen. Nabokovs Held begibt sich, getrieben von seiner Leidenschaft, mit Lolita auf eine Reise im Auto durch nahezu alle Staaten der 108 | Kapitel VII
USA. Das Amerika der Highways wird für ihn zum Alptraum. Die Landschaften, die sie durchfahren, setzen sich aus Bildern zusammen, die sich dem jungen Autor in Europa eingeprägt haben. Sein Lebensgefühl schwankt zwischen Faszination und Enttäuschung: »Wir waren überall gewesen, hatten in Wirklichkeit jedoch nichts gesehen. Und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass unsere lange Reise das herrliche, vertrauensvolle, träumerische, unermessliche Land nur mit einer gewundenen Schleimspur befleckt hat …« (Nabokov 1964, 186). Man kann das als eine Allegorie für die ambivalente Bindung des russischstämmigen Autors an Amerika lesen, an das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Entsprechend gespalten ist sein Lebensgefühl, das Vertrautheit und Fremdheit, Liebe und Hass verbindet. Ähnlich bei Sherwood Anderson, der ein halbes Jahrhundert vor Nabokov im Mittelwesten der USA aufgewachsen ist. Seine Beschreibungen, die in dem Band Winesburg, Ohio (1919) gesammelt sind, evozieren das Lebensgefühl von Kleinstadtbewohnern, deren Mentalität durch den Puritanismus geprägt ist. In den Geschichten geschieht nichts Aufregendes. Es geht um Situationen des Zusammenlebens, in denen die elementaren Triebe und Bedürfnisse zum Ausdruck kommen. Die unvergleichlich fruchtbare »Panslandschaft« (so hat sie Cesare Pavese genannt) des Mississippi bildet den Hintergrund erotischer Gefühle, die sich nicht in Handlungen artikulieren können, sondern als dumpfes Lebensgefühl den Raum erfüllen.
Meere und Gebirge Meere und Gebirge sind die geographischen Räume, die wie Straße und Haus elementare Lebensgefühle erzeugen. Thomas Mann schildert in Buddenbrooks die Gefühle, die Thomas Buddenbrooks bei seinem Aufenthalt im »Seetempel« erfüllen: »›Breite Wellen …‹ sagte Thomas Buddenbrook. ‚Wie sie daherkommen und zerschellen, daherkommen und zerschellen, eine nach der anderen, zwecklos öde und leer. Und doch wirkt es beruhigend und tröstlich, wie das Einfache und Notwendige. Mehr und mehr habe ich die See lieben gelernt … vielleicht zog ich ehemals das Gebirge nur vor, Absoluter Raum und gefühlte Räume | 109
weil es in weiterer Ferne lag … Sichere, trotzige, glückliche Augen, die voll sind von Unternehmungslust, Festigkeit und Lebensmut, schweifen von Gipfel zu Gipfel, aber auf der Weite des Meeres, das mit diesem mystischen und lähmenden Fatalismus seine Wogen heranwälzt, träumt ein verschleierter, hoffnungsloser und wissender Blick …« (Mann, Th. 1989, 671 f.). Diese Betrachtung lässt erkennen, dass Gefühle mit implizitem Wissen verbunden sind. Das durch die Raumerfahrung bestimmte Lebensgefühl, hier durch die Melancholie des Betrachters gefärbt, wird von den Bewohnern beider Landschaften allerdings als Normalität empfunden. Dafür zwei Belege: die Bewohner Norddeutschlands und die Bayerns. Der Norddeutsche und der Bayer werden in der Alltagspsychologie als gegensätzliche Menschentypen betrachtet. Es handelt sich um Unterschiede in der Mentalität, wenn man davon reden darf. Mentalitäten mögen epigenetisch entstanden sein, aber es sind doch gefühlsmäßige Einstellungen, die den Lebensformen entsprechen. Dabei spielen räumliche und klimatische Unterschiede eine prägende Rolle, so etwa bei Norditalienern und Süditalienern. Die Verschiedenheiten können sich in abwertenden Vorurteilen niederschlagen, wenn die Süditaliener im Norden »Terroni« genannt werden. Um zu erfahren, wie fremde Räume auf Menschen wirken, begeben wir uns auf Zeitreisen in fremde Länder. Heute, im Zeitalter des Massentourismus, ist es allerdings gar nicht mehr so einfach, Ferne zu erleben. Traumschiffreisende werden auf Landausflügen zu Kulturdenkmälern geführt und müssen folkloristisch aufgeputzte Vorführungen von »Eingeborenen« über sich ergehen lassen. Da hatte es im 18. Jahrhundert der französische Seefahrer Louis-Antoine de Bougainville, wie man es in seiner Reise um die Welt nachlesen kann, eindeutig besser. Auf der paradiesischen Insel Tahiti geben er und seine Matrosen sich nach anfänglichem Zögern der dort herrschenden Freiheit der Liebe hin, die so gar nichts mit der Verlogenheit der Sexualmoral ihrer Heimat zu tun hat. Allerdings macht sich Bougainville keine Illusionen hinsichtlich der Naivität der sogenannten Naturvölker. Gerade bei der Einschätzung fremder Lebensgefühle ist die Gefahr groß, Schein für die Wirklichkeit zu halten, denn wie es innen aussieht, bleibt uns meist verborgen. 110 | Kapitel VII
Ausgangspunkt unserer Zeitreisen, begleitet von literarischen Reiseführern, ist eine Stadt im Ruhrgebiet, deren Strukturwandel 1968 Erika Runge in Bottroper Protokolle dargestellt hat. Trotz der tiefgreifenden Veränderung der Arbeitswelt verlieren die Betroffenen ihren Optimismus nicht. Wir hätten auch einen anderen Ausgangspunkt wählen können, doch die elementaren Lebensgefühle sind überall die gleichen. Bottrop ist nirgendwo und überall. Voltaire hat in seiner philosophischen Erzählung Micromégas das alte Motiv »genau wie bei uns« auf die Spitze getrieben. Der große Siriusbewohner, »Kleingroß« genannt, und ein Bewohner des Saturn unternehmen eine »naturphilosophische Reise«, die sie auf die Erde führt. Die Menschen, die sie dort treffen, sind von sich genauso überzeugt wie sie selbst und bestätigen damit die Feststellung, dass überall »ein unbestimmtes Sehnsuchtsgefühl« anzutreffen ist: »Ich bin etwas umhergereist und habe Sterbliche gesehen, die weit unter uns standen, und andere, die uns sehr überlegen waren, aber nirgends habe ich welche getroffen, die nicht mehr Wünsche als tatsächliche Bedürfnisse und mehr Bedürfnisse als Befriedigung hatten« (Voltaire 1976, 249). Wenn auch überall Erwartung und Erfüllung nicht zur Deckung kommen, so wird diese Spannung doch verschieden interpretiert und literarisch gestaltet. So treffen wir auf unserer Reise in imaginäre Räume andere Typen des Lebensgefühls, in denen vertrautes Verhalten und fremde Vorstellungen verschieden gemischt sind.
