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German Pages 429 [431] Year 2010
Héctor Wittwer Ist es vernünftig, moralisch zu handeln ?
Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert
De Gruyter
Héctor Wittwer
Ist es vernünftig, moralisch zu handeln ?
De Gruyter
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Wittwer, Héctor. Ist es vernünftig, moralisch zu handeln? / Héctor Wittwer. p. cm. -- (Ideen & Argumente) Revision of the author's Habilitationsschrift--Humboldt-Universität, 2007. Includes bibliographical references (p. ) and index. ISBN 978-3-11-022790-1 (hardcover : alk. paper) 1. Ethics. 2. Self-interest. 3. Practical reason. I. Title. BJ1114.W58 2010 170'.42--dc22 2010025168
ISBN 978-3-11-022790-1 e-ISBN 978-3-11-022791-8 ISSN 1862-1147 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York. Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Umschlagkonzept: + malsy, Willich Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1: Analyse der Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Das Versöhnungsprojekt des Kontraktualismus Kapitel 2: Hobbes’ politische Lösung des Problems . . . . .
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Kapitel 3: David Gauthier – Moralität als beschränkte Nutzenmaximierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 4: Peter Stemmer – Moral als System berechtigter Sanktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung zu Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
171
Teil II: Möglichkeiten und Grenzen moralischer Rationalität Kapitel 5: Kant – Widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit als Kriterium der reinen praktischen Vernunft . . .
177
Kapitel 6: Die diskursethische These der Unhintergehbarkeit der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
Kapitel 7: Alan Gewirths Prinzip der artbezogenen Konsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
282
VI
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 8: Der Begriff der rational erlaubten Handlung und seine Bedeutung für die Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
367
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung Bei diesem Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Jahr 2007 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde. Ich danke Dieter Birnbacher, Volker Gerhardt und Thomas Schmidt für die Begutachtung der Arbeit und die wertvollen Hinweise, die ich ihren Gutachten entnehmen konnte. Außerdem danke ich einem anonymen Gutachter, der für die Reihe „Ideen & Argumente“ tätig ist, für seine zahlreichen Einwände und Nachfragen, die ich, soweit es mir möglich war, bei der Überarbeitung der Schrift für den Druck berücksichtigt habe. Der VG WORT danke ich für die Gewährung einer großzügigen Druckkostenbeihilfe. Mein größter Dank gilt meiner Frau. Ohne ihr Verständnis und ihre Unterstützung hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Berlin im Mai 2010
Einleitung Der Autor einer neueren moralphilosophischen Untersuchung gelangt am Ende seiner Überlegungen zu einem verblüffenden Ergebnis: „Die Folterin, wie jede andere Rücksichtslose, ist entweder irrational oder blind für eine schlichte empirische Tatsache.“1 Das Handeln der Folternden könne nur vernünftig sein, wenn sie „nach bestem ‚Wissen‘ irrtümlich glaubte, ihre Handlung verursache dem Nachbarn kein Leid“2. Der Autor ist seinerseits erstaunlich blind für die Tatsache, dass der Zweck des Folterns darin besteht, das Opfer zu quälen, und dass niemand einen anderen foltern würde, wenn er der Meinung wäre, dass er diesem keine Schmerzen zufügte. Die Annahme, man könne andere nur quälen, wenn man unvernünftig sei oder sich im Irrtum befinde, mag abwegig erscheinen; sie ergibt sich aber aus der wenn auch extremen, so doch konsequenten Anwendung eines Grundsatzes, der in der Geschichte der Philosophie von zahlreichen Denkern unterschiedlicher Provenienz vertreten wurde und der auch noch in der Gegenwart Anhänger findet: Tugend ist Wissen.3 Wenn tugendhaftes Handeln auf Wissen beruht, dann – so lautet ein nahe liegender Schluss – lässt sich das Laster nur durch Unwissenheit erklären. Dies ist die These des ethischen Kognitivismus. Wenn es vernünftig ist, gut zu handeln, dann ist es unvernünftig, das Böse zu tun. Das ist die Auffassung des ethischen Rationalismus. Beide gehen häufig Hand in Hand und sind nur schwer voneinander abzugrenzen. Seit Platon sich in der Politeia bemühte, die sophistische These zu widerlegen, dass man besser ungerecht als gerecht sein sollte,4 haben Philosophen nachzuweisen versucht, dass es grundsätzlich unvernünftig ist, unmoralisch zu handeln. Diese Auffassung steht in einem auffälligen Kontrast zu unserer alltägli-
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Einleitung
chen Praxis des Urteilens, in der wir zwischen „unvernünftigen“, „dummen“ oder „unklugen“ Handlungen einerseits und „ungerechten“, „bösen“ oder „gemeinen“ Handlungen andererseits unterscheiden. Diese Unterscheidung wird auch in Bezug auf Personen getroffen. Wer einen anderen als Trottel oder Dummkopf bezeichnet, der fällt damit kein abwertendes moralisches Urteil – so wenig wie derjenige, der einen anderen als Schurken bezeichnet, diesem vorwirft, dass er sich dumm oder irrational verhält. Der Grund dafür, dass man es für nötig hält, die Rationalität moralischer Handlungen und die Irrationalität unmoralischer Handlungen nachzuweisen, liegt auf der Hand: Oftmals erscheint es zumindest klüger, gegen eine moralische Norm zu verstoßen als sie zu befolgen. Die Moral verlangt von uns häufig, dass wir auf etwas verzichten. Der Verstoß gegen moralische Gebote verspricht hingegen manchmal einen Gewinn. Angesichts dessen ist die Frage, warum man moralisch handeln sollte, durchaus verständlich. Die Antwort der ethischen Kognitivisten und Rationalisten lautet: weil man sich ansonsten unvernünftig verhält. Wenn man davon ausgeht, dass sich niemand gern Irrationalität vorwerfen oder gar nachweisen lässt, dann hätten alle einen guten Grund, moralisch zu handeln – wenn die kognitivistisch-rationalistische These wahr wäre. Ob sie es ist, soll in der vorliegenden Untersuchung geprüft werden. Ihre Leitfrage lautet daher: Ist es vernünftig, moralisch zu handeln? Um diese Frage zu beantworten, werde ich in drei Schritten vorgehen. Zuerst soll die Leitfrage im Hinblick auf ihre Bedeutung, ihre Voraussetzungen und Implikationen analysiert werden (Kapitel 1). Danach werden sechs Varianten des ethischen Rationalismus in kritischer Absicht dargestellt und analysiert (Kapitel 2 bis 7). Schließlich werde ich eine eigenständige Antwort auf die Frage geben, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, und sie gegen nahe liegende Einwände verteidigen (Kapitel 8). Dabei sollen die Kritik an geläufigen Positionen und mein eigener Lösungsvorschlag einander ergänzen. Die Auseinandersetzung mit den Vertretern des ethischen Rationalismus
Einleitung
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zielt vor allem auf ein negatives Resultat ab: Sie soll zeigen, dass der Zusammenhang zwischen praktischer Vernunft und Moral nicht so eng ist, wie zuweilen angenommen wird. Im abschließenden konstruktiven Kapitel soll hingegen nachgewiesen werden, dass durchaus eine Verbindung zwischen Vernunft und Moral besteht, und es soll dargelegt werden, wie diese beschaffen ist. Die Bedeutung, die ich dem Begriff „ethischer Rationalismus“ hier gebe, ist sicherlich weiter als die gebräuchliche. Unter „ethischem Rationalismus“ verstehe ich die Auffassung, dass es vernünftigerweise geboten ist, moralisch zu handeln, und dass es daher unvernünftig ist, gegen moralische Regeln zu verstoßen. Als meiner Meinung nach repräsentative Beispiele des ethischen Rationalismus wurden zwei Theorietypen ausgewählt: der Kontraktualismus, dem Teil I gewidmet ist, und diejenigen Philosophien, welche die Rationalität moralischen Handelns mittels des Kriteriums der Widerspruchsfreiheit nachzuweisen versuchen. Diese werden in Teil II behandelt. Beide Typen werden jeweils anhand eines klassischen Autors und zweier zeitgenössischer Varianten untersucht. Thomas Hobbes ist der Gewährsmann des heutzutage einflussreichen ethischen Kontraktualismus (Kapitel 2). David Gauthier und Peter Stemmer vertreten die hobbessche These, dass es im aufgeklärten Eigeninteresse eines jeden und daher rational ist, sein Handeln gegenüber anderen Menschen moralischen Beschränkungen zu unterwerfen (Kapitel 3 und 4). Auf Immanuel Kant geht die zweite einschlägige Argumentationsfigur zurück. Sie besagt, dass unmoralische Handlungen nur um den Preis der Selbstwidersprüchlichkeit möglich sind (Kapitel 5). An diese Auffassung knüpfen die Vertreter der Diskursethik sowie Alan Gewirth an (Kapitel 6 und 7). Man wird in der vorliegenden Untersuchung vielleicht die Auseinandersetzung mit einem dritten Argumentationstyp vermissen, der auf den platonischen Sokrates zurückzuführen ist. Es handelt sich um die Behauptung, dass Gerechtigkeit im Sinne einer Tugend und der entsprechenden moralischen Lebensweise eine notwendige oder sogar eine hinreichende Bedingung für ein
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Einleitung
glückliches Leben ist. Platon lässt seinen literarischen Sokrates die These vertreten, dass es besser ist, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun.5 Gemeint ist damit nicht, dass es moralisch besser ist, Böses zu erleiden als Böses zu tun. Diese Aussage wäre tautologisch. Vielmehr behauptet Sokrates, dass es für den Handelnden selbst besser ist, gerecht zu sein als ungerecht zu sein. Ungerechte Menschen könnten kein wahrhaft gutes Leben führen. Wenn diese Annahme richtig wäre, dann läge es im Interesse eines jeden Menschen, moralisch zu handeln. Es wäre damit gezeigt, dass das jeweils für einen selbst Gute mit dem moralisch Guten identisch ist.6 Die Auffassung, dass Moralität eine notwendige Bedingung für ein „gutes“, „gelingendes“ oder „glückliches“ Leben ist, wird auch in der Gegenwart vertreten. Philippa Foot verteidigt beispielsweise die „Vorstellung einer begrifflichen Verknüpfung zwischen Tugend und Glück“.7 Malte Hossenfelder zufolge wissen wir zwar nicht, ob die Guten glücklich sind; außer Zweifel stehe aber, dass die Schlechten nicht glücklich sein können.8 Ein anderer Autor vertritt die These, dass „moralische Anerkennung (des anderen beziehungsweise in Wechselseitigkeit) beziehungsweise moralische Gerechtigkeit [...] die basalen notwendigen Elemente eines gelingenden Lebens“ seien9. Die Reihe der Beispiele ließe sich fortführen. – Wenn man unterstellt, dass Moralität eine notwendige Bedingung für ein glückliches Leben ist, dann ergibt sich daraus ein ebenso einfaches wie überzeugendes Argument dafür, dass es vernünftig ist, moralisch zu handeln: (P 1) Jeder Mensch wünscht sich, glücklich zu sein. (P 2) Niemand kann glücklich werden, ohne moralisch zu handeln. (K) Also sollte sich jeder vernünftigerweise moralisch verhalten. Dieses Argument ist aber mit zwei ernst zu nehmenden Schwierigkeiten verbunden. Erstens herrscht keine Einigkeit darüber, was unter „Glück“ zu verstehen ist. Innerhalb der Philosophie stehen sich seit der Antike zwei gegensätzliche Interpretationen
Einleitung
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dieses Begriffs gegenüber: die subjektivistischen und die objektivistischen Glückslehren.10 Erstere gehen davon aus, dass Glück ein Zustand des reflektierten Wohlbefindens bzw. der Zufriedenheit ist. Wenn dies richtig ist, dann kann niemand glücklich sein, ohne davon zu wissen. „Niemand ist glücklich, der sich nicht dafür hält“, heißt es etwa bei Seneca.11 Die objektivistischen Glücksauffassungen nehmen hingegen an, dass man unabhängig von der Selbsteinschätzung der Betroffenen anhand objektiver Kriterien feststellen kann, ob sie glücklich sind oder nicht. Je nachdem, für welche der beiden Auffassungen man sich entscheidet, erhält man zwei verschiedene Fassungen des Arguments, die beide problematisch sind. Legt man die objektivistische Lesart zugrunde, dann verlagert man nur das Problem, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln. Die Spannung, die zwischen Moral und Eigeninteresse bestand, kehrt nun wieder als eine Diskrepanz zwischen dem objektivistisch begriffenen „Glück“ und der Zufriedenheit der Menschen oder dem, was für sie vorteilhaft ist. In diesem Fall kann man die Frage stellen: Warum sollte ich moralisch handeln, um die Möglichkeit meines objektiven „Glücks“ zu sichern, obwohl es vorteilhafter für mich ist, wenn ich zumindest gelegentlich gegen moralische Normen verstoße? Das Problem wird durch die objektivistische Definition des Glücks also überhaupt nicht gelöst. Entscheidet man sich hingegen für das subjektivistische Glücksverständnis, das wohl dem heutigen Sprachgebrauch entspricht,12 wird man mit einer anderen Schwierigkeit konfrontiert: Wie ließe sich feststellen, ob tatsächlich gute Menschen in der Regel glücklich und schlechte Menschen immer unglücklich sind? Ein begrifflicher Zusammenhang zwischen Moralität und Glück, der allen Sprechern evident erschiene, besteht offenbar nicht.13 Anders, als etwa Hossenfelder meint, lässt sich daher nicht „analytisch und also a priori“ zeigen, „daß nur, wer moralisch handelt, glücklich wird“14. Wenn überhaupt, dann müsste sich diese Frage empirisch beantworten lassen. Einer solchen empirischen Beantwortung meiner Leitfrage stehen nun wiederum Hindernisse im Weg. Erstens stützt sich die empirische Glücks-
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Einleitung
forschung fast ausschließlich auf Befragungen.15 Deren Ergebnisse sollten mit Vorsicht gedeutet werden, da die Wahrhaftigkeit der Befragten nicht garantiert werden kann. Um aber eine mögliche Korrelation zwischen Moralität und Glück feststellen zu können, müsste zudem auch erfasst werden, wie häufig und welchen Menschen gegenüber die untersuchten Personen moralisch gehandelt haben. Insbesondere in Bezug auf moralische Vergehen, die nicht entdeckt wurden, ist man in diesem Fall ganz und gar der Selbstdarstellung der Befragten ausgeliefert. Möglicherweise lassen sich diese Schwierigkeiten durch entsprechende methodische Vorkehrungen überwinden. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass sich die Frage, ob es eine Korrelation zwischen Tugendhaftigkeit und Glück gibt, nicht mit den Mitteln der Philosophie beantworten lässt. Bei dieser Frage handelt es sich offensichtlich um ein empirisches Problem, das von den zuständigen Wissenschaften, d. h. der Psychologie und der Soziologie untersucht werden muss. Selbst wenn es diesen Disziplinen gelänge, eine derartige Korrelation nachzuweisen, wäre damit noch nicht gezeigt, dass zwischen moralischem Handeln und Glücklichsein ein notwendiger Zusammenhang besteht. Aufgrund des Induktionsproblems lassen sich solche notwendigen Zusammenhänge prinzipiell nicht auf empirischem Weg bestätigen. Fasst man diese Überlegungen zusammen, so ergeben sich zwei Ergebnisse. Erstens kann die Frage, ob Moralität eine notwendige Bedingung für ein glückliches Leben ist, nicht mit den Mitteln der Philosophie beantwortet werden. Zweitens kann man zwar nicht ausschließen, dass eine Korrelation zwischen moralischem Handeln und Glück festgestellt wird. Da sich empirische Allaussagen, die kontrafaktische Konditionale stützen, jedoch grundsätzlich nicht empirisch bestätigen lassen, kann prinzipiell nicht nachgewiesen werden, dass moralisches Handeln eine notwendige Bedingung eines glücklichen Lebens ist. Aus diesen Gründen halte ich es für gerechtfertigt, das entsprechende Argument für die Vernünftigkeit moralischen Handelns außer Acht zu lassen.
Einleitung
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Was die anderen beiden Argumentationstypen betrifft, so wird ihre Darstellung und Analyse selektiv ausfallen. Dies ergibt sich aus der Themenstellung meiner Untersuchung. Alle hier behandelten Theorien werden jeweils im Hinblick auf die Frage geprüft, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln. Deshalb ist die Präsentation nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verbunden. Die ethischen Theorien, die im Folgenden erörtert werden, werden nur als Beiträge zur Beantwortung dieser Frage gelesen. Alle anderen Aspekte müssen, so interessant sie auch sein mögen, so weit wie möglich ausgeklammert werden. Ein letztes Wort zur Art und Weise der Darstellung. In den Kapiteln 2 bis 7 werde ich mich gänzlich auf die kritische Prüfung der genannten Theorien beschränken. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass sich ihnen in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Rationalität und Moral gar nichts abgewinnen ließe. Im Gegenteil: Sowohl von den Kontraktualisten als auch von den Vertretern der Widerspruchsthese lässt sich etwas lernen. Um Wiederholungen zu vermeiden, habe ich mich jedoch entschlossen, die Würdigung der zuvor kritisierten Theorien bis zum letzten Kapitel aufzuschieben.
Kapitel 1 Analyse der Frage 1. Moralische Forderungen scheinen nicht immer mit dem Eigeninteresse vereinbar zu sein. Diese Feststellung bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Es gibt Fälle, in denen ein moralischer Grund für eine bestimmte Handlung spricht, aber ein prudentieller Grund deren Unterlassung nahe legt. Mit Blick auf derartige Situationen erscheint es sinnvoll, nach der Rationalität moralischen Handelns zu fragen, statt diese ohne weiteres vorauszusetzen. Aus der Tatsache, dass Konflikte zwischen prudentiellen und moralischen Gründen auftreten zu können scheinen,1 erwachsen die Zweifel an der Auffassung, dass man vernünftigerweise stets die Regeln der Moral befolgen sollte. Die Ethik muss diese Zweifel ernst nehmen und ihre Berechtigung prüfen. Deshalb lautet eine ihrer grundlegenden Fragen: Ist es vernünftig, moralisch zu handeln? Die Konflikte zwischen Moral und Eigeninteresse, die den Grund für die Erörterung dieser Frage darstellen, müssen von zwei anderen Arten praktischer Konflikte unterschieden werden: von prudentiellen Konflikten und von moralischen Dilemmata. Ein prudentieller Konflikt liegt dann vor, wenn sich ein Akteur zwischen der Verwirklichung zweier oder mehrerer Ziele entscheiden muss, weil die Realisierung eines dieser Ziele unvereinbar mit dem Erreichen der anderen ist. Entsprechende Beispiele sind aus dem Alltag hinlänglich bekannt. Man steht etwa vor der Wahl, an einem bestimmten Abend einen sehr selten gezeigten alten Film anzusehen oder endlich wieder einmal einen guten Freund zu besuchen. Oder man muss sich entschei-
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den, ob man die Ersparnisse der letzten Monate für die dringend benötigte Erholung auf einer Reise ausgibt oder sie langfristig für die Altersvorsorge anlegt, etc. Moralische Dilemmata weisen eine ähnliche Struktur auf. Eine Person muss sich zwischen der Befolgung zweier oder mehrerer moralischer Pflichten oder der Orientierung an verschiedenen moralischen Idealen entscheiden, weil aufgrund der Umstände die Realisierung einer Option diejenige aller übrigen ausschließt. Prudentielle Konflikte und moralische Dilemmata werden im Folgenden ausgeklammert, weil sie keine Zweifel an der Rationalität moralischen Handelns aufkommen lassen. Dass es zuweilen schwierig ist, eine kluge Wahl zwischen verschiedenen Zielen zu treffen, ist unbezweifelbar, stellt aber die Autorität der Moral nicht in Frage. Dass moralische Pflichten kollidieren können, ist zwar nicht gewiss,2 aber wahrscheinlich. Die Vernünftigkeit der Moral wird dadurch jedoch nicht angetastet, da sich der Handelnde in solchen Fällen ja bereits dafür entschieden hat, sich moralisch zu verhalten; er weiß nur noch nicht, welcher der moralischen Pflichten er den Vorrang einräumen soll. 2. Um umständliche Formulierungen zu vermeiden, soll die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, im Folgenden kurz als „V-Frage“ bezeichnet werden. Durch die knappe Typologie praktischer Konflikte ist bisher bestenfalls der Ursprung dieser Frage im Alltag aufgewiesen worden. Die Frage selbst bedarf noch der Klärung und der Präzisierung. Deshalb soll sie in diesem Kapitel zunächst historisch und systematisch eingeordnet werden. Danach werden ihre möglichen Bedeutungen sowie ihre Bedeutsamkeit für die Ethik erläutert. Abschließend sollen verschiedene Einwände gegen die Berechtigung der Fragestellung erörtert werden. Die V-Frage gehört in den Zusammenhang einer moralphilosophischen Debatte, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt. Genauer gesagt, handelt es sich bei ihr um die moderne Variante der alten Frage, warum man gerecht sein sollte. William
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Frankena hat darauf hingewiesen, dass diese Frage auf verschiedene Weise gestellt worden ist: [...] this question has been raised in many forms and in various moods. Even philosophers have asked it in different ways: Is justice profitable? Is the virtuous person the happy person? What obligation is there to be virtuous? What motives are there for doing what is right? What are the sanctions of morality? What are the reasons for being moral? (W. Frankena, „Concepts of Rational Action in the History of Ethics“, S. 165f.)
Ungeachtet der unterschiedlichen Formulierungen zielen alle diese Fragen auf ein und dasselbe Problem ab: Warum sollte man moralisch handeln, obwohl es zumindest dem Anschein nach vorteilhafter ist, sich den Beschränkungen der Moral nicht zu unterwerfen? In der Philosophie der Gegenwart wird die entsprechende Diskussion häufig unter dem Titel Warum moralisch sein? geführt.3 Ein Vergleich mit dieser abkürzend als „W-Frage“4 bezeichneten Fragestellung dürfte die Eigenart meiner Titelfrage deutlicher zutage treten lassen. Sofern die W-Frage nicht auf das Problem der Vernünftigkeit moralischen Handelns abzielt, d. h. sofern sie keine ungenaue Formulierung der V-Frage ist, sondern wörtlich verstanden sein will, weist sie zwei auffällige Merkmale auf. Erstens wird durch die Verwendung des Frageworts „warum“ die Menge möglicher Gründe für das Moralischsein nicht eingeschränkt; zweitens wird nicht nach Gründen für Handlungen, sondern für eine bestimmte Lebensweise oder Disposition, das Moralischsein, gefragt. Aufgrund beider Merkmale unterscheidet sich die W-Frage von der V-Frage. Zur Erläuterung: Wenn man ganz allgemein nach Gründen für das Moralischsein verlangt, dann besteht die nächst liegende Antwort darin, auf moralische Gründe zu verweisen, wie auch immer diese beschaffen sein mögen. In diesem Fall gelangt man über eine Erläuterung moralischer Regeln und ihrer Gründe
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nicht hinaus. Außerdem lässt die W-Frage auch Antworten zu, in denen auf arationale Grundlagen der Moral verwiesen wird. Auch ein Vertreter der Mitleidsethik vermag eine sinnvolle Antwort auf die W-Frage zu geben. Allerdings verweis er nicht auf rationale, sondern auf arationale Grundlagen der Moral und des moralischen Handelns.5 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung kann diese ernst zu nehmende theoretische Alternative leider nicht erörtert werden. Stattdessen beschränke ich mich im Folgenden gänzlich auf die Frage, welche vernünftigen Gründe dafür sprechen, moralisch zu handeln, also auf das Verhältnis zwischen praktischer Vernunft und Moral. Darüber hinaus ist die W-Frage in bestimmter Hinsicht zweideutig. Wenn gefragt wird, warum man moralisch sein sollte, dann kann damit mindestens zweierlei gemeint sein. Erstens könnte die Frage darauf abzielen, warum ein Mensch überhaupt ein moralfähiges Wesen sein sollte, d. h. ein Wesen, das moralische Begriffe, Urteile und Gefühle versteht. In Anlehnung an Kants Unterscheidung zwischen einem „mit Vernunftfähigkeit“ begabten Tier (animal rationabile) und einem „vernünftigen“ Tier (animal rationale)6 lässt sich auch in Bezug auf die Moral zwischen der bloßen Fähigkeit, moralisch zu urteilen und zu handeln, und deren Verwirklichung unterscheiden. Nun steht es aber in der Regel niemandem frei, ein moralfähiges Wesen zu sein oder es nicht zu sein. Nahezu alle Menschen wachsen in Gemeinschaften auf, die u. a. durch eine Moral konstituiert werden. Bevor sie sich dafür oder dagegen entscheiden können, moralfähige Wesen zu sein, lernen sie im Zusammenleben mit anderen, was Ausdrücke wie „gut“, „böse“, „gerecht“ und „ungerecht“ bedeuten. Auch die Entstehung des Gewissens ist kein Prozess, der vom Einzelnen gelenkt werden könnte; vielmehr bildet es sich in der Regel aufgrund der moralischen Erziehung und durch die Übernahme der Perspektive der anderen heraus. Ebenso verhält es sich mit den in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzenden moralischen Gefühlen, mit denen Kinder früh konfrontiert werden. Niemand entschließt sich dazu, überhaupt Reue, Scham oder Mitleid empfinden oder ein gutes oder
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schlechtes Gewissen haben zu können. Bevor eine solche Entscheidung gefällt werden könnte, ist dem Einzelnen die Anlage zu diesen Gefühlen im Normalfall schon anerzogen worden.7 Wenn die W-Frage darauf hinausläuft, warum man ein moralfähiges Wesen sein sollte, dann erübrigt sie sich also. Es steht uns nicht frei, darüber zu entscheiden, ob wir die Sprache der Moral verstehen und moralische Gefühle haben können wollen oder nicht. Deshalb ist das viel diskutierte Problem des Amoralisten von geringerer Bedeutung, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Dies gilt zumindest dann, wenn man den Amoralisten mit Bernard Williams als einen Menschen charakterisiert, dem moralische Erwägungen völlig gleichgültig sind, der niemandem etwas übel nimmt und der keine moralischen Wertungen vornimmt, also keine Handlung rechtfertigt oder verurteilt.8 Im Unterschied zu boshaften Menschen, deren Boshaftigkeit voraussetzt, dass sie moralische Urteile und Gefühle kennen und verstehen, dürfte ein solcher Mensch kaum aufzufinden sein. Wenn sich die Frage jedoch nicht darauf bezieht, warum man ein moralfähiges Wesen sein sollte, sondern darauf abzielt, warum man ein guter Mensch sein sollte, dann lässt sie sich auf die hier gestellte V-Frage zurückführen. Das moralische Handeln ist insofern grundlegender als das Moralischsein, als nur derjenige moralisch ist, der sich dauerhaft darum bemüht, moralisch zu handeln. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass die V-Frage grundlegender und präziser als die W-Frage ist. Dennoch hängen beide Fragen eng miteinander zusammen. Da außerdem die WFrage häufig auf die Rationalität moralischen Handelns abzielt, lassen sich die Beiträge zur Debatte über die Gründe des Moralischseins in der Regel auch auf die Frage nach der Vernünftigkeit moralischen Handelns beziehen. Darin liegt die Rechtfertigung dafür, dass ich im Folgenden gelegentlich Thesen diskutieren werde, die sich nicht explizit auf die V-Frage beziehen. 3. Die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, ist interpretationsbedürftig, weil die in ihr enthaltenen Begriffe
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mehrdeutig sind. Obwohl der Begriff der Moral keine einzige, allgemein anerkannte Bedeutung aufweist, dürfte Übereinstimmung über einige wesentliche Merkmale der Moral bestehen. In Anlehnung an das Vorverständnis des Begriffs soll in der vorliegenden Abhandlung unter „Moral“ eine Menge von praktischen Normen, Idealen und Tugenden verstanden werden, die innerhalb einer bestimmten Gruppe weitgehend anerkannt sind, durch die das Zusammenleben der Gruppenmitglieder geregelt wird und die für ihre Durchsetzung nicht auf rechtliche Sanktionen angewiesen sind. Neben diesen Charakteristika weist eine Moral weitere spezifische Merkmale auf: (i) Eine Moral wird dadurch konstituiert, dass innerhalb einer Gemeinschaft bestimmte Überzeugungen darüber geteilt werden, dass und warum bestimmte Handlungsweisen lobenswert oder verwerflich sind. Handlungen gelten deshalb als verboten oder geboten, weil die Einzelnen von deren moralischer Güte oder Schlechtigkeit überzeugt sind. Dies unterscheidet die Moral vom Recht. Die Geltung einzelner Rechtsnormen kann auch dann durchgesetzt werden, wenn diese von einer beachtlichen Zahl der Rechtssubjekte als ungerechtfertigt angesehen werden. (ii) Moralisches Urteilen und Handeln geht häufig mit moralischen Gefühlen wie Reue, Scham, dem guten oder schlechten Gewissen oder dem Übelnehmen einher. Diese Gefühle sind kennzeichnend für die Moral und unterscheiden sie von der Klugheit. Einen Menschen, der sich unklug verhalten hat, ohne damit einem anderen geschadet zu haben, wird man möglicherweise bedauern, man wird sich jedoch nicht über ihn empören. (iii) Kennzeichnend für die Moral sind darüber hinaus spezifische Haltungen gegenüber Personen, wie Achtung oder Verachtung, die sich auf die moralische Qualität dieser Personen beziehen. Wie die moralischen Gefühle, so sind auch diese Haltungen ein genuines Merkmal der Moralität. Diese Charakterisierung der Moral lässt bestimmte Fragen absichtlich offen, weil deren Beantwortung für die folgenden Überlegungen unerheblich ist. Es muss hier beispielsweise nicht entschieden werden, ob es neben den Pflichten gegenüber ande-
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ren auch Pflichten gegenüber sich selbst gibt.9 Sollte dies der Fall sein, dann ließe sich die V-Frage auch auf Letztere beziehen. Ebenso kann offen bleiben, ob es sich bei moralischen Normen um ausnahmslose Gesetze handelt oder um Regeln, die Ausnahmen zulassen. Da die Ausnahme von einer moralischen Regel nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie selbst moralisch begründet werden kann, wird das Verhältnis zwischen Rationalität und Moral durch die Auffassung, dass moralische Normen nicht ausnahmslos gelten, nicht berührt. Schließlich ist es in Bezug auf die V-Frage unerheblich, ob man die Moral auf den Bereich allgemein gültiger Regeln für das Zusammenleben beschränkt oder ob sie auch die sogenannte Lebenskunst einbezieht.10 Die Lehre vom guten oder gelingenden Leben ist nämlich in gewisser Hinsicht unproblematisch in Bezug auf das Verhältnis zwischen Rationalität und Moral. Da man bei jedem Menschen ein Interesse an einem guten Leben unterstellen kann, ist es auch prima facie vernünftig, ein solches Leben zu führen. Im Rahmen meiner Fragestellung ist die Theorie des gelingenden Lebens nur interessant, wenn sie entweder behauptet, dass die Moral (im engeren Sinn der Regeln für das Zusammenleben) ein notwendiger Bestandteil eines guten Lebens ist, oder dafür argumentiert, dass das Streben nach Glück unter Umständen mit den Regeln der Moral im engeren Sinn unvereinbar ist. Aus der ersten These ließe sich ein guter Grund für die Rationalität moralischen Handelns ableiten, aus der zweiten These ein Grund gegen sie. Ich habe bereits in der Einleitung erläutert, warum der Verifizierung oder der Falsifizierung einer dieser beiden Thesen erhebliche Schwierigkeiten entgegenstehen. Deshalb lasse ich sie auf sich beruhen. Der Begriff der Moral, dessen Bedeutung somit hinlänglich erläutert worden ist, stellt den unproblematischeren der beiden zentralen Termini in der V-Frage dar. Zweifellos ist es leichter, eine allgemein akzeptable Definition des Begriffs der Moral als des Begriffs der praktischen Vernunft zu geben. Es besteht nämlich kein Konsens über eine angemessene Definition dieses Begriffs. Der Begriff „praktische Vernunft“, der im Folgenden
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synonym mit „praktische Rationalität“ verwendet wird, weist zahlreiche verschiedene Bedeutungen auf.11 Dabei lässt die Vielfalt seiner Verwendungsweisen nicht nur auf semantische Meinungsverschiedenheiten schließen; sie ist vielmehr Ausdruck einer tief greifenden Uneinigkeit in Bezug auf unser menschliches Selbstverständnis. Sie ist ein Indiz dafür, dass in der Philosophie ein grundsätzlicher Dissens darüber besteht, wie man handeln und leben sollte. Die Vieldeutigkeit des Begriffs der praktischen Rationalität wirkt sich selbstverständlich auf die Beantwortung der V-Frage aus, denn, wie man das Verhältnis zwischen Vernunft und Moral beurteilt, wird wesentlich dadurch bestimmt, was man unter „Vernünftigkeit“ versteht. Ob man es für vernünftig hält, moralisch zu handeln, hängt also scheinbar ganz einfach davon ab, was man unter „praktischer Vernunft“ versteht. Somit scheint es unmöglich zu sein, eine allgemein akzeptable Antwort auf die V-Frage zu geben. Dieses methodische Problem lässt sich jedoch lösen, wenn man erstens verschiedene Rationalitätsbegriffe in die Untersuchung einbezieht und diese zweitens einer kritischen Prüfung unterzieht. Ich habe mich bemüht, beiden Anforderungen gerecht zu werden, indem ich die in der Ethik der Gegenwart einflussreichsten Theorien praktischer Rationalität behandle und für eine bestimmte Auffassung von praktischer Vernunft argumentiere. Im Einzelnen werden folgende Begriffe praktischer Rationalität berücksichtigt: (i) der durch die Lehre von grundlegenden Gütern oder Übeln material bestimmte Begriff praktischer Vernunft (Hobbes, Gert), (ii) der instrumentalistische Begriff der Rationalität (Gauthier, Stemmer), (iii) der Begriff praktischer Vernunft als der Fähigkeit der widerspruchsfreien Verallgemeinerung (Kant), (iv) der Begriff der kommunikativen Vernunft (Apel, Kuhlmann, Habermas), (v) der Begriff praktischer Rationalität im Sinne des Strebens nach Konsistenz (Gewirth). Wenn es – wie ich zu zeigen versuche – gute Gründe dafür gibt, aus dieser Menge geläufiger Rationalitätsbegriffe einen oder mehrere als den oder die angemessensten auszuwählen, dann ist die Antwort auf die V-Frage nicht der Willkür
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überlassen oder von dem privaten Verständnis von „Rationalität“ abhängig. An dieser Stelle soll auf den möglichen Einwand geantwortet werden, dass durch die synonyme Verwendung der Begriffe „praktische Vernunft“ und „praktische Rationalität“ eine wichtige sachliche Differenz unterschlagen werde. Weil Vernunft ein höher stufiges Vermögen der praktischen Überlegung als bloße Rationalität sei, bedeute die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, keineswegs das Gleiche wie die Frage, ob es rational ist, den Regeln der Moral zu folgen. Deshalb müssten beide Probleme voneinander unterschieden werden. Im Übrigen dürfe nicht von vornherein die Möglichkeit ausgeschlossen werden, dass es zwar rational sein kann, unmoralisch zu handeln, dass dies aber grundsätzlich unvereinbar mit den Standards praktischer Vernunft ist.12 – Auf diesen Einwand kann man zweierlei erwidern. Erstens lässt sich begriffsgeschichtlich nachweisen, dass der Begriff der praktischen Rationalität ein wichtiges Merkmal mit dem Begriff der praktischen Vernunft gemeinsam hat und insofern als dessen Nachfolger angesehen werden kann: Beide Begriffe bezeichnen die Fähigkeit, sich mit guten Gründen zum Handeln zu entschließen. In dieser Hinsicht besteht zwischen den beiden Begriffen also kein prinzipieller Unterschied. Eine solche Differenz lässt sich auch nicht durch die Behauptung stützen, dass der Begriff der Rationalität durch seine einseitige Orientierung am Nutzen wichtige Aspekte der Vernunft ausschließe. Diese Annahme ist deshalb falsch, weil der Begriff der praktischen Rationalität offen für verschiedene Inhalte und Kriterien ist.13 Zweitens werden in der Gegenwart die beiden verschiedenen Begriffe gelegentlich verwendet, um dasselbe zu bezeichnen, nämlich die bereits erwähnte Fähigkeit, sich anhand bestimmter Kriterien zum Handeln zu bestimmen. Darum ist es unerheblich, ob man mit Jürgen Habermas von Gebrauchsweisen der praktischen Vernunft oder mit Herbert Schnädelbach und anderen von Typen praktischer Rationalität spricht.14 Diejenigen Autoren, die tatsächlich einen sachlichen Unterschied zwischen praktischer Rationalität und Vernunft
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annehmen, sind heutzutage Ausnahmen.15 Aus diesen Gründen ist es m. E. nicht notwendig, ausdrücklich zwischen den Problemen der Rationalität und der Vernünftigkeit moralischen Handelns zu unterscheiden. 4. Um die Bedeutung der V-Frage möglichst präzise zu fassen, ist noch eine weitere begriffliche Klärung nötig. Der Begriff des moralischen Handelns lässt sich auf zweierlei Weise verstehen. Einerseits kann sich das Adjektiv „moralisch“ nur auf die Befolgung der Normen beziehen, andererseits aber sowohl auf die Einhaltung dieser Normen als auch auf die Motive für deren Befolgung. Im ersten Fall bezeichnet der Begriff also alle Handlungen, die den moralischen Normen gemäß sind, unabhängig davon, ob die Regelbefolgung auch moralisch motiviert ist, im zweiten Fall hingegen nur diejenigen Handlungen, die aufgrund moralischer Motive vollzogen werden. Offensichtlich schließt die Menge aller moralkonformen Handlungen die Menge aller moralisch motivierten Handlungen als Teilmenge ein.16 Wenn man die Bedeutung des Begriffs „moralisches Handeln“ auf moralisch motivierte Handlungen beschränkte, dann kämen für die Beantwortung der V-Frage nur Gründe in Frage, die sowohl moralisch als auch rational sind. Durch diese Einschränkung würde jedoch erstens eine einflussreiche Variante des ethischen Rationalismus aus der Untersuchung ausgeschlossen: die Version des Kontraktualismus, in der behauptet wird, dass es im aufgeklärten Eigeninteresse eines jeden liegt, sich den Beschränkungen der Moral zu unterwerfen. Zweitens wäre die Beschränkung auf moralische Gründe für moralkonformes Handeln in Bezug auf die V-Frage – in der es ja um die Rationalität moralischen Handelns geht – deshalb unplausibel, weil moralische Gründe nicht die einzig möglichen vernünftigen Gründe für Handlungen sind.17 Deshalb wird der Begriff des moralischen Handelns im Folgenden in seiner weiteren Bedeutung gebraucht: Er bezeichnet alle Handlungen, die moralischen Normen entsprechen, unabhängig davon, ob diese moralisch oder auf andere Weise motiviert sind.18 Die V-Frage kann daher folgendermaßen prä-
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zisiert werden: Ist es vernünftig, das zu tun, was die moralischen Normen fordern? 5. Für die Interpretation der V-Frage sind diese Bemerkungen zu den Begriffen „Moral“, „praktische Vernunft“ und „moralisches Handeln“ noch nicht hinreichend. Kurt Bayertz hat darauf hingewiesen, dass die Bedeutung der Frage nicht nur von den in ihr vorkommenden Begriffen abhängt, sondern auch davon, wer sie mit welcher Absicht stellt. Bayertz unterscheidet sechs Einstellungen, aus denen heraus die Frage, warum man moralisch sein oder handeln sollte, gestellt werden kann19. Diese Typologie lässt sich auch auf die V-Frage beziehen: (1) Naivität (2) Protest (3) Ausbeutung (4) Skeptizismus (5) Amoralismus (6) Immoralismus Zu (1): In ihrer naiven Form wird die W-Frage gewöhnlich situationsbezogen gestellt, typischerweise von einem Kind. Es möchte z. B. wissen, warum es seine Schwester nicht schlagen darf. Die Frage beruht auf Unwissenheit, nicht auf Vorbehalten gegenüber der Moral: „Das Kind erwartet eine plausible Antwort und ist grundsätzlich bereit, moralisch zu handeln, wenn es eine solche Antwort bekommen hat.“20 Zu (2): Ausdruck des Protests ist die W-Frage, wenn sie von Heranwachsenden gestellt wird, die sich gegen die Erwachsenen auflehnen und beobachtet haben, dass diese oft nur aus Konformismus moralisch handeln. Der Widerstand gegen die Moral stellt in diesem Fall ein „Übergangsphänomen“ dar, „das im Verlauf der individuellen Moralentwicklung verschwindet, sobald die Ebene des postkonventionellen moralischen Denkens erreicht ist, das ein rationales Konzept der Erzeugung moralischer Regeln einschließt. Hinter der W-Frage verbirgt sich hier
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die legitime Frage nach den nicht-konventionellen Gründen für die Moral.“21 Zu (3): Eine Reaktion auf Ausbeutung ist die W-Frage dann, wenn sie von Menschen gestellt wird, die sich redlich bemüht haben, moralisch zu handeln, dabei aber von anderen ausgenutzt worden sind. Sie fragen sich daher, „ob es sich wirklich ‚lohnt‘, moralisch zu sein und ob es zumutbar ist“22. Ähnlich geht es denjenigen, die sich als Einzige an bestimmte soziale Regeln halten: „Auch in diesen Fällen ist die Frage gut nachvollziehbar. In ihr steckt ein echtes Problem; denn es kann nicht richtig, nicht gerecht und daher auch nicht moralisch sein, daß die mit der Moral verbundenen Lasten einseitig verteilt sind; daß einige diese Lasten tragen, während andere sich ihnen entziehen.“23 Zu (4): Wenn die Frage von denjenigen gestellt wird, die die rationale Entscheidbarkeit moralischer Probleme grundsätzlich bezweifeln, dann beruht sie auf einem moralischen Skeptizismus. Falls diese Skepsis gegenüber der Moral nicht nur als Vorwand für die Rechtfertigung der eigenen moralischen Unzulänglichkeiten gebraucht wird, sondern ernst gemeint ist, haben wir es mit einem Skeptiker zu tun, der grundsätzlich bereit wäre, „moralisch zu handeln, wenn er nur wüßte, was moralisch richtig ist“24. Zu (5): Wenn sie vom Amoralisten gestellt wird, bedeutet die W-Frage in etwa: „,Warum soll ich moralisch sein, wenn es mir nichts nützt?‘“25 Der Amoralist weiß Bayertz zufolge, was die Moral von ihm verlangt, und er stellt die Möglichkeit moralischer Erkenntnis nicht in Frage.26 Er bestreitet lediglich, dass es für ihn hinreichende Gründe dafür gibt, sich an die moralischen Normen zu halten. Er lehnt die Moral ab, weil sie ihn an der Durchsetzung seiner Interessen hindert. Zu (6): Im Unterschied zum Amoralisten missachtet der Immoralist die Moral nicht nur, weil sie mit seinen Interessen unvereinbar ist, sondern weil er sie für grundsätzlich sinnlos, verkehrt oder schädlich hält. Er würde „auch dann moralwidrig handeln, wenn seine Interessen dadurch nicht befördert werden.
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Der Immoralist handelt unmoralisch um des Unmoralisch-seins willen; und dies läßt in ihm eine starke Neigung zur Irrationalität entstehen.“27 Anhand der Bayertz’schen Typologie lässt sich verdeutlichen, worauf die V-Frage abzielt. Das Kind und der protestierende Heranwachsende wollen wissen, auf welchen Gründen moralische Normen beruhen. Der Unterschied zwischen ihnen besteht nur darin, dass sich das Kind leichter mit der Angabe bestimmter Gründe zufrieden geben dürfte als der Adoleszent, der über eine stärker ausgeprägte Fähigkeit zur kritischen Prüfung der vorgebrachten Begründungen verfügt. Auch der Zweifel des Skeptikers betrifft die Geltungsgründe moralischer Regeln. In allen drei Fällen geht es also um die Begründung moralischer Forderungen. Dies unterscheidet sie von den Problemen der Ausgebeuteten und des Amoralisten, denn diese beiden Typen kennen sowohl den Inhalt als auch den Grund der moralischen Regeln. Ihr Zweifel richtet sich nicht auf die Begründung, sondern auf die Befolgung moralischer Normen. Schwer zu beurteilen ist hingegen, wie es sich mit dem Immoralisten verhält. Wenn seine Ablehnung der Moral tatsächlich nur auf einer irrationalen Neigung beruhen sollte, dann dürfte er für Argumente wohl kaum empfänglich sein. Wie bereits angedeutet, konzentriert sich die vorliegende Untersuchung auf die Frage nach der Rationalität der Befolgung moralischer Regeln. Aus diesem Grund richten sich die Antworten auf die V-Frage in erster Linie an diejenigen, die wissen, was die Moral von ihnen verlangt, und die sich fragen, ob es vernünftig ist, diesen Forderungen nachzukommen. In Bayertz’ Typologie ausgedrückt, trifft dies nur auf die Ausgebeutete und den Amoralisten zu. Wenn man aber bedenkt, dass es hier nicht um die erschöpfende Alternative geht, ob man niemals oder immer moralisch handeln sollte, sondern vor allem um das Problem der gelegentlichen Normverstöße, dann wird deutlich, dass die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, nicht nur in Bezug auf die Ausgebeutete und den Amoralisten, sondern für alle moralischen Subjekte von Interesse ist.
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Soweit dies möglich ist, soll bei der Behandlung der VFrage das Problem der Begründung moralischer Normen ausgeklammert werden.28 Mit den folgenden Ausführungen wird daher nicht beabsichtigt, den Inhalt oder die Grundlagen der Moral zu explizieren. Stattdessen muss hier vorausgesetzt werden, dass auch in modernen Gesellschaften Konsens über einige grundlegende moralische Regeln besteht, und zwar unabhängig davon, wie diese jeweils begründet werden.29 Moralisch umstrittene Fälle, wie z. B. die aktive Sterbehilfe, die Abtreibung oder die Forschung an embryonalen Stammzellen können nicht berücksichtigt werden. Stattdessen werde ich mich in der Diskussion auf moralische Normen beschränken, die – zumindest im Sinne prima facie geltender Regeln – weitgehend unumstritten sind, z. B. die Pflicht, Menschen, deren Gesundheit oder Leben akut bedroht ist, Hilfe zu leisten, oder die Verbote der Demütigung, des Betrugs, der Folter30, der Körperverletzung, der Vergewaltigung und des Mordes. Es dürfte nun deutlich geworden sein, worin sich das Thema dieser Untersuchung von dem Problem der Begründbarkeit moralischer Normen unterscheidet. Die V-Frage bezieht sich nicht oder zumindest nicht in erster Linie darauf, ob moralische Regeln selbst vernünftigerweise begründet werden können. Dies wird hier vielmehr unterstellt. In ihr geht es nur darum, ob man diesen moralischen Forderungen vernünftigerweise nachkommen sollte, und zwar auch dann, wenn sie mit prudentiellen Anforderungen unvereinbar zu sein scheinen. Nun lassen sich offensichtlich die möglichen Bedeutungen der Frage, ob man vernünftigerweise moralisch handeln sollte, nach zwei weiteren, bisher nicht in Betracht gezogenen Gesichtspunkten differenzieren: hinsichtlich der Häufigkeit moralischen Handelns und in Bezug auf die Menge der Personen, denen gegenüber man sich moralisch verhält. Der Bayertz’sche Amoralist ist der Auffassung, dass er moralische Regeln niemals einhalten sollte, d. h. auch niemandem gegenüber. Dies ist jedoch nicht die einzige mögliche Auslegung der V-Frage. Vielmehr kann sie in Bezug auf die Häufigkeit moralischen Handelns Verschiede-
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nes bedeuten: Ist es vernünftig, niemals / manchmal / in der Regel / immer moralisch zu handeln? Der Amoralist stellt sicherlich einen interessanten, idealtypischen Extremfall dar; in der Wirklichkeit kommt er wahrscheinlich nur selten vor. Wenn man von alltäglichen praktischen Konflikten ausgeht, wie sie am Anfang dargestellt wurden, dann liegt es nahe, die V-Frage vor allem auf Ausnahmen von moralischen Regeln zu beziehen. Auch die Menschen, die sich in der Regel bemühen, anderen mit Rücksicht zu begegnen, und die Geltung moralischer Regeln nicht in Frage stellen, können sich in bestimmten Situationen fragen, ob sie das tun sollten, was sie für das moralisch Gebotene halten. Diese Situationen weisen meist wenigstens eines der beiden folgenden Merkmale auf. (1) Der Verstoß gegen die moralische Norm wird wahrscheinlich nicht entdeckt werden. (2) Der Verstoß gegen die moralische Norm wird wahrscheinlich keine Sanktionen gegen den Akteur nach sich ziehen. Unter diesen Umständen muss man kein Amoralist sein, um daran zweifeln zu können, ob man das moralisch Gebotene vernünftigerweise tun sollte. Aus dieser Überlegung ergibt sich der Schluss, dass die V-Frage nicht im Sinne eines Entweder-Oder verstanden werden darf. Die Häufigkeit der Befolgung moralischer Regeln lässt graduelle Abstufungen zu. Der Heilige und der Amoralist befinden sich an den Enden der entsprechenden Skala, die übrigen Menschen irgendwo zwischen ihnen. Wir fragen uns gewöhnlich nicht grundsätzlich, ob wir immer oder niemals moralisch handeln sollten; vielmehr wird die V-Frage für uns nur in bestimmten Ausnahmesituationen relevant, und gerade diese Situationen sind für die Ethik von besonderem Interesse. Damit soll nicht geleugnet werden, dass die Annahme des sogenannten Amoralisten in der Ethik fruchtbar sein kann. Im Gegenteil: Der Amoralist spielt in der Ethik die gleiche Rolle wie der Skeptiker in der Erkenntnistheorie. Beide wurden erdacht, um zu prüfen, wie weit bestimmte Begründungen reichen und auf welchen subjektiven Voraussetzungen ihre Akzeptanz beruht. Bestritten wird hier lediglich, dass der Amoralist in Bezug auf die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln,
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besonders relevant ist. Wichtiger als diese fiktive Figur, welche die außergewöhnliche Entscheidung getroffen hat, niemals moralkonform zu handeln, ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass auch redliche Menschen unter bestimmten Umständen daran zweifeln können, ob sie das moralisch Gebotene vernünftigerweise tun sollten. Ähnlich wie mit der Häufigkeit moralkonformen Handelns verhält es sich mit der Gruppe derjenigen, denen gegenüber wir uns moralisch verhalten sollten. Auch in diesem Fall lässt die VFrage verschiedene Deutungen zu: Ist es vernünftig, niemanden / einige Menschen / die meisten Menschen / alle Menschen moralisch zu behandeln? Offensichtlich ist diese Differenzierung vor allem hinsichtlich des Verhältnisses von Glück und Moral von Bedeutung. Es besteht nämlich die Möglichkeit einer gruppenbezogenen, also partikularen Moralität.31 Deshalb folgt aus der von einigen Autoren vertretenen These, dass moralische Beziehungen zu anderen Menschen eine notwendige Bedingung für ein gelingendes Leben sind, nicht, dass man allein deshalb einen guten Grund hätte, alle Menschen moralisch zu behandeln. (In Bezug auf negative Pflichten ist dies ja ohne weiteres möglich.) Die Ergebnisse der bisher angestellten Überlegungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: (1) Die V-Frage ergibt sich in der Regel aus einem Konflikt zwischen prudentiellen und moralischen Gründen. (2) Sie muss von der Frage nach der Begründbarkeit moralischer Normen unterschieden werden. (3) Ihre Bedeutung und ihre Beantwortung werden davon abhängen, was man unter „praktischer Rationalität“ versteht. (4) Der Begriff „moralisches Handeln“ bezeichnet in der VFrage nicht nur moralisch motiviertes, sondern jegliches absichtlich moralkonformes Handeln. (5) Die Frage lässt in zwei Hinsichten verschiedene Auslegungen zu: (a) in Bezug auf die Häufigkeit moralischen Handelns, (b) hinsichtlich der Menge der Menschen, auf die man Rücksicht nehmen sollte. In beiden Fällen sind graduelle Abstufungen zwischen jeweils zwei Extremen möglich.
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6. Man hat aus verschiedenen Gründen bezweifelt, dass die VFrage sinnvoll ist. Drei der Einwände gegen ihre Berechtigung sollen im Folgenden erörtert werden. In seinem 1876 erschienenen Aufsatz „Warum soll ich moralisch sein?“, der einen wichtigen Bezugspunkt für die neuere Debatte bildet, schreibt F. H. Bradley: Hat also die Frage „Warum soll ich moralisch sein?“ keinen Sinn, und läßt sich daher auch keine positive Antwort geben? Ja, die Frage hat überhaupt keinen Sinn; sie ist einfach bedeutungslos, es sei denn, sie ist gleichbedeutend mit der Frage „Ist die Moralität ein Zweck an sich; und wenn ja, wieso und in welcher Hinsicht ist sie ein Zweck?“ (F. H. Bradley, „Warum soll ich moralisch sein?“, S. 75)
Zu diesem Ergebnis gelangt der Autor durch folgenden Gedankengang. Er geht davon aus, dass es im Allgemeinen vernünftig ist, zu fragen, warum wir etwas tun sollten, „denn die Vernunft lehrt uns, nichts blind, nichts ohne Zweck oder Ziel zu tun“32. Wenn man die Frage jedoch auf die Moralität beziehe, erscheine sie „merkwürdig“: „Denn die Moralität (auch sie ist Vernunft) lehrt uns, daß wir sie nie wirklich wahrgenommen haben, wenn wir sie nur als gut zu etwas anderem betrachten. Sie sagt, daß sie ein Zweck sei, den man um seiner selbst willen begehrt, nicht aber als Mittel zu etwas außer ihm Liegendem.“33 Bradley unterstellt hier, dass sich die Menge aller erstrebenswerten Dinge in zwei Klassen unterteilen lässt: in Dinge, die als Mittel zur Erreichung von etwas anderem erstrebenswert sind, und in Dinge, die um ihrer selbst willen erstrebt zu werden verdienen. Wenn man mit Platon eine dritte Gruppe hinzufügt, nämlich diejenigen Dinge, die sowohl instrumentell als auch intrinsisch wertvoll sind,34 dann ist diese Klassifikation vollständig. Bradley zufolge ist nun die Frage, warum man moralisch sein soll, deshalb sinnlos, weil in ihr unterstellt werde, „dass Tugend nur als Mittel gut ist“35. So verstanden, werde die Frage unverständlich, weil sie, sofern man Bradleys Prämisse teilt, lautet: „Wozu ist das, was an sich selbst gut ist, gut?“ Wer so fragt, der scheint etwas nicht verstanden zu haben. Es ist jedoch keineswegs einzusehen, warum man Bradleys Voraussetzung, dass Moralität ein Selbstzweck bzw. an sich gut
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sei, akzeptieren sollte. Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, versteht es sich nicht von selbst, dass die Moral einen intrinsischen Wert hat. Auch liegt es nicht auf der Hand, worin dieser bestehen könnte.36 Die Mehrzahl der ethischen Schulen hat den Wert der Moral funktional bestimmt und ihr somit nur einen instrumentellen Wert zugesprochen. Es ist in diesem Zusammenhang zweitrangig, worin die Funktion moralischen Handelns besteht: in der Erlangung der eudaimonía, in der Minderung des Leidens, der Sicherung der Freiheit der Einzelnen, der Maximierung des größten Glücks der größten Zahl oder Ähnlichem. Entscheidend ist hier nur, dass Moralität nicht zu den Grundgütern zählt, in Bezug auf die es aufgrund ihres intrinsischen Werts sinnlos ist, zu fragen, warum man sie erstreben sollte. Dies kann man sich anhand eines Vergleichs verdeutlichen. Auf die Frage ‚Warum sollte ich Schmerzen vermeiden wollen?‘ lässt sich keine sinnvolle Antwort geben. Man kann sie nur mit der Gegenfrage beantworten, welcher adäquate Grund dafür spricht, etwas intrinsisch Schlechtes zu erstreben oder in Kauf zu nehmen. Wenn hingegen gefragt wird, warum man moralisch handeln sollte, stehen mehrere sinnvolle Antworten zur Auswahl: um das Leiden der Menschen zu verringern, um die Freiheit anderer zu ermöglichen oder um selbst glücklich werden zu können etc. – Es spricht also einiges dafür, dass Bradleys Prämisse entweder falsch oder zumindest begründungsbedürftig ist. Da sein Einwand gegen die Berechtigung der W-Frage jedoch von der Prämisse abhängt, dass Moralität ein Selbstzweck ist, spricht so lange nichts gegen die Frage, wie nicht erwiesen wurde, dass dem moralischen Handeln ein Eigenwert zukommt. Einen anderen Einwand hat H. A. Prichard in seinem 1912 erschienenen, einflussreichen Aufsatz „Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?“ vorgebracht. Prichard zufolge stellt die Frage, „warum ich so handeln soll, wie ich nach meiner bisherigen Überzeugung handeln sollte“37, das Grundproblem der Moralphilosophie dar. Alle möglichen Antworten ließen sich zwei Typen zuordnen:
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Entweder sie besagen, dass wir das und das tun sollten, weil es, wie sich zeigt, wenn wir die Tatsachen voll erfassen, zu unserem Besten sein wird, d. h., wie ich lieber sagen würde, weil es wirklich zu unserem Vorteil oder besser noch zu unserem Glück sein wird; oder sie besagen, dass wir das und das tun sollten, weil etwas, das bei der Handlung oder durch sie realisiert wird, gut ist. M. a. W., der angegebene Grund ist entweder das Glück des Handelnden oder die Tatsache, dass gewisse Begleitumstände der Handlung gut sind. (H. A. Prichard, „Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?“, S. 49)
Prichard zufolge führt also die Frage, warum man das tun sollte, wozu man moralisch verpflichtet ist, in ein Dilemma38: Entweder man führt Klugheitsgründe dafür an, warum man moralisch handeln sollte. In diesem Fall verweist man nach Prichard auf die falsche Art von Gründen (erstes Horn). Oder man beantwortet sie mit moralischen Gründen, dann gerät man in einen vitiösen Zirkel (zweites Horn). Zustimmen muss man Prichard zweifellos darin, dass die zweite Antwort unbefriedigend ist. Derjenige, der sich fragt, ob er weiterhin seinen moralischen Pflichten nachkommen sollte, wird sich natürlich nicht mit dem Verweis auf die moralischen Gründe zufrieden geben, die ihm bereits hinlänglich bekannt sind. Anders verhält es sich mit der ersten Möglichkeit. Die Behauptung, dass Moralität zum eigenen Vorteil gereicht, beurteilt Prichard in Bezug auf die Beantwortung der V-Frage so: „Die Anwort ist natürlich keine Antwort, denn sie kann uns nicht davon überzeugen, daß wir unseren Verpflichtungen nachkommen sollten. Selbst wenn sie, gemessen an ihrem eigenen Anspruch, Erfolg hat, bringt sie uns lediglich dazu, daß wir ihnen nachkommen wollen.“39 Diese Einschätzung halte ich aus zwei Gründen für falsch. Erstens scheint Prichard zu Unrecht zu unterstellen, dass Handlungsnormen in jedem Fall moralischer Art sein müssen. Anders lässt sich die Bemerkung, dass der Verweis auf den eigenen Nutzen uns nicht davon überzeugen könnte, dass wir unseren Pflichten nachkommen „sollten“, wohl kaum verstehen. Diese Unterstellung ist deshalb unberechtigt, weil sich Handlungsnormen auch prudentiell oder instrumentell begründen lassen. Wer z. B. einen bestimmten Zweck will, für den gilt,
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dass er die für das Erreichen dieses Zwecks notwendigen Mittel ergreifen soll. Dieses Sollen ist ebenso verbindlich wie das moralische.40 Zweitens ist es nicht richtig, dass das Argument der Nützlichkeit der Moral nur zeigen könnte, dass wir unsere Pflichten erfüllen „wollen“. Tatsächlich wollen Menschen offensichtlich häufig unmoralisch handeln, um sich dadurch einen scheinbaren Vorteil zu verschaffen. Das Argument, das beispielsweise von den Kontraktualisten vertreten wird, zielt jedoch darauf ab, das kurzfristig Gute vom langfristig Guten zu unterscheiden. Es soll gezeigt werden, dass es im aufgeklärten Eigeninteresse eines jeden ist, sich den Beschränkungen der Moral zu unterwerfen. Es geht also nicht darum, was wir wollen, sondern darum, was wir vernünftigerweise wollen sollen. Wenn sich zeigen ließe, dass das, was dem Anschein nach zu unserem Nachteil ist, nämlich die Unterwerfung unter die moralischen Regeln, tatsächlich unserem Vorteil dient, wäre die Frage, warum man vernünftigerweise moralisch handeln soll, überzeugend beantwortet. Prichards Einwand erweist sich somit als nicht stichhaltig. Der dritte Einwand bestreitet nicht, dass die V-Frage sinnvoll und berechtigt ist, sondern dass sie sich unabhängig von der Frage nach der Begründung moralischer Normen erörtern lässt. Wer akzeptiert hat, dass eine bestimmte moralische Forderung gilt, der habe damit zugleich anerkannt, dass er ihr nachkommen soll. Anders gesagt: Der Nachweis der Geltung einer Norm schließe den Nachweis ein, dass man sie vernünftigerweise befolgen sollte; und die Akzeptanz einer Norm beinhalte die Absicht, sie zu befolgen. Deshalb hänge die Frage nach der Rationalität der Befolgung moralischer Regeln untrennbar mit dem Problem ihrer vernünftigen Begründung zusammen. Der Einwand lenkt die Aufmerksamkeit auf eine ernst zu nehmende Schwierigkeit: Wie ist es möglich, dass jemand von der Geltung einer moralischen Regel überzeugt ist und dass er sich dennoch fragen kann, ob es vernünftig ist, ihr gemäß zu handeln? Gegen diesen Einwand lassen sich drei Überlegungen anführen. Erstens würde die Überzeugung, dass eine moralische Norm in jedem Fall eingehalten werden sollte, nur dann aus
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deren Akzeptanz folgen, wenn eine der beiden Bedingungen erfüllt wäre: (i) Moralische Gründe sind die einzigen normativen Handlungsgründe. (ii) Moralische Gründe sind zwar nicht die einzigen normativen Handlungsgründe, aber ihnen kommt im Falle eines Konflikts stets der Vorrang gegenüber anders gearteten Gründen zu. – Warum Bedingung (i) nicht erfüllt ist, wird in Kapitel 8 näher erörtert werden. Was die zweite Bedingung betrifft, so handelt es sich bei ihr nicht um eine selbstverständliche Annahme, sondern um eine metaethische These, die hier als Vorrangthese bezeichnet werden soll und die ebenfalls im Schlusskapitel diskutiert werden wird. Vorerst sei über sie nur so viel gesagt: Man mag ohne weiteres zugestehen, dass es vom moralischen Standpunkt aus gefordert ist, im Falle eines Konflikts zwischen moralischen und anderen Gründen der Moral den Vorrang einzuräumen. Ob dies jedoch auch in jedem Fall vernünftig ist, das steht auf einem anderen Blatt. Für denjenigen, der bezweifelt, dass man vernünftigerweise niemals unmoralisch handeln dürfe, stellt die Vorrangthese keine befriedigende Antwort, sondern nur eine petitio principii dar. Sie wiederholt nur mit anderen Worten das, wofür er eine Begründung verlangt. Deshalb spricht der bloße Verweis auf den angeblichen Vorrang moralischer Gründe nicht gegen die Berechtigung der V-Frage. Zweitens lässt sich auf den Einwand antworten, dass die Akzeptanz einer Norm nicht der einzige mögliche Grund für deren Befolgung ist.41 Dies gilt auch für moralische Normen. Betrachten wir ein Beispiel: Jemand, der Nacktbaden für moralisch unbedenklich hält, lebt in einem ländlichen, religiös-konservativen Milieu. Er weiß, dass seine Mitmenschen das Nacktbaden moralisch verurteilen und dass ihm soziale Sanktionen drohten, falls bekannt würde, dass er nackt gebadet hat. Dieser Mann hat zumindest prima facie einen guten Grund, sich an die moralische Norm, dass man nicht nackt im Freien baden sollte, zu halten, obwohl er sie nicht akzeptiert. Aus dieser Überlegung lässt sich folgender Schluss ziehen: Es darf nicht ausgeschlossen werden, dass es andere als moralische Gründe für die
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Befolgung moralischer Normen gibt. Das heißt aber, dass die Frage nach der Begründbarkeit moralischer Normen und die Frage nach der Rationalität ihrer Befolgung nicht notwendigerweise auf dasselbe Problem abzielen. Gegen den Einwand, dass sich das Thema der Befolgung moralischer Normen nicht von der Frage nach ihrer Begründbarkeit unterscheiden lässt, kann man schließlich darauf verweisen, dass es wenigstens einen Typ ethischer Theorien gibt, in dem die Probleme der Begründung moralischer Normen und der Rationalität ihrer Befolgung voneinander unterschieden und sukzessive behandelt werden. Gemeint ist der Kontraktualismus, der in den folgenden drei Kapiteln ausführlich untersucht wird. Die vertragstheoretische Begründung moralischer Normen umfasst zwei Schritte, die sich klar voneinander abgrenzen lassen. Im ersten Schritt werden bestimmte Normen begründet, die für alle von ihnen Betroffenen unter der Bedingung akzeptabel sind, dass sie von allen befolgt würden. Es handelt sich hier also um eine hypothetische Begründung unter idealisierten Bedingungen. Gefragt wird, welchen Regeln des Zusammenlebens sich ein Gruppe von Menschen vernünftigerweise unterwerfen könnte, wenn alle ihre Mitglieder davon ausgehen könnten, dass diese Regeln von allen eingehalten werden und dass alle Beteiligten dies voneinander wissen. Die Frage, ob man den auf diese Weise begründeten Normen auch im Einzelfall folgen sollte, stellt sich jedoch nicht mehr unter idealisierten, sondern unter realen Bedingungen, die u. a. die Möglichkeit des Unrechttuns im Verborgenen einschließen. Deshalb muss der ethische Kontraktualismus in einem zweiten Schritt nachweisen, dass es vernünftig ist, den moralischen Normen auch zu folgen, und zwar auch dann, wenn dies nicht im unmittelbaren Interesse des Einzelnen liegt. – Das Beispiel des ethischen Kontraktualismus belegt, dass die Probleme der Begründung moralischer Normen und der Rationalität ihrer Befolgung nicht prinzipiell ununterscheidbar sind. Inwiefern sich die Abgrenzung beider Fragen auch mit Bezug auf andere Theorietypen vollziehen lässt, muss vorerst offen bleiben.
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7. Bisher war von den verschiedenen Bedeutungen die Rede, welche die V-Frage haben kann. Außerdem sind Einwände gegen ihre Berechtigung geprüft worden. Wenn es gelungen sein sollte, nachzuweisen, dass die Frage sinnvoll ist, so ist damit noch nichts über ihre Relevanz gesagt. Worin besteht ihre Bedeutung für die Ethik? Was steht bei ihrer Beantwortung auf dem Spiel? – Dies wird deutlich, wenn man sich das Ziel des ethischen Rationalismus42 in Erinnerung ruft. Seit Sokrates und Platon haben die ethischen Rationalisten nachzuweisen versucht, dass moralische Regeln nichts anderes sind als vernünftige Normen einer bestimmten Art. Wenn dies richtig wäre, dann hätte jeder vernunftbegabte Mensch prima facie einen guten Grund, moralisch zu handeln. Oft geht diese These mit der Auffassung einher, dass es sich bei moralischen Regeln um rational verpflichtende Normen handelt. Darin ist eine bemerkenswerte Behauptung impliziert: Wer unmoralisch handle, der handle eo ipso unvernünftig. Das Böse könne man also nur um den Preis der Irrationalität tun. Harry Frankfurt fasst diese Position folgendermaßen zusammen: The defining thesis of ethical rationalism, [...] is that failing to accede to the requirements of morality is an offense against reason. According to this thesis, moral principles are logically or conceptually necessary truths. They can be strictly derived from the analysis of concepts such as those of rationality, or agency, or personhood, or the like; and they cannot be rejected without incurring fatal incoherence or contradiction. [...] To neglect or to defy the command of the moral law is no less contrary to reason than it is to affirm a contradiction or to commit any other logically prohibited mistake. (H. Frankfurt, „Rationalism in Ethics“, S. 259f. – Hervorh. v. mir)
Wenn diese Variante des ethischen Rationalismus, die im Folgenden als starker ethischer Rationalismus bezeichnet werden soll,43 Recht hätte, dann wäre es möglich, selbst einen Amoralisten im Bayertz’schen Sinn von der Richtigkeit und Notwendigkeit des moralischen Handelns zu überzeugen, ohne dabei an etwas anderes als an seine Vernünftigkeit zu appellieren. So wie jemand, der auf einen Widerspruch zwischen zweien seiner Überzeugungen
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hingewiesen wird, einen guten Grund hat, eine von ihnen aufzugeben, so hätte ein boshafter Mensch einen guten Grund, zu einem tugendhaften Menschen zu werden, sobald man ihn auf den kognitiven Fehler hingewiesen hat, der seinen bösen Handlungen zugrunde lag. Um den Verdacht zu zerstreuen, dass es sich bei dieser starken Variante des ethischen Rationalismus um ein abwegiges theoretisches Konstrukt handelt, das nur erdacht worden ist, um es leicht widerlegen zu können, seien hier einige Beispiele angeführt. Nico Scarano schreibt: Weil unsere moralischen Überzeugungen in unseren eigenen Augen einen absoluten Vorrang genießen, verlangen sie von uns, dass wir im Fall eines auftretenden Konflikts auch gegen unsere Wünsche und Neigungen handeln. Wir nehmen sie deshalb als kategorische Gebote wahr. Wenn wir uns in solchen Fällen nicht nach unseren moralischen Überzeugungen richten, können wir unser Handeln und damit auch uns selbst nicht als rational ansehen. Denn wir würden dann gegen unsere eigenen Beurteilungsmaßstäbe verstoßen. Wir könnten unsere Handlung weder vor uns selbst noch gegenüber anderen rechtfertigen. (Moralische Überzeugungen, S. 127f.)
Alan Gewirth behauptet: The authoritative question – why anyone should be moral in the sense of taking favorable account of the interests of other persons – is answered by noting that this is required by reason in its most rigorous interpretation of avoiding self-contradiction, [...]. (Reason and Morality, S. 150)
Bei Wolfgang Kuhlmann heißt es: Der wesentliche Gedanke ist der, daß, wenn Verpflichtungen sich begründen lassen, wenn als Verpflichtung das zählt, was sich begründen lässt (für das sich gute Gründe geben lassen), dann ist das Schlechte oder das Böse dasjenige, was sich letztlich nicht begründen läßt bzw. schwächer, für das sich keine guten Gründe geben lassen. Es ist dann irreduzibel irrational, das Schlechte zu wählen. (Reflexive Letztbegründung, S. 225)
Kurt Baier schreibt: „[...] morality is necessarily in accordance with reason and immorality necessarily contrary to it. For there
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is a conceptual link between morality and rationality.“44 – Mit Bezug auf denselben Autor lässt sich außerdem zeigen, dass der starke ethische Rationalismus gelegentlich auch in einer gemäßigten Variante vertreten wird, der zufolge es zwar nicht irrational, aber unvernünftig ist, unmoralisch zu handeln. So unterscheidet Baier an anderer Stelle zwischen mehreren Stufen bzw. Begriffen der Rationalität: (1) „die minimale Fähigkeit, Gründe zu erkennen und geltend zu machen“; (2) „Die Fähigkeit, Gründe zu erkennen und geltend zu machen, wirklich ausüben, und zwar entsprechend einem Minimalstandard der Akzeptierbarkeit.“; (3) „Vollkommene Rationalität: Diese Fähigkeit fehlerlos ausüben.“45 „Vollkommene Rationalität“ ist bei Baier synonym mit „Vernunft“ (reason).46 Den drei Stufen der praktischen Rationalität entsprechen drei Stufen der Irrationalität bzw. der Widervernünftigkeit. Mit Rekurs auf diese Differenzierung vertritt Baier folgende These in Bezug auf einen Menschen, der mit Gründen unmoralisch handelt: „Ich behaupte bloß, dass er wider die Vernunft handelt, wenn auch nicht auf so eklatante Weise wie im Fall der Irrationalität.“47 Baiers Unterscheidung zwischen „Irrationalität und weniger eklatanten Formen widervernünftigen Handelns“48 ändert jedoch grundsätzlich nichts an der These des starken ethischen Rationalismus: Wer gegen moralische Normen verstößt, der macht von seinen kognitiven Fähigkeiten oder seiner praktischen Rationalität einen defizienten Gebrauch. Sofern er sich nicht so vernünftig verhält, wie er es könnte und wie es das Ideal der vollkommenen Rationalität fordert, begeht er einen Fehler. Vielleicht würde es manchen beruhigen, wenn der starke ethische Rationalismus Recht hätte. Denn erstens wäre in diesem Fall der praktisch motivierte ethische Skeptizismus widerlegt. Zweitens würden wir über eine plausible Erklärung des Bösen verfügen, dessen Ursprung vielen rätselhaft erscheint. Und drittens wären Menschen wie Nero, Hitler, Stalin, Mengele oder der Sexualstraftäter Marc Dutroux eher bedauernswert als verabscheuungswürdig. Entweder beruhten ihre Verbrechen auf Irrtümern, oder sie verhielten sich selbstwidersprüchlich. In
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keinem der beiden Fälle hätten wir Anlass, sie zu verachten. Irren ist nun einmal menschlich, und auch vor gelegentlicher Irrationalität ist niemand gefeit. Wir könnten diesen Menschen bestenfalls vorwerfen, dass sie sich nicht hinreichend über die Folgen ihrer Handlungen informiert oder dass sie nicht gründlich genug nachgedacht hätten. Wenn Tugend Wissen ist, dann beruht der Mangel an Tugend auf einem Mangel an Wissen. Wenn moralisches Handeln rational zwingend ist, dann ist unmoralisches Handeln Ausdruck eines bedauernswerten Mangels an Rationalität. In der Praxis des moralischen Urteilens gibt es jedoch einen Anhaltspunkt dafür, dass der starke ethische Rationalismus nicht im Recht ist: Auf unkluges Handeln reagieren wir anders als auf unmoralisches Verhalten. Ein Verstoß gegen prudentielle Regeln wird anders beurteilt und ruft andere Gefühle hervor als ein Verstoß gegen eine moralische Norm: People are not morally blameworthy just because they reason badly, nor are they morally admirable just because they reason well. It is appropriate to respond to moral failures in a way that is quite unlike the way in which it is appropriate to respond to failures in the exercise of reason. Moral deficiencies and transgressions tend to arouse, and are generally acknowledged to justify, a sort of criticism that is notably distinct from the criticism that tends to be aroused and regarded as justified by deficiencies in rationality. The former naturally elicit and are considered to warrant a kind of opprobrium that differs quite fundamentally from the kind of opprobrium that is naturally elicited and thought to be warranted by the latter. Even the most blatant errors in reasoning do not in themselves lead us to conclude that there are flaws in a person’s moral character. Revealing that one is a fool evokes criticism of a different sort than revealing that one is a knave. (H. Frankfurt, „Rationalism in Ethics“, S. 26349)
Harry Frankfurt weist hier zu Recht darauf hin, dass unkluges Handeln nicht auf die gleiche Weise verurteilt wird wie unmoralisches Handeln und dass besonders vernünftige oder kluge Entscheidungen als solche kein moralisches Lob verdienen. Dieser Unterschied ist zumindest ein Indiz dafür, dass die Kriterien der praktischen Rationalität und der Moral nicht völlig identisch
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sind. Gewöhnlich wird man z. B. einem Mann, der regelmäßig seine Frau betrügt, ohne dass diese es bemerkt, nicht vorwerfen, dass er sich unvernünftig verhält, obwohl man sein Verhalten durchaus moralisch missbilligen kann. Andererseits wäre es unangebracht, jemandem nur deshalb moralische Hochachtung entgegenzubringen, weil er sein Leben besonders vernünftig führt und selten kognitive Fehler begeht. Es gilt also zumindest nicht notwendigerweise als irrational, unmoralisch zu handeln; ebenso wenig wie es als moralisch lobenswert angesehen wird, sich rational zu verhalten. Freilich ist dies nicht mehr als ein Indiz für die Falschheit des starken ethischen Rationalismus, denn immerhin könnte dieser Unterschied der Beurteilungsweise auf einem Irrtum beruhen, der durch eine entsprechende „Irrtumstheorie“ aufgedeckt werden könnte.50 Allerdings muss die Verteidigung des starken ethischen Rationalismus gegen die weit verbreitete Intuition, dass es nicht notwendigerweise irrational ist, unmoralisch zu handeln, imstande sein, zwei schwerwiegende Probleme zu lösen: das Problem des Unrechttuns im Verborgenen und das Problem der Ungleichheit der Handelnden. Worin das Problem des Unrechttuns im Verborgenen besteht, ist von Platon in der Politeia im Mythos vom Ring des Gyges anschaulich dargestellt worden. Unter bestimmten Umständen haben Menschen die Möglichkeit, gegen moralische Normen zu verstoßen, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. Drei Beispiele sollen als Illustration genügen: Fall 1: Jemand findet nachts in einem Fußgängertunnel der Stadtbahn eine Brieftasche, die eine beträchtliche Summe Bargeld enthält. Er versichert sich, dass ihn niemand gesehen hat. (Er sieht, dass außer ihm niemand in diesem Tunnel unterwegs ist.) Er weiß, dass er die Brieftasche ihrem Besitzer zurückgeben sollte. Da er aber wieder einmal seinen Dispositionskredit fast ausgeschöpft hat, behält er das Geld, um sich finanziell zu sanieren.51 Fall 2: Ein angetrunkener Autofahrer überfährt auf einer einsamen Landstraße eine Radfahrerin, die dadurch lebensgefährlich verletzt wird. Er weiß, dass er zur Hilfeleistung verpflichtet
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ist und dass er mit seinem Mobiltelefon den ärztlichen Notdienst rufen sollte. Andererseits ist er sich darüber im Klaren, dass ihm bei Bekanntwerden seines Vergehens nicht nur der Entzug des Führerscheins, sondern ein Strafverfahren und möglicherweise eine Haftstrafe droht. Er lässt die Verletzte liegen und fährt weiter. Fall 3: Eine Person wohnt zeitweise zur Untermiete in einer Wohnung, die ihr eine im Ausland weilende Bekannte freundlicherweise überlassen hat. Bei der Suche nach einem Briefumschlag findet sie die Tagebücher der Bekannten, die intime Details aus deren Privatleben enthalten. Die Untermieterin liest die Tagebücher, obwohl sie weiß, dass sie dies keinesfalls tun dürfte, und genießt dabei eine voyeuristische Lust. Derartige Fälle weisen in Bezug auf die V-Frage eine interessante Eigenheit auf. Da die Handelnden davon ausgehen können, dass niemals bekannt werden wird, dass sie das fragliche Unrecht begangen haben, kann sich die Argumentation des starken ethischen Rationalismus hier nicht auf die Gefahr berufen, äußere Sanktionen52 in Kauf nehmen zu müssen. Wie sich vor allem bei der Diskussion des ethischen Kontraktualismus von Peter Stemmer zeigen wird, fällt damit ein wichtiges Argument gegen die mögliche Rationalität unmoralischen Handelns weg. Das Problem der Ungleichheit der Handelnden umfasst eine Reihe von Fällen, in denen zwischen den moralischen Akteuren ein Machtungleichgewicht besteht, sodass einer der beiden dem anderen Unrecht tun kann, ohne damit rechnen zu müssen, dass sich der andere dagegen wirksam zur Wehr setzten kann. Die Gründe dieser Ungleichheit können verschiedener Art sein. Einige Beispiele sollen das Problem verdeutlichen: Fall 1: Ein körperlich starker und gewaltbereiter Mann stört während einer Bahnfahrt die übrigen Fahrgäste in seinem Abteil, indem er ohne Kopfhörer laut Musik hört. Er weiß, dass er ausgesprochen abschreckend wirkt, und rechnet damit, dass niemand den Mut haben wird, sich bei ihm zu beschweren. Fall 2: Ein privater Arbeitgeber belästigt eine seiner Arbeitnehmerinnen sexuell. Er weiß, dass sie als allein erziehende
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Mutter auf ihr Einkommen aus der Arbeit in seinem Unternehmen angewiesen ist und dass es für sie sehr schwierig wäre, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Diese Unsicherheit nutzt der Arbeitgeber aus. Fall 3: Ein Mann schlägt, wenn er betrunken ist, seine Ehefrau. Er weiß, dass seiner Frau, die sehr konservative Wertvorstellungen hat, am guten Ruf ihrer Familie gelegen ist und dass sie keine Anzeige gegen ihn erstatten wird. Fall 4: In einer Armee, in der es keine unabhängige Instanz für die Bearbeitung von Beschwerden gibt, sondern in der diese stattdessen auf dem Dienstweg eingereicht werden müssen,53 demütigen die Unteroffiziere die Unteroffiziersschüler, für deren Ausbildung sie zuständig sind. Sie wissen, dass jede Beschwerde über sie an sie selbst zu richten ist, sodass sie diese wiederum mit Demütigungen vergelten könnten. Fall 5: Ein Dozent verspricht einer attraktiven Studentin eine Hilfskraftstelle an seinem Institut, um sie dazu zu bewegen, mit ihm eine Affäre einzugehen. Nachdem sie ihm zu Willen war, stellt er den Kontakt mit ihr ein. Fall 6: In einer Behörde mobbt eine Sachbearbeiterin, die Beamte ist, einen anderen Kollegen, der nur einen befristeten Arbeitsvertrag hat, so sehr, dass dieser unter einer seelischen Störung zu leiden beginnt und sich immer häufiger krankschreiben lassen muss. Die Beamte weiß, dass das Mobbing, das sie wohlweislich ohne Zeugen betreibt, nur schwer nachzuweisen wäre und dass ihr Kollege zudem wegen der Sorge um die Verlängerung seines Arbeitsvertrags keinen Ärger haben möchte. Interessant ist an diesen Fällen, dass in ihnen eine wichtige Voraussetzung nicht erfüllt ist, die in einigen Varianten des starken ethischen Rationalismus eine wichtige Rolle spielt: Die Handelnden sind nicht in etwa gleich stark, sie können – um ein Diktum von Hobbes’ abzuwandeln – einander nicht Gleiches antun. Damit entfällt ein zentrales Argument gegen die Möglichkeit, vernünftigerweise gegen moralische Regeln zu verstoßen: der Verweis auf die Notwendigkeit, sich gegen mögliche Verletzungen durch andere, in etwa gleich starke Menschen zu
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schützen, indem man seinerseits darauf verzichtet, sie zu verletzen. Dies ist besonders wichtig, weil zahlreiche soziale Verhältnisse Ungleichheiten der Stärke und der Macht hervorbringen. Deshalb wird die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, oft unter Bedingungen der Ungleichheit gestellt. Ob und inwieweit der starke ethische Rationalismus imstande ist, die genannten beiden Probleme zu lösen, wird sich in den folgenden Kapiteln zeigen. Hier sei vorwegnehmend nur gesagt, dass er meiner Meinung nach keine befriedigende Lösung für diese Probleme zu bieten hat. Daraus ergibt sich nun ein andere Schwierigkeit: Wenn die These des starken ethischen Rationalismus tatsächlich falsch sein sollte, wäre das in gewisser Hinsicht beunruhigend, denn, wenn es nicht notwendigerweise irrational ist, unmoralisch zu handeln, dann scheint es zweifelhaft zu sein, ob es vernünftig wäre, sich auch dann an moralische Normen zu halten, wenn einem dies nur Nachteile einbringt. – Dieser berechtigte Zweifel wird erst im letzten Kapitel ausgeräumt werden.
Teil I: Das Versöhnungsprojekt des Kontraktualismus „[...] wenn man sich sämtliche der Pflicht geschuldete Handlungen des menschlichen Lebens vor Augen führt, wird man feststellen, daß keine davon bloßer Nützlichkeit entspringt und einzig um ihrer Vorteilhaftigkeit willen bindend ist. In Wahrheit bestehen sehr viele – und zudem die schönsten – Tugenden gerade darin, daß wir zu unserem eigenen Schaden anderen Gutes erweisen.“ John Locke
Kapitel 2 Hobbes’ politische Lösung des Problems 1.1 Da in diesem und den folgenden beiden Kapiteln die Vertragstheorie behandelt wird, erscheint es mir angebracht, der Auseinandersetzung mit Hobbes, Gauthier und Stemmer einige allgemeine Bemerkungen über den Kontraktualismus vorauszuschicken. Der Kontraktualismus lässt sich allgemein als eine Theorie charakterisieren, welche die Geltung politisch-rechtlicher oder moralischer Normen durch die Annahme eines Vertragsschlusses zu begründen versucht.1 Den Ausgangspunkt der Begründung bildet dabei die Annahme eines vorpolitischen oder vormoralischen Zustands, in dem noch keine rechtlichen oder moralischen Normen in Kraft sind. Dieser Zustand wurde in der Tradition der Staatsphilosophie gewöhnlich „Naturzustand“ genannt. In der Philosophie der Gegenwart hat man ihn u. a. als „Urzustand“ (John Rawls) und als „vormoralischen Zustand“ (Peter Stemmer) bezeichnet.2 Im Naturzustand bestehen keinerlei Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Menschen. Diese treten sich also als Freie und in einer wesentlichen Hinsicht Gleiche gegenüber. Durch die Annahme eines solchen Zustands werden daher alle rechtlichen oder moralischen Normen, die in Staaten oder Gemeinschaften tatsächlich gelten, sowie alle Herrschaftsverhältnisse theoretisch suspendiert. Ob und inwiefern sich diese faktisch geltenden Normen oder die tatsächlich bestehenden politischen Institutionen rechtfertigen lassen, bemisst sich daran, ob und inwieweit sie mit den Ergebnissen der kontraktualistischen Argumentation übereinstimmen. Die Vertragstheorie will also ein Kriterium für die Bewertung
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und gegebenenfalls für die Veränderung der tatsächlich geltenden Normensysteme bereitstellen. Im Naturzustand einigen sich alle Beteiligten als Freie und Gleiche auf eine Menge von Regeln oder Institutionen, durch die ihr Zusammenleben geregelt werden soll. Durch einen hypothetischen oder faktischen Vertrag verpflichten sich alle Betroffenen, diese Normen anzuerkennen und ihnen zu folgen. Durch den Vertragsschluss gehen die Vertragspartner also eine Selbstverpflichtung ein, die auf dem Grundsatz volenti non fit iniuria beruht: Wenn jemand eine vertragliche Vereinbarung mit anderen trifft, so gibt er seine Zustimmung zu den Rechten und Pflichten, die ihm aus dieser Vereinbarung erwachsen. Sofern seine Zustimmung freiwillig und unter der Bedingung seiner gleichberechtigten Beteiligung an den Vertragsverhandlungen erfolgt, hat er kein Recht, sich über die aus der Vereinbarung resultierenden Rechte und Pflichten zu beklagen, und muß sie als für sich verbindlich akzeptieren, [...]. (P. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, S. 12)
Eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass eine Einigung über eine Menge von Normen oder über die Etablierung bestimmter Institutionen erzielt werden kann, besteht darin, dass zumindest einige grundlegende Interessen aller Beteiligten übereinstimmen3, z. B. das Interesse, von anderen nicht gegen den eigenen Willen getötet zu werden. Neben der Gleichheit der Interessen bildet die angenommene Rationalität der Vertragspartner eine weitere unverzichtbare Voraussetzung des kontraktualistischen Arguments. Als begründet können demnach gemäß der Vertragstheorie alle Normen oder Institutionen gelten, denen Personen (i) aufgrund übereinstimmender grundlegender Interessen (ii) in einem vormoralischen oder vorpolitischen Zustand (iii) vernünftigerweise (iv) zugestimmt haben, zustimmen würden oder zustimmen hätten können (je nach Spielart der Vertragstheorie). Wolfgang Kersting fasst diesen Grundgedanken des Kontraktualismus so zusammen: [...] als legitimiert, begründet, gerechtfertigt kann X – und X kann sein: die Etablierung staatlicher Herrschaft, eine Rechtsordnung oder eine Verfassung, gesellschaftliche Institutionen und Wirtschaftsfor-
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men, Prinzipien der sozialen, politischen oder ökonomischen Gerechtigkeit, selbst moralische Regeln – immer dann gelten, wenn X auf argumentativ einsichtige Weise als Ergebnis eines Vertrages entwickelt werden kann, auf den sich die Betroffenen unter bestimmten wohldefinierten und allgemein akzeptierten Bedingungen einigen könnten. (W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 17 – im Orig. kurs.)
Dabei erfolgt der Vertragsschluss unter der Voraussetzung, dass die Normen, die durch den Vertrag in Kraft gesetzt werden, für alle Vertragschließenden gelten und von allen befolgt werden. Die strikte Wechselseitigkeit aller durch den Vertrag eingegangenen Verpflichtungen 4 ist eine notwendige Bedingung dafür, dass man ihnen vernünftigerweise zustimmen kann. Dies lässt sich am Beispiel des Tötungsverbots illustrieren. Ein Vertragschließender, der sich selbst freiwillig dem Tötungsverbot unterstellte, anderen aber das Recht einräumte, ihn gegen seinen Willen zu töten, würde gegen sein grundlegendes Interesse an der Erhaltung seines Lebens verstoßen und insofern irrational handeln. Wenn die Vertragspartner ihre basalen Interessen langfristig wahren wollen, müssen sie also bereits beim Abschluss des Vertrags die Sicherheit haben, dass alle Vertragschließenden die Normen, die Inhalt des Vertrags sind, befolgen werden. Ohne diese Sicherheit wäre es zu riskant, sich auf den Abschluss des Vertrags einzulassen. Aus diesem Gedanken ergibt sich, dass der Kontraktualismus zwei Begründungsschritte umfassen muss.5 Erstens muss begründet werden, dass man sich im Naturzustand auf bestimmte Normen einigen würde, und zwar unter der Voraussetzung, dass diese von allen Beteiligten befolgt würden. Dieser erste Teil der Argumentation betrifft den Inhalt der rechtlichen oder moralischen Regeln. Im zweiten Schritt muss nachgewiesen werden, dass es für alle Beteiligten vernünftig ist, die vertragstheoretisch begründeten Normen einzuhalten, und zwar auch dann, wenn ein Verstoß gegen sie im Einzelfall vorteilhaft wäre. Hier geht es um die Befolgung der Normen. An dieser Stelle wird deutlich, worin die Bedeutung des Kontraktualismus für das Thema der vorliegenden Untersuchung be-
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steht. Die Vertragstheorie muss die Frage, warum es vernünftig ist, legal oder moralisch zu handeln, ausdrücklich thematisieren und überzeugend beantworten, wenn ihre Argumentation vollständig sein soll. 1.2 Unter unterschiedlichen Gesichtspunkten lassen sich jeweils verschiedene Typen des Kontraktualismus unterscheiden.6 Einer dieser Aspekte ist beispielsweise die Frage, ob ein hypothetischer oder ein faktischer Vertrag angenommen wird. Aus der Vielzahl der möglichen Klassifikationen sollen hier nur die beiden herausgegriffen werden, die für den Fortgang der Untersuchung von Bedeutung sind. In Bezug auf Gegenstand und Ziel der Begründung kann man zwischen dem politischen und dem ethischen Kontraktualismus unterscheiden. Jenem geht es darum, die Legitimität staatlicher Herrschaft sowie bestimmter Herrschaftsformen nachzuweisen; dieser will moralische Normen begründen, die nicht notwendigerweise durch rechtliche Sanktionen gestützt werden.7 In der Philosophie der Neuzeit war der staatsphilosophische Kontraktualismus zweifellos die einflussreichere der beiden Varianten. Vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, von Hobbes über Locke, Rousseau und Kant bis zu Fichte stellte er die dominierende Begründungsfigur in der politischen Philosophie dar. Danach wurde er durch andere Schulen für lange Zeit in den Hintergrund gedrängt. Seit John Rawls in seinem 1971 erschienenen bahnbrechenden Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit auf die vertragstheoretische Argumentationsweise zurückgriff, hat der politische Kontraktualismus jedoch eine Renaissance erlebt.8 Die ethische Vertragstheorie ist hingegen im Wesentlichen erst in den letzten vierzig Jahren entstanden. Zwar finden sich bereits in der antiken Philosophie einzelne Ansätze einer kontraktualistischen Begründung der Moral, etwa bei den Sophisten und bei Epikur,9 ausgearbeitete Fassungen des ethischen Kontraktualismus liegen jedoch erst seit wenigen Jahrzehnten vor. Wie eben dargestellt wurde, unterscheiden sich der politische und der ethische Kontraktualismus hinsichtlich ihrer Ziel-
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stellung und ihres Begründungsgegenstands. Sie können jedoch im Einzelfall inhaltliche Zusammenhänge aufweisen. Erstens ist es selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass ein Autor sowohl moralische als auch politische Grundsätze kontraktualistisch begründet. Ein prominentes Beispiel dafür ist Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. Zwar ging es Rawls in erster Linie darum, Gerechtigkeitsgrundsätze für die „Grundstruktur der Gesellschaft“ zu begründen, d. h. für ihre wesentlichen politischen und rechtlichen Institutionen. 10 Darüber hinaus hat er aber auch den Versuch unternommen, „natürliche Pflichten“ sowie „Verpflichtungen“ für Individuen auf vertragstheoretische Weise herzuleiten.11 Zweitens – und dies ist der im Hinblick auf meine Fragestellung interessantere Zusammenhang – können sich die Ergebnisse der politischen und der ethischen Vertragstheorie inhaltlich überschneiden. Dies gilt m. E. für Hobbes, weil die Rechtsgrundsätze und die einzelnen Rechtsnormen des von ihm konzipierten Staats mit den natürlichen Gesetzen, d. h. den moralischen Normen, weitgehend übereinstimmen sollen. Deshalb kann man Hobbes’ politische Philosophie auch als eine Antwort auf die Leitfrage der vorliegenden Untersuchung deuten, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln. Die Berechtigung dieser Interpretation soll in diesem Kapitel nachgewiesen werden. Neben der Unterscheidung zwischen politischem und ethischem Kontraktualismus ist eine weitere Differenzierung von Bedeutung für die Beantwortung der V-Frage. Robert Sugden hat innerhalb der Gruppe der ethischen Vertragstheorien zwei Varianten unterschieden, den „schwachen“ und den „starken Kontraktualismus“: If it can be shown that rational individuals in a state of nature would agree to follow impartial rules, then contractarianism has generated a system of morality. [...] On one view, which I shall call weak contractarianism, deriving such moral rules is the whole purpose of the exercise. To ensure that the principles agreed to are impartial, it is permissible to inject impartiality into the specification of the initial bargaining position. This means that the theory has a moral input as well as a moral output. [...]
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Kapitel 2 A more ambitious approach is taken by strong contractarians such as David Gauthier who work in the Hobbesian tradition. For such contractarians, the fundamental question is: „What is it rational to do?“ It is essential for the enterprise that it should not start from any moral premises: the only premises allowed are those of rational choice. (R. Sugden, „Contractarianism and Norms“, S. 768f.)
Während der schwache ethische Kontraktualismus also bereits bestimmte moralische Intuitionen oder Prinzipien voraussetzt, beansprucht der starke ethische Kontraktualismus, allein aus rationalitätstheoretischen Prämissen moralische Normen ableiten zu können. Der Unterschied zwischen den beiden Theorietypen lässt sich an zwei Beispielen illustrieren. John Rawls setzt in seiner Theorie der Gerechtigkeit einen bestimmten Begriff der Gerechtigkeit voraus, nämlich Gerechtigkeit als Fairness. Dabei soll die Bezeichnung „Gerechtigkeit als Fairness“ den Gedanken zum Ausdruck bringen, „dass die Grundsätze der Gerechtigkeit in einer fairen Ausgangssituation festgelegt werden”12. Aus dieser Situation, die mittels der Begriffe „Urzustand” und „Schleier des Nichtwissens” dargestellt wird, leitet Rawls die Grundsätze der Gerechtigkeit ab. Seine Theorie stellt ein Beispiel für den schwachen Kontraktualismus dar, weil ihre Voraussetzungen nicht moralisch neutral sind. Sie basiert auf einer bestimmten Vorstellung von Gerechtigkeit und wird deshalb – wie Rawls später selbst betont hat13 – nur diejenigen überzeugen, die Rawls’ Auffassung teilen, dass Gerechtigkeit als Fairness expliziert werden kann. David Gauthiers in Morals by Agreement entwickelte Theorie ist hingegen ein Beispiel des starken Kontraktualismus, weil er das Ziel verfolgt, aus moralisch neutralen Prämissen auf moralische Urteile schließen zu können: „To choose rationally, one must choose morally. This is a strong claim. Morality, we shall argue, can be generated as a rational constraint from the non-moral premises of rational choice.”14 Ob Gauthier und andere Vertreter des starken ethischen Kontraktualismus ihrem eigenen Anspruch gerecht werden, soll in den Kapiteln 3 und 4 ausführlich geprüft werden. Festzuhalten ist vorerst nur, dass der starke ethische Kontraktualismus
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das anspruchsvollere der beiden Projekte ist, zumal seine Hauptvertreter von einem durch die Entscheidungstheorie geprägten, instrumentalistischen und nutzenorientierten Begriff praktischer Rationalität ausgehen.15 Nun scheinen aber – wie in Kapitel 1 dargestellt wurde – die Beförderung des eigenen Nutzens und die Forderungen der Moral häufig miteinander unvereinbar zu sein. Der starke ethische Kontraktualismus will hingegen zeigen, dass diese Divergenz zwischen den Forderungen der Moral und denen des Eigeninteresses nur scheinbar besteht. Er will, wie es Gregory S. Kavka formuliert hat, nachweisen, „daß praktische Klugheit moralisches Benehmen fordere oder zumindest damit“ vereinbar sei“16. Kavka hat dies als „Versöhnungsprojekt” bezeichnet.17 2.1 Obwohl Hobbes kein ethischer Kontraktualist war,18 wird er von prominenten Vertretern der ethischen Vertragstheorie als wichtiger Vorläufer bzw. Bezugspunkt ihres theoretischen Unternehmens angesehen. So heißt es z. B. bei David Gauthier: „[...], in Hobbes we find the true ancestor of the theory of morality that we shall present.“19 Schon aus diesem Grund ist es gerechtfertigt, hier auf Hobbes’ Kontraktualismus einzugehen. Darüber hinaus lässt sich seine vertragstheoretische Begründung staatlicher Herrschaft auch als ein Versuch deuten, eine überzeugende Antwort auf die V-Frage zu geben. Wenn die grundlegenden moralischen Normen, die „natürlichen Gesetze“, in positives Recht umgesetzt und durch staatliche Sanktionen gestützt werden, dann haben Hobbes zufolge die Bürger einen guten Grund, moralisch zu handeln: Sie sollten vernünftigerweise diese Sanktionen vermeiden. – Im Folgenden werde ich zunächst Hobbes’ Ethik und Staatsphilosophie mitsamt ihren Voraussetzungen in aller Kürze darstellen, um sie dann kritisch im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Beantwortung der V-Frage einschätzen zu können. Dabei werde ich auf einige Unstimmigkeiten bei Hobbes nur am Rande eingehen und mich darauf konzentrieren, seine praktische Philosophie als möglichst kohärentes Ganzes zu rekonstruieren.
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Der Naturzustand ist Hobbes zufolge bekanntlich ein Kriegszustand.20 Warum dies so ist, ergibt sich aus Hobbes’ anthropologischen Annahmen. Diese müssen also den Ausgangspunkt der Darstellung bilden. Dabei lassen sich bei Hobbes zwei Arten anthropologischer Annahmen unterscheiden: Einige Eigenschaften schreibt er den Individuen unabhängig von ihrem Verhältnis zu ihren Mitmenschen zu; andere Eigenschaften sind sozialer Natur. Alles in allem handelt es sich um sechs wesentliche Voraussetzungen21: Die Menschen streben unaufhörlich nach Macht. Sie sorgen sich um die Zukunft. Sie fürchten den Tod. Sie sind in wesentlichen Hinsichten gleich. Sie sind potentielle Konkurrenten, die sich gegenseitig gefährden. (6) Sie sind Egoisten.
(1) (2) (3) (4) (5)
Zu (1): Hobbes lehnte die aus der antiken Philosophie stammende Auffassung ab, dass der Mensch nach einem summum bonum, einem höchsten Gut, strebe, das um seiner selbst willen begehrt werde und bei dessen Erreichen sich die Seelenruhe einstelle.22 Stattdessen geht er davon aus, dass der Mensch das grundlegende Bedürfnis hat, immer wieder aufs Neue zu genießen und sich immer wieder neue Zwecke zu setzen. Deshalb definiert Hobbes das bonum maximum, das größte Gut, als „ungehindertes Fortschreiten zu immer weiteren Zielen“23. Um stets aufs Neue irgendwelche Ziele verfolgen zu können, muss der Mensch über entsprechende Mittel verfügen. Den Besitz dieser Mittel nennt Hobbes „Macht“.24 Verknüpft man diese beiden Gedanken miteinander, dann ergibt sich, dass das Streben nach Macht konstitutiv für den Menschen ist: „So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet.“25 Zu (2): Das Streben nach Macht wird durch die Sorge des Menschen um die Zukunft noch verstärkt. Hobbes zufolge ist es
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unausbleiblich, daß sich jemand, der ständig danach strebt, sich gegen ein befürchtetes Übel zu sichern und sich das gewünschte Gut zu verschaffen, ständig Sorgen um die Zukunft macht. So ist also jeder, besonders aber die Übervorsichtigen, in der gleichen Lage wie Prometheus. Denn wie Prometheus, d. h. der Weitsichtige, an den Berg Kaukasus gefesselt war, [...], so nagt auch die Furcht vor Tod, Armut oder einem anderen Unglück den ganzen Tag über am Herzen des Menschen, der aus Sorge über die Zukunft zu weit blickt, und er hat vor seiner Angst nur im Schlaf Ruhe. (L, I.12, S. 83)
Aus dem Wissen und der Sorge um die Zukunft ergibt sich, „daß es Gegenstand menschlichen Verlangens ist, nicht nur einmal und zu einem bestimmten Zeitpunkt zu genießen, sondern sicherzustellen, daß einem zukünftigen Verlangen nichts im Wege steht“26. Zu (3): Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass der Mensch nach Macht und Gütern streben kann, ist die Erhaltung seines Lebens. Deshalb ist die Selbsterhaltung das erste Gut für einen jeden.27 Da der Tod der Fortsetzung des Wollens ein Ende setzt, ist dieser in der Regel „das größte der natürlichen Übel“28. Deshalb fürchten ihn die Menschen und daher versuchen sie gewöhnlich, sich vor ihm zu schützen.29 Dies gilt insbesondere für den gewaltsamen Tod. Zu (4): Die Menschen sind von Natur aus „hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten“ in etwa gleich, wobei die Gleichheit der geistigen Fähigkeiten „unter den Menschen noch größer ist als bei der Körperstärke“30. Aus der Annahme der annähernden Gleichheit der Menschen ergibt sich eine für Hobbes’ Argumentation entscheidende Schlussfolgerung. Aus ihr folgt nämlich, daß trotz der Tatsache, daß bisweilen der eine einen offensichtlich stärkeren Körper oder gewandteren Geist als andere besitzt, der Unterschied zwischen den Menschen alles in allem doch nicht so beträchtlich ist, als daß der eine auf Grund dessen einen Vorteil beanspruchen könnte, den ein anderer nicht ebenso gut für sich verlangen dürfte. Denn was die Körperstärke betrifft, so ist der Schwächste stark genug, den Stärksten zu töten – entweder durch Hinterlist oder durch ein Bündnis mit anderen, die sich in derselben Gefahr wie er selbst befinden. (L, 1.13, S. 94)
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Aufgrund der annähernden Gleichheit unter den Menschen kann sich also keiner von ihnen für so überlegen halten, dass er die Gewissheit hätte, den Besitz irgendeines Gutes gegen die anderen wirksam verteidigen zu können. Sollte es zu Interessengegensätzen zwischen Einzelnen kommen, müsste deshalb jeder von ihnen die anderen fürchten und versuchen, sich präventiv gegen sie zu sichern. Zu (5): Derartige Interessenkonflikte ergeben sich nun Hobbes zufolge tatsächlich aus der menschlichen Natur. Dafür gibt es drei hauptsächliche Ursachen: „(e)rstens Konkurrenz, zweitens Mißtrauen, drittens Ruhmsucht“31. Die Konkurrenz in Bezug auf materielle Güter ergibt sich aus der Tatsache, dass die Menschen im Naturzustand zusammenleben müssen, und aus der von Hobbes offensichtlich unterstellten Knappheit der Ressourcen. Deshalb kommt es vor, dass „zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können“32. Das gegenseitige Misstrauen erwächst aus der Konkurrenz und der Gefahr, die die Menschen füreinander darstellen. Und die Ruhmsucht wurzelt Hobbes zufolge in der unausrottbaren Neigung des Menschen, sich mit den anderen zu vergleichen und mehr als sie gelten zu wollen: „Die Menschen liegen in einem ständigen Wettkampf um Ehre und Würde; [...] folglich entsteht zwischen den Menschen aus diesem Grund Neid und Haß und letztlich Krieg, [...].“33 2.2 Zu (6): In Bezug auf die bisher referierten anthropologischen Annahmen dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass man sie Hobbes zuschreiben darf. Hingegen ist, seit F. S. McNeilly und Bernard Gert in den 60er Jahren die traditionelle HobbesDeutung in Frage stellten, in der Forschung umstritten,34 ob Hobbes von irgendeiner Form des Egoismus ausging. 35 Die interpretatorische These, dass Hobbes einen egoistisch geprägten Begriff des Menschen zugrunde legte, bedarf daher der Rechtfertigung. Dabei muss die geläufige Unterscheidung zwischen psychologischem und normativem Egoismus berücksichtigt werden. Deshalb ist zuerst zu klären, ob Hobbes seiner Moral- und Staats-
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philosophie den psychologischen Egoismus als eine Theorie der Motivation zugrunde legte. Sollte dies der Fall sein, dann wäre gemäß dem Grundsatz ultra posse nemo obligatur der normative Egoismus entweder überflüssig oder in seiner Funktion beschränkt. Wenn die Menschen tatsächlich nur aus egoistischen Motiven handeln könnten, dann wäre die Forderung, dass sie es gelegentlich nicht tun sollten, sinnlos. Die Funktion der praktischen Vernunft müsste sich in diesem Fall darauf beschränken, das scheinbare, kurzfristige Gute vom wirklichen, langfristigen Guten zu unterscheiden. Anders verhielte es sich, wenn Hobbes kein Vertreter des psychologischen Egoismus wäre. In diesem Fall bestünden zwei Möglichkeiten: (i) Hobbes ging zwar nicht davon aus, dass alle Handlungen egoistisch motiviert sind; er vertrat aber die These, dass Menschen immer egoistisch handeln sollten. (ii) Hobbes vertrat weder einen psychologischen noch einen normativen Egoismus. Überblickt man die Stellen, an denen Hobbes sich über das Handeln der Menschen äußert, dann scheint zunächst alles dafür zu sprechen, dass er die Lehre vom psychologischen Egoismus vertrat, denn er hat kaum einen anderen Grundsatz so oft wiederholt wie den, dass der Gegenstand der Handlung eines Menschen immer ein „Gut für ihn selbst“36 sei. Diese Aussage ist aber nur scheinbar ein Beleg für den psychologischen Egoismus, weil Hobbes den Begriff des Guten in diesem Zusammenhang nicht oder zumindest nicht ausschließlich in der engen Bedeutung des „für den Handelnden selbst Guten“ gebraucht. 37 Stattdessen wird der Begriff „Gut“ von Hobbes so eingeführt, dass jedes Ding „Gut“ heißt, sofern es von einem Handelnden erstrebt wird38, weil es diesem gut erscheint.39 Die entsprechenden Formulierungen bei Hobbes sind zweideutig. Sie können einerseits so verstanden werden, dass ein Akteur mit jeder Handlung etwas erreichen will, weil es für ihn gut, das heißt z. B. nützlich, angenehm o. Ä. ist.40 Andererseits kann man sie auch so deuten, dass etwas gut ist, weil es erstrebt wird. In diesem Fall würde alles, was durch ein Handeln bewirkt werden soll, per definitionem „gut“ heißen, und zwar unabhängig davon, ob es
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für den Handelnden selbst nützlich, angenehm oder schön ist. „Gut“ scheint hier nicht mehr zu bedeuten als „vom Handelnden gewollt“. Unter diesen weiten Begriff des Guten fallen aber selbstverständlich auch altruistische Zwecke sowie Ziele, die dem Akteur – objektiv betrachtet – schaden, wie z. B. der Wunsch, sich regelmäßig zu betrinken oder um Geld zu spielen. Leider erweist es sich hier auch nicht als hilfreich, Hobbes’ Begriff des Willens heranzuziehen, weil auch er neutral gegenüber den Inhalten des Handelns ist, seien diese nun egoistisch oder altruistisch motiviert, nützlich oder schädlich für den Akteur: „In deliberation the last appetite, as also last fear, is called WILL (viz.) the last appetite will to do; the last fear will not to do, or will to omit.“41 Fasst man Hobbes’ handlungstheoretische Grundbegriffe zusammen, so stößt man auf zwei zirkuläre Definitionen: (1) „Wille“ heißt die letzte handlungswirksame Absicht, die dazu führt, dass eine Handlung ausgeführt oder unterlassen wird, weil ihre Folgen dem Handelnden gut oder schlecht erscheinen. (2) „Gut“ heißt etwas, weil und insofern es gewollt wird. „Übel“ heißt etwas, weil und insofern seine Unterlassung gewollt wird. Wie die Hervorhebungen zeigen, wird der Begriff des Willens mithilfe des Begriffs der Güter und Übel definiert; diese werden aber ihrerseits mittels des Begriffs des Willens definiert. Deshalb führt die Analyse von Hobbes’ handlungstheoretischen Grundbegriffen in Bezug auf die Frage, ob er die Lehre vom psychologischen Egoismus vertrat, zu keinem Ergebnis, denn diese Begriffe sind mit allen denkbaren Motivationstheorien – vom ausschließlichen Egoismus bis zum ausschließlichen Altruismus – vereinbar. (Wenn sich beispielsweise ein Mann zugrunde richtet, um eine von ihm geliebte Frau zu retten, die seine Liebe nicht erwidert, dann erstrebt er Hobbes zufolge per definitionem etwas Gutes.) Wenn man sich nur auf Hobbes’ Definitionen von „Wille“, „Wunsch“, „Gut“ und „Übel“ stützt, dann kann man ihm äußerstenfalls mit Bernard Gert einen „tautologischen Egoismus“ zuschreiben42. Damit ist die Auffassung gemeint,
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dass ein Akteur jede seiner Handlungen vollzieht, um einen seiner Wünsche zu erfüllen.43 In Bezug auf die Frage, ob egoistische oder altruistische Motive vorherrschen, ist diese Aussage, wie Gert zu Recht betont hat, nichtssagend. Das Bild ändert sich jedoch schlagartig, wenn man die Stellen heranzieht, an denen Hobbes nicht nur Begriffe definiert, sondern psychologische Urteile über die Motive menschlichen Handelns fällt. Zwar sind die Menschen nicht von Natur aus böse, „denn die Leidenschaften, die aus der tierischen Natur herkommen, sind nicht selbst böse, sondern nur die daraus hervorgehenden Handlungen sind es bisweilen“44. Was jedoch die Fähigkeit des Menschen, seine natürlichen (d. h. hier nicht mehr als: seiner körperlichen Konstitution entspringenden) Leidenschaften zu zügeln, betrifft, so sind Hobbes’ Äußerungen eindeutig. Im Naturzustand (d. h. hier: in einem Zustand, in dem die Einzelnen sich zu ihrer körperlichen Konstitution verhalten können) haben alle Menschen den Willen, einander zu schaden45: Denn nach der zwischen uns bestehenden natürlichen Gleichheit gestattet der eine den übrigen ebensoviel wie sich selbst; so der bescheidene Mensch, der seine Kraft richtig einschätzt. Der andere, der sich für höher hält als die übrigen, will, daß ihm allein alles erlaubt sei, und maßt sich vor den anderen Ehre an; so der Unbändige. Bei diesem entsteht der Wille zu schaden aus eitler Ehrsucht und Überschätzung seiner Kraft; bei jenem aus der Notwendigkeit, seinen Besitz und seine Freiheit gegen den andern zu verteidigen. (VB, 1.4, S. 80)
Kurz nach dieser Stelle spricht Hobbes nochmals ausdrücklich von der „natürlichen Neigung der Menschen, sich gegenseitig Schaden zuzufügen“46. In Vom Menschen heißt es, „der Mensch, den sogar der künftige Hunger hungrig macht“, sei, „raublustiger und grausamer als Wölfe, Bären und Schlangen, deren Raubgier nicht länger dauert als ihr Hunger und die nur grausam sind, wenn sie gereizt sind“47. Überhaupt sei „die Schlechtigkeit der menschlichen Gesinnung [...] allen offenbar, und die Erfahrung hat nur zu sehr gelehrt, wie wenig (bei Wegnahme der Strafe) die Menschen im Bewusstsein der getanen Versprechen ihr Pflichten
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einhalten“48. Das Gleiche gilt übrigens für Verträge, welche die Menschen so lange nicht freiwillig einhalten, wie es keine staatliche Gewalt gibt, die Vertragsverletzungen bestraft.49 Ein weiterer deutlicher Beleg dafür, dass Hobbes vom Vorherrschen egoistischer Motive überzeugt war, ist folgende Stelle: Fremdes Unglück zu sehen, ist etwas Angenehmes; denn es gefällt, nicht sofern es ein Unglück ist, sondern sofern es ein fremdes Unglück ist. Daher kommt es, daß Menschen zusammenlaufen, um sich Tod und Gefahren anderer anzusehen. Ebenso ist es etwas Unangenehmes, fremdes Glück zu sehen, jedoch nicht sofern es Glück ist, sondern sofern es fremdes Glück ist. (VM, 11.12, S. 26)
Wer anderen ihr Glück missgönnt und sich über ihr Unglück freut, den muss man wohl als ausgeprägten Egoisten bezeichnen. Diejenigen, die nach Herrschaft, Überlegenheit und privatem Wohlstand streben, ebenso.50 Darüber hinaus empfinden „die Menschen am Zusammenleben kein Vergnügen, sondern im Gegenteil nur Verdruß, wenn es keine Macht gibt, die dazu in der Lage ist, sie alle einzuschüchtern“, d. h. im Naturzustand: Denn untersucht man genauer die Gründe, warum die Menschen zusammenkommen und sich gegenseitig an ihrer Gesellschaft erfreuen, so findet man leicht, daß dies nicht naturnotwendig, sondern nur zufälligerweise geschieht. Denn wenn die Menschen einander von Natur, d. h. bloß weil sie Menschen sind, liebten, wäre es unerklärlich, weshalb nicht jeder einen jeden in gleichem Maße liebte, da sie ja alle in gleichem Maße Menschen sind; oder weshalb der Mensch lieber die Gesellschaft derer aufsucht, die ihm mehr als den übrigen Ehre und Vorteil erweisen. Der Mensch sucht also von Natur keine Gesellschaft um der Gesellschaft willen, sondern um von ihr Ehre und Vorteil zu erlangen. [...] Somit ist allen, die die menschlichen Verhältnisse etwas aufmerksamer betrachten, durch Erfahrung klar, daß die Menschen aus freien Stücken nur zusammenkommen, weil die gemeinsamen Bedürfnisse oder die Ehrsucht sie dazu treiben; sie wollen von ihrer Verbindung nur irgendeinen Vorteil oder jenes eͯdokimeƭn, die Achtung und die Ehre bei den Genossen erlangen. [...] Somit wird jede Verbindung nur des Vorteils oder des Ruhmes wegen, d. h. aus Liebe zu sich selbst und nicht zu den Genossen eingegangen. (VB, 1.2, S. 76ff; Hervorhebungen v. mir – H. W.)
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Diese Stellen, denen man weitere hinzufügen könnte, lassen meiner Meinung nach nicht den geringsten Zweifel daran, dass Hobbes der Meinung war, dass die Menschen zumindest in der Regel aus egoistischen Motiven handeln. Aus den bisher angestellten Analysen lassen sich in Bezug auf Hobbes’ Stellung zum psychologischen Egoismus drei Schlussfolgerungen ziehen: (i) Bernard Gert und anderen ist darin zuzustimmen, dass Hobbes’ Definitionen der handlungstheoretischen Grundbegriffe keinen Aufschluss über seine Einschätzung des psychologischen Egoismus gewähren. Sie implizieren nur einen tautologischen Egoismus, der neutral gegenüber egoistischen oder altruistischen Präferenzen ist.51 (ii) Außerdem ist es richtig, dass Hobbes nirgendwo die Möglichkeit altruistisch motivierter Handlungen ausdrücklich leugnet.52 (iii) Die angeführten Stellen belegen m. E. jedoch eindeutig, dass Hobbes davon überzeugt war, dass egoistische Handlungen die Regel und altruistische Handlungen die seltenen Ausnahmen bilden. Deshalb schließe ich mich Gregory Kavkas Interpretation an, der zufolge Hobbes die Lehre vom vorherrschenden Egoismus vertrat.53 2.3 Wenden wir uns nun der Frage zu, ob Hobbes nicht nur ein Anhänger des psychologischen, sondern auch des normativen Egoismus war. Diese Lehre besagt, dass jeder Mensch durch all seine Handlungen und Unterlassungen jeweils nur sein eigenes Wohl befördern sollte. Um zu prüfen, ob man Hobbes diese Auffassung zuschreiben kann, muss man von seinem Begriff praktischer Vernunft ausgehen. Formal wird die Vernunft von Hobbes folgendermaßen definiert: Auf Grund von allem, was bisher gesagt wurde, können wir definieren, das heißt bestimmen, was mit dem Wort Vernunft gemeint ist, wenn wir sie zu den Fähigkeiten des Geistes rechnen. Denn Vernunft in diesem Sinne ist nichts anderes als Rechnen, das heißt Addieren und Subtrahieren, mit den Folgen aus den allgemeinen Namen, auf die man sich zum Kennzeichnen und Anzeigen unserer Gedanken geeinigt hat. (L, I.5, S. 32)
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Bezieht man diese allgemeine Definition auf das Vermögen, sich durch Gründe zum Handeln zu bestimmen, also auf die praktische Vernunft, dann lässt sich diese als Fähigkeit bestimmen, mögliche Handlungsfolgen, die mit Gütern oder Übeln verbunden sind, gegeneinander aufzurechnen. Insbesondere ist sie dafür zuständig, das für den Handelnden langfristig Gute zu erkennen und ihn davon abzuhalten, sich von den kurzsichtigen Begierden leiten zu lassen: [...] aus dem Bund von Geist und Körper folgt, daß der Anfang des Handelns vom Begehren, die besonnene Leitung dagegen von der Vernunft ausgeht. Nun kann aber das wahre Gut nur durch weitblickende Vorsicht gefunden werden; seine Bestimmung ist also Sache der Vernunft; das Begehren greift dagegen nach jedem sich gerade bietenden Gut, ohne die noch größeren Übel, welche ihm notwendigerweise anhaften, vorherzusehen. Sie stört also und hindert die Tätigkeit der Vernunft; darum nennt man sie zutreffend ‚Störung‘. (VM, 12.1, S. 29f.)
Auffällig ist an dieser Stelle, dass sie der früher referierten Definition eines Gutes widerspricht, der zufolge etwas ein Gut ist, weil und sofern es gewollt wird. Aus der eben zitierten Passage geht jedoch eindeutig hervor, dass das Gewolltwerden keine hinreichende Bedingung dafür ist, dass etwas ein Gut ist. Nur das, was vernünftigerweise, d. h. unter Berücksichtigung seiner langfristigen Folgen gewollt wird, verdient es, ein Gut genannt zu werden. Wer etwas nur aufgrund einer Begierde will und sich damit langfristig schadet, der will nichts für ihn Gutes, sondern etwas für ihn Schlechtes.54 Damit ist der oben dargestellte definitorische Zusammenhang zwischen den Begriffen „Wille“ und „Gut“ aufgehoben. Der Grund für diese Unstimmigkeit liegt darin, dass Hobbes – wie ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe55 – zwischen einer voluntaristischen und einer normativen Auffassung von Gütern und Übeln schwankt. Das Gute wird also allein durch die praktische Vernunft erkannt. Worin besteht es aber? – Hobbes gibt auf diese Frage eine eindeutige Antwort: Die Vernunft befiehlt den Menschen, ihr jeweils eigenes Wohl („their own good“)56 zu befördern. Da
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die Erhaltung des eigenen Lebens Voraussetzung für das Streben nach dem eigenen Wohl ist, gilt also die „von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch es seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann“57. Demnach lässt sich festhalten, dass Hobbes nicht nur davon ausging, dass die Menschen meistens aus egoistischen Motiven handeln, sondern dass er auch die Auffassung vertrat, dass jeder Mensch vernünftigerweise seine Handlungen auf die eigene Selbsterhaltung und das eigene Wohl ausrichten sollte.58 Dies schließt nicht aus, dass die Einzelnen gelegentlich zugunsten anderer handeln dürfen – solange dies ihrer Selbsterhaltung und ihrem Wohl keinen Abbruch tut. Andererseits ergibt sich aus Hobbes’ Begriff praktischer Vernunft zweifellos, dass in den Fällen, in denen eine Person zwischen der Beförderung ihres eigenen Wohls und einer altruistischen Handlung wählen muss, dem eigenen Nutzen vernünftigerweise der Vorrang zukommt. Somit ist erwiesen, dass Hobbes einen vorherrschenden psychologischen und ebenso einen normativen Egoismus vertrat. Außerdem kann festgehalten werden, dass Hobbes’ Begriff praktischer Vernunft nicht nur formal, sondern material durch eine Lehre von grundlegenden Gütern und Übeln fundiert ist.59 Neben dem ersten Gut der Selbsterhaltung, das notwendige Voraussetzung für das Streben nach allem anderen ist, zählen nach Hobbes Macht, Gesundheit, Freundschaften, Reichtum, Weisheit sowie die Kenntnis von Wissenschaften und Künsten zu den Gütern.60 Diese Güter bilden das materiale Kriterium praktischer Vernunft. 2.4 Bisher wurden zwei grundlegende Annahmen Hobbes’ dargestellt: (i) Der Naturzustand ist ein Kriegszustand, in dem sich alle gegenseitig gefährden. In ihm ist „das menschliche Leben“, wie es an einer bekannten Stelle heißt, „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“61. (ii) Es ist vernünftigerweise geboten,
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alles für die Selbsterhaltung und das eigene Wohl Notwendige zu tun und alles, was die Erhaltung des eigenen Lebens gefährdet und dem eigenen Wohl abträglich ist, zu unterlassen. Fasst man diese beiden Aussagen zusammen, dann ergibt sich eine einfache Schlussfolgerung: Es ist vernünftigerweise geboten, die Ursachen der ständigen gegenseitigen Gefährdung zu beseitigen. Die einzige vernünftige Lösung für dieses Problem besteht darin, dass alle Menschen ihr Streben nach dem eigenen Wohlergehen bestimmten Beschränkungen unterwerfen. Alle wären sicherer und allen ginge es besser, wenn es verboten wäre, die eigenen Interessen ohne Rücksicht auf die anderen durchzusetzen. Insbesondere ist offensive Gewaltanwendung zu verbieten. Da jeder Einzelne weiß, dass sich keiner der anderen rationalen Egoisten übervorteilen lassen wird, kann er von den anderen nur dann erwarten, dass sie ihre Freiheit einschränken, wenn er sich den gleichen Beschränkungen unterwirft. Diese Einsicht führt auf die von Hobbes so genannten natürlichen Gesetze; dies sind die moralischen Normen, deren erste und grundlegende lautet: „Suche Frieden und halte ihn ein.“62 Das erste natürliche Gesetze ist also funktional auf das erste Gut, die Selbsterhaltung, bezogen: Es soll sichern, dass die Menschen vor einem gewaltsamen Tod durch andere, vor gewaltsamen Auseinandersetzungen und Körperverletzung geschützt werden, damit sie ungestört ihren jeweiligen Interessen nachgehen können. Das zweite natürliche Gesetz lautet, dass jedermann freiwillig auf sein natürliches Recht auf alles verzichten soll, sofern alle anderen ebenfalls dazu bereit sind.63 Durch dieses Gesetz sollen die Ursachen der früher erwähnten allgemeinen Konkurrenz eingedämmt werden. Das dritte Gesetz schreibt vor, dass abgeschlossene Verträge zu halten sind.64 Weitere Gesetze verpflichten zur Dankbarkeit, zum gegenseitigen Entgegenkommen, zur Nachsichtigkeit, zum gegenseitigen Respekt usw.65 Dass der andauernde Kriegszustand durch die allgemeine Akzeptanz dieser Normen beendet werden könnte, kann von jedem Einzelnen allein kraft seiner Vernunft eingesehen werden. Deshalb definiert Hobbes ein natürliches Gesetz als
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eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch es seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann. (L, I.14, S. 99)
Diese Auffassung ist in mehreren Hinsichten interessant. Erstens geht aus ihr hervor, warum Hobbes kein ethischer Kontraktualist war. Damit wird die eingangs dieses Abschnitts aufgestellte Behauptung gerechtfertigt. Hobbes sagt ausdrücklich, dass die natürlichen Gesetze – ebenso wie die göttlichen Gesetze – „offenbar nicht aus einer Übereinkunft der Menschen hervorgegangen“ sind.66 Bei Hobbes’ Ethik handelt es sich also nicht um eine kontraktualistische Theorie, sondern um eine rationalistisch-kognitivistische Variante der Naturrechtslehre, und zwar in dem Sinne, dass jede Einzelne die moralischen Normen allein kraft ihrer Vernunft ermitteln kann. Dazu ist weder eine Übereinkunft noch ein Dialog und auch keine öffentliche Bekanntmachung notwendig.67 Hobbes’ Distanz zur ethischen Vertragstheorie wird auch daran deutlich, dass seiner Meinung nach die natürlichen Gesetze „unveränderlich und ewig“68 sind; deshalb können sie nicht durch eine Übereinkunft der Menschen aufgehoben werden.69 Zweitens sind bei Hobbes die Theorie praktischer Vernunft und die Moralphilosophie offenbar untrennbar miteinander verbunden. Da „die wahre und einzige Moralphilosophie“ die Lehre von den natürlichen Gesetzen ist70 und da ferner diese natürlichen Gesetze „Schlüsse oder Lehrsätze“ sind, „die das betreffen, was zur Erhaltung und Verteidigung der Menschen dient“,71 umfasst die Moral die Menge aller Normen, die für die Selbsterhaltung aller nötig sind. Nichts anderes gebietet aber die Vernunft. Das Verhältnis zwischen Hobbes’ Begriff praktischer Vernunft und seiner Ethik lässt sich sogar noch genauer bestimmen. Hobbes’ Begriff der praktischen Vernunft beruht auf seiner Lehre von Gütern und Übeln. Das erste Gut, das Voraussetzung für die Erlangung aller anderen Güter ist, ist die Selbsterhaltung. Deshalb spricht Hobbes von „dem einzigen Gebote der Ver-
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nunft, das uns ermahnt, uns zu erhalten und unverletzt zu bewahren“72. Das grundlegende Kriterium praktischer Vernünftigkeit ist demnach die Selbsterhaltung. Die natürlichen Gesetze sind diejenigen Normen, deren Befolgung sichert, dass dieses Ziel möglichst lange erreicht wird. Da nun Hobbes davon ausgeht, dass die Menschen nicht vereinzelt, sondern in Gemeinschaften leben, spezifiziert die Mehrzahl der natürlichen Gesetze, wie die langfristige Selbsterhaltung unter den Bedingungen des unausweichlichen Zusammenlebens und der Konkurrenz mit anderen gesichert werden kann. Aus alledem folgt, dass es keinen strukturellen Unterschied zwischen rationalen und moralischen Normen gibt. Wenn man berücksichtigt, dass die natürlichen Gesetze Hobbes zufolge auch als Gebote Gottes aufgefasst werden können, dann folgt, dass die Gebote der Vernunft, die natürlichen Gesetze als moralische Normen und die göttlichen Gebote identisch sind: The laws mentioned in the former chapters, as they are called the laws of nature, for that they are the dictates of natural reason; and also moral laws, because they concern men’s manners and conversation one towards another; so are they also divine laws in respect of the author thereof, God Almighty; [...]. (EL, I.18.1, S. 99)
In der Forschung ist die Auffassung vertreten worden, dass diese natürlichen Gesetze bloß technische Regeln seien, also keine Gebote und Verbote, sondern bloße Ratschläge.73 Aus einem bereits genannten Grund ist diese Interpretation jedoch unzutreffend. Hobbes geht erstens davon aus, dass es Dinge gibt, die für alle Menschen gut sind. Dazu zählen neben der Selbsterhaltung z. B. Gesundheit und Macht. Er unterstellt zweitens, dass die Vernunft die Aufgabe hat, das für den Einzelnen jeweils Gute zu befördern.74 Dass es sich bei den entsprechenden Weisungen der Vernunft nicht nur um Ratschläge, sondern um Normen im strikten Sinne handelt, zeigt sich übrigens an den Begriffen, die Hobbes verwendet, um die natürlichen Gesetze als vernünftige Vorschriften zu charakterisieren: Sie sind Vorschriften, die verbieten, sie verpflichten, sind Gebote etc.75 In kantischer Terminologie ausgedrückt, handelt es sich bei den natür-
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lichen Gesetzen also nicht um problematische Imperative, die nur gelten, falls jemand einen bestimmten Zweck hat, sondern um assertorische Imperative, die voraussetzen, dass alle Menschen nach Selbsterhaltung, Macht etc. streben sollen.76 Hobbes’ später zu prüfende These über das Verhältnis von Vernunft und Moral lautet nun, dass das einzige geeignete Mittel, um diesen bei allen zu unterstellenden Zweck zu erreichen, die Moral ist. An dieser Stelle liegt der Einwand gegen Hobbes nahe, dass es sich bei den natürlichen Gesetzen nicht um genuin moralische Regeln, sondern nur um Klugheitsvorschriften handelt. Meiner Meinung nach hat Hobbes jedoch einen guten Grund dafür, die natürlichen Gesetze als moralische Regeln zu bezeichnen: Sie stimmen inhaltlich und ihrer Funktion nach weitgehend mit dem überein, was zu Hobbes’ Lebzeiten sicherlich dem christlich geprägten Moralverständnis entsprach. Dies wird daran deutlich, dass die Tugenden, die Hobbes den einzelnen natürlichen Gesetzen zuordnet, auch aus einem Handbuch christlicher Moral stammen könnten: Die natürlichen Gesetze gebieten u. a. Friedfertigkeit, Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Geselligkeit, Nachsichtigkeit, Demut, Bescheidenheit und Billigkeit.77 Außerdem erfüllen sie die gleiche Funktion wie das, was man gewöhnlich als moralische Norm bezeichnet: Sie schützen die Einzelnen voreinander, indem sie die individuelle Freiheit normativ so einschränken, dass die Freiheit aller miteinander verträglich wird. Hobbes wollte also keine inhaltlich neue Moral begründen, sondern die überkommene Moral auf eine neue Grundlage stellen.78 Drittens geht aus der Definition der natürlichen Gesetze hervor, wie Hobbes die V-Frage beantwortet. Er argumentiert dafür, dass es vernünftig ist, moralisch zu handeln, weil es vernünftig ist, für die Erhaltung des eigenen Lebens und das eigene Wohl zu sorgen, und weil dies nur dann langfristig möglich ist, wenn moralische Normen in Kraft sind. Kurz: Für die Egoisten, die wir Menschen in aller Regel sind, ist es vernünftig, sich den Beschränkungen der Moral zu unterwerfen.
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2.5 Dies kann allerdings nur mit politischen Mitteln erreicht werden. Der Grund dafür ist folgender: Wie bereits gezeigt, kann jede Einzelne im Naturzustand allein kraft ihrer Vernunft einsehen, dass die allseitige Gefährdung nur durch die Befolgung der natürlichen Gesetze als moralischer Normen überwunden werden könnte. Aber niemand kann sich vernünftigerweise dazu verpflichten, diese Normen zu befolgen, wenn er nicht die Garantie hat, dass alle anderen sich den gleichen Beschränkungen unterwerfen werden. Und diese Sicherheit ist im Naturzustand nicht gegeben. Deshalb verpflichten die natürlichen Gesetze im Naturzustand nur „in foro interno, das heißt sie verpflichten zu dem Wunsch, dass sie gelten mögen, aber in foro externo, nicht immer“79. Hobbes’ Begründung für diese äußerst wichtige Unterscheidung lautet so: Denn jemand, der zu einer Zeit und an einem Ort bescheiden und umgänglich wäre und alle seine Versprechen erfüllte, wo sich sonst niemand so benimmt, würde sich nur den anderen als Beute darbieten und seinen sicheren Ruin herbeiführen, im Widerspruch zur Grundlage aller natürlichen Gesetze, die die Erhaltung der menschlichen Natur zum Ziel haben. Und wer ferner ausreichende Sicherheit besitzt, daß andere diese Gesetze ihm gegenüber befolgen, und sie selbst nicht beachtet, sucht nicht Frieden, sondern Krieg und folglich die gewaltsame Vernichtung seiner Natur. (L, I.15, S. 121)
Solange die Menschen im Naturzustand verbleiben, kommt es daher nicht zur Errichtung einer wirksamen moralischen Ordnung, obwohl alle wissen, dass es unvernünftig ist, sich dem riskanten und für alle lebensgefährlichen ungeregelten Konkurrenzkampf auszusetzen. Diese Situation erinnert an das fälschlicherweise so genannte Gefangenendilemma, das aus der modernen Spieltheorie bekannt ist.80 In beiden Fällen gelangen die Beteiligten zu suboptimalen Ergebnissen. Aufgrund dieser Gemeinsamkeit haben in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Interpreten die Auffassung vertreten, dass sich der Hobbes’sche Naturzustand als eine Variante des Gefangenendilemmas oder in Analogie zu diesem deuten lässt.81 Diese Einschätzung ist jedoch m. E. zumindest dann
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unzutreffend, wenn man vom Fall des einfachen Gefangenendilemmas ausgeht, denn in diesem Fall bestehen zwischen dem von Hobbes beschriebenen Naturzustand (NZ) und dem Gefangendilemma (GD) mehrere wesentliche Unterschiede: (i)
(ii) (iii) (iv)
(v)
(vi)
(vii)
Im GD können sich die beiden Beteiligten nicht miteinander verständigen und daher ihre Entscheidungen auch nicht abstimmen. Im NZ ist hingegen Kommunikation zwischen den Menschen möglich. Im GD interagieren genau zwei Beteiligte. Im NZ hingegen stehen alle Einzelnen zu vielen anderen in sozialen Verhältnissen. Im GD hat jeder der beiden Beteiligten genau zwei Möglichkeiten: Er kann gestehen oder nicht gestehen. Im NZ bestehen dagegen viele Handlungsoptionen. Im GD geht es um genau eine Entscheidung, die punktuell getroffen wird. Der NZ besteht aber über längere Zeit, und in ihm müssen nacheinander viele verschiedene Entscheidungen getroffen werden. Dabei darf nicht ausgeschlossen werden, dass frühere Entscheidungen Einfluss auf spätere haben werden. Im GD wissen die beiden Beteiligten, dass es insgesamt genau vier mögliche Ergebnisse gibt. Sie kennen diese Resultate und wissen außerdem, wie diese aus ihren kombinierten Entscheidungen folgen. Im NZ müssen viele verschiedene mögliche Ergebnisse vieler Entscheidungen berücksichtigt werden, die aufgrund der Vielzahl der Menschen, Situationen und Handlungen kaum überblickt werden können. Im GD werden die Handlungsfolgen, d. h. die Haftstrafen bzw. die Straflosigkeit, durch eine externe Instanz, die Justizbehörde, festgelegt. Im NZ existiert eine solche unabhängige Instanz nicht. Im GD kann jeder der Beteiligten die Wahrscheinlichkeit, mit der der jeweils andere sich für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden wird, genau bestimmen. Eine solche präzise Abschätzung ist im NZ unmöglich.
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Insbesondere der erste der genannten Unterschiede spricht dafür, dass zwischen dem Hobbes’schen Naturzustand und dem Gefangenendilemma ein struktureller Unterschied besteht, weil man davon ausgehen kann, dass sich die Möglichkeit, Entscheidungen durch Verständigung abzustimmen, auf die Entscheidungen selbst auswirken wird. Könnten die beiden Häftlinge, bevor sie sich entscheiden, zu gestehen oder nicht zu gestehen, miteinander Kontakt aufnehmen, dann wäre die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie sich darauf einigen würden, beide nicht zu gestehen. Dass sie schließlich beide zu einem suboptimalen Ergebnis gelangen, liegt u. a. daran, dass zwischen ihnen keine Möglichkeit der Verständigung besteht. Den Menschen im Hobbes’schen Naturzustand steht diese Möglichkeit aber zu Gebote, deshalb darf man davon ausgehen, dass sie ihre Entscheidungen auf andere Weise fällen werden als die Häftlinge im Gefangenendilemma. Die Interpreten, die den Naturzustand bei Hobbes als Gefangenendilemma deuten, verbinden mit dieser Auffassung in der Regel die These, dass die Annahme des Naturzustandes bei Hobbes die gleiche oder zumindest eine ähnliche Funktion hat wie das genannte Dilemma in der Spieltheorie. Auch diese Annahme halte ich für unzutreffend, weil Hobbes mit dem Szenario des Naturzustandes auf etwas anderes hinaus wollte. Das Problem, das durch das Gefangenendilemma illustriert werden soll, besteht darin, dass beide Akteure zu suboptimalen Ergebnissen gelangen, obwohl sie sich gemäß den Kriterien der Entscheidungstheorie rational verhalten. Die Akteure müssen dabei ihre Entscheidung unter Umständen treffen, die zu ändern nicht in ihrer Macht steht. Hobbes hingegen geht es nicht um die Frage, wie sich die Menschen im Naturzustand verhalten sollten, wenn sie nicht imstande wären, diesen Zustand zu überwinden. In erster Linie will er zeigen, dass die Umstände selbst geändert werden sollen oder dass ihr Eintreten verhindert werden soll. Während die Entscheidungstheorie also die konstruierten Rahmenbedingungen als gegeben ansieht und sich auf die Rationalität der Entscheidung unter diesen Bedingungen
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konzentriert, fragt Hobbes, ob es vernünftig ist, diese hypothetischen Rahmenbedingungen unverändert zu lassen. Da Menschen nicht im Naturzustand leben, kann man diese Frage mit Hobbes auch anders formulieren: Ist es für Menschen, die gewöhnlich in einem Staat leben, vernünftig, diesen Staat zu zerstören und sich in einen Naturzustand zu begeben? Hobbes’ Antwort lautet: nein. Die Annahme des Naturzustandes dient also vor allem dazu, die Berechtigung des Staates ex negativo zu begründen. Es gibt übrigens auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Hobbes – wie Gregory Kavka behauptet hat – implizit zwischen individueller und kollektiver Rationalität unterschieden hat und dass sich die Menschen im Naturzustand zwar individuell, aber nicht kollektiv rational verhalten.82 Wie eben bereits betont, geht es Hobbes’ gar nicht um die Frage, wie die Einzelnen unter der Voraussetzung, dass der Naturzustand fortbestehen wird, handeln sollen; vielmehr zielen seine Überlegungen darauf ab, ob sie vernünftigerweise im Naturzustand verbleiben sollen oder, genauer, ob sie diesen Zustand überhaupt zustande kommen lassen dürfen. Wenn es bei Hobbes tatsächlich zwei Typen praktischer Vernunft gäbe, dann müssten diesen auch zwei verschiedene Rationalitätskriterien entsprechen. Dies ist aber nicht der Fall. Beurteilt man die Handlungen der Menschen, die sich im Naturzustand gegenseitig gefährden und möglicherweise vernichten, statt sich um die Überwindung dieses Zustands zu bemühen, anhand des einzigen Rationalitätskriteriums, das Hobbes angibt, nämlich der Selbsterhaltung und des eigenen Wohls, dann handeln diese Menschen unvernünftig.83 2.6 Nach diesem Exkurs zur spieltheoretischen Hobbes-Deutung komme ich auf seine Antwort auf die V-Frage zurück. Bisher wurde festgehalten, dass die Menschen im Naturzustand einerseits wissen, dass es für sie besser wäre, wenn die natürlichen Gesetze, d. h. die moralischen Normen von allen befolgt würden, dass sich aber andererseits im Naturzustand vernünftigerweise niemand dazu entschließen kann, den ersten Schritt zu
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tun, solange er nicht davon ausgehen kann, dass ihm alle anderen folgen werden. Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlasst, unseren natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht und Ähnlichem verleiten. Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten. Falls keine Zwangsgewalt errichtet worden oder diese für unsere Sicherheit nicht stark genug ist, wird und darf deshalb jedermann sich regelmäßig zur Sicherung gegen alle anderen Menschen auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit verlassen – ungeachtet der natürlichen Gesetze (die jedermann dann eingehalten hat, wenn er nur willens ist, sie in den Fällen einzuhalten, wo er dies ungefährdet tun kann). (L. II. 17. S. 131)
Solange keine Instanz eingesetzt worden ist, welche berechtigt ist, Verstöße gegen die natürlichen Gesetze zu ahnden, bleibt es also beim Krieg eines jeden gegen jeden. An dieser Stelle kommt aber bei Hobbes der Vernunft, die die natürlichen Gesetze zu erkennen vermag, die Furcht vor Verletzung oder Tod als Motiv zur Befolgung dieser Gesetze zu Hilfe. Wenn es gelänge, Verstöße gegen die natürlichen Gesetze mit Sanktionen zu belegen, dann hätten alle Einzelnen gute normative Gründe, moralisch zu handeln. Den Schritt, der dazu notwendig ist, vollziehen die Menschen, indem sie durch einen Vertrag in die bürgerliche Gesellschaft eintreten. Dabei umfasst die Vergesellschaftung nach Hobbes bekanntlich zwei Aspekte, die eng miteinander zusammenhängen. Erstens autorisiert jeder der Beteiligten dieselbe Person oder dieselbe Gruppe von Personen, in seinem Namen zu entscheiden. Im Unterschied zu den Autorisierenden ist der Autorisierte nicht Vertragspartner. Er unterliegt deshalb auch keinen vertraglichen Verpflichtungen. Zweitens verzichten alle auf ihr natürliches Recht auf alles, das somit bei dem von allen Autorisierten, der nicht auf seine natürlichen Rechte verzichtet hat, verbleibt. Hobbes beschreibt den Rechtsgrund des Staates so:
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Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. (L, II.17, S. 134)
Der von allen Autorisierte „wird Souverän genannt und besitzt, wie man sagt, höchste Gewalt“84. Die beiden genannten Aspekte des allseitigen Verzichts auf das natürliche Recht auf alles und der Autorisierung ergänzen sich in ihrer Funktion. Der bloße Verzicht auf die natürlichen Rechte wäre Hobbes zufolge unzureichend. Denn wenn alle – bis auf einen Außenstehenden – auf ihr natürliches Recht auf alles verzichteten, dann wären sie nicht verpflichtet, die Entscheidungen und Handlungen dieses Außenstehenden zu akzeptieren. Insbesondere dürften sie sich vernünftigerweise gegen jede Bedrohung durch diese Person mit Gewalt zur Wehr setzen, da das natürliche Recht auf Selbstverteidigung unübertragbar ist. Deshalb muss der Akt der Autorisierung des Außenstehenden hinzukommen. Dadurch verleihen die Vertragspartner als „Autoren“ dem Außenstehenden „Autorität“, d. h. sie erkennen seine Worte und Handlungen als ihre eigenen an.85 Gemäß dem Grundsatz volenti non fit iniuria haben sie dann keinen Grund, sich über die Entscheidungen des Souveräns zu beklagen. Die Merkmale des Hobbes’schen Souveräns, insbesondere seine Rechte und Pflichten, sollen hier nicht erörtert werden. Eine solche staatsphilosophische Erörterung würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Stattdessen soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden, wie Hobbes zufolge die Vernünftigkeit moralischen Handelns, die im Naturzustand nicht gewährleistet war, mit politischen Mitteln sichergestellt wird. 2.7 Der entscheidende Gedanke lautet dabei, dass die natürlichen Gesetze in positives Recht umgesetzt und somit ihre Verletzung staatlich sanktioniert wird:
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Kapitel 2 Das Gesetz der Natur und das bürgerliche Gesetz schließen sich gegenseitig ein und sind von gleichem Umfang. Denn die Gesetze der Natur, die in Billigkeit, Gerechtigkeit, Dankbarkeit und anderen ihnen anhängenden moralischen Tugenden bestehen, sind im reinen Naturzustand, [...] keine eigentlichen Gesetze, sondern Eigenschaften, die die Menschen zu Frieden und Gehorsam hinlenken. Wenn einmal ein Staat errichtet ist, dann sind sie wirkliche Gesetze, nicht vorher, da sie staatliche Befehle und somit auch bürgerliche Gesetze sind. Denn sodann ist es die souveräne Gewalt, die die Menschen verpflichtet, ihnen zu gehorchen. (L, II.26, S. 205)
Es versteht sich von selbst, dass das positive Recht sich nicht in der Umsetzung der nur annähernd zwanzig natürlichen Gesetze erschöpft, aber es schließt diese Gesetze ein.86 Aufgrund der Positivierung der natürlichen Gesetze und der entsprechenden „Strafandrohungen“87 durch den Staat haben nach Hobbes die egoistischen Menschen gute normative Gründe dafür, moralisch zu handeln. Hobbes’ Antwort auf die V-Frage lässt sich daher so zusammenfassen: Vorausgesetzt, dass die Gesetzgebung im Einklang mit den natürlichen Gesetzen ist und diese enthält, ist es innerhalb des Staates vernünftig, moralisch zu handeln, weil erstens die Unterwerfung unter die staatliche Gewalt besser ist als der Krieg aller gegen alle und weil zweitens alle die mit den Verstößen gegen die moralischen Normen verbundenen staatlichen Strafen meiden sollten. Kurz: Es ist dann und nur dann vernünftig, moralisch zu handeln, wenn die Moral zum geltenden Recht geworden ist. Nun leben im Normalfall alle Menschen in Staaten. Die Fälle, in denen aufgrund eines Bürgerkriegs der Staat sein Gewaltmonopol verliert und ein Zustand eintritt, der dem Naturzustand ähnelt,88 stellen zumindest in den demokratischen Staaten, in denen wir leben, seltene Ausnahmen dar. Also sollten wir nach Hobbes in der Regel gute Gründe dafür haben, uns an die moralischen Regeln zu halten. Wie überzeugend diese These ist, wird später geprüft werden. Zuvor soll genauer, als es bisher geschehen ist, erläutert werden, warum die Vernünftigkeit moralischen Handelns nur mittels staatlicher Sanktionen sichergestellt werden kann. Der wichtigste Grund dafür wurde bereits dar-
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gelegt: Da Hobbes sowohl einen vorherrschenden psychologischen als auch einen normativen Egoismus vertrat, können nur Gründe des Eigeninteresses für die Rationalität moralischer Handlungen sprechen. Der Wunsch, ein angenehmes und sicheres Leben zu führen,89 stellt einen solchen egoistischen Grund dar; der Wunsch, staatliche Strafmaßnahmen, insbesondere die Todesstrafe zu vermeiden, einen weiteren. Wenn der Verstoß gegen eine moralische Norm mit der Aussicht auf einen beträchtlichen Vorteil verbunden ist, dann – so Hobbes – kann sogar nur der zuletzt genannte Grund in Verbindung mit der Furcht die Menschen zum moralkonformen Handeln bewegen: Die Leidenschaft, die die Menschen am wenigsten die Gesetze übertreten lässt, ist die Furcht. Ja, sie ist – einige edelmütige Menschen ausgenommen – die einzige Kraft, die die Menschen zu ihrer Einhaltung bringt, wenn ein Vorteil oder Vergnügen durch Gesetzesübertretung in Aussicht steht. (L, II.27, S. 228)
Aufgrund dieser anthropologischen Annahmen gelangt Hobbes zu dem Ergebnis, dass das Problem der vorliegenden Untersuchung, die Sicherstellung der Vernünftigkeit moralischen Handelns, nur mit politisch-rechtlichen Mitteln gelöst werden kann.90 Daraus erklärt sich im Übrigen, dass die Moralphilosophie von Hobbes so knapp behandelt wird.91 2.8 Den Übergang zur kritischen Einschätzung der Hobbes’schen Antwort auf die V-Frage soll die Erörterung eines in der Forschung viel diskutierten Problems bilden. Gemeint ist der bekannte Einwand des Toren und die Erwiderung auf ihn. Nachdem Hobbes im 14. Kapitel des Leviathan die ersten beiden natürlichen Gesetze, welche Friedfertigkeit und den Verzicht auf das natürliche Recht auf alles gebieten, erläutert hat, führt er am Beginn des 15. Kapitels das dritte natürliche Gesetz ein. Es lautet: „Abgeschlossene Verträge sind zu halten.“92 Ihm entspricht die Tugend der Gerechtigkeit, denn Hobbes definiert Gerechtigkeit im engen Sinne als Erfüllung von Verträgen und Ungerechtigkeit als Nichterfüllen eines Vertrags.93 In diesem
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Zusammenhang diskutiert Hobbes folgenden Einwand gegen seine Lehre: Narren sagen sich insgeheim, so etwas wie Gerechtigkeit gebe es nicht, und bisweilen sagen sie dies auch offen. Dabei führen sie allen Ernstes an, da jedermann für seine Erhaltung und Befriedigung selbst zu sorgen habe, könne es keinen Grund geben, weshalb nicht jedermann das tun könne, was seiner Ansicht nach dazu führe, und deshalb sei auch das Abschließen oder Nichtabschließen, Halten oder Nichthalten von Verträgen nicht wider die Vernunft, wenn es einem Vorteile einbringe. Sie leugnen dabei nicht, daß es Verträge gibt, und daß sie bisweilen gebrochen, bisweilen gehalten werden und daß ihr Bruch Ungerechtigkeit und ihre Beachtung Gerechtigkeit genannt werden kann, aber sie fragen sich, ob Ungerechtigkeit, die die Furcht vor Gott beseitigt – denn dieselben Narren sagen sich insgeheim, es gebe keinen Gott –, sich nicht bisweilen mit jener Vernunft vereinigen lasse, die jedem Menschen das eigene Wohl befiehlt, insbesondere wenn sie zu einem Vorteil führt, der uns in die Lage versetzt, nicht nur Tadel und Schmähungen, sondern auch die Macht anderer Menschen zu mißachten. [...] Und ist es nicht wider die Vernunft, so ist es nicht wider die Gerechtigkeit – oder aber die Gerechtigkeit kann nicht als Gut anerkannt werden. (L, I.15, S. 111)
Der Tor behauptet also, dass es unter bestimmten Umständen vernünftig sein kann, ungerecht zu handeln, und es liegt nahe, diesen auf die Gerechtigkeit bezogenen Einwand so zu verallgemeinern, dass er in Bezug auf alle natürlichen Gesetze gilt. Demnach vertritt der Tor die bereits aus Platons Darstellung vertraute These, dass es unter bestimmten Bedingungen unvernünftig ist, moralisch zu handeln. Dabei ist zu beachten, dass sich der Einwand des Toren offenbar nicht auf den Naturzustand bezieht. Dies geht aus dem Kontext der zitierten Stelle eindeutig hervor. In dem vorhergehenden Absatz heißt es nämlich, es gebe dort, wo es kein ‚Mein‘, das heißt kein Eigentum gibt, keine Gerechtigkeit, und wo keine Zwangsgewalt errichtet wurde, das heißt, wo es keinen Staat gibt, gibt es kein Eigentum, da alle ein Recht auf alles haben: deshalb ist nichts ungerecht, wo es keinen Staat gibt. So liegt also das Wesen der Gerechtigkeit im Einhalten von Verträgen. Aber die Gültigkeit von Verträgen beginnt erst mit der Errichtung der bürgerlichen
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Gewalt, die dazu ausreicht, die Menschen zu ihrer Einhaltung zu zwingen, und zu diesem Zeitpunkt beginnt auch das Eigentum. (L, I.15, S. 110f.)
Wenn die Gültigkeit von Verträgen erst mit dem Eintritt in den Staat beginnt, dann gilt auch das dritte natürliche Gesetz der Gerechtigkeit nur im Staat und nicht im Naturzustand. Also kann sich der Einwand des Toren nur auf den bürgerlichen, nicht aber auf den natürlichen Zustand beziehen. So will offensichtlich auch Hobbes selbst den Einwand verstanden wissen, denn, bevor er sich daran macht, ihn zu widerlegen, stellt er klar: „In Frage stehen nicht die gegenseitigen Versprechen, bei denen keine Seite die Sicherheit hat, dass erfüllt wird, wie dann, wenn keine bürgerliche Gewalt über den versprechenden Parteien errichtet ist [d. h. im Naturzustand – H. W.], denn solche Versprechen sind keine Verträge.“ Auch wenn man die Stellen einbezieht, an denen Hobbes – im Gegensatz zur gerade zitierten Passage – behauptet, dass Verträge auch im Naturzustand gültig sein können, wird man zum gleichen Ergebnis gelangen, denn „es entspricht nicht der Vernunft, dass jemand zuerst erfülle, wenn es nicht wahrscheinlich ist, dass auch der andere später erfüllen werde. Über diese Wahrscheinlichkeit hat aber nur der Fürchtende zu entscheiden, [...]. So verhält es sich, behaupte ich, im Naturzustande; [...].“94 Demnach ist im Naturzustand niemand bedingungslos verpflichtet, sich an Verträge zu halten. Wenn es seiner Meinung nach zweifelhaft ist, ob auch der Partner erfüllen wird – und nur seine Meinung zählt hier –, dann wäre es unvernünftig, den Vertragspflichten nachzukommen. Aus alledem folgt, dass man den Einwand des Toren nur dahin gehend verstehen kann, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. im Staat vernünftig sein kann, Verträge zu brechen bzw., allgemeiner gesprochen, unmoralisch zu handeln.95 Betrachten wir nun Hobbes’ Erwiderung auf diesen Einwand: Wo [...] entweder eine Macht schon erfüllt hat oder wo eine Macht existiert, die sie zur Erfüllung zwingt, da erhebt sich die Frage, ob die
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Kapitel 2 Erfüllung der Vernunft, das heißt dem Vorteil der anderen Partei, widerspricht oder nicht. Und ich sage, sie widerspricht der Vernunft nicht. Um dies behaupten zu können, müssen wir folgende Überlegung anstellen. Erstens: Gesetzt, ein Mensch begehe eine Handlung, die sein Leben gefährdet, ohne dass er Hilfe vorhersehen oder auf etwas bauen kann. Mag nun auch ein Zufall, den er nicht erwarten konnte, diese Handlung zu seinem Vorteil wenden, so wird sie doch durch solche Zwischenfälle weder vernünftig noch klug. Zweitens: Im Kriegszustand, wo jedermann auf Grund des Fehlens einer allgemeinen, sie alle in Schranken haltenden Gewalt jedermanns Feind ist, kann niemand darauf hoffen, durch eigene Stärke oder eigenen Verstand ohne Hilfe von Verbündeten sich vor Vernichtung zu bewahren. Hierbei erwarten alle dieselbe Verteidigung durch das Bündnis, und deshalb kann einer, der es für vernünftig erklärt, seine Helfer zu täuschen, vernünftigerweise auf keine anderen Mittel zu seiner Verteidigung zurückgreifen als auf die, welche ihm seine Einzelmacht bietet. Deshalb kann jemand, der seinen Vertrag bricht und folglich seine Meinung zu erkennen gibt, er könne dies vernünftigerweise tun, in keine Gesellschaft aufgenommen werden, die sich zur Erhaltung des Friedens und zur Verteidigung zusammenschließt – außer auf Grund des Irrtums derer, die ihn aufnehmen. Und ist er aufgenommen, so kann er sich nicht halten, ohne daß sie die Gefährlichkeit ihres Irrtums bemerken. Niemand kann vernünftigerweise damit rechnen, daß ihm solche Irrtümer seine Sicherheit gewährleisten, und deshalb geht er zugrunde, wenn er aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder hinausgeworfen wird. Und lebt er in der Gesellschaft, so nur auf Grund der Irrtümer anderer Menschen, die er weder vorhersehen noch einkalkulieren konnte, dem Vernunftgebot der Erhaltung seiner selbst zuwider, deshalb nämlich, weil alle Menschen, die nicht zu seiner Vernichtung beitragen, ihn nur schonen, weil sie nicht wissen, was für sie selbst gut ist. (L, I.15, S. 112f.)
Hobbes’ Erwiderungen auf den Einwand lassen sich m. E. folgendermaßen reformulieren: (i) Wenn jemand eine für ihn lebensgefährliche Handlung begeht, ohne zu diesem Zeitpunkt absehen zu können, dass sie aufgrund der Veränderung der Umstände für ihn keine tödlichen Folgen haben wird, dann wird diese Handlung nicht im Nachhinein dadurch zu einer vernünftigen, dass sich die Umstände geändert haben. Entscheidend für die Vernünftigkeit einer Handlung ist, ob sie gemäß dem Wissen des Handelnden zum Zeit-
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punkt der Handlung für seine Selbsterhaltung und sein Wohl zuträglich erschien. (ii) Wer im Naturzustand einen Vertrag bricht, wird nicht in die Gesellschaft aufgenommen werden, weil er mit dieser Tat zu verstehen gegeben hat, dass er es für vernünftig hält, seine potentiellen Helfer zu täuschen und auszunutzen – es sei denn, dass sich die anderen über seine Absichten irren. (iii) Wer trotz seiner Bereitschaft, Verträge zu brechen, in die Gesellschaft aufgenommen worden ist, der muss damit rechnen, aus ihr ausgeschlossen zu werden, sobald sich die anderen über seine Absichten klargeworden sind. (iv) Vernünftigerweise darf er sich nicht darauf verlassen, dass die anderen seine bösen Absichten nicht entdecken werden. Im Folgenden soll geprüft werden, wie überzeugend diese Antwort auf den Einwand des Toren ist. Dabei werde ich, wie bereits angedeutet, die Argumentation nicht auf das Einhalten von Verträgen, also auf die Frage der Gerechtigkeit im Sinne Hobbes’, beschränken, sondern sie auf alle natürlichen Gesetze, d. h. auf moralisches Handeln im Allgemeinen ausweiten. Den ersten Punkt wird man Hobbes ohne Weiteres einräumen, wenn man seinen eigenen Begriff praktischer Vernunft zugrunde legt. Er besagt aber, für sich allein genommen, nicht mehr, als dass es unvernünftig ist, das eigene Leben absichtlich zu gefährden. Der Tor hat dies nicht bestritten. Hobbes’ zweite Erwiderung hingegen verfehlt die Pointe des Einwands, weil dieser – wie bereits gezeigt und wie von Hobbes ausdrücklich hervorgehoben wurde – sich nicht auf den Naturzustand, sondern auf den bürgerlichen Zustand bezieht. Was die dritte Erwiderung betrifft, so scheint Hobbes offenbar davon auszugehen, dass der vom Toren angeführte Mensch regelmäßig, häufig oder sogar immer seine Verträge bricht und gegen die anderen natürlichen Gesetze verstößt, denn nur in diesem Fall wäre damit zu rechen, dass er aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Es ist hingegen ausgesprochen unplausibel, dass einzelne Menschen wegen einzelner moralischer Vergehen, die außerdem nicht allzu schwerwiegend sind, sozial geächtet werden. Dies lehrt die Er-
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fahrung. Der Tor hatte aber nun nicht behauptet, dass es vernünftig sein könne, meistens oder ständig Verträge zu brechen. Ihm ging es um den interessanteren, weil für den starken ethischen Rationalismus schwierigeren Fall, in dem jemand ausnahmsweise, und zwar unter günstigen Umständen einen Vertrag bricht. Auch hier verfehlt Hobbes die Pointe des Einwands.96 Was schließlich die vierte Replik angeht, so ist es um sie nicht besser bestellt. Hobbes unterstellt, dass die Wahrscheinlichkeit, überführt zu werden, so groß ist, dass man das entsprechende Risiko vernünftigerweise nicht in Kauf nehmen dürfe. Auch in diesem Fall spricht die Erfahrung gegen Hobbes. Selbstverständlich kommt es vor, dass sich Gelegenheit bietet, gegen moralische Normen zu verstoßen und dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit unentdeckt zu bleiben. Offensichtlich ist das z. B. in Bezug auf das vierte natürliche Gesetz der Dankbarkeit und das neunte Gesetz der Bescheidenheit. Es ist ohne weiteres möglich, dass ein Mensch einem anderen undankbar ist oder einen anderen verachtet, ohne dies öffentlich zu zeigen. Auf den ersten Blick scheint es sich mit Vertragsbrüchen anders zu verhalten, aber auch hier sind ähnliche Fälle denkbar. Nehmen wir beispielsweise an, dass derjenige der beiden Vertragspartner stirbt, der bereits seine Leistung erbracht hat, und dass außer den beiden niemand von dem Vertragsabschluss weiß. In diesem Fall ist es für das Wohl des Schurken offensichtlich zuträglicher, den Vertrag nicht zu erfüllen als den Erben des Verstorbenen die Leistung zu erbringen. Ebenso verhält es sich mit der Vollstreckung eines Testaments, wenn von diesem nur der Verstorbene und der Inhaber des Testaments wissen. Doch selbst wenn die Gefahr, überführt zu werden, in Einzelfällen beträchtlich ist, so spricht dies noch nicht grundsätzlich gegen die Vernünftigkeit unmoralischer Handlungen, weil die Menge derer, die von dem moralischen Vergehen erfahren werden, in der Regel überschaubar bleibt. Mag nun der Übeltäter in bestimmten Kreisen geächtet werden, so bleibt ihm immer noch die Möglichkeit, in anderen Kreisen zu verkehren. Das konnte auch Hobbes wissen. Schließlich glich das London
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seiner Zeit längst keiner überschaubaren Dorfgemeinschaft mehr, in der jeder jeden kannte und moralische Vergehen allen bekannt wurden. Der Tor scheint also als Sieger aus dem Disput mit Hobbes hervorzugehen. Dies scheint zumindest dann der Fall zu sein, wenn man die Debatte auf die Rationalität einzelner Handlungen, die gegen die natürlichen Gesetze verstoßen, bezieht. In der Forschung ist jedoch von einigen Interpreten die These vertreten worden, dass Hobbes’ Begriff der Vernunft nicht unmittelbar handlungs-, sondern regelbezogen sei. Ausgehend von dieser Interpretation, hat insbesondere Gregory S. Kavka nachzuweisen versucht, dass es Hobbes gelingt, den Einwand des Toren zu widerlegen.97 Kavka geht davon aus, dass die natürlichen Gesetze bei Hobbes „constitute a rule-egoistic moral system, a set of rules whose rationale ist that following them promises each individual better outcomes over time than choosing actions on a case-by-case basis or following some alternative set of rules“98. Daraus folge, dass man bei der Beurteilung einzelner Fälle nicht direkt auf den eigenen Nutzen rekurrieren dürfe, sondern dass man sich vernünftigerweise von Regeln leiten lassen solle: „For, according to rule-egoism, direct appeals to self-interest in particular cases are not allowed.“99 Wenn man die Plausibilität dieser Deutung beurteilen will, müssen zwei Aspekte unterschieden werden. Erstens ist zu fragen, ob sich Belege dafür finden lassen, dass Hobbes explizit den Regelegoismus statt des Handlungsegoismus vertreten hat. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, wäre es immer noch möglich, dass er diese Position implizit vertrat, sodass sie eine kohärente Interpretation seiner Replik auf den Toren ermöglicht. Die erste Frage lässt sich ebenso kurz wie eindeutig beantworten. Wie bereits dargestellt, gibt es nach Hobbes nur ein einziges Kriterium praktischer Vernünftigkeit: Selbsterhaltung und eigenes Wohlergehen. Hobbes äußert sich nicht explizit darüber, ob diese Ziele eher durch handlungsbezogene Entscheidungen oder durch die Befolgung bestimmter Regeln erreicht werden kann. Demnach hängt die Plausibilität der kavkaschen
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Deutung davon ab, ob der Regelegoismus besser als der Handlungsegoismus dazu geeignet ist, das eigene Leben und das eigene Wohlergehen zu sichern. Kavkas Begründung der zuletzt genannten These beruht auf vier Annahmen100: (i) Praktische Vernunft ist grundsätzlich zukunftsbezogen (forward-looking). Deshalb ist es nur dann rational, Verträge zu halten, wenn dies einen zukünftigen Nutzen verspricht. (ii) In der Realität müssen Entscheidungen über das Einhalten oder Nicht-Einhalten von Abmachungen unter Unsicherheit getroffen werden. Den Akteuren sind die Wahrscheinlichkeiten der möglichen Ergebnisse ihrer Entscheidungen nicht bekannt. (iii) Unter der Bedingung der Unsicherheit ist es vernünftig, auf Nummer sicher zu gehen (to play it safe), um sehr ungünstige Ergebnisse zu vermeiden, insbesondere die soziale Ächtung (social ostracism). (iv) Die strikte Befolgung egoistischer Regeln (rigid rule-following) ist aus zwei Gründen rational: (a) Menschen sind fehlbar; ihre Irrtümer könnten für sie verheerende Folgen haben. (b) Aus psychologischen Gründen besteht die Gefahr, dass ungestrafte Verstöße gegen moralische Normen die Risikobereitschaft der Akteure so sehr steigern, dass diese zu große Risiken eingehen und schließlich überführt werden. Meiner Meinung nach vermag diese Argumentation deshalb nicht zu überzeugen, weil einige der genannten Annahmen unzutreffend sind. Man kann Kavka ohne Weiteres zugestehen, dass Hobbes’ Begriff der Vernunft auf den zukünftigen eigenen Nutzen bezogen ist. Dies unterstellt der Tor ja in seinem Einwand. Außerdem kann man ihm darin zustimmen, dass ein Mensch, der vernünftig im hobbesschen Sinn handeln will, sein völliges Scheitern (disaster) vermeiden sollte.101 Unzutreffend ist hingegen m. E. die Annahme, dass die Akteure ihre Entscheidungen in der Regel unter Unsicherheit treffen müssen. In vielen Fällen lassen sich die Folgen einer Entscheidung ziemlich genau abschätzen. Das gilt für einige der Kapitel 1 genannten Beispiele, aber auch für andere Fälle. Beispielsweise kann ein Mann, der eine Frau durch ein Heiratsversprechen dazu bewegt,
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sich auf eine Affäre mit ihm einzulassen, hinreichend genau wissen, welche negativen Konsequenzen ihm drohen, wenn er dieses Versprechen nicht hält: so gut wie keine. Vorausgesetzt, dass er den Kontakt mit der Frau nach einer Weile abbricht, werden ihn äußerstenfalls die Freundinnen, Verwandten und Bekannten der Frau moralisch sanktionieren. Außerdem übertreibt Kavka die Folgen einzelner unmoralischer Handlungen. Gelegentliches Lügen z. B. wird nicht durch soziale Ächtung bestraft; dies gilt nicht einmal für gelegentliche Vertragsbrüche. Ferner schenkt Kavka der Tatsache, dass Verstöße gegen moralische Regeln mehr oder weniger gravierend sein können, keine Beachtung. Sicherlich muss derjenige, der andere verletzt oder ermordet, mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen. Menschen hingegen, die gelegentlich undankbar sind oder in bestimmten Fällen andere ihre Verachtung spüren lassen, haben mit viel weniger unangenehmen Folgen zu rechnen. Schließlich spielt für die Frage nach der möglichen Rationalität unmoralischer Handlungen auch die soziale Position der Betroffenen eine Rolle (vgl. Kap. 1). Deshalb vermag Kavkas erste These, dass der Regel-Egoismus Hobbes’ Rationalitätskriterium besser gerecht werde als der Handlungsegoismus, nicht zu überzeugen. Daraus folgt nun, dass man in der Replik auf den Einwand des Toren nicht mehr darauf verweisen kann, dass es unvernünftig wäre, einen möglichen Vorteil auszuschlagen, weil Vernunft strikte Regelbefolgung erfordere. Damit erweist sich auch Kavkas zweite These als falsch. Alles in allem kann man festhalten, dass Hobbes’ Erwiderung auf den Einwand des Toren nicht zu überzeugen vermag. Der Tor bleibt also im Recht. Das heißt aber, dass Hobbes’ eigener Begriff praktischer Vernunft zu einer Konsequenz führt, die seinem Beweisziel geradewegs widerspricht: Unter günstigen Umständen sollte man vernünftigerweise gegen die natürlichen Gesetze verstoßen, weil dies dem eigenen Wohlergehen zuträglicher ist als moralkonformes Handeln. Dies gilt insbesondere für Fälle des Unrechttuns im Verborgenen. Hobbes kann dem nicht wider-
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sprechen, da er – wie oben dargestellt – die Erhaltung des eigenen Lebens und das Streben nach dem eigenen Wohlergehen selbst als Kriterium praktischer Vernunft ansah. 2.9 Darüber hinaus ist Hobbes’ politische Lösung des Problems mit zwei weiteren Schwierigkeiten verbunden: (i) mit dem Problem der Kodifizierbarkeit der natürlichen Gesetze und (ii) mit dem Problem der enormen Kosten. – Zu (i): Wie bereits dargelegt, müssen die natürlichen Gesetze in positives Recht überführt werden, um allen rationalen Egoisten normative Gründe für ihre Befolgung zu liefern. Diese Positivierung ist sicherlich in Bezug auf einige der natürlichen Gesetze ohne weiteres möglich. Dies gilt etwa für die Gebote der Friedfertigkeit und des Einhaltens von Verträgen. Die Kriterien für die Entscheidung darüber, ob eine Handlung einen tätlichen Angriff oder einen Vertragsbruch darstellte, dürften weitgehend unumstritten sein. Anders verhält es sich z. B. mit den Gesetzen der Dankbarkeit, der Geselligkeit, der Demut und der Bescheidenheit. Stellen wir uns vor, dass entsprechend dem vierten natürlichen Gesetz folgender Paragraph in das deutsche Strafgesetzbuch aufgenommen wird: „Wer einem anderen gegenüber, der ihm aus reiner Gunst einen Vorteil verschafft hat, undankbar ist, wird mit Freiheitsentzug von ... bis ... Jahren bestraft.“102 Es leuchtet wohl sofort ein, dass es ausgesprochen schwierig sein dürfte, für diesen Paragraphen angemessene objektive Tatbestandsmerkmale festzulegen. Das Gleiche gilt für die subjektiven Tatbestandsmerkmale, deren Vorliegen darüber hinaus wohl kaum je zweifelsfrei nachgewiesen werden könnte. Wollte man die genannten moralischen Gebote rechtlich kodifizieren, wie es Hobbes fordert, wären zweifellos zahlreiche endlose Rechtsstreitigkeiten, die außerdem meist unentscheidbar wären, die Folge. Was die genannten moralischen Normen betrifft, so versagt also die von Hobbes vorgeschlagene politisch-rechtliche Lösung des Problems. Damit ist aber nun keineswegs ein marginales Problem berührt, denn die Moral erschöpft sich nun einmal nicht in den Verboten der Tötung und Körperverletzung, des Diebstahls und
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des Betrugs. In der moralischen Praxis spielen die Gebote der Dankbarkeit, des gegenseitigen Respekts, der Bescheidenheit etc. eine wichtige Rolle. Hobbes teilte diese Auffassung, da er ja die entsprechenden Gebote als natürliche Gesetze ansah. Zu (ii): Selbst wenn man einmal mit Hobbes unterstellt, dass es möglich und praktikabel wäre, alle natürlichen Gesetze in positives Recht umzusetzen, so wären die entsprechenden Rechtsnormen doch nur dann wirksam, wenn ihre Einhaltung möglichst vollständig kontrolliert und jeglicher Verstoß gegen sie bestraft würde. Es wäre also nötig, dass die staatlichen Instanzen nicht nur Morde, Körperverletzungen und Betrugsfälle, sondern auch Äußerungen von Undankbarkeit, mangelndem Respekt, Unbescheidenheit u. Ä. möglichst flächendeckend erfassen und sanktionieren. Dies wäre mit erheblichen Kosten verbunden, die von denjenigen zu tragen wären, die von diesen Normen profitieren sollten.103 Es bestünde sogar die Gefahr, dass der Staat, der nach Hobbes die Aufgabe hat, die Freiheit und die Sicherheit der Bürger zu garantieren, zu einem unerträglichen moralischen Überwachungsstaat würde. Das wäre nicht im Interesse der Bürger. 2.10 Ich fasse zusammen: Hobbes hat in einem beeindruckenden theoretischen Projekt nachzuweisen versucht, dass es, wenn man von einem egoistisch konzipierten Begriff praktischer Vernunft ausgeht, vernünftig ist, moralisch zu handeln, sofern die natürlichen Gesetze Teil des positiven Rechts sind. Dafür hat er im Wesentlichen zwei Gründe angeführt. Erstens ermöglicht der Staat den Bürgern aufgrund seines Gewaltmonopols, nach ihren jeweils eigenen Vorstellungen ein angenehmes Leben zu führen. Zweitens haben die Bürger als rationale Egoisten ein Interesse daran, die Sanktionen zu vermeiden, die ihnen bei der Übertretung der nun zu geltendem Recht gewordenen moralischen Normen drohen. Die kritische Prüfung dieser These hat jedoch gezeigt, dass sie mit ernst zu nehmenden Schwierigkeiten verbunden ist. Die Diskussion des Einwands des Toren hat gezeigt, dass der von
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Hobbes zugrunde gelegte Begriff der Vernunft zu der Schlussfolgerung führt, dass es unter günstigen Umständen vernünftig ist, gegen die natürlichen Gesetze zu verstoßen, wenn dadurch ein beträchtlicher Vorteil erlangt werden kann. Aus der Erörterung des Problems der Kodifizierbarkeit der natürlichen Gesetze ergab sich, dass die von Hobbes vorgeschlagene vollständige Verrechtlichung der Moral kaum zu bewerkstelligen wäre. Schließlich hat sich gezeigt, das der Hobbes’sche Staat die Vernünftigkeit moralischen Handelns nur dann sicherstellen könnte, wenn er zu einer mächtigen moralischen Überwachungs- und Zwangsanstalt würde. Dies wäre mit erheblichen Kosten verbunden. Darüber hinaus würde es Hobbes’ eigener Bestimmung des Staatszwecks zuwiderlaufen, wenn die Freiheit der Bürger so stark eingeschränkt würde.
Kapitel 3 David Gauthier – Moralität als beschränkte Nutzenmaximierung 1. „Die Moral steckt in einer Grundlagenkrise. Der Kontraktualismus bietet die einzig mögliche Lösung zur Überwindung dieser Krise.“1 So charakterisiert David Gauthier, der bekannteste und einflussreichste Vertreter des ethischen Kontraktualismus, die gegenwärtige Lage der Moral und sein theoretisches Projekt. Unter „Moral“ versteht er dabei die Menge gerechtfertigter Beschränkungen unseres Handelns. 2 Sie schränkt die Freiheit der moralischen Subjekte ein und bedarf daher einer Rechtfertigung, wenn sie für die von ihr Betroffenen akzeptabel sein soll. Die Krise der Moral bestehe darin, dass die moralische Sprache, die wir gebrauchen, auf Voraussetzungen beruhe, die heute nicht mehr annehmbar seien: auf der Annahme, dass die Welt zweckmäßig geordnet ist, oder auf der Annahme objektiver Werte.3 Wenn diese Diagnose zutrifft, dann hängen unsere moralischen Urteile und Normen gleichsam in der Luft. Wir halten an ihnen fest, obwohl wir sie nicht mehr auf die traditionelle Art und Weise rechtfertigen können. Wenn uns daran gelegen ist, dass unsere moralische Praxis nicht zugrunde geht, dann muss die Moral auf eine neue Weise begründet werden. Die einzige Begründung, die in der Gegenwart auf allgemeine Akzeptanz hoffen könne, ist Gauthier zufolge die kontraktualistische. Der Schritt von der Diagnose, dass die Moral sich in einer Krise befinde, zur These, dass diese nur durch den Kontraktua-
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lismus überwunden werden könne, ist allerdings nicht so zwingend, wie Gauthier suggeriert. Wenn man probeweise seine Voraussetzung annimmt, dass die traditionelle Ethik entweder auf einem teleologischen Weltbild oder auf der Annahme objektiver Werte beruht, und wenn man gleichzeitig an der Forderung festhält, dass sich die Moral auf allgemeingültige Weise begründen lassen soll, dann kann diese Begründung sich nur auf die Eigenschaften oder Fähigkeiten stützen, die alle Menschen – oder zumindest alle erwachsenen und geistig gesunden Menschen – haben. Zweifellos ist nun der ethische Kontraktualismus nicht die einzige zeitgenössische Moralphilosophie, die von dieser methodischen Prämisse ausgeht. Sie trifft auf die Diskursethik, Bernard Gerts Moralphilosophie oder Alan Gewirths Theorie ebenso zu, um hier nur drei Beispiele zu nennen. Also stellt der Kontraktualismus nicht die einzig denkbare Lösung für die Krise der Moral dar. Nun ist der Kontraktualismus zwar nicht die einzige Ethik, die sich gänzlich auf subjektivistische Annahmen beschränkt, aber immerhin handelt es bei ihm um eine von Gauthier in Morals by Agreement (1986) detailliert ausgearbeitete und gründlich durchdachte Theorie. Im Hinblick auf die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, ist sie von besonderem Interesse, weil Gauthier die Originalität seiner ethischen Vertragstheorie im Vergleich zur kontraktualistischen Tradition darin sieht, dass sie im Gegensatz zu dieser nicht nur eine befriedigende Begründung moralischer Normen biete, sondern darüber hinaus auch zeigen könne, dass die Befolgung dieser Normen vernünftig ist.4 Die Rationalität der Befolgung (compliance) moralischer Normen steht geradezu im Zentrum seines theoretischen Unternehmens: The genuinely problematic element in a contractarian theory is not the introduction of the idea of morality, but the step from hypothetical agreement to actual moral constraint. Suppose that each person recognizes himself as one of the parties to agreement. The principles forming the object of agreement are those that he would have accepted ex ante in bargaining with his fellows, had he found himself among them in a context initially devoid of moral constraint. Why
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need he accept, ex post in his actual situation, these principles as constraining his choices? A theory of morals by agreement must answer this question. (MA, S. 9)
Wie Gauthier dieses Problem der Befolgung moralischer Normen löst, soll im Folgenden rekonstruiert werden. Es versteht sich von selbst, dass aufgrund der thematischen Beschränkung der vorliegenden Untersuchung einige Elemente seiner Theorie nicht einbezogen werden können, obwohl sie durchaus von allgemeinem Interesse sind. Die Darstellung wird sich soweit wie möglich auf die Aspekte beschränken, die für das Verständnis seiner Antwort auf die V-Frage unentbehrlich sind. Auf mathematische Formalisierungen, die in Gauthiers Theorie eine wichtige Rolle spielen, werde ich dabei verzichten. Die Grundgedanken seiner Argumentation erschließen sich auch ohne mathematische Modelle. 2. Gauthier geht von einem durch Hume geprägten Begriff praktischer Rationalität aus. Er schließt sich Humes Diktum an, dass die Vernunft nichts weiter als die Sklavin der Leidenschaften ist (21); praktische Rationalität ist also strikt instrumentell (25). Diese Hume’sche Auffassung präzisiert der Autor, wie es nicht unüblich ist, mit den Mitteln der Entscheidungstheorie. An die Stelle der Begriffe „Leidenschaft“ oder „Wunsch“ tritt somit der geläufige terminus technicus „Präferenz“. Die Rationalität steht also im Dienst der Präferenzen und ist, ganz allgemein gesprochen, dafür zuständig, etwas Gewünschtes zu maximieren: The quantity to be maximized must be associated with preference; we have spoken loosely of advantage, or benefit, or satisfaction, but the theory of rational choice defines a precise measure of preference, utility, and identifies rationality with the maximization of utility. (MA, S. 22)
Dabei ist zu beachten, dass Präferenzen nicht auf Nutzenwerten beruhen und nicht aus diesen abgeleitet werden können. Vielmehr stellt der Nutzen nur ein subjektives Maß für die Stärke einer Präferenz dar (23).
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Präferenzen sind nicht unmittelbar gegeben; sie müssen erschlossen werden. Der Theorie der „offenbarten Präferenzen“ (revealed preferences) zufolge kann man nur aus den Entscheidungen eines Akteurs auf dessen Präferenzen schließen. Auch Gauthier ist der Auffassung, dass die Entscheidungen einer Person Aufschluss über ihre Präferenzen geben.5 Er hält die Entscheidungen jedoch nicht für den einzigen Anhaltspunkt für die Erschließung der Präferenzen. Stattdessen müsse man neben dem Verhalten auch die Einstellungen des Handelnden einbeziehen, wenn man seine Präferenzen ermitteln will: „We must distinguish a behavioural dimension of preference revealed in choice, and an attitudinal dimension expressed in speech.“ (27) Es kommt also nicht nur darauf an, was die Akteure wollen, sondern ebenso darauf, was sie in Bezug auf ihre Wünsche sagen. Diese Ergänzung der Theorie der offenbarten Präferenzen um die Dimension der Einstellungen erlaubt es Gauthier, ein Rationalitätskriterium einzuführen, das in der Standardvariante der Entscheidungstheorie nicht enthalten ist. Eine Person verhält sich u. a. nur dann rational, wenn das, was sie tut, zu dem passt, was sie sagt: Utility is a measure of preference, but not of either revealed or attitudinal preference taken in isolation from the other. It is a measure of both dimensions in so far as they agree. If the two are in conflict, then even if it is possible to define a measure for each, neither may be identified with utility. If a person’s revealed and expressed preferences diverge, then her values are confused and she lacks an adequate basis for rational choice. A necessary condition of supposing that a person is maximizing value, and so acting rationally, is that it be possible to interpret her choices as maximizing the measure of her expressed preferences. Lack of measure common to behaviour and attitudes is a sign of irrationality. (MA, S. 28)
Die Kohärenz zwischen den Entscheidungen einer Person und ihren sprachlichen Äußerungen über ihre Präferenzen ist also Gauthier zufolge ein Rationalitätskriterium. Dieses Kriterium wirft eine Frage auf, die hier nicht diskutiert werden muss, weil ihre Beantwortung in Bezug auf die V-Frage keine weitreichen-
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den Folgen haben dürfte. Es genügt daher, sie kurz zu erwähnen: Sollte eine Person, deren Entscheidungen nicht zum Inhalt ihrer sprachlichen Äußerungen passen, vernünftigerweise jene an diese anpassen oder umgekehrt? Eines von beiden muss geschehen, wenn die Kohärenz zwischen Handeln und Tun wiederhergestellt werden soll. Also muss entweder den Entscheidungen oder den sprachlichen Äußerungen der Person der normative Vorrang zugesprochen werden. Wie immer diese Wahl ausfällt, sie ist in jedem Fall begründungsbedürftig; doch lassen wir dieses Problem auf sich beruhen.6 Gauthier führt ein weiteres, wichtigeres Rationalitätskriterium ein: Die Präferenzen einer Person müssen angesichts der verschiedenen Erfahrungen, die sie macht, und im Verlauf der praktischen Überlegungen, die sie anstellt, stabil bleiben (32f.). Präferenzen, die diese Bedingung erfüllen, bezeichnet Gauthier als „überlegte Präferenzen“ (considered preferences) (32). Damit ist nun aber nicht gemeint, dass die Präferenzen irgendwelchen objektiven Standards genügen müssen. Gefordert wird lediglich, dass sie dem Prozess der kritischen Prüfung durch die Person, die sie hat, standhalten – was immer andere von ihnen halten mögen. Wenn man davon ausgehen kann, dass die Person ihre Präferenzen einer kritischen Prüfung unterzogen hat, und wenn sie an ihnen festhält, dann erfüllt sie das Kriterium der überlegten Präferenzen. Gauthier verfährt an dieser Stelle nur konsequent. Er hält an den Prämissen seiner Argumentation fest, dass Vernunft strikt instrumentell ist und dass es keine objektiven Werte gibt. Werte werden vielmehr erst durch Präferenzen konstituiert.7 Deshalb lehnt er die Auffassung ab, dass es einen von den Präferenzen unabhängigen Maßstab ihrer Rationalität gibt, z. B. allgemeine Güter oder objektive Interessen: Here then we disagree with the defender of the rationality of interested based choice. To take an unacknowledged and indeed rejected ‚interest‘, rather than a clear, considered preference as the ground for choice is in effect to treat the content of preference as subject to rational assessment. And this requires an objective conception of value. If we treat the proposal to ground choice in interest as a subjectivist
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Kapitel 3 alternative to our view, then it fails. For if it be agreed that values are subjective, then there is no ground for appeal beyond what a person acknowledges, given that she has reflected sufficiently and is fully experienced. Of course her beliefs may be irrationally held, but this will not impugn her values, although it may show them to be inapplicable or irrelevant in her true circumstances. (MA, S. 34)
Auf die Schwierigkeiten, mit denen diese Konzeption überlegter Präferenzen verbunden ist, werde ich gleich zu sprechen kommen. Neben den beiden Rationalitätskriterien der Kohärenz zwischen Tun und Sprechen und der Überlegtheit der Präferenzen setzt Gauthier im Anschluss an die Entscheidungstheorie voraus, dass die Präferenzen einer Person vollständig und transitiv sein müssen (39ff.). Eine Person ist also u. a. nur dann rational, wenn es keine zwei Optionen gibt, für die gilt, dass die Person keine von beiden der anderen vorzieht, und wenn sich Präferenzbeziehungen übertragen. Wenn sie beispielsweise die Möglichkeit A der Möglichkeit B und diese der Möglichkeit C vorzieht, muss sie vernünftigerweise auch A gegenüber C bevorzugen. Die von Gauthier vertretene Konzeption praktischer Rationalität ist in Bezug auf die V-Frage in mehreren Hinsichten problematisch. Hier soll auf drei Schwierigkeiten hingewiesen werden, die sich m. E. aus ihr ergeben. (i) Das erste Problem wurde bereits im vorigen Abschnitt erörtert: Eine voluntaristische Auffassung des Guten und der Vernunft führt offensichtlich zu kontraintuitiven und unannehmbaren Konsequenzen. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass Menschen manchmal irrational handeln, und jede Theorie praktischer Rationalität muss diesem Umstand Rechnung tragen können.8 Gauthier behauptet: „What is good is good ultimately because it is preferred, and it is good from the standpoint of those and only those who prefer it.“ (59) Wie die Erfahrung lehrt und wie bereits früher dargelegt wurde, ist jedoch das bloße Gewolltwerden keine hinreichende Bedingung dafür, dass etwas gut ist. Wenn dem so wäre, dann würden sich alle diejenigen, die ihre Gesundheit ruinieren, die sich wissentlich in eine Sucht begeben, die sich überschulden oder eine von vornherein desaströse Partnerschaft eingehen, rational
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verhalten. Gerade diese und ähnliche Fälle gelten aber als paradigmatische Beispiele praktischer Irrationalität. Da die Theorie praktischer Rationalität nur von dem im Alltag geläufigen Rationalitätsverständnis ausgehen kann, muss sie diese Fälle als „kritische Hermeneutik“9 integrieren können. (ii) Es besteht eine Diskrepanz zwischen Gauthiers voluntaristischem Begriff der Rationalität und dem normativen Anspruch seiner Theorie.10 Einerseits geht er davon aus, dass praktische Vernunft strikt instrumentell ist und dass es von den Präferenzen abhängt, was gut und was zu tun vernünftig ist. Andererseits betreibt er beträchtlichen theoretischen Aufwand, um normative Grundsätze für das Handeln zu begründen. Wären die überlegten Präferenzen schon als solche immer rational, dann hätte sich Gauthiers Projekt von vornherein erübrigt. Sie sind es aber nicht.11 Gauthier will nachweisen, dass es rational im Sinne der erweiterten Enscheidungstheorie ist, moralisch zu handeln. Häufig handeln Menschen aber irrational und nicht selten auch unmoralisch. Diese Tatsache bildete den Anlass für die Erörterung der V-Frage. Deshalb kann man in der Ethik das, was Personen zu bestimmten Zeitpunkte jeweils tatsächlich wollen, nicht zum normativen Fundament machen. Wenn man Gauthiers Prämisse, dass etwas nur gut ist, weil und sofern es präferiert wird, ernst nimmt, dann sind Verstöße gegen moralische Normen für diejenigen, die sie begehen, per definitionem gut. Am Beispiel der sogenannten Berufsverbrecher lässt sich zeigen, dass Gauthiers Rationalitätskriterium der überlegten Präferenzen nicht hinreicht, um nachzuweisen, dass alle Verstöße gegen moralische Normen irrational sind. Berufsverbrecher, die häufig einen Großteil ihres Lebens im Gefängnis verbringen, halten offensichtlich auch nach reiflicher Überlegung und langjährigen Erfahrungen daran fest, dass sich unmoralisches Handeln lohnt. Also werden sie dem Kriterium der überlegten Präferenzen gerecht. (iii) Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige Leser nach der Lektüre von Morals by Agreement noch immer davon überzeugt sind, dass unmoralisches Handeln nicht eo ipso irratio-
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Kapitel 3
nal ist, und dass sie deshalb gelegentlich gegen moralische Normen verstoßen. Gemäß Gauthiers subjektivistischem Rationalitätsverständnis würden diese Menschen – vorausgesetzt, dass sie nur lange genug über die Problematik nachgedacht hätten – rational handeln. Dies führt aber auf einen Widerspruch. Die beiden Thesen, dass es prinzipiell irrational ist, unmoralisch zu handeln, und dass es unter günstigen Umständen rational sein kann, um des eigenen Vorteils willen moralische Pflichten zu verletzen, sind unvereinbar. 3. Nachdem Gauthiers Begriff praktischer Rationalität dargestellt und kritisiert worden ist, wende ich mich nun den Bedingungen zu, unter denen Personen handeln. Gauthier zufolge kommen hier drei Möglichkeiten in Betracht: der Naturzustand, der vollkommen kompetitive Markt und die Gesellschaft, in der keine vollkommenen Marktbedingungen bestehen. In diesem Abschnitt soll der Begriff des Marktes erläutert werden; die anderen beiden Zustände werden später erörtert. Die Annahme der Möglichkeit eines reinen Marktes ist deshalb für Gauthiers Theorie von Bedeutung, weil sich die Notwendigkeit der Moral erst daraus ergibt, dass die Welt, in der wir leben, kein solcher Markt ist.12 Der Marktzustand weist folgende Merkmale auf. (i) Im Marktzustand befinden sich alle Produktionsmittel und alle Produkte in Privatbesitz (86). Wichtig ist an dieser Annahme die Implikation, dass der Besitz an Produktionsmitteln und Produkten strikt individuell verteilt ist, sodass der Nutzen, den eine Person aus dem Markt zieht, nicht von dem Nutzen anderer abhängt: [...] utility functions must be strictly independent; no person gains or loses simply from the utility of others. Each person’s utility is strictly determined by the goods he consumes and the factor services he provides. Or in other words, bundles of goods consumed and services provided are strictly discrete, and each person’s utility is determined by and only by the size and composition of his bundle. (MA, S. 86f.)