Unser Inneres Afrika Noch bevor Afrika restlos zur Beute des europäischen Kolonialismus wurde, hat der bereits erwähnte Afrika-Forscher Leo Frobenius den »dunklen Kontinent« mit der Seele gesucht. In Analogie zu Oswald Spenglers Kulturmorphologie geht es Frobenius darum, sich in das Seelenhafte oder, wie er es nennt, das »Paideuma« einer Kultur einzuleben, einzufühlen (Frobenius 1921, 12). Wie bereits ausgeführt, unterscheidet Frobenius zwei Formen des gelebten Raumes oder des Raumgefühls: Welthöhle und Weltweite, Innengefühl und Außengefühl. Sie prägen die Urformen der Kultur. In der Kulturgeschichte Afrikas wendet sich Frobenius gegen die positivisAbsoluter Raum und gefühlte Räume | 111
tische und zweckrationale Betrachtungsweise der Kulturen, wie sie bei Edward Tylor und Herbert Spencer anzutreffen ist. Das bedeutet aber nicht, dass Frobenius dem Biologismus oder gar dem Rassismus das Wort redet. Im Gegenteil: Er macht einen Unterschied zwischen Sein und Spiel, eine Disjunktion, die den Wandlungen des Lebensgefühls gerecht wird. Frobenius versteht Spiel als eine ernste Sache, als die dem Menschen eigene Form des Ergriffenseins (Frobenius 1960, 20 ff.). Kulturelle Wirklichkeit ist immer gespielt, da im Spiel die Emotionen intensiver sind als in der Wirklichkeit. Dabei ist der Anschluss an Friedrich Schiller offenkundig, der den »Übergang von bloßen Lebensgefühlen zum Schönheitsgefühl« auf die Freude am Spiel zurückführt (Schiller 1956, II, 590). Für Schiller gibt es im Schönheitsgefühl keinen Unterschied zwischen Aktivität und Passivität, »und die Reflexion zerfließt hier so vollkommen mit dem Gefühle, dass wir die Form unmittelbar zu empfinden glauben. Die Schönheit ist also … zwar Form, weil wir sie betrachten, zugleich aber ist sie Leben, weil wir sie fühlen. Mit einem Wort: sie ist zugleich unser Zustand und unsere Tat« (589). Ob Schiller mit seinem Begriff »Spieltrieb« der ästhetischen Erfahrung gerecht wird, hat schon Frobenius bezweifelt, und Johan Huizinga ist ihm darin gefolgt (Huizinga 1956, 23 f.). Aber das schmälert nicht das Verdienst Schillers, die Schönheit aus dem Ideenhimmel geholt und an das Lebensgefühl gebunden zu haben. Auf Reisen nach Afrika finden wir heute das Gegenteil dessen, was Frobenius um 1900 im schwarzen Kontinent erspürt hat. Sobald man die internationalen Hotels verlässt, sieht man sich in vielen afrikanischen Staaten mit chaotischen sozialen Lebensbedingungen konfrontiert. Korruption der Herrschenden, Kindersoldaten und Prostitution sind nicht selten. Dabei fühlt man sich an Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis (1899) erinnert. Die Hauptfigur, der Elfenbeinhändler Kurtz, der im Urwald ein Schreckensreich errichtet hat, ist einerseits ein gefühlskalter Funktionär, andererseits ein Gefühlsmensch, der seine Umgebung durch seine Ausstrahlung in den Bann schlägt. »Seine Gefühle waren zu stark für die Sprache« und seine Stimme wirkte stets »gesättigt von all den Emotionen« (Conrad 2004, 91; 93). Die überquellenden Emotionen spiegeln sich in der Gestalt seiner dunkelhäutigen Geliebten, die, von einem unbezwingbaren Verlangen getrieben, die 112 | Kapitel VII
Wildnis durchstreift. Bei ihrem Erscheinen schweigt der Urwald: »Und in der Stille, die sich jäh über das ganze trauervolle Land gelegt hatte, schien die unendliche Wildnis, der gewaltige Körper des fruchtbaren und geheimnisvollen Lebens auf sie zu blicken, nachdenklich, als blicke er auf das Bild seiner eigenen dunklen und leidenschaftlichen Seele« (Conrad 2004, 94). Außenwelt und Innenwelt verbinden sich hier zu einem überwältigenden Lebensgefühl, das zwischen aggressiver Gier und melancholischer Sehnsucht schwankt – ein tragisches Lebensgefühl, das um die Wende zum 20. Jahrhundert die Europäer wie ein Vorschein der kommenden Katastrophen überfallen hat. Sicherlich arbeitet Europa die Schrecken des Kolonialismus auf, und wir haben heute mehr Einsicht in die Tiefen unseres Unbewussten. Doch die Begegnung mit Spuren König Leopolds in den Trümmern von Belgisch-Kongo erfüllt uns immer noch mit Grauen. Wir spüren, dass das Projekt der Aufklärung nicht vollendet ist, vielleicht nie vollendet sein kann, da die Emotionen in ihrer unaufhebbaren Ambivalenz uns immer wieder auf die Reise ins Herz unserer eigenen Finsternis schicken.
Hier und dort Wieder zurück in Deutschland wird uns klar, dass wir bei der Einfühlung in andere Lebensräume den gleichen Schwierigkeiten begegnet sind, mit denen wir es auf der Zeitreise zu tun hatten. Wie das Lebensgefühl die mechanische Zeit der Uhren in menschliche Zeit verwandelt, ergreift uns der gelebte Raum als Heimat oder als Fremde. Wir haben bemerkt, dass das Fremde, das uns abstößt oder fasziniert, zum großen Teil eine Projektion unseres eigenen Lebensgefühls ist. Manchen mag daher die Lust am Reisen vergangen sein, so wie es der Dichter Peter Paul Althaus seinem Helden Dr. Enzian nachsagt: »Dr. Enzian, als Existentialist, beweist den Begriff des Daseins, dass er nie verreist. Wenn er reise, sagt er, würd er fort sein, und sein Dasein wäre dann ein Dortsein.« Absoluter Raum und gefühlte Räume | 113
Diese existenzphilosophische Karikatur kann uns nicht davon abhalten, das Weite zu suchen – und im Eigenen zu finden. Nur so sind Menschen in der Lage, fremde Kulturen zu respektieren, ohne ihr Heimatgefühl aufzugeben. Dabei sind Mechanismen der Anpassung wirksam, die anders als im Tierreich flexible Formen aufweisen. Die primäre Anpassung an die eigene Umwelt, die den generellen Charakter prägt, wird überlagert durch sekundäre Anpassungen, durch die sich das Individuum auch in fremden Umwelten arrangiert. Hier liegt die Quelle der Toleranz, die das menschliche Bewusstsein auszeichnet. Das Bewusstsein ist an Werte gebunden, die allgemein gelten, entspringt aber Lebensgefühlen, die in Zeitlichkeit und Räumlichkeit fundiert sind.