(ii) Die Unabhängigkeit der individuellen Nutzenfunktionen wird außerdem dadurch gewährleistet, dass die Einzelnen keiner-
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lei Interesse aneinander nehmen. Die entsprechende Bedingung des mutual unconcern besagt, „that persons be conceived as not taking an interest in the interests of those with whom they exchange“ (87). Dadurch wird u. a. ausgeschlossen, dass die Präferenzen einer Person durch den Neid auf andere beeinflusst werden. (iii) Eine weitere Voraussetzung für den vollkommenen Wettbewerb auf dem Markt besteht darin, dass es keinerlei Externalien (externalities) gibt. Diese werden folgendermaßen charakterisiert: An externality arises whenever an act of production or exchange or consumption affects the utility of some person who is not party, or who is unwillingly party, to it. Such an effect may of course be either beneficial or harmful; if beneficial we speak of a positive externality or external efficiency, if harmful we speak of a negative externality or external inefficiency. (MA, S. 87)
Eine positive Externalie liegt z. B. dann vor, wenn eine Person von einem öffentlichen Gut profitiert, zu dessen Hervorbringung sie nichts beigetragen hat. Der Schiffsführer, der sich an einem Leuchtturm orientiert, dessen Bau andere finanziert haben, profitiert von einer positiven Externalie. Um eine negative Externalie handelt es sich hingegen dann, wenn einer Person ohne ihre Einwilligung von einer anderen Kosten aufgebürdet werden. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn alle Bewohner des Unterlaufs eines Flusses unter der Verschmutzung des Flusses leiden, die durch eine am Oberlauf befindliche Fabrik verursacht wird. Wie die Beispiele zeigen, verhindert der Ausschluss von Externalien aus dem Markt, dass Trittbrettfaher und Parasiten auftreten. Dabei wird unter einem Trittbrettfahrer (free-rider) jemand verstanden, der an einem Gut teilhat, ohne sich an dessen Kosten zu beteiligen. Als Parasit wird hingegen eine Person bezeichnet, die sich Vorteile verschafft und dabei deren Kosten teilweise oder ganz auf andere abwälzt (96). (iv) Schließlich erfolgen im Marktzustand sowohl die Produktion als auch der Warenumsatz unter der Bedingung der Sicherheit (89). So sind z. B. die Preise für die zu produzierenden Güter bekannt. Zusammenfassend lässt sich der Markt dem-
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nach so beschreiben: „Individual factor endowments and private goods, free market activity and mutual unconcern, and the absence of externalities – these are the presuppositions of a perfectly competitive market. In it both production and exchange are carried on under certainty.“ (89) Wer mit Gauthiers Theorie nicht vertraut ist, der wird sich an dieser Stelle möglicherweise fragen, was all dies mit Moral und Ethik zu tun hat. – Die Annahme des Marktes ist nach Gauthier in zweierlei Hinsicht von Bedeutung für die Ethik. Erstens funktioniert der Markt auf unparteiliche Weise, obwohl er nicht durch eine Moral reguliert wird. Für diese nicht gerade eingängige Behauptung führt der Autor drei Gründe an. (i) Im Marktzustand erfolgt keinerlei Art von Zwang (96). (ii) Die Abwesenheit von Externalien sichert, dass niemand negativ oder positiv von Aktivitäten betroffen wird, an denen teilzunehmen er sich nicht entschieden hat (ebd.). (iii) Aus der von Gauthier unterstellten Optimalität der Resultate des Marktgeschehens folgt, dass jede Alternative zum Markt, die nicht für jedermann schlechter wäre, einige auf Kosten anderer begünstigen würde (97). Die Annahme des Marktes ist außerdem deshalb von Bedeutung für die Ethik, weil die Notwendigkeit der Moral auf der Tatsache beruht, dass die Gesellschaften, in denen wir leben, keine vollkommen kompetitiven Märkte sind. Weil sie es nicht sind, wird in ihnen Zwang ausgeübt, gibt es Trittbrettfahrer und Parasiten. Die fairen Ergebnisse, die sich im Marktzustand von selbst einstellen, müssen in realen Gesellschaften erst durch die Moral hervorgebracht werden. Da wir nicht in einem vollkommen kompetitiven Marktzustand leben, lassen sich aus der Beschaffenheit des Marktes keine Aussagen darüber ableiten, wie wir in realen Gesellschaften mit anderen kooperieren sollten. Somit dürfte deutlich geworden sein, dass die Annahme des Marktes bei Gauthier ausschließlich einem heuristischen Zweck dient. Sie soll verdeutlichen, welche Funktion die Moral hat. Sie soll in wirklichen Gesellschaften durch die gerechtfertigte Beschränkung der Freiheit der Einzelnen gewährleisten, dass diese auf möglichst effektive Weise ihre
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Interessen verfolgen können, ohne dabei von anderen gegen ihren Willen beeinflusst zu werden. Sie soll also das, was im Markt als dem moralfreien Raum ohne Einschränkungen (constraints) der Freiheit zustande kommen würde (103), unter realen Bedingungen sichern. 4. Die vorigen beiden Abschnitte haben zu zwei Ergebnissen geführt. Erstens streben rationale Akteure danach, ihren Nutzen zu maximieren. Zweitens sind die Bedingungen dafür, dies ohne Zwang und Benachteiligung durch andere zu tun, in realen Gesellschaften deshalb nicht gegeben, weil diese keine vollkommen kompetitiven Märkte sind. Aus der Verknüpfung dieser beiden Annahmen ergibt sich die theoretische Aufgabe, die sich Gauthier in Morals by Agreement stellt: Es muss gezeigt werden, dass bestimmte Beschränkungen des Handelns im Interesse aller Beteiligten und deshalb für alle akzeptabel sind. Da der von Gauthier zugrunde gelegte Rationalitätsbegriff auf den jeweils eigenen Nutzen bezogen ist und keinerlei moralische Konnotationen aufweist, kann diese Aufgabe auch so formuliert werden: „Morality, we shall argue, can be generated as a rational constraint from the non-moral premisses of rational choice.“ (4) Wenn dies gelingen sollte, dann wäre damit zugleich gezeigt, dass die Ethik eine Teildisziplin der Entscheidungstheorie ist (2f.). Um diese Aufgabe zu lösen, analysiert Gauthier die Bedingungen kooperativer Interaktionen (co-operative interactions), die erfüllt sein müssen, damit sich rationale Akteure freiwillig an ihnen beteiligen können. Mit anderen Worten geht es also um die Spielregeln der Kooperation, denen alle Nutzenmaximierer vernünftigerweise zustimmen könnten.13 Die Notwendigkeit vernünftiger Kooperation ergibt sich vor allem aus zwei Gründen: der Knappheit der Ressourcen und der Voreingenommenheit der Handelnden für sich selbst (bias in favour of the self, self-bias) (114f.). Gauthier zufolge wäre es allerdings verfehlt, wenn man Kooperation nur als ein notwendiges Übel ansähe, das sich aus dem Zwang zum Zusammenleben ergibt.
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Diesen Fehler habe Hobbes begangen (115). Gauthier verweist dagegen im Anschluss an Rawls darauf, dass soziales Handeln nicht nur dem Schutz voreinander dient, sondern darüber hinaus Ergebnisse hervorbringen kann, die den Einzelnen ohne sie versagt bleiben würden.14 Die jeweils anderen sind nicht nur Konkurrenten, sondern auch potentielle Kooperateure; Interaktion erschöpft sich nicht in Konkurrenz, sondern sie bietet auch die Chance zur fruchtbaren Zusammenarbeit (115f.). Freilich bringt jede Kooperation die Gefahr mit sich, von den anderen übervorteilt zu werden. Diese Gefahr kann und muss dadurch gebannt werden, dass die Kooperation bestimmten Bedingungen unterworfen wird, die gewährleisten, dass rationale Akteure freiwillig an ihr teilnehmen können. Um zu bestimmen, wie diese Bedingungen beschaffen sein müssen, kann man von folgender Situation ausgehen: Mindestens zwei Personen erwägen, zu einem bestimmten Zweck zu kooperieren. Dabei wird vorausgesetzt, dass ihre Kooperation einen kooperativen Mehrwert (co-operative surplus) hervorbringen würde. Der gesamte Mehrwert wird von verschiedenen Faktoren abhängen: von äußeren Bedingungen, von der Art und Weise der Durchführung des gemeinsamen Projektes und von den Investitionen der Beteiligten. Entscheidend ist nun, dass der gesamte kooperative Mehrwert auf verschiedene Weise verteilt werden kann. Setzt man die Rationalität der Akteure voraus, dann wird die Kooperation nur dann zustande kommen, wenn die Verteilung des Mehrwerts für alle Beteiligten akzeptabel ist. Um dies sicherzustellen, treten alle potentiellen Kooperateure, bevor es überhaupt zur Kooperation kommt, in den Prozess des Aushandelns (bargaining) ein, dessen Ziel darin besteht, sich auf eine gemeinsame Strategie zu einigen: „In reaching agreement on a joint strategy, then, each individual sees herself engaged in a process of bargaining with her fellows.“ (128) Da jeder Beteiligte unterstellt, dass sich die jeweils anderen rational verhalten werden, weiß er, dass eine Übereinkunft nur dann zustande kommen wird, wenn sie von allen, nicht nur von ihm selbst vernünftigerweise akzeptiert werden kann. Der Prozess des Aushandelns
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unterliegt daher dem aus der vertragstheoretischen Tradition bekannten Kriterium des Zustimmenkönnens: [...] for co-operation to be rational, we must suppose that the joint strategy would have been chosen through such a procedure, so that each person, recognizing this, may voluntarily accept the strategy. Each is then able to view the distribution of the benefits realized from co-operation as acceptable to her as an actor, a full participant in the co-operative process. (MA, S. 128f.)
Die entscheidende Frage lautet also: Unter welchen Bedingungen ist es für alle Beteiligten rational, einer gemeinsamen Strategie zuzustimmen? Mit anderen Worten: Unter welchen Bedingungen ist eine durch Aushandeln erreichte Übereinkunft (agreement) rational? (122) Um diese Frage adäquat zu beantworten, muss man Gauthier zufolge zwischen den Eingangsbedingungen des Aushandelns und den zu erwartenden Ergebnissen und dementsprechend zwischen den externen und den internen Rationalitätsbedingungen des Aushandelns unterscheiden (133). Eine Frage ist es, unter welchen Voraussetzungen es rational ist, sich überhaupt auf das Aushandeln einzulassen. Dies ist die Frage nach der externen Rationalität. Eine andere Frage ist es, unter welchen Bedingungen ein Ergebnis des Aushandelns, das unter akzeptablen äußeren Bedingungen zustande kam, seinerseits annehmbar ist. Dies ist die Frage nach der internen Rationalität des Aushandelns. Gauthiers Gedankengang folgend, sollen hier zunächst die internen Bedingungen analysiert werden. Auf das Problem der externen Rationalität des Aushandelns werde ich später zurückkommen. 5. Da im Fall des Scheiterns des Aushandelns keine Kooperation zustande käme und somit alle auf einen möglichen Gewinn verzichten müssten, kann vorausgesetzt werden, dass alle Beteiligten an einer Einigung interessiert sind (134). Die Position, in der sich die Beteiligten am Beginn des Prozesses befinden, wird als Ausgangsposition des Aushandelns (initial bargaining position) bezeichnet (130). Sie wird durch die individuellen Nutzenwerte
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bestimmt, über welche die Verhandlungspartner vor dem Aushandeln und der geplanten Kooperation verfügen. Diese Güter, die in die Kooperation als Investitionen eingebracht werden können, sind nicht Gegenstand des Aushandelns; in diesem geht es ausschließlich um die Verteilung des kooperativen Gewinns, also um die positiven Differenzen zwischen den Nutzenwerten der Beteiligten am Ende der Kooperation und in der Ausgangsposition (ebd.). Da alles, worüber die Parteien in der Ausgangsposition verfügen, unabhängig von der Kooperation ist, entsprechen die Nutzenwerte in der Ausgangsposition dem Ergebnis, das zustande käme, wenn keine Kooperation stattfände (132). Die Menge aller möglichen Ergebnisse der kooperativen Interaktion heißt „Ergebnisraum“ (outcome space). Jedes dieser Ergebnisse repräsentiert eine Verteilung des Gesamtnutzens, der durch die Kooperation hervorgebracht wird, auf die Beteiligten. Man kann davon ausgehen, dass sich rationale Akteure nur dann auf eine Zusammenarbeit einlassen werden, wenn ihnen diese zumindest keine Verluste einbringt. Daher kommen im Prozess des Aushandelns nur diejenigen Ergebnisse in Betracht, bei denen die Nutzenwerte aller am Ende mindestens so groß sind wie in der Ausgangsposition. Niemand darf durch die Zusammenarbeit etwas verlieren (133). Die Teilmenge des Ergebnisraums, die dieser Bedingung genügt, wird als Menge aller zulässigen Ergebnisse (range of admissible outcomes) bezeichnet (132). Der Prozess des Aushandelns umfasst zwei Phasen. Er beginnt damit, dass alle Beteiligten einen Anspruch (claim) geltend machen (erste Phase). Da jeder Verhandlungspartner zunächst eine maximale Forderung stellt, um für sich möglichst viel herauszuholen, dürften die verschiedenen Ansprüche im Normalfall unvereinbar miteinander sein. Deshalb werden die Beteiligten in der zweiten Phase Zugeständnisse machen müssen, und zwar so lange, bis sie zu einem für alle akzeptablen Ergebnis gelangt sind. Die entscheidende Frage lautet nun: Welche Zugeständnisse sollten die Beteiligten vernünftigerweise machen? (134) In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die Konzessionen der Parteien auf irgendeine Art und Weise verglichen
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werden können. Gauthier bestreitet zwar die Möglichkeit, dass individuelle Nutzenwerte interpersonal miteinander verglichen werden können (ebd.), und zwar aus dem einfachen Grund, dass die jeweiligen Skalen individuell sind. Das stellt aber kein gravierendes Hindernis für den Vergleich der Zugeständnisse dar. Man kann dem Vergleich nämlich an Stelle der absoluten Zugeständnisse die relativen Zugeständnisse der Beteiligten zugrunde legen. Die relative Größe eines Zugeständnisses wird bestimmt als Verhältnis der absoluten Größe der Konzession zur absoluten Größe des vollständigen Zugeständnisses. Auf diese Weise wird die Vergleichbarkeit der Zugeständnisse trotz der Individualität der Nutzenskalen gesichert.15 Wie werden sich rationale Akteure in der zweiten Phase des Aushandelns verhalten? Man kann davon ausgehen, dass keiner von ihnen bereit sein wird, ein größeres relatives Zugeständnis zu machen als die anderen. Dieser einfache Gedanke führt auf eines der grundlegenden Prinzipien der kontraktualistischen Ethik Gauthiers: [...] the person with a lesser relative concession must concede. Extending this rule to bargaining among several persons, we claim that the principle should state that given a range of outcomes, each of which requires concessions by some or all persons if it is to be selected, then an outcome be selected only if the greatest or maximum relative concession it requires, is as small as possible, or a minimum, that is, is no greater than the maximum relative concession required by every other outcome. We call this the principle of minimum-maximum, or minimax relative concession. (MA, S. 137)
In allen relevanten Fällen wird die Anwendung dieses MinimaxPrinzips der relativen Zugeständnisse zu dem Ergebnis führen, dass alle Beteiligten das gleiche relative Zugeständnis machen müssen und den gleichen relativen Gewinn erhalten.16 Mithin wird dieser Grundsatz in zweierlei Hinsicht der Forderung allgemeiner Zustimmungsfähigkeit gerecht. Erstens wird niemand von seinen Kooperationspartnern übervorteilt. Zwar können sich die absoluten Zugeständnisse und Gewinne beträchtlich unterscheiden, aber proportional zum eigenen Beitrag erhält
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jeder das Gleiche. Zweitens wird durch das Minimax-Prinzip sichergestellt, dass die Zugeständnisse möglichst klein und daher der zu erwartende Nutzen aller möglichst groß ist. Für rationale Nutzenmaximierer dürfte es unter diesen Umständen tatsächlich vernünftig sein, sich unter den ausgehandelten Bedingungen zur Kooperation zu entscheiden. Gauthier schreibt dem Minimax-Prinzip drei Funktionen zu (145): (i) Es bezieht den entscheidungstheoretischen Grundsatz, dass jeder seinen zu erwartenden Nutzen maximieren soll, auf den Prozess des Aushandelns kooperativer Gewinne. Das heißt: Im Prozess des Aushandelns verfolgt jeder Beteiligte nur sein eigenes Interesse, und zwar auf direkte Weise. Aus der Tatsache, dass dies alle wissen, ergibt sich die Einsicht der Parteien, dass sie Zugeständnisse machen müssen und dass schließlich nur dann eine Übereinkunft zustande kommen wird, wenn alle das gleiche relative Zugeständnis machen. Die entsprechenden Konzessionen werden von den Akteuren jedoch nicht aufgrund moralischer Überzeugen gemacht, sondern mit dem Ziel, den jeweils eigenen Nutzen zu maximieren. (ii) Es bringt den formalen Inhalt eines rationalen Aushandelns zum Ausdruck. Ohne konkrete inhaltliche Anforderungen an eine akzeptable Übereinkunft festzulegen, bestimmt das Prinzip deren Inhalt so, dass das Prinzip auf beliebige Prozesse des Aushandelns mit beliebigen absoluten Größen bezogen werden kann. (iii) Es gibt an, wie sich rationale Akteure in kooperativen Interaktionen verhalten sollten: Third, the principle of minimax relative concession is the principle of rational behaviour in co-operative interaction – interaction based on the joint strategy agreed to in bargaining. Each person acts, not to maximize his own utility, but to bring about the outcome that is the object of the bargain, affording each person an expected utility no less than he would expect from his maximal claim and minimax concession. (MA, 145 – Hervorh. v. mir)
Aus der Beschreibung dieser dritten Funktion geht hervor, worin die Bedeutung des Minimax-Prinzips für das Verständnis der Moral besteht: Das Minimax-Prinzip fordert, dass die Akteure
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während der Kooperation nicht mehr dem Grundsatz der Nutzenmaximierung folgen, sondern sich an die von allen beschlossene gemeinsame Strategie halten. Hier ist also der Punkt des Gedankengangs erreicht, an dem Gauthier seinem Ziel, aus moralisch neutralen Rationalitätskriterien moralische Grundsätze herzuleiten, einen entscheidenden Schritt näher zu kommen scheint. Dieser Schritt bedarf der Erläuterung. 6. Auf den ersten Blick scheint das Minimax-Prinzip gar nichts mit moralischen Erwägungen zu tun haben. Es scheint sich bei ihm nur um einen Grundsatz der Klugheit zu handeln, der uns aus dem Geschäftsleben und aus der Politik vertraut ist: Wer mit anderen kooperieren will, um aus dieser Zusammenarbeit Gewinn zu ziehen, der muss bereit sein, in Bezug auf die Verteilung dieses Gewinns Zugeständnisse zu machen, die andere dazu bringen, sich auf die Kooperation einzulassen. Da dabei alle Parteien nur ihren eigenen Nutzen im Auge haben, liegt es nahe, das Minimax-Prinzip als bloßes Gebot der nutzenbezogenen Rationalität, aber nicht als moralische Norm aufzufassen. Wenn man verstehen will, welche Gründe es Gauthier erlauben, das Prinzip dennoch als moralischen Grundsatz zu deuten, muss das Verhältnis zwischen dem Prozess des Aushandelns und der kooperativen Interaktion näher beleuchtet werden. Einerseits sind beide strikt voneinander zu unterscheiden. Das Aushandeln geht der Kooperation voraus, es ist nicht selbst Teil der Kooperation.17 Beide Prozesse sind strukturell verschieden: Während des Aushandelns gilt das Rationalitätskriterium der Nutzenmaximierung; in der Kooperation soll hingegen die beschlossene gemeinsame Strategie verbindlich sein. Andererseits besteht ein Zusammenhang zwischen dem Aushandeln und der Kooperation. Im Aushandeln werden die gemeinsame Strategie und die Verteilung des kooperativen Gewinns festgelegt. Dies geschieht – und das ist hier der entscheidende Punkt – unter der Voraussetzung, dass sich alle Beteiligten auch an die Übereinkunft halten werden. Nur wenn alle unterstellen, dass jeder das von ihm zugesicherte relative Zugeständnis auch tatsächlich
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machen wird, werden sie zu einer Übereinkunft gelangen. Damit wird nun in die Interaktion ein völlig neues Moment der wechselseitigen Verbindlichkeit eingeführt, das Gauthier zufolge moralisch gedeutet werden muss: It is this third role which establishes the distinctively moral character of the principle, and of co-operation. For applied to co-operative interaction, the principle of minimax relative concession constitutes a constraint on the direct pursuit of individual utility. Thus if we can show it to be a rational and impartial basis for co-operative interaction, we shall have established its credentials as a moral principle. (MA, S. 145)
Wenn man mit Gauthier unterstellt, dass sich moralische Normen u. a. durch Unparteilichkeit auszeichnen, dann erscheint es nicht mehr so abwegig, das Minimax-Prinzip als moralischen Grundsatz zu deuten, weil es gewährleistet, dass im Regelfall alle Beteiligten das gleiche relative Zugeständnis machen müssen und somit niemand benachteiligt wird. Die These, dass das Minimax-Prinzip als ein moralischer Grundsatz der Unparteilichkeit aufgefasst werden kann, hat Gauthier in Kapitel VIII seines Buches mit dem Titel „The Archimedean Point“ ausführlich begründet. Da dieses Kapitel hier nicht behandelt werden kann, muss ein kurzer Hinweis zu seiner Funktion genügen. Das Ziel des Kapitels besteht darin, nachzuweisen, dass man, wenn man vom moralischen Standpunkt der Unparteilichkeit ausgeht, zu den gleichen Beschränkungen des Handelns gelangt wie durch die Analyse der strategischen Entscheidungen rationaler Individuen (235). Das heißt, dass die Ergebnisse der auf das Aushandeln und die Kooperation bezogenen Entscheidungstheorie mit den Ergebnissen der Analyse moralischer Urteile „konvergieren“18: „The principles of social interaction chosen from the Archimedean point are the same principles of rational agreement that underlie co-operation.“ (265) Ob man nun von der Analyse strategischer Entscheidungen rationaler Nutzenmaximierer oder vom Begriff der Unparteilichkeit ausgeht, man wird in beiden Fällen zu weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen gelangen. Unter ande-
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rem lässt sich Gauthier zufolge zeigen, dass der „ideale Akteur“ (233ff.), der den archimedischen Standpunkt einnimmt, sich für das Minimax-Prinzip der relativen Zugeständnisse entscheiden würde (265). Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Begründungsstrategien: Der im Hinblick auf die V-Frage entscheidende Nachweis, dass man sich vernünftigerweise an die im Prozess des Aushandelns getroffene Übereinkunft halten soll, kann nur rationalitätstheoretisch geführt werden.19 Da dies vom archimedischen Standpunkt aus nicht möglich ist, erscheint es mir gerechtfertigt, auf Kapitel VIII von Morals by Agreement hier nicht näher einzugehen. – Sollte Gauthiers These zutreffen, dass man durch eine Explikation des Begriffs der Unparteilichkeit zum Minimax-Prinzip gelangen kann, dann wäre das ein zweiter Anhaltspunkt dafür, dass es berechtigt ist, diesen Grundsatz als einen moralischen aufzufassen. Schließlich findet sich an einer zentralen Stelle des Buches noch ein dritter Grund für die moralische Interpretation des Minimax-Prinzips. Gauthier behauptet dort, that many of our actual moral principles and practices are in effect applications of the requirements of minimax relative concession to particular contexts. We may suppose that promise-keeping, truthtelling, fair dealing, are to be defended by showing that adherence to them permits persons to co-operate in ways that may be expected to equalize, at least roughly, the relative benefits afforded by interaction. These are among the core practices of the morality that we may command to each individual by showing that it commands his rational agreement. (MA, S. 156)
Die ausgesprochen wichtige These, dass sich viele unserer moralischen Urteile und Praktiken als Ergebnisse eines dem MinimaxPrinzip unterliegenden Aushandelns begreifen oder rekonstruieren lassen, soll später ausführlich geprüft werden. 7. Im vorigen Abschnitt sind wir in der Darstellung der Gauthier’schen Argumentation an dem im Hinblick auf die V-Frage entscheidenden Punkt angelangt: Es muss gezeigt werden, dass
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sich die am Aushandeln Beteiligten vernünftigerweise an ihre Übereinkunft halten sollten. Dies ist die von Gauthier vertretene Variante des starken ethischen Rationalismus. Man kann Gauthiers theoretisches Unternehmen daher treffend als den groß angelegten Versuch ansehen, Hobbes’ Toren zu widerlegen. – Warum ist es nun Gauthier zufolge rational, moralisch zu handeln? Seine Antwort besteht im Wesentlichen aus drei Elementen. (i) Gauthier unterscheidet zwischen direkter und beschränkter Nutzenmaximierung und vertritt die These, dass man sich vernünftigerweise für die beschränkte Nutzenmaximierung entscheiden sollte. (ii) Er führt den Begriff der Disposition zum moralischen Handeln ein und behauptet, dass es rational ist, diese Disposition auszubilden. (iii) Er vertritt die empirische These, dass die Handlungsdispositionen von Personen hinreichend zugänglich sind, um zu verhindern, dass eine Person von einer anderen, die nicht zum moralischen Handeln disponiert ist, ausgenutzt wird. Zu (i) & (ii): Ein direkter Maximierer (straightforward maximizer) – im Folgenden „SM“ genannt – ist eine Person, die situationsbezogen versucht, ihren Nutzen zu maximieren. Dabei hängen ihre Entscheidungen u. a. von den Strategien ihrer Kooperationspartner ab. Außerdem hat sich ein SM keiner Selbstbindung durch die Annahme bestimmter Prinzipien unterworfen. Seine Entscheidungen hängen von den im Einzelfall gegebenen Umständen ab. Ein beschränkter Maximierer (constrained maximizer) – im Folgenden „CM“ genannt – hat hingegen die bedingte Disposition ausgebildet, seine Entscheidungen gemäß der im Aushandeln beschlossenen gemeinsamen Strategie zu fällen. Wenn er davon ausgehen kann, dass eine Regel, die fair ist und ihm Gewinn verspricht, von allen Beteiligten eingehalten wird, dann ist er bereit, sich an diese Regel zu halten: [...] a constrained maximizer is ready to co-operate in ways that, if followed by all, would yield outcomes that she would find beneficial and not unfair, and she does co-operate should she expect an actual practice or activity to be beneficial. (MA, S. 167)
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Während ein SM also im Einzelfall entscheiden wird, ob er z. B. ein Versprechen halten soll, hat ein CM die Disposition angenommen, seine Versprechen unabhängig davon zu halten, ob ihm der Bruch eines Versprechens im Einzelfall größeren Nutzen einbringen würde, allerdings nur unter den beiden Voraussetzungen, dass sich seine Partner ebenfalls an ihre Versprechen halten und dass es alles in allem für ihn vorteilhaft ist, sich an der Praxis des Haltens von Versprechen zu beteiligen. Wichtig ist, dass es sich bei der Disposition des CM nicht um eine starre Disposition, sondern um eine bedingte handelt. Ein CM ist nicht unter allen Bedingungen bereit, seine Entscheidungen Beschränkungen zu unterwerfen. Stattdessen müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein, damit die Disposition wirksam wird. Der Nutzen, den er von einer kooperativen Interaktion erwartet, muss mindestens so groß sein wie derjenige, den er hätte, wenn keine Kooperation stattfände, und er muss annähernd so groß sein wie der gemäß dem Minimax-Prinzip zu erwartende Nutzen (167). Außerdem muss er davon ausgehen können, dass die potentiellen Kooperationspartner dazu disponiert sind, sich an die beschlossene gemeinsame Strategie zu halten. Das heißt: Ein CM wird nur mit den Personen kooperieren, die er für CMs hält. Mit mutmaßlichen SMs wird er nicht zusammenarbeiten, sondern sich ihnen gegenüber ebenfalls wie ein direkter Maximier verhalten (169). Durch diese Bedingung soll verhindert werden, dass SMs die Kooperationsbereitschaft der CMs ausnutzen. Warum sollte aber ein Akteur, der das Ziel verfolgt, seinen eigenen Nutzen zu maximieren, eine Disposition zum moralischen Handeln ausbilden? Warum, so würde Hobbes’ Tor fragen, sollte er nicht unter günstigen Umständen gegen Abmachungen verstoßen, insbesondere dann, wenn er davon ausgehen kann, dass der Verstoß gegen eine moralische Norm nicht bekannt wird? Nehmen wir, um dieses Problem zu verdeutlichen, einmal mit Gauthier an, dass sich unsere wichtigsten moralischen Urteile und Praktiken als Ergebnisse eines dem Minimax-Prinzip unterworfenen Aushandelns rekonstruieren lassen. In diesem
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Fall kann der Tor beispielsweise das Lügenverbot heranziehen, um seinen Einwand zu erläutern. Ist es, wenn Vernunft instrumentell auf Nutzenmaximierung bezogen ist, nicht vernünftiger, sich durch eine Lüge, die höchstwahrscheinlich nicht aufgedeckt werden wird, einen Vorteil zu verschaffen, als die Wahrheit zu sagen, nur weil der Adressat der Lüge zum moralischen Handeln disponiert ist? Gauthier gibt auf diesen gewichtigen Einwand eine differenzierte Antwort. Er verweist zunächst auf die Vorteile, die einem direkten Maximierer, der als solcher erkannt wird, versagt bleiben: „Constrained maximizers can [...] obtain co-operative benefits that are unavailable to straightforward maximizers.“ (170) Ein SM muss darüber hinaus damit rechnen, dass er von den Kooperationen ausgeschlossen werden wird, an denen er interessiert ist: „A straightforward maximizer, who is disposed to make maximizing choices, must expect to be excluded from co-operative arrangements which he would find advantageous.“ (183) Andererseits kann ein direkter Maximierer, wenn er sich geschickt genug anstellt, die Kooperationsbereitschaft der CMs ausnutzen (170). Somit scheint ein Patt zwischen den beiden zu bestehen: „Each supposes her disposition to be rational. But who is right?“ (170) Damit diese Frage beantwortet werden kann, müssen die Argumente des CM und des SM genauer geprüft werden. Beide gehen von einer empirischen Annahme aus. Der CM unterstellt, dass SMs häufig genug als solche erkannt werden können, denn nur in diesem Fall kann er die Kooperation mit SMs verweigern, und nur unter dieser Voraussetzung können SMs überhaupt von für sie vorteilhaften Kooperationen ausgeschlossen werden. Der SM hingegen setzt voraus, dass es seinesgleichen hinreichend oft möglich ist, andere zu täuschen, denn nur in diesem Fall können die SMs die kooperationswilligen CMs ausnutzen. Wie der Streit zwischen dem bedingten und dem direkten Maximierer ausgeht, hängt also von der Antwort auf die sozialpsychologische Frage ab, ob und ggf. in welchem Umfang die
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Handlungsdispositionen einer Person von anderen erkannt werden können. Wenn Glaukon und der Hobbes’sche Tor Recht mit ihrer Behauptung hätten, dass der Ungerechte sich so geschickt verstellen kann, dass er zugleich andere ausnutzen und ein potentieller Kooperationspartner bleiben kann, dann würde der direkte Maximierer als Sieger aus dem Disput hervorgehen.20 Wenn andererseits die Absichten der Akteure grundsätzlich für andere vollständig erkennbar wären, dann würde der beschränkte Maximierer Recht behalten, weil in diesem Fall kein SM einen CM ausnutzen könnte, aber die als solche erkannten SMs stets von gewinnbringenden Kooperationen ausgeschlossen würden (173f.). Nun wird aber niemand leugnen, dass Menschen manchmal von anderen getäuscht werden. Also ist die starke Annahme der wechselseitigen Durchsichtigkeit (transparency) falsch. Zwar könnte man ihr den Status einer theoretischen Idealisierung zusprechen, doch dann müsste man in Kauf nehmen, dass die Geltung der Theorie auf die ideale soziale Welt beschränkt wäre, in der wir nicht leben: But to assume transparency may seem to rob our argument of much of its interest. We want to relate our idealizing assumptions to the real world. If constrained maximization defeats straightforward maximization only if all persons are transparent, then we shall have failed to show that under actual, or realistically possible, conditions, moral constraints are rational. We shall have refuted the Foole but at the price of robbing our refutation of all practical import. (MA, S. 174)
Gauthier hält die schwächere Annahme für realistisch, dass Personen in Bezug auf ihre Dispositionen zwar nicht durchsichtig, aber durchscheinend (translucent) sind, d. h. dass sie weder völlig undurchsichtig noch völlig durchsichtig sind (175)21. Deshalb geht er davon aus, dass die Einstellung einer Person zu möglichen Kooperationen „may be ascertained by others, not with certainty, but as more than mere guesswork“ (174). Täuschungen sind nicht unmöglich, sie stellen aber auch nicht den Normalfall dar. Häufig sind Personen in der Lage, die Handlungsdispositionen anderer zu erkennen.
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Was folgt aus dieser Annahme in Bezug auf den Disput zwischen dem SM und dem CM? Erstens wäre es in einer Welt voller direkter Maximierer selbst für einen gutwilligen Akteur irrational, ein beschränkter Maximierer zu sein (181f.). Er würde ausgenutzt, ohne andere auszunutzen, und deshalb nur Nachteile in Kauf nehmen: „In such circumstances it would not be rational to be moral.“ (182) Nun leben wir zwar nicht in der besten aller möglichen sozialen Welten, aber auch nicht in der schlechtesten. Die Annahme, dass die übergroße Mehrheit der Mitmenschen SMs sind, hält der Autor für unrealistisch. Plausibler erscheint es Gauthier, dass es sowohl CMs als auch SMs gibt. Unter diesen Umständen muss die Fähigkeit eines CMs, die Dispositionen anderer zu erkennen, sehr gut ausgebildet sein, damit er sich vor der Ausbeutung durch SMs schützen kann (181). Je größer der Anteil der CMs innerhalb einer sozialen Gruppe wird, desto größer werde auch die Wahrscheinlichkeit nutzenbringender Koperationen zwischen beschränkten Maximierern. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es Gauthier zufolge rational ist, die Disposition der beschränkten Maximierung auszubilden, wenn es in der Gesellschaft hinreichend viele beschränkte Maximierer gibt und die Kooperationen zwischen den CMs zu annähernd fairen und optimalen Ergebnissen führen (178). Außerdem sollten sich CMs darum bemühen, ihre Fähigkeit, die Absichten anderer zu erkennen, auszubilden und zu vervollkommnen. Sofern sie über diese Fähigkeit verfügen, werden sie nicht mit als solchen erkannten SMs kooperieren und sich gegen diese nötigenfalls auch durch Drohungen zur Wehr setzen (187). – Nachdem nun alle wesentlichen Begriffe und Argumente Gauthiers dargestellt worden sind, gehe ich zur kritischen Einschätzung seiner Antwort auf die V-Frage über. 8. Als Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit Gauthier soll eine bereits zitierte, ausgesprochen wichtige Stelle dienen, die sich am Ende des fünften Kapitels von Morals by Agreement findet. Gauthier behauptet dort,
David Gauthier – Moralität als beschränkte Nutzenmaximierung 105 that many of our actual moral principles and practices are in effect applications of the requirements of minimax relative concession to particular contexts. We may suppose that promise-keeping, truthtelling, fair dealing, are to be defended by showing that adherence to them permits persons to co-operate in ways that may be expected to equalize, at least roughly, the relative benefits afforded by interaction. These are among the core practices of the morality that we may commend to each individual by showing that it commands his rational agreement. (MA, S. 156)
Gauthiers These lautet hier, dass sich unsere wesentlichen moralischen Normen, Institutionen und Praxen als Ergebnisse eines dem Minimax-Prinzip unterworfenen Aushandelns rekonstruieren lassen. Damit behauptet er natürlich nicht, dass moralische Normen tatsächlich aus einem Prozess des Aushandelns hervorgegangen sind, sondern dass sie sich im Nachhinein so begreifen lassen, als ob sie Resultate eines Aushandelns wären.22 Gegen diese These sprechen m. E. mehrere Gründe. Warum Gauthiers These unzutreffend ist, wird deutlich, wenn man die wesentlichen Eigenschaften moralischer Normen mit den wesentlichen Merkmalen des Aushandelns vergleicht. Gauthier zufolge ist es rational, sich am dem Minimax-Prinzip unterworfenen Aushandeln zu beteiligen und sich an die gemeinsam beschlossene Strategie zu halten, weil und nur sofern die folgenden Bedingungen erfüllt sind: – Die Kooperation verspricht einen Gewinn, an dem alle teilhaben werden. – Alle Beteiligten werden dazu beitragen, dass dieser Gewinn erwirtschaftet wird. – Der Gewinn wird auf unparteiliche Weise, d. h. gerecht verteilt. Dafür sorgt die Anwendung des Minimax-Prinzips der relativen Zugeständnisse. – Am Ende des Aushandelns, d. h. vor Beginn der Kooperation wissen alle Beteiligten, welchen Anteil des Gewinns sie erhalten werden.
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Keines dieser vier Merkmale trifft auf unsere moralische Praxis zu. Erstens ist es ein wesentlicher Aspekt der Moral, dass auch diejenigen moralische Rechte haben, die nicht oder nicht in gleichem Maße zu einem kooperativen Gewinn beitragen können wie andere. Dies gilt z. B. für Klein- und Kleinstkinder, Kranke, Alte und Schwache sowie für geistig oder körperlich Behinderte. Geht man vom geläufigen Verständnis moralischer Normen aus, dann sind wir nicht deshalb verpflichtet, diese Menschen fair zu behandeln, weil uns dies einen Gewinn verspricht, sondern völlig unabhängig davon, ob wir daraus überhaupt einen Nutzen ziehen werden. Zweitens gelten moralische Normen nicht unter den einschränkenden Bedingungen, dass die Akteure wissen müssen, dass ihnen die Befolgung der Normen einen Gewinn einbringen wird, und dass sie dessen Größe kennen. Wie unangemessen Gauthiers Rekonstruktion der moralischen Praxis ist, lässt sich an Beispielen illustrieren. Wer Zeuge eines Verkehrsunfalls wird, der ist moralisch verpflichtet, den verletzten Opfern Hilfe zu leisten, und zwar nicht nur, wenn er die Gewissheit hat, dass er auch einmal bei einem Unfall verletzt werden wird, und weil er davon ausgehen kann, dass man ihm Hilfe leisten wird. Für das Bestehen der moralischen Hilfspflicht ist die Kenntnis der Wahrscheinlichkeit, selbst einmal Hilfe zu benötigen, völlig irrelevant. Zur Hilfeleistung ist sogar derjenige verpflichtet, der es für sehr unwahrscheinlich hält, dass er selbst einmal in eine ähnliche Notsituation geraten wird. Man kann in der Kritik noch einen Schritt weitergehen: Moralische Normen gelten nicht nur unabhängig von der Aussicht auf Gewinn, sondern sie fordern zuweilen sogar, dass man auf etwas verzichtet. Ich bin nicht nur dann verpflichtet, ein Versprechen einzuhalten, wenn es mir nützt, sondern auch dann, wenn mich die Einhaltung des Verprechens etwas kostet. Eine Frau darf von ihrem Mann erwarten, dass er ihr die Wahrheit sagt, und zwar auch dann, wenn dies für ihn unangenehme Konsequenzen hat. Kurz: Die Aussicht auf Gewinn und die Kenntnis der Größe des zu erwartenden Gewinns sind nicht konstitutiv
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für das Bestehen moralischer Pflichten. Deshalb lässt sich die moralische Praxis nicht als Ergebnis eines fiktiven Aushandelns rekonstruieren. Gauthiers These, dass es vernünftig ist, moralisch zu handeln, wird – wenn man sie als Allaussage interpretiert – durch diesen Einwand schlagend widerlegt. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass Gauthiers Prämissen eine Implikation aufweisen, die seinen theoretischen Ambitionen geradezu zuwiderläuft. Wenn man Gauthiers Begriff praktischer Rationalität zugrunde legt, dann wird man ihm zugestehen müssen, dass sich durch die Theorie des Aushandelns tatsächlich rationale Verbindlichkeiten begründen lassen. Diese sind aber von den oben genannten vier Bedingungen abhängig. Es ist dann und nur dann rational geboten, sich an die im Prozess des Aushandelns beschlossene Strategie zu halten, wenn die Kooperation jedem einen Gewinn verspricht, etc. Außerdem sollte man sich vernünftigerweise überhaupt nur dann auf das Aushandeln einlassen, wenn man es mit Menschen zu tun hat, die etwas zu einem kooperativen Gewinn beitragen können. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, und das ist oft der Fall, dann gilt für alle Akteure das Rationalitätskriterium der direkten Nutzenmaximierung. Daraus ergibt sich folgender Schluss: (P 1) Zahlreiche moralische Pflichten lassen sich nicht als Ergebnisse eines Aushandelns rekonstruieren. (P 2) Rationale Beschränkungen der direkten Nutzenmaximierung lassen sich nur mit Bezug auf die Notwendigkeit des Aushandelns und der Kooperation begründen. (P 3) Für die Bereiche, für die sich keine rationalen Beschränkungen begründen lassen, gilt das Rationalitätskriterium der direkten Nutzenmaximierung. (K) Für viele moralisch relevante Situationen gilt das Kriterium der direkten Nutzenmaximierung. Das heißt aber nichts anderes, als dass es Gauthier zufolge in vielen Situationen irrational sein dürfte, die eigenen Entschei-
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dungen moralischen Beschränkungen zu unterwerfen. Entgegen seiner Absicht implizieren Gauthiers Prämissen, dass es unter bestimmten Umständen irrational wäre, moralisch zu handeln, und dass man unter diesen Bedingungen vernünftigerweise unmoralisch handeln sollte. Diese These soll durch drei Beispiele illustriert werden. Beispiel 1: Nehmen wir an, dass ein Mann von seiner Ehefrau weiß, dass sie ihm aus bestimmten Gründen nicht untreu sein wird, selbst wenn sie Gelegenheit dazu hätte. Der Mann hingegen hat eine starke Präferenz für außereheliche amouröse Abenteuer. Im Rahmen der gauthierschen Theorie gibt es für diesen Mann keinen guten Grund, seiner Frau treu zu sein. Der Treue seiner Ehefrau ist er sich ohnehin sicher; sie zählt also nicht zu dem kooperativen Gewinn, der erst durch Aushandeln und Kooperation erwirtschaftet werden müsste. Darum lässt sich die Beschränkung der direkten Nutzenmaximierung des Mannes hier nicht mittels der Lehre vom Aushandeln begründen. Darüber hinaus würde sein zu erwartender Nutzen durch die wechselseitige Treue stark vermindert. Vernünftigerweise sollte er seine Frau also weiterhin betrügen. Ich sehe jedenfalls nicht, wie man mit Gauthier das Gegenteil nachweisen könnte. Beispiel 2: Person A verkauft per Inserat ihren Gebrauchtwagen an Person B. A wird mit B wahrscheinlich nie wieder in Berührung kommen, da B in einer anderen Stadt lebt. Um den Verkaufspreis nicht zu schmälern, verschweigt A einige Mängel des Wagens. Die Möglichkeit des Aushandelns mit der Absicht auf kooperativen Gewinn entfällt in diesem Fall, weil jeder Gewinn des Verkäufers mit einem Verlust des Käufers verbunden ist und umgekehrt. Hinzu kommt, dass A stets nur Neu- oder Jahreswagen kauft, die er nach einigen Jahren wieder verkauft. A wird daher selbst wahrscheinlich niemals in der Lage des Käufers eines Gebrauchtwagens sein. Unter diesen Umständen gibt es für A keinen guten Grund, B fair zu behandeln, denn Fairness wäre hier nur um den Preis des Verlusts möglich. Beispiel 3: Person C findet die der Person D gehörende Brieftasche, die viertausend Euro in bar enthält. C hat eine schlechte
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Ausbildung genossen und verdient wenig. Deshalb wird er aller Wahrscheinlichkeit niemals viertausend Euro auf legalem Wege erwerben. Darüber hinaus führt er aus Gewohnheit niemals mehr als einhundert Euro mit sich. C kann zwar nicht faktisch mit allen anderen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft die Praxis der Rückgabe verlorener Brieftaschen aushandeln; er kann aber folgendes Gedankenexperiment durchführen: Unter welchen Bedingungen würde mir die allgemein als verbindlich angesehene Praxis der Rückgabe verlorener Brieftaschen einen Gewinn einbringen? – Ich müsste meine Brieftasche einundvierzigmal verlieren; sie müsste in vierzig Fällen den Höchstbetrag von 100 Euro enthalten und dürfte im einundvierzigsten Fall nicht leer sein. Das Eintreten jeder dieser beiden Bedingungen ist unwahrscheinlich; dass beide zusammentreffen, ist noch unwahrscheinlicher. Wenn man mit Gauthier das Rationalitätskriterium der Nutzenmaximierung zugrunde legt, dann gilt: Vernünftigerweise sollte C die gefundene Brieftasche behalten. Diese drei Beispiele wurden mit Bedacht so ausgewählt, dass sie die drei grundlegenden moralischen Forderungen repräsentieren, die Gauthier selbst als Beispiele für moralische Pflichten anführt, die sich als Ergebnis eines Aushandelns begreifen lassen.23 Charakteristisch für alle drei Fälle ist, dass die Befolgung einer moralischen Norm mit einem Verlust verbunden ist. Dies dürfte häufig der Fall sein. Außerdem sind die Fälle aufgrund der Umstände so beschaffen, dass die Folgen einer einzelnen suboptimalen Entscheidung nicht langfristig durch die Annahme einer moralischen Disposition aufgewogen werden können. Deshalb lässt sich der Einwand nicht mittels des Dispositions-Arguments widerlegen. Wenn der lüsterne Ehemann die Disposition der Treue annimmt, wird das unter den gegebenen Umständen langfristig seinen Nutzen erheblich mindern. Gleiches gilt für den verschlagenen Verkäufer des Gebrauchtwagens und den skrupellosen Finder der Brieftasche. Allerdings stellt dieser erste Einwand, der mir völlig stichhaltig erscheint, noch keinen hinreichenden Grund dar, um Gauthiers Theorie gänzlich zu verwerfen. Möglicherweise ist es
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ihm ja gelungen, zumindest in Bezug auf einen bestimmten Bereich der Moral nachzuweisen, dass es vernünftig ist, moralisch zu handeln. Gemäß der Charakterisierung des Aushandelns würde es sich bei diesem Bereich um die Menge aller Kooperationen zwischen beschränkten Nutzenmaximierern handeln, die einen Gewinn und annähernd faire und optimale Ergebnisse versprechen. Als Kooperierende kämen dabei nur diejenigen in Frage, die im Stande sind, zur Erwirtschaftung des kooperativen Gewinns beizutragen. Die entsprechende kontraktualistisch begründete Moral wäre also auf alle leistungsfähigen Menschen beschränkt, die bereit sind, ihr Streben nach Nutzenmaximierung bestimmten Beschränkungen zu unterwerfen. Sie würde außerdem nur für die Situationen gelten, in denen moralisches Handeln einen Gewinn vespricht. Wenn es Gauthier gelungen sein sollte, dies nachzuweisen, dann wäre damit zwar nicht gezeigt, dass man sich immer und allen Menschen gegenüber moralisch verhalten sollte, aber immerhin hätte er in diesem Fall die Kluft zwischen Rationalität und Moral ein wenig verkleinert. 9. Der erste Einwand ist hinreichend, um Gauthiers starken ethischen Rationalismus zu widerlegen. Die folgenden Einwände werden hier daher nur der Vollständigkeit halber behandelt. Ich wende mich zunächst Gauthiers These zu, dass es rational ist, die Disposition der beschränkten Nutzenmaximierung anzunehmen. Diese These ist mit zwei Schwierigkeiten verbunden. Erstens kann man bezweifeln, dass man die Wahl auf genau zwei Dispositionen beschänken sollte; zweitens lässt sich zeigen, dass sich die Notwendigkeit der Annahme einer Disposition nicht durch den Rekurs auf Gauthiers Prämissen rechtfertigen lässt. – In der Literatur ist darauf hingewiesen worden, dass Gauthiers Annahme, alle potentiellen Kooperationspartner wären entweder direkte oder beschränkte Nutzenmaximierer, in zweierlei Hinsicht problematisch ist.24 Erstens lehrt die Erfahrung, dass manche Menschen keine der beiden von Gauthier angeführten Dispositionen ausgebildet haben. Sie treffen ihre Entscheidungen vielmehr in Abhängigkeit von den Umständen.
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Viele Menschen verhalten sich in der Regel moralkonform. Sie neigen aber dazu, ausnahmsweise gegen moralische Normen zu verstoßen, wenn ihnen dies vorteilhaft erscheint und wenn sie nicht mit Sanktionen rechnen müssen, die den möglichen Gewinn aus dem Normverstoß überwiegen würden. Darum handelt es sich bei Gauthiers Annahme, dass die Menge aller potentiellen Kooperationspartner eine vollständige Disjunktion aus SMs und CMs bildet, um eine idealisierte Voraussetzung. Rationalitätstheoretische Argumentationen, die auf idealisierten Annahmen beruhen, lassen sich aber nicht ohne weiteres auf reale Bedingungen anwenden. Wie bereits erwähnt, lehnt Gauthier selbst unrealistische Annahmen in der Theorie ab.25 Problematisch ist darüber hinaus nicht nur, dass nicht alle Menschen SMs oder CMs sind, sondern auch die These, dass sie eines von beiden sein sollten. Im Rahmen der Gauthier’schen Prämissen lässt sich die Wahl einer Handlungsdisposition nur durch den Bezug auf das Kriterium der Nutzenmaximierung rechtfertigen. Es wäre dann und nur dann rational, ein CM zu sein, wenn der eigene Nutzen nur auf diesem Wege maximiert werden könnte; und es wäre nur dann irrational, kein CM zu sein, wenn dadurch die Maximierung des eigenen Nutzens vereitelt würde. Nun liegt es aber auf der Hand, dass es persönliche Strategien gibt, die mehr Gewinn versprechen als die Annahme der Disposition der beschränkten Nutzenmaximierung. Ich nenne drei Beispiele: (i) Mit SMs werde ich nicht fair kooperieren; CMs gegenüber werde ich mich moralischen Beschänkungen unterwerfen, es sei denn, dass sich mir ihnen gegenüber die Gelegenheit zum Unrechttun im Verborgenen bietet. (ii) Mit SMs werde ich nicht fair kooperieren; CMs gegenüber werde ich mich moralischen Beschänkungen unterwerfen, es sei denn, dass es sich um CMs handelt, die mich für einen Verstoß gegen die gemeinsam beschlossene Strategie der Kooperation nicht wirksam bestrafen können. (iii) Mit SMs werde ich nicht fair kooperieren; CMs gegenüber werde ich mich moralischen Beschänkungen unterwerfen,
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es sei denn, dass ich mit CMs kooperiere, mit denen ich wahrscheinlich nie wieder in Berührung kommen werde. Jede dieser drei Dispositionen sowie ihre Kombinationen versprechen, langfristig gesehen, einen größeren Nutzen als die Disposition der beschränkten Nutzenmaximierung im Sinne Gauthiers. Außerdem müsste begründet werden, warum sich eine Person vernünftigerweise überhaupt darauf festlegen sollte, ein und dieselbe Disposition über einen längeren Zeitraum beizubehalten. In Bezug auf die Maximierung des eigenen Nutzens erscheint es Erfolg versprechender, in Abhängigkeit von den sich ändernden Umständen nacheinander verschiedene Dispositionen anzunehmen.26 Zumindest sollte sich ein rationaler Akteur diese Möglichkeit offen halten. Diese Überlegung führt zu einer grundsätzlichen Frage: Wie lässt sich mit Bezug auf das einzige Rationalitätskriterium der Nutzenmaximierung rechtfertigen, dass man vernünftigerweise eine unflexible Handlungsdisposition annehmen sollte? Gauthier führt dafür zwei eng miteinander zusammenhängende Gründe an. Erstens sei die Annahme einer Disposition, langfristig gesehen, vorteilhaft: The disposition to keep one’s agreements, given sufficient security, without appealing to directly utility-maximizing considerations, makes one an eligible partner in beneficial co-operation, and so is itself beneficial. This will prove to be the key to our demonstration that a fully rational utility-maximizer disposes himself to compliance with his rationally undertaken covenants or agreements. (MA, S. 162)
Die Kehrseite der Nützlichkeit der Moral ist die Gefahr, von vorteilhaften Kooperationen ausgeschlossen zu werden, wenn man die Disposition der beschränkten Maximierung nicht annimmt: A straightforward maximizer, who is disposed to make maximizing choices, must expect to be excluded from co-operative arrangements which he would find advantageous. A constrained maximizer may expect to be included in such arrangements. She benefits from her disposition, not in the choices she makes, but in her opportunities to choose. (MA, S. 183)
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Diese Begründung vermag aus verschiedenen Gründen nicht zu überzeugen. Erstens spricht, selbst wenn man Gauthiers Einschätzung teilt, nichts gegen das Unrechttun im Verborgenen, wenn dieses zu einem Vorteil führt. Im Gegenteil: Es wäre geradezu irrational, sich diesen Vorteil entgehen zu lassen, obwohl dies nicht dazu führen würde, dass der Akteur durch andere Personen sanktioniert würde. Zweitens besteht die Möglichkeit, sich selektiv moralisch zu verhalten, und zwar sowohl in Bezug auf die Häufigkeit als auch in Bezug auf die betroffenen Personen.27 Wer nur gelegentlich gegen moralische Normen verstößt, der wird wahrscheinlich nicht sozial geächtet werden. Wer sich in einem sozialen Bereich rücksichtslos verhält, kann in anderen Bereichen noch immer mit der Kooperationsbereitschaft seiner Mitmenschen rechnen. Nehmen wir z. B. an, dass ein Mann die ihm unterstellten Mitarbeiter in einem großen Unternehmen demütigt. Seine Familie, seine Nachbarn, seine Tennispartner und seine Campingkameraden werden davon wahrscheinlich nichts erfahren. Darum führt sein Verstoß gegen das Gebot des Respekts nicht dazu, dass er aus der Gemeinschaft der Kooperierenden ausgeschlossen wird. Ähnliches gilt für die oben diskutierten Beispiele 1 und 2. Der untreue Ehemann muss, wenn er sich geschickt anstellt, nicht mit sozialer Ächtung rechnen. Der unfaire Verkäufer des Gebrauchtwagens zieht sich zwar den Zorn des Käufers und seiner Freunde und Bekannten zu; in seinem privaten Umfeld und in der Öffentlichkeit muss er jedoch keine Sanktionen befürchten. Menschen, die gegen moralische Normen verstoßen, werden nun einmal in aller Regel nicht in den Massenmedien öffentlich gebrandmarkt. Alles in allem vermag Gauthier daher nicht überzeugend zu begründen, dass man vernünftigerweise die Disposition der beschränkten Nutzenmaximierung annehmen sollte. Ein weiterer Einwand betrifft die Erkennbarkeit der Absichten anderer Personen. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass es sich bei der Annahme, alle Menschen seien entweder SMs oder CMs, um eine unrealistische Voraussetzung handelt. Das Gleiche gilt für die Bedingung der translucency. Auch in
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diesem Fall lehrt die Erfahrung, dass es häufig genug nicht gelingt, die Absichten oder Dispositionen anderer hinreichend genau zu durchschauen. Es gelingt Menschen nicht selten, andere zu betrügen, sie auszunutzen, sie in entscheidenden Momenten durch ihre Skrupellosigkeit zu überraschen, usw.28 Dieses Problem ist besonders gravierend, weil Menschen in komplexen, modernen Gesellschaften sehr oft mit anderen Personen kooperieren, die sie nicht oder nur flüchtig kennen, und weil zudem die Menge der Kooperationspartner häufig durch eine hohe Fluktuation gekennzeichnet ist. Unter diesen Bedingungen sollten rationale Nutzenmaximierer mit äußerster Vorsicht agieren. Um das Risiko zu vermeiden, durch SMs ausgenutzt werden zu können, sollten sie unbekannte oder wenig bekannte Personen grundsätzlich als SMs behandeln, solange keine ausreichenden Belege dafür vorliegen, dass es sich um einen CM handelt. Es ist leicht abzusehen, zu welchen Konsequenzen Gauthiers Thesen unter diesen Umständen führen. Eine gewinnbringende Kooperation würde häufig gar nicht zustande kommen. Außerdem würde sich ein allseitiges Misstrauen ausbreiten, wenn sich die meisten Menschen rational im Sinne Gauthiers verhielten. 10. Gauthier hat auf zweierlei Weise versucht, einige der bisher angeführten Probleme zu lösen. Erstens hat er in Kapitel VII von Morals by Agreement externe Bedingungen rationaler Kooperation aufgestellt, die verhindern sollen, dass einige Kooperationspartner trotz der internen Rationalität des Aushandelns und der Kooperation übervorteilt werden. Zweitens hat er, vor allem in den Kapiteln IX und X, einige Zusatzannahmen eingeführt. Abschließend soll geprüft werden, ob es Gauthier gelungen ist, auf diesem Weg die Einwände gegen seine Theorie überzeugend zu widerlegen. Wie bereits früher dargestellt, unterscheidet Gauthier zwischen den Eingangsbedingungen und den Ausgangsbedingungen des Aushandelns und der auf diesem beruhenden Kooperation (vgl. MA, S. 133). Den beiden Arten von Bedingungen entsprechen externe und interne Kriterien der Rationalität. Bisher
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wurden nur die internen Kriterien erörtert. Die moralischen Beschränkungen der Nutzenmaximierung lassen sich Gauthier zufolge aber nur dann vollständig rational rechtfertigen, wenn sowohl die Eingangs- als auch die Ausgangsbedingungen bestimmten Anforderungen genügen. Die interne Rationalität des Aushandelns kann dann keine rationalen Verbindlichkeiten hervorbringen, wenn die ursprüngliche Verhandlungsposition (initial bargaining position) nicht auf faire Weise zustande gekommen ist. Eine faire Ausgangsposition beschreibt Gauthier so: The initial bargaining position must be non-coercive. [...] We shall argue that the terms of fully rational co-operation include the requirement that each individual’s endowment, affording him a base utility not included in the co-operative surplus, must be considered to have been initially acquired by him without taking advantage of any other person – or, more precisely, of any other co-operator. (MA, S. 200f.)
Diese externe Rationalitätsbedingung für das Aushandeln wird von Gauthier im Anschluss an Nozick als „Locke’sche Klausel“ (Lockean Proviso) bezeichnet. Der Autor präzisiert die Bedeutung dieser Klausel, indem er die begriffliche Unterscheidung zwischen dem Verschlechtern der Situation eines anderen und dem Unterlassen der Verbesserung von dessen Lage einführt (204). Während es untersagt ist, die eigene Position dadurch zu verbessern, dass man die Lage eines anderen verschlechtert, ist es erlaubt, sich selbst Vorteile zu verschaffen, wenn man dadurch oder dabei darauf verzichtet, die Lage anderer zu verbessern. Beurteilungsmaßstab dafür, ob eine unerlaubte Verschlechterung der Lage anderer vorliegt, ist die Abwesenheit eines der Beteiligten: [...] the base point for determining how I affect you, in terms of bettering or worsening your situation, is determined by the outcome that you would expect in my absence. Worsening, and equally bettering, are judged by comparing what I actually do with what would have occured, ceteris paribus, in my absence. Failing to better, and equally failing to worsen, are judged by comparing what I might have done, but did not do, with what would have occured without me. (MA, S. 204)
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Die Funktion der Locke’schen Klausel besteht darin, dass sie einen angenommenen Naturzustand Beschränkungen unterwirft, die zugleich rational und moralisch gefordert sind. Dadurch werden die allgemein akzeptablen Strukturen geschaffen, auf denen Kooperation beruht.29 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist es nicht nötig, die Klausel ausführlich mitsamt ihren Implikationen darzustellen. Im Hinblick auf die VFrage können wir es bei dieser groben Charakterisierung belassen. Die Frage, die es nun zu beantworten gilt, lautet, ob die Einführung der Klausel dazu geeignet ist, die Einwände gegen Gauthiers starken ethischen Rationalismus oder zumindest einige von ihnen zu widerlegen. Meiner Meinung nach ist sie dazu nicht geeignet. Die entscheidende Schwierigkeit, die der Anwendung der Klausel entgegensteht, ist die Tatsache, dass niemand von uns in einem Naturzustand lebt und dass wir auch nicht in ihm gelebt haben. Wie Gauthiers Beispiele zeigen (vgl. 211ff.), hat er einen Zustand im Auge, in dem ein Großteil der natürlichen Ressourcen noch niemandem gehört, sodass die Möglichkeit der ursprünglichen Besitznahme besteht. Die Klausel soll also auf eine ursprüngliche Situation bezogen werden, in der die Beziehungen zwischen den Menschen noch nicht durch politische Institutionen und rechtliche Normen, wie etwa Eigentumsregeln, bestimmt werden. Nun will ich gar nicht bestreiten, dass diese Art der Anwendung möglich ist. Die Klausel wäre jedoch nur dann relevant, wenn sich die Situationen, in denen Menschen heute kooperieren können, so auf den Naturzustand zurückführen ließen, dass man feststellen könnte, ob einer der potentiellen Kooperationspartner seine Lage auf Kosten eines der anderen verbessert hat. Es ist m. E. nicht abzusehen, wie dies möglich sein sollte. Gauthier erläutert übrigens an keiner Stelle seines Werks, wie man aktuelle Strukturen der Kooperation so weit zurückverfolgen könnte, dass man zu ihrem Ursprung in einem natürlichen Zustand gelangte. Solange nicht gezeigt wird, wie dies möglich sein könnte, darf man meiner Meinung nach die Locke’sche Klausel außer Acht lassen.
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11. Wenden wir uns den Annahmen zu, die Gauthier in den letzten beiden Kapitel von Morals by Agreement eingeführt hat, um seine Theorie gegen nahe liegende Einwände zu verteidigen. 30 Wenn man dieses Werk im Ganzen überblickt, dann wird einem eine auffällige Diskrepanz zwischen seinem Beginn und seinem Ende nicht entgehen. Am Anfang des Buches beschränkt sich Gauthier darauf, den leicht modifizierten Rationalitätsbegriff der Entscheidungstheorie zugrunde zu legen. Die wichtigsten Annahmen, die früher bereits dargestellt wurden, lauten, dass Rationalität strikt instrumentell ist, dass es keinen objektiven Maßstab für das Wünschenswerte gibt, dass Werte von Präferenzen abhängen und dass rationale Akteure wechselseitig aneinander desinteressiert sind. In den letzten beiden Kapiteln des Buchs wandelt sich dieses Bild ebenso plötzlich wie überraschend. Gauthier legt nun großen Wert darauf, dass er seiner Theorie nicht die Vorstellung des homo oeconomicus zugrunde gelegt hat.31 Rationale Akteure unterschieden sich vor allem in zwei Hinsichten vom Idealtypus des ökonomischen Menschen. Erstens besäßen sie die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion, und zweitens verfügten sie über emotionale Bindungen zu ihren Mitmenschen. Gauthier betont mehrmals, dass die Fähigkeit, die eigenen Präferenzen einer kritischen Reflexion zu unterziehen und sie, falls nötig, zu ändern, einen wesentlichen Aspekt der Rationalität ausmache.32 Diese Dimension der kritischen Selbstreflexion sei im Begriff der ökonomischen Rationalität nicht enthalten.33 Wenn die Individuen imstande sein sollen, ihre Präferenzen kritisch zu bewerten, dann benötigen sie dafür ein Kriterium, das unabhängig von diesen ist. Überraschenderweise knüpft Gauthier in diesem Zusammenhang an Kant an: The capacity for rational, self-critical reflection on one’s grounds of action may be identified with the traditional idea of autonomy. The person who is a law unto himself is not bound by his present preferences, except in so far as they constitute his starting point for self-assessment. In the absence of any preferences and capacities he would have no basis on which to consider what person he might be.
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Kapitel 3 In taking over the Kantian idea of autonomy, we continue to reject the Kantian claim that reason affords substantive grounds for choice or action. But we recognize that reason offers a formal ground for Archimedean choice, as congruent to the automony that rationality confers. And so the essentially just society is the proper habitat of the fully autonomous agent. The person who is concerned with the full exercise of his rational freedom cannot agree to social institutions and practices that are merely instrumentally just, however well adapted they may be to his present concerns and powers, because he has no guarantee that such a social structure will continue to provide fairly for his satisfaction. (MA, S. 343f. – Hervorh. v. mir)
Mit dieser kantischen Wendung entfernt sich Gauthier offenbar beträchtlich von der instrumentalistischen Rationalitätskonzeption, von der er ausgegangen war. In der ersten Kapiteln waren moralische Beschränkungen stets mit Bezug auf den Nutzen des Akteurs begründet worden. Dies galt auch für die Notwendigkeit des Aushandelns und für die Verbindlichkeiten, denen die Kooperation unterworfen wurde. Sie konnten nur dadurch gerechtfertigt werden, dass sie den Handelnden einen Gewinn versprachen. Nun kommt ein gänzlich neuer Aspekt ins Spiel: ein nichtinstrumentelles Verhältnis zu gerechten sozialen Institutionen. Diese beiden Begriffe der Rationalität, einerseits der durch die Entscheidungstheorie geprägte und andererseits der durch Kants Idee der Autonomie inspirierte, dürften schwerlich miteinander vereinbar sein. Gauthier müsste sich, nolens volens, für einen von beiden entscheiden. Entweder hält er an der Annahme fest, dass die wohlüberlegten Präferenzen eines Akteurs das einzige Kriterium für die Rationalität seiner Entscheidungen sind; oder er führt ein Kriterium für die kritische Bewertung der Präferenzen ein, das unabhängig von diesen ist. Im ersten Fall wird es dabei bleiben, dass die Handelnden nur ein instrumentalistisches Verhältnis zu moralischen Beschränkungen haben können. Dann sind die früher angeführten Einwände noch immer einschlägig. Im zweiten Fall müsste das Verhältnis zwischen Rationalität und Moral hingegen völlig neu überdacht werden, und zwar ausgehend von ganz anderen Prämissen als denjenigen, die Gauthier ursprünglich zugrunde gelegt hatte.
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Meine Kritik an seiner Position ist unabhängig davon, wie diese unumgängliche Entscheidung ausfallen würde, weil in der vorliegenden Untersuchung beide Optionen berücksichtigt werden. Meine Einwände gegen Gauthiers Versuch, Rationalität und Moral mit Rekurs auf die Entscheidungstheorie zu versöhnen, sollen hier nicht wiederholt werden; mit den Versuchen, diese Versöhnung mittels eines anspruchsvolleren Rationalitätsbegriffes zu bewirken, werde ich mich ausführlich in Teil II auseinander setzen. Ebenso inkonsequent wie die Einführung des reflexiven Moments der Rationalität ist Gauthiers Verweis auf den intrinsischen Wert der Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten mit anderen. Gauthier beschreibt diesen sozialen und emotionalen Aspekt der Handelnden so: Reasoning from an evolutionary perspective, we may suppose that the value we find in participation is itself instrumentally related to our insufficiency. We may agree wih Hume that did each individual possess ‚every faculty, requisite both for his own preservation and for the propagation of his kind‘, we should be incapable of any form of social activity. But this does not make the value of participation itself instrumental. There is nothing contradictory, or paradoxical, or even surprising, in an instrumental explanation of our intrinsic values. Not being sufficient, then, we value participation with our fellows, but we value it for its own sake and not merely as a means to overcome that insufficiency. (MA, S. 325) [...] we may suppose that in valuing participation, a person comes to value her fellow participants, so that shared activities give rise to bonds among persons which lead to each taking an interest in others’ interests – though to be sure, in the interests not of all other persons, but of those identified and experienced as co-participants. (MA, S. 336)
Die Bedeutung dieser zusätzlich eingeführten Annahmen besteht darin, dass sich das Verhältnis zur Moral ändern würde, wenn sie zuträfen. Wenn Menschen sowohl die Kooperation mit anderen als auch ihre Kooperationspartner schätzten und wenn sie darüber hinaus über emotionale Bindungen zu diesen verfügten, dann würden sie die Beschränkungen der Moral nicht
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als notwendiges Übel ansehen und wären nicht bemüht, sie zu umgehen (vgl. 329). Auffällig ist auch in diesem Fall die Diskrepanz zwischen den verschiedenen Beschreibungen der Akteure. Ursprünglich war Gauthier davon ausgegangen, dass alle Werte von Präferenzen abhängen; nun schreibt er dem gemeinsamen Handeln einen intrinsischen Wert zu. Wenn mit dieser These gemeint sein soll, dass für alle Menschen in Bezug auf alle anderen Menschen gilt, dass sie diese und die Kooperation mit ihnen als solche wertschätzen, dann ist sie offenbar falsch. Viele Menschen bringen diese Wertschätzung nur denjenigen entgegen, an denen ihnen gelegen ist, manche Menschen sogar niemandem. Wer aber keine wohlüberlegte Präferenz für eine gleichberechtigte und durch Respekt geprägte Kooperation mit anderen hat, und zwar auch mit den Menschen, die ihm nicht nahe stehen, der verhält sich Gauthiers Prämissen zufolge auch nicht inrrational, wenn er zu diesen Menschen nur ein instrumentelles Verhältnis hat. Deshalb vermag auch der Verweis auf den vorgeblichen intrinsischen Wert des gemeinsamen Handelns und auf die emotionalen Bindungen zu anderen die früher dargestellten Schwierigkeiten nicht zu lösen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Gauthiers Versuch, die Rationalität moralischer Handlungen nachzuweisen, gescheitert ist.
Kapitel 4 Peter Stemmer – Moral als System berechtigter Sanktionen 1. Obwohl Peter Stemmers Ziel, die Ethik auf der Grundlage rationaler Präferenzen zu begründen, weitgehend mit demjenigen David Gauthiers übereinstimmt, unterscheidet sich seine Art und Weise der Begründung in wichtigen Hinsichten von Gauthiers Vorgehensweise. Deshalb soll er hier als zweiter Vertreter des ethischen Kontraktualismus behandelt werden. Stemmer hat seine Moralphilosophie detailliert in seinem im Jahr 2000 erschienenen Buch Handeln zugunsten anderer ausgearbeitet. Einzelne Aspekte hat er dann in Aufsätzen präzisiert und zum Teil modifiziert. 1 Die folgende Darstellung und Kritik seiner Theorie wird sich, dem Thema der vorliegenden Untersuchung entsprechend, stark auf Stemmers Beweisziel konzentrieren: den Nachweis, dass es irrational ist, unmoralisch zu handeln. Wichtige Probleme, die spezielle Aspekte seiner kontraktualistischen Begründungsstrategie betreffen, können hier nicht erörtert werden. – Stemmers Ethik ist für die Diskussion der V-Frage übrigens besonders einschlägig, weil er selbst die Frage, „ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln“, als „Ausgangs- und Leitfrage“ seiner Untersuchung bezeichnet (10). Im Folgenden werde ich mich vorwiegend auf Handeln zugunsten anderer beziehen, dabei allerdings die Überlegungen Stemmers, die mir in Bezug auf die V-Frage nicht von entscheidender Bedeutung zu sein scheinen, ausklammern. Wo es angebracht ist, werde ich dabei auf die in den Aufsätzen vorgenommenen Präzisierungen und Modifikationen seiner Ethik eingehen.
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Kapitel 4
2. Da Stemmer seine Untersuchung an der Leitfrage orientiert, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, muss er zuerst – wie dies hier in Kapitel 1 geschehen ist – die beiden Begriffe des moralischen Handelns und der praktischen Vernunft erläutern, um die Frage präzise zu fassen. Stemmer zufolge umfasst der Begriff des moralischen Handelns zwei definierende Elemente: (i) Ein moralisches Handeln (Tun oder Unterlassen) ist ein Handeln zugunsten anderer. (ii) Es ist ein moralisch gefordertes Handeln (10f.). Zur Erläuterung: Aus dem ersten Merkmal ergibt sich zunächst einmal, dass alle Handlungen, deren Folgen nur die Handelnde selbst betreffen, nicht in den Bereich der Moral fallen (12). Dementsprechend beschränkt sich die Aufgabe der normativen Ethik auf die Begründung von Pflichten gegenüber anderen. Pflichten gegenüber sich selbst kann es gemäß Stemmers Definition einer moralischen Handlung nicht geben. Die erste Eigenschaft wird von Stemmer außerdem konsequentialistisch aufgefasst: Eine Handlung ist dann eine moralische, wenn der Handelnde beabsichtigt, mit ihr etwas zu erreichen, das anderen nützt oder sie vor Schaden bewahrt, und zwar unabhängig von den Motiven, aufgrund derer er diese Handlung vollzieht (12, 14). Aus (ii) folgt, dass der Begriff des moralischen Handelns hier enger gefasst wird als üblich. Stemmer grenzt seine Bedeutung so ein, dass er nur diejenigen Handlungen bezeichnet, zu denen jemand moralisch verpflichtet ist. Handlungen, die moralisch erlaubt, aber nicht geboten sind, insbesondere supererogatorische Handlungen, werden ausgeschlossen. Was den Begriff der praktischen Rationalität betrifft, so vertritt Stemmer die sogenannte Hume’sche Auffassung: Praktische Rationalität ist strikt individuell und strikt instrumentell: Die Vernunft hat die Aufgabe, die Erlangung der gewünschten Dinge zu maximieren. Die Vernunft ist gewissermaßen die Dienstmagd der Wünsche, und sie ist nur dieses. Sie vermag nicht selbst die Ziele des Handelns zu bestimmen. [...] Die Wünsche sind folglich das, woran sich entscheidet, was zu tun vernünftig ist. (Handeln, S. 21)
Verbindet man diese Annahme mit der Feststellung, dass nicht alle Menschen die gleichen Wünsche haben, dann folgt aus dem
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instrumentellen der individuelle Charakter der praktischen Rationalität. Je nach den Wünschen, die verschiedene Menschen haben, kann das, was für den einen vernünftig ist, für einen anderen unvernünftig sein (21). Irrational sind Wünsche nur dann, wenn sie auf falschen Meinungen oder anderen Formen kognitiver Defizienz beruhen (27f.). Das Gleiche, was eben über das Verhältnis zwischen Wünschen und Rationalität gesagt wurde, gilt übrigens auch für die Beziehung zwischen Wünschen und Werten. Auch Werte werden durch Wünsche konstituiert: „Wo keine Wünsche, da auch keine Werte.“ (26) Es sei hier nur beiläufig darauf hingewiesen, dass diese voluntaristische Definition der Vernunft und der Werte zu völlig kontraintuitiven Schlussfolgerungen führt – wie sich schon bei Hobbes’ Definition der Güter und Übel sowie im vorigen Kapitel gezeigt hat. Wenn die Vernunft nur die Dienstmagd der Wünsche wäre, dann würden Drogenabhängige vernünftig handeln, sofern sie über die Folgen ihrer Sucht informiert sind. Für Fettleibige, die wissentlich an ihrer ungesunden Ernährungsweise festhielten, wäre es vernünftig und wertvoll, sich weiterhin ungesund zu ernähren. Menschen, die trotz gegenteiliger ärztlicher Empfehlung keinen Sport treiben, würden sich genauso rational verhalten wie diejenigen, die sich aufgrund ihrer vielen Kaufwünsche verschulden. In allen diesen Fällen ist es durchaus nicht ausgeschlossen, dass sich die Handelnden über die langfristigen Folgen ihres Tuns im Klaren sind, sodass die Möglichkeit, ihre Wünsche aufgrund kognitiver Defizienz grundsätzlich als irrational zu disqualifizieren, ausscheidet. Damit wird aber eine grundlegende Forderung an jede Theorie praktischer Vernunft verletzt: Sie muss ein Kriterium für die Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Handlungen bereitstellen,2 und sie muss im Stande sein, mittels dieses Kriteriums zu erklären, warum bestimmte Handlungsweisen, in Bezug auf die es unkontrovers ist, dass sie irrational sind, unvernünftig sind.3 Außerdem wäre Stemmers Projekt von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn er tatsächlich daran festhielte, dass praktische Rationalität strikt instrumentell, d. h. abhängig von
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Wünschen ist. Dies lässt sich durch einen einfachen Gedankengang zeigen. Es ist eine unbestreitbare empirische Tatsache, die den Anlass für alle Erörterungen der V-Frage bildet, dass Menschen manchmal den Wunsch haben, um des eigenen Vorteils willen gegen moralische Normen zu verstoßen. Folgt man Stemmers voluntaristischer Bestimmung praktischer Vernunft, dann ist es für diese Menschen folglich auch vernünftig, unmoralisch zu handeln. Diese unausweichliche Schlussfolgerung ist aber unvereinbar mit Stemmers Beweisziel. Wie er diese Unstimmigkeit auflöst, wird sich später zeigen. Kommen wir auf Stemmers Begriff der praktischen Rationalität zurück. Rationale Handlungen werden von ihm in zwei Klassen unterteilt: rational zwingende und rational mögliche Handlungen.4 Zwar bleibt m. E. offen, worin das inhaltliche Kriterium dieser Unterscheidung bei Stemmer besteht, sie hat aber eine wichtige begriffliche Implikation. Der Autor definiert die beiden Typen folgendermaßen: Eine Handlung ist rational zwingend, wenn es irrational ist, sie nicht zu tun. Man muß sie tun, sonst handelt man irrational. Rational möglich ist eine Handlung hingegen, wenn es nicht irrational ist, sie nicht zu tun, wenn es aber auch nicht irrational ist, sie zu tun. Man muß sie also nicht tun, man muß sie aber auch nicht lassen. Man hat die Option: Man kann sie tun, und man kann sie nicht tun. Beides ist rational möglich. (Handeln, S. 15)
An dieser Stelle ergibt sich aus Stemmers begrifflichen Voraussetzungen eine weitere Schwierigkeit. Da die Vernunft instrumentell auf Wünsche bezogen ist, muss die Unterscheidung zwischen rational zwingenden und rational möglichen Handlungen auf der Differenz zwischen zwingenden und möglichen Wünschen beruhen. Demnach sind nicht alle Wünsche in normativer Hinsicht gleichwertig. Einige Wünsche sind offenbar gegenüber anderen ausgezeichnet. Nun kann das Kriterium der Unterscheidung zwischen zwingenden und möglichen Wünschen offenbar nicht in den Wünschen selbst liegen. (Nur als Wünsche betrachtet, sind alle Wünsche gleichwertig.) Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass Stemmer hier nolens volens auf
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ein anderes Kriterium der Vernunft zurückgreifen muss als die Wünsche der Handelnden. Dies würde ihn aber zwingen, das Verhältnis zwischen Wünschen und praktischer Vernunft grundsätzlich anders zu bestimmen, als er es getan hat. Wie dem auch sei – die begriffliche Unterscheidung zwischen rational zwingenden und rational möglichen Handlungen erlaubt es dem Autor, sowohl seine Leitfrage als auch seine These zu präzisieren. Die Frage lautet nun: „Ist das, was moralisch gefordert ist, auch rational zwingend?“ Mit anderen Worten: Ist es irrational, unmoralisch zu handeln? Das präzisierte Beweisziel Stemmers besteht in dem Nachweis, dass moralisches Handeln rational zwingend ist (15f.). Stemmer will also zeigen, dass es unvernünftig ist, unmoralisch zu handeln. Somit haben wir es bei ihm mit einem Vertreter des starken ethischen Rationalismus in dem früher definierten Sinn zu tun. Als Adressaten der Begründung der Moral konstruiert Stemmer einen anspruchsvollen fiktiven Gesprächspartner: den moralischen Skeptiker (17). Dieser weist drei wesentliche Merkmale auf. (i) Er hat weder altruistische Präferenzen noch altruistische Ideale. (ii) Er hat den moralischen Standpunkt noch nicht eingenommen. (iii) Er akzeptiert keine religiösen Annahmen (17f.). Stemmer setzt also bei dem Adressaten seiner Argumentation möglichst wenig voraus. Wenn es ihm gelänge, diesem Skeptiker gegenüber nachzuweisen, dass es für ihn rational zwingend ist, moralisch zu handeln, dann wäre Stemmers Beweisziel erreicht. Nun spricht aber auf den ersten Blick einiges dafür, dass es unter der Voraussetzung, dass die Vernunft die „Dienstmagd“ der Wünsche ist, für einen Egoisten häufig rational ist, unmoralisch zu handeln. Stemmer will nachweisen, dass dieser Schein trügt: Es soll gezeigt werden, daß etwas, das häufig gegen unser Interesse steht, in unserem Interesse liegt. Das sieht paradox aus und scheint eine Unmöglichkeit zu sein. Doch dieser Eindruck täuscht. Wir haben viele Wünsche, und es ist eine einfache Wahrheit, daß etwas, das gegen die einen Wünsche steht, der Realisierung anderer Wünsche dienen kann. [...] Diese Überlegung zeigt sehr gut, welche Struktur die Begründung moralischen Handelns nur haben kann. Obwohl morali-
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Kapitel 4 sches Handeln ein Handeln zugunsten anderer ist, kann seine Vernünftigkeit nur darin liegen, dass es zugleich auch im Interesse des Handelnden ist. Auch die Einschränkung eigener Interessen, die das moralische Handeln bedeutet, muß ihrerseits im eigenen Interesse liegen. (Handeln, S. 37f.)
Dieses Ziel entspricht offensichtlich dem, was Gregory Kavka so prägnant als „Versöhnungsprojekt“ bezeichnet hat. 3. Als Ausgangspunkt seiner Argumentation mit dem Skeptiker wählt Stemmer die Analyse der Begriffe „Sollen“ und „Müssen“ in moralischen Kontexten. Moralische Urteile haben oft die Form: „Eine Person soll dies oder jenes tun.“ Inhaltlich unterscheiden sich moralische von anderen Soll-Sätzen dadurch, dass sie stets fordern, etwas zugunsten anderer zu tun (49). Dieses bereits aus der Definition des Begriffs „moralisches Handeln“ bekannte Merkmal wird nun durch ein weiteres ergänzt. Moralische Forderungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine erpresserischen Forderungen sind, denn sie „fußen auf einem Recht, auf einer rechtlichen Position“ (51). Zwar ist dieser Unterschied ohne weiteres plausibel, geklärt werden muss aber noch, worauf dieses Recht beruht. Soll-Sätze stehen nach Stemmer immer in einem „,persönlichen‘ Kontext. Der Autor der Aufforderung, auf die ein SollSatz bezogen ist, ist eine Person, wenn auch ungesagt bleibt, welche Person.“ (54) Dies unterscheidet sie von Sätzen, die ein Müssen zum Ausdruck bringen. Muss-Sätze stehen nicht in einem persönlichen Kontext. Daraus ergibt sich ein zweiter Unterschied zwischen Soll- und Muss-Sätzen. Während der Adressat bei einem Soll-Satz die Wahl hat, ob er sich die entsprechende Aufforderung zu Eigen macht, besteht diese Möglichkeit bei einem MussSatz nicht. Wenn ein Vater zu seinem jugendlichen Sohn sagt: „Du sollst spätestens um acht Uhr zu Hause sein“, dann kann dieser darauf antworten: „Ich soll zwar um acht Uhr zu Hause nach Hause kommen, ich werde es aber nicht tun.“ Bei MussSätzen besteht hingegen die Möglichkeit, sie zu akzeptieren oder sie abzulehnen, deshalb nicht, weil sie zum Ausdruck brin-
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gen, dass eine bestimmte Handlung für das Erreichen eines bestimmten Ziels notwendig ist (55). Wer beispielsweise am Grauen Star leidet, der muss sich eine künstliche Linse in sein Auge einsetzen lassen, wenn er mit ihm wieder sehen will. Dies zu bestreiten wäre sinnlos. Freilich zwingt ein praktisches Müssen niemanden, etwas Bestimmtes zu tun, und zwar deshalb nicht, weil jedes praktische Müssen relativ zu einem Wollen ist (57ff.). Daher haben Muss-Sätze immer eine konditionale Form: „Wenn du dieses willst, dann musst du jenes tun.“ Es steht natürlich jedem frei, das entsprechende Ziel aufzugeben. Wer beispielsweise Vorbehalte gegenüber chirurgischen Eingriffen hat, der kann sich durchaus dazu entschließen, auf die Operation zu verzichten. In diesem Fall muss er die Konsequenz in Kauf nehmen, dass er nie wieder mit beiden Augen wird sehen können. In Bezug auf Muss-Sätze ist es also immer sinnvoll, zu fragen: „Was wird passieren, wenn ich das, was ich tun muss, nicht tue?“ (60) Die Antwort auf diese Frage verweist auf eine negative Konsequenz für die Handelnde, z. B.: „Wenn Sie jetzt nicht aufbrechen, werden Sie den letzten Bus verpassen.“ Oder: „Wenn Sie nicht aufhören zu rauchen, werden Sie das Risiko eingehen, früh an Lungenkrebs zu sterben.“ Da nun in MussSätzen unterstellt wird, dass der Adressat den Zweck, in Bezug auf den er etwas tun muss, tatsächlich hat, würde sich dieser irrational verhalten, wenn er dem Muss-Satz nicht nachkäme. Er würde wissentlich das Erreichen seines Ziels vereiteln: „Etwas praktisch tun zu müssen, heißt also immer, daß es rational zwingend ist, es zu tun.“ (63) Aus dieser begrifflichen Analyse zieht Stemmer zwei wichtige Schlüsse. Erstens folgt, dass auch das moralische Müssen ein relatives Müssen ist, weil es – wie jedes andere Müssen auch – auf das Wollen der moralischen Subjekte bezogen ist (63). Und zweitens kann auch das moralische Müssen nur ein rationales Müssen sein (67). Daraus folgt wiederum, dass sich das moralische Müssen von anderen Arten des praktischen Müssens weder durch seine Relativität noch durch seine Rationalität unterscheiden kann:
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Kapitel 4 Die spezifischen Merkmale des moralischen Müssens können nicht solche sein, die das moralische Müssen zu einem eigenen, autonomen Müssen neben dem rationalen Müssen machen. Es können nur solche sein, die das moralische Müssen als eine besondere Spezies des rationalen Müssens auszeichnen und es von anderen Formen des Müssens abheben. Wenn man überhaupt an der überkommenen Idee eines spezifisch moralischen Müssens festhalten kann, kann dieses Müssen nur ein besonderes rationales Müssen sein, eben ein rationales Müssen, gegen das zu handeln, dann nicht nur irrational, sondern auch ein moralisches Unrecht ist. (Handeln, S. 68)
Mit anderen Worten bedeutet dies, dass moralische Normen, die ja ein moralisches Müssen zum Ausdruck bringen, keinen eigenständigen Normtyp neben den durch Wünsche konstituierten Normen der instrumentellen Vernunft bilden, sondern deren Unterklasse. 4. Im nächsten Schritt untersucht Stemmer, worin das Wesen moralischer Rechte und Pflichten besteht. Grundsätzlich haben alle Rechte folgende Struktur: „Die Person A hat ein Recht auf X gegenüber B.“ (74) Ein Recht weist also eine dreigliedrige Struktur auf: Der Rechtsträger hat gegenüber dem Adressaten des Rechts den berechtigten Anspruch auf einen Gegenstand. Bei Letzterem handelt es sich entweder um eine Handlung oder um eine Unterlassung. Ein Recht korreliert darüber hinaus immer mit einer Pflicht: „Der Rechtsträger kann von dem Adressaten etwas fordern, und der Adressat steht dem Rechtsträger gegenüber unter einem ‚Muß‘.“ (75) Wo es keine Rechte gibt, kann es demnach auch keine Pflichten geben. Beide treten entweder gemeinsam oder gar nicht auf. Diese beiden Voraussetzungen sollen hier nicht diskutiert werden.5 Drittens konstituiert Stemmer zufolge ein Recht „nicht nur eine Beziehung zwischen dem Rechtsträger und dem Rechtsadressaten. Hinzu kommt eine Beziehung zur Rechtsgemeinschaft.“ (75) Die Funktion der Rechtsgemeinschaft sieht der Autor in der Durchsetzung des Rechts: Der Rechtsträger kann sich zur Durchsetzung seines Rechts an die Rechtsgemeinschaft wenden, und die Rechtsgemeinschaft muß dem Rechtsadressaten gegenüber für den Fall der Rechtsverletzung über
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die Möglichkeit einer Sanktionierung verfügen. Wer ein Recht hat, hat also eine soziale Garantie der Durchsetzung dieses Anspruchs. Er steht nicht allein, er hat die Rechtsgemeinschaft auf seiner Seite; sie sichert sein Recht. Und wer ein Recht verletzt, hat folglich nicht nur den Rechtsträger, sondern auch die Rechtsgemeinschaft gegen sich. (Handeln, S. 76 – Hervorh. v. mir)
Bezieht man diesen Gedanken auf die Moral, dann bedeutet dies, dass auch jedes moralische Recht mit der „sozialen Garantie“ seiner Durchsetzung verbunden ist. Stemmer orientiert sich hier offenbar stark am positiven Recht; es erscheint mir aber nicht zwingend, in Bezug auf die Funktion der Rechtsgemeinschaft von einer strikten Analogie zwischen juridischen und moralischen Rechten und Pflichten auszugehen. Auf die Schwierigkeiten, mit denen diese Auffassung meiner Meinung nach verbunden ist, werde ich in Abschnitt 9 dieses Kapitels ausführlich eingehen. Stemmer geht außerdem davon aus, dass Rechte keine objektiven Gegebenheiten sind, sondern dass jegliches Recht verliehen wird, und zwar von Menschen. Mit seiner grundsätzlichen These, dass es ohne menschliche Zuschreibung keine Rechte geben kann, setzt er sich nicht nur gegenüber der religiösen, sondern insbesondere auch gegenüber der naturrechtlichen Tradition ab (79). Rechte kommen also nur dadurch zustande, dass sie einer Gruppe von Menschen durch andere Menschen verliehen werden. Im Falle des positiven Rechts erlässt der Gesetzgeber kraft seiner Autorität für alle Bürger geltende Gesetze. Wie verhält es sich aber mit den moralischen Rechten? Wer verleiht sie, und worauf beruhen sie? – Rechte entstehen Stemmer zufolge „aus einem wechselseitigen Tausch von Freiheitsverzicht gegen Freiheitsgewinn“ (83). Damit ist die erste der beiden Teilfragen beantwortet. Rechte kommen dadurch zustande, dass sich Menschen wechselseitig unter der Bedingung strikter Symmetrie Rechte zuschreiben. Der vernünftige Grund, der sie dazu bewegen kann, ist die schon des Öfteren erwähnte Einsicht, dass ein Zustand, in dem alle Beteiligten ihre Freiheit in gleichem Maße einschränken, für alle besser ist als ein Zustand, in dem keiner von ihnen irgendwelchen Beschränkungen unterliegt (81f.).6
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Unter der Voraussetzung, dass die Beteiligten rational im Sinne Stemmers sind, kommt es allerdings nur unter bestimmten Bedingungen zur Zuschreibung von Rechten und Pflichten. Die erste von ihnen wurde bereits genannt: die Wechselseitigkeit (81). Wenn eine Person einer anderen ein Recht zuschriebe, ohne dass ihr dieses Recht auch verliehen würde, dann würde sich diese Person der anderen gegenüber in eine Position der Schwäche begeben. Die andere dürfte ihr etwas antun, was sie dieser nicht antun dürfte. Dies ist unannehmbar. Zweitens müssen alle beteiligten Akteure die Einschränkung ihrer Freiheit durch Rechte als vorteilhaft betrachten. Dies ist genau dann der Fall, wenn sie konvergierende Interessen haben (82ff.). Wenn A und B das übereinstimmende Interesse haben, vom anderen nicht getötet zu werden, dann ist es für beide vernünftig, ein moralisches Tötungsverbot einzuführen. Dabei gilt aber in Bezug auf eine einzelne Handlungsweise noch eine Zusatzbedingung: Es muss jedem Beteiligten mehr daran gelegen sein, dass diese Handlungsweise ihm gegenüber unterlassen wird, als dass er sie anderen gegenüber vollziehen darf.7 Wer beispielsweise auf Grund seiner Körperkraft in Kauf nimmt, dass ihn andere mit physischer Gewalt angreifen, damit er ihnen weiterhin körperliche Gewalt antun kann, der hat keinen vernünftigen Grund, anderen das Recht auf körperliche Unverletzlichkeit zuzuschreiben. Die dritte Bedingung besteht darin, dass die Akteure in Bezug auf die zu verbietenden Handlungsweisen annähernd gleich stark sind. Stemmer bezeichnet dies als „Machtbedingung“ (255). Sie ergibt sich aus dem Zweck der wechselseitigen Zuschreibung von Rechten: Jeder will sich davor schützen, dass ihm andere etwas Bestimmtes antun, z. B. davor, dass sie ihn ermorden. Deshalb verzichtet er im Gegenzug darauf, die anderen ermorden zu dürfen. Wenn nun aber einige Menschen gar nicht imstande sind, ihn zu töten, dann gibt es für ihn keinen vernünftigen Grund, diesen Menschen gegenüber auf die Möglichkeit, sie zu töten, zu verzichten: Nur wer über Handlungsmöglichkeiten verfügt, vor denen der andere sich rationalerweise schützen oder deren er sich rationalerweise ver-
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gewissern will, kann Mitglied der moralischen Gemeinschaft sein. Wenn A das Interesse hat, nicht verletzt zu werden, ist dieses Interesse nur dann auch an B gerichtet, wenn B die Möglichkeit hat, A zu verletzen. Wenn B sie nicht hat, geht As Interesse an B vorbei. (Handeln, S. 255f.)
Durch die genannten Bedingungen wird der Kreis derjenigen, die sich wechselseitig Rechte und Pflichten zuschreiben können, d. h. der potentiellen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft, in wichtigen Hinsichten eingeschränkt. Erstens scheiden diejenigen Wesen aus, die keine Interessen haben (255f.). Dabei hat Stemmer offenbar die Wesen im Sinn, die grundsätzlich oder noch nicht Interessen formulieren können. Zweitens können diejenigen nicht Mitglieder der moralischen Gemeinschaft werden, die zwar Interessen haben, aber die Machtbedingung nicht erfüllen (255f.). Und schließlich setzen sowohl das Einfordern von Rechten als auch die Befolgung von Pflichten offensichtlich voraus, dass der Akteur „zu vernünftiger Selbstbestimmung fähig ist“ (257). Aufgrund dieser drei Bedingungen können nach Stemmer Angehörige der folgenden Gruppen nicht Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sein (261f.): – – – – –
geistig schwer behinderte Menschen menschliche Föten Kleinst- und Kleinkinder Angehörige zukünftiger Generationen Tiere
Man könnte weitere Gruppen aufzählen, die gemäß den von Stemmer aufgestellten Bedingungen keine moralischen Subjekte sein können: – klinisch tote Menschen – senile Alte und an fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit Leidende – altersschwache Menschen.
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Die Beschränkung der moralischen Gemeinschaft auf diejenigen Menschen, die die genannten drei Bedingungen erfüllen – im Folgenden sollen sie „Personen“ genannt werden – wirkt sich auf Stemmers Beweisziel aus. Wie schon gesagt, will er den Nachweis führen, dass es rational zwingend ist, moralisch zu handeln. Nun ergibt sich aber eine Bedeutungsdivergenz zwischen dem umgangssprachlichen Begriff der Moral und dem Stemmer’schen. Folgt man dem üblichen Sprachgebrauch, dann beschränken sich moralische Pflichten durchaus nicht auf in etwa gleich starke Personen. Wir gehen z. B. davon aus, dass ein körperlich unversehrter Erwachsener ein in den Fluss gefallenes Kleinkind vor dem Ertrinken retten sollte, obwohl dieses ihn nicht retten könnte. Außerdem gilt ein Betrug an einem geistig verwirrten alten Menschen, beispielsweise durch seinen Vormund, im gleichen Maße als moralisch verwerflich wie der Betrug an einem geistig gesunden Menschen. (Manche mögen den Betrug an einem schutz- oder hilflosen Menschen sogar für verwerflicher halten.) Die genannten beiden und ähnliche Pflichten scheiden aber aus Stemmers Moral aus, weil sie sich auf Verhältnisse zwischen nicht annähernd gleich starken Menschen beziehen.8 Deshalb lässt sich das Ziel der Argumentation Stemmers nun präzisieren: Es soll nachgewiesen werden, dass es rational zwingend ist, sich gegenüber annähernd gleich starken, vernünftigen Wesen und nur diesen gegenüber moralisch zu verhalten.9 Auf die Auswirkungen, welche diese Beschränkung in Bezug auf die Beantwortung der V-Frage hat, werde ich später eingehen (vgl. unten Abschnitt 7). Hier ist nur festzuhalten, dass Stemmers Projekt nicht so anspruchsvoll ist, wie es anfangs schien. Er will nicht zeigen, dass es grundsätzlich unvernünftig wäre, sich Schwächeren gegenüber unmoralisch zu verhalten. 5. Nachdem geklärt worden ist, wer nach Stemmer überhaupt für die Zuschreibung moralischer Rechte und Pflichten infrage kommt, wende ich mich der Frage zu, wie das moralische Müssen und die Verbindlichkeit moralischer Pflichten genauer cha-
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rakterisiert werden können. Beginnen wir mit der ersten Frage. Jedes Müssen, so hieß es, wird durch einen notwendigen Sachzusammenhang zwischen Mitteln und Zielen sowie durch negative Konsequenzen konstituiert, die sich einstellen, wenn die Mittel nicht ergriffen werden. 10 Demzufolge muss auch das moralische Müssen auf unerwünschten Folgen beruhen, die sich einstellen, wenn man ihm nicht nachkommt. Wie diese beschaffen sein müssen, ergibt sich aus dem Gedankenexperiment des vormoralischen Zustands. Auch in diesem kommt es bereits gelegentlich zu einer beiderseitig vorteilhaften Kooperation. Deshalb kommt unter günstigen Bedingungen auch im Naturzustand ein „prudentielles Müssen“ (94 u. ö.) zustande, das darauf beruht, dass die Beteiligten negative Folgen in Kauf nehmen müssen, wenn sie nicht miteinander kooperieren. Sie müssen dann z. B. auf mögliche Früchte der Kooperation verzichten. Die entsprechenden Interaktionsstrukturen sind jedoch aus verschiedenen Gründe instabil.11 Die Akteure haben aber ein langfristiges Interesse an stabilen, d. h. zuverlässigen Kooperationsverhältnissen. Allerdings steht der Schaffung dieser berechenbaren Strukturen folgende Schwierigkeit im Wege: Einerseits weiß jeder, dass es für ihn besser wäre, wenn alle bestimmte Rechte hätten und den entsprechenden Pflichten unterworfen wären. Andererseits ist sich jeder darüber im Klaren, dass die Verletzung einer moralischen Pflicht für jeden vorteilhaft wäre. Deshalb muss das prudentielle Müssen verstärkt werden. Die Rationalität der Pflichterfüllung kann nur dadurch sichergestellt werden, dass Pflichtverletzungen künstlich mit negativen Konsequenzen verknüpft werden: den moralischen Sanktionen.12 Eine moralische Sanktion für die Pflichtverletzung X muss „so hart“ sein, „dass es [...] möglichst in allen Situationen irrational ist, X zu tun“ (100). Stemmer legt Wert darauf, dass das moralische Müssen „allein durch die Sanktion konstituiert“ wird (101): Die Unterlassung einer Handlung ist nur dadurch moralisch ‚gemußt‘, daß, sie zu tun, mit einer Sanktion verknüpft ist. Wo keine Sanktionen,
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Kapitel 4 da also kein moralisches Müssen. Es gibt kein den Sanktionen vorgängiges, von ihnen unabhängiges moralisches Müssen, keines, das aus Verträgen, Versprechen oder Rechten resultiert, und auch keines, das aus ominösen objektiven Tatsachen oder aus natürlichen oder göttlichen Gesetzen resultiert. Es ist also nicht so, daß eine Handlung, weil man sie moralisch nicht tun darf (kann), sanktioniert wird, vielmehr so, daß eine Handlung moralisch nicht getan werden darf (kann), weil sie mit einer Sanktion verknüpft ist. Die Sanktion ist nicht die nachträgliche Strafe für etwas, was man aus anderen moralischen Gründen nicht tun darf. Die Sanktion statuiert vielmehr das moralische Müssen, und ein anderes moralisches Müssen als das so durch die Verknüpfung mit einer Sanktion künstlich hervorgebrachte gibt es nicht. (Handeln, S. 101)
Wenn man davon ausgeht, dass ein solches System moralischer Sanktionen eingerichtet worden ist, dann lässt sich Stemmers Antwort auf die V-Frage so formulieren: Es ist vernünftig, gegenüber annähernd gleich Starken moralisch zu handeln, weil man sonst mit Sanktionen rechnen muss, die so hart sind, dass sie die Vorteile, die man aus der Pflichtverletzung ziehen könnte, überwiegen. Dieser Gedanke erinnert offensichtlich an Hobbes’ politische Lösung des Problems.13 Der wesentliche Unterschied zu Hobbes besteht jedoch darin, dass es sich bei den Sanktionen im Sinne Stemmers um moralische, nicht um staatliche Strafen handelt. Zwar können und müssen auch Stemmer zufolge bestimmte moralische Sanktionen rechtlich gestützt werden, aber diese Verrechtlichung ist kein wesentliches Merkmal moralischer Sanktionen. Natürlich liegt auch in diesem Fall, wie schon bei Hobbes und Gauthier, der Einwand nahe, dass es sich bei dem von Stemmer begründeten Müssen nur scheinbar um ein moralisches, tatsächlich aber nur um ein prudentielles handelt, sodass es unangemessen ist, hier von einer Verpflichtung zu sprechen.14 Stemmer hat diesen Einwand selbst vorweggenommen: [...] wenn A seinem Gegenüber B X nicht antun kann, weil er sonst eine schwerwiegende Sanktion hinnehmen muß, und dieses Müssen (bzw. Nicht-Können) in nichts anderem als der Unausbleiblichkeit der Sanktion besteht, welchen Sinn hat es dann noch zu sagen, A sei
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verpflichtet, X nicht zu tun? Es ist für ihn aufgrund der Sanktion einfach rational zwingend, es nicht zu tun. Es ist ein rationales „Muß“. Das ist alles. Eine Verpflichtung scheint hier nicht zu bestehen. (Handeln, S. 105)
Stemmers Antwort auf diesen Einwand umfasst im Wesentlichen zwei Elemente. Erstens verweist er darauf, dass moralische Rechte und Pflichten von den Akteuren zugeschrieben worden sind. Indem sie das taten, haben sie sich tatsächlich moralischen Pflichten und dem moralischen Müssen unterworfen, weil die Zuschreibung der Pflichten nicht unter der Bedingung erfolgte: „Sie sind zu erfüllen, es sei denn, dass ihre Verletzung für den Akteur vorteilhaft ist.“ Unter dieser Bedingung wären sie, wie man sich leicht ausmalen kann, gar nicht zustande gekommen. Die Beteiligten haben sich also selbst ein Müssen auferlegt (109). Sie haben gleichsam zueinander gesagt: Keiner von uns darf einen anderen ermorden, betrügen etc. Dieser „Selbstfesselung“ (ebd.) entspricht, dass jeder alle anderen Personen dazu „autorisiert“ hat, moralische Sanktionen zu verhängen (110). Zweitens gewinnt das System der moralischen Sanktionen, sobald es einmal eingerichtet worden ist, schnell an Selbstständigkeit, sodass seine Wirkungsweise im Einzelfall nicht mehr der Willkür der einzelnen Personen unterliegt: „Das moralische Müssen ist gewollt, und dennoch ist es ein echtes Müssen, weil das einmal etablierte Sanktionensystem die Sanktionen verhängt, ohne daß der einzelne, der zusammen mit anderen dieses System geschaffen hat, daran etwas ändern kann.“ (110) Deshalb greift das System der Sanktionen auch in den Fällen, in denen es dem Akteur nicht klug erscheint, seine moralischen Pflichten zu erfüllen. Die Sanktionen verselbständigen sich also gegenüber den aktualen Wünschen derer, die sie in Kraft gesetzt haben. Es lässt sich ein weiterer Grund dafür anführen, dass die Rede vom moralischen Müssen und von moralischen Pflichten im Sinne Stemmers berechtigt ist. Dieser Grund wurde bereits genannt, als der Einwand gegen Hobbes behandelt wurde, dass die natürlichen Gesetze nur Klugheitsvorschriften seien. Wie die
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natürlichen Gesetze bei Hobbes, so erfüllen auch die moralischen Pflichten im Sinne Stemmers die gleiche Funktion wie das, was man gemeinhin moralische Normen nennt – allerdings mit der wichtigen Einschränkung, dass sie nur für gleich Starke gelten. Zumindest in Bezug auf diese Gruppe erfüllen sie jedoch die gleiche Aufgabe wie die herkömmliche Moral: Sie schützen die Einzelnen auf unparteiliche Weise voreinander, ohne dabei notwendigerweise auf rechtliche Maßnahmen zurückgreifen zu müssen. Im Übrigen habe ich in Kapitel 1 die V-Frage so gedeutet, dass die möglichen Antworten auf sie nicht auf bestimmte Arten von Motiven beschränkt werden dürfen. Sie lautet in der präzisierten Fassung: Ist es vernünftig, das moralisch Gebotene zu tun? Wenn es Stemmer gelungen sein sollte, nachzuweisen, dass dies der Fall ist, dann müsste man seine Antwort auch dann akzeptieren, wenn es sich bei den Gründen, die er anführt, „nur“ um prudentielle handelt. Angenommen, Stemmers Analyse des moralischen Müssens wäre unangemessen, weil nicht die Sanktionen moralische Urteile fundieren, sondern vielmehr die Sanktionierung bestimmte moralische Urteile voraussetzt.15 In diesem Fall könnte man Stemmer zwar vorwerfen, dass er das Wesen moralischer Forderungen verfehlt habe.16 Nichtsdestoweniger könnte es ihm gelungen sein, nachzuweisen, dass die Forderungen der Klugheit und der Moral konvergieren, d. h. dass es klug ist, moralisch zu handeln. Dies wäre noch immer ein ausgesprochen aufschlussreiches Ergebnis. – Wie plausibel Stemmers Antwort tatsächlich ist, wird allerdings erst später zu prüfen sein. 6. Bevor ich mich der Frage zuwende, worin der Inhalt der Moral und die moralischen Sanktionen bestehen, soll ein kurzer Exkurs zu Stemmers Begriff der kontraktualistischen Ethik eingefügt werden, der zwar in Bezug auf die V-Frage nicht unverzichtbar ist, der mir aber nötig erscheint, um Stemmers theoretischem Anliegen gerecht zu werden. Es wurde gesagt, dass sich die Personen im vormoralischen Zustand wechselseitig morali-
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sche Rechte und Pflichten zuschreiben und dass sie Verstöße gegen moralische Pflichten mit Sanktionen verknüpfen. Wie hat man sich den entsprechenden Akt der Zuschreibung genau vorzustellen, und worauf beruht seine Verbindlichkeit? – In diesem Zusammenhang diskutiert Stemmer einige aus der Philosophiegeschichte geläufige Begründungsmuster. Die klassische kontraktualistische These lautet, dass die Zuschreibung der Rechte durch einen Vertrag erfolge und dass deshalb die Verletzung einer moralischen Pflicht ein Vertragsbruch sei (87). Diese Begründung scheitert nach Stemmer jedoch aus einem einfachen Grund: Ein Vertrag setzt [...], obwohl selbst Rechtsquelle, ein schon bestehendes juridisches Recht voraus. In einem vorjuridischen Raum kann es folglich keine Verträge geben. Da die Kooperation zwischen A und B aber in diesem Raum angesiedelt ist, kann ihr Agreement kein Vertrag sein. Der Ausdruck „Kontraktualismus“ führt in diesem Punkt in die Irre. (Handeln, S. 87)
Aus einem ähnlichen Grund muss der Vorschlag verworfen werden, dass die Verbindlichkeit der Pflichten auf einem wechselseitigen Versprechen beruht, „(d)enn ein Versprechen ist eine moralische Institution, etwas, was es in der Ausgangslage, in der A und B sich begegnen und den Rechtetausch vornehmen, gar nicht gibt. Der moralische Raum, in dem so etwas wie ein Versprechen möglich ist, entsteht ja erst aus dem Agreement von A und B.“ (88) Dieser Einwand trifft nicht nur die kontraktualistischen Theorien, die sich auf tatsächliche Akte des Vertragsschlusses oder des Versprechens berufen, sondern auch diejenigen, die nur einen hypothetischen Vertrag annehmen. Zwar kann die Annahme eines vormoralischen Zustands ihre heuristische Funktion erfüllen, obwohl es diesen Zustand nie gegeben haben mag; aber ein Vertrag, der nur hypothetisch abgeschlossen wurde, verpflichtet ebenso wenig zu seiner Einhaltung, wie eine nur hypothetische Warenlieferung einen Kunden zur Zahlung verpflichtet. Demnach kann die Verbindlichkeit der moralischen Pflichten weder auf einem faktischen noch auf einem bloß hypotheti-
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schen Vertrag beruhen. Dies ist allerdings nur eine negative Antwort, die keine Auskunft darüber gibt, worin denn nun die Quelle der Verbindlichkeit moralischer Pflichten besteht. Wie es scheint, hat Stemmer diese Frage schon hinreichend beantwortet, als er die These vertrat, dass das moralische Müssen durch moralische Sanktionen und nur durch diese konstituiert wird. Es überrascht daher nicht, dass er die Grundidee des moralischen Kontraktualismus in Handeln zugunsten anderer folgendermaßen modifiziert: Die Kooperation zwischen A und B besteht darin, in bezug auf die Handlungen, von denen sie wollen, dass sie auf keinen Fall getan werden, und von denen sie wollen, dass sie auf jeden Fall getan werden, gemeinsam ein System von Sanktionen zu etablieren. Das ist ihr gemeinsames Projekt, geboren aus einem übereinstimmenden Wollen und dem beiderseitigen Bestreben, das eigene Wollen möglichst optimal zu verfolgen. A und B schließen also keinen Vertrag, sie geben sich nicht gegenseitig ein Versprechen; was sie wirklich tun, ist: sie kommen überein, ein System von Sanktionen zu errichten, um auf diesem Wege bestimmte nicht gewollte Handlungen unmöglich und bestimmte gewollte Handlungen notwendig zu machen. Dies ist das factum brutum ihrer Kooperation. (Handeln, S. 104)
Den Akt und das Ergebnis dieser Übereinkunft bezeichnet Stemmer mit dem englischen Begriff Agreement.17 Nun kann aber die vorsichtige Wortwahl nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die derart modifizierte Grundidee der ethischen Vertragstheorie dem gleichen Einwand aussetzt wie die von Stemmer kritisierten traditionellen Begründungen. Auch eine Übereinkunft setzt, wenn sie denn verbindlich sein soll (und das soll sie per definitionem), eben den moralischen Raum voraus, der durch sie erst konstituiert werden soll. Stemmers Vorschlag führt in ein Dilemma. Entweder nimmt man die Rede vom factum brutum ernst. In diesem Fall haben die Akteure bestimmte Sätze geäußert, wie etwa: „Wir wollen in Zukunft die Nichteinhaltung von Versprechen sanktionieren.“ Es ist – wie Stemmer selbst betont hat – nicht einzusehen, wie solche Äußerungen im vormoralischen Raum verbindlich sein könnten. Oder man unterstellt, dass sie verbindlich sind – dann kann es sich nicht um
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einen vormoralischen Raum handeln. Also stellt auch Stemmers Ersetzung der Begriffe „Vertrag“ und „Versprechen“ durch den Begriff „Agreement“ keine überzeugende Lösung für das Grundproblem des Kontraktualismus dar. Vielleicht haben ähnliche Bedenken Stemmer dazu bewegt, den in Handeln zugunsten anderer entwickelten Gedanken, dass moralische Rechte und Pflichten auf einem Agreement beruhen, fallen zu lassen. Fest steht, dass er diese Idee in seinem Aufsatz „Moralischer Kontraktualismus“ ausdrücklich aufgegeben hat. Dort hat er die Unterscheidung zwischen „HandlungsLegitimität“ und „Seins-Legitimität“ eingeführt. „HandlungsLegitimität“ bezeichnet die Tatsache, dass eine Norm oder eine Institution ihre Legitimität daraus bezieht, dass sie durch einen Akt in Kraft gesetzt oder eingesetzt wurde oder werden könnte. Der Begriff der „Seins-Legitimität“ bringt hingegen zum Ausdruck, dass eine Norm oder eine Institution legitim ist, weil sie eine bestimmte Eigenschaft aufweist. Diese Unterscheidung erlaubt es Stemmer, den Grundgedanken des ethischen Kontraktualismus im Anschluss an Kant folgendermaßen zu reformulieren: Die moralischen Normen sind nicht verpflichtend, weil sie aus einem (imaginierten) Vertrag kommen, sie sind verpflichtend, weil sie so beschaffen sind, dass es sich denken lässt, dass sie aus einem Vertrag stammen. Der Vertrag als Legitimitäts- und Verpflichtungsgenerator kommt im hypothetischen Kontraktualismus gar nicht mehr vor. („Moralischer Kontraktualismus“, S. 15)
Die Eigenschaft, von der hier die Rede ist, wurde bereits dargestellt: Der Norm muss, [...] eine bestimmte Interessenkonfiguration, eine bestimmte Interessenlage bei den Betroffenen zugrunde liegen. Diese Interessenkonfiguration ist durch zwei Elemente bestimmt. Denken wir uns eine Zwei-Personen-Welt mit den Personen A und B. A hat das Interesse, von B nicht verletzt zu werden. Und B hat umgekehrt das Interesse, von A nicht verletzt zu werden. Wir haben hier wechselseitige, jeweils an den anderen gerichtete Interessen. Dies ist das erste Element der Konfiguration. Das zweite Element besteht darin, dass es für A wichtiger ist, von B nicht verletzt zu werden, als selbst die Möglichkeit zu haben, B zu verletzen. Und dass es für B genauso
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Kapitel 4 ist. Durch diese beiden Elemente entsteht eine bestimmte Interessenkonfiguration, und wenn sie gegeben ist, ist die moralische Norm, die von A und B fordert, den anderen nicht zu verletzen, legitim und für A und B verpflichtend. Die Legitimität der Norm resultiert aus der Eigenschaft, einer Interessenkonfiguration der geschilderten Art zu entsprechen. (Ebd.)
Innerhalb des derart modifizierten Kontraktualismus kommt der Idee des Vertrags nur noch eine illustrierende Funktion zu: „Der Vertrag veranschaulicht eine bestimmte Interessenkonfiguration, eben die, die die Legitimität einer moralischen Norm begründet.“18 Ob und inwieweit es Stemmer gelungen ist, mittels dieser Modifikation die Einwände gegen die Vertragstheorie zu widerlegen, soll hier nicht diskutiert werden, weil diese Frage im Hinblick auf das Problem, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, nicht von entscheidender Bedeutung ist. Der Exkurs sollte nur verdeutlichen, wie Stemmer die mit dem Kontraktualismus verbundenen Schwierigkeiten zu überwinden versucht. 7. Kommen wir nun zum Inhalt der kontraktualistischen Moral. Wie dieser beschaffen sein muss, wird unter anderem durch den starken Geltungsanspruch der Stemmer’schen Ethik bestimmt. Sein Ziel besteht darin, eine universalistische Ethik zu begründen, d. h. die eine rationale Moral, die für alle Personen (nicht aber für alle Menschen – siehe Abschnitt 4) gelten soll: „Die kontraktualistisch fundierte Moral ist folglich die eine vernünftige Moral mit dem einen vernünftigen Inhalt. Es gibt nicht mehrere vernünftige Moralen mit verschiedenen Inhalten.“ (201) Auf den ersten Blick scheint dieser universalistische Anspruch unvereinbar mit Stemmers voluntaristischem Begriff praktischer Vernunft zu sein. Betrachten wir die folgenden vier Thesen Stemmers in ihrem Zusammenhang: (i) Das moralische Müssen ist ein rational zwingendes Müssen. (ii) Was für eine Person rational zwingend ist, hängt von ihren Wünschen ab.
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(iii) Verschiedene Personen haben oft verschiedene Wünsche. (iv) Die kontraktualistische Moral gilt für alle Personen. An der empirischen These (iii) ist offenbar nicht zu rütteln. Es ist unbestreitbar, dass Wünsche je nach Person variieren.19 Dies scheint gegen die Möglichkeit einer Ethik zu sprechen, die zugleich voluntaristisch und universalistisch ist – es sei denn, dass die Wünsche aller Personen sich so überschneiden, dass sich ein Menge allgemeiner Wünsche ausmachen lässt, die man allen Personen zuschreiben kann. Meiner Meinung nach ist die Suche nach solchen Wünschen ein aussichtsloses Unterfangen. Was auch immer man als Kandidaten anführt, es dürfte nichts geben, was alle Personen immer wünschen oder wollen. Ich führe nur einige nahe liegende Kandidaten an. Den Wunsch, ihr Leben zu erhalten, haben offenbar nicht alle jederzeit. In Deutschland töten sich z. B. etwa 10.000 Menschen pro Jahr.20 Den Wunsch, ihre Gesundheit langfristig zu erhalten, haben zweifellos auch nicht alle Personen. Viele Raucher, Trinker, Risikosportler, Workaholics, dopende Leistungssportler, Fettleibige und ähnliche Gruppen stellen diesen Wunsch zugunsten ihrer Verhaltensweise zurück. Den Wunsch, nicht gedemütigt zu werden, haben masochistisch Veranlagte zumindest nicht immer; in bestimmten Situationen haben sie den entgegengesetzten Wunsch. Zwar wäre dieser Einwand ausgeräumt, wenn alle Angehörigen der genannten Gruppen an seelischen Störungen oder gar an Geisteskrankheiten litten. Das ist aber offenbar nicht der Fall.21 Wer würde beispielsweise ernsthaft behaupten, dass alle professionellen Radrennfahrer, die durch Einnahme von leistungsfördernden Substanzen ihre Gesundheit gefährden, seelisch gestört sind? Der jüngeren Kriminalgeschichte lässt sich übrigens entnehmen, dass nicht einmal alle Personen immer den Wunsch haben, nicht von einem anderen verspeist zu werden. – Der Einwand ist also berechtigt. Wenn es aber keine Wünsche gibt, die alle Personen immer haben, dann ist der normative Voluntarismus grundsätzlich unvereinbar mit dem ethischen Universalismus.
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Somit wäre Stemmers Projekt zum Scheitern verurteilt, wenn er nicht stillschweigend den Begriff des Wunsches durch den des Interesses ersetzt hätte. Als Grundlage der kontraktualistischen Ethik führt er nicht – wie nach den Ausführungen in § 2 seines Buches zu erwarten war – allgemeine Wünsche, sondern „basale Interessen“ ein. Mit dieser begrifflichen Ersetzung geht aber eine ebenso bemerkenswerte wie grundlegende Modifikation seiner Theorie einher, die von ihm offenbar gar nicht bemerkt wird. Bevor ich darauf näher eingehe, sollen die basalen Interessen, die es nach Stemmer gibt, angeführt werden. Es handelt sich im Wesentlichen um die folgenden Interessen (197f.): – – – –
das Interesse an der Erhaltung des eigenen Lebens das Interesse an Gesundheit und an körperlicher Integrität das Interesse an psychischer Gesundheit das Interesse daran, nicht gedemütigt zu werden.
In Bezug auf diese Interessen behauptet Stemmer, dass „niemand sagen kann, dass er sie nicht hat. Es sind Interessen, die man jedem fraglos unterstellen kann.“ (194)22 Deshalb nennt er sie „basale Interessen“. Ich hatte behauptet, dass sich der Begriff des Wunsches nicht durch den des Interesses ersetzen lässt. Warum nicht? – Weil der Begriff „Interesse“ zweideutig ist: Er kann, je nach Kontext, sowohl voluntaristisch als auch objektivistisch verstanden werden. Insbesondere in den Wendungen „an etwas interessiert sein“, „sich für etwas interessieren“ und „ein Interesse an etwas haben“ wird der Begriff voluntaristisch verstanden: Er soll zum Ausdruck bringen, dass jemand sich etwas wünscht oder etwas will. Wenn man z. B. sagt, dass ein Mann an einer Frau interessiert ist, dann meint man, dass er ihr gern näher käme. Wenn es heißt, dass eine Familie Interesse an einem Reihenhaus hat, dann bedeutet das, dass sie es gern kaufen würde, usw. In anderen Wendungen wird der Begriff hingegen objektivistisch verstanden. Er verweist darauf, dass etwas für jemanden gut oder schlecht ist,
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und zwar unabhängig davon, was der Betroffene gerade will. Wenn z. B. der Arzt zu seinem Patienten sagt: „Ich rate Ihnen in Ihrem eigenen Interesse, mit dem Rauchen aufzuhören“, dann meint er nicht, dass der Patient diesen Wunsch hat, sondern dass es gut für ihn wäre, nicht mehr zu rauchen. Ähnlich verhält es sich mit der politischen Behauptung, die Gewerkschaften handelten mit der Forderung nach der Einführung eines Mindestlohns gegen ihre eigenen Interessen. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass die Gewerkschaften den Mindestlohn nicht wollen, sondern dass sie sich durch die Forderung nach seiner Einführung langfristig schaden. Diese Zweideutigkeit bliebe theoretisch folgenlos, wenn Stemmer sich eindeutig auf die voluntaristische Lesart des Begriffs „Interesse“ festlegte und dessen objektivistische Deutung ausschlösse, und das tut er scheinbar tatsächlich.23 Andererseits tendiert er offensichtlich dahin, den Begriff im Sinne des „für jeden Guten“ aufzufassen.24 Dies ist aber mit seiner voluntaristischen Grundüberzeugung, dass die Vernunft die Dienstmagd der Wünsche sei,25 unvereinbar. Wenn man den Begriff des Interesses objektivistisch versteht und außerdem davon ausgeht, dass es bestimmte Dinge gibt, die für alle gut oder schlecht sind, dann kann man Stemmers folgender Behauptung über die basalen Interessen zustimmen: „Niemandem ist es möglich, zu sagen, er habe diese Interessen nicht.“ (208) Fasst man den Begriff des Interesses hingegen voluntaristisch auf, dann ist diese Behauptung – wie bereits gezeigt – offensichtlich falsch. Sie besagt dann nämlich so viel wie: „Niemand will nicht weiterleben, seine Gesundheit nicht durch Rauchen oder Trinken gefährden etc.“ Und dies ist, wie die Erfahrung lehrt, falsch. Stemmer unternimmt zwar den Versuch, die objektivistische Lesart von „Interesse“ auf die voluntaristische zurückzuführen. Er schreibt über seine Begründungsweise, dass man jetzt nicht einfach behauptet, alle Menschen wollten ihre Selbsterhaltung, man führt dieses Wollen vielmehr als eines ein, das rational zwingend ist, wenn man seine Interessen und Wünsche realisieren will. Das heißt, man hat jetzt einen Gesichtspunkt, anhand
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Aus einem früher bereits genannten Grund scheitert dieser Versuch der Reduktion jedoch: Das Kriterium der Unterscheidung zwischen einem rational zwingenden und einem rational möglichen Wollen kann nicht im Wollen selbst liegen, denn wenn man Wünsche nur als Wünsche, d. h. unabhängig von ihrem Inhalt betrachte, dann ist ein Wunsch so gut wie jeder andere. Die Unterscheidung zwischen rational zwingenden und rational möglichen Wünschen muss ihre sachliche Berechtigung also aus dem Unterschied zwischen den möglichen Inhalten des Wünschens ziehen. Deshalb liegt es nahe, die Rationalität der Wünsche im Hinblick darauf zu beurteilen, ob sie im Interesse des Wünschenden, d. h. ob sie gut für ihn sind. Diese objektivistische Deutung werde ich von nun an der Interpretation und Kritik Stemmers zugrunde legen.26 Demnach muss der Inhalt der kontraktualistischen Moral anhand einer Liste der basalen Interessen bestimmt werden, die ihrerseits zum Ausdruck bringt, was für alle Personen gut ist.27 Der Liste der basalen Interessen entspricht eine Menge von grundlegenden moralischen Pflichten, z. B. die Verbote des Mordes, der Körperverletzung, der Folter, der Vergewaltigung, der Demütigung oder des sogenannten Mobbings. Stemmer betont aber zu Recht, dass sich aus den basalen Interessen nicht nur negative Pflichten ableiten lassen (199f.). Aus dem Interesse an der Erhaltung des Lebens folgt z. B. die positive Pflicht, einem lebensgefährlich Verletzten Hilfe zu leisten. Allerdings seien die positiven Pflichten unter Umständen mit Schwierigkeiten verbunden, die bei den negativen Pflichten nicht auftreten können. Erstens kann der Fall eintreten, in dem mehrere Personen anwesend sind, aber nur eine von ihnen einer positiven Pflicht nachkommen muss. Dann kann jeder darauf verweisen, dass ja die übrigen Anwesenden genauso verpflichtet sind wie er, und deshalb die Handlung unterlassen: „Es gibt hier gewissermaßen ein Zuviel an Pflicht und damit ein Problem der Auswahl.“ (200) Zweitens lassen einige positive Pflichten einen Spielraum
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zu. Wenn man davon ausgeht, dass Wohlhabende moralisch dazu verpflichtet sind, Notleidende zu unterstützen, dann ist damit noch nichts über den Umfang dieser Unterstützung gesagt (201). Die bisher erwähnten Pflichten beziehen sich alle, sei es mittelbar oder unmittelbar, auf die körperliche und seelische Integrität der Personen. Damit ist sicherlich ein wesentlicher Bereich der Moral erfasst. Andere moralische Probleme betreffen die Frage der Güterverteilung. Stemmer zufolge lässt sich aus dem höher stufigen Interesse jeder Person, überhaupt Eigentum haben zu können, die moralische Pflicht ableiten, fremdes Eigentum nicht anzutasten (219). In Bezug auf die Güterverteilung beschränkt sich die kontraktualistische Moral auf diese Forderung. Forderungen nach effektiver Gleichverteilung sind ihr zufolge unberechtigt (225). Sie umfasst nur das Gebot der proportionalen Gleichverteilung, wobei der Maßstab der Proportionalität die Macht der Beteiligten ist.28 Zusammenfassend lässt sich der Inhalt der Moral nach Stemmer folgendermaßen beschreiben: Die Moral umfasst alle Rechte und Pflichten, die nötig sind, um innerhalb der Gruppe der annähernd gleich Starken deren körperliche und physische Integrität sowie deren Eigentum zu sichern.29 Somit wird deutlich, dass die kontraktualistische Moral in zweierlei Hinsicht beschränkter als die tradierte Moral ist (246ff.). Erstens ist sie in Bezug auf Personen, nicht aber in Bezug auf Menschen universalistisch: Nicht alle Menschen können Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sein. Zweitens kommt sie in Bezug auf die Verteilung bestimmter Güter nicht zu Verteilungsprinzipien, die gemeinhin als gerecht bezeichnet werden. Da sie sich zudem vorwiegend auf Abwehrrechte beschränkt, bezeichnet Stemmer sie auch als „Minimalmoral“ (292). 8. Nachdem Ursprung, Eigenart und Inhalt der Moral bestimmt worden sind, können wir uns nun der im Hinblick auf die V-Frage entscheidenden Frage nach den moralischen Sanktionen zuwenden. Stemmers Antwort auf die V-Frage wurde bisher so wiedergegeben: Es ist vernünftig, gegenüber gleich
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Starken moralisch zu handeln, weil man sonst mit Sanktionen rechnen muss, die so hart sind, dass sie die Vorteile, die man aus der Pflichtverletzung ziehen könnte, überwiegen. Bevor geprüft werden kann, ob Sanktionen hinreichend sind, um das moralische Müssen zu einem rational zwingenden zu machen, muss dargestellt werden, worin diese Sanktionen nach Stemmer bestehen. Der Autor charakterisiert die moralischen Sanktionen so: Die moralischen Sanktionen bestehen, so kann man sie zusammenfassen, in sozialer Ausgrenzung. Die Antwort auf die Frage: „Und was passiert, wenn ich anders als moralisch ‚gemußt‘ handle?“ lautet also: „Dann mußt du eine soziale Ausgrenzung hinnehmen, nicht nur durch den, dem du Unrecht getan hast, sondern durch alle, die davon erfahren und dadurch, daß sie Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sind, mitbetroffen sind. (Handeln, S. 152)
Das Spektrum der moralischen Sanktionen ist breit. Es umfasst sowohl eher defensive als auch offensive Maßnahmen. Man zeigt z. B. dem, der gegen moralische Normen verstoßen hat, seinen Unwillen, geht ihm aus dem Weg, grüßt ihn vielleicht nicht mehr, spricht mit anderen über das Unrecht, das er begangen hat, usw. (153). Man wird ihm nicht mehr freundlich begegnen, sich nicht in seiner Gesellschaft zeigen, möglicherweise die Zusammenarbeit mit ihm ablehnen und keine Geschäfte mehr mit ihm machen (154). Am Ende des Spektrums steht der Ausschluss aus der moralischen Gemeinschaft: Die stärkste Form der sozialen Ausgrenzung ist der Hinauswurf aus der moralischen Gemeinschaft. Man macht den anderen zu einem Outlaw, indem man seine eigenen Verpflichtungen gegen ihn aufkündigt und indem dies nicht nur der Geschädigte tut, sondern auch alle anderen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft, soweit sie wissen, was passiert ist. Man stößt den Übeltäter damit in den vormoralischen Zustand völliger Rechtlosigkeit zurück. Er hat keine moralischen Recht und Ansprüche mehr. (Handeln, S. 154)
Diese extreme Sanktion ist allerdings mit dem Nachteil verbunden, dass man den Übeltäter nicht nur von seinen moralischen Rechten, sondern auch von seinen moralischen Pflichten
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entbindet, da diese ja, wie früher dargestellt, Stemmer zufolge nur gemeinsam mit Rechten auftreten können. Das läuft darauf hinaus, dass sich die moralische Gemeinschaft in den Kriegszustand mit dem Geächteten versetzt, in dem sie selbst mit der Gefahr gewaltsamer Angriffe von seiner Seite rechnen muss. In Anbetracht dieses Nachteils „wird man in der Regel versuchen, den Übeltäter durch Sanktionen zu treffen, die ihn zwar nachhaltig beeindrucken, ihm aber seinen Status als Mitglied der moralischen Gemeinschaft nicht nehmen“ (155). Die moralischen Sanktionen werden durch moralische Gefühle verstärkt. Diese werden von Stemmer so definiert: „Man kann ein Gefühl dann moralisch nennen, wenn man zu seiner Erklärung auf einen moralischen Begriff zurückgreifen muß.“ (126) Allerdings legt Stemmer Wert darauf, dass nicht alle Gefühle, die durch unmoralisches Handeln hervorgerufen werden, schon deshalb moralische Gefühle sind. Da das moralische Müssen durch künstlich geschaffene Sanktionen konstituiert wird, scheiden affektive Reaktionen, die sich von selbst einstellen, aus (121). Zu den affektiven Reaktionen zählt z. B. „eine heftige aggressive Anti-Emotion“ (123). Eine wichtige moralspezifische affektive Reaktion ist hingen das Gefühl der Empörung. Die Empörung setzt die begriffliche Deutung des Unrechts voraus und ist deshalb ein moralisches Gefühl, denn sie enthält, anders als der nicht-moralische Zorn, die Deutung des Verletztwerdens als Unrecht. Man reagiert mit Empörung auf etwas, was man als moralwidrig beurteilt. Es ist nicht nur etwas passiert, auf das man mit Bedauern, Enttäuschung, Unwillen reagiert, es ist nicht nur etwas passiert, was schlecht für einen ist, was man gerne anders hätte, was man anders erwartet oder erhofft hat, es ist vielmehr etwas passiert, was der andere nicht hätte tun dürfen, was er hätte unterlassen müssen. Er hat gegen eine moralische Verpflichtung gehandelt und damit ein moralisches Recht, ein Recht von A, verletzt. Mit dieser Rechtsverletzung geht das, was geschehen ist, über die körperliche Verletzung von A hinaus. (Handeln, S. 126)
An dieser Stelle wird Stemmer mit einem nahe liegenden Einwand konfrontiert. Das System der moralischen Sanktionen
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wurde von allen Beteiligten mit dem Ziel eingeführt, langfristig ihre eigenen Interessen zu befördern. Das moralische Müssen wird, wie Stemmer mehrfach betont hat, nur durch die Sanktionen konstituiert. Wenn nun einer der aufgeklärten Egoisten gegen eine moralische Norm verstößt, weil er sich davon einen Vorteil verspricht, und dann überführt wird, dann hat er – wie es scheint – zwar unklug gehandelt, aber keine moralische Schuld auf sich geladen. Stemmer formuliert diesen Einwand so: Der Übeltäter hat, so wie du ihn verstehst, keine Schuld auf sich geladen. Er hat sich auf eine spezifische Weise irrational verhalten. Betrachte auch den, der gut überlegt, wie er handeln soll und für den es in einer außergewöhnlichen Konstellation von Präferenzen und Umständen wichtiger ist, den anderen zu schädigen oder seine Schädigung in Kauf zu nehmen, als die angedrohten Sanktionen zu vermeiden. Er bezahlt in dieser Situation, in der die Sanktionen ihr Ziel nicht erreichen, den Preis der Sanktionen um einer Sache willen, die ihm wichtiger ist. Aus der Perspektive der kontraktualistischen Moral macht er, wenn seine Präferenzen von dieser Art sind, alles richtig. Und er hat keinen Grund, sich wegen der Schädigung des anderen Schuldvorwürfe zu machen. (Handeln, S. 137)
Stemmer antwortet auf diesen Einwand zurückhaltend. Einerseits beharrt er darauf, dass auch seine kontraktualistische Moral Raum für moralische Gefühle wie die Empörung lässt. Wenn jemand eine Verletzung seiner Rechte erfährt, dann ist seine Reaktion darauf eine moralische (136). Andererseits räumt er ein, dass es im Rahmen der kontraktualistischen Moral keine Möglichkeit gibt, das Gefühl der Schuld und den ihm entsprechenden Vorwurf zu erklären.30 Worin sollte denn auch die Schuld einer Person bestehen, die versucht hat, ihre eigenen Interessen zu wahren? Stemmer spricht deshalb von einer „Empörung ohne Vorwurf“ (139). Meiner Meinung nach gleicht diese Empörung ohne Vorwurf einem hölzernen Eisen. Wie sollte man etwa die entsprechende sprachliche Äußerung verstehen?: „Ich bin empört über Ihr Verhalten. Da ich aber nicht der Meinung bin, dass Sie moralisch schuldig sind, mache ich Ihnen keinen Vorwurf.“ Entweder ist man empört, weil der andere sich
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schuldig gemacht hat; oder es gibt keinen guten Grund, sich zu empören. (In diesem Fall sollte man sich entschuldigen.) Den Einwand, dass Stemmer keine plausible Erklärung für das moralische Gefühl der Empörung bieten könne, halte ich daher für zutreffend. Neben der Empörung, die Stemmer zufolge alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft fühlen können, spielt noch ein weiteres moralisches Gefühl eine Rolle bei der Stützung der Sanktionen: die moralische Scham (143ff.). Allerdings setzt die Fähigkeit, sich zu schämen, ein ganz bestimmtes Selbstverständnis der Person voraus: „Ob man sich schämt, hängt davon ab, wie man sein will. Und darin unterscheiden sich die Menschen.“ (144) Nur diejenigen, die sich mit dem Projekt der Moral identifizieren und die sich deshalb als moralische Personen verstehen, können sich für moralische Vergehen schämen (146). Es ist aber nicht rational zwingend, sich so zu verstehen. Man kann es genauso gut bei einem rein instrumentellen Verhältnis zur Moral belassen. Wer das tut, der „kennt [...] keine moralischen Schamgefühle“ (150). Wie bereits angedeutet, besteht die Funktion der spontanen moralischen Fremd- und Selbstaffekte und der moralischen Gefühle darin, dass sie, obwohl sie selbst keine künstlich geschaffenen Sanktionen sind, den gleichen Effekt wie diese haben, so dass sie die Sanktionen verstärken können: Auch sie haben „die Wirkung, von bestimmten Handlungen abzuschrecken. Sie konstituieren ein Müssen: Wer diese für ihn negativen Affekte vermeiden will, muß bestimmte Dinge tun und kann bestimmte andere nicht tun.“ (151) Darüber hinaus können die moralischen Sanktionen noch auf dreierlei Weise verstärkt werden: (i) durch „sekundäre“ Sanktionierung, (ii) durch Verrechtlichung und (iii) durch Internalisierung. – (i) Der Begriff der sekundären Sanktionierung bezeichnet die Tatsache, dass diejenigen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft, die auf ein ihnen bekannt gewordenes Unrecht nicht mit Sanktionen reagieren, wegen dieser Unterlassung sanktioniert werden. Es ist leicht einzusehen, warum dies nötig ist.
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Das moralische Müssen wird nur durch die moralischen Sanktionen konstituiert. Das heißt: Es ist nur dann rational zwingend, moralisch zu handeln, wenn die Sanktionen erstens so hart sind, dass sie die Vorteile, die man aus Normverstößen ziehen kann, überwiegen, und wenn zweitens das Eintreten der Sanktionen wahrscheinlich ist. Wer es unterlässt, auf moralische Vergehen mit Sanktionen zu reagieren, der untergräbt beide Voraussetzungen; er „unterminiert, [...] das moralische ‚Muß‘ und damit das moralische System überhaupt“ (155). Deshalb verdient er es, selbst mit Sanktionen belegt zu werden. (ii) Es versteht sich von selbst, dass die moralische Gemeinschaft ein Interesse daran hat, dass bestimmte Normverstöße, insbesondere schwerwiegende Schädigungen wie Mord und Körperverletzung, nicht nur moralisch, sondern auch staatlich sanktioniert werden. Freiheitsstrafen und Geldstrafen oder der Entzug bestimmter Güter treffen Übeltäter besonders hart. Deshalb kann man davon ausgehen, dass die Wirksamkeit bestimmter moralischer Normen durch deren Verrechtlichung erhöht wird (157). (iii) Schließlich geht Stemmer davon aus, dass die moralischen Sanktionen von den Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft internalisiert werden (171ff.). Da dieser Gedanke innerhalb seiner Ethik besonders problematisch ist, soll er im folgenden Abschnitt, der den Problemen der Stemmer’schen Antwort auf die V-Frage gewidmet ist, behandelt werden. Ich fasse zusammen: Auch wenn Stemmer möglicherweise im Rahmen seiner Ethik keine plausible Erklärung für moralische Schuldzuweisungen und das Gefühl der Empörung geben kann, sprechen immer noch die moralischen Sanktionen, im Extremfall der Ausschluss aus der moralischen Gemeinschaft, gegen die Rationalität unmoralischen Handelns. Diese Sanktionen werden auf verschiedene Weise verstärkt: durch negative Selbst- und Fremdaffekte, durch moralische Gefühle, sekundäre Sanktionierung, Verrechtlichung und Internalisierung. Im Folgenden soll geprüft werden, ob und ggf. inwieweit diese Sanktionen dafür hinreichen, moralisches Handeln zu einem rational zwingenden zu machen.
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9. Stemmers Antwort auf die V-Frage liegt ein ebenso einfacher wie bestechender Gedanke zugrunde: Es ist dann und nur dann rational zwingend, moralisch zu handeln, wenn unmoralisches Handeln so hart sanktioniert wird, dass es sich nicht lohnt. Dieser Gedanke ist m. E. mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden, von denen hier die wichtigsten diskutiert werden sollen. (i) Stemmer geht von einer weitgehenden Analogie zwischen Moral und Recht, d. h. zwischen moralischen Gemeinschaften und Rechtsgemeinschaften und zwischen moralischen und rechtlichen Sanktionen aus. Allerdings weist er selbst auf einen wichtigen Unterschied zwischen ihnen hin: Während rechtliche Sanktionen formell sind, handelt es sich bei den moralischen um informelle Sanktionen (105). Diese Tatsache hat beträchtliche Auswirkungen auf die Wirksamkeit des Systems moralischer Sanktionen. Diese sind nämlich in Bezug auf die Instanz ihrer Verhängung, ihre Art und ihr Ausmaß unbestimmt. Zunächst einmal ist häufig gar nicht klar, wer bestimmte moralische Sanktionen verhängen soll. Während die entsprechenden Zuständigkeiten im Rechtssystem eindeutig geregelt sind, liegt die Zuständigkeit für die Bestrafung moralischer Vergehen einfach bei der moralischen Gemeinschaft als solcher. „Wer Unrecht tut, hat es also immer auch mit der moralischen Gemeinschaft zu tun“, heißt es bei Stemmer (155). Damit ist aber nicht mehr gesagt, als dass irgendwer auf moralisches Unrecht mit Sanktionen reagieren soll. Offen bleibt, wer dies ist. Häufig, vor allem bei geringfügigen Normverstößen, ist es offenbar nicht nötig, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft mit Sanktionen reagieren, sondern nur einzelne. Doch in diesem Fall besteht die Gefahr, dass sich jeder auf die anderen verlässt. A mag denken: „B, C oder D werden ihm schon ihre Empörung zeigen.“ Diese wiederum verlassen sich darauf, dass E, F oder G die Sanktionen verhängen. Kurz: Wo nicht festgelegt ist, wer auf welche Normverstöße zu reagieren hat, da besteht die Gefahr, dass niemand moralische Sanktionen verhängt, weil sich alle Einzelnen auf die jeweils anderen verlassen.
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Betrachten wir ein Beispiel: In einer Behörde wird eine Mitarbeiterin durch einen Kollegen fortwährend gedemütigt. Er macht sich über ihr Aussehen lustig, schwärzt sie bei anderen an und äußert sich abfällig über ihre Leistungen. In diesem Fall steht nun nach Stemmer fest, dass man den Betreffenden mit Sanktionen bestrafen sollte. Aber wer ist dafür zuständig? Die Angehörigen seiner Abteilung? Oder nur diejenigen, die das Büro mit ihm teilen? Der Abteilungsleiter? Der Amtsleiter? Der Verweis auf die Zuständigkeit der moralischen Gemeinschaft hilft hier nicht weiter, weil jeder der Genannten sich auf die anderen verlassen kann. Die gleiche Schwierigkeit ergibt sich, wenn man von der Zuständigkeit für die Sanktionen zu deren Art und Umfang übergeht. Moralische Gemeinschaften werden nicht durch Satzungen, Gesetzbücher oder Ähnliches konstituiert. Es gibt in ihnen keine veröffentlichten Strafkataloge. Es wurden keine allgemein bekannten Absprachen darüber getroffen, wie konkrete Verstöße gegen moralische Normen zu bestrafen sind. Deshalb besteht immer die Gefahr, dass ein Verstoß gegen eine moralische Norm unverhältnismäßig, also zu milde oder zu hart bestraft wird. Dadurch wird natürlich die Zuverlässigkeit des Sanktionensystems untergraben. Wie ist z. B. jemand zu sanktionieren, der häufig lügt? Genügt es, nicht mehr mit ihm zusammenzuarbeiten? Soll man ihn nicht mehr grüßen? Darf man gar nicht mehr mit ihm sprechen? Alle diese Fragen sind ungeklärt. Deshalb weiß derjenige, der darüber nachdenkt, ob es sich lohnt, eine moralische Pflicht zu verletzen, oft gar nicht genau, welche Sanktion ihm droht, falls seine Tat bekannt wird. Peter Rinderle hat auf zwei weitere Probleme hingewiesen, die sich in Bezug auf Art und Umfang der Sanktionen ergeben. Erstens ist es möglich, dass eine Gemeinschaft sich zwar über die Inhalte der moralischen Pflichten, nicht aber über die Art und Weise der Sanktionierung von Pflichtverletzungen einig ist.31 Wie ist in diesem Fall zu verfahren? Wer entscheidet, wenn einige Mitglieder der Gemeinschaft meinen, dass häufiges Lügen mit sozialer Ächtung zu ahnden ist, andere aber der Auffassung sind,
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dass es genügt, mit dem notorischen Lügner nicht mehr zu kooperieren? Zweitens bringt die Einführung der Sanktionen selbstredend die Gefahr mit sich, dass diese missbraucht werden: Die Praxis des moralischen Sanktionierens kann selbst Gegenstand der moralischen Kritik werden. Wer sanktioniert dann im Streitfall den Sanktionierer? Wer verhindert Exzesse des Sanktionierens? Wie wird mit Fehlern und Grenzfällen umgegangen? Gibt es, wie bei der Verhängung legaler Sanktionen, die Möglichkeit, sich an eine nächsthöhere Instanz zu wenden? Auf diese Probleme geht Stemmer nicht ein; die Sanktionsinstanz scheint bei ihm jenseits aller denkbaren Kritik zu stehen. (P. Rinderle, „Pflichten, Interessen und Sanktionen“, S. 333)
Soweit ich sehe, finden sich bei Stemmer keine Lösungen für die bisher angeführten Probleme. Da er die weitgehende Analogie zwischen Moral und Recht unterstellt, geht er offensichtlich davon aus, dass das System der moralischen Sanktionen ebenso gut funktionieren wird wie das Rechtssystem. Wie eben gezeigt, wird aber seine Wirksamkeit durch die Unbestimmtheit der Instanz, der Art und des Umfangs der Sanktionierung stark geschwächt. Dies dürfte zur Folge haben, dass in vielen Fällen die Sanktionen nicht die abschreckende Wirkung haben werden, die nötig wäre, um Pflichtverletzungen irrational zu machen. Übeltäter können nämlich häufig damit rechnen, dass sich niemand für die Sanktionierung ihres Tuns zuständig fühlt oder dass die Sanktion so milde ausfällt, dass sich das Unrechttun lohnt. (ii) Die maximale moralische Sanktion ist nach Stemmer der „Hinauswurf aus der moralischen Gemeinschaft“ (154). Auch in diesem Fall gerät die Analogie zum Rechtswesen an ihre Grenzen. Während in einigen Staaten tatsächlich die Möglichkeit besteht, eine Person aus der Rechtsgemeinschaft auszuschließen, indem man ihr die Staatsbürgerschaft entzieht, ist kaum denkbar, wie dies in informellem moralischen Gemeinschaft zu bewerkstelligen sein sollte. Sollten Übeltäter öffentlich gebrandmarkt werden? Sollte im öffentlichen Fernsehen verkündet werden, dass X aus der moralischen Gemeinschaft ausgeschlossen
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wird? (Wenn ja, wer ist dafür zuständig? – Vgl. (i)) Stemmer schenkt der Tatsache, dass moralische Gemeinschaften keine rechtsförmigen Institutionen sind, zu wenig Beachtung. Außer in wenigen Ausnahmefällen scheint es mir kaum möglich, dass in modernen, komplexen Gesellschaften Personen tatsächlich aus der moralischen Gemeinschaft hinausgeworfen werden.32 Die Mitgliedschaft in einer moralischen Gemeinschaft ist kein Status, der einem offiziell aberkannt werden könnte. (iii) Die Wirksamkeit des Sanktionensystems kann auch dadurch geschwächt werden, dass Diskrepanzen zwischen moralischen und rechtlichen Normen auftreten. Erstens ist hier der Fall denkbar, in dem moralische Pflichtverletzungen angemessen nur durch Gleiches bestraft werden können. Doch wer einen Betrüger betrügt, macht sich selbst strafbar; und wer einen bekannten Taschendieb bestiehlt, wird, wenn er überführt wird, ebenso verurteilt werden wie jener. Wer diese Fälle für zu konstruiert hält, den wird vielleicht folgender Hinweis davon überzeugen, dass Stemmers Vorschlag zu einer Diskrepanz zwischen Recht und Moral führt: Der Ausschluss aus der moralischen Gemeinschaft ist unvereinbar mit unserem Rechtssystem. Es widerspricht nicht nur Artikel 1 unseres Grundgesetzes, dass man jemanden zum „Outlaw“ (154) macht. Darüber hinaus müssten diejenigen, die ihm bestimmte Leistungen verweigern, unter Umständen selbst mit rechtlichen Sanktionen rechnen. Nehmen wir z. B. an, dass dieser Outlaw durch einen Unfall schwer verletzt wird. Nach Stemmer befindet er sich in einem „rechtlosen Zustand“ (ebd.); demnach sind die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft nicht moralisch verpflichtet, ihm Hilfe zu leisten. Aber selbstverständlich muss weiterhin jeder, der ihm die Hilfe verweigert, damit rechnen, wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt und verurteilt zu werden. Wenn die Sachbearbeiterin einer Behörde dem Outlaw die Auskunft verweigert, weil sie ihm gegenüber keine moralische Hilfspflicht hat, dann muss sie damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Reihe ähnlicher Beispiele ließe sich fortsetzen. – Die Konsequenz aus der möglichen Diskrepanz zwischen dem moralischen Sank-
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tionensystem und dem Recht besteht darin, dass Mitglieder der moralischen Gemeinschaft gute Gründe dafür haben können, moralische Sanktionen zu unterlassen, nämlich dann, wenn ihnen rechtliche Strafen drohen. Auch dadurch wird offenbar die Wirksamkeit der Sanktionen unterminiert. (iv) Ein weiterer Grund, der an der Effizienz der moralischen Sanktionen zweifeln lässt, besteht darin, dass wir in modernen, komplexen und für den Einzelnen unüberschaubaren Gesellschaften leben. Darin ist u. a. impliziert, dass Personen häufig mit anderen interagieren, zu denen sie keine langfristigen Beziehungen haben. Darüber hinaus haben sie es verhältnismäßig häufig mit Unbekannten zu tun. Drittens kann man davon ausgehen, dass in großen Gesellschaften moralisches Unrecht in der Regel nur einem kleinen Kreis von Personen bekannt werden wird. Es ist leicht abzusehen, warum aus diesen Überlegungen folgt, dass eine Moral, die nur auf der Androhung von Sanktionen beruhte, für moderne Gesellschaften ungeeignet wäre. Wer z. B. in einer Großstadt wie Berlin einem Unbekannten begegnet, mit dem er wahrscheinlich nie wieder zu tun haben wird, für den gibt es keinen guten Grund, diesen Menschen nicht zu bestehlen oder bei einem Handel zu übervorteilen – vorausgesetzt, dass er sich geschickt genug anstellt, um rechtliche Sanktionen zu vermeiden. Man könnte an dieser Stelle zu Stemmers Verteidigung anführen, dass derjenige, der häufig gegen moralische Normen verstößt, langfristig damit rechnen muss, dass ihn die anderen sanktionieren. Daraus würden ihm erheblich Nachteile entstehen, und deshalb sei es irrational, moralische Pflichten zu verletzen. So einleuchtend dies klingen mag, so wenig entspricht es der Wirklichkeit. Nahezu jeder spielt verschiedene soziale Rollen, und zwar in Umgebungen, die häufig wenig miteinander zu tun haben. Wenn z. B. ein Mann regelmäßig seine Frau schlägt, dann wird er gewöhnlich nicht damit rechnen müssen, dass seine Kollegen, seine Kegelbrüder, seine Vereinsgenossen oder der Wirt seines Stammlokals davon erfahren – ganz zu schweigen von den vielen anderen Menschen, mit denen er täglich zu tun hat.
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Wenn ein geschickter Falschspieler bei einem Preisskat des Betrugs überführt wird, dann kann er sein Glück in einer anderen Runde oder in anderen Städten versuchen. Ein privater Arbeitgeber, der seine Mitarbeiter beleidigt, kann davon ausgehen, dass ihn seine Familie, die davon nichts weiß, weiterhin liebevoll umsorgen wird, usw. usf. Moralisches Unrecht wird also in der Regel gar nicht der moralischen Gemeinschaft als ganzer, sondern nur wenigen ihrer Mitglieder bekannt. Deshalb muss der Übeltäter gewöhnlich nicht damit rechnen, dass ihm von der Gemeinschaft als ganzer oder auch nur von der Mehrzahl seiner Mitmenschen Sanktionen auferlegt werden. Die abschreckende Wirkung moralischer Sanktionen wird dadurch offensichtlich stark eingeschränkt. Dieses Problem hängt mit der unter (iii) genannten Schwierigkeit zusammen. Wie soll jemand, der zum ersten Mal mit einer ihm bislang unbekannten Person zu tun hat, feststellen, ob diese noch Mitglied der moralischen Gemeinschaft ist oder ob sie bereits aus ihr ausgeschlossen worden ist? Nehmen wir z. B. an, dass ein Berliner im Urlaub einem Düsseldorfer begegnet. Soll er ihn, bevor er sich auf ein Gespräch mit ihm einlässt, bitten, sich als Mitglied der moralischen Gemeinschaft auszuweisen? Diese Forderung wäre offensichtlich abwegig, weil es sich, wie bereits erwähnt, bei der Mitgliedschaft in einer moralischen Gemeinschaft nicht um einen offiziellen Status handelt. Stemmer sieht diese Schwierigkeit; er gesteht zu, dass moralische Sanktionen „nur richtig in kleinen Gemeinschaften, in faceto-face societies, in denen man immer wieder miteinander zu tun hat“ (157), greifen. In diesen überschaubaren Gemeinschaften leben aber heute nur noch die wenigsten. Die Verrechtlichung moralischer Sanktionen, die er an dieser Stelle als Lösung vorschlägt (ebd.), vermag dieses Problem aber nicht auf zufriedenstellende Weise zu lösen, weil nur ein Teil der moralischen Vergehen auch juristische Tatbestände sind. Eine weitergehende Positivierung der Moral wäre jedoch, wie sich in den Ausführungen über Hobbes’ politische Lösung des Problems zeigte,33 mit erheblichen Kosten verbunden.
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(v) Für das schwierigste Problem des starken ethischen Rationalismus, das Problem des Unrechttuns im Verborgenen, scheint Stemmers Ethik auf den ersten Blick gar keine Lösung bieten zu können. Da es das moralische Müssen nur dort gibt, wo Sanktionen drohen, entfällt die moralische Pflicht, sobald ein Handelnder mit großer Sicherheit davon ausgehen kann, dass ihm keine Sanktionen drohen. 34 Wer nicht mit Sanktionen rechnen muß, der ist auch nicht verpflichtet, moralisch zu handeln. Stemmer gesteht dies ausdrücklich zu: „Wenn dem, der in Situationen des Unbeobachtetseins moralwidrig handelt, aber keine Sanktionen drohen, gibt es in diesen Situationen kein moralisches Müssen. Die moralischen Sanktionen nötigen einen hier nicht, zugunsten anderer zu handeln.“ (162) – Die beiden Annahmen, die er einführt, um dieses Problem zu lösen, die Ideen der Internalisierung der äußeren Sanktionen und der Disponierung zum moralischen Handeln, erscheinen im Rahmen seiner Ethik als besonders problematisch. Sie werden deshalb eigens im folgenden Abschnitt diskutiert. (vi) Schließlich ist auf eine Schwierigkeit hinzuweisen, die von Stemmer überhaupt nicht beachtet wird: das Problem der sozialen Ungleichheit. Stemmers kontraktualistische Moral gilt, wie bereits dargestellt, unmittelbar nur für annähernd gleich Starke. A muss z. B. nur denjenigen das Recht, nicht von ihm getötet zu werden, einräumen, die ihn töten könnten. Stemmer hat dies als „Machtbedingung“ für die Zugehörigkeit zu einer moralischen Gemeinschaft bezeichnet. Dabei erweckt er den Eindruck, dass die annähernde Gleichheit der Stärke nur von den körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Beteiligten abhinge. Dies legen seine Beispiele nahe. Säuglinge und Kleinkinder z. B. sind außerstande, Erwachsene absichtlich zu töten. Deshalb wird ihnen nicht das Recht, nicht absichtlich getötet zu werden, zugeschrieben. Die Handlungen zukünftiger Generationen können sich nicht auf die jetzt Lebenden auswirken, deshalb haben diese jenen gegenüber keine moralischen Pflichten. Stemmer übersieht dabei, dass sich Machtungleichheiten auch aus der sozialen Stellung der Betroffenen ergeben können.
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Ein Arbeitgeber kann einem Arbeitnehmer offenbar vieles antun, was dieser jenem nicht antun kann. Das Gleiche gilt für die Verhältnisse zwischen Offizieren und Soldaten, Vorgesetzten und Untergebenen im öffentlichen Dienst, Vermietern und Mietern, Reichen und Armen, mächtigen Politikern und den von ihrer Politik Betroffenen usw. Wenn man die von Stemmer aufgestellte „Machtbedingung“ ernst nimmt, dann haben in diesen Fällen die jeweils Stärkeren den jeweils Schwächeren gegenüber in Bezug auf das, was jene diesen antun können, keine moralischen Pflichten. Damit wird aber Stemmers „Minimalmoral“ noch weiter beschränkt, sodass seine Antwort auf die V-Frage noch bescheidener ausfällt: Es ist rational zwingend, sich denen gegenüber, die hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten sowie ihrer sozialen Stellung annähernd gleich stark wie man selbst sind, moralisch zu verhalten. Angesichts dieser Restriktion kann nun endgültig keine Rede mehr davon sein, dass es prinzipiell irrational wäre, unmoralisch zu handeln. 10. Wie bereits erwähnt, versucht Stemmer das Problem des Unrechttuns im Verborgenen zu lösen, indem er die Ideen der Internalisierung der äußeren Sanktionen und der Disponierung zum moralischen Handeln einführt. In § 6 seines Buches Handeln zugunsten anderer stellt er die Frage, welche Lösungen der ethische Kontraktualismus für dieses Problem bieten könne. Es wurde bereits erwähnt, dass Stemmer zufolge das Gefühl der moralischen Scham zwar mit den Annahmen seiner Ethik vereinbar ist, dass es aber nicht rational zwingend ist, ein Mensch zu sein, der sich moralisch versteht und der sich deshalb für seine moralischen Vergehen schämen kann. Nun besteht aber Stemmers Beweisziel darin, nachzuweisen, „dass es auch für den Skeptiker rational zwingend ist, [...] sich moralisch zu verhalten“ (164). Da der Skeptiker laut Voraussetzung keine altruistischen Interessen und Neigungen hat, kennt er auch keine Schamgefühle (ebd.). Der Rekurs auf diese Gefühle verbietet sich also im Rahmen der kontraktualistischen Ethik.
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Ein zweiter Lösungsvorschlag, der auf Epikur zurückgeht, besagt, dass niemand jemals sicher sein könne, dass das Unrecht, das im Moment der Tat nicht bemerkt wird, bis zu seinem Lebensende nicht aufgedeckt werden wird. Selbst wenn man nicht entdeckt werden sollte, stelle die Tatsache, dass man das Entdecktwerden fürchten wird, einen Grund gegen das Unrechttun im Verborgenen dar. Dieses Argument reicht aber nach Stemmer nicht aus, um das Problem vollständig zu lösen: Denn in vielen Fällen ist es nicht realistisch, mit dem EntdecktWerden zu rechnen. Folglich muß man es auch nicht befürchten. Vielleicht kann man nie definitiv sicher sein, aber doch so sicher, daß man jedenfalls vernünftigerweise keine Angst vor dem EntdecktWerden hat. Epikurs Argument ist also nur für einen Teil der moralwidrigen Handlungen im Verborgenen überzeugend. Wie groß dieser Teil ist, ist eine Einschätzungsfrage. (Handeln, S. 170)
Immerhin lasse sich aber Epikurs Argument entnehmen, dass es nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, dass die Sanktionen in den Bereich des Unbeobachteten hineinwirken. Vermittelt über die Furcht vor ihnen können sie auch dort eine Rolle spielen; sie müssen es aber nicht. Stemmer sucht nach einer Lösung, die – im Gegensatz zu Epikurs Vorschlag – auch dann zu überzeugen vermag, wenn eine Person, die im Verborgenen Unrecht tut, keine Furcht vor dem Entdecktwerden hat. Er meint diese Lösung erstens in der Idee der „Internalisierung“ (171) der moralischen Sanktionen zu finden. Damit ist gemeint, „dass ein psychischer Mechanismus bewirkt, dass die äußeren Sanktionen auch zu inneren Sanktionen werden, zu Sanktionen also, die nicht von außen, sondern von innen kommen und den, der moralwidrig handelt, treffen, ohne dass ein anderer etwas dazutut“ (171). Durch diesen Prozess entstehe eine „innere Instanz“ (ebd.), die auf das eigene unmoralische Handeln so reagiert, wie es die anderen tun würden, wenn sie von dem Unrecht wüssten. Die Reaktionen dieser Instanz, die auf der Verinnerlichung der äußeren Sanktionen beruhen, bezeichnet Stemmer als „innere Sanktionen“ (171). Sie bestehen
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Kapitel 4 im wesentlichen in einem Gefühl des Unbehagens und Widerwillens; man reagiert auf das, was man getan hat oder tun will, ablehnend, man spürt einen Zwiespalt in sich: der eine Teil des eigenen Selbst tut etwas (oder will etwas tun), und der andere reagiert darauf mit affektivem Widerstand (Handeln, S. 172).
Die inneren Sanktionen erfüllen also eine ähnliche Funktion wie das Gefühl der Scham. Wenn sie wie diese ein ganz bestimmtes Selbstverständnis voraussetzten, dann wäre das Müssen, das durch sie konstituiert wird, wie das auf der Scham beruhende auf diejenigen beschränkt, die zur Moral nicht nur ein instrumentelles Verhältnis haben, sondern sich mit ihr identifizieren (172). Stemmer geht davon aus, „dass diese Internalisierung äußeren Drucks tatsächlich bis zu einem gewissen Grade stattfindet“ (173), und zwar bei allen Menschen: Der Grund hierfür scheint darin zu liegen, dass die Menschen noch vor jedem speziellen Selbstverständnis gar nicht anders können, als das, was sie tun oder tun wollen, auch aus der Perspektive der anderen zu betrachten. Bei der Erwägung, von welcher Art eine ins Auge gefasste Handlung ist, spielt, ob man will oder nicht, untergründig immer mit hinein, wie die anderen die Handlung sehen oder sehen würden. (Handeln, S. 173)
Auch der Skeptiker ist angeblich diesen inneren Sanktionen ausgesetzt (174). Deshalb kann Stemmer schlussfolgern: „Der Skeptiker und auch alle anderen müssen, wenn sie den inneren Widerstand im Falle unmoralischen Handelns vermeiden wollen, moralisch handeln.“ (174) Bevor ich auf die Frage eingehe, wie wirksam die inneren Sanktionen Stemmer zufolge sind, soll dieser Gedanke kritisch geprüft werden. Es ist auffällig, dass der Autor an dieser Stelle von normativen zu empirischen Annahmen übergeht. Ob tatsächlich alle Menschen ein deutlich ausgeprägtes Gewissen ausbilden, müsste zwar noch durch psychologische Untersuchungen bestätigt werden; es kann hier aber erst einmal als plausible Annahme vorausgesetzt werden. (Diese Annahme entspricht übrigens der von mir in Kapitel 1 vertretenen Auffassung, dass
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Amoralisten, d. h. Menschen, die die Sprache der Moral nicht verstehen, nur als pathologische Fälle auftreten.) Ebenso eingängig ist allerdings die Vermutung, dass die Stärke der inneren Sanktionen je nach Person variiert. Nun kommt ein auf inneren Sanktionen beruhendes moralisches Müssen aber offensichtlich nur dann zustande, wenn die Vorteile, die man durch unmoralische Handlungen erlangen könnte, durch die Nachteile, die das schlechte Gewissen mit sich bringt, aufgewogen werden. Erfahrungsgemäß kann man jedoch davon ausgehen, dass bei einigen Menschen die inneren Sanktionen so schwach ausgeprägt sind, dass diese für sie keinen hinreichenden Grund darstellen, um auf ein Unrechttun im Verborgenen zu verzichten. Natürlich bewegen wir uns hier auf dem Feld moralpsychologischer Mutmaßungen. Es scheint mir allerdings eine kaum bestreitbare Tatsache zu sein, dass es Menschen gibt, die zwar moralisch erzogen worden sind, die aber selbst grausame Verbrechen begehen können, ohne danach unter ihrem schlechten Gewissen zu leiden. Wenn dies so ist, dann dürfte es ihnen a fortiori noch leichter fallen, weniger schwerwiegende moralische Pflichtverletzungen zu begehen, sofern sie davon ausgehen können, dass sie nicht überführt werden. Also lässt sich auf der empirischen Ebene gegen Stemmer einwenden, dass die bloße Existenz der inneren Sanktionsinstanz nicht dazu ausreicht, für alle Fälle des möglichen Unrechttuns im Verborgenen ein ihm entgegenstehendes moralisches Müssen zu konstituieren. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Stärke der inneren Sanktionen immer so groß wäre, das sie die möglichen Vorteile überwöge. Dieser empirische Einwand kann durch einen normativen ergänzt werden. Geht man von Stemmers Voraussetzungen und seinen bislang erreichten Resultaten aus, dann gibt es prinzipiell keinen vernünftigen Grund dafür, sich selbst innere moralische Sanktionen aufzuerlegen. Sanktionen – dies betont Stemmer mehrmals – sind nicht die Reaktionen auf Verstöße gegen ein moralisches Müssen, das schon vor oder unabhängig von diesen Sanktionen galt; vielmehr wird dieses moralische Müssen erst durch die Sanktionen konstituiert. Die Sanktionen, die von den
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in etwa gleich starken Individuen eingeführt worden waren, sind jeweils Sanktionen gegenüber anderen. Da in den Situationen, in denen jemand unbeobachtet ist, keine äußeren Sanktionen drohen, gilt in diesen Fällen kein moralisches Müssen. (Von dieser Schlussfolgerung aus seinen eigenen Prämissen geht Stemmer selbst am Beginn von § 6 aus.35) Wo aber kein moralisches Müssen gilt, da kann man auch nicht gegen moralische Normen verstoßen; und wer keine moralische Pflicht verletzt hat, für den gibt es keinen vernünftigen Grund, sich moralische Vorwürfe zu machen. Also kann man festhalten, dass zwar Stemmers empirische Annahme, die meisten Menschen hätten ein Gewissen, plausibel ist, dass hingegen seine normative These unhaltbar ist, dass es rational wäre, sich für ein im Verborgenen verübtes Unrecht selbst zu sanktionieren, wenn man von seinen eigenen Voraussetzungen ausgeht. Was den moralischen Skeptiker betrifft, so gelangt Stemmer zu einem ähnlichen Ergebnis. Der Skeptiker ist mit seinem Erfinder darin einig, dass bestimmte Handlungsweisen, wie etwa das Stehlen einer gefundenen Brieftasche, „nicht etwas in sich Schlimmes“ sind (174) und dass man sie daher nur dann unterlassen muss, wenn Sanktionen drohen. Weil er davon überzeugt ist, hat der Skeptiker „von sich aus keinen Grund, auf seine eigene Tat mit Widerwillen, Schuldvorwürfen und strafenden Sanktionen zu reagieren“ (175). Stemmer unterstellt an dieser Stelle, dass der Skeptiker trotz dieser Überzeugung unwillkürlich dazu neigt, seine Taten auch jeweils aus der Perspektive der anderen moralisch zu beurteilen. Er weiß aber, dass er, falls er nach einem im Verborgenen verübten Unrecht ein moralisches Unbehagen fühlen sollte, diesem Gefühl, für das es keinen vernünftigen Grund gibt, keine Beachtung schenken sollte: Er wird sich nicht als Subjekt dieses Unbehagens fühlen, obwohl es in „ihm“ ist. Es ist in ihm, weil er nicht anders kann, als seine eigene Handlung auch aus der Perspektive der anderen zu sehen, – selbst dann, wenn die anderen von der Handlung gar nichts erfahren und sie niemals vor ihre Augen kommt. Der Skeptiker spürt deshalb durchaus einen Zwiespalt in sich, aber er schlägt sich doch klar auf
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die eine Seite: Er selbst verurteilt nicht, was er getan hat, etwas in ihm tut dies. Das heißt, daß er nicht wirklich mit sich im Unreinen ist. (Handeln, S. 175)
Diese Überlegung führt m. E. zu einer Unstimmigkeit in Stemmers Ethik. Was er an dieser Stelle über den Skeptiker sagt, ist nämlich unvereinbar mit der Definition des Skeptikers. Dieser war eingeführt worden als eine Person, die keine altruistischen Präferenzen und Ideale hat und die den moralischen Standpunkt noch nicht eingenommen hat (17f.). Wer den moralischen Standpunkt noch nicht eingenommen hat, der kann aber seine eigenen Handlungen wohl kaum moralisch aus der Perspektive der anderen beurteilen. Demnach könnte es zu dem von Stemmer hier beschriebenen inneren Zwiespalt beim moralischen Skeptiker gar nicht kommen. Wenn es also – entgegen meiner Vermutung – tatsächlich Menschen geben sollte, die unter Stemmers Begriff des moralischen Skeptiker fielen, dann könnten diese laut Definition keine inneren moralischen Sanktionen kennen. Aufgrund dieser Unstimmigkeit in Stemmers Annahmen muss das Ergebnis seiner Überlegung über den Skeptiker korrigiert werden. Es ist nicht so, dass die inneren Sanktionen beim Skeptiker „in ihrer Wirkung nicht sehr stark sind“ (175), sondern dass es sie bei ihm gar nicht gibt. Also wäre es für einen Skeptiker nicht irrational, im Verborgenen ein Unrecht zu begehen. Kehren wir aus der Welt der moralphilosophischen Fiktionen in die Wirklichkeit zurück! Haben die Personen, die keine moralischen Skeptiker sind, einen guten Grund, sich nach einem Unrechttun im Verborgenen Vorwürfe zu machen? Offenbar gilt dies nur für diejenigen, die sich mit der Moral identifizieren und die sich selbst anhand ihrer moralischen Ideale beurteilen.36 Eine moralische Erziehung dürften jedoch nahezu alle genossen haben (vgl. Kap. 1). Deshalb ist es plausibel, davon auszugehen, dass auch diejenigen, die nur ein instrumentelles Verhältnis zur Moral haben, gelegentlich unter einem schlechten Gewissen leiden mögen – wie schwach oder stark dieses auch ausgebildet sein mag. Es besteht also eine Spannung zwischen
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der Tatsache, dass Menschen gewöhnlich aufgrund ihrer Erziehung ein Gewissen haben, und der normativen Schlussfolgerung aus Stemmers Prämissen, dass nur wenige einen guten Grund dafür haben, sich inneren Sanktionen auszusetzen. Daraus lässt sich wiederum ableiten, dass die Personen, für deren Selbstverständnis Moralität keine konstitutive Rolle spielt, vernünftigerweise versuchen sollten, sich ihrer inneren Sanktionsinstanz zu entledigen. Ob und in welchem Ausmaß es möglich ist, die durch die Erziehung erworbene Anlage zum schlechten Gewissen auf kognitivem Wege zu beseitigen, ist natürlich schwer zu sagen. Es gibt m. E. aber zumindest einen Anhaltspunkt dafür, dass dies nicht grundsätzlich unmöglich ist. Die Erfahrungen der psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Praxis haben gezeigt, dass es möglich ist, Menschen, die z. B. unter übersteigertem Leistungsdruck oder Schuldgefühlen wegen ihrer sexuellen Neigungen leiden, dazu zu verhelfen, dass sie sich von dem entsprechenden seelischen Druck befreien. Daher ist zu vermuten, dass auch diejenigen, die Stemmers instrumentelles Verständnis der praktischen Vernunft teilen, sich aufgrund der Einsicht, dass es keinen guten Grund für ein schlechtes Gewissen gibt, von diesem befreien könnten. Dass sie dies zumindest versuchen sollten, dürften die bislang angestellten Überlegungen zur Genüge gezeigt haben. 11. Stemmer beurteilt die Plausibilität seiner Lösungsvorschläge für das Problem des Unrechttuns im Verborgenen, indem er sich am Maßstab des moralischen Skeptikers orientiert. Dieser neige zwar unwillkürlich dazu, seine Handlungen aus der Perspektive der anderen zu beurteilen; da er sich mit den entsprechenden Gefühlen und Urteilen jedoch nicht identifiziere, sei die Lösung mittels der Annahme innerer Sanktionen unbefriedigend. In einem neuen Anlauf versucht Stemmer, das Problem durch die Annahme der Disposition zum moralischen Handeln zu lösen. Solange man nur einzelne Handlungen in Bezug auf ihre Rationalität beurteile, könne der Nachweis, dass Unrechttun im Ver-
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borgenen irrational sei, wegen der aus ihm erwachsenden Vorteile nicht gelingen. Anders verhalte es sich, wenn man von der Ebene der einzelnen Handlungen zu derjenigen der Handlungsdispositionen übergehe. Wer die Disposition hat, „mehr oder weniger automatisch, ohne in jedem Einzelfall neu zu überlegen, moralisch zu handeln“, der „würde eine Handlung, immer wenn er sie als moralisch (bzw. unmoralisch) identifiziert, tun (bzw. unterlassen). Hätten die an der Moral Beteiligten diese Disposition, würden sie auch im Verborgenen moralisch handeln.“ (176f.) Auch in diesem Fall scheint die vorgeschlagene Lösung gut zu dem zu passen, was ohnehin passiert, denn: „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Er bildet automatisch solche Gewohnheiten und Dispositionen aus.“ (178) An dieser Stelle des Gedankengangs gelangt man daher zu einem ausgesprochen überraschenden Ergebnis. Nachdem Stemmer mit großem theoretischen Aufwand nachzuweisen versucht hat, dass und warum man moralisch handeln sollte, stellt sich nun heraus, dass die Menschen als „Gewohnheitstiere“ ohne jede theoretische Belehrung „automatisch“ die Disposition zum moralischen Handeln ausbilden. – Wenn dies tatsächlich so wäre, müsste man sich fragen, warum die V-Frage seit über zweitausend Jahren so ausführlich und kontrovers erörtert worden ist. Es wäre erfreulich, wenn die meisten von uns gar nicht anders könnten, als sich das moralische Handeln zu einer Gewohnheit zu machen. Die Wirklichkeit lehrt jedoch, dass es so einfach nicht ist. Da ähnliche Argumente wie das von Stemmer hier vorgebrachte bereits in den Kapiteln über Hobbes und Gauthier behandelt wurden, kann die Kritik an dieser Annahme hier knapp ausfallen. Wie schon bei den inneren Sanktionen verknüpft Stemmer auch im Zusammenhang der moralischen Dispositionen empirische mit normativen Annahmen. Seine empirische Voraussetzung lautet, dass Personen gewöhnlich Gewohnheiten ausbilden, die sie dazu disponieren, moralisch zu handeln, ohne im Einzelfall darüber nachzudenken, ob dies mit ihren Interessen vereinbar ist. Anders als im Fall des Gewissens erscheint diese Annahme nicht ohne weiteres plausibel. Offen-
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sichtlich handeln Menschen manchmal unmoralisch, und zwar nicht nur im Verborgenen. Folglich gibt es zumindest bei einigen keine starre Disposition zum moralischen Handeln. Der Verweis auf den Automatismus der Disponierung ist also unzutreffend. Stemmers zweiter Lösungsvorschlag könnte dennoch überzeugen, wenn sich zeigen ließe, dass es rational zwingend ist, die Disposition zur Moralität auszubilden. Das hieße, dass Personen zwar nicht unwillkürlich moralische Dispositionen ausbilden, dass sie es aber vernünftigerweise tun sollten. Wir haben es also – entgegen dem ersten Anschein – nicht mehr mit empirischen und normativen Problemen, sondern nur noch mit einer normativen Frage zu tun. Wenn man Stemmers Prämisse teilt, dass praktische Rationalität strikt instrumentell ist, dann hängt die Rationalität einer praktischen Entscheidung davon ab, ob sie dazu geeignet ist, langfristig die jeweils eigenen Interessen zu befördern. Für die Disposition, immer moralisch zu handeln, trifft das offenbar nicht zu, weil das Unrechttun im Verborgenen Vorteile mit sich bringt, ohne mit Nachteilen verbunden zu sein. Stemmer gesteht dies zu: Dies zu tun, hieße doch, nicht durchgängig situationsangemessen zu handeln, es hieße, in bestimmten Situationen suboptimal, sprich: gegen die eigenen Interessen zu handeln. Man handelt ja im Zuge der Disposition auch immer dann moralisch, wenn es im eigenen Interesse wäre, nicht zugunsten anderer zu handeln. [...] Warum sollte man dann eine Disposition wollen, die dieses Auseinanderfallen von Moral und Rationalität überspielt und gegen das, was vernünftig ist, dazu bringt, moralisch zu handeln? (Handeln, S. 179)
Auf diese berechtigte Nachfrage des Skeptikers gibt Stemmer die bereits bekannte Antwort, dass man sich „dadurch sehr viel Aufwand erspart“ (179). Die Vereinfachung der Entscheidungen ist also ein starkes Argument für die Ausbildung von Dispositionen. Da ich mich mit ähnlichen Argumenten bereits eingehend auseinandergesetzt habe, fasse ich die drei wesentlichen Einwände gegen Stemmers These kurz zusammen: (i) Die Forderung, starre Dispositionen auszubilden, ist grundsätzlich mit der
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vom Autor geteilten konsequentialistischen Auffassung unvereinbar, dass man Handlungen und Handlungsweisen vernünftigerweise im Hinblick auf ihre absehbaren Folgen wählen soll. Welche Folgen eine bestimmte Handlungsweise für den Akteur haben wird, hängt aber von den Umständen ab. Also sollte man die Umstände bei der Entscheidung für eine bestimmte Handlung berücksichtigen. Wer sich eine starre Disposition zulegt, begibt sich dieser Möglichkeit und verhält sich deshalb irrational. (ii) Die Alternative zwischen den beiden Möglichkeiten, entweder nur einzelne Handlungsentscheidungen zu treffen oder starre Dispositionen auszubilden, ist nicht erschöpfend. Der Mittelweg, auf dem man die Vorteile beider Extreme genießen und ihre Nachteile vermeiden kann, besteht darin, flexible Dispositionen auszubilden. Wer eine solche Disposition hat, der wird unter gewöhnlichen Bedingungen, ohne lange zu überlegen, jeweils die gleiche Handlungsweise vollziehen. Sobald aber außergewöhnliche Umstände eintreten, wird er sich fragen, ob es vernünftig ist, seiner Gewohnheit zu folgen, und ggf. nach einer besseren Möglichkeit Ausschau halten. (iii) Wie andere Autoren auch, überschätzt oder dramatisiert Stemmer den Aufwand, der mit dem Treffen einzelner Entscheidungen verbunden ist. Wer völlig unbemerkt eine Brieftasche findet, den wird es normalerweise nicht viel Mühe kosten, sich für deren Abgabe beim Fundbüro oder für den Diebstahl zu entscheiden. Ein Grübler wie Hamlet ist wohl eher die Ausnahme als die Regel. Auf diese und ähnliche Schwierigkeiten reagiert Stemmer, indem er eine weitere Überlegung anstellt. Die Lösung des Problems des Unrechttuns im Verborgenen ist bislang aufgrund zweier Tatsachen gescheitert. Erstens ist es nicht rational, starre Dispositionen auszubilden. Wer aber keine starre Disposition zum moralischen Handeln hat, der wird im Verborgenen seine Entscheidung von den zu erwartenden Folgen abhängig machen. Zweitens drohen im Verborgenen keine Sanktionen. Nun kann man zwar, wie sich aus der Voraussetzung ergibt, nicht einzelne Handlungen sanktionieren, wenn diese nicht entdeckt worden sind. Wohl aber kann man diejenigen bestrafen, die bereit sind,
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ihre eigenen Interessen auf Kosten anderer zu verfolgen, sobald sie sicher sein können, dass kein anderer davon erfährt. Also liegt der Gedanke nahe, dass die moralische Gemeinschaft gegen diejenigen, die dazu bereit sind, Sanktionen verhängt: Die an der Moral Beteiligten müssten vereinbaren, die Ausbildung der uneingeschränkten Disposition zur Moral dadurch zu einem „Muß“ zu machen, daß die Unterlassung sanktioniert wird. Sie müßten ein System von Sanktionen errichten, die unweigerlich den, der sich nicht uneingeschränkt dispositionell an die Moral bindet, treffen und die so hart sind, daß es für jeden rational zwingend ist, die Disposition auszubilden. Die Ausbildung der Disposition würde so zu einer moralischen Verpflichtung. Man wäre verpflichtet, nicht nur moralisch zu handeln, sondern moralisch zu sein. [...] Die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft werden die Personen sanktionieren, von denen sie erkennen, daß sie nicht zur Moral disponiert sind. (Handeln, S. 186f.)