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Kapitel VIII Lebensgefühle in der globalen und digitalen Welt
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ange Zeit gehörte es auch in Europa zum guten Ton, seine Gefühle zu unterdrücken, »Contenance« zu wahren und Haltung zu zeigen. Wie nie zuvor in der Kulturgeschichte prägen heute die Emotionen das Selbstverständnis der Menschen. Im Zuge der Individualisierung und Subjektivierung des Glücks kann jeder seinen Emotionen freien Lauf lassen. Die großen und die kleinen Gefühle führen nicht nur Regie im »Herz-Kino«. Im Arbeitsleben vollzieht sich eine Umstrukturierung der Abläufe im Hinblick auf die persönlichen Bedürfnisse der Beschäftigten. Darauf hat sich die Unternehmenskultur längst eingestellt. Auch im alltäglichen Umgang der Menschen miteinander hat sich ein expressiver Individualismus entwickelt, der dem Einzelnen das Gefühl vermittelt, als bedeutende Persönlichkeit wahrgenommen zu werden.
Virtuelle Räume Hinsichtlich der räumlichen und der zeitlichen Dimension sind neue Lebensgefühle entstanden. Für die Veränderungen des Raumbewusstseins haben die modernen Verkehrsmittel eine zentrale Rolle gespielt. Nicht nur, dass man in kürzester Zeit ungeheure Entfernungen überwindet, sondern dass die Geschwindigkeit neu erlebt wird. Zunächst war es das Fahrgefühl im alten D-Zug mit dem rhythmischen Klopfen der Räder, heute ist es der Intercity, der das Gefühl des Dahingleitens wie im Flugzeug vermittelt. Unübertroffen ist die emotionale Wirkung, die vom Auto ausgeht. Das mit dem Auto verbundene Fahrgefühl hat die Welt verändert, das Lebensgefühl beschleunigt. Die Rock-Gruppe »Kraftwerk« hat 1974 das Fahrgefühl auf der Autobahn vertont und so in unser Gehirn eingebrannt. | 115
Den Begriff »Globalisierung« hat der US-amerikanische Zukunftsforscher John Naisbitt populär gemacht. In seinem Buch Megatrends (1982) beschrieb er am Beispiel der Autoindustrie die Funktionsweise der Globalisierung. Das Phänomen der Globalisierung wurde lange, bevor es diesen Begriff gab, diskutiert. So beschrieb Karl Jaspers 1930 in seiner Schrift Die geistige Situation der Zeit die Vereinheitlichung des Planeten als einen »Prozess der Nivellierung«, »den man mit Grauen erblickt«. Jaspers benennt ein Merkmal, durch das sich die Globalisierung seiner Zeit von anderen Veränderungen unterscheidet. Der Globus sei nicht nur zu einer Verflechtung von Wirtschaftsbeziehungen geworden, sondern die Kulturen prallten aufeinander. Der erste »Rausch der Raumerweiterung« schlage damit in ein »Gefühl der Weltenge« um, das »eine so noch nie gewesene Lebensangst« erzeuge (Jaspers 1979, 55). Hier meldet sich ein neues Lebensgefühl zwischen »Höhlengefühl« und »Weltweitengefühl«, Begriffe, mit denen die Kulturmorphologie von Frobenius die Räume Afrikas beschrieben hat. Globalisierung erzeugt Gefühle über Gefühle, die keine Entfernungen kennen. Marshall McLuhan hat in dem bekannten Buch The Global Village (1989) beschrieben, wie die Welt durch elektronische Vernetzungen zu einem »Dorf« zusammenschrumpft. McLuhan hat seine Vision eines die Welt zu einem organischen Ganzen verbindenden Dorfes am Medium Fernsehen entwickelt, von dem er glaubte, es trage zur Rehabilitierung verdrängter Gefühle bei. Diese Auffassung war zeitbedingt und ist weitgehend überholt. Heute wird der Begriff »globales Dorf« zumeist als Metapher für das World Wide Web gebraucht. Ohne seinen Standort zu ändern, kann man über das Internet mit Menschen aus allen Teilen der Welt in Kontakt treten. Das globale Dorf der Gefühle simuliert Heimat, ist in Wirklichkeit aber nirgendwo. Die Raumlosigkeit erzeugt gefühllose Gefühle, eine ambivalente Mischung aus Wärme und Kälte. Das macht das globale Lebensgefühl zu einem Gefühl des Als-ob, das sich verflüchtigt, wenn es mit der Realität der eigenen Körperlichkeit des WWW-Nutzers konfrontiert wird.
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Digitales Zeitbewusstsein Die zeitliche Dimension des Lebensgefühls hat eine ähnlich dramatische Wende genommen. In Judy Wajcmans Buch Pressed for Time. The Acceleration of Life in Digital Capitalism (2014) kann man lesen, wie die Digitalisierung das Zeitgefühl verändert hat. Die heutigen Menschen beklagen sich, dass sie von der chronometrischen Zeit unterdrückt werden, aber niemand möchte sie in Wirklichkeit aufgeben. Die Macht der digitalisierten Zeit ist gewaltig, gerade weil sie internalisiert als sanftes Gesetz wirkt, an dem wir selbst mitwirken. Man fühlt sich wie auf einer Rutschbahn, auf der man dahingleitet. Ein Gefühl eines zwanglosen Zwangs, gegen den wir protestieren, den wir in der Risikogesellschaft aber zum Überleben brauchen. An diesem Modus des Lebensgefühls sind die elektronischen Medien beteiligt, welche die Gliederung der gelebten Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weitgehend aufgelöst haben. An deren Stelle ist das Prinzip der Serie getreten, das alle Gefühle stereotypisiert. Welche Folgen der technisch bedingte schnelle Wechsel von Lebensformen für die Gesellschaft hat, kann man in dem Buch Zeit-Verhältnisse von Hermann Lübbe nachlesen. Lübbe analysiert unter dem Stichwort »Zukunftsgewissheitsschwund«, wie das Vertrauen in die vorhersehbare Zukunft schrumpft, und beschreibt die »Befindlichkeitswirkungen« so: »Das Ungewisse rückt näher. Das macht beklommen auch dann, wenn unsere Erwartungen grundsätzlich freudiger Natur sind« (Lübbe 1983, 35).In anderen Worten: Zur Zeit vor der enormen Beschleunigung wurde die Gegenwart als relativ konstanter Zustand, als Brücke zwischen Tradition und Innovation empfunden. Heutzutage hingegen wird Gegenwart eher als unstabil erlebt, ein gleichsam flackerndes Lebensgefühl, das Befreiung und Bedrohung zugleich beinhaltet. Nach diesem Muster gestalten sich auch die Gefühle im Netz. Das Netz der Gefühle, das wir selbst sind, erfährt durch die Gefühle im Netz eine bisher nie dagewesene Dynamik, die allerdings nicht mit Fortschritt zu verwechseln ist. Gefühle wechseln, aber der Pool der Gefühle, aus dem man beliebig schöpfen kann, bleibt derselbe. Die Digitalisierung erzeugt virtuelle Gefühle, die immer abrufbar sind und damit den Unterschied von Vergangenheit und Lebensgefühle in der globalen und digitalen Welt | 117
Zukunft unterlaufen. Das Netz vergisst nichts, so dass die Suche nach der verlorenen Zeit ihre melancholische Faszination verloren hat. Aber löscht die digitale Zeitlosigkeit die Strukturen des menschlichen Gedächtnisses vollständig auf? Der Kognitionspsychologe Frederic C. Bartlett hat in seinem Buch Erinnern (1932) das Gedächtnis als eine Art Sammlung von Vorwissen, auch »Schemata« genannt, aufgefasst, welche die Wahrnehmung und damit auch die Erinnerung individuell gestalten. Daraus hat der amerikanische Sänger und Entertainer Dean Martin den Song Memories are made of this gemacht, der zum kleinbürgerlichen Lebensgefühl der 1950er Jahre gehörte: »Sweet, sweet memories you gave-a me you can’t beat the memories you gave-a me«. Das klingt heute kitschig, aber Kitsch gehört zum Leben, was Bildungsbürger nicht wahrhaben wollen. Der Mensch muss auf vergangene Erlebnisse zurückgreifen, um in der Gegenwart nicht die Orientierung zu verlieren und die Zukunft gestalten zu können. Erinnerung ist kein Luxus, sondern eine emotionale Ressource des Menschseins. Für viele alte Menschen sind nur die Erinnerungen wahr, die sie mit sich tragen und die sich mit den Träumen vermischen, die sie ausspinnen. Das geht soweit, dass manche Menschen sich an Dinge erinnern, die sie nicht erlebt haben und sogar an Dinge, die in der Zukunft liegen.