Die Sanktionierung der bloßen Bereitschaft, unter Umständen unmoralisch zu handeln, ist nun tatsächlich wirksamer als die Sanktionierung einzelner unmoralischer Handlungen, aber eine völlig befriedigende Lösung stellt auch sie nicht dar. Wie die Erfahrung lehrt und wie bereits gegen Gauthier eingewandt wurde,37 sind die Handlungsdispositionen anderer nur in begrenztem Maße erkennbar. Die Fähigkeit, die eigenen langfristigen Absichten zu verbergen und sich sogar zu verstellen, bewirkt, dass andere nicht ohne weiteres imstande sind, die Dispositionen eines Akteurs zu erkennen (182f.). Damit soll nicht bestritten werden, dass es Menschen gibt, die für ihre Boshaftigkeit bekannt sind, und diese können natürlich von der moralischen Gemeinschaft bestraft werden. Ich behaupte nur, dass es auch Personen gibt, die keine Disposition, häufig oder immer unmoralisch zu handeln, erkennen lassen, und die dennoch im Einzelfall bereit sein werden, im Verborgenen Unrecht zu tun. Wenn aber die moralische Gemeinschaft nicht immer weiß oder sich nicht immer darüber sicher ist, welche ihrer Mitglieder bereit sind, unter günstigen Umständen unmoralisch zu handeln, dann weiß sie auch nicht in jedem Fall, wen sie mit Sanktionen belegen soll. Darum kann nicht ausgeschlossen werden, dass Einzelnen,
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die unter bestimmten Umständen unmoralisch handeln würden, keinerlei Sanktionen drohen. Und damit ist gezeigt, dass auch Stemmers letzter Vorschlag nicht vollständig zu überzeugen vermag. Wie er selbst eingesteht, ist es ihm nicht gelungen, nachzuweisen, dass Unrechttun im Verborgenen grundsätzlich irrational ist: „Klar ist [...], daß das moralische Müssen nicht in jeder Situation im Verborgenen stark genug ist, um effektiv zum Moralisch-Handeln zu nötigen.“ (190) 12. Ich fasse die wesentlichen Ergebnisse meiner Auseinandersetzung mit Stemmer zusammen. Es hat sich gezeigt, dass das von Stemmer vorgeschlagene System der moralischen Sanktionen aus verschiedenen Gründen nicht wirksam genug sein dürfte, um zu sichern, dass es rational zwingend ist, moralisch zu handeln. Dies ist vielmehr nur unter folgenden Bedingungen der Fall, die den Geltungsbereich der zentralen These Stemmers stark einschränken. Es ist nur dann rational zwingend, moralisch zu handeln, (i) wenn der Akteur es mit anderen zu tun hat, die in Bezug auf ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten sowie ihre soziale Stellung annähernd so stark wie er sind. (ii) wenn es überhaupt hinreichend wahrscheinlich ist, dass Sanktionen drohen. Dies ist nicht der Fall beim Unrechttun im Verborgenen, häufig auch nicht bei einzelnen Interaktionen mit Fremden oder im Falle großer sozialer Ungleichheit und bei starker sozialer Mobilität. (iii) wenn die Sanktionen wahrscheinlich den Nutzen, den das unmoralische Handeln einbringen wird, aufwiegen. Dies ist dann nicht gewährleistet, wenn der Akteur davon ausgehen kann, dass sich niemand für die Verhängung der Sanktion zuständig fühlt, dass keine Einigkeit über Art und Umfang der Sanktionen besteht oder wenn er den Sanktionen entgehen kann, indem er nicht mehr in den Kreisen der Geschädigten verkehrt. Alles in allem dürfte Stemmers Antwort auf die V-Frage daher nicht hinreichen, um die These zu widerlegen, dass es vernünftig sein kann, unmoralisch zu handeln. – Im Gegenteil:
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Wenn man mit Stemmer davon ausgeht, dass die praktische Vernunft im Dienst der Wünsche oder der basalen Interessen von Personen steht, dann spricht sogar vieles dafür, dass es unter bestimmten Umständen rational zwingend ist, unmoralisch zu handeln.
Zusammenfassung zu Teil I Der erste Teil dieser Untersuchung war der Auseinandersetzung mit dem Versöhnungsprojekt des Kontraktualismus gewidmet. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Versuche gescheitert sind, Vernunft und Moral durch den Nachweis zu versöhnen, dass es grundsätzlich, d. h. unter allen denkbaren Umständen vernünftig ist, moralisch zu handeln. Drei wesentliche Aspekte dieses Resultats sollen abschließend zusammengefasst und im Hinblick auf ihre Bedeutung beurteilt werden. (i) In Kapitel 1 wurde darauf hingewiesen, dass die Antwort auf die V-Frage entscheidend davon abhängt, welchen Begriff der praktischen Vernunft man zugrunde legt. Bei den hier behandelten Vertretern der Vertragstheorie sind uns zwei verschiedene Konzeptionen praktischer Rationalität begegnet. Hobbes geht von einem material durch grundlegende Güter und Übel bestimmten Begriff praktischer Vernunft aus. Diese hat die Aufgabe, für die Erhaltung des eigenen Lebens und für das eigene Wohl zu sorgen. Gauthier und Stemmer vertreten hingegen eine rein formalistische Konzeption der Rationalität: Vernünftigerweise sollte man bemüht sein, die Realisierung der eigenen Präferenzen bzw. der eigenen Wünsche zu maximieren. Wie diese Präferenzen und Wünsche inhaltlich beschaffen sind, bleibt dabei weitgehend offen. Alle drei Autoren stimmen aber darin überein, dass praktische Rationalität insofern egozentrisch ist, als das Kriterium der Rationalität jeweils das aus der Perspektive des Handelnden Wünschenswerte ist – und sonst nichts. Wenn man dies berücksichtigt, dann wird deutlich, dass die kontraktualistische Antwort auf die V-Frage nicht erschöpfend sein kann. Es ist eine nahe liegende Vermutung, dass der Grund für das Scheitern des kontraktualistischen Versöhnungsprojekts
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darin liegt, dass es auf einem einseitigen und unvollständigen Begriff praktischer Rationalität beruht. Möglicherweise lassen sich die Vernünftigkeit moralischen Handelns und die Unvernünftigkeit unmoralischen Handelns jedoch dann nachweisen, wenn man Typen praktischer Rationalität unterscheidet und praktische Vernunft nicht mehr ausschließlich egozentrisch konzipiert. Diese Vermutung wird in Teil II zu prüfen sein. (ii) Ein wichtiges Ergebnis der Analysen lautet, dass es sowohl von der Eigenart der Individuen als auch von den Umständen abhängt, ob es vernünftig ist, sich moralischen Beschränkungen zu unterwerfen. Hobbes hat bestenfalls gezeigt, dass man die natürlichen Gesetze dann befolgen sollte, wenn ein Verstoß gegen sie wahrscheinlich eine Bestrafung durch die staatlichen Organe nach sich ziehen würde. Aus Gauthiers Voraussetzungen ergibt sich äußerstenfalls die Schlussfolgerung, dass man dann moralisch handeln sollte, wenn dies höchstwahrscheinlich mit einem im Voraus hinreichend genau abschätzbaren Gewinn verbunden sein wird. Stemmers Argumentation belegt nur, dass man auf Verstöße gegen moralische Normen verzichten sollte, wenn mit schwerwiegenden Sanktionen der moralischen Gemeinschaft zu rechnen ist. Keiner der drei Autoren bietet überzeugende Lösungen für die beiden in Kapitel 1 erwähnten Probleme: das Problem des Unrechttuns im Verborgenen und das Problem der Ungleichheit der Handelnden. Man darf deshalb schlussfolgern, dass es nicht unter allen Umständen klug ist, moralisch zu handeln. Gregory Kavka, ein prominenter Anhänger des Versöhnungsprojekts, räumt dies ausdrücklich ein: „Jede einzelne Handlung, die aus Pflicht geschieht, mit der Klugheit versöhnen zu wollen, ist ein so aussichtsloses Unterfangen, daß die bedeutenderen Verfechter des Projekts darauf weitgehend verzichtet haben.“1 Ob es für den Einzelnen vernünftig ist, moralisch zu handeln, hängt u. a. davon ab, was für ein Mensch er ist und sein will, mit wem er es im Einzelfall zu tun hat und unter welchen sozialen Bedingungen er handelt. Wer von sich weiß, dass die Anlage zum schlechten Gewissen und zur Reue bei ihm nur schwach ausgebil-
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det ist, für den entfällt ein wichtiger Grund für moralisches Handeln, insbesondere dann, wenn er nicht mit äußeren Sanktionen rechnen muss. Ähnliches gilt für die Menschen, bei denen moralische Selbstachtung keinen wesentlichen Bestandteil des Ideals bildet, dem sie entsprechen wollen.2 Wer es mit schwächeren oder von ihm abhängigen Menschen zu tun hat, der setzt sich, wenn er sie verletzt, nicht der Gefahr aus, von ihnen verletzt zu werden. Daher trifft in diesem Fall das Argument der Notwendigkeit des wechselseitigen Freiheitsverzichts nicht zu. Wenn schließlich das Rechtssystem so beschaffen ist, dass es unmoralische Handlungen nicht im Rahmen seiner Möglichkeiten sanktioniert oder wenn es diese sogar fördert, dann entfällt ein weiterer Grund dafür, dass es klug ist, moralisch zu handeln. (iii) Das bemerkenswerteste Resultat der in Teil I durchgeführten Analysen ist die Feststellung, dass es – wenn man mit den Kontraktualisten einen egozentrisch bestimmten Begriff praktischer Vernunft zugrunde legt – unter Umständen sogar unvernünftig wäre, moralisch zu handeln. Dieses Ergebnis steht zwar im Gegensatz zu den Absichten der Autoren; es ist jedoch m. E. unvermeidlich. Zumindest mit Bezug auf bestimmte Fälle verkehrt sich die kontraktualistische Argumentation daher in ihr Gegenteil. Gezeigt werden sollte, dass es immer vernünftig ist, moralisch zu handeln. Aus der konsequenten Anwendung der Prämissen, von denen die behandelten Autoren ausgehen, ergibt sich jedoch, dass es manchmal geradezu unvernünftig wäre, Rücksicht auf andere zu nehmen. Dieses Ergebnis widerspricht der weit verbreiteten Überzeugung, dass moralische Handlungen, selbst wenn sie mit einem Opfer verbunden sind, vernünftig gerechtfertigt werden können. Warum diese Auffassung richtig und die Implikation des Kontraktualismus falsch ist, wird im Schlusskapitel dargelegt werden. Zuvor soll jedoch in Teil II geprüft werden, ob das Projekt des starken ethischen Rationalismus notwendigerweise zum Scheitern verurteilt ist oder ob sich seine These überzeugend verteidigen lässt, wenn man von einem anspruchsvolleren Begriff praktischer Vernunft als dem egozentrischen ausgeht.
Teil II: Möglichkeiten und Grenzen moralischer Rationalität „Aus einer angemessenen Darstellung der Moral darf man niemals folgern können, daß es unvernünftig ist, moralisch zu handeln; daß es Situationen gibt, in denen die Gründe für unmoralisches Handeln besser sind als die für moralisches Handeln. Die Gründe für moralisches Handeln müssen zumindest immer so gut sein wie die für unmoralisches Handeln; es müssen aber nicht immer die eindeutig besseren Gründe sein.“ Bernard Gert
Kapitel 5 Kant – Widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit als Kriterium der reinen praktischen Vernunft 1. Die Ethik und die Theorie der praktischen Vernunft sind in Kants Denken so eng miteinander verknüpft, dass es unmöglich ist, beide getrennt voneinander zu untersuchen. Der Titel eines seiner moralphilosophischen Hauptwerke weist auf diesen unauflösbaren Zusammenhang hin: Dass eine Schrift, die der Begründung der Moral gewidmet ist, den Titel Kritik der praktischen Vernunft trägt, ist ein klarer Beleg dafür, dass für Kant die Untersuchung der Möglichkeiten und Grenzen praktischer Vernunft eine zentrale Aufgabe der Ethik war. In Bezug auf die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, ist Kants Ethik von besonderem Interesse, weil Kant die bis heute wirkmächtige These vertrat, dass ein Verstoß gegen moralische Normen nicht ohne Selbstwiderspruch möglich ist.1 Diese Behauptung impliziert die bemerkenswerte These, dass sich die Irrationalität unmoralischer Handlungen ohne Rekurs auf die Interessen und Zwecke des Handelnden nachweisen lässt. Während die bisher behandelten Autoren behaupteten, dass es irrational sei, unmoralisch zu handeln, weil es im aufgeklärten Interesse jedes Einzelnen sei, die moralischen Regeln zu befolgen, will Kant den entsprechenden Nachweis führen, indem er nichts weiter als ein grundlegendes und allgemein anerkanntes Kriterium der Vernünftigkeit zugrunde legt: das Streben nach Widerspruchsfreiheit. Damit hat Kant einen Argumentationstyp entwickelt, der sich in der Diskussion über das Verhältnis zwischen Vernunft und
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Moral als sehr einflussreich erweisen sollte. Die in den folgenden Kapiteln zu behandelnden Theorien, die Diskursethik und Alan Gewirths Theorie, nehmen Kants Grundgedanken auf und entwickeln ihn weiter. Wie Kant vertreten sie die These, dass unmoralisches Handeln unvernünftig ist, weil es selbstwidersprüchlich ist. Worin der vorgebliche Widerspruch beim unmoralischen Handeln Kant zufolge besteht und ob seine These zu überzeugen vermag, soll im Folgenden geprüft werden. Dabei ist folgende methodologische Überlegung zu berücksichtigen. Mit Kants Ethik kann man sich auf zweierlei Weise auseinandersetzen: Entweder prüft man die einzelnen Formeln des kategorischen Imperativs unabhängig von ihrer Anwendung, oder man untersucht die Beispiele, die Kant diskutiert. Während die erste Vorgehensweise mit der Schwierigkeit verbunden ist, dass es kaum möglich sein dürfte, einen moralischen Grundsatz unabhängig von seiner Anwendung zu untersuchen, bringt das zweite Verfahren die Gefahr mit sich, dass man Kants Prinzip der Moral vorschnell und ohne zureichenden Grund verwirft, weil seine Beispiele nicht zu überzeugen vermögen.2 Wenn man sich hingegen für die Analyse der Beispiele entscheidet und zu dem Ergebnis gelangt, dass es Kant nicht gelungen ist, in seinen Beispielen die Selbstwidersprüchlichkeit bestimmter Handlungsweisen nachzuweisen, dann liegt die Beweislast bei Kant und seinen Anhängern, nicht bei seinen Kritikern. Man kann von den Kritikern einer These nicht erwarten, dass sie alle möglichen Anwendungsfälle des kategorischen Imperativs, von denen es prinzipiell unendlich viele gibt, untersuchen. Im Gegenteil: Die Kritiker können sich darauf beschränken, wenige Beispiele zu diskutieren. Wenn sich in Bezug auf mindestens eine Handlungsweise, die als unmoralisch gilt, zeigen lässt, dass sie ohne Selbstwiderspruch möglich ist, dann darf Kants starke rationalistische These, dass alle unmoralischen Handlungen selbstwidersprüchlich sind, grundsätzlich als widerlegt gelten. Dies schließt freilich nicht aus, dass andere einzelne Handlungsweisen tatsächlich mit einem Selbstwiderspruch verbunden sind. In diesem Fall könnte Kants These in der abgeschwächten Form aufrecht-
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erhalten werden, dass es zwar nicht immer, aber in einigen Fällen unvernünftig ist, gegen moralische Normen zu verstoßen (vgl. Kap. 1). Ich werde mich im Folgenden auf das Beispiel des unaufrichtigen Versprechens mit dem Zweck, sich Geld zu borgen, konzentrieren und andere Beispiele nur gelegentlich in die Diskussion einbeziehen. Dies erscheint mir deshalb angemessen, weil es in Bezug auf diese Handlungsweise – im Gegensatz zur Selbsttötung, zur Selbstbefriedigung oder zur Vernachlässigung der eigenen Talente, die nach Kant moralisch untersagt sind3 – auch heute noch weitgehend unkontrovers ist, dass es sich bei ihr prima facie um einen Verstoß gegen eine moralische Regel handelt. Am Ende dieses Kapitels werde ich dann unabhängig von Beispielen dafür argumentieren, dass Kants Versuch, die Unvernünftigkeit unmoralischer Handlungen nachzuweisen, gescheitert ist. – Bevor ich mich Kants Argumenten für die Selbstwidersprüchlichkeit unmoralischer Handlungen zuwende, müssen die grundlegenden Voraussetzungen, Begriffe und Argumente seiner Moralphilosophie kurz in Erinnerung gerufen werden.4 2. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gelangt Kant zu den Prämissen seiner Ethik, indem er die Begriffe des uneingeschränkt guten Willens und der Pflicht analysiert.5 Ob das von ihm zugrunde gelegte Verständnis dieser Begriffe angefochten werden könnte, soll hier nicht diskutiert werden, weil ich mich so weit wie möglich auf die immanente Kritik seiner Thesen beschränken möchte. Die erste wichtige Voraussetzung der Ethik Kants lautet, dass allen einzelnen moralischen Normen ein einziges Prinzip zugrunde liegen muss. Dieses Prinzip aufzufinden, zu explizieren und gegen mögliche Einwände zu verteidigen ist die Aufgabe der Grundlegung.6 Eine weitere, äußerst folgenreiche Prämisse der Ethik Kants besagt, dass praktische Normen nur dann zu Recht als moralische Gebote bezeichnet werden dürfen, wenn sie sowohl in Bezug auf die moralischen Subjekte als auch in Bezug auf ihre Befolgung ausnahmslos gelten. Kant bringt dies zum Ausdruck, indem er von der „un-
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bedingten“ Geltung des Prinzips der Moral spricht. Hinsichtlich der moralischen Subjekte sind moralische Gebote unbedingt, weil sie für alle denkbaren vernünftigen Wesen, d. h. nicht nur für Menschen gelten;7 hinsichtlich ihrer Befolgung sind sie unbedingt, weil sie ausnahmslos gelten.8 Zwar hat Kant diese beiden Arten der Unbedingtheit nicht deutlich voneinander abgegrenzt,9 sie sind jedoch offensichtlich sachlich voneinander unabhängig, weil die folgenden beiden moralphilosophischen Positionen widerspruchsfrei sind: Es ist erstens denkbar, dass moralische Normen als ausnahmslose Regeln nur für Menschen gelten. In diesem Fall wären die Normen zwar in Bezug auf ihre Befolgung, nicht aber hinsichtlich der moralischen Subjekte unbedingt gültig. Zweitens besteht die Möglichkeit, dass moralische Normen zwar für alle vernünftigen Wesen gelten, dass sie aber Ausnahmen zulassen. In diesem Fall wäre ihre Geltung zwar in Bezug auf die moralischen Subjekte, nicht aber hinsichtlich ihrer Befolgung unbedingt. Deshalb müssen die beiden Arten der Unbedingtheit unterschieden werden. Trifft man diese Unterscheidung, dann lässt sich die Voraussetzung der Unbedingtheit in zwei Prämissen differenzieren. – Schließlich setzt Kant voraus, dass das Prinzip der Moral nicht nur wirklich, sondern notwendigerweise gelten muss.10 Insgesamt geht Kant also von vier Voraussetzungen aus: (i) Die Menge aller moralischen Normen beruht auf einem einzigen Prinzip. (ii) Dieses Prinzip muss für alle denkbaren vernünftigen Wesen gelten. (iii) Sowohl der Grundsatz der Moral als auch die einzelnen moralischen Normen gelten unter allen denkbaren Umständen, d. h. ausnahmslos. (iv) Das Prinzip der Moral muss nicht nur wirklich, sondern notwendigerweise gelten. Aus diesen vier Voraussetzungen lassen sich Schlussfolgerungen ziehen, durch welche die Menge möglicher Kandidaten für das Prinzip der Moral stark eingeschränkt wird. Aus der geforderten Ausnahmslosigkeit folgt, dass es sich bei dem Prinzip der Moral um ein Gesetz handeln muss. Regeln, die nur prima facie gelten, scheiden von vornherein als Kandidaten für das Prinzip der Moral aus. Aus der Unbedingtheit in Bezug auf die morali-
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schen Subjekte ergibt sich, dass das Prinzip der Moral nicht auf spezifisch menschlichen Eigenschaften beruhen kann. Deshalb werden alle anthropologischen Annahmen, die über die Zuschreibung der Vernünftigkeit, bei der es sich nach Kant nicht um eine nur dem Menschen eigene Fähigkeit handelt, hinausgehen, aus der Begründung der Ethik ausgeschlossen.11 (Wenn man das derart begründete Prinzip der Moral auf den Menschen anwenden will, muss man aber selbstverständlich von Kenntnissen über die Natur des Menschen ausgehen.12) Ferner ist es gemäß Voraussetzung (iv) unzulässig, in der Begründung der Moral auf Sachverhalte zu verweisen, die zwar wirklich, aber nicht notwendigerweise bestehen. Es ist leicht abzusehen, wie man von diesen Anforderungen an das Prinzip der Moral auf dessen Beschaffenheit schließen kann. Wie bereits festgestellt wurde, muss es sich bei ihm um ein Gesetz handeln, genauer gesagt, um ein präskriptives Gesetz, welches das Handeln vernünftiger Subjekte regulieren soll. Handlungen sind Kant zufolge zweckgerichtet. Demnach müssen praktische Gesetze das Verfolgen bestimmter Zwecke ge- oder verbieten. Weil aber nach Kant alle materialen Zwecke kontingent sind, erfüllen sie nicht das Kriterium der notwendigen Geltung. Folgt man Kant, dann lassen sich alle materialen Zwecke in zwei Klassen einteilen: in mögliche und wirkliche Zwecke.13 Auf die Zwecke, die ein Akteur haben könnte, von denen aber nicht feststeht, ob er sie tatsächlich hat, beziehen sich die problematischen Imperative.14 Sie haben die Form: „Wenn du den Zweck X willst, dann sollst du die zur Erreichung von X nötigen Mittel Y1, ..., Yn ergreifen.“ Als praktisches Prinzip15 formuliert, besagt diese Forderung: „Falls jemand einen bestimmten Zweck hat, ist es ihm vernünftigerweise geboten, die zum Erreichen dieses Zwecks nötigen Mittel zu wählen.“ Legt man hingegen nicht bloß mögliche, sondern wirkliche Zwecke zugrunde, dann lassen sich diesen entsprechende assertorische Imperative formulieren.16 Sie haben die Form: „Weil du den Zweck X willst, sollst du die zum Erreichen von X nötigen Mittel ergreifen.“ Auch diesen Imperativen entsprechen praktische Prinzipien. Sie haben die
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Form: „Weil bestimmte Akteure diesen oder jenen Zweck haben, ist es ihnen vernünftigerweise geboten, die zum Erreichen dieses Zwecks nötigen Mittel zu ergreifen.“ Was uns Menschen betrifft, so liegt es nahe, als wirklichen Zweck, den man allen unterstellen kann, die eigene Glückseligkeit anzusehen, die sich Kant zufolge jedermann von Natur aus wünscht.17 Da Kant aber die Auffassung vertrat, „daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle“18, hielt er es für unmöglich, assertorische Imperative oder assertorische praktische Grundsätze aufzustellen. Der Begriff des assertorischen Imperativs ist demnach leer.19 Aber selbst wenn es assertorische praktische Regeln gäbe, kämen diese nicht als Kandidaten für das Prinzip der Moral in Betracht, weil sie auf die kontingente Konstitution des Menschen bezogen und somit selbst kontingent wären.20 Das Prinzip der Moral muss aber, wie bereits herausgestellt wurde, nach Kant nicht nur wirklich, sondern notwendigerweise gelten. Also scheiden sowohl die problematischen als auch die assertorischen Imperative, die Kant unter dem Begriff der hypothetischen Imperative zusammenfasst, aus der Begründung der Moral aus. Das Gleiche gilt für die entsprechenden hypothetischen praktischen Regeln. Um Kants Begründung der Moral zu vervollständigen, braucht man nun nur noch zwei der bisher erreichten Ergebnisse miteinander zu verknüpfen: Einerseits kann das Prinzip der Moral laut Voraussetzung nur ein notwendigerweise gültiges praktisches Gesetz sein, andererseits sind alle auf materiale Zwecke bezogenen praktischen Regeln kontingent. Demnach kann das Prinzip der Moral keine materialen Verbote oder Gebote enthalten; stattdessen kann es nur die Form der Gesetzmäßigkeit selbst als Kriterium moralischer Handlungen beinhalten. So schreibt Kant: „Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum
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Prinzip dienen soll, [...].“21 Das Prinzip der Moral besagt also, dass der Wille (als handlungswirksame Absicht) jederzeit für eine allgemeine Gesetzgebung tauglich sein soll. Diesen Grundsatz bezeichnet Kant wahlweise als Sittengesetz oder als moralisches Gesetz. Um zu verstehen, wie dieses als moralisches Kriterium angewendet werden kann, muss man einen weiteren wichtigen Begriff heranziehen: den Begriff der Maxime. 3. Kant geht davon aus, dass moralische Akteure zwar nicht immer oder auch nur in der Regel nach Grundsätzen handeln, dass sie sich aber in ihrem Handeln zumindest von praktischen Grundsätzen leiten lassen können.22 Diese Grundsätze nennt er Maximen. In der Forschung herrscht keine Einigkeit darüber, wie diese Regeln zu charakterisieren sind und ob es möglicherweise verschiedene Arten von Maximen gibt.23 In diesen Streit will ich hier nicht direkt eingreifen. Stattdessen werde ich mich auf den handlungstheoretischen Begriff der Maxime beschränken und diesen analysieren, indem ich Kants eigenen Ausführungen folge. Auf andere, abweichende oder übereinstimmende Interpretationen werde ich dabei nur beiläufig eingehen. Die Konzentration auf den handlungstheoretischen Begriff der Maxime wird dadurch gerechtfertigt, dass Kant diese Art von Grundsätzen anführt, wenn es gilt, die Verallgemeinerungsfähigkeit einer Maxime zu prüfen. Es ist übrigens ausgesprochen wichtig, zu einem angemessenen Verständnis des Begriffs „Maxime“ zu gelangen, weil die Deutung der Gesetzes- und der Naturgesetz-Formel des kategorischen Imperativs davon abhängt, was man unter einer Maxime versteht. Wie sich später zeigen wird, schreiben einige Interpreten dem Begriff eine Bedeutung zu, die nicht mit Kants Gebrauch vereinbar ist; deshalb gelangen sie zu verfehlten Auffassungen davon, wie der kategorische Imperativ anzuwenden ist. In Kants Schriften finden sich zwei Anhaltspunkte für das Verständnis des Begriffs „Maxime“: die Definitionen dieses Begriffs und die Beispiele, die Kant diskutiert. In der Grundlegung hat Kant den Begriff zweimal, jeweils in einer Fußnote, definiert:
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Beide Definitionen stimmen darin überein, dass Maximen als subjektive, d. h. personenrelative Grundsätze dem praktischen Gesetz als dem objektiven praktischen Grundsatz, der für alle Personen gilt, gegenübergestellt werden. Auffällig ist allerdings auch, dass sich die Definitionen in einer Hinsicht unterscheiden: Eine Maxime wird im ersten Fall als subjektives Prinzip des Wollens, im zweiten hingegen als subjektives Prinzip des Handelns bestimmt. Diese Unstimmigkeit lässt sich jedoch leicht auflösen, wenn man Maximen als handlungsbezogene Grundsätze begreift. Im Unterschied zum bloßen Wunsch ist ein Wille nach Kant immer auf eine Handlung oder zumindest einen Versuch zu handeln bezogen.24 Andererseits lässt sich der Begriff der Handlung nicht unabhängig von den Begriffen des Zwecks und des Willens begreifen. Somit bilden „Wille“ bzw. „Wollen“ und „Handeln“ eine untrennbare Einheit. Der Unterschied zwischen den beiden Definitionen ist daher sachlich unerheblich; in den beiden Fällen wird nur jeweils ein anderer Aspekt der Einheit von Wollen und Handeln hervorgehoben. Maximen sind also personenrelative Handlungsgrundsätze. Welche Struktur sie aufweisen, lässt sich anhand einiger Beispiele verdeutlichen, die Kant in der Grundlegung diskutiert. Kant führt dort u. a. folgende Maximen an: [...] ich mache es mir aus Selbstliebe zum Princip, wenn das bloße Leben bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen. (GMS, 4, 422)
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[...] wenn ich mich in Geldnoth zu sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen. (Ebd.) [...] mag doch ein jeder so glücklich sein, als es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, ich werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden; nur zu seinem Wohlbefinden oder seinem Beistande in der Noth habe ich nicht Lust etwas beizutragen. (GMS, 4, 423)
Die ersten beiden Beispiele weisen eine dreigliedrige Struktur auf: Wenn bestimmte Umstände (U) eintreten, will ich eine bestimmte Handlung (H) vollziehen, um ein bestimmtes Ziel (Z) zu erreichen. Zwar werden nicht in beiden Fällen alle drei Elemente vollständig angegeben, sie lassen sich jedoch anhand der elliptischen Formulierungen so vervollständigen, dass man zwei explizit dreigliedrige Handlungsgrundsätze erhält: (i) Wenn von meinem zukünftigen Leben mehr Übel als Annehmlichkeiten zu erwarten sind (U), will ich mich töten (H), um mich vor diesen Übeln zu bewahren (Z). (ii) Wenn ich in Geldnot bin (U), will ich mir gegen ein unwahrhaftiges Versprechen Geld borgen (H), um mich aus meiner finanziellen Not zu befreien (Z). Auch das dritte Beispiel lässt sich auf plausible Weise als dreigliedriger Handlungsgrundsatz explizieren: (iii) Wenn ich Menschen begegne, die in Not sind und deshalb Hilfe benötigen (U), will ich ihnen nicht helfen (H), um mich vor Verlusten zu bewahren (Z). Ich werde daher im Folgenden im Anschluss an Thomas Pogge und Jens Timmermann davon ausgehen, dass Maximen implizit oder explizit dreigliedrige Handlungsgrundsätze mit folgender Struktur sind: „Immer wenn U eintritt und ich Z will, werde ich H tun.“25 Diese Deutung hat verschiedene Implikationen. Erstens können Absichtssätze, die nicht bedingt sind, keine Maximen sein. So sind beispielsweise ‚Ich will Sklave werden‘ und ‚Ich will andere zwingen‘, die von Onora O’Neill als Beispiele für Maximen angeführt werden,26 keine Maximen, sondern bloße Absichten, weil in ihnen sowohl der Bezug auf einen bestimmten Situationstyp als auch der Verweis auf den Zweck des Handelnden fehlen.
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Zweitens ist davon auszugehen, dass der Akteur seine Maximen kennt, weil sie Grundsätze sind, die er sich selbst gegeben hat27: „Maxime [...] ist das subjective Princip zu handeln, was sich das Subject selbst zur Regel macht (wie es nämlich handeln will).“ 28 Wenn man annähme, dass dem Handelnden seine Maximen unbekannt sein könnten, wäre auch kaum einzusehen, wie sie nicht nur bloße Gewohnheiten, sondern Grundsätze seines Handelns sein können. Dem Handelnden müssen die Umstände, seine Ziele und seine Handlungsoptionen hinreichend bekannt sein, damit er sie miteinander in einer Maxime verknüpfen kann. Deshalb ist m. E. die Interpretation verfehlt, die Maximen als möglicherweise unbewusste oder dem Akteur unbekannte Strukturen des Handelns auffasst, die vom Handelnden unter Umständen erst durch Reflexion auf sein Verhalten erschlossen werden müssen.29 Die Tatsache, dass Kant häufig auf die Undurchsichtigkeit der eigenen Motive hinweist,30 spricht nicht gegen meine Deutung, weil die Möglichkeit, sich über die eigenen Absichten zu täuschen, offensichtlich nur das als Motiv für die Handlungsweise wirksame Ziel betrifft. Beispielsweise kann jemand, der meint, nach der Maxime ‚Immer wenn ich einem Bettler begegne (U), will ich ihm ein Almosen geben (H), um seine Not zu lindern (Z)‘, tatsächlich die Absicht verfolgen, ein gutes Gewissen zu haben. Er kann sich jedoch nicht darüber täuschen, was ein Bettler ist oder dass er diesem Geld geben will. (In diesem Fall käme die Handlung gar nicht zustande.) Drittens folgt aus der Tatsache, dass es sich bei Maximen um konditionale, genauer gesagt: zweifach bedingte Absichtssätze handelt, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Umstände oder das Ziel, auf die eine Maxime Bezug nimmt, niemals vorliegen. Dies gilt z. B. für die oben zitierte Maxime des von Kant so genannten „Selbstmörders“. Auch ein Mensch, dem es zeit seines Lebens gut geht, kann diese Maxime annehmen. In diesem Fall wird sein praktischer Grundsatz niemals handlungswirksam. Außerdem ist es möglich, dass die Handlung, auf welche sich die Maxime bezieht, nur ein einziges Mal vollzogen werden kann. Dies gilt wiederum für die Maxime des Suiziden-
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ten, nach der jeder offensichtlich nur einmal handeln kann, aber auch für andere Grundsätze, wie z. B. den, die sportliche Laufbahn zu beenden, wenn man nicht mehr der Beste in seiner Disziplin ist, oder denjenigen, keine Bücher mehr zu schreiben, sobald man sich darüber im Klaren ist, dass man nichts Neues mehr zu sagen hat. Die zuletzt angeführten Beispiele sprechen gegen die Vermutung, dass Maximen in jedem Fall „viele verschiedene Handlungen, die in den mannigfachen Situationen das Prinzip, das sie ausdrückt, auf verschiedene Art ausführen“,31 umfassen. Maximen sind nach der hier gegebenen Deutung nicht notwendigerweise auf mehrere wirkliche, ja nicht einmal auf mehrere mögliche Handlungen bezogen. Es kann sein, dass eine Maxime niemals zur Anwendung kommt oder dass sie nur ein einziges Mal angewandt werden kann. Ob es angesichts dieser Sachlage angemessen ist, Maximen als „Lebensregeln“32 zu bezeichnen, mag offen bleiben. Für das Verständnis der kantischen Antwort auf die V-Frage sind Maximen deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie das Bindeglied zwischen den einzelnen Absichten und Handlungen der moralischen Subjekte und dem Sittengesetz bzw. dem kategorischen Imperativ darstellen.33 Mit gewissen Einschränkungen, auf die ich im folgenden Abschnitt zurückkommen werde, lässt sich Kants Moralphilosophie treffend als eine MaximenEthik charakterisieren.34 Der Gegenstand moralischer Überlegung und Beurteilung sind Kant zufolge weder einzelne Handlungen noch einzelne, nicht-konditionale Absichten, wie etwa ‚Ich will mich töten‘ oder ‚Ich will lügen‘, sondern Maximen. Kant hat diesen Gedanken in einer Überschrift selbst prägnant zum Ausdruck gebracht: „Die Ethik gibt nicht Gesetze für die Handlungen (denn das thut das Ius), sondern nur für die Maximen der Handlungen.“35 – Auch Kants These, dass unmoralisches Handeln unvernünftig, weil selbstwidersprüchlich ist, wird nur verständlich, wenn man sie auf probeweise verallgemeinerte Maximen bezieht. Wie dieser Test auf widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit im Einzelnen vonstatten geht, soll nach einem Exkurs zur Zweck-Formel des kategorischen Imperativs analysiert werden.
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4. Kant unterscheidet terminologisch zwischen dem Sittengesetz und dem kategorischen Imperativ. Das Sittengesetz ist das Prinzip der Moral, das für alle wirklichen und denkbaren vernünftigen Wesen gilt, also für Menschen, Gott, Engel und mögliche Außerirdische. Für Wesen, deren Maximen dem Sittengesetz nicht notwendigerweise gemäß sind, weil diese Wesen zugleich vernünftig und sinnlich sind, wird die Forderung der Angemessenheit der Maximen an das moralische Gesetz durch den kategorischen Imperativ ausgedrückt.36 Für Gott hingegen gilt kein Imperativ, denn sein Wille stimmt Kant zufolge notwendigerweise mit dem Sittengesetz überein. Das Gleiche würde für ein endliches Wesen gelten, das einen „heiligen Willen“ hätte.37 – Allerdings hält Kant nicht konsequent an dieser terminologischen Unterscheidung fest. Häufig verwendet er die Begriffe „Sittengesetz“ und „kategorischer Imperativ“ als Synonyme, beispielsweise im Dritten Abschnitt der Grundlegung. Im Zusammenhang der V-Frage kann der Unterschied zwischen Sittengesetz und kategorischem Imperativ, der in anderen Kontexten zweifellos von Bedeutung ist, vernachlässigt werden. Kant hat bekanntlich verschiedene Formeln und Unterformeln des kategorischen Imperativs aufgestellt, deren genaue Zahl und Klassifizierung in der Forschung umstritten sind.38 Die beiden bekanntesten und zugleich einflussreichsten Varianten sind die Formel des Allgemeinen Gesetzes und die sogenannte Zweck-Formel, die auch als „Formel der Menschheit“ oder als „Formel der Menschheit als Zweck an sich selbst“ bezeichnet wird. Die Herleitung der Gesetzes-Formel entspricht derjenigen des Sittengesetzes, die bereits dargestellt wurde. Ausgehend von den schon erwähnten Charakteristika des Prinzips der Moral – Unbedingtheit bezüglich der moralischen Subjekte und der Befolgung sowie notwendige Geltung –, gelangt Kant durch Abstraktion von allen materialen Inhalten eines Imperativs zu dem formalen Gebot der Gesetzestauglichkeit bzw. der Verallgemeinerbarkeit aller Maximen: Wenn ich mir einen hypothetischen Imperativ überhaupt denke, so weiß ich nicht zum voraus, was er enthalten werde: bis mir die Bedingung
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gegeben ist. Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte. Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Nothwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein der Imperativ als nothwendig vorstellt. Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. (GMS, 4, 420f.)
Die Gesetzes-Formel ist also wie ihre Unterformel, die Naturgesetz-Formel,39 auf Maximen bezogen. Wie bereits bemerkt, ist es aus diesem Grund angemessen, Kants Moralphilosophie als eine Maximen-Ethik zu charakterisieren. Allerdings habe ich auch darauf hingewiesen, dass diese Charakterisierung nur mit Einschränkungen gültig ist. Diese Einschränkungen betreffen erstens die Zweck-Formel des kategorischen Imperativs und zweitens die Gebote und Verbote in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten. In Bezug auf die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, ist nur die Zweck-Formel relevant; auf die Tugendlehre muss daher hier nicht eingegangen werden.40 Die Zweck-Formel unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht von der Gesetzes-Formel: erstens hinsichtlich ihres Beurteilungsgegenstands und zweitens in Bezug auf ihre Herleitung. Ein Blick auf die Formel zeigt, dass sie – im Gegensatz zur Gesetzes-Formel – statt auf Maximen unmittelbar auf Handlungen Bezug nimmt: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“41 Für die Anwendung der Zweck-Formel müssen daher keine Maximen vorausgesetzt werden.42 Stattdessen können einzelne Handlungen darauf hin geprüft werden, ob sie mit dem Prinzip der Moral übereinstimmen oder nicht. Allerdings ist die Deutung und somit auch die Anwendung der Formel mit gewissen Schwierigkeiten verbunden. Wenn man verstehen will, was es mit dieser Formel
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auf sich hat, muss geklärt werden, was der Begriff „Menschheit in der Person“ bedeutet und was es heißt, jemanden nicht nur als Mittel zu behandeln. Auffällig ist zunächst, dass die Formel nicht verbietet, Menschen oder Personen nur als Mittel zu behandeln, sondern dass in ihr von der „Menschheit in der Person“ die Rede ist. Dies ist umso verblüffender, als ja der kategorische Imperativ, wie früher dargelegt, nicht nur für Menschen, sondern für alle möglichen sinnlich-vernünftigen Wesen gelten soll. Es wäre aber offensichtlich begrifflich unangemessen, den Begriff der Menschheit in der Person auf andere biologische Arten vernünftiger Wesen anzuwenden. Diese Schwierigkeit lässt sich verhältnismäßig leicht dadurch auflösen, dass man den Begriff der Menschheit durch den der reinen praktischen Vernunft ersetzt. Dies ist statthaft, weil nach Kant „Autonomie [...] der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“43 ist. „Autonomie“ bedeutet aber – zumindest in Bezug auf eine der Verwendungsweisen dieses Begriffs – nichts anderes als „reine praktische Vernünftigkeit“44, weil reine Vernunft, die auf keine materialen Zwecke Bezug nimmt, nur praktisch werden kann, indem sie sich selbst das formale Gesetz der Gesetzestauglichkeit aller Maximen auferlegt. Diese Selbstgesetzgebung ist aber nichts anderes als Autonomie. Demnach verbietet die Zweck-Formel, die reine praktische Vernunft in sinnlich-vernünftigen Wesen nur als Mittel zu gebrauchen. Anders ausgedrückt, verdienen vernünftige Wesen insofern und nur insofern Respekt, als sie über reine praktische Vernunft verfügen und deshalb Teil an der allgemeinen moralischen Gesetzgebung haben, d. h. sofern sie autonom sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Begriff „Menschheit in der Person“ in der Zweck-Formel im Sinne von „reiner praktischer Vernunft“ bzw. „Autonomie“ verstanden werden muss. Wenden wir uns dem zweiten interpretationsbedürftigen Ausdruck in der Zweck-Formel zu: Was heißt es, jemanden „nicht nur als Mittel“ zu behandeln? In der Erläuterung der Anwendung der Zweck-Formel auf die bekannten vier Beispiele
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gibt Kant in der Grundlegung zwei wichtige Hinweise darauf, wie diese Formulierung zu verstehen ist. Er sagt dort über denjenigen, der ein „lügenhaftes Versprechen“ abgibt, daß er sich eines andern Menschen bloß als Mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich enthalte. Denn der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten. (GMS, 4, 429f. – fette Hervorh. v. mir)
Über den Hartherzigen, der notleidenden Menschen Hilfe verweigert, heißt es: Nun würde zwar die Menschheit bestehen können, wenn niemand zu des andern Glückseligkeit was beitrüge, dabei aber ihr nichts vorsätzlich entzöge; allein es ist dieses doch nur eine negative und nicht positive Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst, wenn jedermann auch nicht die Zwecke anderer, so viel an ihm ist, zu befördern trachtete. Denn das Subject, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung thun soll, auch, so viel möglich, meine Zwecke sein. (GMS, 4, 430 – fette Hervorh. V. mir)
Die Zweck-Formel fordert also, andere so zu behandeln, dass sie mit der Art und Weise der Behandlung einverstanden sein können, und sich ihre Zwecke soweit wie möglich zu Eigen zu machen. Nun kann Kant damit aber offensichtlich nicht gemeint haben, dass man sich beliebige Zwecke anderer zu Eigen machen solle. Hätte er dies gemeint, dann würde das zu einem Widerspruch in seiner Ethik führen, weil es dann gemäß der ZweckFormel moralisch geboten wäre, den Lügner, den Suizidenten, den wohlhabenden Nichtsnutz und den Hartherzigen nach allen Kräften zu unterstützen, obwohl deren Handlungsweisen nach der Gesetzes-Formel moralisch verboten sind. Es lässt sich auch unabhängig von den einzelnen moralischen Urteilen, die sich in Kants Schriften finden, zeigen, dass die Deutung, der zufolge die Zweck-Formel fordert, dass man das Vermögen der Zwecksetzung als solches respektieren solle, verfehlt ist. Es dürfte unstrittig sein, dass Kant folgende Aussagen für richtig hielt:
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(i) Nicht alle Zwecke sind moralisch erlaubt, d. h. eine Person kann unmoralische Zwecke haben; also darf man sich nicht alle möglichen Zwecke anderer zu Eigen machen. Wäre die hier kritisierte Deutung richtig, dann hätte Kant in der Zweck-Formel außerdem folgende These vertreten: (ii) Man soll sich die Zwecke anderer, was immer diese auch zum Inhalt haben mögen, zu Eigen machen. Da zwischen (i) und (ii) ein Widerspruch besteht, kann die Auffassung, dass die Zweck-Formel Respekt vor beliebigen Zwecken gebietet, nicht richtig sein. Außerdem ist die Interpretation, der zufolge man moralisch gehalten ist, irgendwelche Zwecke anderer zu befördern, unvereinbar mit Kants Rechtsphilosophie. „Das Recht“, so heißt es in der Rechtslehre, „ist mit der Befugniß zu zwingen verbunden.“45 Das Recht widerspräche aber der Moral, wenn diese es verbieten würde, beliebige Zwecke anderer zu vereiteln. Es wäre ein geradezu absurdes Missverständnis, wenn man annähme, dass Kant zufolge Verbrecher, sofern sie nur als Verbrecher betrachtet werden, Respekt verdienten oder dass man moralisch verpflichtet sei, einen notorischen Betrüger bei der Verfolgung seiner eigennützigen Ziele zu verfolgen. – Also muss die Menge der Zwecke anderer, die man sich zu Eigen machen soll, durch ein Kriterium eingeschränkt werden. Da es in der Zweck-Formel heißt, dass man die „Menschheit in der Person“ niemals nur als Mittel gebrauchen dürfe und diese nichts anderes als das intelligible Ich als autonomes Subjekt ist, kommt dafür m. E. nur die Gesetzestauglichkeit der Maximen in Frage. Die einzige plausible Deutung der ZweckFormel besagt daher meiner Meinung nach, dass man sich nur die Zwecke anderer zu Eigen machen soll, die mit der formalen Forderung der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit vereinbar sind. Ob sie es sind, kann allerdings nur mittels der GesetzesFormel des kategorischen Imperativs entschieden werden. Deshalb setzen sowohl das Verständnis als auch die Anwendung der Zweck-Formel die Formel des Allgemeinen Gesetzes voraus.46 Somit erweist sich die Zweck-Formel nach der hier vorgeschlagenen Lesart als eine unselbständige Formel des kategorischen
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Imperativs. Sie gibt selbst kein eigenständiges moralisches Kriterium an die Hand, sondern verweist auf die Gesetzes-Formel. Damit sind wir zu einem in Bezug auf die V-Frage ausgesprochen wichtigen Ergebnis gelangt. Da sich die Zweck-Formel als eine unselbständige Variante des kategorischen Imperativs erwiesen hat, kann sie im Zusammenhang mit der Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, vernachlässigt werden. Es genügt, sich mit der Gesetzes-Formel zu beschäftigen. 5. Die hier vertretene These, dass die Zweck-Formel von keiner unmittelbaren Relevanz für die V-Frage ist, kann durch eine weitere Überlegung gestützt werden. Ich habe am Beginn des vorigen Abschnitts darauf hingewiesen, dass sich die Gesetzesund die Zweck-Formel in zwei Hinsichten unterscheiden. Bislang ist nur ein Aspekt behandelt worden: ihr Beurteilungsgegenstand und ihr Inhalt. Die Zweck-Formel wird von Kant jedoch auch auf eine andere Weise hergeleitet als die Gesetzes-Formel. Kurz gesagt, beruht ihre Herleitung auf der axiologischen Voraussetzung, dass dem moralischen Gesetz und allen Wesen, sofern sie an dieser Gesetzgebung teilhaben, ein absoluter Wert zukommt. Die Zweck-Formel besagt, dass sinnlich-vernünftige Wesen, sofern sie nur als intelligible Wesen angesehen werden, niemals nur als Mittel behandelt werden dürfen. Kant scheint die Formel in der folgenden Passage zu begründen: Der Grund dieses Princips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich nothwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor; so fern ist es also ein subjectives Princip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objectives Princip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können. (GMS, 4, 429)
Für das Verständnis der Zweck-Formel ist diese bekannte Stelle jedoch wenig hilfreich, weil sie tautologisch ist. Der Begriff „Zweck an sich selbst“ bedeutet nämlich bei Kant nichts anderes als „etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf“47.
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Nun kann aber das Prinzip, dass vernünftige Wesen niemals nur als Mittel behandelt werden, nicht durch sich selbst begründet werden. Die Begründung, die Kant an der zitierten Stelle gibt, ist offenbar unvollständig und daher unbefriedigend; dies macht die folgende Reformulierung deutlich: (P 1) Der Mensch stellt sich sein Dasein als einen Zweck an sich selbst vor, weil er vernünftig ist (subjektives Prinzip). (P 2) Jedes andere vernünftige Wesen stellt sich sein Dasein als Zweck an sich vor, weil es vernünftig ist (subjektives Prinzip). (K) Alle vernünftigen Wesen betrachten aufgrund ihrer Vernünftigkeit ihre Existenz als Zweck an sich (objektives Prinzip). Kant macht an dieser Stelle zwar deutlich, dass es inkonsequent wäre, wenn ein einzelner Mensch oder der Mensch als Gattung Respekt für sich beanspruchte, weil er vernünftig ist, und gleichzeitig anderen vernünftigen Wesen diesen Respekt verweigerte. Dabei wird aber die entscheidende These stillschweigend vorausgesetzt: Vernünftige Wesen sind aufgrund ihrer Vernünftigkeit Zwecke an sich. Diese These versteht sich nicht von selbst. Es ist nicht ohne weiteres einsichtig, warum Wesen, die über reine praktische Vernunft verfügen, niemals nur als Mittel gebraucht werden dürfen. Und selbst wenn man unterstellt, dass es überhaupt irgendwelche Wesen gibt, die moralischen Respekt verdienen, ist es nicht selbstverständlich, dass dies nur autonome Wesen im Sinne Kants sein können. Die These, dass autonome Wesen Zwecke an sich sind, muss also durch eine andere Voraussetzung gestützt werden. Diese Prämisse lautet, dass vernünftigen Wesen im Unterschied zu Sachen, die immer nur einen „relativen Werth“ haben, ein absoluter Wert und deshalb Würde zukommt.48 Dabei ist die eben erläuterte Einschränkung zu beachten: Einen absoluten Wert haben Menschen und andere vernünftige Wesen nicht schon deshalb, weil sie sich irgendwelche Zwecke setzen können, son-
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dern nur weil und insofern sie autonom sind, „weil die Gewißheit einer Gesinnung, die mit diesem [dem moralischen – H.W.] Gesetz übereinstimmt, die erste Bedingung alles Werths der Person ist“49. Das Begründungsverhältnis zwischen der axiologischen Voraussetzung, dass autonomen Wesen ein absoluter Wert zukommt, und der Schlussfolgerung, dass sie deshalb Zwecke an sich sind, wird dadurch verschleiert, dass Kants selbst die beiden Gedanken nicht klar voneinander abgegrenzt hat. Es kommt jedoch an der folgenden Stelle deutlich zum Ausdruck: Es ist nichts Geringeres als der Anteil, den sie [die sittlich gute Gesinnung – H.W.] dem vernünftigen Wesen an der allgemeinen Gesetzgebung verschafft und es hierdurch zum Gliede in einem möglichen Reiche der Zwecke tauglich macht, wozu es durch seine eigene Natur schon bestimmt war, als Zweck an sich selbst und darum als gesetzgebend im Reich der Zwecke, in Ansehung aller Naturgesetze als frei, nur denjenigen allein gehorchend, die es selbst gibt und nach welchen seine Maximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung (der es sich zugleich selbst unterwirft) gehören können. Denn es hat nichts einen Wert, als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muss eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur. (GMS, 4, 435f. – fette Hervorh. V. mir)
Diese Überlegung lässt sich folgendermaßen als Schluss reformulieren: (P 1) Das moralische Gesetz und die moralische Gesetzgebung haben einen absoluten Wert. (P 2) Wesen, die an der moralischen Gesetzgebung teilhaben, kommt, weil und nur sofern sie an ihr teilhaben, ein absoluter Wert zu. (P 3) Was einen absoluten Wert hat, darf niemals nur als Mittel gebraucht werden, d. h. es ist Zweck an sich. (P 4) Personen haben als intelligible Wesen teil an der moralischen Gesetzgebung.
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(K)
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Personen dürfen niemals nur als Mittel behandelt werden, d. h. sie sind Zwecke an sich.
Abgesehen davon, dass Kant seine These vom absoluten Wert des Sittengesetzes nirgendwo explizit begründet hat,50 ist diese Auffassung mit bestimmten Schwierigkeiten verbunden, die hier nicht erörtert werden müssen.51 Es genügt, die Relevanz dieser Voraussetzung für die Beantwortung der V-Frage zu klären. Ist es notwendigerweise unvernünftig, Wesen, die einen absoluten Wert haben und die deshalb Zwecke an sich sind, zu instrumentalisieren? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, welche Art von Wert autonomen Wesen zukommt. Offensichtlich handelt es sich um einen moralischen Wert. Wer ein Wesen, das Zweck an sich ist, für seine eigenen Zwecke missbraucht, der bringt dadurch zum Ausdruck, dass er den moralischen Wert dieses Wesens missachtet. Dies wäre aber nur dann notwendigerweise unvernünftig, wenn moralische Werte die einzigen Werte und moralische Handlungsgründe die einzigen Handlungsgründe wären. In diesem Fall könnten unmoralische Handlungen tatsächlich als irrationale rekonstruiert werden, und zwar auf folgende Weise: (P 1) Moralische Werte konstituieren moralische Handlungsgründe. (P 2) Es gibt keine anderen als moralische Werte und daher keine anderen als moralische Handlungsgründe. (P 3) Wer gegen das Sittengesetz verstößt, tut dies nicht aus moralischen Gründen. (K) Wer unmoralisch handelt, handelt ohne guten Grund, d. h. unvernünftig. Ganz anders stellt sich der Sachverhalt jedoch dar, wenn man annimmt, dass es neben moralischen Werten anders geartete Werte gibt, z. B. prudentielle, religiöse oder ästhetische. Kant hat dies in seiner Unterscheidung zwischen relativen Werten und
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dem absoluten Wert zugestanden. Unter der Voraussetzung, dass Werte Handlungsgründe hervorbringen, gibt es demnach auch Kant zufolge verschiedenartige Handlungsgründe. Damit entfällt die für den dargestellten Schluss entscheidende Voraussetzung (P 2). Wer unmoralisch handelt, der handelt nicht ohne Gründe, sondern er gibt anderen Handlungsgründen den Vorrang vor moralischen Gründen. Es ist nicht ohne weiteres einsichtig, warum dies eo ipso irrational sein sollte. Dies wäre nur dann der Fall, wenn es unvernünftig wäre, den moralischen Gründen nicht in jedem Fall den Vorzug vor anderen Gründen zu geben. Mit der entsprechenden These, die in Kapitel 1 bereits kurz als Vorrangthese eingeführt wurde, werde ich mich im letzten Kapitel ausführlich auseinander setzen. Als Ergebnis des Exkurses zur Zweck-Formel kann Folgendes festgehalten werden. Erstens hat sich gezeigt, dass die ZweckFormel, was ihre Bedeutung und ihre Anwendung betrifft, eine unselbständige Variante des kategorischen Imperativs darstellt. Sie setzt das Verständnis und die Anwendung der GesetzesFormel voraus. Deshalb muss sie in Bezug auf die V-Frage nicht eigens behandelt werden. Zweitens ist deutlich geworden, dass die Zweck-Formel hinsichtlich ihrer Herleitung zwar eigenständig gegenüber den übrigen Formeln des kategorischen Imperativs ist, weil sie auf der axiologischen Voraussetzung beruht, dass autonomen Wesen ein absoluter Wert zukommt. Es ist aber auch gezeigt worden, dass sich aus dieser Voraussetzung nicht darauf schließen lässt, dass unmoralische Handlungen notwendigerweise irrational sind. 6. Die Überzeugungskraft der These Kants, dass unmoralisches Handeln selbstwidersprüchlich und daher irrational ist, hängt somit gänzlich von der Gesetzes-Formel des kategorischen Imperativs ab. Dieser Formel und ihrer Anwendung wende ich mich nun zu. Die Analyse der Gesetzes-Formel wird schrittweise erfolgen. Zuerst soll ihr Verhältnis zur Naturgesetz-Formel geklärt werden. Im folgenden Schritt wird die Naturgesetz-Formel einer kritischen Prüfung unterzogen. Schließlich sollen verschiedene
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Interpretationen der Gesetzes-Formel vorgestellt und im Hinblick auf ihre Plausibilität beurteilt werden. In der Debatte darüber, ob es Kant gelungen ist, die Selbstwidersprüchlichkeit unmoralischer Handlungen nachzuweisen, spielt die Auslegung und Anwendung der sogenannten Naturgesetz-Formel eine wichtige Rolle. Kant führt sie unmittelbar im Anschluss an die Herleitung der Gesetzes-Formel folgendermaßen ein: Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wonach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge, heißt, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte. (GMS, 4, 421)
Aus dieser Passage geht hervor, dass Kant die Naturgesetz-Formel als eine Erläuterung der Gesetzes-Formel ansah.52 Es ist allerdings ausgesprochen schwierig, genau zu bestimmen, welchen Status und welche Funktion Kant der Naturgesetz-Formel zuschreiben wollte. Einerseits scheint die zitierte Stelle nahe zu legen, dass die Gesetzes- und die Naturgesetz-Formel äquivalent sind. Andererseits schreibt Kant später in der Grundlegung über die Naturgesetz- und die Zweck-Formel sowie die Formel des Reichs der Zwecke, daß es sich bei ihnen um „drei Arten, das Princip der Sittlichkeit vorzustellen“ handle, die dazu dienten, die Idee des Sittengesetzes „der Anschauung (nach einer gewissen Analogie) und dadurch dem Gefühle näher zu bringen“53. Diese Stelle legt nahe, dass die genannten Varianten des kategorischen Imperativs Nebenformeln darstellen, durch welche die Gesetzes-Formel als Hauptformel anschaulich gemacht werden soll. Für diese Vermutung spricht auch, dass Kant in der Kritik der praktischen Vernunft und der Metaphysik der Sitten nur im Singular von dem „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ bzw. von dem „kategorischen Imperativ“ spricht und dabei jeweils auf die Gesetzes-Formel verweist.54 Gegen diese Vermutung lässt sich allerdings anführen, dass Kant für die
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Begründung einzelner moralischer Normen meist auf die Naturgesetz- und die Zweck-Formel, aber nur selten auf die GesetzesFormel zurückgreift. – Aufgrund dieser verwirrenden Textlage ist es offenbar schwierig, eindeutig zu bestimmen, welchen Status Kant den einzelnen Formeln zugedacht hat. Da aber die Naturgesetz-Formel sowohl in Kants Ethik als auch in der Forschung eine wichtige Rolle spielt, muss sie in die Untersuchung einbezogen werden. Kommen wir auf die oben zitierte Stelle zurück, an der Kant den Übergang von der Gesetzes- zur Naturgesetz-Formel vollzieht (GMS, 4, 421). Auffällig ist zunächst, dass Kant hier einen weiten Begriff der Natur einführt, den er selbst durch den Zusatz in der Klammer als formalen Naturbegriff charakterisiert. Natur im weiten und formalen Sinne wird bestimmt als „Dasein der Dinge [...], so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist“. Diese Definition lässt offen, durch welche Art von Gesetzen das Dasein der Dinge geregelt wird. Weil in dem formalen Naturbegriff davon abgesehen wird, durch welche Art von Gesetzen die Existenz der Dinge bestimmt wird, erlaubt er den Übergang von der Gesetzes- zur Naturgesetz-Formel. Kant zufolge besteht nämlich zwischen den beiden Arten, sofern man nur die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt berücksichtigt, eine Analogie. Deshalb sieht Kant die Naturgesetz-Formel als inhaltlich äquivalente Reformulierung der Gesetzes-Formel an.55 Diese Auffassung Kants ist mit mehreren Schwierigkeiten verbunden. Da ich sie andernorts ausführlich erörtert habe,56 begnüge ich mich hier damit, sie in aller Kürze zu nennen und zu erläutern. (i) Während man gegen präskriptive Gesetze verstoßen kann, ist ein Verstoß gegen strikte Naturgesetze, wie sie Kant im Sinn hat, unmöglich. Wenn ein einzelnes Naturereignis nicht mit einer Gesetzesaussage übereinstimmt, dann folgt daraus, dass diese Aussage falsch war, nicht aber, dass das Ereignis gegen das Naturgesetz „verstoßen“ hat. (ii) Die Befolgung präskriptiver Gesetze setzt voraus, dass die ihnen unterworfenen Akteure frei sind, d. h. dass sie über einen Handlungsspielraum verfügen; sie können die Gesetze freiwillig befolgen oder gegen
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sie verstoßen. Die den Naturgesetzen unterworfenen Dinge verfügen hingegen Kant zufolge nicht über einen solchen Spielraum. (iii) Aus der Verknüpfung von (i) und (ii) mit der Naturgesetz-Formel ergibt sich ein grundsätzliches Problem: Wer seine Maxime mittels der Naturgesetz-Formel prüft, der soll sich vorstellen, dass sie als Naturgesetz die Entscheidungen und Handlungen aller sinnlich-vernünftigen Wesen determinieren würde. In diesem Fall wäre aber gemäß (i) kein Verstoß gegen das Gesetz mehr möglich, und laut (ii) wären die Subjekte auch nicht frei, das Sittengesetz zu befolgen oder gegen es zu verstoßen. Deshalb käme ihrem naturgesetzlich determinierten Verhalten, dass man nicht mehr als „Handeln“ bezeichnet dürfte, auch kein moralischer Wert zu. Kant hat übrigens auf dieses Problem selbst aufmerksam gemacht: Eine jede Handlung hat [...] ihren Zweck, und da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand der Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Act der Freiheit des handelnden Subjects, nicht eine Wirkung der Natur irgend einen Zweck der Handlungen zu haben. (MST, „Einleitung“, 6, 385)
Wenn es aber, wie Kant hier sagt, „nicht eine Wirkung der Natur ist, irgend einen Zweck zu haben“, dann ist es unmöglich, sich eine Maxime, die ja u. a. einen Zweck beinhaltet, als Naturgesetz zu denken. Etwas, was „nicht eine Wirkung der Natur ist“, kann man sich nicht als einem Naturgesetz unterworfen denken. Umso erstaunlicher ist es, dass Kant die Naturgesetz-Formel überhaupt als moralisches Kriterium eingeführt hat. Schließlich – und das ist das gravierendste Problem für die Anwendung der Naturgesetz-Formel – kann die Natur im engeren Sinne der Gesamtheit der naturgesetzlich geregelten Ereignisse, sei es nun die uns bekannte wirkliche oder eine bloß gedachte Natur, nicht widersprüchlich sein. Widersprüche können nur zwischen propositional verfassten Entitäten bestehen, z. B. zwischen Aussagen, Überzeugungen oder Theorien. Die Wirklichkeit hingegen ist niemals widersprüchlich.57 Deshalb wird man, welche Maxime man sich auch immer probeweise als Naturgesetz
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denkt – vorausgesetzt, dass sie selbst widerspruchsfrei ist –, stets zu einem widerspruchsfreien Ergebnis gelangen. Damit wird aber eine der Voraussetzungen, auf denen die Anwendbarkeit des kategorischen Imperativs beruht, aufgehoben: Wenn der kategorische Imperativ seine Funktion als Kriterium der Moral erfüllen können soll, dann muss es möglich sein, mit seiner Hilfe moralische von unmoralischen Maximen durch deren probeweise Verallgemeinerung zu unterscheiden, und zwar dadurch, dass Erstere widerspruchsfrei als Gesetz gedacht werden können, Letztere hingegen nicht. Verallgemeinert man aber eine widerspruchsfreie Maxime so, dass man sie sich als Naturgesetz denkt, dann wird man notwendigerweise immer ein widerspruchsfreies Ergebnis erhalten. Deshalb ist die Naturgesetz-Formel als moralischer Maßstab der Maximen unbrauchbar.58 Diese These soll nun durch die Analyse einiger Beispiele erhärtet werden. Dabei muss eine Unterscheidung berücksichtigt werden, die Kant im Zusammenhang mit der Anwendung der NaturgesetzFormel eingeführt hat: Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde. (GMS, 4, 424)
Das Kriterium des Nicht-Denken-Könnens bezieht sich nach Kant auf die vollkommenen Pflichten, das Kriterium des NichtWollen-Könnens auf die unvollkommenen Pflichten.59 In der Grundlegung erläutert Kant die Anwendung der Naturgesetz-Formel u. a. anhand des Suizidverbots, also anhand einer vollkommenen Pflicht.60 Zu zeigen ist also, dass sich die Maxime des Lebensmüden nicht widerspruchsfrei als Naturgesetz denken lässt. Kant schreibt: Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Überdruß am Leben empfindet, ist noch so weit im Besitze seiner Vernunft, daß er sich fragen kann, ob es
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Kapitel 5 auch nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu nehmen. Nun versucht er: ob die Maxime seiner Handlung wohl ein allgemeines Naturgesetz werden könne. Seine Maxime aber ist: ich mache es mir aus Selbstliebe zum Princip, wenn das Leben bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen. Es frägt sich nur noch, ob dieses Princip der Selbstliebe ein allgemeines Naturgesetz werden könne. Da sieht man aber bald, daß eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch dieselbe Empfindung, deren Bestimmung es ist, zur Beförderung des Lebens anzutreiben, das Leben selbst zu zerstören, ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen würde, mithin jene Maxime unmöglich als allgemeines Gesetz stattfinden könne und folglich dem obersten Princip aller Pflicht gänzlich widerstreite. (GMS, 4, 421f.)
Wenn in diesem Fall etwas widersprüchlich ist, dann ist es Kants Argumentation, nicht aber die gedachte Natur.61 Kant unterstellt nämlich einerseits, dass die Funktion (die „Bestimmung“) der Selbstliebe die Beförderung des Lebens ist. Andererseits muss er voraussetzen, dass Selbstliebe ein Motiv für die Selbsttötung sein kann, denn ohne diese Voraussetzung wäre das Beispiel hinfällig.62 Wenn es nicht möglich wäre, sich aus Selbstliebe zu töten, dann hätte sich die Frage, ob es moralisch erlaubt ist, dem eigenen Leben aus Selbstliebe ein Ende zu setzen, erübrigt. Kant geht demnach von den folgenden beiden Prämissen aus: (P 1) Selbstliebe bewirkt immer das Streben nach Selbsterhaltung. (P 2) Selbstliebe kann in einzelnen Fällen die Selbstvernichtung bewirken. Diese beiden Aussagen sind tatsächlich unvereinbar, weil sie einander widersprechen – darin ist Kant zuzustimmen. Gegen Kant muss aber geltend gemacht werden, dass dieser Widerspruch leicht ausgeräumt werden kann und muss. Wenn Aussagen über einzelne Ereignisse nicht mit Aussagen über allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Natur übereinstimmen, dann müssen die entsprechenden Gesetzeshypothesen aufgegeben werden. Bezogen auf das Beispiel, heißt dies: Wenn es, wie (P 2) besagt, möglich
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ist, dass Selbstliebe zur Selbstvernichtung führt, und wenn die Funktion der Selbstliebe in anderen Fällen die Beförderung des Lebens ist, dann muss Annahme (P 1), dass die Selbstliebe nur eine einzige, d. h. in allen Fällen ein und dieselbe Funktion hat, fallen gelassen werden. Der Widerspruch liegt also in Kants Voraussetzungen. Die gedachte Natur hingegen ist selbstverständlich widerspruchsfrei. In ihr hätte die Selbstliebe, je nach den sich verändernden Umständen, zwei verschiedene Funktionen, entweder die Beförderung oder die Beendigung des Lebens. Worin der Fehler Kants besteht, lässt sich anhand einer Interpretation von Otfried Höffe verdeutlichen. Bei ihm heißt es über das Beispiel der Selbsttötung aus Lebensüberdruss: Unter der als objektiv gültig angenommenen Bedingung, daß animalisches Leben ein Funktionsganzes ist, das sich selbst erhält, unter der weiteren und entscheidenden objektiven Bedingung, daß die Unlustempfindung jener Stimulus ist, ohne den die zum animalischen Leben notwendigen Tätigkeiten nicht zustande kommen, unter diesen beiden Bedingungen ist es nicht möglich, eine Natur zu denken, in der durch Gesetz j eder Fall von Unlustempfindung mit Notwendigkeit zum Sich-Töten treibt. Es wäre eine Natur, in der das animalische Leben eine Fehlkonstruktion wäre, da es weder entstehen noch fortbestehen könnte. Denn ein und dieselbe Empfindung wäre für z wei widersprüchliche Aufgaben bestimmt: für die Beförderung und die Zerstörung von Leben zugleich. („Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen“, S. 375 – fett v. mir)
Höffes Interpretation beruht offenbar auf einer verfehlten Interpretation der zu prüfenden Maxime des Suizidenten. Während Kant nur den Fall ins Auge fasst, in dem von der Zukunft mehr Übel als Annehmlichkeiten zu erwarten sind, legt Höffe eine ganz andere Maxime zugrunde: „Wenn ich die geringste Unlustempfindung verspüre (U), will ich mich töten (H), um mir diese Unlust zu ersparen“: Die Maxime „Selbstmord aufgrund von Unlustempfindungen begehen“ als Naturgesetz gedacht hieße, daß jede, auch die kleinste Unlustempfindung nicht dazu führt, sie zu beheben, sondern dazu, daß man sich ausnahmslos und mit Notwendigkeit das Leben nimmt. (Ebd., S. 374)
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Kapitel 5 Wer sich bei der Unlustempfindung „Lebensüberdruß“ töten will, müßte sich bei jeder Unlustempfindung – also Hunger-, Durst-, Müdigkeitsgefühlen – töten wollen. („Kants nichtempirische Verallgemeinerung“, S. 221)
Nun ist es erstens psychologisch höchst unplausibel, dass sich alle Menschen töten wollten, nur weil sie gelegentlich „die kleinste Unlustempfindung“ verspüren. Wer wollte sich schon das Leben nehmen, weil er gelegentlich Durst hat, zeitweise unter Magenbeschwerden oder Zahnschmerzen leidet oder weil ihn der neue Schuh drückt? Außerdem – und das ist der entscheidende Punkt – geht Kant in seinem Beispiel nicht von der abwegigen Unterstellung aus, dass sich Menschen auch wegen der „kleinsten Unlustempfindung“ töten wollen, sondern von der plausibleren Annahme, dass sich Menschen, die verzweifelt oder unglücklich sind (man denke etwa an Menschen, die an unheilbaren und schmerzvollen Krankheiten leiden) aus Selbstliebe töten wollen. Wenn man Kants Argument rekonstruieren will, darf der Verallgemeinerung nur dieser Fall zugrunde gelegt werden. Höffes Interpretation wäre nur dann angemessen, wenn Kant von folgender Maxime ausgegangen wäre: ‚Ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn ich die geringste Unlustempfindung verspüre, mein Leben abzukürzen.‘ Auch wenn man Höffes abwegige Übertreibung ignoriert, wird jedoch deutlich, worauf er hinaus will. Er setzt als „objektiv gültig angenommene Bedingung“ voraus, dass Lebewesen sich selbst erhalten, stellt dann fest, dass die Selbstvernichtung eines Lebewesens nur um den Preis eines Widerspruchs mit dieser Bedingung vereinbar ist, und folgert, dass eine Natur, in der Selbstliebe manchmal zur Selbsterhaltung, manchmal hingegen zur Selbstvernichtung antreiben würde, eine „Fehlkonstruktion“ wäre. Höffe übersieht dabei erstens, dass Lebewesen sich nicht immer erhalten – manche Menschen töten sich. Demnach ist die angeblich objektiv gültige Bedingung, von der er ausgeht, durch die Erfahrung widerlegt. Zweitens entgeht ihm, dass die Natur, die seiner Meinung nach eine „Fehlkonstruktion“ wäre, die Natur ist, in der wir leben und der sich zuweilen Menschen
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aus Selbstliebe das Leben nehmen. Drittens beruht der angebliche Widerspruch in der gedachten Natur darauf, dass Höffe die Rolle der Umstände für die Funktion der Selbstliebe außer Acht lässt. Wenn das Gefühl der Selbstliebe unter allen Umständen sowohl zur Selbsterhaltung als auch zur Selbstvernichtung antriebe, dann könnte man dies als Widerspruch bezeichnen. Tatsächlich verhält es sich in der probeweise gedachten Natur jedoch ganz anders. Die Funktion der Selbstliebe würde von den Umständen abhängen: Solange ein Mensch sein Leben für lebenswert hielte, würde ihn die Selbstliebe zur Selbsterhaltung motivieren. Wenn ein Mensch sein Leben aber nicht mehr für lebenswert hielte, dann würde die Selbstliebe ein Motiv für die Selbsttötung darstellen. Es kann also keine Rede davon sein, dass „ein und dieselbe Empfindung [...] für zwei widersprüchliche Aufgaben bestimmt“ wäre, wie Höffe sagt.63 – Diese Bemerkungen zielen nicht so sehr darauf ab, nachzuweisen, dass es moralisch erlaubt sein kann, sich zu töten;64 vielmehr sollen sie die hier vertretene These illustrieren, dass die Naturgesetz-Formel des kategorischen Imperativs kein brauchbares moralisches Kriterium und daher auch kein brauchbares Rationalitätskriterium ist. Wie immer man auch die Maxime formuliert, die man sich dann probeweise als Naturgesetz denkt, man wird stets zu einem widerspruchsfreien Ergebnis gelangen. (Dabei setze ich selbstverständlich voraus, dass die Maxime selbst widerspruchsfrei ist). Diese These lässt sich auch am Beispiel des falschen Versprechens erläutern. Auch in diesem Fall bietet sich Höffes Deutung als Anschauungsmaterial an, weil sie – natürlich entgegen der Absicht des Verfassers – in aller Deutlichkeit zeigt, dass die Verallgemeinerung der fraglichen Maxime zu einem Naturgesetz nicht zu einem Widerspruch führt. Da Wahrhaftigkeit Kant zufolge zu den vollkommenen Pflichten zählt, muss auch hier das Kriterium des Nicht-Denken-Könnens zur Anwendung kommen. Höffe schreibt: In der realen Welt sind [...] Versprechen nicht rundum unglaubwürdig; das Vertrauen aufs bloße Wort ist eine „rationale“ und keine in sich widersprüchliche Option.
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Kapitel 5 Anders sieht es dort aus, wo für Versprechen ein (Natur-)Gesetz der Unehrlichkeit gilt. In dieser hypothetischen Welt meint, wer immer etwas verspricht, dieses nicht ehrlich. Die sprachpragmatische Glaubwürdigkeit, die das Versprechen begriffsintern intendiert, wird durch das Gesetz der Unehrlichkeit zurückgenommen, und zwar nicht bloß gelegentlich, sondern grundsätzlich. Und darin liegt der Widerspruch: der begriffsinterne Zweck von Versprechen überhaupt, der in der pragmatischen Glaubwürdigkeit liegende allgemeine Zweck, wird durch die Gesetz gewordene Unehrlichkeit prinzipiell unmöglich. Nennen wir diese Unmöglichkeit eine pragmatische Unmöglichkeit oder einen pragmatischen Widerspruch. („Kants nichtempirische Verallgemeinerung“, S. 229)
Wenn man von Kants Begriff des Zwecks ausgeht, ist kaum einzusehen, wie die Unwahrhaftigkeit, die ja offensichtlich Intentionalität voraussetzt, naturgesetzlich determiniert sein könnte. Ich will von dieser Schwierigkeit, durch die offensichtlich die Verständlichkeit der Naturgesetz-Formel grundsätzlich in Frage gestellt wird, hier absehen. Nehmen wir mit Höffe an, dass alle Sprecher aufgrund eines Naturgesetzes nur falsche Versprechen geben würden. In diesem Fall kann man Höffe zweierlei zugestehen: (i) Alle abgegebenen Versprechen wären aufgrund eines Naturgesetzes unaufrichtig. (ii) Niemand würde durch ein Versprechen das erreichen können, was er mit diesem bezweckt. Offensichtlich sind diese beiden Aussagen nicht logisch widersprüchlich, wie auch Höffe einräumt;65 dies können sie schon deshalb nicht sein, weil in (i) weder explizit noch implizit von den Zwecken der Sprecher die Rede ist. Da also die Zwecke, um die es in (ii) geht, in (i) nicht einmal implizit eine Rolle spielen, kann zwischen den beiden Aussagen kein logischer Widerspruch bestehen. Höffe behauptet nun, dass es sich bei der Unmöglichkeit, mit Versprechen einen Zweck zu erreichen, um „eine pragmatische Unmöglichkeit oder einen pragmatischen Widerspruch“ handle. Auffällig ist an dieser These, dass der Autor hier
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einen Kategorienfehler begeht: Er ersetzt den modallogischen Begriff der Unmöglichkeit durch einen Begriff aus der Sprachpragmatik, den des pragmatischen Widerspruchs. Ein pragmatischer Widerspruch kann aber nur zwischen den propositionalen Einstellungen einer Person bestehen, ihren Überzeugungen und Absichten. Überraschend ist nun, dass Höffe im Gegensatz zu anderen Interpreten, auf die ich im folgenden Abschnitt eingehen werde, nicht behauptet, dass der Widerspruch in den Absichten des Sprechers liegt, sondern dass die gedachte Natur widersprüchlich wäre. Meiner Meinung nach vermag Höffes Argument nicht zu überzeugen. Wenn es aufgrund eines Naturgesetzes unmöglich wäre, durch Versprechen verbindliche Zusagen zu machen, wäre dies selbstverständlich ungünstig für das Zusammenleben der Menschen – widersprüchlich wäre es nicht. (Wahrscheinlich würde übrigens, sobald sich die Einsicht in das Naturgesetz der Unwahrhaftigkeit eingestellt hätte, niemand mehr Versprechen geben.) Dies kann man sich durch ein ähnliches Beispiel verdeutlichen. Nehmen wir an, dass aufgrund eines Naturgesetzes alle Ehen unglücklich verlaufen würden. In diesem Fall könnte der Zweck einer Heirat, harmonisch zusammenzuleben, niemals erreicht werden. Das wäre für viele Menschen bedauerlich, aber durchaus nicht widersprüchlich. Bisher habe ich versucht, durch die begriffliche Analyse der Naturgesetz-Formel und ihre Anwendung auf zwei Beispiele nachzuweisen, dass sie kein brauchbares Kriterium der Moral ist. In Bezug auf die V-Frage ist an diesem Ergebnis wichtig, dass sich mittels der Naturgesetz-Formel nicht zeigen lässt, dass unmoralische Handlungen selbstwidersprüchlich und daher unvernünftig sind. Allerdings habe ich bisher ohne Begründung unterstellt, dass sich die Naturgesetz-Formel auf kausale, d. h. nicht-intentionale Naturgesetze bezieht. Nun haben aber einige Interpreten, wie z. B. Gerhard Krüger und H. J. Paton, die These vertreten, dass es in der Naturgesetz-Formel nicht um kausale, sondern um teleologische Naturgesetze gehe. Diese Interpretation soll hier nicht ausführlich erörtert werden.66 Es genügt, die fal-
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sche Voraussetzung zu nennen, auf der sie beruht: Die Naturgesetz-Formel kann sich schon deshalb nicht auf teleologische Naturgesetze beziehen, weil es Kant zufolge keine teleologischen Naturgesetze gibt. Für Kant bildet die Menge aller Gesetze eine vollständige Disjunktion aus theoretischen Gesetzen der Natur, d. h. kausalen Naturgesetzen, und praktischen Gesetzen der Freiheit.67 Zwar spielen teleologische Begriffe und Prinzipien eine wichtige Rolle in seiner Philosophie; er hat jedoch niemals die Auffassung vertreten, dass es neben den kausalen auch teleologische Gesetze der Natur gibt. Teleologische Begriffe oder Prinzipien können aber für die Deutung der Naturgesetz-Formel nicht herangezogen werden, weil in dieser eben ausdrücklich, in Analogie zu Gesetzen der Freiheit, von einem Naturgesetz die Rede ist. Aus diesem Grund muss die teleologische Deutung der Naturgesetz-Formel verworfen werden. 7. Die Zweck-Formel hat sich als eine unselbständige Formel des kategorischen Imperativs erwiesen, weil ihr Verständnis und ihre Anwendung die Gesetzes-Formel voraussetzen. Die Naturgesetz-Formel ist als Kriterium der Moral unbrauchbar. Also hängt die Überzeugungskraft der These Kants, dass unmoralisches Handeln selbstwidersprüchlich ist, ganz und gar von der Anwendbarkeit der Gesetzes-Formel ab. Diese Formel des kategorischen Imperativs besagt, dass nur diejenigen Maximen moralisch erlaubt sind, die widerspruchsfrei als allgemeines Gesetz gedacht werden können. Ein Blick in die einschlägige Literatur zeigt, dass dieses Kriterium der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit auf zweierlei Weise aufgefasst wird. Einige Interpreten verstehen Kant so, dass sich der Akteur fragen sollte, ob ein Widerspruch auftreten würde, wenn alle Personen gemäß seiner Maxime handelten. Es sei z. B. zu prüfen, ob alle Menschen falsche Versprechen abgeben oder sich töten könnten. Ich will diese Deutung als Befolgungs-Interpretation bezeichnen, weil sie unterstellt, dass im Fall der Verallgemeinerung alle Akteure tatsächlich bestimmten Maximen folgen würden. Andere Interpreten vertreten hingegen die Auffassung, dass man sich bei der Prüfung
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einer Maxime Kant zufolge fragen müsse, ob es widerspruchsfrei denkbar ist, dass es allen erlaubt wäre, der zu prüfenden Maxime zu folgen, und zwar unabhängig davon, wie wahrscheinlich es ist, dass sie es tatsächlich täten. Diese Deutung soll im Folgenden als Erlaubnis-Interpretation bezeichnet werden. Es ist offensichtlich, dass die Befolgungs-Interpretation die Pointe der kantischen Argumentation verfehlt. Der kategorische Imperativ ist nämlich ein praktisches, d. h. bei Kant: ein präskriptives Prinzip. Das Gesetz, von dem in der Gesetzes-Formel die Rede ist, muss ebenfalls ein präskriptives Gesetz sein, denn andernfalls hätte Kant nicht eigens die Naturgesetz-Formel zu ihrer Verdeutlichung einführen müssen. Bestätigt wird diese Deutung u. a. durch eine Stelle aus der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“, an der Kant die Gesetzes-Formel des kategorischen Imperativs als „bloße Idee der Qualifikation einer Maxime zur Allgemeinheit eines praktischen Gesetzes“68 charakterisiert. Im Übrigen hat Kant oft genug betont, dass der kategorische Imperativ ein Grundsatz ist, der sagt, wie Menschen handeln sollen oder dürfen, nicht aber, wie sie tatsächlich handeln. (Allerdings ist die Naturgesetz-Formel nicht mit diesem Gedanken vereinbar; hier verfuhr Kant inkonsequent – s. o.) Daraus folgt aber, dass man sich bei der Anwendung der Gesetzes-Formel nicht fragen soll, was wäre, wenn ihr alle tatsächlich folgten, sondern ob es sich widerspruchsfrei denken lässt, dass es allen erlaubt wäre, ihr zu folgen. In der Erörterung der Beispiele hat Kant selbst darauf hingewiesen, dass es um die allgemeine Erlaubtheit, nicht um die allgemeine Befolgung einer Maxime geht.69 Er fragt z. B.: „[...] würde ich wohl zu mir sagen können: es mag jedermann ein unwahres Versprechen thun, wenn er sich in Verlegenheit befindet, daraus er sich auf andere Art nicht ziehen kann?“70 Kant stellt nicht die Frage, ob jemand zu sich sagen könne: Jedermann gibt tatsächlich unwahre Versprechen ab. Dies wird auch in der erneuten Erörterung desselben Beispiels in der Grundlegung deutlich: Ich verwandle also die Zumuthung der Selbstliebe in ein allgemeines Gesetz und richte die Frage so ein: wie es dann stehen würde, wenn
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Kapitel 5 meine Maxime ein allgemeines Gesetz würde. Da sehe ich nun sogleich, daß sie niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern sich nothwendig widersprechen müsse. Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Noth zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, [...]. (GMS, 4, 422 – fett v. mir)71
Auch hier geht es bei der probeweisen Verallgemeinerung der Maxime nicht darum, was geschähe, wenn alle Personen tatsächlich falsche Versprechen gäben, um sich aus ihrer finanziellen Not zu befreien, sondern um die Frage, ob es allgemein erlaubt sein könnte, der entsprechenden Maxime zu folgen. Deshalb lässt sich Kants starker ethischer Rationalismus nicht durch die Befolgungs-Interpretation stützen. Außerdem führt diese Interpretation zu Schlussfolgerungen, die unplausibel sind und die darüber hinaus kaum mit Kants materialer Ethik vereinbar sein dürften. Betrachten wir ein Beispiel von Onora O’Neill. Sie geht mit Kant davon aus, dass unmoralische Maximen zwar nicht an sich widersprüchlich sind, dass sie aber auf einen Widerspruch führen, sobald sie gemäß der GesetzesFormel verallgemeinert werden. Dabei legt sie ihrer Rekonstruktion des vermeintlichen Widerspruchs die BefolgungsInterpretation zugrunde: For example, there is no contradiction involved in adopting the maxim of becoming a slave. But this maxim has its universalized counterpart – the maxim we must attempt to „will as a universal law“ – the maxim of everybody becoming a slave. But if everybody became a slave, there would be nobody with property rights, hence no slaveholders, and hence nobody could become a slave. Consider alternatively a maxim of becoming a slaveholder. Its universalized counterpart would be the maxim of everybody becoming a slaveholder. But if everybody became a slaveholder, then everybody would have some property rights; hence nobody could be a slave; hence there would be no slaveholders. („Consistency in action“, S. 96)
Abgesehen davon, dass die von O’Neill angeführten Absichten keine Maximen im Sinne Kants sind (vgl. die Ausführungen in
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Abschnitt 3, S. 187ff.), führt dieses Argument zu höchst befremdlichen Ergebnissen. Beispielsweise wären folgende Absichten selbstwidersprüchlich und deshalb unmoralisch: – die Absicht, in einer repräsentativen Demokratie Parlamentsmitglied zu werden – die Absicht, Universitätsprofessor zu werden – die Absicht, Student zu werden – die Absicht, Arbeitgeber zu werden – die Absicht, Arbeitnehmer zu werden – die Absicht, an einem bestimmten Abend eine Opernaufführung in der Staatsoper Unter den Linden zu besuchen – die Absicht, in einem Staat, in dem Polygamie nicht erlaubt ist, eine bestimmte Frau zu heiraten. Diese und ähnliche Beispiele lassen sich auf die gleiche Weise wie bei O’Neill so deuten, dass die verallgemeinerte Absicht zu einem Widerspruch führt: ‚Es liegt kein Widerspruch darin, die Absicht zu haben, Student zu werden. Aber diese Absicht hat ihr universalisiertes Gegenstück: die Vorstellung, dass alle die Absicht haben, Student zu werden. Wenn aber alle Studenten würden, dann gäbe es keine Dozenten; somit könnte niemand Student werden. Betrachten wir als Alternative die Absicht, Universitätsprofessor zu werden. Ihr universalisiertes Gegenstück ist die Vorstellung, dass alle Professoren würden. Wenn aber alle Universitätsprofessoren würden, gäbe es keine Studenten; somit könnte niemand Universitätsprofessor sein.‘ Kurz: Alle Absichten, die darauf gerichtet sind, etwas zu tun, was zur Voraussetzung hat, dass es nicht alle Menschen tun, und alle Absichten, die darauf gerichtet sind, etwas zu tun, was zu einem bestimmten Zeitpunkt nur eine Person tun kann, wären unmoralisch. O’Neills Verallgemeinerungskriterium, das auf der BefolgungsInterpretation Kants beruht, führt also zu dem Ergebnis, dass viele Handlungsweisen, die offensichtlich prima facie moralisch korrekt sind, als unmoralisch gelten. Das kann Kant nicht gemeint haben.