Lebensgefühl »light« Die Verfügbarkeit aller Daten in den digitalen Medien ersetzt die Erinnerung nicht und ist daher zu Recht von der konservativen Kulturkritik als Verlust empfunden worden. Sicherlich ist beim Lebensgefühl im Zeitalter der Digitalisierung die Gefahr unübersehbar, dass sich falsche Gefühle einschleichen. Aber wer vermag mit Sicherheit zu entscheiden, welche Gefühle wahr und welche falsch sind? Das Netz der Gefühle, so der deutsche Titel eines Buches von Joseph LeDoux, The Emotional Brain (2001) beschreibt, wie Emotionen im Gehirn entstehen und in welcher Form ver118 | Kapitel VIII
schiedene Hirnareale daran beteiligt sind. Die Erforschung des emotionalen Gehirns hat gezeigt, dass neuronale Systeme extrem dehnbar sind und durch die von ihnen dargestellten Formen ihrer Interaktion zusammengehalten werden. Im Lebensgefühl schließen sich die Gefühle zur Einheit des Bewusstseins zusammen, die nichts außerhalb der Emotionen ist, sondern aus den zwischen ihnen wirksamen Relationen resultiert. So ist es möglich, Fühlen und Denken nicht mehr als unversöhnliche Gegensätze aufzufassen, sondern als Zusammenspiel, das es den Menschen erlaubt, ihre wahren Gefühle besser zu kennen und im Leben wirksamer einzusetzen. Die junge Generation hat gelernt, sich Erfahrungen zu bedienen, die sie nicht selbst gemacht hat. Das Netz fungiert als gewaltige Gedächtnis-Halle, aus der jeder eine neue Erinnerung beziehen kann, für andere und für sich selbst. Die Ununterscheidbarkeit von Möglichkeit und Wirklichkeit gehört zum postmodernen Lebensgefühl, in dem Vergangenheit und Zukunft zu zeitloser Gegenwart verschmelzen. Raum und Zeit, die in der Wirklichkeit unaufhebbar sind, werden in der elektronischen Welt unbegrenzter Möglichkeiten zum Schleier der Maja, hinter dem sich das Nichtsein verbirgt. So erzeugt die Digitalisierung ein virtuelles Gefühl der Weite, unabhängig von realen Räumen und Zeiten. Das digitale Gefühl der weiten Welt ist positiv, was aber nicht automatisch mit Optimismus verbunden ist. Es handelt sich eher um das, was Robert Musil »Möglichkeitssinn« genannt hat. Damit können zukünftige Generationen wahrscheinlich besser leben als mit der unerträglichen Last des Lebens und Schwere des Seins.
Lebensgefühle in der globalen und digitalen Welt | 119
Kapitel IX Was Lebensgefühle sind und wie man damit umgeht
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us unseren Betrachtungen geht hervor, dass Lebensgefühl ein Allgemeinbegriff ist, der seine konkreten Inhalte in einzelnen Gefühlen wie Freude, Angst oder Trauer hat. Darin ist »Lebensgefühl« vergleichbar mit dem Begriff »Obst«, der Äpfel, Birnen und andere Früchte bezeichnet. Aber Lebensgefühl ist mehr als ein bloßes Wort, dessen Bedeutung auf Übereinkunft beruht, wie der Nominalismus behauptet. Es bezeichnet die Art und Weise, wie primäre Gefühle vom Individuum oder von einer Gruppe empfunden werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Köper oder der Intellekt den Ton angeben. Wir sagen, wir fühlen den Schmerz, aber nicht, wir fühlen das Leben. Für das Erleben ist Leben kein Gegenstand der Erkenntnis, sondern ein Bewusstseinszustand, der als Allgemeingefühl immer präsent ist. Das Lebensgefühl liegt jedem einzelnen Gefühl zugrunde und formt die Weltanschauung der Person.