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Aus den angeführten Gründen halte ich die BefolgungsInterpretation der Gesetzes-Formel des kategorischen Imperativs für unangemessen. Deshalb muss die Erlaubnis-Interpretation den Ausgangspunkt für die kritische Auseinandersetzung mit Kants starkem ethischem Rationalismus bilden. 8. Legt man die Erlaubnis-Interpretation zugrunde, dann hängt die moralische Zulässigkeit einer Maxime davon ab, ob sie sich widerspruchsfrei als präskriptives Gesetz denken oder wollen lässt. Ist beispielsweise das folgende Gesetz widerspruchsfrei: ‚Es ist jedem, der an einer unheilbaren und schmerzvollen Krankheit leidet, erlaubt, sich zu töten, um sein Leiden abzukürzen‘? Wie Kant sich die Anwendung des Widerspruchs-Kriteriums vorstellt, lässt sich anhand des falschen Versprechens zeigen. In der ersten Erörterung dieses Beispiels heißt es: [...] würde ich wohl damit zufrieden sein, daß meine Maxime (mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl für mich als andere) gelten solle, und würde ich wohl zu mir sagen können: es mag jedermann ein unwahres Versprechen thun, wenn er sich in Verlegenheit befindet, daraus er sich auf andere Art nicht ziehen kann? So werde ich bald inne, daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen, gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben, oder, wenn sie es in übereilter Weise thäten, mich doch mit gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine Maxime, sobald sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde, sich selbst zerstören müsse. (GMS, 4, 403)
Dieses Argument lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: (i) Zunächst wird die Maxime des Lügners verallgemeinert. Man erhält als zu prüfendes allgemeines Gesetz: ‚Es ist jedem, der in Geldnot ist, erlaubt, sich mittels eines unwahrhaftigen Versprechens Geld zu borgen, um sich aus seiner finanziellen Not zu befreien.‘ Dabei kann offen bleiben, wie viele Menschen von dieser Regelung Gebrauch machen würden, d. h. wie viele von ihnen tatsächlich lügen würden, um sich Geld zu borgen. (ii) Diese Ver-
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allgemeinerung wird nun auf beliebige Versprechen ausgedehnt: ‚Es wäre jedem erlaubt zu lügen, wenn er in Not ist.‘ Auch in diesem Fall kommt es nicht darauf an, wie viele Menschen tatsächlich falsche Versprechen abgeben würden. (iii) Unter diesen Umständen müsste jeder, dem ein Versprechen gegeben würde, damit rechnen, dass es sich um ein unwahrhaftiges Versprechen handelt. Die Folge davon wäre ein allgemein verbreitetes Misstrauen; niemand würde Versprechen ernst nehmen. (iv) Wenn niemand Versprechen ernst nähme, dann könnte der Zweck, sich mittels eines falschen Versprechens Geld zu borgen, nicht erreicht werden. (v) Also ist die verallgemeinerte Maxime selbstwidersprüchlich. Sie müsste sich, mit Kants Worten gesprochen, „selbst zerstören“. Ähnlich argumentiert Kant in der zweiten Erörterung des Beispiels: [...] die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Noth zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle Äußerung als eitles Vorgeben lachen würde. (GMS, 4, 422)
Die Stärke dieses Arguments scheint darin zu bestehen, dass seine Überzeugungskraft nicht von der Häufigkeit falscher Versprechen abzuhängen scheint. Das allgemeine Misstrauen würde sich schon aus der bloßen Tatsache ergeben, dass falsche Versprechen erlaubt wären. Verschiedene Interpreten halten diese Argumentationsweise Kants für am besten geeignet, mittels des kategorischen Imperativs die Widersprüchlichkeit unmoralischer Maximen nachzuweisen. Zwar ist man sich nicht darüber einig, wie der Widerspruch in der verallgemeinerten Maxime am angemessensten zu charakterisieren und zu bezeichnen ist;72 Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass bestimmte Maximen, sobald sie verallgemeinert werden, ihre Erfolgsaussichten aufheben. Wolfgang Kersting beschreibt diesen Widerspruch folgendermaßen: [...] wenn ich eine Handlung will, dann will ich zugleich die Bedingungen ihrer Möglichkeit; wenn ich einen Zweck habe, dann will ich
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Kapitel 5 zugleich die zu seiner Realisierung erforderlichen Mittel. Führt nun die mit meiner Maxime zugleich zu wollende gesetzliche Geltung zu ihrer Aufhebung, dann bedeutet das, daß ich Widersprüchliches will, nämlich zugleich die Bedingungen ihrer Möglichkeit und die Bedingungen ihrer Unmöglichkeit. („Der kategorische Imperativ, die vollkommenen und die unvollkommenen Pflichten“, S. 410)
Somit scheint es Kant zumindest gelungen zu sein, die Selbstwidersprüchlichkeit einiger unmoralischer Handlungsweisen nachgewiesen zu haben. Das entsprechende Kriterium kann man so formulieren: Eine Handlungsweise ist moralisch verboten, wenn die Verallgemeinerung der Maxime, auf der sie beruht, dazu führt, dass das mit der Maxime verfolgte Ziel nicht erreicht werden kann. Dieses Kriterium scheint allerdings nicht dazu geeignet, alle oder auch nur die meisten unmoralischen Handlungsweisen auszuschließen. Es kann nämlich nur angewendet werden, wenn die zu prüfende Maxime darauf abzielt, eine konventionell geregelte Praxis bzw. eine soziale Institution dadurch auszunutzen, dass der Handelnde eine Ausnahme von den mit der Praxis verbundenen Pflichten in Anspruch nimmt.73 In diesem Fall will der Handelnde einerseits, dass die entsprechende Konvention, dass man z. B. seine Versprechen halten soll, gilt; andererseits will er, dass sie in seinem besonderen Fall nicht gilt.74 Durch die Verallgemeinerung wird aber die ausnahmsweise Erlaubnis zu einer allgemeinen Erlaubnis, und dadurch wird – wie am Beispiel des falschen Versprechens gezeigt – die Praxis untergraben. Es gibt nun aber eine Reihe unmoralischer Handlungsweisen, die nicht in der beschriebenen Weise von konventionell geregelten sozialen Praxen abhängen. Christine Korsgaard hat Handlungen, deren Gelingen nicht von der Anerkennung bestimmter Konventionen abhängt, als „natürliche Handlungen“ (natural actions) bezeichnet.75 Zu ihnen zählen z. B. Körperverletzung, Mord und Vergewaltigung, aber auch weniger schwere moralische Vergehen wie Demütigungen und Beleidigungen. Wenn z. B. ein Arbeitgeber nach der Maxime handelt ‚Wenn mir einer meiner Angestellten widerspricht, dann will ich ihn öffentlich
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demütigen, um ihn einzuschüchtern‘, dann werden die Erfolgsbedingungen seines Handelns durch die Verallgemeinerung seines Handelns nicht aufgehoben. Wenn das allgemeine Gesetz gälte ‚Es ist jedem Arbeitgeber erlaubt, Angestellte, die ihm widersprechen, öffentlich zu demütigen, um sie einzuschüchtern‘, wären derartige Demütigungen noch immer möglich, und zwar deshalb, weil das Gelingen der Handlung in diesem Fall nicht von der Konvention abhängt, dass Arbeitgeber ihre Angestellten nicht öffentlich demütigen sollten. Als Ergebnis dieser Analysen lässt sich Folgendes festhalten: Die pragmatische Erlaubnis-Interpretation vermag zu zeigen, dass einige Maximen tatsächlich nicht widerspruchsfrei als allgemeine Gesetze gewollt werden können. Allerdings gilt dies nur für solche Handlungsweisen, deren Erfolg eine konventionell geregelte Praxis voraussetzt, von der sie als Ausnahmen profitieren wollen. Dazu zählen z. B. das unwahrhaftige Versprechen, die Lüge und der Diebstahl. Nach dieser Lesart ist es Kant aber keineswegs gelungen, die Widersprüchlichkeit aller unmoralischen Handlungen nachzuweisen. Nicht-konventionelle Handlungen können durch das Kriterium der pragmatischen Widerspruchsfreiheit nicht erfasst werden, und auch Pflichten gegen sich selbst können nicht durch es begründet werden.76 9. Die pragmatische Erlaubnis-Interpretation hat sich – mit den eben genannten Einschränkungen – als die überzeugendste Deutung des kantischen Widerspruchs-Arguments erwiesen. Im letzten Schritt meiner Auseinandersetzung mit Kant und seinen Anhängern will ich nun zeigen, dass auch diese Deutung einem ernst zu nehmenden Einwand ausgesetzt ist. Kant und seine Interpreten gehen bei der Erörterung der Beispiele von der Annahme aus, dass der Handelnde für sich eine berechtigte Ausnahme von einer allgemein gültigen moralischen Norm in Anspruch nehmen möchte. Verallgemeinert man seine Maxime, dann gelangt man zu folgendem Ergebnis: Die Handlungsweise X ist ausnahmslos moralisch verboten, sie soll aber allen moralischen Subjekten ausnahmsweise erlaubt sein. Zumindest in
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Bezug auf konventionell geregelte soziale Verhaltensweisen wie das Versprechen führt diese Universalisierung zu einem pragmatischen Widerspruch. Ist aber Kants Beschreibung dessen, was der Handelnde will, angemessen? Nimmt dieser tatsächlich eine erlaubte Ausnahme von einem ausnahmslosen Verbot für sich in Anspruch? Meiner Meinung nach ist diese Beschreibung seiner Absichten ausgesprochen unplausibel. Dies wird deutlich, wenn man mit Norbert Hoerster verschiedene Aspekte der Funktion von Normen unterscheidet77: Die Existenz einer Norm: Eine Norm existiert dann, wenn sie von mindestens einer Person vertreten wird. (ii) Die Akzeptanz einer Norm: Eine Person akzeptiert eine Norm dann, wenn sie diese für richtig hält bzw. billigt. (iii) Die Befolgung einer Norm: Eine Person befolgt eine Norm dann, wenn sie ihre Handlungen an der Norm ausrichtet. Dabei kann sie verschiedene Motive für die Befolgung haben. Die Akzeptanz einer Norm ist keine notwendige Bedingung für die Normbefolgung. Wer eine Norm nicht für richtig hält, kann dennoch einen guten Grund haben, sie zu einhalten, z. B. den Wunsch, Sanktionen vonseiten anderer zu vermeiden. (iv) Die Geltung einer Norm: Eine Norm gilt innerhalb einer sozialen Gruppe dann, wenn sie von der Mehrheit der Gruppe akzeptiert und in der Mehrzahl der Fälle befolgt wird. (i)
Besonders wichtig ist hier der Begriff der Normgeltung. Wie aus der Erläuterung dieses Begriffs hervorgeht, kann eine Norm innerhalb einer Gruppe auch dann gelten, wenn sie (a) nicht von allen Gruppenmitgliedern akzeptiert wird und (b) nicht in allen Fällen befolgt wird. Dies dürfte sogar der Regelfall sein. Die grundlegenden moralischen und rechtlichen Normen moderner Gesellschaften weisen zumindest eines dieser beiden Merkmale auf. Beispielsweise akzeptieren einige deutsche Staatsbürger nicht die Norm, dass man alle Menschen mit Respekt behandeln sollte. Neonazis, Rassisten u. a. bestreiten dies. Nichtsdesto-
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weniger gilt diese Norm in unserem Staat, und zwar nicht zuletzt, weil Verstöße gegen sie rechtlich geahndet werden. Niemand wird bestreiten, dass die rechtlichen Verbote des Betrugs, des Mordes und des Diebstahls in Deutschland gelten, weil sie weitgehend akzeptiert und befolgt werden. Die Tatsache, dass einzelne Morde, Betrugsfälle und Diebstähle vorkommen, tut dem keinen Abbruch. Ähnlich verhält es sich mit moralischen Normen. Zwar kommen Ehebrüche, Lügen, Demütigungen u. Ä. gelegentlich vor, dennoch gelten diese Handlungsweisen als moralisch verboten. Wenn wir nun Hoersters begriffliche Unterscheidungen auf Kants Beispiele anwenden, dann stellen sich die Absichten der Handelnden ganz anders als bei Kant dar. Betrachten wir nochmals das unwahrhaftige Versprechens mit dem Zweck, ein Darlehen zu erhalten. Ausgehend von den uns geläufigen Fällen, halte ich folgende Beschreibung für angemessen: Der Lügner wünscht sich, dass die Norm, Versprechen zu halten, in seiner Gruppe gilt, er will sie aber in einem einzelnen Fall nicht befolgen. Wir können dem Sprecher also diese beiden Wünsche zuschreiben: (W 1) Ich wünsche, dass in meiner sozialen Gruppe das moralische Verbot unaufrichtiger Versprechen gilt. Das heißt: Ich wünsche, dass die Mehrheit in meiner Gruppe das Verbot falscher Versprechen akzeptiert und dass dieses Verbot in der Mehrzahl der Fälle eingehalten wird. (W 2) Ich will gegen das moralische Verbot des falschen Versprechens in einzelnen Fällen verstoßen. Zwischen (W 1) und (W 2) besteht offenbar keinerlei Widerspruch, weder ein logischer noch ein pragmatischer. Solange der Handelnde davon ausgehen kann, dass die Norm, gegen die er verstoßen will, von anderen und möglicherweise sogar von ihm selbst in der Mehrzahl der Fälle befolgt wird, wird auch der Erfolg seiner Handlung nicht gefährdet. Er nutzt die Geltung einer moralischen Norm aus. Das kann schon deshalb nicht un-
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möglich sein, weil es tatsächlich geschieht. Was wirklich ist, das ist gemäß den Gesetzen der Modallogik auch möglich. Höffes Argument der „pragmatischen Unmöglichkeit“ (vgl. Abschnitt 6, S. 210f.) trifft auf diesen Fall demnach nicht zu. Man darf wohl davon ausgehen, dass alle uns bekannten moralischen Normen gelegentlich übertreten werden. Das heißt, dass die Geltung einer Norm und gelegentliche Verstöße gegen sie ohne weiteres miteinander verträglich sind. Auf dieser Verträglichkeit beruht die Möglichkeit, durch einzelne Verstöße von der Geltung moralischer Normen zu profitieren. Wer das tut, verhält sich in keiner der bisher erörterten Weisen widersprüchlich. An dieser Stelle des Gedankengangs könnten Kant und seine Anhänger einwenden, dass der Widerspruch hier nur deshalb nicht auftritt, weil der Handelnde seine Maxime nicht zu einem allgemeinen Gesetz verallgemeinert hat. Dieser Hinweis trifft zwar zu – man kann auf ihn jedoch mit der Frage antworten, warum ein Akteur seine Maxime probeweise universalisieren sollte. Mit dieser Frage gehe ich über die Analyse der moralphilosophischen Argumente Kants hinaus und trete in die grundsätzliche Auseinandersetzung mit seinem starken ethischen Rationalismus ein. 10. Ist es unvernünftig, wenn eine Person ihre Maximen nicht dem Test der Verallgemeinerbarkeit unterwirft? Wenn man mit Kant davon ausgeht, dass die widerspruchsfreie Universalisierbarkeit das Kriterium der Moral ist, dann darf man auch von jedem moralischen Subjekt fordern, dass es seine Entscheidungen mittels dieses Kriteriums auf ihre Moralität hin prüft. Es besteht demnach die moralische Pflicht zweiter Stufe, die eigenen Maximen dem Test der Verallgemeinerbarkeit zu unterwerfen. Dies soll hier nicht bestritten werden. Die im Hinblick auf die V-Frage entscheidende Frage lautet aber, ob es auch vernünftigerweise geboten ist, die eigenen Handlungsgrundsätze anhand des Maßstabs ihrer Universalisierbarkeit zu überprüfen. Wie man diese Frage beantworten wird, hängt offensichtlich davon ab, was man unter „praktischer Vernunft“ versteht.
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Es ist daher zu klären, welche Bedeutung – oder welche Bedeutungen – dieser Begriff bei Kant hat. Einen Anhaltspunkt dafür bietet der Titel der zweiten Kritik. Die Rede von der reinen praktischen Vernunft ist nur dann sinnvoll, wenn praktische Vernunft nicht notwendigerweise rein ist, d. h. wenn es neben der reinen noch mindestens einen weiteren Typ praktischer Vernunft gibt. Dieser Typ, den Kant meines Wissens terminologisch nicht ausgezeichnet hat, soll „angewandte praktische Vernunft“ genannt werden. Verschiedene Gründe sprechen dafür, angewandte praktische Vernunft als die Fähigkeit anzusehen, hypothetischen Imperativen zu folgen. Dies ergibt sich daraus, dass praktische Vernunft nach Kant das Vermögen ist, sich Zwecke zu setzen und sie zu verwirklichen, und aus der bereits dargestellten Einteilung aller Zwecke in kontingente, materiale Zwecke einerseits und den notwendigen, formalen Zweck der Gesetzestauglichkeit andererseits. (Kant hielt übrigens die angewandte praktische Vernunft für unproblematisch, die Annahme, „daß es reine praktische Vernunft gebe“78, hingegen für begründungsbedürftig.). Im Anschluss an Kant könnte man nun, der Unterscheidung zwischen problematischen und assertorischen Imperativen folgend, innerhalb der angewandten praktischen Vernunft nochmals zwei Untertypen unterscheiden.79 Diese Unterscheidung kann hier jedoch vernachlässigt werden. Demnach lässt sich festhalten, dass es nach Kant mindestens zwei Typen praktischer Vernunft gibt: die angewandte und die reine praktische Vernunft. Zwischen den ihnen entsprechenden praktischen Gründen oder Imperativen können nun offensichtlich Konflikte auftreten. Um auf das Beispiel zurückzukommen, so fordert die angewandte praktische Vernunft unter der Voraussetzung, dass die betreffende Person sich aus ihrer finanziellen Not befreien will, dass sie ein falsches Versprechen abgibt, um sich mit dessen Hilfe Geld zu borgen. Diese Handlungsweise ist aber Kant zufolge gemäß der reinen praktischen Vernunft nicht erlaubt. Die Frage, ob es für diesen Konflikt zwischen den beiden Typen praktischer Vernunft eine vernünftige Lösung gibt, soll hier noch nicht beantwortet werden.80 An
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dieser Stelle ist vielmehr zu fragen, ob sich derjenige, der dem prudentiellen Grund den Vorzug vor dem moralischen gibt, notwendigerweise unvernünftig verhält. Soweit ich sehe, findet sich dafür bei Kant keine überzeugende Begründung. Man kann ihm durchaus zugestehen, dass die Forderung der Verallgemeinerbarkeit das Kriterium der Moral ist. Zu diesem Ergebnis ist er durch die Analyse des Sprachgebrauchs gelangt, und diese Voraussetzung soll hier nicht in Frage gestellt werden. Zu zeigen wäre aber darüber hinaus, dass es im Fall des Konflikts zwischen verschiedenartigen Gründen unvernünftig wäre, dem moralischen Grund nicht den Vorrang einzuräumen. Doch was spricht für diese Annahme? Kant hat mit der Unterscheidung zwischen reiner und angewandter praktischer Vernunft implizit eingeräumt, dass auch moralisch irrelevante oder unmoralische Handlungen zumindest in einer bestimmten Hinsicht vernünftig sein können. Wer einen hypothetischen Imperativ befolgt, der handelt aus einem guten Grund und somit in Bezug auf die angewandte praktische Vernunft auch vernünftig.81 Das Gleiche gilt für denjenigen, der einem prudentiellen Grund den Vorrang vor einem moralischen einräumt. Somit spricht grundsätzlich nichts gegen die mögliche Vernünftigkeit unmoralischer Handlungen. Wie ließe sich Kants starker ethischer Rationalismus in Anbetracht dieser Lage dennoch verteidigen? Meiner Meinung nach kommen hier nur zwei Vorschläge in Betracht, von denen keiner zu überzeugen vermag. Erstens könnte man für das Kriterium der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit, das ja zunächst nur als moralisches eingeführt wurde, in Anspruch nehmen, dass es ein grundlegendes Rationalitätskriterium ist. In diesem Fall würde man aber erstens eine petitio principii begehen, weil das, was gezeigt werden soll, einfach vorausgesetzt würde. Außerdem müsste man das Resultat in Kauf nehmen, dass nur moralische Gründe vernünftige Gründe sind, weil das Kriterium der Universalisierbarkeit in diesem Fall auch für die angewandte praktische Vernunft gelten müsste, sodass alle nicht verallgemeinerbaren Handlungsgründe ausscheiden würden. Dies wider-
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spricht aber Kants Einteilung in reine und angewandte praktische Vernunft. Zweitens könnte man behaupten, dass den Handlungsgründen der reinen Vernunft aufgrund ihrer Notwendigkeit, ihrer Apriorität oder ihrer Formalität der Vorrang vor anderen Gründen zukommen müsse.82 Es ist aber nicht ersichtlich, warum diesen Merkmalen irgendeine normative Dignität zukommen sollte. Wenn man hypothetische und kategorische Imperative nur als normative Prinzipien betrachtet, dann sind sie gleichwertig, denn ein normatives Prinzip wird nicht dadurch „weniger normativ“, dass es nur wirklich, aber nicht notwendigerweise gilt. Ebenso wenig wird die Normativität eines Prinzips durch seine Notwendigkeit gesteigert. Deshalb ist es im Hinblick auf die Vernünftigkeit einer Handlung irrelevant, ob sie aufgrund kontingenter, materialer oder notwendiger, formaler Gründe ausgeführt wird. Der Verweis darauf, dass es nicht moralisch erlaubt ist, die Forderungen des kategorischen Imperativs denen eines hypothetischen unterzuordnen, stellt keinen Einwand gegen diese Feststellung dar. 11. Ich fasse die Ergebnisse dieses Kapitels zusammen. Die Analyse der verschiedenen Formeln des kategorischen Imperativs hat zu folgenden Ergebnissen geführt: – Die Zweck-Formel ist eine unselbständige Variante des kategorischen Imperativs, weil sie auf die Gesetzes-Formel verweist. – Aus der axiologischen Annahme, dass der reinen Vernunft und der moralischen Gesetzgebung ein absoluter Wert zukomme, lässt sich ohne Zusatzannahmen nicht folgern, dass es notwendigerweise unvernünftig ist, unmoralisch zu handeln. – Die Naturgesetz-Formel ist als Kriterium der Moral unbrauchbar. – Mittels der Gesetzes-Formel lässt sich zeigen, dass eine bestimmte Klasse von Maximen zu einem pragmatischen Widerspruch führt, wenn man sie probeweise als allgemei-
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nes präskriptives Gesetz denkt. Dabei handelt es sich um Handlungsweisen, die eine konventionell geregelte soziale Praxis voraussetzen, von der sie als Ausnahmen profitieren wollen. – Maximen bzw. Handlungsweisen, die nicht auf konventionell geregelte soziale Praxen bezogen sind, lassen sich widerspruchsfrei verallgemeinern. – Bei Kant findet sich keine überzeugende Begründung dafür, dass es grundsätzlich unvernünftig ist, aus prudentiellen Gründen gegen moralische Normen zu verstoßen. Ebenso wenig hat er nachgewiesen, dass es unvernünftig ist, die eigenen Maximen nicht dem moralischen Test der Verallgemeinerungsfähigkeit zu unterziehen. Man kann also festhalten, dass Kants starker ethischer Rationalismus, abgesehen von einer Ausnahme, nicht zu überzeugen vermag. Der Nachweis der Selbstwidersprüchlichkeit ist ihm nur in Bezug auf eine kleine Menge unmoralischer Handlungsweisen gelungen, und selbst für diese gilt, dass nicht die ihnen zugrunde liegenden Maximen selbst, sondern nur deren verallgemeinerte Formen zu einem pragmatischen Widerspruch führen. Schließlich findet sich bei Kant kein überzeugendes Argument für die These, dass es irrational ist, prudentiellen Gründen den Vorrang vor moralischen zu geben.
Kapitel 6 Die diskursethische These der Unhintergehbarkeit der Argumentation 1.1 Die Diskursethik, „die selbst in der Tradition der kantischen Ethik steht“1, teilt mit Kant zwei grundlegende Intuitionen: Erstens sei widerspruchsfreie Verallgemeinerungsfähigkeit das Kriterium für moralische Normen, und zweitens bestehe ein unauflösbarer Zusammenhang zwischen dem Rationalitätskriterium der Widerspruchsfreiheit und den Ansprüchen der Moral. Wolfgang Kuhlmann, ein Schüler von Karl-Otto Apel, geht noch einen Schritt weiter. Er vertritt ausdrücklich die These, dass unmoralisches Handeln notwendigerweise selbstwidersprüchlich und daher unvernünftig ist. Aus Gründen, auf die ich am Ende dieses Kapitels eingehen werde, hat sich Jürgen Habermas dieser Auffassung nicht uneingeschränkt angeschlossen. Gemeinsam ist aber allen genannten Autoren, dass sie durch die „reflexive“ bzw. „rekonstruktive“ Analyse von Argumentationen („Diskursen“) moralisch relevante Präsuppositionen unserer kommunikativen Praxis aufdecken wollen, die jeder Argumentierende zumindest implizit anerkannt haben muss, um den Diskurs, in den er angeblich „immer schon“ eingetreten ist, überhaupt führen zu können. Innerhalb der Diskursethik lassen sich zwei Spielarten unterscheiden: einerseits die von Apel, Kuhlmann und anderen vertretene Transzendentalpragmatik, andererseits die von Habermas und seinen Schülern entwickelte Universalpragmatik. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Richtungen, die im Verlauf der Zeit immer deutlicher zutage getreten sind, müssen
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hier nicht im Detail erörtert werden. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Varianten der Diskursethik betrifft das Ziel und die damit beanspruchte Reichweite der Theorien. Die Transzendentalpragmatik verfolgt das Ziel der „Letztbegründung“.2 Sie will nachweisen, dass bestimmte Normen für alle Argumentierenden als solche „unhintergehbar“ und somit unbestreitbar sind. Transzendental ist diese Begründungsweise insofern, als sie nur die Struktur des Argumentierens überhaupt zugrunde legt und dabei versucht, die Bedingungen der Möglichkeit zu explizieren, die in unserer Praxis des Argumentierens immer schon erfüllt sind. Sollte das Projekt der Transzendentalpragmatik gelingen, dann wäre damit nachgewiesen, dass die als unhintergehbar ausgewiesenen Normen infallibel sind. Habermas verfolgt mit seiner Universalpragmatik hingegen ein bescheideneres Ziel. Die Ergebnisse der Rekonstruktion des impliziten Regelwissens kompetenter Sprecher müssen seiner Meinung nach als Gesetzeshypothesen an Anwendungsfällen überprüft werden; sie sind als hypothetische Explikationen grundsätzlich fallibel.3 In Bezug auf die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, hat diese Divergenz keine weitreichenden Folgen. Deshalb muss sie hier nicht näher behandelt werden. Stattdessen werde ich mich darauf konzentrieren, die Antworten der Diskursethiker auf die V-Frage darzustellen und kritisch zu prüfen. Dabei werde ich folgendermaßen vorgehen. Zuerst werde ich mich mit der Transzendentalpragmatik auseinandersetzen. Da diese meiner Meinung nach am detailliertesten und klarsten von Wolfgang Kuhlmann ausgearbeitet worden ist, werde ich mich vor allem an seinen einschlägigen älteren Schriften „Reflexive Letztbegründung“ (1981) und Reflexive Letztbegründung. Studien zur Transzendentalpragmatik (1985) sowie an seiner neueren Darstellung in Beiträge zur Diskursethik (2007) orientieren. Wo es zur Klärung beiträgt, werde ich auch auf Apel eingehen. Nach der Analyse der transzendentalpragmatischen Antwort auf die V-Frage werde ich mich der universalpragmatischen Variante der Diskursethik zuwenden und dabei Habermas’ Thesen über das Verhältnis von Vernunft und Moral prüfen.
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Die Diskursethik zählt sicherlich zu den am intensivsten diskutierten moralphilosophischen Entwürfen der Gegenwart. Sie ist aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen theoretischen Absichten kritisiert worden. So finden sich beispielsweise in der Literatur sowohl eine konservative als auch eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit der Diskursethik.4 Man hat sie sowohl aus der Perspektive des Kritischen Rationalismus als auch aus der Sicht des Peirce’schen Pragmatismus kritisiert,5 usw. usf. Die einschlägige Literatur, in der zahlreiche Schwächen der diskursethischen Begründung der Moral aufgewiesen wurden, kann hier aber nur am Rande verwertet werden, weil der Fokus der Kritik sich nur selten auf die Antwort der Diskursethik auf die V-Frage richtet. Mir geht es hingegen in der folgenden Analyse weniger um Einzelheiten der diskursethischen Begründung moralischer Normen als um die Frage nach der Rationalität ihrer Befolgung. 1.2 Karl-Otto Apel hat das Projekt der Transzendentalpragmatik folgendermaßen charakterisiert: [...] die transzendentalpragmatische Letztbegründung würde darin bestehen, jedem, der ernsthaft argumentiert (z. B. jedem, der ernsthaft fragt – warum – d. h. aufgrund welcher rationalen Einsicht – Gerechtigkeit bzw. ihr semantisches Explikat „Unparteilichkeit“ sein soll, warum sie also dem bloß persönlichen Vorteil vorgezogen werden soll) dazu auffordern, sich in strikter Reflexion auf diejenigen normativ relevanten pragmatischen Präsuppositionen seines aktuellen Argumentierens (z. B. seiner ernsthaft zur Diskussion gestellten Frage) zu besinnen, die er ohne performativen Selbstwiderspruch nicht bestreiten kann. Läßt sich der so Angesprochene auf die Zumutung der „strikten Reflexion“ [...] ein, so kann er sich dessen vergewissern, daß er als Argumentierender (d. h. als Mitglied einer realen und einer darin kontrafaktisch antizipierten idealen Argumentationsgemeinschaft) immer schon eine nicht-strategische Verständigungsrationalität in Anspruch nimmt, kraft derer er u. a. das Prinzip der Unparteilichkeit als normativ verbindlich anerkannt hat. („Diskursethik vor der Problematik von Recht und Politik“, S. 54)
Anhand dieses Zitats lassen sich einige grundlegende Begriffe und Thesen der transzendentalpragmatischen Variante der Dis-
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kursethik erläutern. Kennzeichnend für diese Theorie ist die Methode der strikten Reflexion. Dieser Begriff bezeichnet den Prozess, in dem die impliziten realen und idealen Voraussetzungen einer bestimmten Praxis, z. B. des Argumentierens, durch die Analyse dieser Praxis expliziert werden. Den Ausgangspunkt bildet dabei das „Handlungswissen“, das wir als Teilnehmer unserer Argumentationspraxis teilen.6 Dieses knowing how soll durch die Reflexion in ein explizites Regelwissen als knowing that überführt werden.7 Die strikte Reflexion ist insbesondere von der Deduktion abzugrenzen; deshalb stellt der Verweis auf das sogenannte Münchhausen-Trilemma (logischer Zirkel, willkürlicher Abbruch der Begründung oder unendlicher Regress)8 nach Meinung der Diskursethiker keinen gültigen Einwand gegen die Transzendentalpragmatik dar.9 Das Ziel der reflexiven Analyse des Diskurses besteht darin, „normativ relevante pragmatische Präsuppositionen“ aufzuweisen. Es geht also nicht um irgendwelche implizite Voraussetzungen des Argumentierens, insbesondere nicht um semantische oder logische, sondern um pragmatische. Eine ebenso wichtige wie umstrittene These der Transzendentalpragmatik lautet, dass diese pragmatischen Präsuppositionen zugleich moralische Normen sind. Es soll nachgewiesen werden, dass diese Voraussetzungen insofern unhintergehbar sind, als sie zwar nicht deduziert, aber auch nicht ohne „performativen Selbstwiderspruch“ bestritten werden können. Worin ein solcher Widerspruch – im Unterschied zu einem logischen Widerspruch – besteht, muss später geklärt werden. Festzuhalten ist vorerst nur, dass die performative Widerspruchsfreiheit ein Kriterium für die Rationalität Argumentierender sein soll. Ob dieses Kriterium erfüllt ist, soll mittels des sogenannten „PS-Tests“ überprüft werden. Schließlich kann man dem Zitat entnehmen, dass es Apel zufolge verschiedene Rationalitätstypen gibt, von denen einer auf eine nicht-strategische, d. h. wohl zwanglose Verständigung bezogen ist. Schon diese Skizze des transzendentalpragmatischen Programms lässt erkennen, worin die beiden größten Schwierigkeiten der diskursethischen Begründung moralischer Normen bestehen.
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Erstens ist nicht ohne weiteres ersichtlich, inwiefern das Gelingen von Argumentationen von moralischen Präsuppositionen abhängen könnte. Wenn man zugesteht, dass gelingendes Argumentieren auf logischen, semantischen und pragmatischen Voraussetzungen beruht, wird damit – wie es scheint – die Frage nach der Begründung moralischer Normen noch gar nicht unmittelbar berührt. Das zweite Problem betrifft den Übergang von normativen Voraussetzungen des Diskurses zu Normen für nicht-argumentative Handlungsweisen. Nehmen wir einmal an, dass es Apel und Kuhlmann tatsächlich gelungen sein sollte, normativ gehaltvolle Präsuppositionen des Argumentierens ausfindig zu machen, d. h. Normen, die jeder schon implizit anerkannt hat, sofern er argumentiert. In diesem Fall müsste die Diskursethik eine überzeugende Antwort auf den nahe liegenden Einwand geben können, dass das Argumentieren nur eine von vielen verschiedenartigen Handlungsweisen ist, die Menschen im Verlauf ihres Lebens vollziehen. Warum sollten nun Normen, die für das Argumentieren gelten, auch für alle anderen moralisch relevanten Handlungsweisen gelten? Wer zugestanden hat, dass er als Argumentierender durch bestimmte idealisierte Diskursvoraussetzungen normativ gebunden ist, der muss – solange dafür kein zusätzliches Argument vorgebracht worden ist – nicht schon aus diesem Grund akzeptieren, dass die normativen Voraussetzungen des Diskurses, z. B. die Anerkennung aller anderen als gleichberechtigter Partner, auch für nicht-argumentative Handlungsweisen gelten. Dieser Einwand geht mit dem Verdacht einher, dass der Bezug auf den „Diskurs“ im Namen der Diskursethik anders zu verstehen ist, als es von den Vertretern dieser Richtung beabsichtigt war: Es handelt sich nicht nur um eine diskursiv begründete Ethik, sondern außerdem um eine Ethik, die nur für Diskurse gilt. Ob es den Diskursethikern gelungen ist, diesen Verdacht auszuräumen, wird die weitere Darstellung zeigen. 1.3 In seiner Durchführung des Letztbegründungsarguments geht Wolfgang Kuhlmann von der Frage aus, ob es möglich ist,
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in theoretischen Diskursen für alles eine Begründung zu verlangen bzw. alles zu bezweifeln oder zu bestreiten.10 Diese Frage lässt sich auch so formulieren: „Gibt es Evidenzen, die über jeden Zweifel erhaben sind und die wir auch jetzt schon als solche identifizieren können?“ 11 Um diese Frage unabhängig davon, um welche Aussagen es geht, beantworten zu können, müsse man auf die Bedingungen der Möglichkeit des Bezweifelns und damit auf die Grenzen des Bezweifelbaren reflektieren. Dabei müsse man zwischen gelingendem und misslingendem, zwischen sinnvollem und sinnlosem Zweifeln unterscheiden. Sinnvoll sei ein Zweifel nur dann, wenn er ernst gemeint, sachlich, vom Interesse an Wahrheit geleitet, widerspruchsfrei und offen für Einwände sei.12 Diese Überlegung kann man auf zwei Arten des Zweifels beziehen: entweder auf das Bezweifeln bestimmter Gegenstände der Argumentation oder auf die Regeln der Argumentation selbst. Während möglicherweise keine der Thesen, die in Argumentationen vertreten werden können, unbezweifelbar ist, lassen sich bestimmte Regeln der Argumentation Kuhlmann zufolge nicht sinnvoll bestreiten. Um dies zu zeigen, bedient er sich einer ähnlichen Begründungsfigur wie Descartes in den Meditationen. Descartes hatte bekanntlich die Existenz eines genius malignus angenommen, um seinen methodischen Zweifel zu radikalisieren. Er unterstellte probeweise, dass er fortwährend von einem solchen boshaften Geist getäuscht wird. Da nun das Getäuschtwerden eine Art des Denkens (cogitare) ist, lässt sich aus der Tatsache des Getäuschtwerdens auf das Denken schließen: Solange ich getäuscht werde, ist es unbezweifelbar, dass ich denke.13 Ähnlich verhält es sich nach Kuhlmann mit dem Skeptiker. Solange er ernsthaft etwas bezweifelt, argumentiert er und muss deshalb bestimmte Argumentationsregeln anerkennen: Das entscheidende Argument ist das folgende: Wenn der Zweifelnde z. B. die Geltung der Regeln der Argumentation bestreitet, also behauptet: „Die Regeln der Argumentation gelten für mich nicht“ (p), dann widerspricht er sich selbst. Warum widerspricht er sich? Weil unsere Theorie des Zweifelns bzw. des Bestreitens aussagt, daß sinn-
Die diskursethische These der Unhintergehbarkeit der Argumentation 229 volles Bestreiten Argumentieren ist, als solches vom Bestreitenden verstanden werden muß und daß der Bestreitende die Regeln der Argumentation anerkannt haben muß, um sinnvoll bestreiten zu können. Es kommt also zum Widerspruch zwischen der als unbestreitbar zu erweisenden Aussage einerseits und Unterstellungen, die nach unserer Theorie der Bestreitende machen muß, also Konsequenzen der Theorie andererseits. („Reflexive Letztbegründung“, S. 10)
Wie Apel und Habermas greift Kuhlmann hier auf die von Austin begründete und von Searle weiterentwickelte Theorie der Sprechakte zurück.14 Searle zufolge sind Sprechakte die kleinsten Einheiten der Kommunikation. 15 Jeder Sprechakt bestehe aus einem Äußerungsakt, d. h. dem Äußern von Wörtern, einem propositionalen Akt, d. h. aus Referenz und Prädikation, sowie aus dem Vollzug eines illokutionären Akts, mit dem der Sprecher sich auf den Inhalt des propositionalen Akts auf bestimmte Art und Weise bezieht, indem er diesen z. B. behauptet, bezweifelt oder seine Verwirklichung befiehlt.16 Der illokutionäre Akte des Bestreitens ist nun u. a. dadurch gekennzeichnet, dass der Bestreitende den Geltungsanspruch der Wahrheit erhebt. Dieser Geltungsanspruch ist aber auch für die Praxis des Argumentierens konstitutiv. Demnach lässt sich der von dem Skeptiker geäußerte Sprechakt folgendermaßen reformulieren: ‚Ich erhebe einen Wahrheitsanspruch für die Aussage, dass die Regeln der Argumentation, zu denen es gehört, dass die Argumentierenden für ihre Aussagen Wahrheit beanspruchen, für mich nicht gelten‘. Diese Aussage lässt sich nun wiederum so wiedergeben: ‚Ich behaupte (d. h. ich erhebe einen Wahrheitsanspruch für die Aussage), dass die Forderung, jeder Argumentierende müsse für seine Aussagen einen Wahrheitsanspruch erheben, für mich nicht gilt‘. Damit wird die im propositionalen Akt ausgedrückte Forderung, dass man mit Argumenten Wahrheitsansprüche erheben soll, durch den illokutionären Akt konterkariert. Der Sprechakt enthält zwar keinen expliziten logischen Widerspruch; dieser läge nur dann vor, wenn der Sprecher zugleich p und nicht-p behauptete, also: ‚Für alle Argumentierenden gilt die Regel, dass sie für ihre Aussagen Wahr-
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heit beanspruchen sollten, und für alle Argumentierenden gilt nicht die Regel, dass sie für ihre Aussagen Wahrheit beanspruchen sollten‘. Der Sprecher verhält sich jedoch performativ widersprüchlich: Wenn er einen ernst zu nehmenden Zweifel äußern will, muss er in seinem illokutionären Akt der Regel folgen, deren Geltung er im propositionalen Akt bestreitet. Diese performative Widersprüchlichkeit wird dadurch aufgedeckt, dass man nicht mehr bloße Aussagen in Abstraktion von Äußerungen, sondern Sprechakte mit ihrer illokutionär-propositionalen Doppelstruktur analysiert. Worin die performative Selbstwidersprüchlichkeit besteht, wird noch deutlicher, wenn man versucht, die genannte Äußerung zu verstehen. Der Versuch des Hörers, dem Sprechakt einen Sinn abzugewinnen, führt in ein Dilemma. Entweder nimmt der Hörer den propositionalen Gehalt des Sprechakts ernst. In diesem Fall wird er die Äußerung so auffassen, dass sie nicht mit einem Wahrheitsanspruch verbunden ist. Dies kann nun erstens nicht mit dem illokutionären Akt in Übereinstimmung gebracht werden, und zweitens führt es dazu, dass der geäußerte Zweifel nicht ernst genommen werden kann (erstes Horn). Oder er nimmt den illokutionären Akt des Bezweifelns ernst und fasst ihn so auf, dass er mit dem Anspruch auf Wahrheit verbunden ist. Dies passt aber nicht zu dem im propositionalen Akt Behaupteten (zweites Horn). In beiden Fällen muss der Hörer dem Sprecher widersprüchliche Überzeugungen zuschreiben. Deshalb hat Matthias Kettner m. E. zu Recht darauf hingewiesen, dass die Rede vom performativen Widerspruch auf der Zuschreibung bestimmter logisch widersprüchlicher Überzeugungen beruht und dass daher performative Widersprüche logische Widersprüche enthalten: Von einem Sprechakt A eines Sprechers S zu sagen, daß S sich durch A „in einen performativen logischen Widerspruch verwickelt“, heißt: Wenn S den Sprechakt A als Versuch eines Diskursbeitrags gelten lassen will, dann wird A kein gültiges Ergebnis haben können, weil dann, wenn A ein gültiges Ergebnis haben würde, S nicht vermeiden könnte, eine offen widersprüchliche Überzeugung-von-S-über-S zu-
Die diskursethische These der Unhintergehbarkeit der Argumentation 231 geschrieben zu bekommen: die Überzeugung nämlich, [daß es eine bestimmte Handlung a gibt, derart, daß S a zu tun beabsichtigt] und [daß es a nicht gibt]. („Ansatz zu einer Taxonomie performativer Selbstwidersprüche“, S. 209)
Als vorläufiges Ergebnis lässt sich daher festhalten: Niemand kann, wenn er argumentiert, ohne performativen Selbstwiderspruch ernsthaft bezweifeln, dass bestimmte Regeln der Argumentation für ihn gelten. Kuhlmanns Gedankengang halte ich bis zu diesem Punkt für überzeugend. Allerdings ist die Problematik der Begründung moralischer Normen bisher noch gar nicht berührt worden, denn erstens war bislang nur von theoretischen Diskursen die Rede, also von Argumentationen, in denen es um die Wahrheit von Aussagen geht. Praktische Diskurse, in denen die Richtigkeit von Normen geprüft wird, wurden noch nicht einbezogen. Und zweitens handelt es sich trotz Apels und Kuhlmanns gegenteiliger Versicherungen bei den Regeln der Argumentation, deren Geltung bisher mittels des PS-Tests nachgewiesen worden ist, nicht um moralische Normen, sondern um Normen der prudentiellen Rationalität.17 Wer ernsthaft etwas bezweifeln will, der sollte für seine Aussagen Wahrheit beanspruchen, offen für Einwände sein etc. Wer dies nicht will, weil das Ziel seiner Äußerung z. B. nur darin besteht, einen Transzendentalpragmatiker zu provozieren, der muss diese Normen nicht befolgen.18 Es bleibt also abzuwarten, wie die reflexive Aufdeckung von Argumentationsregeln mit dem Problem der Begründung der Moral und mit der V-Frage zusammenhängt. 1.4 Im vorigen Abschnitt ist dargestellt worden, wie man Kuhlmann zufolge durch Reflexion auf die Präsuppositionen theoretischer Diskurse mittels des Kriteriums der performativen Widerspruchsfreiheit die Geltung bestimmter Argumentationsregeln nachweisen kann. Um welche Regeln es sich dabei handelt, ist bisher nur angedeutet worden. Außerdem ist noch nicht geklärt worden, worin der Zusammenhang dieser Regeln mit moralischen Normen besteht. Deshalb muss Kuhlmann im nächsten
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Schritt seines Gedankengangs nachweisen, „daß zu den von uns immer schon notwendig anerkannten Argumentationsregeln und -voraussetzungen auch fundamentale ethische Normen gehören, die sich zu Prinzipien einer normativen Ethik eignen“19. Um diesen Nachweis zu führen, geht Kuhlmann von dem Interesse aus, das alle Personen teilen, wenn ihnen an der Lösung eines Problems gelegen ist: dem Interesse daran, die Wahrheit herauszufinden.20 Unter der Voraussetzung, dass die Wahrscheinlichkeit, dass man die Wahrheit herausfinden wird, dann am größten ist, wenn man sich auf den vernünftigen Austausch von Argumenten einlässt, gilt dann folgende Norm, die Kuhlmann als „Norm 1“ bezeichnet: „,Wenn wir wirklich ernsthaft etwas wissen wollen, wenn wir an der Lösung eines Problems ernsthaft interessiert sind, dann ist es geboten, daß wir uns rational argumentierend um die richtige Lösung bemühen.‘“21 In einer schwer verständlichen Passage überführt Kuhlmann diese bedingte in eine unbedingte Norm: Als Ausdruck unseres eigentlichen Wollens gilt diese Norm, auch wenn sie in einem Konditionalsatz formuliert wurde, nicht hypothetisch, sondern kategorisch. Sie gilt unter allen Umständen, unter denen Normen überhaupt als handlungsorientierende Instanz fungieren können: Immer dann, wenn explizit oder implizit die Frage auftaucht, das Problem sich stellt „Was sollen wir tun?“ „Was soll der nächste Schritt sein?“ ergibt sie sich als die erste und zugleich absolut verbindliche, durch nichts und niemand ohne Selbstwiderspruch zu bestreitende Antwort. Sie kann daher auch ohne den Konditionalsatz als kategorischer Imperativ formuliert werden: „Argumentiere rational!“ (Reflexive Letztbegründung, S. 185)
Diese Herleitung ist m. E. mit zwei Schwierigkeiten verbunden. Erstens wird nicht deutlich, worin sich die beiden Formeln der Norm 1 inhaltlich unterscheiden. Entweder besagt der Imperativ ‚Argumentiere rational!‘ dasselbe wie die konditional formulierte Norm. In diesem Fall wäre damit nur gesagt, dass jeder dann und nur dann rational argumentieren sollte, wenn ihm ernsthaft an der Lösung eines Problems gelegen ist. Oder die verkürzte Formel besagt so viel wie: ‚Argumentiere immer oder möglichst häufig rational!‘. Wenn dies gemeint sein sollte, dann
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wiese die Ableitung offensichtlich eine Lücke auf. Gültig wäre sie nur, wenn Kuhlmann davon ausgehen könnte, dass alle Personen ein Interesse daran haben, immer oder möglichst oft zu argumentieren. Das ist nun aber nicht der Fall. Argumentieren ist nur eine von vielen Tätigkeiten, die Menschen im Verlauf ihres Lebens vollziehen müssen und wollen. Oft sind andere Handlungsweisen für sie wichtiger als das Argumentieren: Arbeiten, Einkaufen, Essen, Sporttreiben usw. Gerade eine Ethik, die einen universellen Geltungsanspruch erhebt, darf nicht von dem besonderen Fall des Wissenschaftlers ausgehen, der einen großen Teil seines Lebens damit zubringt, dass er argumentiert. Im Leben anderer Menschen dürfte das Argumentieren eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielen. Doch selbst wenn man sich auf die konditionale Formulierung der Norm 1 beschränkt, ist deren Herleitung anfechtbar. Aus der Voraussetzung, dass jemand herausfinden will, was der Fall ist oder was er in einer bestimmten Situation tun soll, folgt durchaus nicht zwingend, dass er sich in jedem Fall auf eine rationale Argumentation einlassen sollte. Theoretische und praktische Probleme können auf verschiedene Art und Weise gelöst werden. Das Argumentieren ist nur eine von ihnen und nicht immer die am besten geeignete. Wer z. B. eine grundsätzliche Entscheidung über seine weitere Lebensführung treffen will, der muss nicht notwendigerweise mit anderen Argumente austauschen. Oftmals genügt es, dass er das Problem in Bezug auf seine eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten gründlich durchdenkt. In anderen Fällen ist es angemessener, sich zu informieren. Wer wissen will, wie er mit der Bahn am schnellsten von Berlin nach Freiburg reisen kann, der braucht keinen Diskurs zu führen; er sollte einfach den Fahrplan konsultieren. Um herauszufinden, wie die Spiele der Bundesliga ausgegangen sind, brauche ich ebenso wenig in einen Diskurs einzutreten. Es genügt, dass ich die Zeitung lese. Wenn ich wissen will, welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Lebensbedingungen in Deutschland haben wird, dann ist es offensichtlich unangemessen, dass ich als Laie in eine Argumentation mit den dafür zuständigen Ex-
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perten eintrete. Eine Voraussetzung für eine vernünftige Diskussion, der Apel und Kuhlmann keine Beachtung schenken, besteht nämlich darin, dass alle Teilnehmer sachkundig sind. Wenn man über diese Sachkenntnis nicht verfügt, dann sollte man vernünftigerweise nicht mit den Experten streiten, sondern sich auf ihre Auskünfte verlassen. In einer arbeitsteilig organisierten und hoch spezialisierten Gesellschaft ist das so unumgänglich wie vernünftig. Geht man von diesen beiden Einwänden aus, dann muss Norm 1 folgendermaßen reformuliert werden: „Wem ernsthaft an der Lösung eines theoretischen oder praktischen Problems gelegen ist, der sollte in Bezug auf dieses Problem rational argumentieren, sofern die Argumentation in diesem Fall die angemessenste Art und Weise der Problemlösung ist.“ In dieser Fassung dürfte die Norm unkontrovers sein. Ungeklärt blieb bisher, worin ihre Relevanz für die Moral besteht. – Überraschenderweise handelt es sich bei ihr nach Kuhlmann selbst schon um eine moralische Norm. Er begründet diese These mit dem Verweis auf ihre Verbindlichkeit: Wenn eine Norm absolut verbindlich ist, sie unter keinen Umständen in ihrer Geltung bestritten werden kann, dann gehört sie als etwas, was im Hinblick auf die Orientierung sich entscheiden sollender Personen unbedingt Vorrang hat, zum Kern der Ethik. Fragen von der Form: „Welche Ge- und Verbote, welche Normen sollen zur Ethik hinzugehören?“ „Gehört Nx zur Ethik?“ (dies gefragt, bevor die Ethik schon etabliert ist, also aus einer Situation heraus wie der unseren) können überhaupt nicht über inhaltliche Kriterien entschieden werden. Das würde in eine grobe petitio principii führen. Sie können nur über formale Kriterien, genauer: über das formale Kriterium der Verbindlichkeit entschieden werden. (Reflexive Letztbegründung, S. 186)
Kuhlmann setzt hier voraus, dass moralischen Normen notwendigerweise der Vorrang gegenüber anderen Normen zukommt. Diese Auffassung, die uns bereits mehrmals als Vorrangthese begegnet ist, soll erst im letzten Kapitel ausführlich geprüft werden. An dieser Stelle will ich mich darauf beschränken, auf eine seltsame Implikation der Kuhlmann’schen These hinzuwei-
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sen. Wenn er Recht hätte, dann müsste man auch bestimmte Rationalitätsnormen, die nach allgemein anerkanntem Sprachgebrauch nicht als moralische Regeln gelten, als moralische Normen bezeichnen. Dies gilt beispielsweise für das Streben nach Widerspruchsfreiheit. Wenn sich der Teilnehmer einer Diskussion versehentlich in einen Widerspruch verwickelt, dann wird man ihm dafür in der Regel keinen moralischen Vorwurf machen. Ein solcher Fehler stellt kein moralisches Vergehen dar. Man wird dem Sprecher nicht vorwerfen, dass er böse oder ungerecht gehandelt hat. Stattdessen wird man davon ausgehen, dass er das Streben nach Widerspruchsfreiheit als Rationalitätskriterium anerkannt hat, und ihn auf den Widerspruch aufmerksam machen. Ob es sinnvoll ist, Norm 1 als eine moralische Norm zu bezeichnen, läuft auf einen Streit um Worte hinaus, der hier nicht geführt werden muss. In Bezug auf die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, ist es zweitrangig, wie dieser Streit ausgehen würde, und zwar aus folgendem Grund: Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich bei Norm 1 um ein moralisches Gebot handelt, folgt aus ihr nicht ohne weiteres, dass man vernünftigerweise andere moralische Normen beachten soll, z. B. die Verbote des Mordes, der eigennützigen Lüge oder das Gebot der Rücksichtnahme. Dafür wäre noch immer eine eigenständige Begründung erforderlich. 1.5 Im nächsten Schritt seiner Argumentation versucht Kuhlmann, ausgehend von Norm 1, die folgende Norm 2 zu begründen: „,Wenn wir an der Lösung eines Problems ernsthaft interessiert sind, dann müssen wir uns um eine Lösung bemühen, der jedermann zustimmen könnte, um einen vernünftigen Konsens.‘“22 Auch in diesem Fall meint er, die bedingte Norm umstandslos in eine unbedingte überführen zu können. Sie lautet: „,Bemühe Dich um einen vernünftigen Konsens!‘“23 Gegen diesen Schluss lässt sich der gleiche Einwand erheben wie gegen die Reformulierung der ersten Norm: Nur wenn die Suche nach Wahrheit das einzige Interesse wäre, das man allen Personen
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zuschreiben kann, wären sie rational verpflichtet, immer oder möglichst oft nach einem vernünftigen Konsens mit anderen zu suchen. Darüber hinaus ist aber der Übergang von der bedingten Norm zu argumentieren zu der bedingten Norm, einen Konsens anzustreben, problematisch. Den Ausgangspunkt der Kuhlmann’schen Argumentation bildete die Annahme, dass alle Personen ein Interesse daran haben, die Wahrheit herauszufinden, wenn sie mit einem Problem konfrontiert sind. Ein sachlicher Zusammenhang zwischen der Wahrheit einer Aussage und dem Konsens der Argumentationsgemeinschaft über ihre Wahrheit würde aber offenbar nur dann bestehen, wenn die von Kuhlmann und anderen vertretene Konsens-Theorie der Wahrheit richtig wäre. Nur in diesem Fall wäre der Übergang von Norm 1 zu Norm 2 gerechtfertigt.24 Dies wird die folgende Analyse bestätigen. Kuhlmann geht davon aus, dass „zum Wirklich-WissenWollen das Interesse an Sicherheit, an Gewißheit wesentlich hinzugehört“25. Dies sei ihm zugestanden. Sein Argument für die Explikation von N 1 durch N 2 lautet dann so: Wir haben Gewißheit, wenn sich kein berechtigter Widerspruch anmeldet, und zwar weder von uns selbst noch von irgend jemand anderem aus der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft. Wir können diese Gewißheit vergrößern oder verstärken, indem wir Möglichkeiten s innvollen Widerspruchs ausschalten. Damit zeigt sich: Was wir in Wahrheit wollen, wenn wir wirklich etwas wissen wollen, wenn wir wirklich die Lösung eines Problems haben wollen, das ist eine Lösung, für die sich alle guten Gründe anführen lassen, gegen die sich kein berechtigter Widerspruch erhebt und erheben kann, eine Lösung also, der jedermann m it Recht zustimmen könnte. Was wir wollen, ist ein vernünftiger Konsens. (Reflexive Letztbegründung, S. 190 – fette Hervorh. v. mir)
Kuhlmann scheint mir hier in etwa Folgendes sagen zu wollen: Wer an der Gewissheit seiner Überzeugungen interessiert ist, der sollte alle möglichen berechtigten Zweifel an ihnen ausräumen. Nun kann er sich aber nicht sicher sein, dass er allein alle einschlägigen Einwände berücksichtigen kann, deshalb ist er auf die Argumente anderer realer und fiktiver Gesprächspartner
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angewiesen. Und da vielen Köpfen mehr einfällt als einem einzigen, sollte er sich um einen Konsens mit allen anderen bemühen. Ich halte diese Überlegung für irreführend. Es kommt nämlich nicht darauf an, irgendwelche Einwände zu berücksichtigen, sondern nur „berechtigte“ und „sinnvolle“ Einwände. Es geht nicht darum, dass alle Argumentierenden überhaupt zustimmen können, sondern dass sie „mit Recht“ zustimmen können. Angestrebt wird nicht ein beliebiger, sondern ein „vernünftiger“ Konsens.26 Meine Hervorhebungen im oben stehenden Zitat zeigen, dass Kuhlmann selbst diese wichtigen Unterscheidungen trifft. Allerdings zieht er aus ihnen keine Konsequenzen. Ob ein Widerspruch gegen eine theoretische Aussage berechtigt ist, entscheidet sich nicht daran, ob Konsens über sie besteht, denn nicht nur Einzelne können sich irren, sondern auch Argumentationsgemeinschaften. Der Konsens gehört nicht zu den Wahrheitsbedingungen deskriptiver Aussagen. (Es sei denn, dass es sich um Aussagen über das Bestehen eines Konsenses handelt – doch dieser seltene Fall ist hier nicht relevant.) Berechtigt ist ein Einwand vielmehr dann, wenn er auf Indizien hinweist, die darauf hindeuten, dass das, was in der Aussage behauptet wird, nicht der Fall ist. Ob ein Widerspruch ernst zu nehmen ist, muss also entschieden werden, indem man ihn überprüft. Bei einer empirischen Aussage müsste man z. B. die Beobachtung des Diskussionspartners wiederholen, bei einer mathematischen Debatte wäre zu prüfen, ob tatsächlich an einer bestimmten Stelle ein Rechenfehler vorliegt etc. Wesentlich für die Wahrheit einer Aussage ist also, ob ihr propositionaler Gehalt zur Wirklichkeit passt. Ob Konsens über sie besteht, ist hingegen für die Wahrheit der Aussage irrelevant. Die Wahrheit einer Behauptung hängt nicht davon ab, ob in einer Kommunikationsgemeinschaft Konsens über sie besteht. Selbst in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft wären wahre Aussagen nicht deshalb wahr, weil Konsens über sie bestünde, sondern weil ihre Wahrheitsbedingungen erfüllt wären.27 Aus diesem Grund halte ich Kuhlmanns Herleitung von N 2 für misslungen. Wenn man von dem Interesse an Problemlösun-
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gen ausgeht, dann lässt sich nur die früher bereits reformulierte Norm 1 begründen: ‚Wem ernsthaft an der Lösung eines theoretischen Problems gelegen ist, der sollte in Bezug auf dieses Problem rational argumentieren, sofern die Argumentation in diesem Fall die angemessenste Art und Weise der Problemlösung ist.‘ Diese Argumentation sollte darauf abzielen, die Wahrheit herauszufinden. Ob dabei auch ein Konsens zustande kommt, ist demgegenüber zweitrangig. 1.6 Norm 1 ist jedoch mit weiteren normativen Implikationen verbunden, die m. E. unabhängig von der Konsens-Theorie der Wahrheit sind. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete die Feststellung, dass demjenigen, dem an der Lösung eines Problems gelegen ist, auch an einer vernünftigen Argumentation über dieses Problem gelegen sein sollte. Mit der früher erläuterten Einschränkung, dass dies nur dann gilt, wenn das Argumentieren im einzelnen Fall die am besten dafür geeignete Art und Weise ist, das Problem zu lösen, kann man dem zustimmen. Nun sollte derjenige, der in einer Diskussion mit anderen die Wahrheit herausfinden will, vernünftigerweise bestimmte Regeln beachten, und zwar in seinem eigenen Interesse. Zu diesen Regeln gehört die Forderung, „daß wir unsere Argumentationspartner als wahrheits- und zurechnungsfähige Subjekte anerkennen sollen“28. Außerdem sind wir Kuhlmann zufolge als Argumentierende durch unser Interesse an der Wahrheit darauf festgelegt, „als gleichberechtigte Partner zu kooperieren, uns wechselseitig als gleichberechtigt in der Argumentation anzuerkennen und zu behandeln“29. Der Hinweis auf diese impliziten normativen Präsuppositionen des Diskurses erscheint mir prima facie plausibel. Dies lässt sich an Beispielen illustrieren. Nehmen wir an, dass (i) eine Gruppe von Menschen eine Argumentation über ein bestimmtes theoretisches Problem führt, dass (ii) allen Teilnehmern nur an der Wahrheit gelegen ist und dass (iii) die Argumentation keinen pragmatischen Beschränkungen unterworfen ist (es steht z. B. unbegrenzt viel Zeit zur Verfügung). Unter diesen Umständen würde sich ein Argumen-
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tierender instrumentell irrational verhalten, wenn er sich weigerte, einen berechtigten Einwand zur Kenntnis zu nehmen, weil ihm derjenige, der den Einwand vorbringt, unsympathisch ist. Vernünftigerweise sollte er nämlich alle berechtigten Einwände ernst nehmen, wer immer sie auch äußert. Ähnlich wäre es, wenn jemand einem anderen untersagen wollte, einen Diskussionsbeitrag zu leisten, weil dieser eine niedrigere soziale Position als er einnimmt. Wer in der Diskussion sagt: „Sie dürfen an mich keine kritische Nachfrage stellen, weil Sie nur ein Angestellter sind“, der handelt gegen sein eigenes Interesse an der Wahrheitsfindung. Es ließen sich weitere ähnliche Beispiele für irrationale Argumentationsweisen anführen. Kuhlmanns These, dass wir als ernsthaft an der Wahrheit interessierte Argumentierende auf die Anerkennung bestimmter rationaler Normen festgelegt sind, hat also einiges für sich. Der Autor fasst sie folgendermaßen zusammen: „Wir sind als ernsthaft Argumentierende verpflichtet zu kooperieren und einander als gleichberechtigte, wahrheits- und zurechnungsfähige Argumentationspartner anzuerkennen und zu behandeln.“30 Gegen Kuhlmann ist aber darauf hinzuweisen, dass diese Verpflichtung nur dann besteht, wenn die Argumentation unter den oben genannten Bedingungen (i) bis (iii) geführt wird. Nun ist es offensichtlich, dass (ii) und (iii) häufig nicht erfüllt sind. Es trifft erstens nicht auf alle Diskurse zu, dass allen Teilnehmern nur an der Wahrheit gelegen ist. Betrachten wir einige Beispiele. In einem Wahlkampf geht es den Kandidaten vor allem darum, die Mehrheit der Wähler für sich zu gewinnen. Das Ziel ihrer Äußerungen besteht darin, möglichst viele Wähler dazu zu bewegen, ihre Stimme für eine bestimmte Person oder Partei abzugeben. Es geht also, kurz gesagt, darum, andere zu überreden. Die Suche nach Wahrheit spielt hier keine entscheidende Rolle. Das Gleiche gilt für den Versuch eines Verkäufers, ein Produkt an den Mann zu bringen. Unter dem Gesichtspunkt der instrumentellen Rationalität, von dem ja auch Kuhlmann ausgeht, besteht hier durchaus keine rationale Verpflichtung, in den Gesprächen mit den Kunden nach der Wahrheit zu suchen. Wer
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in einer Gesprächsrunde im Fernsehen die Zuschauer für sich gewinnen will, der ist ebenso wenig auf die Suche nach Wahrheit festgelegt. Der Verweis auf diese und ähnliche Fälle hat eine wichtige Konsequenz. Kuhlmanns Aufweis der normativen Präsuppositionen des Argumentierens beruht auf dem unbestreitbaren vernünftigen Grundsatz: Wer einen Zweck will, der sollte auch die für diesen Zweck notwendigen Mittel wollen. Wer diesen Zweck jedoch nicht will, der ist auch nicht rational verpflichtet, die entsprechenden Mittel zu ergreifen. Das heißt aber: Wem es in einer Argumentation nicht oder nicht in erster Linie um Wahrheit geht, dem ist es nicht rational geboten, die anderen Teilnehmer als gleichberechtigte, wahrheits- und zurechnungsfähige Argumentationspartner anzuerkennen.31 (Es sei denn, dass prudentielle Gründe dafür sprechen.) Zweitens sind nicht alle Diskurse keinerlei pragmatischen Beschränkungen unterworfen. Im Gegenteil: Wenn man von idealisierten wissenschaftlichen Diskursen absieht, dürfte sogar der Großteil der Argumentationen derartigen Restriktionen unterworfen sein. Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen. Betrachten wir zunächst einen Strafprozess. Ein wesentlicher Teil eines solchen Gerichtsverfahrens besteht darin, die Wahrheit zu ermitteln. Es soll festgestellt werden, ob der Angeklagte die Straftat, die ihm zur Last gelegt wird, begangen hat. Erst wenn dies geschehen ist, kann das Strafmaß festgelegt werden oder der Freispruch erfolgen. In einem Strafprozess haben offensichtlich nicht alle Beteiligten die gleichen Rechte und Pflichten. Beispielsweise hat der Angeklagte nicht das Recht, den Staatsanwalt oder den Richter einer Befragung zu unterziehen. Nur der Richter hat das Recht, die Verhandlung zu beenden. Der Angeklagte ist verpflichtet, darüber Auskunft zu geben, wo er sich zum Zeitpunkt der Straftat aufhielt; sein Verteidiger hingegen nicht, usw. Darüber hinaus wird der Zeitraum, der für die Argumentation zur Verfügung steht, begrenzt. Die ungleiche Verteilung der Rechte und Pflichten und die zeitliche Beschränkung des Verfahrens lassen sich pragmatisch rechtfertigen. Ähnlich verhält es sich im zweiten Fall. In einem Fußballspiel hat der Schieds-
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richter die Aufgabe, mit Hilfe seiner Assistenten das Spiel zu leiten. Die Ermittlung der Wahrheit bildet einen wesentlichen Teil seiner Tätigkeit. Erst muss z. B. entschieden werden, ob ein Foulspiel vorlag; erst dann kann ggf. die weitergehende Entscheidung getroffen werden, ob der Spieler mit einer gelben oder roten Karte bestraft wird. Zur Teilnahme am Diskurs zugelassen sind hier nur der Schiedsrichter und seine Assistenten. Pragmatisch gesehen, ist diese Restriktion durchaus vernünftig, denn wenn das Spiel innerhalb einer vorgegebenen Zeit beendet werden soll, dann ist es unsinnig, die Spieler und die Zuschauer an potentiell unendlichen Diskursen teilnehmen zu lassen. Darüber hinaus wäre es schon deshalb unvernünftig, die Spieler an den Entscheidungen teilnehmen zu lassen, weil sie parteiisch sind. Ein letztes Beispiel: Eine Regierung, die demnächst über ihre zukünftige Energiepolitik entscheiden muss, setzt eine wissenschaftliche Expertenkommission ein, die für sie bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Expertise erstellen soll. Auch hier unterliegt der Diskurs zwei pragmatischen Beschränkungen. Erstens sind nicht alle zum Diskurs zugelassen, sondern nur die Personen, die als Mitglieder der Kommission berufen worden sind. Zweitens muss die Diskussion innerhalb des Gremiums bis zu einem bestimmten Zeitpunkt beendet werden, auch wenn nicht alle Argumente abschließend erörtert worden sein sollten.32 Verhalten sich nun Richter, Staatsanwälte, Schiedsrichter und Mitglieder von Expertengremien performativ selbstwidersprüchlich und daher unvernünftig, weil sie bei ihrer Tätigkeit nicht alle Personen als gleichberechtigte Argumentationspartner anerkennen? Wohl kaum! Sie tun das, was nötig ist, um die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. An Beispielen lässt sich außerdem zeigen, dass sich keine der genannten Personen in einen performativen Selbstwiderspruch verwickelt, wenn sie die Kuhlmann’sche Norm nicht akzeptiert. Die folgenden Aussagen enthalten offensichtlich keinen performativen Selbstwiderspruch: Aussage eines Richters: „Ich behaupte hiermit, dass in einem Strafprozess nicht alle Beteiligten die gleichen Rechte und Pflichten haben.“
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Kapitel 6 Aussage eines Schiedsrichters: „Ich behaupte hiermit, dass während des Fußballspiels nur ich und meine Assistenten zum Diskurs über die Regelung des Spiels zugelassen sind.“ Aussage der Mitglieder einer eingesetzten Expertenkommission: „Wir behaupten hiermit, dass nur wir das Recht haben, an der Expertise, um die uns die Regierung gebeten hat, mitzuarbeiten.“
Der Anschein der Irrationalität entsteht nur dann, wenn man mit Apel und Kuhlmann eine ideale Forschergemeinschaft zum Maßstab der Vernünftigkeit erhebt. Wenn man einmal von allen wissenschaftsexternen Motiven absieht, z. B. von dem Wunsch, Karriere zu machen, dann gilt für Wissenschaftler tatsächlich die von Kuhlmann formulierte Norm. Außerdem muss der Prozess der Forschung als prinzipiell unabgeschlossen, also als offen für neue Erkenntnisse und Argumente angesehen werden. Wenn es tatsächlich nur darum geht, die Wahrheit herauszufinden oder sich ihr anzunähern, dann darf der Diskurs keinerlei pragmatischen Beschränkungen unterworfen werden. Die von Apel und Kuhlmann so oft wiederholte These, dass man als ernsthaft Argumentierender immer schon die in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft geltenden Präsuppositionen anerkannt hat,33 beruht jedoch – wie es Karl-Heinz Ilting formuliert hat – auf einem „intellektualistischen Fehlschluss“: Der intellektualistische Fehlschluß, der in Apels Begründungsversuch vorliegt, geht [...] auf die Meinung zurück, man könne die pragmatische Idee einer „community of investigators“ zu einer universalen Kommunikationsgemeinschaft verantwortlich handelnder Personen ausweiten und Peirces Erwartung eines Erkenntnisfortschritts auf die moralische Idee einer Einheit des Menschengeschlechts übertragen. (K.-H. Ilting, „Der Geltungsgrund moralischer Normen“, S. 627)
Was innerhalb einer idealen, unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft zu tun vernünftig wäre, ist aber nicht notwendigerweise auch in realen, begrenzten Gemeinschaften vernünftig. Welche Normen die Sprecher in realen Diskursen vernünftigerweise befolgen sollten, hängt von den Zielen und den Bedingungen dieser Diskurse ab. Reale Diskurse sind vor allem vier Arten von Beschränkungen unterworfen: institutionellen, zeitlichen, solchen, welche die Sach-
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kenntnis der Beteiligten betreffen, und Beschränkungen im Sinne der Mehrheitsregel. Im Hinblick auf bestimmte Zwecke ist es erstens vernünftig, den Zugang zum Diskurs institutionell zu beschränken. Beispiele dafür sind Gerichtsprozesse, parlamentarische Debatten, Diskussionen in Berufungskommissionen und Ähnliches. Es ist mit dem Zweck derartiger Debatten unvereinbar, beliebige Personen teilnehmen zu lassen, weil dies wahrscheinlich dazu führen würde, dass überhaupt keine Einigung zustande käme. Zweitens müssen Argumentationen in der Regel innerhalb eines bestimmten Zeitraums abgeschlossen werden, weil sie unter Entscheidungs- und Handlungszwang erfolgen. Beispielsweise kann eine Ethikkommission, die eine Empfehlung an ein politisches Organ abgeben soll, sich nicht auf eine zeitlich unbegrenzte Diskussion einlassen, weil sie dann die ihr zugewiesene Aufgabe nicht erfüllen könnte. Drittens sollte die Teilnahme am Diskurs vernünftigerweise nur denjenigen gewährt werden, die über die nötige Sachkenntnis verfügen. Es wäre z. B. irrational, die gesamte deutsche Bevölkerung über die Zulassung eines neuen Medikaments entscheiden zu lassen, obwohl nur die wenigsten deutschen Bürger imstande sind, darüber ein kompetentes Urteil zu fällen. Die Befolgung der Mehrheitsregel schließlich gewährleistet, dass die notwendigen Entscheidungen auch dann getroffen werden können, wenn es unmöglich ist, zu einem Konsens zu gelangen.34 Aus alledem folgt, dass sich die Mitglieder realer Kommunikationsgemeinschaften irrational verhielten, wenn sie den Normen folgten, die innerhalb einer nur kontrafaktisch angenommenen idealen Kommunikationsgemeinschaft gelten würden. 1.7 Kommen wir auf Kuhlmanns Gedankengang zurück. Bisher beschränkte sich seine reflexive Analyse auf theoretische Diskurse, in denen alle Teilnehmer das gemeinsame Interesse haben, die Wahrheit herauszufinden, um ein bestimmtes Problem zu lösen.35 Um sein Ziel zu erreichen, das darin besteht, nicht nur Normen für Diskurse, sondern allgemein gültige praktische Normen zu begründen, geht der Autor in zwei Schritten vor.
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Zunächst soll die Untersuchung auf praktische Diskurse ausgeweitet werden, dann soll gezeigt werden, dass die immer schon anerkannten Präsuppositionen theoretischer und praktischer Argumentationen Verpflichtungen konstituieren, die sich nicht auf die Rolle als Diskussionsteilnehmer beschränken, sondern für alle sozialen Rollen gelten.36 Die Ausweitung der These von den notwendig anerkannten Präsuppositionen auf praktische Diskurse erfolgt im Wesentlichen mittels des Begriffs des Geschäftsordnungsdiskurses: Zum theoretischen Diskurs gehört, so hat sich ergeben, immer – zumindest virtuell – ein praktischer Diskurs über das Wie der Kooperation, über das Wie des gemeinsamen Vorgehens. In die Zuständigkeit dieses praktischen Diskurses fallen unter anderem Fragen wie: Die Auswahl der Themen, der Sinn von Fragestellungen, das relative Gewicht von Argumenten, der Grad der bereits erreichten Gewißheit, die Neueinleitung oder auch Unterlassung von Hilfsdiskursen, die Beendigung des Diskurses oder seine Unterbrechung etc. Offenbar sind Entscheidungen in diesen Fragen für den jeweiligen theoretischen Diskurs nicht belanglos und peripher, sondern im Gegenteil von größter Bedeutung. Man kann behaupten: Was im theoretischen Diskurs real möglich ist, das hängt direkt von der Qualität des zugehörigen praktischen (Geschäftsordnungs-)-Diskurses ab. (Reflexive Letztbegründung, S. 206)
Dem wird man kaum widersprechen können – überraschend ist allerdings die Wendung, die Kuhlmann dem Gang der Argumentation hier gibt. Angekündigt war, dass nun auch praktische Diskurse in die reflexive Analyse einbezogen werden sollten. Dabei wurde unter einem „praktischen Diskurs“ eine Argumentation verstanden, in der es um die Regelung von Interessenkonflikten geht. Statt sich nun dieser Art von handlungsbezogener Argumentation zuzuwenden, lenkt der Autor die Aufmerksamkeit auf einen Metadiskurs, d. h. auf eine Argumentation, in der die Art und Weise des Argumentierens thematisiert wird. Gegenstand des Geschäftsordnungsdiskurses sind theoretische Argumentationen; es ist daher nicht auf den ersten Blick ersichtlich, wie der Verweis auf diesen Metadiskurs für die Begründung allgemeiner Handlungsnormen fruchtbar gemacht werden könnte.37
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Kuhlmann meint, durch den Hinweis auf die Notwendigkeit eines Geschäftsordnungsdiskurses gezeigt zu haben, dass die scheinbare Grenze zwischen theoretischen und praktischen Diskursen „fortgefallen“ sei38: Damit der Diskurs, dessen Relevanz für den theoretischen Diskurs wir unterstrichen haben [gemeint ist der Geschäftsordnungsdiskurs – H.W.], seinen Namen verdient, darf nichts, was irgend für ihn relevant werden könnte, ihm entzogen bleiben. Sind wir – [...] – zum theoretischen Diskurs verpflichtet, dann auch zum uneingeschränkten praktischen Diskurs, und dies über den zum theoretischen Diskurs untrennbar hinzugehörigen praktischen Diskurs über Kooperationsund Interaktionsprobleme. (Reflexive Letztbegründung, S. 207 – fett v. mir)
Hier liegt zweifellos ein Fehlschluss vor. Unter einem „uneingeschränkten praktischen Diskurs“ versteht Kuhlmann offenbar eine Argumentation, in der es um alle denkbaren Interessenkonflikte und alle möglichen moralischen Probleme gehen kann. Zuzustimmen ist Kuhlmann darin, dass im Geschäftsordnungsdiskurs alles thematisiert werden darf, was für die Art und Weise des theoretischen Argumentierens relevant ist. Zu widersprechen ist seiner These, dass alles für diesen Diskurs relevant werden kann. Die Geschäftsordnung theoretischer Argumentationen steht häufig in gar keinem sachlichen Zusammenhang mit den praktischen Fragen, an deren Beantwortung den Teilnehmern gelegen ist. Dies lässt sich an Beispielen verdeutlichen. Nehmen wir an, dass eine Gruppe von Philologen über die Auslegung einer Stelle in der Rhetorik des Aristoteles debattiert. Für die Geschäftsordnung dieser Debatte sind Fragen wie die, ob in Deutschland die aktive Sterbehilfe legalisiert werden solle oder ob es moralisch erlaubt ist, aus Massentierhaltung stammendes Fleisch zu verzehren, offensichtlich irrelevant. Was hat die Geschäftsordnung einer Diskussion über Fragen der theoretischen Physik mit moralischen Problemen zu tun? Wenn man davon absieht, dass die Teilnehmer sich höflich und sachlich verhalten sollten – offenbar nichts. Demnach ist Kuhlmanns Schluss von der Notwendigkeit eines praktischen Diskurses über die Ge-
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schäftsordnung theoretischer Diskurse auf die Notwendigkeit eines „uneingeschränkten“ praktischen Diskurses ungültig. Man darf deshalb davon ausgehen, dass die Geltung der Norm 3, die Kuhlmann im Anschluss an sein Argument formuliert, auf Geschäftsordnungsdiskurse beschränkt ist: „Wenn wir an der Lösung eines praktischen Problems ernsthaft interessiert sind, eines Problems, bei dem es – wie wir jetzt allgemein sagen dürfen – um die Berechtigung von Handlungsnormen, Zielen, Bedürfnissen, Interessen geht, und dies insbesondere im Falle des Konflikts zwischen Ansprüchen der Teilnehmer der Kommunikationsgemeinschaft, dann müssen wir uns um eine Lösung bemühen, der jedes Mitglied der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft zustimmen könnte, um einen vernünftigen praktischen Konsens.“ (Dabei soll „vernünftig“, wie wir erinnern wollen, bedeuten, daß „kein Zwang außer dem des besseren Arguments ausgeübt wird“.) (Reflexive Letztbegründung, S. 207)
Gegen die Herleitung dieser Norm lässt sich im Übrigen der gleiche Einwand erheben wie gegen die Begründung von Norm 1 („Argumentiere rational!“). Ebenso wie theoretische können auch praktische Probleme auf verschiedene Art und Weise gelöst werden. Das Führen eines praktischen Diskurses ist nur eine von ihnen und nicht immer die am besten geeignete. Häufig ist es für die Handelnden einfacher und Erfolg versprechender, Interessenkonflikte durch Anweisungen, Überredung, Drohungen, Kompromisse oder durch einen Gerichtsprozess aufzulösen. Darum folgt aus Kuhlmanns Voraussetzungen äußerstenfalls die folgende bedingte praktische Norm: ‚Bemühe dich dann um einen vernünftigen praktischen Konsens mit anderen, wenn die konsensuelle Einigung die angemessenste Art und Weise ist, um das praktische Problem zu lösen‘. Kuhlmann selbst beurteilt das Ergebnis seiner Argumentation selbstverständlich viel optimistischer. Er meint, durch den Verweis auf die Notwendigkeit des Geschäftsordnungsdiskurses nicht nur gezeigt zu haben, dass es keine Grenze zwischen theoretischen und praktischen Diskursen gibt. Vielmehr ist er offenbar auch der Auffassung, dass sich die Geltung der Normen der Argumentation umstandslos auf alle nicht-argumentativen Hand-
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lungsweisen übertragen lässt. Wer verpflichtet ist, alle anderen im Diskurs als gleichberechtigte Argumentationspartner anzuerkennen, der sei auch verpflichtet, alle anderen in allen denkbaren Handlungszusammenhängen als gleichberechtigte Kooperationspartner anzuerkennen. Auf die Schwierigkeiten, mit denen diese These verbunden ist, werde ich in Abschnitt 1.10 (S. 263ff.) näher eingehen. 1.8 Um eine Antwort auf die V-Frage geben zu können, muss Kuhlmann nur noch einen weiteren Schritt vollziehen. Es ist zu zeigen, wie sich die „notwendige Anerkennung“ bestimmter Präsuppositionen der Argumentation, insbesondere der Norm 3, auf die Frage nach der möglichen Rationalität unmoralischer Handlungen auswirkt. Kuhlmann zufolge haben alle Personen, sofern sie vernünftig sind, die pragmatischen Voraussetzungen des Diskurses immer schon notwendigerweise anerkannt. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass niemand gegen die entsprechenden Normen verstoßen könne. Zu dieser übereilten, falschen Schlussfolgerung gelange man nur dann, wenn man nicht zwischen zwei Ebenen unterscheide: der Ebene der notwendigen Argumentationsvoraussetzungen einerseits und der Ebene der Entscheidungen für einzelne Handlungen andererseits.39 Ausgehend von dieser Unterscheidung, erläutert Kuhlmann seine These so: Gemeint ist nicht, daß es unmöglich ist, die Normen faktisch nicht anzuerkennen, sich gegen ihre Anerkennung zu entscheiden und entsprechend zu handeln. Daß es dergleichen Entscheidungen, daß es willentliche Verstöße gegen diese Normen gibt, das ist nicht sinnvoll zu bezweifeln. Gemeint ist vielmehr, daß es unmöglich ist, eine Position zu gewinnen, von der aus die Geltung der Normen bestritten werden kann, man sich gegen die Anerkennung der Normen entscheiden kann, derart, daß sich daraus ein stichhaltiges Argument gegen die Geltung der Normen ergeben könnte, derart also, daß eine solche Möglichkeit etwas aussagt gegen die logisch-sächliche Geltung des Moralprinzips. Etwas Derartiges kann es nicht geben. Bei jedem Versuch, die Geltung der Normen zu bestreiten oder sich gegen ihre Anerkennung zu entscheiden, ist immer ein Selbstwiderspruch nachweisbar, der ein solches Argument entwertet. (Reflexive Letztbegründung, S. 222)
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Aus der Verknüpfung der beiden Thesen, dass es (i) zwar möglich sei, gegen die Normen des Diskurses zu verstoßen, dass es aber (ii) unmöglich sei, die Geltung dieser Normen vernünftigerweise zu bestreiten, zieht Kuhlmann den Schluss, dass unmoralische Handlungen notwendigerweise unvernünftig sind. Deshalb lautet seine Antwort auf die Frage, ob es vernünftig sein kann, unmoralisch zu handeln: Der wesentliche Gedanke ist der, daß, wenn Verpflichtungen sich begründen lassen, wenn als Verpflichtung das zählt, was sich begründen läßt (für das sich gute Gründe geben lassen), dann ist das Schlechte oder das Böse dasjenige, was sich letztlich nicht begründen läßt bzw. schwächer, für das sich keine guten Gründe geben lassen. Es ist dann irreduzibel irrational, das Schlechte zu wählen. Das folgt einfach aus der Konzeption einer normativen Ethik, für die sich vernünftig argumentieren läßt. (Reflexive Letztbegründung, S. 225 – Hervorh. v. mir)
Dieser Schluss wäre offensichtlich nur dann gültig, wenn er eine Prämisse enthielte, die von Kuhlmann weder genannt noch begründet wird. Fügt man diese Voraussetzung (P 2) hinzu, dann lässt sich der Schluss so wiedergeben: (P 1) Moralische Normen lassen sich als notwendige implizite Normen des Argumentierens begründen. [P 2] Es lassen sich keine anderen praktischen Normen als die moralischen Normen begründen. Daraus folgt zunächst: (P 3) Handlungen, die nicht durch moralische Normen gerechtfertigt sind, lassen sich überhaupt nicht begründen. Hinzu kommt eine unkontroverse letzte Prämisse: (P 4) Handlungen, die sich nicht begründen lassen, sind notwendigerweise irrational.
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Also gilt: (K)
Unmoralische Handlungen sind notwendigerweise irrational.
Es versteht sich aber durchaus nicht von selbst, dass die fehlende Prämisse 2 wahr ist. Wenn man nämlich davon ausgeht, dass es verschiedene Typen praktischer Rationalität und dementsprechend verschiedene Typen praktischer Gründe gibt, dann ist eine Handlung nicht schon deshalb irrational, weil sie nicht moralisch begründet ist. Im Normalfall sprechen nämlich andere als moralische Gründe für den Verstoß gegen moralische Regeln. Bemerkenswert ist nun, dass die Vertreter der Diskursethik – im Gegensatz zu den in Teil I behandelten Kontraktualisten – ausdrücklich die These vertreten, dass man Rationalitätstypen und ihnen entsprechende Arten von Gründen unterscheiden muss.40 Unter dieser Voraussetzung ist (P 2) falsch, und daher ist der Schluss ungültig. Sobald man davon ausgeht, dass es neben moralischen auch andere praktische Gründe gibt, muss man die Irrationalität unmoralischer Handlungen anders begründen, als es Kuhlmann hier versucht. In dem neueren Aufsatz „Motivation in der Diskursethik“ (2006) hat Kuhlmann denn auch im Anschluss an Kant einen anderen Weg eingeschlagen. Während er früher die Auffassung vertrat, es sei „nicht sinnvoll zu bezweifeln“, „daß es willentliche Verstöße gegen diese Normen gibt“, identifiziert er nun die – seiner Meinung nach notwendige – Anerkennung der Grundnormen mit dem „eigentlichen Wollen“41: Wer im Rahmen der Diskursethik zur Einsicht kommt: „X ist tatsächlich geboten“ und d. h.: „X ist aus für jedermann zu akzeptierenden Gründen, zu Recht also, geboten“, der kann sich auch – und zwar mit Mitteln der Diskursethik – klar machen, dass dies nicht nur bedeutet, dass er x soll, sondern auch, dass er x (als Mitgesetzgeber) will. Er steht dahinter. („Motivation in der Diskursethik“, S. 125)
Diese Stelle lässt zwei Deutungen zu. Entweder wird der Begriff des Willens in seiner üblichen Bedeutung als „handlungswirk-
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same Absicht“ verstanden, oder er nimmt hier eine andere, noch zu bestimmende Bedeutung an. Im ersten Fall ist Kuhlmanns These zweifellos unzutreffend, denn erstens gibt es keinen analytischen Zusammenhang zwischen dem Begriff der Anerkennung einer moralischen Pflicht und dem Begriff des entsprechenden Willens, und zweitens ist die Behauptung, empirisch gesehen, falsch. Wer eine bestimmte Norm anerkannt hat, handelt – wie die Erfahrung lehrt – nicht schon deshalb notwendigerweise dieser Norm gemäß. Den Anlass für die Erörterung der V-Frage bildete ja gerade die Tatsache, dass Menschen nicht selten etwas tun, obwohl sie wissen, dass sie es nicht tun dürfen. Die Anerkennung einer moralischen Norm ist also nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür, dass jemand diese Norm befolgen kann.42 Wenn der Begriff „Wille“ hingegen nicht als „handlungswirksame Absicht“ verstanden wird, dann ist es unverständlich, warum und inwiefern er in diesem Zusammenhang etwas anderes als „Einsicht in die Geltung einer Norm“ oder „Anerkennung einer Norm“ bedeuten könnte. Kuhlmann erläutert seine These, indem er ähnlich wie Kant, der zwischen empirischem und intelligiblem Ich unterschied, das in der Anerkennung angeblich implizierte Wollen an eine bestimmte Weise des Selbstbezugs bindet. Die Akzeptanz der diskursethischen Begründung führe nicht nur zur theoretischen Einsicht in etwas, was tatsächlich der Fall ist, also etwa, dass das Moralprinzip tatsächlich gilt, zu einer theoretischen Einsicht also, aus der für mein Wollen und Handeln unmittelbar nichts zu folgen scheint, sondern zur Einsicht, dass ich als Mitglied im „Reich der Zwecke“, als Teilnehmer am Diskurs, das Moralprinzip tatsächlich will. („Motivation in der Diskursethik“, S. 125f.)
Die Anerkennung moralischer Normen impliziere also nicht schlechthin das entsprechende Wollen, sondern nur, sofern sich der Handelnde als Mitglied im Reich der Zwecke oder als Teilnehmer am Diskurs – und das heißt wohl: als nichts anderes – versteht. Diese Redeweise ist jedoch in zweierlei Hinsicht irreführend. Erstens führt sie zu einer Verdoppelung des Begriffs des
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Willens: Neben den geläufigen Willensbegriff der handlungswirksamen Absicht von Personen tritt nun der Begriff des Willens von Mitgliedern im Reich der Zwecke, wobei Personen nur noch als solche betrachtet werden, unter Abstraktion von allen übrigen Aspekten. Geht man von dieser Verdoppelung des Willensbegriffs aus, dann müssten Sätze wie ‚Er wollte es zwar als empirische Person, aber als Mitglied im Reich der Zwecke wollte er es eigentlich nicht‘ sinnvoll sein. Das Problem besteht aber darin, dass das Personalpronomen „er“ sich in beiden Teilsätzen auf dieselbe Person beziehen muss, weil in ihnen sonst von verschiedenen Subjekten die Rede wäre, von denen das eine dieses, das andere jenes wollte. In Bezug auf ein und dieselbe Person ist die Aussage ‚Er wollte es zwar, aber er wollte es eigentlich nicht‘ jedoch unverständlich; es sei denn, dass mit ihr gemeint ist: ‚Er wollte es zwar, aber er hätte gern etwas anderes gewollt‘.43 Zweitens geht Kuhlmann unberechtigterweise von einer Behauptung zu einer anderen über. Aus der These, dass alle Personen moralisch handeln wollen würden, wenn sie sich nur als Teilnehmer eines idealen Diskurses verstünden, folgt durchaus nicht, dass reale Personen, die moralische Normen anerkannt haben, deshalb immer moralisch handeln wollen. Zur Debatte stand aber nur die zweite der beiden Behauptungen. Die These, dass Personen, die keine anderen Interessen hätten als dasjenige an einem Konsens, die Grundnormen tatsächlich wollen würden, sofern sie nicht willensschwach wären, verfehlt jedoch die Pointe der skeptischen Herausforderung. Um den starken ethischen Rationalismus überzeugend zu begründen, hätte Kuhlmann zeigen müssen, dass reale Personen, in deren Interesse es häufig ist, gegen die Grundnormen zu verstoßen, diese Normen immer schon befolgen wollen. 1.9 In den vorausgehenden Abschnitten habe ich exemplarisch anhand der Kuhlmann’schen Argumentation dargestellt, wie die Transzendentalpragmatik zu ihrer Antwort auf die V-Frage gelangt. Dabei habe ich folgende Einwände gegen Kuhlmanns Gedankengang erhoben:
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(i) Es ist in theoretischen Diskursen nur dann rational geboten, andere als gleichberechtigte Gesprächspartner anzuerkennen, wenn (a) Wahrheitsfindung der einzige oder der wichtigste Zweck der Kommunikation ist, (b) keine vernünftigen pragmatischen Gründe gegen die Gleichberechtigung sprechen und (c) die rationale Argumentation die angemessenste Art und Weise der Problemlösung ist. (ii) Es ist in praktischen Diskursen nur dann rational geboten, nach einer einvernehmlichen Lösung des Interessenkonflikts zu streben, wenn (a) der praktische Konsens der einzige oder der wichtigste Zweck ist, den die Betroffenen verfolgen, (b) keine vernünftigen pragmatischen Gründe gegen eine konsensuelle Beilegung des Konflikts sprechen und (c) der rationale praktische Diskurs die angemessenste Art und Weise der Problemlösung ist. (iii) Aus der Notwendigkeit eines praktischen Geschäftsordnungsdiskurses über theoretische Diskurse folgt nicht die Notwendigkeit eines unbeschränkten, handlungsbezogenen praktischen Diskurses. (iv) Selbst wenn sich nachweisen ließe, dass jeder, der an einem strikt wahrheitsbezogenen theoretischen Diskurs teilnimmt, dadurch verpflichtet ist, alle anderen in einem unbeschränkten praktischen Diskurs als gleichberechtigte Partner anzuerkennen, wäre damit noch nicht gezeigt, dass diese rationale Norm auch für nicht-argumentative Handlungsweisen gilt. – Und gerade diese sind in Bezug auf die V-Frage interessant, weil viele unmoralische Handlungen nicht-sprachlich sind. Zum Abschluss meiner Auseinandersetzung mit der Transzendentalpragmatik werde ich im Folgenden drei Argumente prüfen, mit denen Apel und Kuhlmann auf diese und ähnliche Einwände reagiert haben. In aller Kürze lauten diese Argumente wie folgt: (A) Jede sinnvolle Handlung lässt sich als Argument auffassen, deshalb unterliegt sie den gleichen Normen wie rationale Argumentationen.
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(B) Jede sinnvolle Handlung beruht auf einer impliziten Argumentation, deshalb unterliegt sie den gleichen Normen wie rationale Argumentationen. (C) Die Verpflichtung, im Diskurs alle anderen als gleichberechtigte Gesprächspartner anzuerkennen, impliziert die Verpflichtung, alle anderen auch unter allen anderen Umständen als gleichberechtigte Kooperationspartner anzuerkennen. Diese drei Argumente sind im Rahmen meiner Untersuchung von besonderem Interesse, weil sie darauf abzielen, den Übergang von der Rationalität der Begründung moralischer Normen zu ihrer Befolgung zu vollziehen. Zu (A): Selbst wenn man von allen bisher erhobenen Einwänden gegen die Transzendentalpragmatik absieht, besteht noch immer das Problem, wie sich nachweisen lässt, dass die impliziten Normen des Argumentierens auch für alle nicht-argumentativen Handlungsweisen gelten. Karl-Otto Apel versucht, diese Brücke von theoretischen Diskursen zu nicht-diskursiven Handlungsweisen mittels des folgenden Arguments zu schlagen: Da nun [...] alle sprachlichen Äußerungen und darüber hinaus alle sinnvollen Handlungen und leibhaften Expressionen von Menschen (sofern sie verbalisierbar sind) als virtuelle Argumente aufgefaßt werden können, so ist in der Grundnorm der wechselseitigen Anerkennung der Diskussionspartner diejenige der „Anerkennung“ aller Menschen als „Personen“ im Sinne Hegels virtuell impliziert. Anders gesagt: Alle der sprachlichen Kommunikation fähigen Wesen müssen als Personen anerkannt werden, da sie in all ihren Handlungen und Äußerungen virtuelle Diskussionspartner sind und die unbegrenzte Rechtfertigung des Denkens auf keinen Diskussionspartner und auf keinen seiner virtuellen Diskussionsbeiträge verzichten kann. Diese Forderung wechselseitiger Anerkennung von Personen als Subjekten der logischen Argumentation, und nicht schon der logisch richtige Verstandesgebrauch der Einzelnen, rechtfertigt m. E. die Rede von der „Ethik der Logik“. („Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“, S. 400)
Diese These ist erstens interpretationsbedürftig und zweitens – zumindest auf den ersten Blick – falsch. Zu klären ist zunächst, in welchem Sinn alle Handlungen als „virtuelle Argumente“ aufgefasst werden können. Nach Apel sind Handlungen Argu-
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mente, „sofern sie verbalisierbar sind“. Damit kann nun offenbar nicht gemeint sein, dass Handlungen Argumente darstellen, sofern sie sprachlich beschrieben werden können, denn aus der bloßen Beschreibbarkeit einer Handlung folgt sicherlich nicht, dass man sie als Behauptung auffassen kann. Die Aussage ‚Müller öffnete den Briefkasten‘ impliziert nicht, dass Müller durch das Öffnen des Briefkastens irgendetwas behaupten wollte. (Er wollte einfach nach der Post sehen.) Der Ausdruck kann aber auch so verstanden werden, dass eine Handlung dann „verbalisierbar“ ist, wenn der Handelnde das, was er tut, auch in Worten zum Ausdruck bringen könnte. So will Apel den Ausdruck hier offenbar verstanden wissen. Die These, dass aus der Verbalisierbarkeit von Handlungen folgt, dass sie als virtuelle Argumente aufgefasst werden können, ist jedoch aus mehreren Gründen unhaltbar. Erstens muss festgehalten werden, dass, selbst wenn alle Handlungen im angegebenen Sinn verbalisierbar wären,44 Handlungen nicht identisch mit ihren Verbalisierungen wären. Das Einschlagen eines Nagels in die Wand ist z. B. nicht dasselbe wie die sprachliche Äußerung ‚Ich schlage einen Nagel in die Wand‘. So trivial diese Feststellung erscheinen mag, so wichtig ist sie dennoch. Apel suggeriert nämlich, dass aus der Tatsache, dass Handlungen verbalisierbar sind, folge, dass Handlungen selbst als Argumente aufgefasst werden könnten. Tatsächlich folgt aber daraus äußerstenfalls, dass die Verbalisierungen der Handlungen als Argumente verstanden werden könnten, nicht die Handlungen selbst. Möglicherweise können Handlungsverbalisierungen Argumente sein, Handlungen können es normalerweise nicht sein,45 und zwar deshalb nicht, weil zwischen Handlungen und Argumenten folgende wesentliche Unterschiede bestehen: (i) Argumente sind wie die Behauptungen, aus denen sie bestehen, propositional verfasst. Handlungen sind es nicht. (Das Trinken einer Tasse Kaffee hat keine propositionale Struktur.) (ii) Es ist konstitutiv für Argumente, dass ein Sprecher den illokutionären Akt des Behauptens vollzieht. Mit nicht-sprachlichen Handlungen wird jedoch in der Regel nichts behauptet.