Charakteristika des Lebensgefühls Die Charakteristika des Lebensgefühls lassen sich wie folgt zusammenfassen. Erstens: Lebensgefühl ist eine Befindlichkeit, die situationsgebunden ist, zugleich aber über die Situation hinaus auf das In-der-Welt-Sein verweist. Dabei handelt es sich nicht um bewusstes Nachdenken über das Leben, sondern um emotional motivierte Wertungen. Deren Evidenz resultiert aus dem Zusammenspiel einzelner Emotionen, das dem Selbstbewusstsein zugrunde liegt. Zweitens: Lebensgefühle sind individuell und zugleich kollektiv. Sie verbinden Menschen emotional, wie verschieden die Charaktere und Interessen der Einzelnen auch sein mögen, und vermitteln 120 |
das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, wobei die Generationen eine Trennungslinie bilden. Ohne gemeinsames Erleben blieben die verschiedenen Perspektiven, aus denen die Menschen die objektive Wirklichkeit betrachten und bewerten, unvereinbar. Jeder Einzelne würde als Autist und Außenseiter in einer privaten Welt leben, aus der es keinen Ausweg gibt. Die Suche nach Übereinstimmung von Lebensform und Lebenssinn macht die moralische Dimension des Lebensgefühls aus. Drittens: Im Lebensgefühl verbinden sich Aktivität und Passivität zu einem dynamischen Prozess, der sich selbst erhält. Durch die Resistenz gegenüber Stimmungsschwankungen unterscheidet sich das Lebensgefühl von Launen, die schnell wechseln und vergehen. Dagegen enthält das Lebensgefühl die Summe unserer bisherigen Erfahrungen und Erwartungen, die feste Vorstellungen von der Wirklichkeit, in der wir leben, erzeugen. Darin gleicht das Lebensgefühl dem Glauben im Sinne von Überzeugung (engl. »belief«) und bezieht sich auf die Welt als alles, was für den Menschen bedeutsam ist. Die angeführten Bestimmungen des Lebensgefühls sind psychologisch und soziologisch zugleich, aber auf die philosophische Anthropologie ausgerichtet. Sie gehören zur Philosophie der Psychologie, die sich mit den Prinzipien des menschlichen Selbstverständnisses befasst. Für den ontologischen Status des Lebensgefühls ist aufschlussreich, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft bei der Bestimmung des ästhetischen Urteils das Fühlen einsetzt. Das Besondere des ästhetischen Urteils ist laut Kant seine Allgemeingültigkeit, die allerdings nicht logisch begründbar ist. Was jemand für schön hält, ist rein subjektiv, und doch mutet er den anderen zu, seinem Urteil zuzustimmen. Das führt Kant darauf zurück, dass die ästhetische Erfahrung auf einem »Gemütszustand«, auf einer »Stimmung« beruht, die anders als die rein sinnliche Lust »allgemein mitteilbar« ist. Das ist keine beliebige Annahme, sondern eine notwendige Voraussetzung für intersubjektive Verständigung. Man kann hier von Allgemeingefühl sprechen, von sensus communis, der den Charakteristika des Lebensgefühls entspricht. Daraus folgt: Lebensgefühle sind keine realen Entitäten, aber auch keine reinen Ideen, sondern Bewusstsein im Werden, das nie definitiv zu bestimmen ist. Was Lebensgefühle sind und wie man damit umgeht | 121
Im Lebensgefühl verbinden sich erotische und ästhetische Erfahrung, wodurch die Sexualität als Quelle des Lebens sich verbreitert und vielfältige Bahnen einschlägt. Wie das Gefühl des Schönen enthält das erotische Erleben keine absolute Wahrheit, sondern nur eine zeitbedingte Evidenz, die vergänglich ist und trotzdem nie vergeht. In dieser Paradoxie liegt die tiefere Bedeutung des Eros, die Diotima im Symposion verkündet: »Wer nämlich bisher in der Liebe erzogen ist, das menschliche Schöne in solcher Ordnung richtig schauend, der wird, indem er nun der Vollendung in der Liebeskunst entgegengeht, plötzlich ein von Natur wunderbar Schönes erkennen, nämlich jenes selbst, dem auch all seine bisherige Mühe galt und das immer ist, und weder entsteht und vergeht« (Platon 1957, 240). Spannung und Lösung bedingen sich wechselseitig und prägen das Lebensgefühl, das als Hintergrund aller besonderen Gefühle erkennen lässt, wie es ist, ein Mensch zu sein.
Lebensgefühl als kulturphilosophischer Schlüsselbegriff Die Analyse des Lebensgefühls als Schlüsselbegriff des Menschseins stellt das menschliche Selbstverständnis auf eine interkulturelle Basis. Im Lichte moderner und postmoderner Lebensformen lösen sich die traditionellen Oppositionen von Körper und Geist, von Sinnlichkeit und Vernunft auf, die seit Augustinus das manichäische Lebensgefühl des Abendlandes beherrschten. In den säkularisierten Gesellschaften der Gegenwart dominiert die Unbestimmtheit des Lebensgefühls, die verschiedenen Einstellungen Raum gibt. So gesehen, kann man das Lebensgefühl als die elementarste und zugleich als die am höchsten entwickelte psychische Gegebenheit betrachten, gleichsam das A und O des menschlichen Daseins. Das Lebensgefühl ist uns so nah, so selbstverständlich, dass es kaum die Schwelle der Aufmerksamkeit überschreitet. Unsere Reisen, die in die Vergangenheit und in die Zukunft, in ferne Räume und fremde Kulturen geführt haben, haben uns dafür sensibel gemacht, dass das Dasein immer schon durch emotionale Faktoren geprägt ist, die man nicht beliebig ausschalten kann. Sicherlich kann man sich fragen, ob eine gefühlsmäßige Reaktion der 122 | Kapitel IX
Situation angemessen ist oder nicht. Man kann bis zu einem gewissen Grad trainieren, mit den eigenen Emotionen umzugehen, und manche Kulturen haben es hier sehr weit gebracht. Aber ganz ausschalten lassen sich Affekte nicht, da sie durch das Stammhirn genetisch gesteuert werden. Sosehr Lebensgefühle auch kulturell variieren, Geburt und Tod begrenzen physisch wie auch psychisch das Spektrum der Erfahrung. Das gelebte Leben, das die unterschiedlichsten Inhalte verbindet, hat in der Endlichkeit einen festen Rahmen. Allerdings beunruhigt der Gedanke an den Tod die Menschen, insbesondere im fortgeschrittenen Alter. Die Todesangst, die alle Lebenslust trübt, lässt sich durch rationale Argumentation nicht ausräumen, obwohl die Philosophen das immer versuchen. Dass der Tod den Menschen nichts angehe, hat Epikur damit begründet, dass alles Gut oder Übel in der Empfindung ist, der Tod aber der Verlust der Empfindung ist. Ähnlich hat im 19. Jahrhundert der Hegelianer Friedrich Theodor Vischer argumentiert. In seinem Tagebuch zum Roman Auch einer nennt er es einen »puren Unsinn«, an den Tod zu denken: »Wenn nur die Phantasie nicht wäre, die uns zwingen will, uns im Tode lebend und uns tot wissend« (Vischer 1987, 195). Aber eben hier liegt das Problem. Die Phantasie gehört zum Leben wie die Luft zum Atmen und macht aus Menschen Wesen, die mit widersprüchlichen Vorstellungen zu leben haben. Hier bietet der Begriff des Lebensgefühls eine hilfreiche Handhabe, mit der alltäglichen Lebenserfahrung umzugehen. Denn das Lebensgefühl lehrt, dass die Lebenszeit verschiedene Phasen durchläuft und dass jede Lebensform zum Ausgleich tendiert. Dadurch wird das Chaos der Gefühle für den Menschen, dessen Bewusstsein auf Sinn und Form ausgerichtet ist, erträglich gemacht. Das ist eine Leistung, die von der Theorie nicht erbracht werden kann. Nur das Lebensgefühl selbst kann sie einlösen.