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Das Binden eines Krawattenknotens ist zwar beispielsweise eine sinnvolle Handlung, aber keine Behauptung. (Was wäre eine sinnvolle Antwort auf die sinnlose Frage: „Was haben Sie behauptet, indem sie Ihre Krawatte gebunden haben?“) (iii) Argumente haben ebenso wie die Behauptungen, aus denen sie bestehen, Wahrheitsbedingungen. Handlungen haben hingegen keine Wahrheitsbedingungen. Sie sind Ereignisse; deshalb kann man von ihnen nicht sinnvollerweise sagen, sie seien „wahr“ oder „falsch“. (Stellen wir uns vor, dass jemand zu einer anderen Person, die gerade ein Ei isst, sagt: „Es ist nicht wahr, dass Sie gerade ein Ei essen.“ Diese Äußerung wäre unverständlich.) (iv) Argumente können bestätigt oder widerlegt werden, Handlungen hingegen nicht. (Angenommen, jemand fährt mit der Straßenbahn zu seiner Arbeitsstelle. Wie ließe sich seine Handlung „widerlegen“? Was könnte „Widerlegung“ in diesem Zusammenhang überhaupt bedeuten?) Selbst wenn man Apel zugesteht, dass Handlungen in seinem Sinn verbalisierbar sind, folgt also daraus mitnichten, dass Handlungen deshalb als virtuelle Argumente aufgefasst werden können. Argument (A) vermag also nicht zu überzeugen. Zu (B): Kuhlmanns Fassung des Arguments scheint den gegen Apels These erhobenen Einwänden zu entgehen, weil in ihr nicht behauptet wird, dass Handlungen selbst Argumente sind, sondern dass sie auf Argumentationen beruhen. Ich werde sein Argument schrittweise darstellen und prüfen. Schritt 1: Gewiss ist zuzugeben, dass wir nicht ununterbrochen zweifeln, problematisieren, Gründe herbeischaffen, mit anderen diskutieren. Offenbar tun wir oft ganz andere Dinge. – Andererseits gilt aber auch dies. Auch wenn wir diese anderen Dinge tun, zählen wir gleichwohl noch als rationale Wesen, als verantwortliche Täter unserer Taten und unsere Aktivitäten gelten als Handlungen, die wesentlich auf Entscheidungen und Gründe zurückgehen [...]. Unsere Handlungen werden damit so verstanden, als hätten wir uns jeweils – explizit oder implizit – gefragt: Was wollen wir eigentlich tun? Was sollen wir tun? Was ist jetzt das Vernünftigste etc.? Als wäre die Sache also in diesem Sinne offen gewesen und als hätten wir dann diese Frage mit Gründen beantwortet,
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Kapitel 6 uns also zu einer Möglichkeit des Handelns eigens entschieden und als handelten wir jetzt aus diesen Gründen. („Begründungsprobleme in der Diskursethik“, S. 20f.)
Man wird Kuhlmann selbstverständlich zugestehen, dass wir geistig gesunde Menschen auch dann als rationale Wesen ansehen, wenn sie gerade nicht argumentieren, sondern etwas anderes tun (und dies dürfte meist der Fall sein). Außerdem beruhen Handlungen oft, wenn auch nicht immer, auf praktischen Überlegungen, in denen sich der Handelnde gefragt hat, was er tun sollte, d. h. was zu tun für ihn am vernünftigsten wäre. Sofern die Frage ‚Was sollte ich tun?‘ nicht von vornherein nur im moralischen Sinn aufgefasst wird, kann man Kuhlmanns Beschreibung zustimmen. Schritt 2: Handeln und dafür Gründe haben, bedeutet also, diese Gründe (d. h. Argumente) während der Handlung selbst ständig präsent zu haben, sie gegenüber sich selbst und möglichen Diskussionspartnern ständig – explizit oder zumindest implizit – zur Geltung zu bringen. – Wenn das aber so ist, dann ist die Opposition zwischen Argumentation, Diskurs auf der einen Seite, Handeln auf der anderen Seite gar nicht mehr so eindeutig und einfach, wie es schien. Wenn wir das explizite Argumentieren aufgeben zugunsten anderer Handlungen, dann verlassen wir damit den Diskurs noch nicht wirklich. (Ebd., S. 21)46
Diese Passage enthält zwei sachlich unangemessene Übertreibungen. In der Regel verlassen Menschen nicht den Diskurs, um ausnahmsweise etwas anderes zu tun; vielmehr verhält es sich umgekehrt, manchmal treten sie – wenn sie nicht gerade Wissenschaftler sind – ausnahmsweise in den Diskurs ein. Außerdem müssen Handlungsgründe auch nicht ständig „präsent“ sein, wenn Kuhlmann damit meint, dass sie ständig bewusst sind. Abgesehen von diesen intellektualistischen Übertreibungen, weist der Autor aber auf einen wichtigen Aspekt praktischer Überlegungen hin: Praktische Überlegungen und praktische Gründe müssen prinzipiell von anderen Personen nachvollzogen werden können. Allerdings hat dieser implizite Bezug auf andere noch gar keine spezifisch moralischen Implikationen, wie das
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folgende Beispiel verdeutlicht. Nehmen wir an, dass jemand einen beruflichen Konkurrenten, der ihm im Wege ist, aus dem Weg räumen will, indem er ihn diskreditiert. Nach reiflicher Überlegung und gründlicher Erwägung der Umstände kommt er zu dem Schluss, dass es am besten wäre, Gerüchte über das Sexualleben des Konkurrenten in Umlauf zu bringen. Jede andere Person müsste, sofern sie vernünftig ist, zu dieser Entscheidung Stellung nehmen können, indem sie z. B. zu bedenken gibt, dass es aufgrund der und der Gründe Erfolg versprechender wäre, den Konkurrenten öffentlich zu provozieren. Kurz: Auch prudentielle Erwägungen sind mit dem Anspruch auf Richtigkeit verbunden und insofern prinzipiell offen für Bestätigung oder Einwände von Seiten anderer. Demnach führt Kuhlmanns Analyse des Handelns bisher nicht zu impliziten moralischen Normen. Schritt 3: Alles Handeln, welcher Art auch immer, beruht auf Überzeugungen des Akteurs, bzw. zu allem Handeln gehören Überzeugungen des Akteurs (z. B. über die Handlungssituation, mögliche Zwecke, Mittel, Handlungsmöglichkeiten etc.), auch Überzeugungen, die wahr oder falsch sein können. Wenn sie falsch sind, werden die Zwecke des Handelnden nicht realisiert. Nun gehört aber analytisch zum Begriff des Willens eines Handelnden, dass der Handelnde seine Ziele auch erreichen will. Deshalb sind Handelnde notwendig an Verlässlichkeit und Sicherheit der Überzeugungen interessiert und in diesem Sinne kann man – [...] – Rationalität bestimmen als die Kompetenz handlungsfähiger Wesen, vermeidbare Fehler zu vermeiden. (Ebd., S. 22)
Auch in diesem Fall kann man Kuhlmann grundsätzlich zustimmen: Wer seine Ziele erreichen will, der sollte vernünftigerweise bestrebt sein, sich in seinem Handeln von verlässlichen Überzeugungen leiten zu lassen. Deshalb sollte er sich, falls dies nötig ist, auf eine rationale Argumentation mit gleichberechtigten Gesprächspartnern über die nötigen Mittel, die Umstände etc. einlassen. (Häufig wird es jedoch genügen, sich die nötigen Informationen zu verschaffen.) Aber auch mit dieser Aussage ist das Problem moralischer Normen noch gar nicht berührt, weil es in den entsprechenden theoretischen Diskursen um Wahrheit
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geht, nicht um Handlungsnormen. Zu erörtern ist z. B., ob X ein geeignetes Mittel zum Erreichen von Y ist. Dabei ist es unerheblich, ob der Zweck moralisch gerechtfertigt werden kann oder nicht. Somit erweist sich auch Argument (B) als unzulänglich. 1.10 Zu (C): Im Hinblick auf die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, ist das letzte Argument, das eng mit dem eben behandelten zusammenhängt, von besonderem Interesse. Zusammengefasst besagt es, dass die Verpflichtung, alle anderen in Diskursen als gleichberechtigte Gesprächspartner zu behandeln, die Verpflichtung impliziert, alle anderen auch unter allen anderen Umständen als gleichberechtigte Kooperationspartner zu respektieren. Wenn dies gezeigt werden könnte, dann läge eine überzeugende Begründung des starken ethischen Rationalismus vor. Ausgehend von der bereits bekannten Annahme, dass wir „immer schon“ im theoretischen Diskurs stehen, entwickelt Kuhlmann diesen Gedanken auf folgende Weise: Stehen wir aber immer schon in diesem Verhältnis zueinander, dann werden die von uns unhintergehbar immer schon anerkannten Argumentationsregeln, nach denen wir uns qua Diskurspartner als völlig gleichberechtigte Personen zu respektieren und zu behandeln haben, zu einem mächtigen Hebel. Sie verpflichten uns nämlich, jetzt alle Probleme, die im allgemeinen (theoretischen und praktischen) Diskurs aufgeworfen werden können, i m Sinne vollständiger Gleichberechtigung, d. h. in einem fairen, nichtpersuasiven Diskurs konsensuell aufzulösen. Damit aber haben wir eine grundlegende Verpflichtung im Sinne einer allgemeinen Ethik für alle Lebensbereiche erreicht (nicht nur im Sinne einer Spezialethik), die als Basis einer Ethik für Akteure und nicht mehr nur einer Spezialethik für Argumentierende dienen könnte: Im allgemeinen praktischen Diskurs können alle moralischen Probleme aufgegriffen werden, nicht nur solche der Diskursführung. („Begründungsprobleme in der Diskursethik“, S. 32 – fett v. mir)
Um Kuhlmanns Argument angemessen beurteilen zu können, empfiehlt es sich, zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurückzukehren. Am Anfang seines Gedankengangs stand die
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einfache Feststellung, dass Menschen manchmal mit Problemen konfrontiert sind, an deren Lösung ihnen ernsthaft gelegen ist. Diese Probleme können entweder theoretischer oder praktischer Art sein. Im ersten Fall will die Person herausfinden, was der Fall ist; im zweiten Fall geht es ihr darum, zu entscheiden, was sie tun soll. Kuhlmanns These beruht nun auf der unausgesprochenen Voraussetzung, dass sich idealisierte theoretische Diskurse und praktische Diskurse in einer wesentlichen Hinsicht gleichen: In beiden Fällen sei es rational geboten, nach einem Konsens zu streben, entweder darüber, was der Fall ist,47 oder darüber, was ich tun soll. Meines Erachtens besteht diese Analogie nicht, und deshalb vermag auch Kuhlmanns letztes Argument für den starken ethischen Rationalismus meiner Meinung nach nicht zu überzeugen. Um dies zu zeigen, werde ich die Lösung theoretischer und praktischer Probleme schrittweise miteinander vergleichen. Wenn jemand etwas wissen will, stehen ihm verschiedene Möglichkeiten zu Gebote, um die entsprechenden Informationen zu erlangen (vgl. Abschnitt 1.4, S. 238f.). Häufig wird es genügen, sich an einschlägiger Stelle zu erkundigen; manchmal wird es nötig sein, Auskünfte von Experten einzuholen; gelegentlich – nämlich dann, wenn die theoretische Frage noch offen ist – muss man in eine rationale Argumentation mit anderen sachkundigen Personen eintreten. In diesem Fall, von dem Kuhlmann ausgeht, haben alle an der Diskussion Beteiligten das gleiche Interesse: Sie wollen herausfinden, was der Fall ist. Weil sie das Gleiche wollen, ist es ihnen rational geboten, als gleichberechtigte Gesprächspartner zu kooperieren. Jeder Beteiligte sollte in seinem eigenen Interesse offen für alle Thesen, Einwände und Nachfragen sein, unabhängig davon, wer sie äußert. Deshalb gilt für rein wahrheitsbezogene theoretische Diskurse tatsächlich Kuhlmanns „Norm 3“. Ganz anders verhält sich hingegen mit den praktischen Problemen, die im Hinblick auf die Moral relevant sind. Sie entstehen dann, wenn mehrere Personen miteinander unvereinbare Interessen haben. Was sollte nun eine Person, die sich in
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einem Interessenkonflikt mit anderen befindet, vernünftigerweise tun? Das hängt offenbar von den Umständen und von den Fähigkeiten der Beteiligten ab. Je nach Lage der Dinge kann der Konflikt auf verschiedene Art und Weise gelöst werden, u. a. durch Verzicht, das Aushandeln eines Kompromisses, einen Befehl oder eine Anweisung, einen Gerichtsprozess, durch Androhung oder Anwendung von Gewalt oder auch mittels einer praktischen Argumentation, in der praktische Normen auf ihre allgemeine Akzeptanz hin geprüft werden. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum diejenigen, die in einem praktischen Konflikt stehen, auf dessen konsensuelle Beilegung festgelegt sein sollten. Warum sollte sich z. B. ein Offizier auf einen praktischen Diskurs mit den ihm unterstellten Soldaten einlassen? Warum sollte ein Mieter, dessen Interessen nicht mit denen seines Vermieters übereinstimmen, den Konflikt konsensuell beilegen, wenn es ihm möglich ist, ihn mittels des Zivilrechts in seinem Interesse zu entscheiden? Warum sollte ein Unternehmen ein Einvernehmen mit seinen Konkurrenten anstreben, wenn es in der Lage ist, die anderen durch Billigangebote auszustechen? – Zwar könnte man in diesen und ähnlichen Fällen moralische Gründe ins Feld führen, aber dies würde auf eine petitio principii hinauslaufen, weil man dann die Normen, deren Geltung für alle nicht-argumentativen Handlungsweisen hier erst begründet werden soll, voraussetzen müsste. Für Kuhlmanns These spricht demnach allein die vorgebliche Analogie zwischen theoretischen und praktischen Diskursen, die allerdings nicht besteht. Wenn man nur voraussetzt, dass jedem Einzelnen daran gelegen ist, den Konflikt so zu lösen, dass seine Interessen soweit wie möglich gewahrt werden, lässt sich die Verpflichtung zur konsensuellen Beilegung des Konflikts nicht begründen. (Und mehr darf nicht vorausgesetzt werden, wenn man die genannte petitio vermeiden will.) Man kann daher festhalten, dass im Falle konfligierender Interessen jeder Beteiligte rational verpflichtet ist, den Konflikt so zu lösen, dass seine eigenen Interessen am besten gewahrt bleiben. Zur konsensuel-
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len Beilegung eines praktischen Konflikts ist eine Person nur dann verpflichtet, wenn dies die für sie angemessenste Art und Weise der Konfliktlösung ist. Kuhlmanns Argument weist übrigens noch eine weitere Schwäche auf. Selbst wenn sich jemand im einzelnen Fall vernünftigerweise um eine konsensuelle Konfliktlösung bemühen sollte, folgt daraus nicht, dass er rational verpflichtet wäre, diejenigen, die er im Diskurs als gleichberechtigte Gesprächspartner behandeln sollte, auch außerhalb des Diskurses als gleichberechtigte Kooperationspartner zu respektieren. Da die Frage nach dem Verhältnis zwischen diskursinternen und diskursexternen Normen von entscheidender Bedeutung für die Beantwortung der V-Frage ist, soll Kuhlmann hier ein letztes Mal ausführlich zu Wort kommen. Kuhlmann fasst die Relevanz der Diskursanalyse für die Ethik so zusammen: Was haben wir erreicht? Wir haben gezeigt, dass wir qua rationale Wesen immer schon im Diskurs überhaupt, d. h. auch im praktischen Diskurs stehen, dass wir uns immer schon bemühen, im Sinne des zu dieser Institution gehörenden Telos zu wirken, dass wir die Regeln des Diskurses anerkannt haben, zu denen z. B. gehört, dass wir einander als gleichberechtigte Diskursteilnehmer zu respektieren haben, [...]. Wir wollen als Diskursteilnehmer immer schon die richtige (sich durch den praktischen Diskurs ergebende) Lösung unseres Problems, nicht mehr nur die für uns qua Individuum oder partikulare Gruppe vorteilhafteste Lösung, sondern das, was für alle gleichermaßen am besten ist. Wir sind damit verpflichtet auf den unparteilichen Blick des Diskursteilnehmers auf die moralisch relevanten Probleme und dürfen nicht mehr an der Perspektive des Vertreters partikularer Interessen festhalten. („Begründungsprobleme in der Diskursethik“, S. 35 – fett v. mir)
Wie aus diesem Zitat hervorgeht, hält es Kuhlmann für selbstverständlich, dass ein praktischer Diskurs, dessen Teilnehmer gleichberechtigt sind, aufgrund dieser Gleichberechtigung nur zu Ergebnissen führen kann, die der Forderung der Unparteilichkeit genügen. Dieser Gedanke erscheint ihm so evident, dass er es für überflüssig hält, ihn zu begründen. Gegen die These, dass Argumentationen unter Gleichberechtigten nur zu Resulta-
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ten führen können, die für alle gleich gut oder akzeptabel sind, sprechen jedoch mehrere Gründe. Erstens ist nicht immer eine Lösung möglich, die für alle gleich gut ist. Dies gilt beispielsweise für die Verteilung von Gütermengen, die nicht gleich aufgeteilt werden können, aber auch für andere Fälle. Zweitens könnte sich in einer fairen Argumentation herausstellen, dass gute Gründe für eine Lösung sprechen, die nicht im gleichen Maß den Interessen aller gerecht wird. Die sogenannte Egalitarismus-Debatte in der Ethik bietet dafür ein einschlägiges Beispiel. Man wird den an dieser Debatte beteiligten Non-Egalitaristen wohl kaum vorwerfen dürfen, dass sie die Egalitaristen nicht als gleichberechtigte Gesprächspartner respektieren.48 Es ist mit dieser Anerkennung aller anderen als gleichberechtigter Gesprächspartner ohne weiteres vereinbar, dass sie mit ernst zu nehmenden Gründen dafür argumentieren, dass Chancen, Ressourcen, materielle Güter u. A. nicht nach dem Kriterium der Gleichheit verteilt werden sollten. Schließlich kann man andere auch als gleichberechtigte Gesprächspartner anerkennen, indem man an den eigenen partikularen Interessen festhält und allen anderen das Recht einräumt, ihre jeweils ebenso partikularen Interessen zu vertreten. Beispiele dafür sind Verhandlungssituationen. Ob die Ergebnisse der Verhandlungen dem Anspruch der Unparteilichkeit genügen werden, wird von verschiedenen Faktoren abhängen, u. a. von der Stärke, dem Einfluss und der Macht der Beteiligten. Die Gleichberechtigung der Verhandlungspartner als Verhandlungspartner ist dafür keine hinreichende Bedingung. Auch in diesem Fall lässt sich Kuhlmanns These nur verteidigen, wenn man eine petitio principii begeht, indem man praktische Diskurse von vornherein der moralischen Norm der Unparteilichkeit unterwirft, die doch erst durch die Reflexion auf die Präsuppositionen des Diskurses begründet werden soll. Meine Auseinandersetzung mit der transzendentalpragmatischen Spielart der Diskursethik ist damit abgeschlossen. Die Einwände, die ich gegen die von Kuhlmann und Apel vertretene These des starken ethischen Rationalismus vorgetragen habe,
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sollen hier nicht wiederholt werden. Wenn sie sich als stichhaltig erweisen sollten, dann wäre damit nachgewiesen, dass die Argumentation der Transzendentalpragmatiker für die These, dass unmoralische Handlungen unvernünftig sind, nahezu an jeder Stelle falsche Voraussetzungen, Lücken oder Fehlschlüsse aufweist. 2.1 Wie bereits am Beginn dieses Kapitels bemerkt, vertritt Jürgen Habermas nicht ohne Einschränkung die starke rationalistische These, dass unmoralisches Handeln notwendigerweise irrational ist – zumindest nicht explizit. Dies ist der erste Grund dafür, dass seine universalpragmatische Variante der Diskursethik hier nur vergleichsweise knapp behandelt wird. Hinzu kommt ein zweiter Grund. Habermas’ Aussagen zu diesem Thema sind weniger deutlich als diejenigen Apels und Kuhlmanns; darüber hinaus ist es m. E. fraglich, ob sich bei ihm überhaupt eine eindeutige Antwort auf die V-Frage finden lässt. – In der folgenden Darstellung der Habermas’schen Diskursethik werde ich mich auf die Aspekte beschränken, die meiner Meinung nach für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen Vernunft und Moral relevant sind. Den Ausgangspunkt meiner kritischen Analyse bildet Habermas’ Auseinandersetzung mit den Versuchen einer transzendentalpragmatischen Begründung des Prinzips der Moral, wie sie sich bei A. J. Watt, Richard Stanley Peters und Karl-Otto Apel finden.49 Habermas zufolge setzt sich diese Begründungsweise einem grundsätzlichen Einwand aus, den ich in den vorigen Abschnitten auch gegen Kuhlmanns Überlegungen erhoben habe. Es sei nicht evident, dass die diskursinternen normativen Präsuppositionen auch für diskursexterne Handlungsweisen gelten: Es versteht [...] sich keineswegs von selbst, daß Regeln, die innerhalb von Diskursen unausweichlich sind, auch für die Regulierung des Handelns außerhalb von Argumentationen Geltung beanspruchen können. Auch wenn Argumentationsteilnehmer gezwungen sein sollten, normativ gehaltvolle Präsuppositionen zu machen (z. B. sich gegenseitig als zurechnungsfähige Subjekte zu achten, als gleichberechtigte Partner zu behandeln, einander Wahrhaftigkeit zu unterstellen
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Kapitel 6 und kooperativ miteinander umzugehen), so könnten sie sich doch dieser transzendentalpragmatischen Nötigung, sobald sie aus dem Kreis der Argumentation heraustreten, entledigen. Jene Nötigung überträgt sich nicht unmittelbar vom Diskurs aufs Handeln. („Diskursethik“, S. 96)50
Gleichwohl will Habermas nicht ausschließen, dass sich die Geltung der normativen Präsuppositionen für diskursexterne Handlungen nachweisen ließe; diese These bedürfe aber „einer besonderen Begründung“51. Ob und gegebenenfalls wie Habermas diese Begründung bietet, wird die Darstellung zeigen. In seiner eigenen rekonstruktiven Herleitung des Prinzip der Moral geht Habermas von der Unterscheidung dreier Ebenen von Argumentationsvoraussetzungen aus: logisch-semantischen, pragmatischen und prozeduralen. Zu den logisch-semantischen Argumentationsvoraussetzungen gehören beispielsweise folgende Regeln: „Kein Sprecher darf sich widersprechen.“ „Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen.“52 Habermas’ Einschätzung, dass diese Präsuppositionen „keinen geeigneten Ansatzpunkt“53 für die Begründung moralischer Normen bieten, kann man sich uneingeschränkt anschließen. Die Voraussetzungen der zweiten Ebene beziehen sich auf „Verständigungsprozesse, die so geregelt sind, daß Proponenten und Opponenten in hypothetischer Einstellung, und von Handlungs- und Erfahrungsdruck entlastet, problematisch gewordene Geltungsansprüche prüfen können“54. Zu den entsprechenden pragmatischen Argumentationsvoraussetzungen zählen z. B. folgende Regeln: (2.1) Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt. (2.2) Wer eine Aussage oder Norm, die nicht Gegenstand der Diskussion ist, angreift, muß hierfür einen Grund angeben. („Diskursethik“, S. 98)
Nach Habermas haben einige der pragmatischen Präsuppositionen „ersichtlich einen ethischen Gehalt“55. In prozeduraler Hinsicht schließlich „stellt sich die argumentative Rede als Kommunikationsvorgang dar, der im Hinblick auf das Ziel eines rational motivierten Einverständnisses unwahr-
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scheinlichen Bedingungen genügen muß“56. Als Beispiele für Argumentationsvoraussetzungen dieser Ebene führt Habermas im Anschluss an Robert Alexy folgende Regeln an: (3.1) Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. (3.2) a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. (3.3) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen. („Diskursethik“, S. 99)
In diesen Regeln kommen Habermas zufolge „jene allgemeinen Symmetriebedingungen [...] zum Ausdruck, die jeder kompetente Sprecher, sofern er überhaupt in eine Argumentation einzutreten meint, als hinreichend erfüllt voraussetzen muß“57. Sie konstituierten die bereits von Apel und Kuhlmann bekannte Idee einer „unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft“, in welcher „alle Motive außer dem der kooperativen Wahrheitssuche neutralisiert“ wären.58 Habermas stimmt Apel und Kuhlmann auch darin zu, dass diese normativ gehaltvollen Präsuppositionen der Argumentation „(a)uf dem Wege einer systematischen Untersuchung performativer Widersprüche“ nachgewiesen werden könnten.59 Habermas betont allerdings, dass die Regeln (3.1) bis (3.3) nicht in dem Sinne konstitutiv für Argumentationen sind, dass diese nur stattfinden könnten, wenn jene vollständig erfüllt wären. Dies sei in vielen realen Diskursen nicht der Fall. Die genannten Regeln seien vielmehr als unvermeidliche kontrafaktische Unterstellungen aufzufassen, deren „annähernde und für den Argumentationszweck hinreichende Erfüllung“60 von den Argumentationsteilnehmern vorausgesetzt werden müsse. 2.2 Bevor ich Habermas’ Gedankengang weiterverfolge, sei darauf hingewiesen, dass der früher gegen Apel und Kuhlmann vorgetragene Einwand auch auf seine Herleitung von Argumentationsvoraussetzungen zutrifft. Die hinreichende Erfüllung von
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(3.1) bis (3.3) muss nämlich nur dann vorausgesetzt werden, wenn (i) die Wahrheitssuche das einzige oder das wichtigste Motiv der Beteiligten ist, (ii) keine vernünftigen pragmatischen Gründe gegen die Befolgung dieser Regeln sprechen und (iii) die rationale Argumentation die angemessenste Art und Weise der Problemlösung darstellt. Die Annahme, dass kooperative Wahrheitssuche der einzige oder wichtigste Zweck von Argumentationen sei, habe ich bereits früher kritisiert. Diese Kritik soll hier nicht wiederholt werden. Es genügt, ihre Pointe in Erinnerung zu rufen: Wem als Teilnehmer einer Argumentation nicht oder nicht in erster Linie an der Wahrheit gelegen ist, der verwickelt sich nicht notwendigerweise in performative Selbstwidersprüche, wenn er die Regeln (3.1) bis (3.3) nicht befolgt. Dass diese Regeln nicht für alle Arten sprachlicher Verständigung gelten und dass sie folglich keine allgemein gültigen rationalen Normen sind, lässt sich exemplarisch nachweisen, indem man zeigt, dass absichtliche Verstöße gegen sie nicht notwendigerweise mit der Inkaufnahme performativer Widersprüche einhergehen. Dabei orientiere ich mich an Habermas’ Beispielen und konfrontiere sie mit anderen Fällen. Habermas zufolge ist die Äußerung (1)* ‚Ich habe H schließlich durch eine Lüge davon überzeugt, daß p’ performativ selbstwidersprüchlich, und zwar aus folgendem Grund: Indem der Proponent irgendeinen Grund für die Wahrheit von (1)* anführt und damit in eine Argumentation eintritt, hat er u. a. die Voraussetzung akzeptiert, daß er einen Opponenten mit Hilfe einer Lüge niemals von etwas überzeugen, sondern allenfalls dazu überreden könnte, etwas für wahr zu halten. Dann widerspricht aber der Gehalt der zu begründenden Behauptung einer der Voraussetzungen, unter denen die Äußerung des Proponenten allein als eine Begründung zählen darf. („Diskursethik“, S. 101)
Wenn man davon ausgeht, dass der Proponent das Ziel verfolgte, den Opponenten innerhalb einer wahrheitsbezogenen Argumentation durch eine Lüge von etwas zu überzeugen, dann trifft der Vorwurf der performativen Selbstwidersprüchlichkeit tatsächlich zu. Aber wie verhält es sich mit demjenigen, der einen anderen
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aus anderen Gründen dazu bringen will, etwas für wahr zu halten? Betrachten wir folgende Äußerungen: Aussage eines Verkäufers: „Nachdem ich die Kunden glauben gemacht hatte, dass sie unser Produkt benötigen würden, gelang es mir, sie zum Kauf zu überreden.“ Aussage eines Politikers: „Es gelang mir schließlich, die auf der Versammlung Anwesenden durch allgemeine und unverbindliche Zusicherungen dazu zu bringen, dass sie mir ihre Stimmen geben werden.“ Aussage eines Verführers: „Durch die unwahrhaftige Aussage, dass ich sie liebe, brachte ich sie dazu, sich mir hinzugeben."
Im Gegensatz zu (1)* sind diese Äußerungen nicht performativ selbstwidersprüchlich. Die Sprecher verfolgen nämlich gar nicht das Ziel, ihre Gesprächspartner in dem Sinne von etwas zu „überzeugen“, dass sie diese zu wohlbegründeten Überzeugungen führen wollen. Was folgt nun aus diesem Einwand? Wie könnte Habermas auf ihn reagieren? Meiner Meinung nach kommen hier zwei Möglichkeiten in Betracht. Erstens kann man die Bedeutung der Begriffe „Argumentation“ und „Diskurs“ definitorisch so einschränken, dass nur diejenigen Gespräche unter sie fallen, in denen allen Beteiligten nur an der Wahrheit gelegen ist. In diesem Fall müsste Habermas mit dem bereits bekannten Einwand rechnen, dass die Akzeptanz der Regeln (3.1) bis (3.3) nur ein hypothetischer Imperativ sei, der vernünftigerweise nur dann zu befolgen sei, wenn jemand eine Argumentation im engeren Sinn führt. Damit wäre für Habermas nicht viel gewonnen. Oder man fasst die Bedeutung der beiden Begriffe so weit, dass auch diejenigen Formen der Verständigung unter sie fallen, in denen wenigstens einige der Beteiligten andere Ziele als die kooperative Wahrheitsfindung verfolgen. In diesem Fall wäre die These, dass die kontrafaktische Unterstellung der hinreichenden Erfüllung von (3.1) bis (3.3) für Argumentationen notwendig ist, offensichtlich falsch. Also kann man festhalten, dass Habermas’ Versuch, nachzuweisen, dass Sprecher nur um den Preis der performativen Selbstwidersprüchlichkeit gegen eine dieser Regeln verstoßen könnten, gescheitert ist.
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Ich will dies durch ein weiteres Beispiel belegen. Ebenso wie Apel und Kuhlmann ist Habermas erstaunlich blind für die Tatsache, dass die berechtigte Teilnahme an Argumentationen bestimmte Sachkenntnisse oder auch eine bestimmte legitime soziale Position voraussetzt. Betrachten wir wiederum eines seiner Beispiele: Auf ähnliche Weise [wie in Bezug auf (1)* - H.W.] müßten sich performative Widersprüche für Äußerungen eines Proponenten nachweisen lassen, der den folgenden Satz begründen möchte: (3)* Nachdem wir A, B, C ... von der Diskussion ausgeschlossen (bzw. zum Schweigen gebracht, bzw. ihnen unsere Interpretation aufgedrängt) hatten, konnten wir uns endlich davon überzeugen, daß N zu Recht besteht, wobei von A, B, C ... gelten soll, daß sie (a) zum Kreise derer gehören, die von der Inkraftsetzung der Norm N betroffen sein würden, und sich (b) als Argumentationsteilnehmer in keiner relevanten Hinsicht von den übrigen Teilnehmern unterscheiden. Bei jedem Versuch, (3)* zu begründen, müßte sich der Proponent in Widerspruch zu den in (3.1) bis (3.3) aufgeführten Argumentationsvoraussetzungen setzen. („Diskursethik“ , S. 101)
Leider erläutert Habermas den entscheidenden Ausdruck „sich als Argumentationsteilnehmer in keiner relevanten Hinsicht von den übrigen Teilnehmern unterscheiden“ nicht. Wenn damit nur die Sprach- und Zurechnungsfähigkeit gemeint sein sollte, dann müssten alle erwachsenen, geistig gesunden Menschen, die von der Norm betroffen wären, zum Diskurs zugelassen werden. Wenn die Einschränkung hingegen auf bestimmte Kompetenzen und Kenntnisse abzielt, dann ist nicht abzusehen, warum alle Betroffenen als Argumentationsteilnehmer gleich sein sollten. Dies wird deutlich, wenn man Habermas’ Beispiel mit anderen Fällen vergleicht: Aussage eines Verfassungsrichters: „Nachdem wir die Öffentlichkeit ausgeschlossen hatten, kamen wir nach eingehender Diskussion zu dem Ergebnis, dass der Gesetzesentwurf verfassungskonform ist.“ Aussage des Präsidiumsmitglieds eines Weltsportverbandes: „Ohne die Zustimmung der Spieler durch Befragung einzuholen, haben wir von unserem Recht Gebrauch gemacht, die Spielregel X so und so abzuändern.“
Die diskursethische These der Unhintergehbarkeit der Argumentation 269 Aussage der Mitarbeiter der Berliner Senatsverwaltung: „Ohne die betroffenen Angestellten im Öffentlichen Dienst um ihre Zustimmung zu bitten, haben wir die wöchentliche Arbeitszeit von x auf y Stunden erhöht.“
Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass Habermas’ Argumentation wiederum in ein Dilemma führt. Entweder legt man definitorisch fest, dass Formen der sprachlichen Verständigung, deren Zweck nicht in der konsensuellen Festlegung praktischer Normen besteht, nicht als „praktische Diskurse“ gelten. In diesem Fall wäre nur gezeigt, dass die Regeln (3.1) bis (3.3) allein für praktische Diskurse in diesem engen Sinne gelten. Oder man erweitert die Bedeutung des Begriffs so, dass sie alle Formen der sprachlichen Interaktion einschließt. Dann unterliegen offensichtlich nicht alle Diskurse – nun in der weiten Bedeutung aufgefasst – den genannten Regeln. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Habermas’ Versuch, durch die rekonstruktive Analyse von Diskursen uneingeschränkt gültige praktische Normen zu gewinnen, ebenso wie die Versuche Apels und Kuhlmanns gescheitert ist. Nachweisen lässt sich nur, dass die in (3.1) bis (3.3) enthaltenen moralisch gehaltvollen Normen für diejenigen Formen sprachlicher Verständigung rational verbindlich sind, in denen die Beteiligten nur nach Wahrheit oder nur nach einer konsensuellen Beilegung praktischer Konflikte streben. Verteidigen ließe sich Habermas’ These nur durch die – allerdings ausgesprochen unplausible – Annahme, dass es irrational ist, in sprachlichen Interaktionen andere Ziele als Wahrheit oder praktische Konsense anzustreben. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Geltung der moralisch relevanten Argumentationsvoraussetzungen „unausweichlich“ ist.61 2.3 Ich komme auf Habermas’ Begründung des Prinzips der Moral zurück. Ausgehend von den angeblich unausweichlichen prozeduralen Voraussetzungen der Argumentation leitet er zunächst die Argumentationsregel (U) und aus dieser den Grundsatz der Diskursethik (D) her:
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Kapitel 6 Wenn jeder, der in Argumentationen eintritt, u. a. Voraussetzungen machen muß, deren Gehalt sich in Form der Diskursregeln (3.1) bis (3.3) darstellen läßt; und wenn wir ferner wissen, was es heißt, hypothetisch zu erörtern, ob Handlungsnormen in Kraft gesetzt werden sollen, dann läßt sich jeder, der den ernsthaften Versuch unternimmt, normative Geltungsansprüche diskursiv einzulösen, intuitiv auf Verfahrensbedingungen ein, die einer impliziten Anerkennung von ›U‹ gleichkommen. Aus den genannten Diskursregeln ergibt sich nämlich, daß eine strittige Norm unter den Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung nur finden kann, wenn ›U‹ gilt, d. h. – wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können. Ist nun aber gezeigt, wie der Universalisierungsgrundsatz auf dem Wege der transzendentalpragmatischen62 Ableitung aus Argumentationsvoraussetzungen begründet werden kann, kann die Diskursethik selbst auf den sparsamen Grundsatz ›D‹ gebracht werden, – daß nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten). („Diskursethik“, S. 103)
Die feinen Unterschiede zwischen ›U‹ und ›D‹ müssen hier nicht erörtert werden.63 Im Hinblick auf die V-Frage ist nur die Feststellung wichtig, dass Habermas meint, ein formales bzw. prozedurales Prinzip der Moral begründet zu haben, bei dem es sich, genauer gesagt, um ein Metaprinzip handelt, das ein Kriterium für die Prüfung von vorgeschlagenen praktischen Normen bietet. Diese seien nur dann moralisch akzeptabel, wenn ihnen alle Betroffenen unter der Voraussetzung, dass sie von allen befolgt würden, zustimmen könnten. Da es sich bei dem Grundsatz ›U‹ um ein prozedurales Metaprinzip handelt, können aus ihm selbst keine einzelnen moralischen Normen abgeleitet werden. Vielmehr beschränkt sich seine Funktion als Argumentationsregel darauf, vorgegebene Inhalte auf ihre Moralität hin zu überprüfen.64 Im Folgenden will ich probeweise von den bisher geltend gemachten Einwänden gegen Habermas’ Herleitung des Prinzips der Moral absehen und annehmen, dass ›U‹ und ›D‹ wohl begründete Prinzipien sind. Was folgt daraus in Bezug auf das Verhältnis zwischen praktischer Vernunft und Moral?
Die diskursethische These der Unhintergehbarkeit der Argumentation 271
Um diese Frage zu beantworten, ist es nötig, die Habermas’sche Typologie der praktischen Vernunft heranzuziehen. In seinem Aufsatz „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft“ unterscheidet Habermas drei Gebrauchsweisen praktischer Vernunft, die man auch als Typen praktischer Rationalität bezeichnen könnte. Dabei knüpft er an Kants Unterscheidung zwischen den technischen und pragmatischen Imperativen einerseits und dem kategorischen Imperativ andererseits an.65 Der pragmatische Gebrauch der praktischen Vernunft besteht darin, dass man geeignete Mittel zur Erreichung von Zielen findet, die man hat. Es muss z. B. entschieden werden, wie man zur Arbeitsstelle gelangen kann, wenn das ansonsten benutzte Fahrrad defekt ist. Das Ziel selbst wird dabei nicht in Frage gestellt, sondern als Ausgangspunkt der praktischen Überlegung vorausgesetzt.66 Wenn aber die Ziele selbst problematisch werden, weil sich der Überlegende fragt, „wer er ist und wer er sein möchte“67, dann muss er von seiner praktischen Vernunft einen ethischen Gebrauch machen. Dieser zielt nicht mehr auf das Mögliche und Zweckmäßige, sondern auf das für ihn Gute ab. Schließlich kann die Frage ‚Was soll ich tun?‘, die allen drei Gebrauchsweisen der Vernunft zugrunde liegt, auch so verstanden werden, dass ich mich frage, was ich unter dem Gesichtspunkt der Verallgemeinerbarkeit tun soll oder darf. In diesem Fall kommt der moralische Gebrauch der Vernunft zum Zug. Habermas fasst diese Unterscheidungen so zusammen: Der pragmatische, ethische und moralische Gebrauch der praktischen Vernunft zielt also ab auf technische und strategische Handlungsanweisungen, auf klinische Ratschläge und moralische Urteile. Praktische Vernunft nennen wir das Vermögen, entsprechende Imperative zu begründen, wobei sich je nach dem Handlungsbezug und der Art der anstehenden Entscheidungen nicht nur der illokutionäre Sinn des „Müssens“ oder „Sollens“ verändert, sondern auch das Konzept des Willens, der sich jeweils durch vernünftig begründete Imperative bestimmen lassen soll. („Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft“, S. 109)68
Aus Habermas’ Typologie lässt sich eine wichtige Schlussfolgerung in Bezug auf das Verhältnis zwischen praktischer Vernunft
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und Moral ziehen. Der moralische Gebrauch der Vernunft ist nicht der einzige. Somit stellt ›U‹ bzw. ›D‹ nicht das einzige Kriterium vernünftiger praktischer Überlegungen dar. Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass die den Gebrauchsweisen der praktischen Vernunft entsprechenden Arten praktischer Gründe konfligieren können, denn das, was für mich gut ist, muss nicht mit dem identisch sein, was im gleichmäßigen Interesse aller von meinen Handlungen Betroffenen ist. Wie lassen sich nun Habermas zufolge Konflikte zwischen verschiedenartigen praktischen Gründen lösen? Lassen sie sich überhaupt auf vernünftige Weise auflösen? Habermas formuliert diese Frage so: „Dürfen wir von der praktischen Vernunft noch im Singular sprechen, nachdem sie unter den Aspekten des Zweckmäßigen, des Guten und des Gerechten in verschiedene Formen der Argumentation zerfallen ist?“69 Seine Antwort ist im Hinblick auf die V-Frage folgenschwer: Die Einheit der praktischen Vernunft läßt sich nicht mehr nach Kantischem Vorbild der Einheit des transzendentalen Bewußtseins in der Einheit der moralischen Argumentation begründen. Es gibt nämlich keinen Metadiskurs, auf den wir uns zurückziehen könnten, um die Wahl zwischen verschiedenen Formen der Argumentation zu begründen. („Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft“, S. 117f. – Hervorh. v. mir)
In Bezug auf das Verhältnis zwischen Vernunft und Moral ergibt sich aus diesem Gedanken folgende Schlussfolgerung. Wenn man (i) mit Habermas davon ausgeht, dass man zwischen Gebrauchsweisen praktischer Vernunft und ihnen entsprechenden Arten praktischer Gründe unterscheiden muss, und wenn man ihm (ii) darin folgt, dass diese Typen praktischer Rationalität irreduzibel sind, dann folgt aus der These, dass es (iii) kein rationales Metakriterium für die Auflösung von Konflikten zwischen verschiedenartigen praktischen Gründen gibt, zumindest auf den ersten Blick ein normativer Dezisionismus. Habermas’ Überlegungen scheinen – wie er selbst eingesteht – darauf hinauszulaufen, dass die Entscheidung zwischen verschiedenartigen praktischen Gründen nicht mehr auf vernünftige Art und Weise getroffen
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werden kann, sondern dass sie der Willkür überlassen bleibt.70 (Den Verweis auf die Urteilskraft hält er in diesem Zusammenhang übrigens für unbefriedigend.71) Dieser Schlussfolgerung kann Habermas nur ausweichen, indem er das Problem von der Ethik in die Rechtsphilosophie verlagert: Die Moralphilosophie muß diese Frage [nach der Einheit der praktischen Vernunft – H. W.] offenlassen und an die Rechtsphilosophie weiterreichen; denn auf unmißverständliche Weise kann sich die Einheit der praktischen Vernunft nur im Netzwerk jener staatsbürgerlichen Kommunikationsformen und Praktiken zur Geltung bringen, in denen die Bedingungen vernünftiger kollektiver Willensbildung institutionelle Festigkeit gewonnen haben. („Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft“, S. 118)
Auf diesen einigermaßen dunklen Verweis auf die Rechtsphilosophie werde ich gleich (in Abschnitt 2.5) zurückkommen. Zuvor muss aber eine Stelle geprüft werden, an der Habermas zu einem ganz anderen Ergebnis gelangt. 2.4 In einer Auseinandersetzung mit Albrecht Wellmer, in der es vordergründig nur um das Problem der moralischen Motivation geht, korrigiert Habermas eine Einschätzung der Diskursethik, die seiner Meinung nach auf einem Missverständnis beruht. Wellmer gehe von der „irrigen Annahme“ aus, „kognitivistische Ethiken würden oder müßten behaupten, daß die moralische Einsicht schon ein hinreichendes Motiv für moralisches Handeln sei“72. Tatsächlich sei das Verhältnis zwischen moralischer Begründung und moralischer Motivation aus Sicht der Diskursethik aber anders zu beurteilen: Gewiß bedeutet ein gültiges moralisches Urteil auch eine Verpflichtung zu einem entsprechenden Verhalten; insoweit führt jeder normative Geltungsanspruch eine rational, durch Gründe motivierte Kraft mit sich. [...] Aber Einsicht schließt Willensschwäche nicht aus. Ohne Rückendeckung durch entgegenkommende Sozialisationsprozesse und Identitäten, ohne den Hintergrund entgegenkommender Institutionen und normativer Kontexte kann ein moralisches Urteil, das als gültig akzeptiert wird, nur eines sicherstellen: der einsichtige Adressat weiß dann, daß er keine guten Gründe hat, anders zu handeln. („Erläuterungen zur Diskursethik“, S. 135 – fett v. mir)73
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In dieser Passage gehen Thesen über die moralische Motivation in normative Behauptungen über; allerdings weist der Autor nicht auf diesen Themenwechsel hin. – Ich stimme Habermas darin zu, dass die Einsicht in das Bestehen einer moralischen Verpflichtung nicht notwendigerweise zum moralischen Handeln motiviert. Außerdem kann man ihm zugestehen, dass moralische Willensschwäche möglich ist. Wenn jemand weiß, wozu er moralisch verpflichtet ist, wenn er es tun möchte und er es dennoch nicht tut, dann haben wir es mit einem besonderen Fall des Handelns wider besseres Wissen zu tun – einem paradigmatischen Fall von Irrationalität. Bei einem typischen Fall unmoralischen Handelns verhält es sich jedoch anders: Die Handelnde weiß, was ihr moralisch geboten ist, sie tut es aber nicht, weil prudentielle Gründe für eine andere Handlungsweise sprechen. Deshalb ist Habermas’ Beschreibung einer unmoralischen Handlung irreführend. Ihm zufolge weiß der Adressat der moralischen Norm, „daß er keine guten Gründe hat, anders zu handeln“, als es die Norm gebietet. Diese Behauptung widerspricht offensichtlich dem Ergebnis, zu dem Habermas in dem Aufsatz „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft“ gelangt war. Geht man von der in diesem Text entwickelten Typologie aus, dann kann derjenige, der gegen eine moralische Norm verstößt, selbstverständlich gute pragmatische oder ethische Gründe für sein Handeln haben. In diesem Fall kann keine Rede davon sein, dass es keine guten Gründe dafür geben kann, gegen moralische Normen zu verstoßen.74 Wenn Habermas allerdings an der zitierten Stelle nur zum Ausdruck bringen möchte, dass es keine guten moralischen Gründe dafür geben kann, unmoralisch zu handeln, dann hat er zwar zweifellos Recht; daraus folgt aber nicht, dass es keine guten Gründe anderer Art dafür geben kann – eben dies müsste aber nachgewiesen werden, wenn man die These des starken ethischen Rationalismus überzeugend begründen wollte. Als vorläufiges Ergebnis lässt sich festhalten, dass Habermas in Bezug auf das Verhältnis zwischen praktischer Vernunft und Moral unentschieden ist. Einerseits vertritt er die These, dass es
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aufeinander nicht reduzierbare Arten praktischer Gründe gibt, die miteinander in Konflikt geraten könnten, ohne dass ein höherstufiges Rationalitätskriterium für die Auflösung derartiger Konflikte zur Verfügung stünde. Andererseits behauptet er, dass es keine guten Gründe für Verstöße gegen moralische Regeln geben könne. Die zuletzt genannte These widerspricht nicht nur Habermas’ eigener Rationalitätsauffassung; sie ist darüber hinaus mit einer völlig inakzeptablen Implikation verbunden: Die Behauptung, dass es keine guten Gründe für unmoralisches Handeln geben kann, wäre genau dann wahr, wenn es keine anderen praktischen Gründe als moralische gäbe. Dann wären aber überhaupt nur moralische Handlungen vernünftig. Ich gehe davon aus, dass man Habermas nicht diese abwegige Auffassung zuschreiben darf.75 Demnach muss man sich an die erste der beiden von ihm vertretenen Thesen halten. 2.5 Kommen wir also auf den Hinweis zurück, dass das Problem der Einheit der praktischen Vernunft nicht von der Ethik, sondern von der Rechtsphilosophie gelöst werden könne. Habermas hat diese These in einem Abschnitt seiner rechtsphilosophischen Untersuchung Faktizität und Geltung erläutert und begründet.76 Er geht hier von der Annahme aus, dass das moderne Recht und die moderne Moral durch einen Prozess der Differenzierung aus der traditionalen Sittlichkeit hervorgegangen sind und dass sie zwei komplementäre Systeme von Handlungsnormen bilden. 77 Dementsprechend müsse der moderne Begriff der Autonomie eine jeweils spezifische Gestalt annehmen: einerseits als Moralprinzip, andererseits als Demokratieprinzip. Im posttraditionalen Zeitalter78 müssten Recht und Moral „mit Hilfe eines sparsamen Diskursprinzips erklärt werden können, das lediglich den Sinn postkonventioneller Begründungsforderungen zum Ausdruck bringt“79. Dieser Grundsatz „D“ ist in einer ähnlichen Formulierung bereits aus der Habermas’schen Diskursethik bekannt: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“80 Aufgrund der Unter-
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schiede zwischen Recht und Moral werde „D“ in beiden Bereichen jedoch auf verschiedene Weise angewendet. In der Moral zählten nur die gleichmäßig zu berücksichtigenden Interessen aller, sie sei auf die Menschheit und eine ideale Republik der Weltbürger bezogen. Im Recht hingegen, das jeweils für ein einzelnes politisches Gemeinwesen mit einem bestimmten kollektiven Selbstverständnis gelte, seien neben moralischen auch pragmatische Gründe zu berücksichtigen. Während sich moralische Forderungen an durch ihre Lebensgeschichte individuierte Personen richteten, bezögen sich Rechtsnormen auf durch soziale Rollen definierte Mitglieder der sozialen Gemeinschaft. Schließlich werde in der Moral die Fähigkeit zur normativen Selbstbindung unterstellt, im Recht hingegen nur die Zweckrationalität der Rechtssubjekte.81 Habermas’ Thesen der Gleichursprünglichkeit von Recht und Moral und ihrer Rückführbarkeit auf ein und dasselbe Diskursprinzip sind zweifellos bedenkenswert. In Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Moral müssen sie jedoch nicht erörtert werden – im Gegensatz zu den zwei folgenden Thesen. Erstens bezögen sich Recht und Moral auf verschiedene Weise auf dieselben Probleme, und zweitens sei das moderne Rechtssystem nötig geworden, um die Defizite der prozeduralen Vernunftmoral zu kompensieren, die aus dem Verfall der traditionalen Sittlichkeit resultierten. Eine der Funktionen des Rechts im modernen Verfassungsstaat bestehe darin, moralexterne Motive für moralkonformes Handeln zu liefern. An dieser Stelle wird deutlich, inwiefern die Frage nach der Einheit der praktischen Vernunft von der Rechtsphilosophie beantwortet werden können soll: Habermas zufolge kann im posttraditionalen Zeitalter, in dem wir seiner Meinung nach leben, offenbar nur das Recht die Rationalität moralischen Handelns gewährleisten. Mit der Prüfung dieser Behauptung schließe ich das Kapitel über die Diskursethik ab. Die erste These, dass Recht und Moral sich auf dieselben Probleme beziehen, ist für die Vollständigkeit des Arguments deshalb notwendig, weil das Recht die vorgeblichen Defizite
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der modernen Vernunftmoral nicht kompensieren könnte, wenn diese beiden Regelsysteme für verschiedene Arten von Konflikten gälten. Habermas erläutert den Gedanken so: Moralische und juristische Fragen beziehen sich gewiß auf dieselben Probleme: wie interpersonale Beziehungen legitim geordnet und Handlungen über gerechtfertigte Normen miteinander koordiniert, wie Handlungskonflikte vor dem Hintergrund intersubjektiv anerkannter normativer Grundsätze und Regeln konsensuell gelöst werden können. Aber sie beziehen sich auf dieselben Probleme in je verschiedener Weise. Trotz des gemeinsamen Bezugspunktes unterscheiden sich Moral und Recht prima facie dadurch, daß die posttraditionale Moral nur eine Form des kulturellen Wissens darstellt, während das Recht zugleich auf der institutionellen Ebene Verbindlichkeit gewinnt. Das Recht ist nicht nur Symbolsystem, sondern auch Handlungssystem. (Faktizität und Geltung, S. 137)
Es ist aber keineswegs so „gewiß“, wie Habermas hier unterstellt, dass sich Recht und Moral auf dieselben Probleme beziehen. Unbestreitbar ist, dass sich die Geltungsbereiche der beiden Normensysteme überschneiden: Einige Normen sind sowohl weitgehend als moralische Gebote anerkannt als auch rechtlich kodifiziert, z. B. die Verbote des Mordes und des Betruges oder das Gebot der Hilfeleistung gegenüber einem Verletzten. Andererseits gibt es jedoch moralische Normen, die nicht Teil des Rechtssystems sind und die es vielleicht nicht einmal sein könnten, ebenso wie Rechtsnormen, die nicht der Moral zugerechnet werden können. Nicht alle Handlungsweisen, die als moralisch verwerflich gelten, sind mit rechtlichen Sanktionen belegt. Wer einen Freund im Stich lässt, der verstößt ebenso wenig gegen ein Gesetz wie ein junger Mann, der seine Freundin betrügt. Wer hinter dem Rücken eines Kollegen schlecht über diesen redet, der verhält sich offensichtlich unmoralisch; mit rechtlichen Konsequenzen hat er jedoch normalerweise nicht zu rechnen. Darüber hinaus wäre die rechtliche Kodifizierung aller moralischen Normen, wenn sie denn überhaupt möglich sein sollte, nur um den Preis der unzumutbaren Freiheitsbeschränkung der Bürger zu haben: Nur ein übermächtiger Überwachungs- und Zwangsstaat könnte u. U. mittels rechtlicher Sanktionen für die
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Durchsetzung aller moralischer Normen sorgen.82 Andererseits stehen zahlreiche Rechtsnormen in keinem ersichtlichen Zusammenhang mit moralischen Problemen. Dies gilt etwa für das Staats- und Verwaltungsrecht. Dass nicht alle Rechtsnormen dieselben praktischen Konflikte regeln wie moralische Normen, lässt sich durch einige besonders deutliche Beispiele illustrieren: Alle deutschen Kauffahrteischiffe bilden eine einheitliche Handelsflotte. (GG, Art. 27) Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. (GG, Art. 40 Abs. 1) Urkunden werden in deutscher Sprache errichtet. (Beurkundungsgesetz, § 5 Abs. 1) Die Kündigung [des Mietvertrags – H.W.] ist spätestens am dritten Werktag eines Kalendermonats zum Ablauf des übernächsten Monats zulässig. Die Kündigungsfrist für den Vermieter verlängert sich nach fünf und acht Jahren seit der Überlassung des Wohnraums um jeweils drei Monate. (BGB, § 573c Abs. 1 – alte Fassung)
Der Inhalt dieser und ähnlicher Rechtsnormen hat mit moralischen Problemen offenbar nichts zu tun. Habermas’ These der Extensionsgleichheit von Recht und Moral müsste deshalb weitgehend auf das Straf- und Zivilrecht eingeschränkt werden. Doch selbst für diese Rechtsbereiche gilt – wie dargelegt –, dass sie den Bereich der Moral nur teilweise abdecken. Aus den genannten Gründen muss die These dahin gehend korrigiert werden, dass sich die Geltungsbereiche des Rechts und der Moral nur überschneiden, dass sie aber nicht deckungsgleich sind. Dieses Ergebnis ist bei der Diskussion der zweiten These zu berücksichtigen. Sie besagt, dass das moderne Recht die Defizite, die sich aus dem Verfall der traditionalen Sittlichkeit ergeben, kompensiere. Habermas zufolge weist die moderne Vernunftmoral vor allem drei Schwächen auf: inhaltliche Unbestimmtheit, unzureichende Motivationskraft und mangelnde Zurechenbarkeit von Pflichten. (i) Aufgrund ihres von Habermas unterstellten formal-prozeduralen Charakters sei die Vernunftmoral inhaltlich unbestimmt: „Sie kann keinen Pflichtenkatalog, nicht einmal eine Reihe hierarchisch geordneter Normen auszeichnen,
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sondern mutet den Subjekten zu, sich ein eigenes Urteil zu bilden.“83 Die Abstraktheit hochverallgemeinerter Normen, wie z. B. des Grundsatzes „D“, werfe daher „Anwendungsprobleme auf, sobald ein drängender Konflikt den Nahbereich eingespielter, in gewohnte Kontexte eingelassener Interaktionen überschreitet“84. (ii) Als kognitivistische Moral könne sie nicht hinreichend zum moralischen Handeln motivieren: Denn die autonome, allein auf Vernunftgründe gestützte Moral kommt nur noch für richtige Urteile auf. Mit dem Übergang zum postkonventionellen Begründungsniveau löst sich das moralische Bewußtsein von der traditional eingewöhnten Praxis ab, während sich das gesamtgesellschaftliche Ethos zur bloßen Konvention, zu Gewohnheit und Gewohnheitsrecht zurückbildet. (Faktizität und Geltung, S. 145)
Deshalb sei die Vernunftmoral „auf entgegenkommende Sozialisationsprozesse angewiesen, die korrespondierende Gewissensinstanzen, nämlich die ihr entsprechenden Formationen des Über-Ichs hervorbringen“85. (iii) Die dritte Schwäche der Vernunftmoral resultiere aus ihrem universalistischen Charakter und betreffe vor allem positive Pflichten. Zwischen dem universellen Anspruch der Moral und den begrenzten Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen bestehe eine wachsende Diskrepanz.86 Außerdem könne moralisch nicht entschieden werden, wer denn für die Erfüllung bestimmter Pflichten, z. B. für die Rettung hungernder Kinder in Afrika, zuständig sei. Nehmen wir einmal mit Habermas an, dass diese Charakterisierung der posttraditionalen Moral und ihrer Schwächen zutrifft. Inwiefern kann das Recht unter diesen Voraussetzungen die Defizite der Moral kompensieren? – Folgt man Habermas, dann erweist sich das Recht als ein ausgesprochen wirksames Instrument der rationalen Konfliktlösung. Erstens biete das Rechtssystem eine Motivation zum moralischen Handeln, die weitgehend unabhängig von der Willensstärke der Einzelnen und der Art der Sozialisierung sei: „Weil Motive und Wertorientierungen im Recht als Handlungssysteme miteinander verschränkt sind, kommt den Rechtssätzen die unmittelbare Handlungswirksamkeit zu, die moralischen Urteilen als solchen
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Kapitel 6
fehlt.“ 87 Auch das Problem der inhaltlichen Unbestimmtheit der Moral könne durch das Recht gelöst werden: „Begründungs- und Anwendungsprobleme überfordern bei komplexen Fragen oft die analytische Kapazität des Einzelnen. Diese kognitive Unbestimmtheit wird durch die Faktizität der Rechtsetzung absorbiert.“88 Dies sei „für den Einzelnen eine Entlastung von den kognitiven Bürden der eigenen moralischen Urteilsbildung“89. Schließlich sei das Recht auch dazu geeignet, die Institutionen zu gründen und die Pflichten festzulegen, die nötig sind, um dem universalen Anspruch der Vernunftmoral gerecht zu werden: „Es kann Kompetenzen festlegen und Organisationen gründen, kurz ein System von Zurechnungen herstellen, das sich nicht nur auf natürliche Rechtspersonen, sondern auf fingierte Rechtssubjekte wie Körperschaften und Anstalten bezieht.“90 – Ist das Problem der Heterogenität der Gebrauchsweisen der praktischen Vernunft, von dem Habermas ausging, damit befriedigend gelöst? Es ist bemerkenswert, dass ein Vertreter der Diskursethik, die von einem durch Kant geprägten Begriff der Vernunft ausgeht, am Ende seiner Überlegungen über das Verhältnis zwischen Vernunft und Moral zu einem Ergebnis gelangt, das der Hobbes’schen Lösung des Problems erstaunlich ähnelt. Hobbes hatte die Auffassung vertreten, dass es nur dann vernünftig ist, moralisch zu handeln, wenn die moralischen Normen, d. h. die natürlichen Gesetze, zu geltendem Recht geworden sind. Habermas geht nun von der historischen Annahme aus, dass wesentliche Gehalte der posttraditionalen Moral in das moderne Recht inkorporiert worden sind und dass sich in der Gegenwart Recht und Moral auf dieselben Probleme beziehen. Deshalb könne das Rechtssystem die moralexternen Motive für moralkonformes Handeln hervorbringen, welche der kognitivistischen Moral seiner Meinung nach nicht mehr zu entnehmen sind. Ich habe in dem Kapitel über Hobbes bereits ausführlich dargelegt, warum diese Antwort auf die V-Frage nicht zu überzeugen vermag.91 Deshalb beschränke ich mich hier darauf, die wesentlichen Gründe in aller Kürze in Erinnerung zu rufen.
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(i) Zahlreiche moralische Forderungen entziehen sich der rechtlichen Kodifizierung. Demnach wäre nach Habermas nur die Befolgung derjenigen moralischen Normen rational verbindlich, die zugleich Rechtsnormen sind.92 (ii) Eine zunehmende Verrechtlichung der Moral wäre nur um den nicht erstrebenswerten Preis der Errichtung eines mächtigen Zwangs- und Überwachungsstaats zu erreichen. (iii) Der Verweis auf das geltende Recht, also auf externe Sanktionen, ist grundsätzlich ungeeignet, das Problem des Unrechttuns im Verborgenen zu lösen. Demnach kann als Ergebnis der Analyse festgehalten werden, dass es Habermas ebenso wenig wie Apel und Kuhlmann gelungen ist, nachzuweisen, dass es unter allen Umständen irrational ist, unmoralisch zu handeln. Darüber hinaus lässt seine richtige Feststellung, dass es kein rationales Metakriterium gibt, um Konflikte zwischen pragmatischen und ethischen Gründen einerseits und moralischen Gründen andererseits zu lösen,93 die Vermutung zu, dass es vernünftig sein kann, unmoralisch zu handeln.
Kapitel 7 Alan Gewirths Prinzip der artbezogenen Konsistenz 1. Als letzter Vertreter des starken ethischen Rationalismus soll in diesem Kapitel Alan Gewirth (1912–2004)1 behandelt werden, dessen Theorie in der Forschung intensiv diskutiert worden ist. Seine beiden wichtigsten Thesen besagen, dass Handelnde, sofern sie rational sind, ganz bestimmte Rechte für sich beanspruchen müssen und dass sie diese Rechte auch allen anderen Handelnden zuschreiben müssen. Wer das nicht tut, der verhalte sich inkonsistent und daher irrational.2 Um die Bedeutung dieser Thesen für die Beantwortung der V-Frage einschätzen zu können, wird es u. a. nötig sein, genau zu bestimmen, ob sich die Behauptung der Inkonsistenz nur auf die Urteile bzw. die Überzeugungen eines Akteurs oder auch auf seine Handlungen bezieht. Unter den hier behandelten Theorien nimmt Gewirths Ethik eine vermittelnde Stellung ein, weil sie sowohl mit der Vertragstheorie als auch mit der Lehre von der Selbstwidersprüchlichkeit unmoralischen Handelns Gemeinsamkeiten aufweist. Die Übereinstimmung mit dem ethischen Kontraktualismus besteht darin, dass Gewirth – wie Gauthier und Stemmer – das ehrgeizige Ziel verfolgt, moralische Normen aus moralisch neutralen Voraussetzungen, nämlich aus Normen der prudentiellen Rationalität abzuleiten.3 Dabei greift er allerdings im Unterschied zu den Vertragstheoretikern nicht auf den Gesichtspunkt der langfristigen Nutzenmaximierung, sondern – wie Kant und die Diskursethiker – auf das grundlegende und unumstrittene Rationalitätskriterium der Konsistenz zurück: Rationale Akteure könnten
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nur um den Preis der Inkonsistenz gegen moralische Regeln verstoßen. Besonders augenfällig sind die Gemeinsamkeiten zwischen Gewirths Moralphilosophie und der Transzendentalpragmatik. Wie Karl-Otto Apel und Wolfgang Kuhlmann strebt Gewirth eine apodiktische Begründung der Moral an.4 In beiden Fällen besteht das Ziel der Argumentation also in einer Letztbegründung moralischer Normen.5 Darüber hinaus ähneln sich auch die Methoden. Alle drei Autoren wählen als Ausgangspunkt ihrer Analysen die Perspektive des Teilnehmers an einer bestimmten sozialen Praxis. Stets geht es darum, die normativ gehaltvollen Voraussetzungen dieser Praxis zu explizieren, die alle Teilnehmer, sofern sie rational sind, immer schon akzeptiert haben müssen. Der transzendentalpragmatischen Methode der „strikten Reflexion“ entspricht bei Gewirth die „dialektisch notwendige Methode“, auf die ich im nächsten Abschnitt eingehen werde. Während aber die Transzendentalpragmatiker von dem idealisierten Selbstverständnis Argumentierender ausgehen, legt Gewirth seiner Theorie das Selbstverständnis rationaler Handelnder zugrunde.6 Gewirth hat seine Theorie erstmals ausführlich in seinem Buch Reason and Morality (1978) dargelegt und sie in der Folgezeit nicht mehr grundsätzlich modifiziert. Zwar hat er sie in einer Vielzahl von Veröffentlichungen gegen Einwände verteidigt und Missverständnisse durch Präzisierungen auszuräumen versucht, er hat aber stets an der in Reason and Morality entwickelten Argumentation festgehalten. Deshalb werde ich mich in der folgenden kritischen Analyse v. a. auf dieses Werk beziehen und dabei spätere Publikationen von Gewirth ergänzend einbeziehen. Die Darstellung beschränkt sich gänzlich auf die Herleitung des Prinzips der Moral und auf die These der Irrationalität unmoralischer Handlungen. Die Anwendung dieses Grundsatzes auf die Problematik der Menschenrechte und die politische Ethik, die bei Gewirth eine wichtige Rolle spielt,7 kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht berücksichtigt werden. Im folgenden Abschnitt wird zunächst die „dialektisch notwendige Methode“ vorgestellt, deren Verständnis für eine an-
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Kapitel 7
gemessene Beurteilung der Gewirth’schen Thesen unabdingbar ist. Danach wird seine Argumentation kurz zusammengefasst, um einen Überblick des Gedankengangs zu geben. Im Anschluss daran soll die Argumentation dann Schritt für Schritt eingehend dargestellt und geprüft werden. 2. Die dialektisch notwendige Methode besteht darin, dass einem Handelnden eine Folge von logisch aufeinander aufbauenden Aussagen zugeschrieben wird, der er aus seiner Perspektive vernünftigerweise zustimmen muss, sofern er sich als ein Handelnder versteht, dem daran gelegen ist, dass seine Handlungen gelingen. Gewirth knüpft mit dieser Verwendung des Begriffs der Dialektik an die antike Begriffsgeschichte an: Among the wide variety of meanings attached to the word ‚dialectical‘ in philosophy, one of the most central and traditional (going back to the Socratic dialogues and to Aristotle) refers to a method of argument that begins from assumptions, opinions, statements, or claims, made by protagonists or interlocutors and then proceeds to examine what these logically imply. It will be in this sense that my method is dialectical. (RM, S. 43)8
Das Prädikat „dialektisch“ bezieht sich bei Gewirth also auf eine bestimmte Art der philosophischen Argumentation. Andere, aus der modernen Philosophie bekannte Bedeutungen dieses Begriffs, wie sie etwa von Kant und Hegel her geläufig sind, müssen hier gänzlich außer Acht gelassen werden. Die Eigenart der dialektischen Methode im eben beschrieben Sinn lässt sich durch den Vergleich mit der von Gewirth so genannten assertorischen Methode verdeutlichen. Assertorische Aussagen beziehen sich auf bestimmte Sachverhalte, dialektische Aussagen hingegen auf die Urteile des Handelnden über diese Sachverhalte.9 Deshalb haben assertorische und dialektische Aussagen nicht notwendigerweise dieselben Wahrheitsbedingungen. Dieser Unterschied lässt sich anhand eines Beispiels illustrieren. Nehmen wir an, dass eine Person die Überzeugung hat ‚Das Nahrungsmittel N ist gesundheitsschädigend‘. In diesem Fall sollte sie, sofern ihr andere erschwingliche und nicht gesund-
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heitsschädigende Lebensmittel zugänglich sind, vernünftigerweise auch die Überzeugung haben ‚Ich sollte N nicht verzehren‘. Nehmen wir nun außerdem an, dass die erste Überzeugung falsch ist. Das betreffende Nahrungsmittel N ist nicht gesundheitsschädigend. In diesem Fall gilt zwar nicht apodiktisch, dass die Person es vernünftigerweise nicht verzehren sollte, dennoch ist die Überzeugung, dass sie N nicht zu sich nehmen sollte, in der ersten Überzeugung dialektisch impliziert. An dieser Stelle liegt die Frage nahe, wie Folgen von Überzeugungen oder Aussagen, die auf möglicherweise falschen Prämissen beruhen, zur Begründung moralischer Prinzipien beitragen können.10 – Für sich allein genommen, könnte die dialektische Methode im Sinne Gewirths diese Funktion tatsächlich nicht erfüllen. Sie erschöpft sich aber nicht darin, implizite Überzeugungssequenzen von Handelnden zu explizieren; vielmehr umfasst sie, wie sich ihrer Bezeichnung als „dialektisch notwendiger Methode“ entnehmen lässt, darüber hinaus den Aspekt der Notwendigkeit. Dieser Aspekt betrifft diejenigen Merkmale rationaler Handlungen und diejenigen Überzeugungen rationaler Akteure, die sich aus der Analyse des Begriffs der rationalen Handlung ergeben. Da sie durch Begriffszergliederung gewonnen werden, handelt es sich bei den Aussagen über sie um analytische Urteile, die notwendigerweise wahr sind (173ff.). Im Unterschied zur dialektisch kontingenten Methode, bei der Aussagen über kontingente Eigenschaften einzelner Handelnder oder Gruppen von Handelnden zugrunde gelegt werden, geht die dialektisch notwendige Methode nur von den Merkmalen aus, die allen Akteuren notwendigerweise zukommen, sofern sie rational sind (43ff.). Diese notwendigen Eigenschaften rationaler Handlungen bezeichnet Gewirth als generische, d. h. artbezogene Merkmale. Der Autor fasst die beiden Aspekte seiner Methode so zusammen: The method is dialectical in that it begins from statements presented as being made or accepted by an agent and it examines what they logically imply. The method is dialectically necessary in that the statements logically must be made or accepted by every agent because
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Kapitel 7 they derive from the generic features of purposive action, including the conative standpoint common to all agents. („Why Agents Must Claim Rights“, S. 403)
Zu welchen Resultaten man mittels dieser Methode gelangen wird, hängt offensichtlich davon ab, was man unter „praktischer Rationalität“ versteht. Gewirth legt einen prozeduralistischen Rationalitätsbegriff zugrunde, der sich auf grundlegende Fähigkeiten beschränkt und daher weitgehend unumstritten sein dürfte.11 Rationale Akteure können deduktive und induktive Schlüsse ziehen, sie akzeptieren Widerspruchsfreiheit als Rationalitätskriterium, und sie sind imstande, begriffliche Verallgemeinerungen zu vollziehen (22, 44).12 Das wichtigste und zugleich grundlegende Kriterium der Rationalität ist demgemäß die Widerspruchsfreiheit (consistency). Durch die Beschränkung auf den formalen bzw. prozeduralen Aspekt der Rationalität will Gewirth alle willkürlichen „substantiellen“ Vorgaben für den Inhalt rationaler Normen vermeiden.13 Für die Wahl dieses moralisch neutralen Begriffs praktischer Rationalität sprechen zwei Gründe. Erstens ist die Chance, auch einen Amoralisten von der Gültigkeit eines moralischen Prinzips zu überzeugen, umso größer, je anspruchsloser im moralischen Sinn der zugrunde gelegte Rationalitätsbegriff ist. Die Argumentation soll ja auch und vor allem diejenigen überzeugen, die nicht von vornherein moralische Beschränkungen ihres Handelns akzeptiert haben.14 Die dialektisch notwendige Methode appelliert nur an ihr Selbstverständnis als rationale Akteure, ohne ihnen von Beginn an moralische Überzeugungen zuzuschreiben. Auf diese Weise soll ein Zirkel in der Begründung vermieden werden. Außerdem sei die moralistische Deutung des Begriffs praktischer Vernunft problematisch: This normative moral interpretation of „rational“ incurs serious problems. It does not, of itself, show why the opposed contents or ways of treating other persons may not be rational; it seems to settle substantive moral issues by linguistic fiat; it does not indicate how this use of „rational“ is related to other standard uses of the word and to more general criteria of rationality. („The Golden Rule Rationalized“, S. 138)
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Die Frage, wie sich Rationalität und Moral zueinander verhalten, lässt sich also Gewirth zufolge nicht handstreichartig durch einen Verweis auf den angeblich allgemein anerkannten Sprachgebrauch beantworten.15 Zusammenfassend lässt sich die dialektisch notwendige Methode folgendermaßen charakterisieren: Sie geht vom Selbstverständnis Handelnder aus. Dabei zieht sie nur die notwendigen und daher allgemeinen Merkmale rationaler Handlungen und rationaler Akteure in Betracht. Alle kontingenten Eigenschaften einzelner Akteure werden ausgeschlossen (vgl. 47). Den Handelnden wird Vernunft als Fähigkeit des deduktiven und induktiven Schließens zugeschrieben. Ausgehend vom Begriff des rationalen Akteurs, soll eine Sequenz von Aussagen entwickelt werden, von denen die jeweils letzte in der jeweils vorhergehenden implizit enthalten ist, so dass der Handelnde selbst, sofern er rational ist, dieser Folge von Aussagen zustimmen muss. Es ist übrigens nicht auf den ersten Blick ersichtlich, ob und ggf. welche Auswirkungen die Wahl der dialektisch notwendigen Methode auf den Status der durch ihre Anwendung gewonnenen Resultate haben wird. Gewirth selbst hat an einzelnen Stellen die These vertreten, dass seine mittels der dialektisch notwendigen Methode hergeleiteten Ergebnisse nicht schlechthin, sondern nur in Bezug auf den Standpunkt des Handelnden wahr sind: What I have emphasized in the dialectically necessary method is that certain value judgments and right claims made by agents are true when they are viewed from within the conative standpoint that agents must adopt, and that they are not necessarily true outside this standpoint. But the truths in question are relational; they are propounded as relative to the agent’s standpoint, not as true tout court [...]. („Why Agents Must Claim Rights“, S. 407)16
Auf die Schwierigkeiten, die sich m. E. aus dieser Annahme akteurrelativer Wahrheiten ergeben, werde ich in Abschnitt 10 (S. 328ff.) im Rahmen der kritischen Diskussion eingehen. 3. Nach diesen Bemerkungen zu Gewirths Methode wende ich mich nun seinem Projekt einer apodiktischen Begründung der
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Kapitel 7
Moral zu. Zunächst fasse ich seine Argumentation zusammen. Danach werden die wesentlichen Begriffe, Voraussetzungen und Übergänge im Einzelnen analysiert. Wie bereits erwähnt, vertritt Gewirth zwei Thesen: The first is that every actual or prospective agent logically must accept that he or she has rights to freedom and well-being. The second is that the agent logically must also accept that all other actual or prospective agents have the same rights he claims for himself, so that he must act toward other persons with favorable consideration for their freedom and well-being as well as his own, even in circumstances where his own interests will be more effectively advanced by other sorts of action. („The Justification of Morality“, S. 246)
Die Begründung der ersten These verläuft über die folgenden dialektischen Urteile, d. h. Urteile, die aus der Perspektive eines rationalen Handelnden unabweisbar sein sollen17: (i)
Meine Freiheit und mein Wohlergehen sind für mich notwendige Güter. (ii) Ich muss Freiheit und Wohlergehen haben. (iii) Ich habe das Recht auf Freiheit und Wohlergehen. (iv) Alle anderen Personen sollen („ought“) mindestens davon absehen, mir meine Freiheit oder mein Wohlergehen zu entziehen oder sie zu beeinträchtigen. Die zweite These wird folgendermaßen begründet: (v) Ich habe das Recht auf Freiheit und Wohlergehen, weil ich ein aktueller oder potentieller Akteur bin. (vi) Alle anderen aktuellen oder potentiellen Akteure haben das Recht auf Freiheit und Wohlergehen. (vii) Ich sollte in Übereinstimmung mit den generischen Rechten aller anderen aktuellen oder potentiellen Akteure und meiner selbst handeln. Bei Urteil (vii) handelt es sich Gewirth zufolge um den Grundsatz der Moral, den er als Prinzip der artbezogenen Konsistenz (Principle of Generic Consistency – kurz: PGC) bezeichnet.18
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Die Kurzfassung der Argumentation verdeutlicht, wie Gewirth von moralisch neutralen Annahmen zu einem moralisch gehaltvollen normativen Grundsatz gelangen will. Um zu verstehen, inwiefern es sich bei dem Prinzip der artbezogenen Konsistenz um einen moralischen Grundsatz handelt, muss Gewirths Verständnis moralischer Sollenssätze herangezogen werden. Diese weisen seiner Meinung nach fünf Merkmale auf19: (1) Sie berücksichtigen im positiven Sinne die Interessen anderer Personen, d. h. sie bringen Respekt vor ihnen zum Ausdruck. (2) Sie sind in dem Sinne präskriptiv, dass sie das Handeln des Urteilenden anleiten. Dies gilt nach Gewirth nicht für alle Sollens- oder Sollte-Sätze („Ought“-Sätze). (3) Sie sind egalitär, weil sie fordern, dass zumindest das grundlegende Wohlergehen zwischen dem Akteur und den von seinen Handlungen Betroffenen gleich verteilt wird. (4) Sie sind inhaltlich bestimmt. (5) Sie gelten kategorisch, d. h. ihnen kommt grundsätzlich der Vorrang vor allen anderen praktischen Prinzipien zu. Die Angemessenheit dieser Analyse moralischer Normen soll hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Hinzuweisen ist nur darauf, dass sich die Annahme des fünften Merkmals durchaus nicht von selbst versteht. Darauf werde ich im letzten Kapitel zurückkommen. Alle übrigen Merkmale sollen Gewirth zugestanden werden. Von besonderer Bedeutung für das Verständnis seiner Argumentation ist das erste Merkmal, das von Gewirth so beschrieben wird: First, the ,oughts‘ are moral ones in the sense that they take positive account of the interests of other persons as well as the agent or speaker, especially as regards the distribution of what is considered to be basic well being. It is this well-being, indicated in the antecedent ,is‘-statements, that provides the reasons for the actions urged in the ,ought‘-judgments. („The ,Is-Ought‘ Problem Resolved“, S. 101)
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Moralische Sollenssätze fordern also, dass neben den Interessen des Handelnden die Interessen anderer Personen im positiven Sinn berücksichtigt werden. Zu beachten ist hier, dass Gewirth die Motive aus dem Begriffsinhalt ausklammert. Moralische Urteile fordern seiner Meinung nach nicht, dass man die Interessen anderer aus ganz bestimmten Motiven respektiert, sondern nur, dass man sie in seinem Handeln nicht verletzt. Dementsprechend verlangt das PGC nicht, dass man aus altruistischen Gründen Rücksicht auf die generischen Rechte anderer nimmt, sondern nur, dass man in Übereinstimmung mit diesen Rechten handelt: „Act in accord with the generic rights of your recipients as well as of yourself.“ (135) Indem Gewirth sich bei der Begriffsbestimmung moralischer Sollenssätze auf die Zwecke und Folgen von Handlungen beschränkt, lässt er die Möglichkeit offen, dass die Interessen anderer Personen aus anderen als rein altruistischen Gründen respektiert werden können. Dies entspricht meiner Definition der moralkonformen Handlung (vgl. Kap. 1). Von Bedeutung ist diese Auffassung, weil Gewirths Projekt der Ableitung des Prinzips der Moral aus prudentiellen Normen und der Forderung nach Widerspruchsfreiheit von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre, wenn es ein Merkmal moralischer Sollenssätze wäre, dass man ihnen zufolge die Interessen anderer um ihrer selbst willen und aus keinen anderen Gründen befördern sollte. Wenn man moralische Normen hingegen, wie Gewirth es tut, nur in Bezug auf Zwecke oder Handlungsfolgen charakterisiert, dann spricht grundsätzlich nichts dagegen, sie aus prudentiellen Normen in Verbindung mit dem Rationalitätskriterium der Konsistenz abzuleiten. 4. Bevor ich Gewirths Argumentation näher betrachte, sollen zum Zweck der Vereinfachung drei terminologische Festlegungen getroffen werden. (A) Zum Begriff „rights to freedom and well-being“: Aus stilistischen Gründen werde ich nur von einem grundlegenden Recht auf Freiheit und Wohlergehen sprechen. Gemeint sind
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damit aber jeweils zwei Rechte, nämlich das Recht auf Freiheit und das Recht auf Wohlergehen. (B) Zum Begriff „agent“: Wie bereits dargestellt, legt Gewirth nicht den Begriff irgendwelcher Handelnder zugrunde, sondern den Begriff eines rationalen Akteurs. In der Regel bezieht er sich dabei ausdrücklich sowohl auf jetzt Handelnde („actual agents“) als auch auf Personen, die voraussichtlich in Zukunft handeln werden („prospective agents“). Ich werde der Kürze halber nur von „Handelnden“ oder von „Akteuren“ sprechen. (C) Zum Begriff des Arteigenen oder Artbezogenen („generic“): Das Adjektiv generic wird von Gewirth auf diejenigen Entitäten bezogen, die mit Bezug auf die Art der vernünftigen Handlungen charakterisiert werden, z. B. deren Merkmale, aber auch auf die grundlegenden Rechte, die aus der normativen Struktur des Handelns abgeleitet werden sollen. Ich schließe mich im Folgenden Klaus Steigleders Übersetzung an und werde „generisch“ als „konstitutiv“ wiedergeben.20 Z. B. wird „generic features of action“ als „konstitutive Handlungsmerkmale“ übersetzt, „generic rights“ wird als „konstitutive Rechte“ wiedergegeben. Kommen wir auf Gewirths Argumentation zurück. Die Schlüsselbegriffe in der Folge der dialektischen Urteile sind „Gut“, „Recht“ und „Sollen“. Die entscheidenden Übergänge, die nicht ohne weiteres plausibel erscheinen, sind erstens derjenige vom Für-ein-Gut-Halten zu einem Recht und zweitens derjenige von einem Recht des Handelnden zu Pflichten anderer („Ought“-Sätze) ihm gegenüber. Die kritische Diskussion über Gewirths Ethik hat sich denn auch auf diese beiden Probleme konzentriert. Im Gegensatz dazu wird die Begründung der zweiten These, die auf einer Variante des Universalisierungsgrundsatzes beruht, weitgehend als unproblematisch angesehen. Auch ich werde ihre Richtigkeit voraussetzen, weil ich Gewirths Erläuterung für unanfechtbar halte: [...] if some predicate P belongs to some subject S because S has the property Q (where the ,because‘ is that of sufficient reason or condition), then P must also belong to all other subjects S1, S2, . . . , Sn
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Kapitel 7 that have Q. If one denies this implication in the case of some subject, such as S1, that has Q, then one contradicts oneself. For in saying that P belongs to S because S has Q, one is saying that having Q is a sufficient condition of having P; but in denying this in the case of S1, one is saying that Q is not a sufficient condition of having P. (RM, S. 105)
Bezogen auf das Recht auf Freiheit und Wohlergehen bedeutet dies: Wenn es eine Eigenschaft gibt, die eine hinreichende Bedingung dafür ist, dass jemandem dieses Recht zukommt, dann kann niemand, der diese Eigenschaft hat, widerspruchsfrei behaupten, dass zwar ihm dieses Recht zukommt, nicht aber allen anderen Personen, welche die gleiche Eigenschaft ebenfalls aufweisen. Wenn es Gewirth gelungen sein sollte, die erste These überzeugend zu begründen, dann müsste man daher aufgrund des Universalisierungsgrundsatzes auch die zweite These akzeptieren. Im Hinblick auf die V-Frage wäre dieses Ergebnis deshalb von besonderer Bedeutung, weil sich die letzte Aussage in der Sequenz der dialektischen Urteile ausdrücklich auf Handlungen, nicht auf Urteile bezieht. Gewirth hat des Öfteren betont, dass es ihm nicht nur darum geht, die Rationalität oder die Irrationalität bestimmter Urteile, sondern auch der ihnen entsprechenden Handlungen nachzuweisen.21 Er behauptet nicht nur, dass es selbstwidersprüchlich und daher irrational ist, zu bestreiten, dass andere konstitutive Rechte haben, sondern auch, dass es ebenso unvernünftig ist, diese Rechte absichtlich zu verletzen, und zwar deshalb, weil ein Akteur, indem er bestimmte Handlungen vollzieht, implizit bestimmte Urteile akzeptiert: It is important to note here a certain connection between action and judgment. When an agent violates the PGC by intentionally infringing a generic right of his recipients, he in effect denies that they have this right and hereby ceases so far forth to be rational. By ,in effect denies‘ I mean that even if the agent does not say anything, he shows by his action that he thinks or judges that his recipients do not have this right. This point is an application of the dialectically necessary method. Since the agent is in control of his conduct and knows what he is doing, his action is reflected in his at least implicit judgments. (RM, S. 139)
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In Bezug auf die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, ist an dieser Auffassung vor allem Folgendes relevant: Gewirth zufolge lassen sich aufgrund des Implikationsverhältnisses zwischen Handlungen und (zumindest impliziten) Urteilen die Begründung moralischer Prinzipien und die Frage nach der Rationalität ihrer Befolgung nicht voneinander trennen.22 Deshalb kann er schlussfolgern: „[...] every agent has a conclusive reason both for judging that he ought to act as the PGC requires and for acting as the PGC requires.“ (194)23 5. Den Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet die Analyse von Handlungen. Im ersten Schritt des Gedankengangs soll nachgewiesen werden, dass Handlungen eine normative Struktur aufweisen.24 Handlungen werden vollzogen, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Indem er etwas tut, will der Akteur einen bestimmten Sachverhalt herbeiführen. Daher gehöre es zum Wesen einer Handlung, dass der Akteur durch sie etwas erstrebt: From this conativeness it follows that the purposes for which he acts seem to him to be good. Hence, he implicitly makes a value judgment about this goodness. Suppose the fact of the agent’s purposive action is expressed by him in such a descriptive statement as ,I do x for purpose E.‘ Because of the presence of purposiveness in action, this statement entails ,E is good.‘ (RM, S. 49)
Damit ist allerdings nicht gemeint, dass der Handelnde sein Ziel ohne jede Einschränkung für gut halten muss. Vielmehr muss ihm der Zweck nur in mindestens einer Hinsicht, d. h. in Bezug auf mindestens ein Kriterium gut erscheinen. Das schließt nicht aus, dass der Akteur denselben Zweck in mindestens einer anderen Hinsicht nicht für gut hält. Z. B. kann er etwas tun, weil er dadurch etwas erreichen will, was seinen Interessen dient, was er aber in moralischer Hinsicht für schlecht hält, oder umgekehrt. Er kann der Meinung sein, dass der Zweck, den er erreichen will, zwar im Hinblick auf seine kurzfristigen Interessen gut für ihn ist, nicht aber in Bezug auf seine langfristigen Interessen und umgekehrt.25 Vorausgesetzt, dass er nicht unter Zwang handelt, muss man aber davon ausgehen, dass er
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seinen Zweck in irgendeiner Hinsicht positiv bewertet, weil sonst – so Gewirth – die Handlung nicht zustande käme. Die Tatsache, dass er die Handlung auszuführen versucht, sei ein hinreichender Beleg dafür, dass er seinem Zweck gegenüber eine „Pro-Haltung“ einnimmt und ihn positiv bewertet.26 Um ein Missverständnis zu vermeiden, muss man hier aber Gewirth zufolge strikt unterscheiden zwischen der Behauptung, dass etwas für gut gehalten wird oder gut erscheint, und der Annahme, dass etwas gut ist. Seine These lautet nur, dass der Akteur seinen Zweck in mindestens einer Hinsicht für gut halten muss, nicht dass dieser – gemessen an einem objektiven Kriterium – auch gut sein muss.27 Der erste Schritt der Argumentation hat somit zu folgenden Ergebnissen geführt. Jede Handlung impliziere ein positives Werturteil über ihren Zweck. Deshalb wiesen Handlungen eine normative Struktur auf. Außerdem sei damit gezeigt, dass die These, zwischen Tatsachen oder Seins-Sätzen einerseits und Werten bzw. Sollenssätzen andererseits bestehe eine unüberbrückbare Kluft, in Bezug auf Handlungen unhaltbar sei: The upshot of this first stage of my argument is that action, insofar as it is purposive, is valuational in that it involves an at least implicit judgment of good on the part of the agent. Hence, to this extent, from the standpoint of the agent the „fact-value“ gap, even if not the „is-ought“ gap, is already bridged. Action is not a mere physical occurence in which the entities involved make no choices and guide themselves for the sake of no purposes. [...] On the contrary, the agent’s relation to the action he brings about is conative and evaluative, for he acts for some purpose which seems to him to be good. („The Normative Structure of Action“, S. 243)28
Gegen diese Thesen können verschiedene Einwände erhoben werden.29 Ich will jedoch davon absehen, sie hier zu erörtern, weil sich meine Kritik auf die bereits erwähnten beiden Übergänge konzentrieren wird, die später dargestellt werden. An dieser Stelle soll nur auf eine Schlussfolgerung aufmerksam gemacht werden, die sich aus Gewirths Prämissen ergibt. Wenn erstens Handlungen Werturteile implizieren und wenn zweitens der
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Zweck zwar in mindestens einer Hinsicht für gut gehalten werden muss, er aber auch in einer oder mehreren anderen Hinsichten für schlecht gehalten werden kann, dann kann das abschließende und vollständige Werturteil des Akteurs über seine Handlung negativ ausfallen. Er kann, obwohl er die Handlung vollzieht, überzeugt davon sein, dass sie alles in allem schlecht ist. Es ist also möglich, dass der Handelnde seine Tat nach der Berücksichtigung aller relevanten Kriterien missbilligt. Aus diesem Urteil lässt sich nun m. E. im Sinne der dialektischen Methode das folgende Urteil ableiten: „Die Handlung hätte alles in allem nicht vollzogen werden sollen.“ Auf die Bedeutung dieser Schlussfolgerung werde ich zurückkommen. 6. Im nächsten Schritt soll gezeigt werden, dass das Urteil des Akteurs ‚Ich halte meine Zwecke notwendigerweise für gut‘ das folgende Urteil impliziert: ‚Ich halte meine Handlungsfähigkeit für ein notwendiges Gut‘ (vgl. 52–63). Dem entsprechenden Schluss liegt das Prinzip zugrunde, dass derjenige, der einen bestimmten Zweck will, auch die für diesen notwendigen Mittel wollen sollte. Wer seine Zwecke schätzt, der sollte daher vernünftigerweise auch die Voraussetzungen wertschätzen, die erfüllt sein müssen, damit er jene erreichen kann: The agent’s positive evaluation extends not only to his particular purpose but also a fortiori to the generic features that characterize all his actions. These features hence constitute, in his view, what I shall call generic goods. Since his action is a means of something he regards as good, even if this is only the performance of the action itself, he regards as a necessary good the voluntariness or freedom that is an essential feature of his action, for without this he would not be able to act for any purpose or good at all. (RM, S. 52)
Die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand überhaupt irgendwelche Zwecke erreichen kann, sind von zweierlei Art. Sie betreffen einerseits den Akteur selbst und andererseits sein Verhältnis zu anderen Personen. Erstens muss der Handelnde ein Interesse daran haben, dass er selbst imstande ist, die Handlungen, an denen ihm liegt, auszuführen. Dies schließt
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ein, dass er seine Gesundheit, seine körperliche und geistige Unversehrtheit sowie ein bestimmtes Maß an Wohlergehen wertschätzen muss. Um seine Handlungsfähigkeit zu gewährleisten, muss aber noch eine weitere Voraussetzung hinzukommen: Es muss ihm möglich sein, unter Abwesenheit von Zwang zu handeln. Andere Personen können ihn aber so schädigen, dass seine körperliche oder geistige Unversehrtheit beeinträchtig wird, und sie können ihn unter Umständen durch die Anwendung von Zwang daran hindern, dass er seine Zwecke erreicht. Also muss der Akteur auch die Möglichkeit, ohne Beeinträchtigung durch andere (noninterference) handeln zu können, positiv beurteilen. Demnach muss dem Akteur an seiner Freiheit gelegen sein. Hinzu kommt, dass ein rationaler Akteur nicht nur sicherstellen will, dass er in der Gegenwart frei handeln kann. Vielmehr sollte ihm daran gelegen sein, dass seine Handlungsfähigkeit auch in Zukunft gewährleistet ist. Die Wertschätzung seiner Freiheit und seines Wohlergehens beschränkt sich daher nicht auf die Gegenwart, sondern sie erstreckt sich auch auf die Zukunft (62). Deshalb muss er auch die zukünftige Nichtbeeinträchtigung durch andere Personen notwendigerweise für gut halten. Die Handlungsfähigkeit, welche der Akteur notwendigerweise für gut halten muss, besteht Gewirth zufolge aus drei Elementen: First, he regards as good those basic aspects of his well-being that are the proximate necessary preconditions of his performance of any and all of his actions. Second, he regards it as good that his level of purposefulfillment not be lowered by his losing something that seems to him to be good. Third, he regards it as good that his level of purpose-fulfillment be raised by his gaining something that seems to him to be good, namely, the goal or objective for which he acts. I shall refer to these three kinds of goods as basic goods, nonsubtractive goods, and additive goods. Each of these is necessarily involved in all purposive action as viewed by the rational agent, the first kinds as its preconditions, the other two kinds as constitutive of his purposes. (RM, S. 53f.)