Lebensgefühl und Lebenskunst Schließlich bleibt die Frage, was der Begriff des Lebensgefühls für das praktische Leben bedeutet. Es sieht so aus, als bliebe nur die Resignation, das Sich-abfinden mit dem, was unabänderlich ist. TatWas Lebensgefühle sind und wie man damit umgeht | 123
sächlich gehört die Anerkennung der Faktizität zur Lebenskunst, die anders als die normative Ethik keine kategorischen Imperative verkündet. Sie begnügt sich damit, zum Bewusstsein zu bringen, was das Leben uns verspricht. »Leben« besagt hier mehr als Überleben, mehr als Selbsterhaltung. Das Lebensgefühl eröffnet einen Erfahrungshorizont, in dem jeder seinen Bedürfnissen gemäß und den Umständen entsprechend sein Leben so einrichten kann, dass es nicht zur Qual wird. Dazu bedarf es der Gelassenheit, die von Philosophen seit langem empfohlen wird. Allerdings bleibt unklar, wie man zur Gelassenheit gelangt. Vom Humor ganz zu schweigen. Und man darf nicht vergessen, dass Sich-ärgern für ältere Menschen zur Gewohnheit wird, um mit Lebensumständen fertig zu werden, die nicht mehr ihren Vorstellungen entsprechen. Fazit: Lebensgefühl und Lebenskunst gehören zusammen, es kommt nur darauf an, die richtigen Maximen zu formulieren und zu befolgen. Immanuel Kant hat in seiner populären Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796/97) einen Begriff von Lebenskunst entwickelt, die aufgrund der Menschenkenntnis darlegt, wie der Mensch als soziales Wesen seine Mitmenschen behandelt. Die Strategien, deren sich die Pragmatik der Lebenskunst bedient, entsprechen der von Machiavelli beschriebenen Regierungskunst, die auf Manipulation der Menschen ausgerichtet ist. Auch das Werk Über den Umgang mit Menschen von Adolph Freiherr von Knigge behandelt soziales Handeln; aber auch der Umgang mit sich selbst wird thematisiert. Knigge warnt davor, vor sich selber zu fliehen und sein eigenes Ich nicht zu kultivieren. Dazu aber reiche die Vernunft nicht aus, es bedürfe der Sensibilität für das Gefühlsleben. Lebensgefühle wandelten sich, aber es blieben doch elementare Glücks regeln, die in allen Lebenslagen befolgt werden sollten. Die Botschaft ist verständlich, aber wo bleibt der Glaube? Was kann man tun, um glücklich zu sein? Die Imperative der Sollensethik sind dafür nicht zuständig, da es keinen Sinn ergibt, Vorschriften für etwas aufzustellen, was der Mensch von Natur aus sowieso erstrebt. Die Antike hatte damit keine Probleme. Glück bestand für sie darin, mit sich selbst in Harmonie zu leben. Dazu musste das Individuum sich in seinen Wünschen von der Vernunft leiten lassen. Dem freilich steht entgegen, dass die Wünsche ein eigenständiges Leben führen. Infolge der modernen Subjektivierung 124 | Kapitel IX
des Glücks ist die Übereinstimmung von Mensch und Kosmos einer prästabilierten Disharmonie gewichen, die durch Argumente nicht zu beheben ist. In unserer schönen neuen Welt schwanken Gefühle zwischen Freud und Leid, Liebe und Hass, Zuversicht und Zukunftsangst. So gemischt sind die Gefühle wohl immer in einer Zeitenwende, in einer Welt im Umbruch: »Bei dir ist keine Freude ohne Kummer, kein Fried ohne Uneinigkeit, keine Liebe ohne Argwohn, keine Ruhe ohne Furcht, keine Fülle ohne Mängel, keine Ehre ohne Makel, kein Gut ohne böses Gewissen, kein Stand ohne Klage und keine Freundschaft ohne Falschheit«, heißt es im Schelmenroman Simplicius Simplicissimus aus dem Zeitalter des Barock (Grimmelshausen 1957, 362 f.). Und vieles deutet darauf hin, dass wir derzeit eine Renaissance des barocken Lebensgefühls erleben. Keiner kann seine Affekte vollständig beherrschen, doch der Widerstreit wirkt belebend. Erregung, die zur Aufregung werden kann, gehört zum Leben wie die Luft zum Atmen. Menschen suchen Erregungen, die rauschhafte Formen annehmen können. Heutige Konsumgesellschaften tendieren zum Kaufrausch. Das Medium der derzeitigen Räusche ist die Werbung mit ihren ausgetüftelten Sprüchen, die Glamour-Welten vorspiegeln. Im 19. Jahrhundert waren es die Poeten, die künstliche Paradiese erzeugten. Auch in der Vergangenheit haben Menschen sich dem Rausch hingegeben, und vom Mittelalter bis zum Puritanismus wurde sogar die Askese zum Rausch. Lebensgefühl und Rausch sind nicht zu trennen, und wo das Normale ins Pathologische übergeht und falsches Bewusstsein entsteht, ist schwer vorherzusagen. Das Erregungspotential, früher auch »Reizsamkeit« genannt, führt auf die transzendentale Dimension des Lebensgefühls. Diese wird in der modernen Lebensphänomenologie von Michel Henry gern »Gefühl des Absoluten« genannt, in dem das Leben sich selbst offenbart. Das ist richtig, doch läuft die Betonung der Absolutheit des Gefühls Gefahr, in quasi-religiösen Ontologismus zu verfallen. Im normalen Leben besteht das Absolute darin, dass der Inhalt des Gefühls mit dem Vollzug des Fühlens selbst zusammenfällt. Daher beantworten wir heute die Frage: »Aber nun du, o meine arme Seele, was hast du von dieser ganzen Reise zuwege gebracht?«, die Simplex in Grimmelshausens Simplicissimus im Sinne christlicher Diesseitsverachtung negativ beantwortet hat, vorsichtig positiv. Was Lebensgefühle sind und wie man damit umgeht | 125
Gerade am Ende der Reise durch das wüste Land des Lebens fühlen die Menschen sich verbunden mit dem Leben, so schnöde ihnen die Welt auch entgegengetreten sein mag. Das Leben ist mehr als die Summe der Ereignisse; Leben ist, wie die Menschen ihre Welt erleben und was sie daraus machen. Selbst Lebensmüde oder dem Tode Geweihte kommen von der Lebenswelt, die sie verlassen, emotional nicht los. In der Todesstunde bezeugen auch religiös ungläubige Menschen durch den Ausdruck innerer Ruhe, dass zum Menschsein der Glaube an die Ewigkeit des Lebens gehört.
126 | Kapitel IX
Epilog So ist der Mensch – einfach so!
F
ür Leserinnen und Leser, die von der Beschreibung des Menschen neue Erkenntnisse hinsichtlich der Natur des Menschen erwartet haben, mag der vorliegende Traktat eher enttäuschend sein: keine Eigenschaften werden genannt, die nicht schon lange bekannt wären, keine Großerzählung, die neues Licht auf den Sinn des Lebens wirft. Auch die Berücksichtigung der digitalen Revolution, die der objektiven Realität virtuelle Wirklichkeiten hinzufügt, macht zwar deutlich, wie sich die Äußerungsformen verändert haben, nicht aber die Natur des Menschen. Die Beschreibungen bewegen sich somit im gewohnten Rahmen, so dass Zweifel angebracht sind, was das Lebensgefühl zur Beantwortung der Frage nach dem Menschsein beiträgt. Die Zweifel sind berechtigt, solange man die angeführten Tatsachen als Antwort auf die hier gestellte anthropologische Frage auffasst. Die Tatsachen aber machen nicht die Antwort aus, sie gehören zur Frage selbst. Die Antwort dagegen liegt in der Reflexion, die das Bild des Menschen in anderem Licht erscheinen lässt. Der Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt, keine tabula rasa, auf die man alles einschreiben kann, wie radikale Konstruktivisten behaupten. Der Mensch kann nur Eindrücke aufnehmen, die seiner Konstitution angemessen sind. Die Ansprechbarkeit ist aber nicht allein durch den angeborenen Charakter geprägt, sondern auch und insbesondere durch die Sozialisation. Dabei spielt das Lebensgefühl eine stärkere Rolle, als Soziologen gemeinhin annehmen. Aber wie äußert sich das Lebensgefühl, welche Qualitäten kommen ihm zu? Befragt man die Menschen nach dem Inhalt ihres Lebensgefühls, bekommt man eine eher unbestimmte Antwort. Sie gleicht der Antwort auf die Frage, wer jemand ist. Sieht man von Bestimmungen der Herkunft, des Berufs usw. ab, so lautet | 127
die Antwort letztlich: »Ich«. Das Ich ist hier nicht das punktuelle Subjekt der Erkenntnis, sondern das zuständliche Bewusstsein mit seinen phänomenalen Gehalten, die in der Philosophie des Geistes »Qualia« heißen. Genauso verhält es sich mit dem Lebensgefühl, das aus der Perspektive der ersten Person mit dem Vollzug des Lebens selbst zusammenfällt. Von außen gesehen gibt es Lebensgefühle nur im Plural, sie haben Geschichte und verändern sich je nach den objektiven Lebensbedingungen. Von innen gesehen aber gibt es Lebensgefühl nur im Singular. Aus der subjektiven Perspektive bekommt das Gefühlsleben der Menschen einen tieferen Sinn als die Behavioristen annahmen. Nicht das Verhalten und auch nicht die objektiven Gründe machen das Menschsein aus, sondern die Wandlungs fähigkeit der Motive und Empfindungen. Die wechselnden und oft widerstreitenden Empfindungen gehören zur proteischen Seite der menschlichen Existenz. Die andere Seite, die Ganzheit des Menschen, aber wird im Lebensgefühl manifest. Als Einheit in der Vielheit der Empfindungen liefert das Lebensgefühl im Singular die kulturübergreifende Konstante, das anthropologische Radikal, das die Lebenswelt emotional verbindet. Der Rückgang auf das Lebensgefühl entdramatisiert die Wirklichkeiten, in denen wir leben. Das ist eine Art transzendentaler Reduktion von Geschehen auf das Sein. Allerdings auf das Sein, hinter dem sich das Nichts verbirgt, in dem alle Formen des Lebens aufgehen. Gerade durch seine Unauffälligkeit, seine Selbstverständlichkeit wird im Lebensgefühl offenbar, dass der Mensch trotz aller Endlichkeit und Kontingenz fähig ist, den Anforderungen des Lebens zu genügen. Man könnte hierin die säkulare Form des menschlichen Verlangens nach Transzendenz in der Immanenz erkennen. Um es in Abwandlung eines bekannten Satzes aus Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus auszudrücken: Das Gefühl des Lebens als begrenztes Ganzes ist das mystische. In diesem Sinne verstehe ich den vorliegenden Traktat als Versuch, das Leben von innen zu erschließen. Niemand weiß, was der Mensch wirklich ist, was die Seele im Innersten zusammenhält. Wir können nicht »Mensch überhaupt« sein, sondern sind immer ein bestimmter Mensch mit einer individuellen Lebenserfahrung. Trotz aller Fortschritte in der Lebens128 | Epilog
bewältigung durch Technik und Medizin bleiben wir der Kontingenz unserer Biographie ausgeliefert. Zum Lebensgefühl gehören die Autobiographien, in denen wir uns selbst ständig neu erfinden. Denn an nichts glaubt der Mensch so fest wie an die eigenen erfundenen Geschichten, mit denen er sein Dasein rechtfertigt. In individuellen Lebensgeschichten sind Fakten und Erfindungen wie in Dichtung und Wahrheit untrennbar vermischt, so dass keiner genau weiß, wer er ist, ja nicht einmal, wer er sein will – außer eben er oder sie selbst. Daher lautet meine praktische Empfehlung: Durchlebe deine inneren Konflikte, verdränge deine Motive nicht und mache dir keinen blauen Dunst vor! Nur so kann das Lebensgefühl die Balance finden, die der Mensch für ein glückliches Leben braucht. Im Vergleich mit den Tieren, deren Triebe mit ihrer Umwelt im Einklang stehen, kommt der Mensch mit seiner Individualisierung nicht gut weg. Insbesondere in Zeiten des Zusammenbruchs institutioneller Rahmen und der Verabschiedung von Vorbildern ist es schwer, verbindliche Orientierungsmuster zu finden. Selbst der jüdisch-christliche Schöpfergott, den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, steht nach Meinung moderner Theologen vor dem Bilde zunehmend ratlos. Die philosophische Anthropologie ist von der anthropozentrischen Weltsicht abgerückt, den Menschen als Ursprung und Ziel des Kosmos zu betrachten. Milliarden Menschen ziehen über die Erde, doch die im Dunkeln sieht man nicht. Dennoch fühlt sich jeder als Individuum, als unersetzliche Person. Diese Antinomie macht die Sonderstellung der menschlichen Existenz aus. Sosehr das Leben als Kampf empfunden wird, so kurz seine Freuden auch sind, das Leben verbindet Menschen in Liebe, die über den eigenen Tod hinausreicht. Das Leben kennt keinen Plan, das Lebensgefühl aber wirkt ausgleichend und beruhigend wie das Einfache und Notwendige. Es verleiht dem Individuum die Gewissheit, zur Welt zu gehören. Lebensgefühl und Weltgefühl verschmelzen. So verschieden die Charaktere und so unterschiedlich die Schicksale auch sein mögen, jeder Mensch fühlt sich als Teil der Welt, der er und die ihm gegenübersteht. Logisch ist das eine Paradoxie, psychologisch handelt es sich um emotionale Rückkopplungen im Selbstverhältnis, jenseits von Optimismus und Pessimismus. Diese Feststellung So ist der Mensch – einfach so! | 129
liefert nichts wirklich Neues, sondern bestätigt das, was jeder aus eigener Erfahrung bereits kennt, sich aber nicht zum Bewusstsein gebracht hat. Insofern bringt dieser Traktat vielleicht doch einen Erkenntnisgewinn, der über objektives Faktenwissen hinausweist. Als Reflexionsbegriff gibt das Lebensgefühl auf die Frage, wie es ist, ein Mensch zu sein, die schlichte Antwort: Es ist, wie es ist – nicht so einfach, aber einfach so.
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Literatur | 137
Personenregister Adorno, Theodor W. 64 Althaus, Peter P. 113 Anders, Günther 57 Anderson, Sherwood 109 Andreas-Salomé, Lou 51 f. Annerl, Charlotte 42 Aristoteles 7 Augustinus, Aurelius 89, 122 Austin, John 8 Bacon, Francis 54 Bartlett, Frederic C. 118 Bateson, Gregory 64 Beck, Ulrich 31 Benn, Gottfried 101 Bergson, Henri 26, 91 ff. Bloch, Ernst 28, 73 Blumenberg, Hans 9, 13, 17, 54 f. Bollnow, Friedrich 29 Bougainville, Louis-Antoine de 110 Bowie, David 62 Brehm, Alfred E. 70 f. Buridan, Johannes 80 Burroughs, Edgar R. 71 Capote, Truman 108 Carus, Carl G. 95 Casanova, Giacomo G. 53 Conrad, Joseph 112 f. Cornford, Francis 104 Damasio, Antonio 17 Darwin, Charles 11, 32, 68 ff., 81
Demokrit 7 Descartes, René 7, 17, 54 Dessoir, Max 44, 49 Diderot, Denis 63 Dilthey, Wilhelm 11, 30, 94 Durkheim, Émile 63 Edelman, Gerald M. 90 Eichendorff, Joseph von 96 Einstein, Albert 98 Ekman, Paul 50, 68 Eliot, Thomas St. 65 Engelen, Eva-Maria 27 Erhard, Ludwig 101 Euklid 104 Fechter, Paul 97, 100 f. Fellmann, Ferdinand 52, 72, 81 Foucault, Michel 60 Frank, Manfred 49 Frankfurt, Harry 82 f. Freud, Sigmund 7, 12, 26, 47, 50 ff., 55, 59, 67, 75 Friedell, Egon 58 Frisch, Max 49 Frobenius, Leo 105, 111 f., 116 Galiani, Ferdinando 92 Galsworthy, John 41 Gay, Peter 47 Gehlen, Arnold 8 Goethe, Johann W. 30, 65, 85 f., 94 f., 97 | 139
Greely, Henry 99 Grimmelshausen, Hans J. Chr. von 125 Hartmann, Martin 27 Hasenclever, Walter 55, 100 Hauptmann, Gerhard 100 Hediger, Heini 83 Hegel, Georg W. F. 8, 28 Heidegger, Martin 29, 39, 55 Hemingway, Ernest 87 Henry, Michel 125 Hesse, Hermann 47, 60 Hessen, Ernst Ludwig von 97 Hobbes, Thomas 66 Hofmannsthal, Hugo von 97 Holthusen, Egon 108 Huizinga, Johan 112 Husserl, Edmund 9, 16, 28, 31, 89 Ingensiep, Hans 71 James, William 27, 30, 42, 45 ff., 49 Jammer, Max 104 Jaspers, Karl 50 f., 85, 116 Jerusalem, Wilhelm 16, 37 Johnson, Uwe 49 Jonas, Hans 73 Jong, Erica 101 Kant, Immanuel 8 f., 19, 26, 36, 44 f., 48, 54, 73, 78 ff., 82, 91, 104, 106, 121, 124 Kensinger, Elizabeth A. 92 Kerouac, Jack 101 f. Klages, Ludwig 40 Kleist, Heinrich von 13 Knigge, Adolph Freiherr von 124 Kohut, Heinz 67 f. Koktanek, Anton 105 Kubler, George 102 140 | Personenregister
Kästner, Erich 100 La Mettrie, Julien O. de 102 f. LeDoux, Joseph 118 Leopold, König 113 Lersch, Philipp 10 Levi, Primo 74 f. Lévy-Bruhl, Lucien 41 Lipps, Theodor 67 Lorenz, Gustav 35, 61, 70, 86 Lotze, Hermann 45 Luhmann, Niklas 66, 99 Lübbe, Hermann 117 Machiavelli, Niccolò 124 Malinowski, Bronislaw 64 Mann, Heinrich 24, 95 Mann, Thomas 52, 63, 109 f. Mannheim, Karl 65 Martin, Dean 118 Maugham, Somerset 87 McDougall, William 34 f. McLuhan, Marshall 116 Mill, John St. 38, 52, 68 f. Minkowski, Hermann 98, 102 Moore, George E. 85 Moritz, Karl Ph. 48 Musil, Robert 55, 59, 119 Märker, Friedrich 67 Nabokov, Vladimir 108 f. Nagel, Thomas 9 Naisbitt, John 116 Napoleon Bonaparte 92 Nietzsche, Friedrich 7, 12 Park, Mungo 21 Pascal, Blaise 76 Pavese, Cesare 49, 109 Piaf, Edith 85 Platon 46, 53 ff., 122
Plessner, Helmut 72 Popper, Karl 40 Precht, Richard D. 39, 63, 99 Proust, Marcel 93 f., 96 ff.
Spengler, Oswald 25, 105 ff., 111 Stoiker 7, 77 f. Strauß, Botho 54 Stumpf, Carl 35
Ratzel, Friedrich 105 Reventlow, Franziska zu 49, 58 Rickert, Heinrich 28 Riesman, David 108 Rilke, Rainer M. 101 Rorty, Richard 73 Rothacker, Erich 34 Rousseau, Jean-Jacques 48, 66, 69 Runge, Erika 111
Thomä, Dieter 48 f. Tylor, Edward 112
Sartre, Jean-Paul 49, 85 f. Schacter, Daniel L. 92 Scheler, Max 7, 29, 34, 59 Schiller, Friedrich 112 Schmid, Bastian 72 Schnitzler, Arthur 58 Schopenhauer, Arthur 7, 28, 39, 81, 87 f. Serres, Michel 66 Shaftesbury, Earl of 84 f. Shakespeare, William 76 Shand, Alexander 84 Simmel, Georg 18, 25, 65, 107 Sokrates 46 Sophokles 80 Spencer, Herbert 112
Waal, Frans de 71, 82 Wajcman, Judy 117 Walsh, Rebecca 52, 72 Weismann, August 26, 90 Weizsäcker, Viktor von 79, 90 Wellington, Duke of 92 Wells, Herbert G. 98 ff. Wiese, Leopold von 18, 47, 61 Wittgenstein, Ludwig 54, 82, 128 Wollheim, Richard 70 Worringer, Wilhelm 67 Wundt, Wilhelm 11
Uexküll, Jakob von 12 f., 104 f. Updike, John 57 Vesper, Bernward 101 Vischer, Theodor 123 Voltaire 111
Zenon von Kiton 77 Zweig, Stefan 92
Personenregister | 141