Diese drei Arten von Gütern sollen hier nur grob charakterisiert werden. Die grundlegenden Güter umfassen vor allem die physi-
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sche und die psychische Integrität des Akteurs, soweit sie für seine Handlungsfähigkeit nötig sind, sowie die Bedingungen für ihre Sicherung, wie z. B. ausreichende Ernährung, Kleidung und Unterkunft (54). Unter nicht-subtraktiven Gütern versteht Gewirth die Erhaltung dessen, worüber der Akteur vor Beginn einer bestimmten Handlung verfügt, vorausgesetzt, dass er es für gut hält (54f.). Der Begriff der additiven Güter bezeichnet schließlich diejenigen Güter, die über die Handlungsfähigkeit des Akteurs und über die nicht-subtraktiven Güter hinausgehen (56). Es wäre zweifellos möglich, diese begriffliche Unterscheidung einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Fraglich ist beispielsweise, ob sich die additiven Güter von den grundlegenden und den nicht-subtraktiven klar abgrenzen lassen. Für das Verständnis und die Beurteilung der beiden zentralen Thesen Gewirths ist dies jedoch nicht nötig. Ein gewisse begriffliche Unbestimmtheit kann hier durchaus in Kauf genommen werden, weil der Gedanke hinreichend klar umrissen ist. Für den Fortgang der Untersuchung kann man Gewirth zugestehen, dass rationale Akteure gewöhnlich ihre Handlungsfähigkeit für gut halten sollten. Da diese wiederum Freiheit und ein Mindestmaß an Wohlergehen voraussetzt, sollten sie auch diese schätzen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Gewirth nur die notwendigen Merkmale von Handlungen berücksichtigen will, weil er begriffsanalytisch verfahren und nur diejenigen Eigenschaften ermitteln will, die allen Handlungen als solchen und allen Akteuren als solchen zukommen. Deshalb kann er besondere Güter, die von einzelnen Handelnden möglicherweise als Voraussetzungen ihrer Handlungsfähigkeit angesehen werden, ausschließen (vgl. 61). Wenn man von allen Unterschieden zwischen den Akteuren abstrahiert, dann muss auch der Begriff des Wohlergehens auf solche allgemeinen Voraussetzungen beschränkt werden. Man müsse die drei Arten von Gütern in diesem Fall nicht in Bezug auf bestimmte Gelegenheiten („particularly-occurently“), sondern artbezogen-dispositional („generically-dispostionally“) betrachten. Für die letztere Be-
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trachtungsweise gilt: „[...] the emphasis falls not on particular goods for which the agent occurently acts, but rather on the general necessary conditions that enable him to act for any purposes he might have and that he would hence regard as generically good.“ (58) Demnach sollten vernünftige Akteure ihre allgemeine Handlungsfähigkeit für gut halten. Diese Bewertung schließt ihre Freiheit und ein Mindestmaß an Wohlergehen ein. – Wenn man von besonderen, schwer zu beurteilenden Fällen absieht, dann erscheint diese These Gewirths zunächst zwar plausibel;30 es fragt sich jedoch, inwiefern sie für die Begründung des Prinzips der Moral geeignet sein könnte. Dass jeder seine eigene Freiheit und sein eigenes Wohlergehen vernünftigerweise für gut halten sollte, wird man kaum bestreiten wollen. Nun fordern moralische Normen aber, dass man auch die Interessen anderer respektiert. Gewirth hat diesen Aspekt in seine Erläuterung des moralischen Sollens aufgenommen (vgl. Abschnitt 3). Die entscheidenden Fragen lauten also: Warum sollte ich nicht nur meine eigene Freiheit und mein eigenes Wohlergehen, sondern auch die Freiheit und das Wohlergehen anderer für gut halten? Weshalb sollten die anderen nicht nur ihre jeweils eigene Freiheit und ihr jeweils eigenes Wohlergehen, sondern auch meine Freiheit und mein Wohlergehen schätzen? Mit diesen Fragen nähern wir uns den beiden kritischen Übergängen in Gewirths Argumentation. 7. Als Ergebnis des zuletzt dargestellten Gedankengangs hält Gewirth fest: „We have now seen that every agent must hold or accept that his freedom and well-being are necessary goods.“ (63) Aus dieser Feststellung lässt sich seiner Meinung nach die folgende ableiten: Since the agent regards as necessary goods the freedom and wellbeing that constitute the generic features of his successful action, he logically must also hold that he has rights to these generic features, and implicitly makes a correspondent right-claim. (RM, 63)
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Dieser Anspruch takes the correlative form of an ,ought‘-judgment addressed to all other persons, that they ought at least to refrain from interfering with the agent’s having freedom and well-being. This correlativity amounts to logical equivalence so that there is mutual entailment between the agent’s right-claim and this ,ought‘-judgment. (RM, 67)
Dieser Abschnitt der Argumentation, der die beiden problematischen Übergänge enthält (vgl. 63–103), verläuft demnach so: (i) Jeder rationale Akteur sieht seine Freiheit und sein Wohlergehen als notwendige Güter an. (ii) Weil er seine Freiheit und sein Wohlergehen für notwendige Güter hält, muss er ein Recht auf sie beanspruchen. (iii) Weil er ein Recht auf seine Freiheit und sein Wohlergehen beansprucht, sollen alle anderen mindestens darauf verzichten, seine Freiheit und sein Wohlergehen zu beeinträchtigen. Diese Herleitung muss nun im Einzelnen geprüft werden. Um die Übersichtlichkeit der Darstellung zu wahren, werde ich zunächst Gewirths Begründung in Reason and Morality einschließlich der Präzisierungen und Ergänzungen, die er in seinen Antworten auf Kritiker vorgenommen hat, referieren. Danach werde ich die wichtigsten Einwände gegen die Übergänge erörtern und schließlich die Plausibilität der Gewirth’schen Argumentation angesichts dieser Einwände beurteilen. Als Ausgangspunkt kann Gewirths Begriff eines Rechtsanspruchs dienen. Dieser weise folgende Struktur auf: ‚A hat aufgrund von Y ein Recht auf X gegenüber B.‘31 Dabei bezeichnet A den Rechtsträger, B den Adressaten des Rechts, X den Gegenstand des Rechts und Y den Rechtsgrund. Bezogen auf den Anspruch ‚Ich habe das Recht auf Freiheit und Wohlergehen‘, ist der Akteur, der diesen Anspruch erhebt, der Rechtsträger. Adressaten des Rechts sind alle anderen Personen, die imstande sind, seine Freiheit und sein Wohlergehen zu beeinträchtigen. Gegenstand des Rechtsanspruchs sind seine Freiheit und sein
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Wohlergehen. Zu klären ist, worin der rechtfertigende Grund (justifying reason) dieses Anspruchs besteht. Bevor ich mich diesem Problem zuwende, soll der Zusammenhang zwischen dem vorgeblichen Recht auf Freiheit und Wohlergehen und dem Sollen der anderen, also ihren Verpflichtungen betrachtet werden. Wenn man von paradigmatischen Fällen ausgeht, also juristischen und moralischen Rechten, dann entspricht jedem Recht des Rechtsträgers eine Verpflichtung des Rechtsadressaten. So korreliert beispielsweise das Recht auf körperliche Unversehrtheit mit der negativen Pflicht anderer, dass sie niemanden vorsätzlich körperlich verletzen dürfen. Daraus lässt sich folgende Schlussfolgerung ziehen. Wenn es Gewirth gelungen sein sollte, das fragliche Recht zu begründen, und wenn dieses Recht die typischen Merkmale eines Rechts aufweisen sollte, dann würde ihm die Verpflichtung aller anderen entsprechen, die Freiheit und das Wohlergehen des Akteurs nicht zu beeinträchtigen. Der zweite entscheidende Übergang in der Argumentation, derjenige von dem Recht auf Freiheit und Wohlergehen zu der Verpflichtung der anderen, wäre also dann unproblematisch, wenn es sich um einen begründeten Rechtsanspruch im geläufigen Sinne handelte. Ob dies der Fall ist, wird die weitere Darstellung zeigen. – Es müssen also zwei eng miteinander zusammenhängende Fragen beantwortet werden. Worin besteht der rechtfertigende Grund für das vorgebliche Recht auf Freiheit und Wohlergehen? Um welche Art von Recht handelt es sich? Nach diesen vorbereitenden Überlegungen soll Gewirths Argument dargestellt werden. Genauer gesagt, handelt es sich um verschiedene Variationen ein und desselben Arguments. Eine von ihnen lautet wie folgt: The argument may now be put as follows. Since the agent holds that freedom and well-being are necessary goods for all his actions, he also holds that it is necessary that he at least not be interfered with by other persons in having freedom and well-being. For if he were thus interfered with, he could not have what is required for him to act. [...], because of the agent’s practical conative attachment to the generic features of his successful action, the ascriptions carry his practical
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advocacy or endorsement. In saying that freedom and well-being are necessary goods for him, the agent is not merely saying that if he is to act, he must have freedom and well-being; in addition, because of the goodness he attaches to all his purposive actions, he is opposed to whatever interferes with his having freedom and well-being and he advocates his having these features, so that his statement is prescriptive and not only descriptive. [...] he is setting forth a practical requirement he endorses, that other persons not interfere with his having freedom and well-being. (RM, S. 78f. – fett v. mir)
Die im Zitat hervorgehobenen Ausdrücke verdeutlichen, wie der Gedankengang verläuft. Der Akteur hält seine Freiheit und sein Wohlergehen für notwendige Güter. Deshalb hält es ebenso für gut, dass diese nicht durch andere beeinträchtigt werden. Er lehnt eine solche Minderung seiner Handlungsfähigkeit durch andere ab und fordert deshalb von den anderen, dass sie seine Freiheit und sein Wohlergehen nicht schädigen. Unproblematisch ist daran sicherlich die Folge der evaluativen Urteile: (i) Meine Freiheit und mein Wohlergehen sind für mich gut, d. h. die Beeinträchtigung meiner Freiheit und meines Wohlergehens ist für mich schlecht. (ii) Die Minderung meiner Freiheit und meines Wohlergehens durch andere ist für mich schlecht. (iii) Es ist gut für mich, wenn andere meine Freiheit und mein Wohlergehen nicht beeinträchtigen. Wie ließe sich aber aus den evaluativen Aussagen (ii) und (iii) eine begründete präskriptive Aussage ableiten? – Nun, solange man sich dabei auf den Akteur beschränkt, aus dessen Perspektive die Urteile gefällt werden, ist eine solche Ableitung möglich. Urteile darüber, dass etwas gut oder schlecht für jemanden ist, sind nämlich, wie ich an anderer Stelle ausführlich begründet habe, in einer gewissen Hinsicht sowohl evaluativ als auch präskriptiv.32 Wenn X schlecht für eine Person ist, dann sollte sie vernünftigerweise bemüht sein, X abzuwenden, sofern und soweit dies in ihrer Macht steht. Dementsprechend implizieren (ii) und (iii) das folgende präskriptive Urteil:
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(iv) Ich sollte, sofern und soweit mir dies möglich ist, verhindern, dass andere meine Handlungsfähigkeit schmälern. Der Zusatz „sofern und soweit mir dies möglich ist“ ist nötig, weil man davon ausgehen muss, dass der Handelnde nicht immer imstande sein wird, andere davon abzuhalten, seine Freiheit oder sein Wohlergehen zu schädigen. Wenn er sich z. B. in der Gewalt eines anderen befindet oder seine Existenz wirtschaftlich von anderen abhängt, wird er diese Möglichkeit nicht haben. Aber selbst in den Fällen, in denen er sich gegen die Beeinträchtigung durch andere wehren kann, muss er nicht in der Lage sein, diese vollständig abzuwenden. Halten wir folgendes Zwischenergebnis fest. Es ist grundsätzlich möglich, aus den evaluativen Aussagen (i) bis (iii) ein präskriptives Urteil abzuleiten. Dieses richtet sich an den Akteur selbst und besagt, dass er alles ihm Mögliche tun sollte, um eine Beeinträchtigung seiner Freiheit und seines Wohlergehens durch andere zu verhindern oder so weit wie möglich zu begrenzen. Dieses Urteil bringt eine Norm der prudentiellen Rationalität zum Ausdruck, der auch alle anderen zustimmen müssen, wenn sie akzeptiert haben, dass Freiheit und Wohlergehen für den Akteur notwendige Güter sind. Unter dieser Voraussetzung trifft daher auch die folgende Aussage zu, die aus der Perspektive der anderen Personen an den Akteur gerichtet wird: (v) Du solltest vernünftigerweise alles dir Mögliche tun, um zu verhindern, dass wir deine Freiheit und dein Wohlergehen beeinträchtigen. Die rationale Akzeptierbarkeit einer Norm der prudentiellen Norm ist also nicht auf die Perspektive der von ihr betroffenen Personen beschränkt. Alle anderen müssen ihr aus ihrer Perspektive ebenfalls zustimmen können. 33 Daraus folgt aber nicht, dass die Norm auch für sie gilt. Die Menge der Normsubjekte fällt nicht notwendigerweise mit der Menge derjenigen zusammen, die ihr vernünftigerweise zustimmen müssen. Deshalb lässt
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sich, wie es scheint, aus (ii) und (iii) keine prudentielle Norm ableiten, die für die anderen Personen gilt. Der Schluss auf die folgende Aussage ist zumindest auf den ersten Blick ungültig: (vi) Ihr solltet vernünftigerweise davon absehen, meine Freiheit und mein Wohlergehen zu schmälern, weil diese für mich gut sind. Freilich kann der Akteur die entsprechende Forderung an die anderen stellen. Diese Forderung gibt ihnen aber nicht ohne weiteres einen guten Grund, ihr auch nachzukommen.34 Sie können sie zurückweisen, indem sie darauf verweisen, dass eine bloße Forderung weder einen Rechtsanspruch noch eine diesem entsprechende Verpflichtung begründet. 8. Gewirth gesteht zu, dass eine Forderung als solche noch kein Recht und daher auch keine Verpflichtungen generiert. Dass eine Person (P) etwas (X) für gut hält, sei zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür, dass P den Rechtsanspruch auf X erheben könne (76): But even if it is a necessary condition of someone’s claiming a right to X that X seem to him to be good, it is hardly a sufficient condition. There would be a tremendous proliferation of right-claims if each person were to claim a right to the myriad objects he considered good, or even to all those that constituted purposes of his particular actions. There are cases, moreover, where an agent performs actions he admits he has no right to perform. The purpose of his action seems to him to be good on one criterion, such as a prudential one, but he does not think that this goodness gives him a right to perform the action because he acknowledges that this criterion is outweighed in importance by other, opposed criteria. (RM, S. 77)
Damit der Rechtsanspruch auf X begründet sei, müsse zu der Tatsache, dass P X für gut hält, also noch eine weitere Bedingung hinzukommen. Der von P erhobene Anspruch auf X dürfe nicht willkürlich sein. Diese Bedingung sei nun dann erfüllt, wenn X von P für ein notwendiges Gut gehalten werden muss:
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Kapitel 7 The final ground for maintaining that the agent must hold that he has rights to the generic goods of freedom and well-being is that, unlike the particular goods or purposes for which he may act, the generic goods are the necessary conditions not merely of one particular action as against another but of all successful action in general. (RM, S. 77)
Zusammenfassend lässt sich dieser Schluss so darstellen: (P 1) Der von P erhobene Rechtsanspruch auf X ist dann berechtigt, wenn (a) P das X für gut hält und wenn (b) er X nicht nur für ein nicht-notwendiges, sondern für ein notwendiges Gut hält. (P 2) Jeder rationale Akteur muss seine Freiheit und sein Wohlergehen für notwendige Güter halten. (K 1) Also hat jeder rationale Akteur allen anderen Handelnden gegenüber den begründeten Rechtsanspruch auf seine Freiheit und sein Wohlergehen. Aus der zugestandenen Korrelativität zwischen Rechten und Pflichten folgt: (K 2) Alle Personen haben gegenüber dem Akteur, der den Rechtsanspruch auf seine Freiheit und sein Wohlergehen erhebt, die Pflicht, dessen Freiheit und Wohlergehen nicht zu beeinträchtigen. Dieser Schluss stellt meiner Meinung nach Gewirths entscheidendes Argument für die Begründung des Rechts auf Freiheit und Wohlergehen dar. Alle anderen Argumente sind in irgendeiner Hinsicht von ihm abhängig. Daher können sie zwar zur Erläuterung, nicht aber zur Begründung des Prinzips der konstitutiven Konsistenz beitragen. Dies gilt etwa für die folgende Variante (80f.), in welcher der Grundsatz der Konsistenz im Mittelpunkt steht. Gewirth zieht hier probehalber die Möglichkeit in Erwägung, dass ein Akteur bestreitet, dass er das Recht auf Freiheit und Wohlergehen hat. In diesem Fall müsste er aufgrund des Implikationsverhält-
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nisses zwischen Rechten und Pflichten auch dem Urteil zustimmen: ‚Alle anderen Personen sind nicht dazu verpflichtet, meine Freiheit und mein Wohlergehen zumindest nicht zu beeinträchtigen‘. Diese Überzeugung ist aber Gewirth zufolge nicht widerspruchsfrei mit der notwendigen Überzeugung vereinbar, dass jeder Handelnde seine Freiheit und sein Wohlergehen für notwendige Güter halten muss, denn: If the agent were to deny that he has rights to freedom and wellbeing, he would [...] be caught in a contradiction: he would be in the position of both affirming and denying that his freedom and well-being are necessary goods, that is goods that he values as the necessary conditions of all his actions and that must hence not be interfered with or removed from him by other persons. (RM, S. 80f.)
Wer leugnet, dass er ein Recht auf Freiheit und Wohlergehen hat, d. h. dass alle anderen ihm gegenüber verpflichtet sind, seine Freiheit und sein Wohlergehen nicht zu schädigen, der verstrickt sich nach Gewirth in einen Selbstwiderspruch, weil er zugleich als rationaler Akteur davon überzeugt sein muss, dass seine Freiheit und sein Wohlergehen für ihn notwendige Güter sind. Damit ist die Frage beantwortet, worin der Rechtsgrund dieses Anspruchs besteht: Dieser wird dadurch gerechtfertigt, dass der Akteur ohne sein Freiheit oder ohne das Mindestmaß an Wohlergehen nicht handeln könnte. Da der Anspruch auf Freiheit und Wohlergehen durch die notwendigen Interessen des Akteurs gerechtfertigt wird (oder das, was er dafür halten muss), handelt es sich bei dem fraglichen Recht Gewirth zufolge um ein prudentielles Recht: The criteria on which he grounds these ‚rights‘ and ‚oughts‘ are not moral but rather prudential: they refer to the agent’s own freedom and well-being as required for his pursuit of his own purposes, whatever they may be. [...] On this ground he sets forth a requirement for the conduct of other persons, that they at least not interfere with his having freedom and well-being. He thus claims freedom and wellbeing as his prudential due, in that, from within his own prudential standpoint as a prospective purposive agent, other persons owe him at least noninterference with his having the necessary goods of action.
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Kapitel 7 It is his own necessary prudential needs of agency that he bases his claim, directed though it is to other persons. (RM, S. 71)
Vor der Verallgemeinerung, die zum Prinzip der konstitutiven Konsistenz führt, haben wir es also noch nicht mit moralisch begründeten Ansprüchen und Verpflichtungen zu tun, weil sich der Rechtsanspruch des Akteurs nur auf seine eigenen Interessen, nicht aber auf die Interessen anderer bezieht. Wie oben dargestellt, ist aber die positive Berücksichtigung der Interessen anderer ein wesentliches Merkmale moralischer Urteile. Würde es sich bei dem Rechtsanspruch auf Freiheit und Wohlergehen bereits um eine moralische Forderung handeln, dann läge im Übrigen keine Ableitung moralischer Normen aus moralisch neutralen Annahmen vor. An dieser Stelle der Argumentation werden die Forderungen, die der Akteur an andere stellt, allein durch seine Bedürfnisse begründet. Da nun nach Gewirth ein Recht und die ihm entsprechende Verpflichtung jeweils durch dasselbe Kriterium gerechtfertigt werden müssen, beruht nicht nur das Recht des Handelnden auf Freiheit und Wohlergehen, sondern auch die korrespondierende Verpflichtung der anderen, diese nicht zu schädigen, auf den Bedürfnissen des Akteurs.35 Warum sollten aber die anderen ihr Verhalten dem Akteur gegenüber bestimmten Beschränkungen unterwerfen, nur weil dies für ihn gut wäre? – Gewirth zufolge sollen sie dies aus demselben Grund tun, aus dem der Handelnde seinen Anspruch stellt. Dabei ist es irrelevant, ob sie diesen Anspruch als einen berechtigten akzeptieren: „The addressees have a reason because the addressor has given them one. As we have seen, whether they accept the reason is irrelevant to whether they have it.“36 Diese und ähnliche Aussagen Gewirths kann man wohl nur so verstehen, dass er die sogenannte externalistische Auffassung über Handlungsgründe vertritt. Aufgrund des vom Akteur erhobenen Rechtsanspruchs haben die Adressaten einen normativen Grund dafür, seine Freiheit und sein Wohlergehen nicht zu beeinträchtigen, und zwar unabhängig davon, ob sie auch einen entsprechenden Handlungsgrund, d. h. ein Motiv haben.
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Die Darstellung der Begründung der ersten These kann nun abgeschlossen werden. Zwei wichtige Aspekte des Gewirth’schen Gedankengangs sollen noch einmal hervorgehoben werden. Erstens komme der begründete Rechtsanspruch auf etwas nur dann zustande, wenn er sich nicht auf überflüssige oder kontingente, sondern auf notwendige Güter beziehe. Zweitens handle es sich bei dem Recht auf Freiheit und Wohlergehen um ein prudentielles Recht, das durch die Grundbedürfnisse des Akteurs gerechtfertigt sei. Die entsprechenden Verpflichtungen der anderen beruhten ebenso auf den Bedürfnissen des Handelnden. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Herleitung der zweiten These, also des Prinzips der konstitutiven Konsistenz, dann überzeugend ist, wenn man die erste These akzeptiert hat. Auch ein Amoralist müsste, sobald er für sich selbst bestimmte Rechte in Anspruch nimmt, weil er ein Handelnder ist, allen anderen Handelnden dieselben Rechte zusprechen. Diese Schlussfolgerung ist unvermeidlich, wenn man das Rationalitätskriterium der Konsistenz akzeptiert hat. Deshalb ist es nicht nötig, hier auf die möglichen Einwände gegen die Verallgemeinerung des Rechtsanspruchs und auf Gewirths Antworten auf sie einzugehen (vgl. 104–128).37 Gewirths These, dass sich derjenige, der die Forderung nach der Verallgemeinerung seines eigenen Rechtsanspruchs verweigert, notwendigerweise in einen Widerspruch verwickelt, soll hier als richtig vorausgesetzt werden. Zu prüfen ist aber, ob ein Akteur vernünftigerweise dieses Recht einfordern muss und ob, wenn dies der Fall sein sollte, daraus eine entsprechende Verpflichtung für andere folgt. Damit wende ich mich den Einwänden gegen Gewirths Theorie zu. 9. Als Ausgangspunkt der kritischen Analyse soll ein evaluatives Urteil dienen, das uns bereits in der Sequenz der dialektischen Aussagen begegnet ist: ‚Es ist für mich ein notwendiges Gut, dass andere meine Freiheit und mein Wohlergehen nicht beeinträchtigen‘ (E 1). Wie bereits dargestellt, impliziert dieses evaluative Urteil das auf den Akteur bezogene präskriptive Urteil (P 1): ‚Ich sollte alles mir Mögliche tun, um zu verhindern, dass andere
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meine Freiheit und mein Wohlergehen beeinträchtigen‘. Je nachdem, ob man von (E 1) oder von (P 1) ausgeht, lassen sich nun verschiedene weitere Implikationen erörtern. Ich werde zunächst das präskriptive Urteil zugrunde legen und auf die möglichen Ableitungen aus der evaluativen Aussage später eingehen. Nehmen wir an, dass es dem Handelnden rational geboten ist, alles ihm Mögliche zu tun, um zu verhindern, dass andere seine Freiheit und sein Wohlergehen mindern. Mehrere Kritiker haben darauf hingewiesen, dass der Akteur dieses Ziel offensichtlich auf verschiedene Weise erreichen kann, nicht nur, indem er Rechte für sich beansprucht.38 Welches Mittel dazu geeignet ist, Übergriffe anderer zu verhindern, hängt u. a. davon ab, wie das Verhältnis des Akteurs zu anderen Personen beschaffen ist. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Aspekte von Bedeutung. Erstens hängt die Wahl der geeigneten Mittel davon ab, ob andere Personen überhaupt imstande sind, den Akteur zu schädigen.39 Unter bestimmten Bedingungen wird dies nicht der Fall sein, z. B. dann, wenn sie zu schwach oder hilflos sind oder wenn ihnen keine Mittel zu Gebote stehen, um trotz einer großen räumlichen Distanz auf den Handelnden einzuwirken. In anderen Fällen wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Versuch unternehmen könnten, die Freiheit oder das Wohlergehen des Akteurs zu beeinträchtigen, gering sein, weil zwischen ihnen ein Verhältnis der Abhängigkeit oder des Machtungleichgewichts besteht.40 Zweitens ist es für den Akteur nur dann sinnvoll, Rechte gegenüber anderen zu beanspruchen, wenn er davon ausgehen kann, dass sie überhaupt daran interessiert sein könnten, seine Freiheit und sein Wohlergehen zu schädigen. Schließlich muss sich der Handelnde fragen, ob es sich für ihn lohnt, sein eigenes Handeln bestimmten Beschränkungen zu unterwerfen, damit andere seine Freiheit und sein Wohlergehen respektieren. Dieser Gedanke verdient es, näher ausgeführt zu werden. Wenn man mit Gewirth davon ausgeht, dass die Akteure, um deren Rechte und Pflichten es geht, rational sind, dann kann man unterstellen, dass der Handelnde, der sich fragt, ob er für sich Rechte beanspruchen soll, weiß, dass er sie aufgrund des
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Universalisierungsgrundsatzes auch allen anderen Handelnden zuschreiben müsste. Er müsste also für die Sicherung seiner Handlungsfähigkeit den Preis zahlen, dass er die Handlungsfähigkeit der anderen nicht beeinträchtigen darf. Dies läuft auf eine Kosten-Nutzen-Kalkulation hinaus: „The agent’s practical question, then, is when is it worthwile for him to undertake a general commitment to all others to allow them to do certain things, provided they likewise allow him to do them?“41 Man kann nicht ausschließen, dass der Akteur nach dieser Abwägung aufgrund seiner physischen, psychischen, sozialen oder wirtschaftlichen Überlegenheit zu dem Ergebnis gelangt, dass er zumindest einigen Personen, die er auch aufgrund seiner Macht oder durch Drohungen, Gewalt oder Erpressung in Schach halten kann, nicht das Recht auf Freiheit und Wohlergehen einräumen sollte. Diesen Personen gegenüber brauchte er das entsprechende Recht also auch nicht einzufordern. Die Kosten-Nutzen-Kalkulation würde daher zu einem Resultat führen, das uns bereits aus dem ethischen Kontraktualismus bekannt ist: Der Akteur sollte nur denjenigen Personen gegenüber das Recht auf Freiheit und Wohlergehen beanspruchen, die in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht annähernd so stark wie er sind.42 Eine solche Ethik für annähernd gleich Starke, wie sie von Peter Stemmer vertreten wird,43 entspricht jedoch nicht dem Ziel, das Gewirth verfolgt. Deshalb soll der Weg einer vertragstheoretischen Begründung des Rechts auf Freiheit und Wohlergehen hier nicht weiter verfolgt werden. – Festzuhalten ist, (i) dass es nicht in allen Fällen notwendig ist, sich und anderen das Recht auf Freiheit und Wohlergehen zuzuschreiben. Daher ist es auch nicht in allen Fällen rational geboten. (ii) Darüber hinaus ist auch nicht unter allen Umständen klug, für das eigene Recht den vergleichsweise hohen Preis zu zahlen, der darin besteht, anderen das fragliche Recht auf Freiheit und Wohlergehen zuzugestehen. Wenn die Wahrscheinlichkeit, dass praktische Konflikte auch auf anderem Wege zugunsten des Akteurs gelöst werden können, hinreichend groß ist, dann sollte man darauf verzichten. Aus diesen Einwänden
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folgt, dass sich aus (P 1) nur das folgende präskriptive Urteil ableiten lässt: (P 2) Ich sollte mir und anderen nur dann das Recht auf Freiheit und Wohlergehen zuschreiben, wenn es nicht möglich ist, meine Freiheit und mein Wohlergehen auf andere Weise bzw. auf kostengünstigere Weise gegen die Übergriffe anderer zu sichern. Der hier vertretenen Auffassung, dass sich aus der Annahme notwendiger Güter nur auf Normen der instrumentellen Rationalität schließen lässt, hat Klaus Steigleder in der Absicht, Gewirths Ethik gegen Einwände zu verteidigen, widersprochen. Er räumt ein, dass es für den Akteur nicht notwendig wäre, in Bezug auf alle anderen das Recht auf Freiheit und Wohlergehen zu beanspruchen, wenn es nur darum ginge, die geeigneten Mittel für die Sicherung der eigenen Freiheit und des eigenen Wohlergehens zu wählen: Wenn die ‚prudential rights‘ als Mittel zur effektiven Sicherung von Freiheit und ‚Wohlergehen‘ des Handelnden gegenüber möglichen Eingriffen anderer fungieren sollen und die Rechtsansprüche so zu verstehen sind, dann wird es natürlich problematisch, sie als notwendige Mittel zu verstehen. Einzelne werden überhaupt nicht in der Lage sein oder gar kein Interesse daran haben, in die Freiheit oder das ‚Wohlergehen‘ eines Handelnden einzugreifen, weshalb er in diesem Fall die ‚Mittel‘ auch nicht einzusetzen bräuchte. (Grundlegung der normativen Ethik, S. 80f.)
Steigleder bestreitet jedoch, dass die dem Einwand zugrunde liegende Auffassung Gewirths Intentionen gerecht wird: Es bedarf aber kaum einer Erwähnung, daß dies nicht das Verständnis von Gewirth ist und die Art der Rechtsansprüche verfehlt, zu denen der Handelnde genötigt ist. Es handelt sich dabei vielmehr um Rechte, die der Handelnde als etwas ihm Zukommendes beanspruchen muß. Gewirth nennt sie deshalb ‚prudential‘, weil sie für den Handelnden als etwas ihm Zukommendes begründet sind, ohne daß der Handelnde die Frage, was anderen zukommt, in Erwägung ziehen müßte, weshalb die Begründung ganz in der Binnenperspektive
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des Handelnden verbleibt bzw. diese Perspektive nicht ‚entgrenzt‘. (Ebd., S. 81f.)
Man wird Steigleder darin zustimmen müssen, dass der Einwand dann verfehlt wäre, wenn der Handelnde den Rechtsanspruch nicht aufgrund instrumenteller Erwägungen erheben sollte, sondern weil ihm Freiheit und Wohlergehen „zukommen“. Ob sich der entsprechende begründete Anspruch im Rahmen der Gewirth’schen Theorie tatsächlich rechtfertigen lässt, wird noch zu klären sein. Unabhängig davon, ob es Gewirth und seinen Anhängern gelungen sein sollte, den Einwand des instrumentellen Charakters des Rechtsanspruchs auf Freiheit und Wohlergehen zu parieren, lässt sich ein weiterer Einwand gegen Gewirths Argumentation vorbringen. Er beruht auf der früher bereits erläuterten Unterscheidung zwischen den Gründen für die Akzeptanz einer Norm und den Gründen für ihre Befolgung.44 Es sei mit Gewirth unterstellt, dass ein rationaler Akteur, wenn er einen Selbstwiderspruch vermeiden will, allen anderen Handelnden gegenüber das Recht auf Freiheit und Wohlergehen beanspruchen sollte. In diesem Fall müsste er ihnen das gleiche Recht einräumen und wäre deshalb der korrespondierenden Verpflichtung unterworfen, ihre Freiheit und ihr Wohlergehen nicht zu beeinträchtigen. Bei dieser Verpflichtung würde es sich um eine moralische handeln, weil in ihr die Interessen der anderen auf positive Weise berücksichtigt wären. Nehmen wir also an, dass der Akteur das Prinzip der konstitutiven Konsistenz akzeptieren müsste. In diesem Fall wäre zunächst nur nachgewiesen worden, dass der Handelnde einem bestimmten Urteil zustimmen müsste. Doch warum sollte er nicht gute Gründe dafür haben können, trotz dieses Urteils gegen das PGC verstoßen zu können? Warum sollte nicht nur die Bestreitung dieses Prinzips, sondern auch jeglicher Verstoß gegen es inkonsistent sein? Muss nicht zwischen dem Aufweis der Inkonsistenz von Urteilen und derjenigen von Handlungen unterschieden werden?45 Gewirths Antwort auf diesen Einwand ist schon erwähnt worden. Seiner Meinung nach kommt die Verletzung eines
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Rechts, also eine Handlung, dem Bestreiten dieses Rechts, also einem Urteil, gleich. Deshalb sei nicht nur das Urteil, dass das PGC nicht gilt, inkonsistent, sondern auch jeglicher Verstoß gegen es: When an agent violates the PGC by intentionally infringing a generic right of his recipients, he in effect denies that they have this right and hereby ceases so far forth to be rational. By ,in effect denies‘ I mean that even if the agent does not say anything, he shows by his action that he thinks or judges that his recipients do not have this right. (RM, S. 139)
Folgt man Gewirths Argumentation, dann bestreitet derjenige, der die konstitutiven Rechte eines anderen verletzt, übrigens implizit auch, dass er selbst diese Rechte hat, denn er gibt ja Gewirth zufolge durch seine Tat zu verstehen, dass seiner Meinung nach Handlungsfähigkeit keine hinreichende Bedingung für dieses Recht ist. Somit behauptet der Akteur, der die Rechte anderer verletzt, implizit, dass weder ihm noch den anderen das Recht auf Freiheit und Wohlergehen zukommt. Akzeptiert man den Grundsatz der Verallgemeinerung, dann kann man widerspruchsfrei überhaupt nur entweder allen Akteuren oder keinem Akteur die konstitutiven Rechte zuschreiben – je nachdem, ob man die Handlungsfähigkeit als hinreichende Bedingung für diese Rechte ansieht oder nicht. Wie bereits in Kapitel 1 dargelegt wurde, ist jedoch Gewirths These, dass jede Normverletzung einer Bestreitung der Gültigkeit der Norm gleichkommt, falsch, weil die Gründe für die Akzeptanz einer Norm nicht mit denen für ihre Befolgung übereinstimmen müssen. Es kann gute Gründe dafür geben, eine praktische Norm einzuhalten, obwohl man sie nicht akzeptiert, und ebenso dafür, eine Norm nicht zu befolgen, obwohl man sie akzeptiert. Gewirth hat selbst eingeräumt, dass es unter bestimmten Umständen für den Akteur vorteilhaft sein kann, die Rechte anderer zu verletzen,46 und dass den Rechten, die der Handelnde den anderen zuschreiben muss, nicht notwendigerweise der Vorrang vor allen anderen Gründen zukommt:
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[…] attributions of rights, like statements of obligation and justification in general, are initially only prima facie, not absolute or conclusive: they may be overridden by other considerations based on the same criteria as are the attributions themselves or on different criteria. („The Normative Structure of Action“, S. 253)
Das Kriterium für die Zuschreibung des Rechts auf Freiheit und Wohlergehen ist die Handlungsfähigkeit des Akteurs. Wenn nun die Verletzung des Rechts anderer durch „dasselbe Kriterium“ gerechtfertigt werden kann, dann folgt daraus, dass es grundsätzlich möglich ist, dass der Akteur die konstitutiven Rechte anderer verletzen darf, weil dies für die Sicherung oder Beförderung seiner Freiheit und seines Wohlergehens nötig ist. Wenn Rechtsansprüche, wie Gewirth hier betont, nur prima facie gelten, dann impliziert die Verletzung der entsprechenden Rechte nicht notwendigerweise, dass der Handelnde diese Rechte bestreitet. Vielmehr kann er der Meinung sein, dass anderen diese Rechte zwar zukommen, dass es jedoch aus bestimmten Gründen im einzelnen Fall gerechtfertigt ist, sie zu verletzen. Dies lässt sich durch einen Blick auf den Bereich des positiven Rechts verdeutlichen. Straftäter stellen in der Regel nicht in Abrede, dass sie und andere bestimmte Rechte haben; vielmehr wollen sie von der allgemeinen Akzeptanz dieser Rechte profitieren. So will beispielsweise ein gewöhnlicher Dieb – im Unterschied zu einem Anarchisten Proudhon’scher Prägung – nicht das Recht auf Eigentum abschaffen. Im Gegenteil: Er wird von seinem Diebesgut nur dann ungestört profitieren können, wenn dieses Recht im Großen und Ganzen respektiert wird. Das Gleiche gilt für Betrüger und andere Straftäter. Es kann demnach keine Rede davon sein, dass derjenige, der die konstitutiven Rechte anderer absichtlich verletzt, damit notwendigerweise zu verstehen gibt, dass er ihnen und sich diese Rechte abspricht. In Bezug auf die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, ergibt sich aus diesen kritischen Überlegungen eine ausgesprochen wichtige Schlussfolgerung. Selbst wenn Gewirth nachgewiesen hätte, dass es selbstwidersprüchlich ist, anderen und sich selbst das Recht auf Freiheit und Wohlergehen abzusprechen, würde
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daraus nicht folgen, dass alle Verletzungen dieses Rechts inkonsistent sind. Gewirth hat also bestenfalls gezeigt, dass bestimmte Urteile irrational sind, nicht aber bestimmte Handlungen. 10. Bisher bin ich in meiner Analyse von dem präskriptiven Urteil (P 1) ausgegangen: ‚Ich sollte alles mir Mögliche tun, um zu verhindern, dass andere meine Freiheit und mein Wohlergehen beeinträchtigen‘. Wenn man (P 1) zugrunde legt, lässt sich – wie eben gezeigt – der Nachweis der prinzipiellen Irrationalität unmoralischer Handlungen nicht führen. Wie ist es aber um das evaluative Urteil (E 1) bestellt? Es lautet: ‚Es ist für mich ein notwendiges Gut, dass andere meine Freiheit und mein Wohlergehen nicht beeinträchtigen‘. Die entscheidende Schwierigkeit besteht in diesem Fall in dem Übergang von einem evaluativen Urteil, dass etwas für den Akteur gut ist, zu dem präskriptiven Urteil, dass andere ihn nicht schädigen sollten. 47 Wie könnte die Tatsache, dass der Handelnde seine Freiheit und sein Wohlergehen für notwendige Güter halten muss, ein prudentielles Recht und somit die entsprechenden Verpflichtungen der anderen begründen? Die Kritiker halten eine solche Herleitung moralischer Verpflichtungen aus prudentiellen Ansprüchen für unmöglich und den Begriff eines prudentiellen Rechts für sinnlos.48 Bei Gewirth finden sich m. E. vier miteinander zusammenhängende Gründe für die Möglichkeit der Herleitung subjektiver Rechte aus Urteilen über notwendige Güter: (i)
Es spreche grundsätzlich nichts dagegen, dass es neben moralischen und positiven Rechten auch andere Arten von Rechten gebe. (ii) Der Rechtsanspruch des Akteurs sei gerechtfertigt. (iii) Der Handelnde habe deshalb ein Recht auf Freiheit und Wohlergehen, weil er diese als notwendige Güter betrachten müsse. (iv) Die Wahrheit der mittels der dialektisch notwendigen Methode abgeleiteten Aussagen sei akteurrelativ.
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Ich werde diese vier Gründe zuerst erläutern und sie dann kritisch prüfen. (i) Mit Verweis auf bestimmte Aussagen, in denen der Begriff des Rechts vorkommt, hat Gewirth behauptet, dass die Zuschreibung von Rechten nicht nur in den Bereichen der Moral und des Rechts erfolgen kann (69f.). Deshalb spreche grundsätzlich nichts gegen die Annahme prudentieller Rechte, sofern gezeigt werden kann, dass sie auf einem eigenständigen Kriterium beruhen. Diese Bedingung sei in Bezug auf die konstitutiven Rechte erfüllt, denn „the criteria or grounds to which the agent appeals to justify his having the generic rights are, so far, not moral ones: they do not refer to the most important interests of at least some persons other than the agent“ (69). Die Behauptung, dass die Rede von prudentiellen Rechten sinnvoll ist, lässt sich allerdings nicht unabhängig von dem entsprechenden Kriterium beurteilen. Es bleibt somit abzuwarten, ob und ggf. wie die Interessen des Akteurs Rechte konstituieren können. Dies wäre dann der Fall, wenn sie auch für die anderen, die den Verpflichtungen unterworfen werden sollen, akzeptable Gründe liefern könnten. (ii) Der Rechtsanspruch des Handelnden auf Freiheit und Wohlergehen sei nicht unbegründet, sondern durch seine grundlegenden Bedürfnisse gerechtfertigt: „To justify something is to show or establish that it is right or correct according to some relevant criterion, and the criterion here is prudential, consisting in the agent’s need for the necessary conditions of action.“49 Wie bereits früher dargestellt, ist aber Gewirth zufolge eine auf einem Bedürfnis beruhende Forderung nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für einen berechtigten Anspruch an andere. Darüber hinaus muss es sich bei dem Anspruch um einen notwendigen handeln. Dies gelte für diejenigen Forderungen, die der Akteur mit Bezug auf die für ihn notwendigen Güter stelle. (iii) Gewirth hält es offenbar für evident, dass der Akteur auf das, was er für notwendige Güter hält, einen berechtigten Anspruch hat, und zwar deshalb, weil es um notwendige, nicht um
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überflüssige Güter geht. Zumindest suggeriert er dies mit den folgenden rhetorischen Fragen: If a rational agent is to claim any rights at all, could anything be a more urgent object of his claim than the necessary conditions of his engaging both in action in general and in successful action? [...] If he regards these conditions as indeed necessary for the very possiblity of his agency and for his chances of succeeding in his actions, then must he not hold that all other persons ought at least to refrain from interfering with the conditions? (RM, S. 63f.)50
Weil Freiheit und Wohlergehen für die Handlungsfähigkeit des Akteurs notwendig seien, seien sie etwas ihm Zukommendes. (iv) Man dürfe nicht vergessen, dass die Urteile über konstitutive Rechte und Pflichten mittels der dialektisch notwendigen Methode hergeleitet worden sind. Deshalb seien sie nicht schlechthin, sondern relational wahr.51 Nur wenn man berücksichtige, dass die Wahrheit oder Richtigkeit des Prinzips der konstitutiven Konsistenz und der mit ihm verbundenen normativen Urteile „cannot be completely separated from what agents must accept“ (158), könne man verstehen, warum die grundlegenden Bedürfnisse Handelnder Rechte konstituierten. Freilich tue der akteurrelative Status der dialektischen Urteile ihrer Wahrheit oder Richtigkeit keinen Abbruch. Überblickt man diese vier Gründe für die These, dass Akteure das konstitutive Recht auf Freiheit und Wohlergehen haben, wird deutlich, dass die Beweislast auf (iii) und (iv) liegt. Aussage (i) besagt nur, dass prudentielle Rechte sich nicht auf andere Arten von Rechten zurückführen lassen, weil sie mit Bezug auf ein eigenständiges Kriterium begründet werden. Durch (ii) wird behauptet, dass die entsprechenden Rechtsansprüche genau dann durch die grundlegenden Bedürfnisse gerechtfertigt wären, wenn der Anspruch auf sie nicht willkürlich, sondern notwendig wäre. Dies soll mit (iii) begründet werden. Mit (iv) soll schließlich dem Einwand begegnet werden, dass andere das Urteil ‚Mir kommen als Handelndem die konstitutiven Rechte zu‘ möglicherweise nicht für wahr halten. Da die Überzeugungskraft der Gewirth’schen Argumentation also von der Plausibilität der
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Annahmen (iii) und (iv) abhängt, sollen diese nun eingehender geprüft werden. Zu (iii): Gewirth unterscheidet zwischen Dingen, die der Akteur für notwendige Güter halten muss, und solchen, die er als nicht-notwendig, d. h. wohl als überflüssig ansehen muss. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um etwas, was der Handelnde als gut für sich ansehen muss. Warum sollte nun der Unterschied zwischen notwendigen und überflüssigen Gütern in Bezug auf die Begründung prudentieller Rechte relevant sein? Klaus Steigleder hat Gewirths Gedanken folgendermaßen erläutert. Der Anspruch des Akteurs auf Freiheit und Wohlergehen sei „begründet“: Dies hängt mit der in Bezug auf die Freiheit und das ‚Wohlergehen‘ des Handelnden gegebenen Verschränkung von (unaufhebbarer) Bedürftigkeit und (unkonditioniertem und ausnahmslosem) Wollen zusammen. Der Handelnde muß nämlich seine Freiheit und sein ‚Wohlergehen‘ in dem Sinne auf sich beziehen und für sich befürworten, daß er sie für sich beanspruchen muß. Denn die Notwendigkeit seiner Freiheit und seines ‚Wohlergehens‘ für jegliches (erfolgreiches) Handeln ist eingebunden in ein nicht bloß hypothetisches oder fallweises, sondern durchgängiges und unkonditioniertes Wollen seiner Freiheit und seines ‚Wohlergehens‘, das keine Ausnahme zulassen kann. Der Handelnde beansprucht deshalb mit seiner Freiheit und seinem ‚Wohlergehen’ etwas, von dem er annehmen muß, daß es ihm zukommt. (Grundlegung der normativen Ethik, S. 73)
Auffällig ist, dass Steigleder hier statt von einem prudentiellen Sollen von einem „unkonditionierten Wollen“ spricht. Dieser Begriff ist in zweierlei Hinsicht irreführend. Erstens wollen nicht alle Akteure jederzeit ihre Freiheit und ihr Wohlergehen sichern. Wenn dies der Fall wäre, dann wäre das „prudentielle“ oder „praktische Sollen“, das Gewirth begründen will, überflüssig.52 Praktische Normen sind nur dann sinnvoll, wenn die von ihnen Betroffenen nicht notwendigerweise das tun, was jene vorschreiben. Zweitens ist das prudentielle Urteil, dass der Akteur alles ihm Mögliche tun sollte, um seine Freiheit und sein Wohlergehen zu sichern, nicht „unkonditioniert“. Vielmehr ist es durch die konstitutiven Merkmale von Handlungen bedingt; es
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ist auf die notwendigen Bedingungen der Erhaltung der Handlungsfähigkeit bezogen. Das Gleiche gilt für den Status der notwendigen Güter: Sie sind nicht schlechthin notwendig (Was sollte das auch bedeuten?), sondern notwendig für die Handlungsfähigkeit des Akteurs. Aus diesen Gründen ist Steigleders Interpretation nicht dazu geeignet, uns zu einem besseren Verständnis des Verhältnisses zwischen notwendigen Gütern und prudentiellen Rechten zu verhelfen. Betrachten wir das Problem aus der Sicht derjenigen, die von den Forderungen des Handelnden betroffen sind. Gewirth zufolge hat jemand dann einen guten Grund, etwas zu tun, wenn er dadurch etwas für sich Gutes bewirken kann. So zumindest argumentiert er mit Bezug auf den Akteur. Daraus folgt zunächst, dass die Tatsache, dass der Handelnde etwas für ein notwendiges Gut hält, für die anderen keinen normativen Handlungsgrund darstellt – zumindest nicht auf den ersten Blick. Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob es um notwendige oder überflüssige Güter geht. Entscheidend ist stattdessen, dass es sich jeweils um Güter für den Akteur, nicht für die Anderen handelt. Gewirth verweist darauf, dass die anderen die Forderung des Handelnden verstehen können, weil sie ebenfalls Handelnde sind. Deshalb hätten sie einen guten Grund, die Forderungen des Akteurs zu erfüllen: As even minimally rational persons, they understand that the combination of freedom and well-being is vital to the addressor’s agency just as it is to their own agency.This does not mean that they empathize with the addressor or are even minimally inclined to heed his ,ought‘ judgment. But they know „where he is coming from“: they can understand his reason for addressing his ,ought‘ judgment to them. Both on this ground and because the addressor has given them his reason, they have a reason for compliance. („,Ought‘ and Reasons for Action“, S. 175)53
Diese These vermag jedoch nicht zu überzeugen, denn aus der Tatsache, dass man den Anspruch eines anderen versteht, folgt durchaus nicht zwingend, dass man ihn auch akzeptiert, oder gar, dass man sich ihn zu Eigen macht. Verständlich sind viele
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Ansprüche, akzeptabel und normativ relevant jedoch vergleichsweise wenige. Ein Mieter kann das Bedürfnis seines Vermieters nach Gewinnsteigerung verstehen, dennoch kann er sich mit Rechtsmitteln gegen eine Mieterhöhung zur Wehr setzen. Das Opfer eines Raubüberfalls kann sicherlich auch die Motive der Diebe nachvollziehen, ohne sie jedoch gutzuheißen, etc. Deshalb trägt der Verweis auf die bloße Verständlichkeit der Bedürfnisse des Akteurs nichts zur Begründung prudentieller Rechte bei. Nun könnte man zur Verteidigung Gewirths darauf hinweisen, dass es nicht darum gehe, dass irgendwelche Ansprüche verständlich seien, sondern notwendige Forderungen. Wie bereits dargelegt, ist jedoch die Notwendigkeit der Bedürfnisse des Akteurs für die anderen Personen irrelevant. Die Argumentation führt somit in eine Sackgasse, genauer gesagt in ein Dilemma: Entweder hält man mit Gewirth daran fest, dass das Recht auf Freiheit und Wohlergehen kein moralisches, sondern ein prudentielles ist; oder man geht von vornherein davon aus, dass der Anspruch auf die Sicherung der Handlungsfähigkeit moralisch gerechtfertigt ist. Im ersten Fall wird nicht deutlich, inwiefern die prudentiellen Ansprüche des Akteurs Rechte und Pflichten generieren könnten. Die Rede von prudentiellen Rechten hat sich somit als redundant erwiesen, weil sie der Feststellung, dass der Handelnde die Nichtbeeinträchtigung durch andere fordern sollte, nichts hinzufügt. Im zweiten Fall bestünde zwar die Aussicht, zu einer überzeugenden Begründung der Ethik zu gelangen. Man könnte davon ausgehen, dass Freiheit und Wohlergehen notwendige Güter für alle Handelnden sind und für diese Annahme Evidenz beanspruchen. Dann würde der Begriff des notwendigen Guts aber – mit Gewirth gesprochen – im apodiktischen, nicht im dialektischen Sinn gebraucht. Weil Freiheit und Wohlergehen für alle Handelnden notwendige Güter sind, sollten sie nicht geschädigt werden. Der Begründungsanspruch wäre dann jedoch bescheidener und anders geartet als der Gewirth’sche. Sein Ziel besteht darin, das Prinzip der Moral allein durch Rekurs auf die notwendigen Merkmale rationaler Handlungen, d. h. auf der
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Grundlage moralisch neutraler Voraussetzungen zu begründen. Deshalb entspricht der Rekurs auf eine Lehre von objektivistisch verstandenen Grundgütern nicht seinen theoretischen Absichten. Dieser Weg ist damit von vornherein versperrt. Zu (iv): Möglicherweise gelingt es jedoch mittels der vierten Annahme, dass die dialektischen Urteile nur „relational wahr“ seien,54 dieses Dilemma zu vermeiden. Was bedeutet es aber, dass ein Urteil nur mit den Bezug auf Akteur, der es äußert, wahr ist? – Man könnte zunächst annehmen, dass die Wahrheit des Urteils davon abhängt, wer spricht. Das ist jedoch, wie sich leicht zeigen lässt, nicht der Fall. Bezeichnen wir den Akteur, der für sich das Recht auf Freiheit und Wohlergehen in Anspruch nimmt, als (A). In diesem Fall haben die folgenden drei Urteile, die aus der Perspektive der ersten, der zweiten und der dritten Person geäußert werden, denselben Wahrheitswert: (1) Ich, A, habe das prudentielle Recht auf Freiheit und Wohlergehen. (2) Du, A, hast das prudentielle Recht auf Freiheit und Wohlergehen. (3) Er, A, hat das prudentielle Recht auf Freiheit und Wohlergehen. Wenn man hinreichend kenntlich macht, von wem die Rede ist, dann hängt die Wahrheit des Urteils also nicht davon ab, aus welcher Perspektive man es fällt. Gewirth scheint denn auch noch etwas anderes im Sinn zu haben, wenn er von relationalen Wahrheiten spricht. Dies machen die folgende und ähnliche Stellen deutlich: [...] it must be recalled that what I am claiming to derive from factual premises about X’s wants is not an „ought“-conclusion tout court but rather a conclusion that X must have a certain „ought“-belief, given his wants and certain other beliefs of his. It is one thing to say that he must have this „ought“-belief; it is another thing to say that the „ought“-belief is itself justified, all things considered. For the latter statement to be correct, it would be necessary to consider the nature of X’s wants and their relation to the wants of other persons. This,
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however, is not part of my present concern, nor is it necessary to my present argument. („Must One Play the Moral Language Game?“, S. 85)55
Hier bezieht sich der Ausdruck „relational wahr“ offenbar nicht mehr auf die Wahrheit oder Richtigkeit von Urteilen, sondern auf ihr Für-wahr-gehalten-Werden oder ihr Akzeptiert-Werden. Diese scheinbar geringe Bedeutungsverschiebung ist folgenreich. Zur Debatte steht nun nämlich nicht mehr, ob der Rechtsanspruch des Akteurs berechtigt ist, sondern nur noch, ob er ihn für berechtigt halten muss, und zwar unabhängig davon, ob auch die anderen einen guten Grund dafür haben, ihn zu akzeptieren: In the first instance, the agent is advocating for himself. He is also prescribing to other persons. But there is a difference between prescribing to and prescribing for other persons: the latter, unlike the former, suggests that the other persons recognize or accept the prescription, or rules on which the prescription is based, or at least the authority of the prescriber. [...] But when the agent advocates his having freedom and well-being and hence prescribes to other persons that they at least not interfere with his having these necessary goods, he is not necessarily assuming that the other persons will accept his demand or the normative rules on which it is based, [...]. All the agent can strictly assume is that the other persons also accept the criteria of deductive and inductive reasoning and that, as prospective agents, they have the same general conative motivations as characterize all agents. („Addendum: Replies to Some Criticisms“, S. 71)56
Es ist leicht abzusehen, warum dieses Argument scheitern muss. Der Akteur kann zu Recht oder zu Unrecht der Meinung sein, dass ihm das prudentielle Recht auf Freiheit und Wohlergehen zukommt. Wenn seine Überzeugung falsch ist, dann gibt es für die anderen Personen keinen guten Grund, sich ihm gegenüber Verpflichtungen zu unterwerfen. Ungerechtfertigte Rechtsansprüche können niemanden verpflichten. Wenn seine Überzeugung hingegen richtig wäre, dann wären die anderen nicht deshalb verpflichtet, weil der Akteur die Proposition ‚Ich habe das Recht auf Freiheit und Wohlergehen‘ für wahr hielte, sondern weil sie wahr wäre. Von wenigen Ausnahmen, die hier nicht einschlägig
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sind, abgesehen, kann das Für-wahr-Halten einer Proposition „p“ nicht der Grund für die Wahrheit von „p“ sein. Vielmehr hängt die Wahrheit der Überzeugung davon ab, ob es der Fall ist, dass p, oder nicht. Deshalb könnte die Meinung des Akteurs nur dann für die anderen normativ bindend sein, wenn sie durch andere Gründe als das Für-wahr-Halten des Akteurs gerechtfertigt werden könnte. Dies ist aber, wie bereits gezeigt, nicht der Fall. Nur wenn sich nachweisen ließe, dass der Handelnde das prudentielle Recht auf Freiheit und Wohlergehen zu Recht beansprucht, wären die anderen den entsprechenden Verpflichtungen unterworfen. In diesem Fall wären allerdings nicht mehr die Überzeugungen des Akteurs ausschlaggebend, sondern bestimmte Sachverhalte. Dann läge aber, in Gewirths Terminologie gesprochen, keine dialektische, sondern eine apodiktische Argumentation vor. Man kann daher bezweifeln, ob die sogenannte dialektisch notwendige Methode überhaupt dazu geeignet ist, moralische Prinzipien zu begründen.57 11. Ich fasse die Ergebnisse dieses Kapitels zusammen. Ich bin davon ausgegangen, dass der letzte Schritt in Gewirths Argumentation unstrittig ist. Wenn sich zeigen ließe, dass jeder Handelnde aufgrund seiner Handlungsfähigkeit für sich das prudentielle Recht auf Freiheit und Wohlergehen beanspruchen müsste und dürfte, dann müsste er dieses Recht auch allen anderen Akteuren zuschreiben. Somit wäre das Prinzip der konstitutiven Konsistenz begründet. Es hat sich aber herausgestellt, dass die vorausgehenden Schritte des Gedankengangs schwerwiegende Mängel aufweisen. Aus dem Anspruch des Handelnden auf seine Freiheit und sein Wohlergehen lässt sich kein entsprechendes Recht auf diese ableiten, auch nicht durch den Verweis darauf, dass es sich bei ihnen um notwendige Güter handelt. Darüber hinaus habe ich nachgewiesen, dass, selbst wenn sich das Prinzip der konstitutiven Konsistenz begründen ließe, Verstöße gegen diesen Grundsatz nicht notwendigerweise irrational wären. Schließlich ist deutlich geworden, dass Gewirths Argumentation durch die Wahl der „dialektisch notwen-
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digen Methode“ nicht gestärkt, sondern geschwächt wird, weil das Für-wahr-Halten eines Urteils über konstitutive Rechte nicht auf dessen Wahrheit schließen lässt. Man kann somit resümieren, dass Gewirths ehrgeiziges Projekt gescheitert ist. Auch ihm ist es nicht gelungen, nachzuweisen, dass man nur um den Preis der Inkonsistenz gegen die Forderungen der Moral verstoßen kann. Auch Gewirths Versuch, die zentrale These des starken ethischen Rationalismus zu begründen, vermag nicht zu überzeugen.
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Der Begriff der rational erlaubten Handlung und seine Bedeutung für die Ethik 1. Die Analysen in den Kapiteln 2 bis 7 haben zu dem Ergebnis geführt, dass die These des starken ethischen Rationalismus unhaltbar ist. Es gibt keine überzeugende Begründung dafür, dass es grundsätzlich irrational ist, unmoralisch zu handeln. Dieses Resultat kann leicht missverstanden werden und dann so trivial erscheinen, dass ihm selbst die Verfechter des kontraktualistischen Versöhnungsprojektes zustimmen könnten. Diese Autoren leugnen ja nicht, dass es schwierig oder sogar unmöglich sein dürfte, moralische Pflichten gegenüber Kleinst- und Kleinkindern, Schwachen, Wachkomapatienten und anderen Gruppen benachteiligter oder schwacher Menschen zu begründen. Außerdem können sie zugestehen, dass es möglicherweise für das Problem des Unrechttuns im Verborgenen keine befriedigende Lösung gibt. Folgt man den moderaten Verfechtern des Versöhnungsprojekts, wie etwa Gregory Kavka, dann soll nur gezeigt werden, dass es in der Regel unvernünftig ist, gegen moralische Normen zu verstoßen, jedoch nicht, dass es in allen Fällen irrational ist. Es könnte daher so scheinen, als ob hier mit unverhältnismäßig großem Aufwand eine These vertreten wurde, die ohnehin niemand in Frage stellt. Diese trivialisierende Deutung wird dem Ergebnis der bisher angestellten Analysen jedoch keineswegs gerecht. Gezeigt wurde nicht nur, dass sich Klugheit und Moral nur in wenigen Ausnahmefällen nicht miteinander versöhnen lassen. Vielmehr
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har die Auseinandersetzung mit dem ethischen Kontraktualismus zu dem Ergebnis geführt, dass sich die Kluft zwischen ihnen nur dann schließen lässt, wenn man von idealisierten Bedingungen ausgeht, insbesondere davon, dass die Handelnden in Bezug auf ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten sowie auf ihre soziale Stellung annähernd gleich sind. Diese Voraussetzung ist jedoch nur in seltenen Fällen gegeben. In der Regel sind die Betroffenen in allen drei Hinsichten ungleich. Darüber hinaus wurde nachgewiesen, dass man, wenn man einen egoistisch (Hobbes) oder instrumentalistisch (Gauthier und Stemmer) konzipierten Begriff praktischer Rationalität zugrunde legt, im Hinblick auf manche Fälle zu einem Resultat gelangt, das geradezu im Gegensatz zu dem von den Kontraktualisten angestrebten Beweisziel steht: Vernünftigerweise sollte man unter Umständen gegen die moralischen Regeln verstoßen. Dieses Ergebnis ist erstens nicht trivial, und zweitens können ihm die Verfechter des Versöhnungsprojektes nicht zustimmen, ohne ihre Position aufzugeben. Ähnliches gilt für die Auseinandersetzung mit der von Kant, den Diskursethikern und Gewirth vertretenen These der Selbstwidersprüchlichkeit unmoralischer Handlungen. Auch in diesem Fall wurde nicht die bescheidene These vertreten, dass Verstöße gegen moralische Normen in der Regel selbstwidersprüchlich und nur in Ausnahmefällen nicht selbstwidersprüchlich sind. Im Gegenteil: Wenn die von mir in den Kapiteln 5 bis 7 vorgetragenen Einwände stichhaltig sind, dann verhält es sich umgekehrt. In aller Regel kann man um des eigenen Vorteils willen unmoralisch handeln, ohne dass man sich dabei in einen Selbstwiderspruch verstrickt; nur in Ausnahmefällen, in denen bestimmte Bedingungen vorliegen, lässt sich ein solcher pragmatischer Widerspruch nachweisen, und selbst dann nur unter der Voraussetzung, dass die Handelnde versucht, ihre Maxime zu einem Gesetz zu verallgemeinern. Ich habe dafür argumentiert, dass dazu niemand vernünftigerweise verpflichtet ist. Angenommen, dass die eben in Erinnerung gerufenen Thesen auf überzeugenden Argumentationen beruhen – wie können
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Kapitel 8
die Vertreter des starken ethischen Rationalismus auf diese Diagnose reagieren, wenn sie an der Behauptung festhalten wollen, dass es vernünftigerweise geboten ist, moralkonform zu handeln? Meines Erachtens kommen hier vor allem zwei Strategien in Betracht: Entweder man schränkt die Bedeutung des Begriffs der Moral so ein, dass sich die moralischen Forderungen mit den Geboten der Klugheit decken; oder man erweitert die Bedeutung des Begriffs der Klugheit so, dass dieser zumindest die wichtigsten moralischen Pflichten einschließt. Die erste Strategie soll als die reduktive, die zweite als die expansive bezeichnet werden. Beide Vorgehensweisen sind problematisch. Zur reduktiven Vorgehensweise: Zweifellos ist es legitim, die Bedeutung eines in der Umgangssprache geläufigen Begriffs im Rahmen einer Theorie zu modifizieren. Dies gilt auch für den Begriff der Moral. Es steht jedem Moralphilosophen frei, diesem Begriff eine Bedeutung zu geben, die von der üblichen abweicht. Es ist daher theoretisch statthaft, die Bedeutung des Begriffs „Moral“ so zu beschränken, dass sie nur Pflichten umfasst, denen Personen wechselseitig unterworfen sind, die sowohl in Bezug auf ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten als auch hinsichtlich ihrer sozialen Stellung annähernd gleich sind. Allerdings wirkt sich die Modifikation der Bedeutung auf die Reichweite des Versöhnungsprojektes aus. Ursprünglich sollte gezeigt werden, dass sich die Normen der Moral auf Forderungen der praktischen Rationalität zurückführen lassen und dass daher nur scheinbar ein prinzipieller Konflikt zwischen Moral und Klugheit besteht. Dabei wurde die umgangssprachliche Bedeutung des Begriffs der Moral zugrunde gelegt. Wenn man von dieser Bedeutung ausgeht, dann umfasst die Moral als wesentliche Elemente auch Pflichten gegenüber Menschen, die wesentlich schwächer als man selbst sind. Darüber hinaus hängt die Verbindlichkeit moralischer Normen gemäß dem geläufigen Verständnis weder von der Aussicht auf die Sanktionierung ihrer Nichtbefolgung (so Stemmer) noch von der Aussicht auf Gewinn als Lohn ihrer Einhaltung (so Gauthier) ab. Nennen wir dies den weiten Begriff der Moral.
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Ersetzt man nun diesen weiten Begriff der Moral durch den minimalen Begriff der Moral der Gleichstarken, dann stimmen das Beweisziel des Versöhnungsprojekts und dessen Ergebnis nicht mehr überein: Beweisziel: Die Forderungen der weiten Moral stehen nicht im Gegensatz zu denen der praktischen Rationalität. Ergebnis: Die Forderungen der minimalen Moral lassen sich auf die Normen der praktischen Rationalität zurückführen. Der Wert dieses Ergebnisses soll durchaus nicht in Abrede gestellt werden. Es versteht sich nicht von selbst, dass sich Menschen, die in allen relevanten Hinsichten etwa gleich stark sind, vernünftigerweise moralischen Beschränkungen unterwerfen sollten, damit sie ihre eigenen Ziele erreichen können. Insofern verhilft uns der ethische Kontraktualismus zu einer wichtigen Einsicht. In der Debatte über die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, geht es jedoch um etwas anderes, nämlich darum, ob es rational geboten ist, die Normen der Moral im weiten Sinne zu befolgen. Um zu zeigen, dass sich Vernunft und weite Moral versöhnen lassen, müssten die Vertreter des ethischen Kontraktualismus nicht nur nachweisen, dass sich annähernd gleich Starke wechselseitig Beschränkungen unterwerfen sollten, sondern dass alle moralischen Subjekte alle anderen Menschen – auch wenn diese wesentlich schwächer als sie selbst sind – moralisch behandeln sollten, und zwar unabhängig davon, ob dies einen Gewinn erwarten lässt. Aus den ausführlichen Analysen in Teil I dieser Untersuchung dürfte hervorgegangen sein, dass und warum diese Behauptung falsch ist. Zur expansiven Vorgehensweise: Die expansive Strategie bildet das komplementäre Gegenstück der reduktiven Vorgehensweise. Während man in letzterem Fall die Bedeutung des Begriffs
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„Moral“ beschränkt, erweitert man im ersten Fall entweder die Bedeutung des Begriffs „Klugheit“ so, dass dieser auch Elemente enthält, die man gewöhnlich unter den Begriff der Moral subsumiert,1 oder man gibt dem Begriff „Moral“ eine so weite Bedeutung, dass er auch das umfasst, was man gewöhnlich Klugheit nennt.2 Auch in diesem Fall wird die Spannung zwischen Eigeninteresse und Moral zwar durch eine terminologische Festlegung beseitigt – allerdings nur im Rahmen der Theorie. Man kann zwar mittels einer einführenden Definition festlegen, dass alles, was moralisch geboten ist, zugleich auch klug ist, oder dass die Moral auch alle auf dem Eigeninteresse beruhenden Normen einschließt. Dann kann es per definitionem keinen Konflikt zwischen Moral und Klugheit geben. Das sachliche Problem wird dadurch jedoch nicht gelöst. Wiederum stehen sich nämlich der übliche und ein modifizierter Begriff der Klugheit und der Moral gegenüber. Die Ersetzung der üblichen durch erweiterte Begriffe führt allenfalls zu einer scheinbaren Versöhnung von Eigeninteresse und Moral. Gemäß der definitorischen Festlegung gilt nun: (i) Zwischen Moral im erweiterten Sinne und Klugheit im erweiterten Sinne kann es keine unlösbaren Konflikte geben. Das ändert aber nichts daran, dass das sachliche Problem fortbesteht. Den Anlass der Debatte über die V-Frage bildete nämlich folgende Feststellung, in der von Moral und Klugheit im erweiterten Sinne gar nicht die Rede ist: (ii) Es scheint offensichtlich Konflikte zwischen Moral im üblichen Sinne des Wortes und Klugheit im üblichen Sinne des Wortes geben zu können. Darüber hinaus lässt sich die Spannung zwischen Klugheit und Moral selbst durch die terminologische Expansion nicht gänzlich aus der Theorie verdrängen. Sie kehrt nämlich wieder als
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Spannung zwischen zwei Elementen innerhalb der weiten Begriffe der Klugheit oder der Moral. Alles in allem führt keine der beiden Strategien, mit denen man auf die hier vorgetragene Kritik reagieren könnte, zu einer überzeugenden Antwort auf die V-Frage. 2. Es wäre unbefriedigend, wenn die Untersuchung nicht über die bisher erreichten negativen Resultate hinausginge. Deshalb soll die Frage nach dem Verhältnis zwischen Vernunft und Moral in diesem Kapitel aufs Neue gestellt und beantwortet werden. Dabei werde ich einen Weg einschlagen, der sich von den bisher behandelten Lösungsvorschlägen stark unterscheidet. Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet der Gegensatz zwischen einfachen und komplexen Begriffen praktischer Vernunft, der in den vorangegangenen Analysen deutlich zutage getreten ist. Einfache Rationalitätsdefinitionen besagen im Kern, dass alle normativen Handlungsgründe auf ein einziges Kriterium zurückgeführt werden können. Deshalb sei es ungerechtfertigt, zwischen Arten praktischer Gründe und den ihnen entsprechenden Typen praktischer Rationalität zu unterscheiden. In Teil I sind drei Vertreter dieser Auffassung behandelt worden. Nach Hobbes hat die praktische Vernunft nur die Aufgabe, die notwendigen Mittel für die eigene Selbsterhaltung und für die Sicherung des eigenen Wohls zur Verfügung zu stellen. Gauthier zufolge besteht die Funktion der instrumentalistisch konzipierten Rationalität nur darin, die Erfüllung der wohlüberlegten Präferenzen zu maximieren. Ganz ähnlich bestimmt Stemmer den Begriff der praktischen Vernunft. Sie sei allein dazu da, die Erlangung der gewünschten Dinge zu maximieren. Alle drei Auffassungen implizieren, dass moralische Gründe keine eigenständige Art praktischer Gründe darstellen. Stattdessen geben moralische Normen an, wie die Funktion der praktischen Vernunft unter bestimmten Bedingungen, nämlich im sozialen Handeln, erfüllt werden kann. So sind beispielsweise Hobbes’ natürliche Gesetze zum Großteil Anweisungen dafür, wie das eigene Leben und Wohl unter der Bedingung des unaus-
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weichlichen Zusammenlebens mit anderen Menschen zu sichern ist. Wenn man aber von dem geläufigen Verständnis des Begriffs der Moral ausgeht, dann werden moralische Forderungen durch ein eigenständiges Kriterium gerechtfertigt, das sich nicht auf das eigene Wohl, Präferenzen oder Wünsche reduzieren lässt. Auf diese Auffassung reagieren die Anhänger der einfachen Rationalitätskonzeption mit zwei Thesen. Erstens sei die verbreitete Annahme, dass moralische Normen auf einer Art rationaler Gründe sui generis beruhten, falsch. Zweitens bestehe nur scheinbar ein grundsätzlicher Konflikt zwischen den Normen der praktischen Rationalität und dem, was landläufig als Moral gilt.3 Die kritische Prüfung in Teil I hat jedoch ergeben, dass es den Autoren nicht gelungen ist, die zweite These auf befriedigende Weise zu begründen. Geht man von einem einfachen Verständnis praktischer Vernunft aus, bleibt daher die Kluft zwischen Rationalität und Moral bestehen. Komplexen Rationalitätsbegriffen und -theorien liegt hingegen die Annahme zugrunde, dass es Arten normativer Handlungsgründe und ihnen entsprechende Typen praktischer Rationalität gibt, die nicht aufeinander zurückgeführt werden können.4 Zwischen diesen Arten praktischer Gründe, zu denen die moralischen zählten, könnten Konflikte auftreten. Wenn dies der Fall sei, dann kommt gemäß dem starken ethischen Rationalismus den moralischen Gründen der normative Vorrang zu. Diese Vorrangthese wird auf verschiedene Weise begründet. Eine Argumentation, die in den Kapiteln über Kant, die Diskursethik und Gewirth analysiert wurde, besagt, dass es unmöglich sei, ohne Selbstwiderspruch gegen moralische Normen zu verstoßen. Dabei wird unterstellt, dass Widerspruchsfreiheit ein anerkanntes und grundlegendes Rationalitätskriterium ist. Die kritische Auseinandersetzung mit den drei Varianten dieser Auffassung hat jedoch zu dem Ergebnis geführt, dass sich die prinzipielle Widersprüchlichkeit unmoralischer Handlungen nicht nachweisen lässt. Wenn nun einerseits der Grundgedanke der komplexen Rationalitätstheorie richtig und andererseits die These
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der Inkonsistenz unmoralischer Handlungen falsch sein sollte, dann müsste das Verhältnis zwischen den Typen praktischer Rationalität erneut geprüft werden. Aus diesen Bemerkungen über den Gegensatz zwischen einfachen und komplexen Rationalitätsbegriffen ergibt sich, auf welche Weise die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, beantwortet werden kann. Zuerst ist zu klären, welche der beiden Rationalitätskonzeptionen im Recht ist. Wenn sich dabei herausstellen sollte, dass tatsächlich zwischen Typen praktischer Rationalität unterschieden werden muss, dann müsste die Frage beantwortet werden, ob Konflikte zwischen verschiedenartigen normativen Gründen auf vernünftige Art und Weise gelöst werden können. 3. Um Mehrdeutigkeiten und Missverständnisse in der Debatte über praktische Rationalität zu vermeiden, empfiehlt es sich, im Anschluss an Kurt Baier zwischen verschiedenen Funktionen zu unterscheiden, die Handlungsgründe erfüllen können. Je nach der Rolle, die sie spielen, kann man zwischen Überlegungsgründen, Rechtfertigungsgründen und Erklärungsgründen unterscheiden. 5 Überlegungsgründe sind diejenigen Überzeugungen, Vermutungen und Wünsche, die einen Akteur zur Ausführung einer Handlung bewegen. Diese handlungswirksamen Gründe können auch kurz als Motive bezeichnet werden. Erklärungsgründe sind diejenigen propositionalen Einstellungen, die dem Akteur im Nachhinein – in der Regel von einem anderen – zugeschrieben werden, um zu erklären, warum jener eine bestimmte Handlung vollzog. Rechtfertigungsgründe schließlich können je nach Kontext zwei verschiedene Funktionen erfüllen. Als evaluative Gründe verstanden, können sie die Grundlage für die Beurteilung von Handlungen bilden, z. B. ‚Es war irrational, dieses hohe Risiko einzugehen‘. Fasst man sie hingegen als präskriptive Gründe auf, konstituieren sie Handlungsanweisungen, wie beispielsweise ‚Angesichts des hohen Risikos sollten Sie vernünftigerweise von Ihrem Vorhaben ablassen!‘.
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Es ist zu beachten, dass sich diese Unterscheidung nicht auf den Inhalt von Begründungen oder verschiedene Begründungsinstanzen bezieht, sondern auf die verschiedenen Funktionen, die Gründe übernehmen können. Dies lässt sich durch den Hinweis darauf verdeutlichen, dass ein und dieselbe Überzeugung alle drei Funktionen erfüllen kann, je nachdem von wem sie mit welchem Zweck herangezogen wird. Die Überzeugung ‚Wenn ein Mensch in Lebensgefahr ist und ein anderer ihn retten könnte, sollte dieser Mensch den Rettungsversuch unternehmen‘ kann unter entsprechenden Umständen ein Handlungsgrund sein, d. h. sie kann eine Person zu einer Handlung motivieren. Sie kann ebenso als Erklärungsgrund fungieren, wenn z. B. gefragt wird, warum jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Fluss sprang. Schließlich kann sie diese Handlung auch evaluativ oder präskriptiv rechtfertigen. Die funktionale Unterscheidung dreier Arten von Gründen darf nicht mit der Unterteilung von Gründen nach ihren Inhalten oder Kriterien verwechselt werden, auf die ich später zurückkommen werde. Außerdem ist die funktionale Unterscheidung unabhängig davon, ob es gerechtfertigt ist, verschiedene Arten von Handlungsgründen in Bezug auf ihren Inhalt voneinander abzugrenzen. Es wäre auch dann sinnvoll, Handlungsgründe nach ihren Funktionen zu unterscheiden, wenn die Anhänger der einfachen Rationalitätskonzeption im Recht wären. Im Folgenden werde ich mich auf das Verhältnis zwischen Überlegungs- und Rechtfertigungsgründen konzentrieren; die Erklärungsgründe können hingegen im Rahmen meiner Fragestellung außer Acht gelassen werden. – Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Motiven und Rechtfertigungsgründen besteht darin, dass sie die Differenz zwischen zwei Teildisziplinen der Philosophie konstituiert: der Handlungstheorie einerseits und der Theorie praktischer Rationalität andererseits. Während die Handlungstheorie u. a. untersucht, auf welche Weise propositionale Einstellungen Handlungen herbeiführen können, befasst sich die Rationalitätstheorie u. a. damit, wie Absichten und Handlungen gerechtfertigt werden können. Um
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einem an dieser Stelle nahe liegenden Missverständnis vorzubeugen, soll diese knappe Gegenüberstellung der beiden Disziplinen durch einen semantischen Hinweis erläutert werden. Das Prädikat „rational“ kann, wenn es nicht dazu gebraucht wird, ein Wesen als vernunftbegabtes zu bezeichnen, sondern auf eine bestimmte Eigenschaft von propositionalen Einstellungen oder Handlungen bezogen wird, sowohl deskriptiv als auch normativ gebraucht werden.6 Welche der beiden Verwendungsweisen vorliegt, hängt davon ab, ob der Sprecher die Rationalitätskriterien, die seinem Urteil zugrunde liegen, akzeptiert. Wenn dies nicht der Fall ist, dann bringt das Urteil über die Rationalität einer Handlung zweierlei zum Ausdruck: Erstens genüge sie einem bestimmten Rationalitätskriterium, zweitens werde dieses vom Sprecher nicht akzeptiert, sodass sein Urteil keine Billigung der Tat einschließt. Hat sich ein Sprecher hingegen die Standards der Vernünftigkeit zu Eigen gemacht, auf die er sich in seiner Beurteilung stützt, dann scheint diese prima facie eine rationale Handlungsnorm zu implizieren: Weil die Handlung unter den gegebenen Umständen rational war, sollte sie ausgeführt werden. Umgekehrt scheint das Urteil über die Irrationalität einer Handlung in diesem Fall deren rationales Verbot einzuschließen.7 Wie diese beiden Implikationsverhältnisse genauer charakterisiert werden können, wird später zu erörtern sein. An dieser Stelle ist Folgendes festzuhalten: Unabhängig davon, ob das Prädikat „rational“ nur deskriptiv oder auch präskriptiv verwendet wird, geht seine Verwendung über die Angabe von Handlungsgründen hinaus, weil in beiden Fällen die Motive des Handelnden nicht nur genannt, sondern im Hinblick auf Rationalitätskriterien beurteilt werden. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass es der Theorie praktischer Rationalität im Unterschied zur Handlungstheorie immer darum geht, wie sich Handlungen rechtfertigen lassen, und zwar in Bezug auf Standards der Vernünftigkeit, die der Sprecher akzeptiert oder ablehnt. Freilich darf ein wichtiger Zusammenhang zwischen Handlungs- und Rechtfertigungsgründen bzw. zwischen Handlungs-
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und Rationalitätstheorie nicht übersehen werden. Der Bereich der Gründe, die Handlungen evaluativ oder präskriptiv rechtfertigen können, wird durch die möglichen Motive begrenzt. Gemäß dem Grundsatz ultra posse nemo obligatur kann nämlich eine Person sinnvollerweise nur dann einer Norm unterworfen werden, wenn sie imstande ist, diese zu befolgen. Die Rationalitätstheorie wäre selbst irrational, wenn sie Forderungen an uns stellte, denen wir nicht nachkommen können. Daraus ergibt sich der methodische Vorrang der Handlungstheorie vor der Rationalitätstheorie. Bevor man fragen kann, welchen Normen wir in unserem Handeln folgen sollten, muss geklärt werden, welche Gründe überhaupt als Motive fungieren können. Die Auffassung, dass es weder Arten von Motiven noch Arten präskriptiver Gründe gibt, soll im Folgenden als Monismus der Gründe bezeichnet werden.8 Je nachdem, ob dieser Monismus als eine Behauptung über Motive oder über Rechtfertigungsgründe verstanden wird, kann er einerseits als psychologische, andererseits als rationalitätstheoretische These auftreten. Dabei kommt gemäß dem methodischen Primat der Handlungstheorie vor der Rationalitätstheorie der Frage nach der möglichen Vielfalt von Motiven der Vorrang vor derjenigen nach der möglichen Pluralität von Rechtfertigungsgründen zu. Sollte es aus psychologischen Gründen ausgeschlossen sein, dass Menschen aus prinzipiell verschiedenartigen Motiven handeln, dann wäre die Lehre von den Typen praktischer Vernunft inadäquat. Anders gesagt: Der psychologische Monismus würde den Monismus der präskriptiven Gründe nach sich ziehen.9 Wenden wir uns also zuerst dem motivationalen Monismus zu. 4. Der aussichtsreichste Kandidat für den einzigen Wert oder Zweck, durch den Menschen zum Handeln motiviert werden können, stellt der je eigene Nutzen dar. Die Auffassung, dass jede Handlung vollzogen wird, um in den Genuss eines Gutes zu kommen, wird als psychologischer Egoismus bezeichnet. Der psychologische Egoismus im engeren Sinne sollte von der trivialen These unterschieden werden, dass ein Mensch mit jeder sei-
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ner Handlungen einen seiner Wünsche erfüllen möchte. Auch diese Auffassung wird gelegentlich als psychologischer Egoismus bezeichnet. 10 Ich werde später auf sie zurückkommen. Zunächst werde ich mich jedoch mit dem psychologischen Egoismus sensu strictu auseinander setzen. Gegen die Annahme, dass ein Mensch nur durch die Aussicht auf etwas für ihn Gutes zum Handeln bewegt werden kann, lassen sich verschiedene Einwände erheben, von denen ich hier drei diskutieren werde. Erstens kann man darauf verweisen, dass Menschen häufig nicht das tun, was nach dem Urteil kompetenter Spezialisten gut für sie wäre, sondern das, was sie irrtümlich für gut halten. Da man sich in Bezug auf das, was für einen selbst nützlich ist, irren kann, und da solche Irrtümer zweifellos vorkommen, ist der psychologische Egoismus falsch. Auf diesen ersten Einwand kann der Vertreter der Theorie antworten, indem er seine These präzisiert: Menschen strebten zwar nicht immer nach dem, was, objektiv gesehen, für sie nützlich ist, wohl aber nach dem, was ihnen nützlich erscheint.11 Doch auch diese reformulierte Behauptung ist unzutreffend, denn offensichtlich kommt es vor, dass jemand die Handlung, von der er annimmt, dass sie seinen Nutzen maximieren würde, und die er möglicherweise sogar auszuführen wünscht, unterlässt, weil ein anderes Motiv die Oberhand gewinnt. Dieses viel diskutierte Problem wird verschieden bezeichnet, etwa als Problem der Willensschwäche oder als Problem des Handelns wider besseres Wissen. Entscheidend ist hier Folgendes: Da Menschen nicht immer das tun, was ihrer eigenen Meinung nach ihren Nutzen maximieren würde, ist der Monismus der Gründe als Motivationstheorie falsch. Der Zweckmonist kann dies akzeptieren und dennoch an seiner Intuition festhalten, wenn er den Monismus als These über Motive aufgibt und als normative These reinterpretiert: Zwar tun Menschen nicht immer das, von dem sie meinen, dass es für sie nützlich wäre, sie sollten es jedoch tun. Damit wird das Problem allerdings von der Ebene der Handlungsgründe auf diejenige der Rechtfertigungsgründe verlagert, so dass der Grundsatz ultra posse nemo obligatur nun
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nicht mehr gegen die Lehre von den Rationalitätstypen ins Feld geführt werden kann. Der zweite Einwand gegen den psychologischen Monismus ist semantischer Art. Er besagt, dass der motivationale Monismus auf einer unangemessenen Interpretation bestimmter sprachlicher Ausdrücke beruht, weil er unzulässigerweise annimmt, dass die Begriffe „Wollen“ und „Vorziehen“ bzw. „Präferieren“ mit dem Begriff des Für-nützlich-Haltens synonym seien. Wenn wir uns an der in der Umgangssprache geläufigen Bedeutung orientieren, dann lassen es die Ausdrücke „wollen“ oder „vorziehen“ jedoch offen, aus welchen Gründen jemand eine praktische Entscheidung getroffen hat. Durch ihren Gebrauch wird nur konstatiert, dass sich jemand für eine Option entschieden hat. Wenn ich z. B. nur erfahre, dass ein Paar geheiratet hat, kann ich ohne weitere Informationen nicht sagen, warum die beiden die Ehe geschlossen haben. Möglicherweise wollten sie in den Genuss steuerlicher Vorteile kommen. Vielleicht haben sie geheiratet, weil die Frau schwanger war, vielleicht auch aus Konformismus gegenüber ihren Mitmenschen, die nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften ablehnend gegenüberstehen. Möglich ist auch, dass sie durch die Heirat ein öffentliches Bekenntnis zu ihrer Liebe abgeben wollten. Der Fehler des psychologischen Monismus besteht nun darin, dass er ohne zureichenden Grund aus der Tatsache, dass jemand etwas wollte, folgert, dass er es deshalb wollte, weil er es für nützlich hielt. Um diesen Einwand abzuwehren, kann sich der Monist nicht auf die Behauptung zurückziehen, dass man nur das wollen könne, was man für nützlich hält, und dass es deshalb sinnvoll sei, die entsprechenden Ausdrücke als Synonyme aufzufassen, denn damit würde er sich wiederum dem bereits erörterten ersten Einwand aussetzen. Man kann diesen semantischen Fehlschluss noch von einer anderen Seite beleuchten. Gewöhnlich unterscheiden wir begrifflich zwischen dem, was für nützlich gehalten wird, und dem Gewollten. Freilich kann beides sachlich übereinstimmen, aber dies ist nicht notwendigerweise der Fall. Auf die
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Möglichkeit des Handelns wider besseres Wissen habe ich bereits hingewiesen. Hinzu kommen mögliche andere sachliche Abweichungen: Man kann auf die Nutzenmaximierung verzichten, weil die entsprechende Handlung unmoralisch wäre, weil sie gegen die Umgangsformen verstieße, weil eine Stimmung die Ausführung der Handlung verhindert etc. Außerdem führt die Gleichsetzung von „Wollen“ mit „Für-nützlich-Halten“ dazu, dass der Begriff des Nutzens seine klar definierte Bedeutung verliert. In der Umgangssprache bezeichnen wir etwas dann als nützlich für eine Person P, wenn diese dadurch in den Genuss eines Gutes gelangt. Der psychologische Monismus reinterpretiert hingegen den Nutzenbegriff so, dass alles, was P will, eo ipso für sie nützlich sei. Damit wird zumindest in Bezug auf Handlungen die Differenz zwischen dem Nützlichen und dem Schädlichen eingeebnet, weil z. B. auch autodestruktives Verhalten als nützlich bezeichnet werden müsste. In diesem Fall büßt der Begriff des Nutzens jede bestimmbare Bedeutung ein. Der dritte Einwand betrifft die Möglichkeit der Verifizierung des psychologischen Monismus. Möglicherweise ist die Annahme richtig, dass man niemals mit Sicherheit sagen kann, aus welchen Motiven heraus man gehandelt hat. Daraus folgt allerdings nicht, dass wir eine bestimmte Art von Handlungsgründen als unmöglich ausschließen dürften. Vielmehr wäre unter dieser Voraussetzung die Kontroverse zwischen Monismus und Pluralismus grundsätzlich unentscheidbar. Der motivationale Monist muss jedoch im Gegensatz dazu davon ausgehen, dass die Motive Handelnder erkennbar sind. Er muss annehmen, dass es in jedem Fall möglich ist, festzustellen, dass der Akteur aus egoistischen Gründen handelte. Diese These kann empirisch weder bestätigt noch widerlegt werden, weil es, wie Dieter Birnbacher treffend angemerkt hat, „bis heute [...] nicht gelungen (ist), Versuchsanordnungen zu ersinnen, die die Frage des moralpsychologischen Egoismus empirisch zu entscheiden erlauben“12. Angesichts der unüberbrückbaren Kluft zwischen dem intentionalistischen Vokabular unserer Selbstbeschreibungen und der
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kausalistischen Terminologie der Naturwissenschaften ist zu vermuten, dass auch die Neurologie uns kein dafür geeignetes Verfahren zur Verfügung stellen kann. Ich fasse die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit dem motivationalen Monismus zusammen. Gegen den ersten Einwand, der auf der Möglichkeit des Handelns wider besseres Wissen beruht, konnte der Monismus nur dadurch verteidigt werden, dass er als psychologische These aufgegeben und stattdessen als normative Auffassung reformuliert wurde. Der zweite und der dritte Einwand, die auf einen semantischen Fehlschluss und auf die fehlende Möglichkeit der Verifizierung hinwiesen, können jedoch m. E. nicht widerlegt werden. Somit muss man offen lassen, ob der Bereich der Motive auf eine einzige Art von Gründen beschränkt ist. Darum kann der Grundsatz ultra posse nemo obligatur nicht gegen die Möglichkeit von Rationalitätstypen ins Feld geführt werden. 5. Bevor ich der Auseinandersetzung zwischen Monisten und Pluralisten auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe weiter nachgehe, möchte ich auf die früher erwähnte Annahme zurückkommen, dass Menschen durch ihre Handlungen jeweils etwas erreichen möchten, was sie sich wünschen. Diese Auffassung, die uns bereits im Zusammenhang mit Hobbes’ anthropologischen Annahmen begegnet ist, soll hier im Anschluss an Bernard Gert als tautologischer Egoismus bezeichnet werden.13 Während der psychologische Egoismus behauptet, dass Menschen nur handeln, weil sie dadurch etwas für sich Gutes erlangen wollen, trifft der tautologische Egoismus überhaupt keine Aussage darüber, wie die Zwecke eines Akteurs beschaffen sind. Er behauptet nur, dass ein Handelnder in jedem Fall seinen Zweck erreichen will. Dies ist erstens aus begrifflichen Gründen unbestreitbar und zweitens mit allen denkbaren Motivationen vereinbar – vom extremen Egoismus bis zum extremen Altruismus. Auch derjenige, der sich aufopferungsvoll um andere kümmert und dabei vielleicht seine Gesundheit und sein Leben aufs Spiel setzt, handelt im Sinne des tautologischen Egoismus aus
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egoistischen Motiven, weil es sein Zweck ist, das Leiden anderer Menschen zu lindern. Im Hinblick auf die Frage, ob es gerechtfertigt ist, Typen praktischer Rationalität zu unterscheiden, ist der tautologische Egoismus offensichtlich irrelevant, weil er nicht mit der Behauptung verbunden ist, dass sich alle scheinbar verschiedenartigen Motive auf ein und dasselbe Ziel zurückführen lassen.14 Deshalb ist der tautologische Egoismus ohne weiteres mit der Annahme vereinbar, dass es verschiedene Arten präskriptiver Gründe gibt. Ganz anders verhält es sich jedoch mit der auf Hume zurückgehenden instrumentalistischen Konzeption praktischer Vernunft, die der Entscheidungstheorie zugrunde liegt und die man als „instrumentellen Egoismus“ bezeichnet hat.15 Auf den ersten Blick scheint auch diese Konzeption mit dem Pluralismus der Gründe kompatibel zu sein. Der Hume’schen Auffassung zufolge beschränkt sich die Funktion der praktischen Rationalität darauf, geeignete Mittel für beliebige Zwecke zu finden und einzusetzen. Den einzelnen möglichen Zwecken werden in der Entscheidungstheorie sogenannte subjektive Nutzenwerte zugeschrieben. Der hier verwendete Nutzenbegriff unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von dem umgangssprachlichen. Der subjektive Nutzen stellt lediglich ein Maß für die Stärke einer Präferenz, d. h. des Gewünschtwerdens dar, völlig unabhängig davon, ob das Gewünschte dem Akteur im umgangssprachlichen Sinne nützt oder schadet und ob es aus egoistischen oder anderen Gründen gewünscht wird.16 Daher scheint auch die instrumentalistische Rationalitätskonzeption mit der pluralistischen Auffassung der Gründe vereinbar zu sein. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass dies nur in einer Hinsicht der Fall ist. Richtig ist, dass die instrumentalistische Auffassung praktischer Rationalität nicht im Widerspruch zu der Annahme steht, dass Handelnde durch verschiedenartige Motive zum Handeln bewegt werden können. Sie ist also mit dem Pluralismus der Gründe als motivationaler These vereinbar. Die Hume’sche Konzeption der Rationalität ist jedoch inkompatibel mit der Annahme, dass es verschiedenartige normative
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Handlungsgründe gibt. Mit dem rechtfertigungstheoretischen Pluralismus der Gründe ist die instrumentalistische Rationalitätsauffassung also nicht vereinbar. Ihr zufolge werden normative Handlungsgründe einzig und allein durch Wünsche (Präferenzen) konstitutiert. Zwar schränken manche Autoren diese Behauptung durch die Bedingung ein, dass nur wohlüberlegte Präferenzen normative Handlungsgründe bilden. Diese Einschränkung ändert aber grundsätzlich nichts daran, dass Handlungen nur dadurch gerechtfertigt werden können, dass sie der Erfüllung von Wünschen dienen. In Bezug auf Rechtfertigungsgründe besagt die Hume’sche Auffassung also, dass Handlungen nur dadurch gerechtfertigt werden können, dass ihre Zwecke „gewollt“ oder „präferiert“ werden. Schon aus diesem Grund ist die instrumentalisische Konzeption praktischer Rationalität unvereinbar mit der Annahme, dass es Typen praktischer Vernunft gibt. Hinzu kommt ein zweiter Grund. Alle Rationalitätstypologien beruhen auf der Voraussetzung, dass sich Handlungsziele (Zwecke) in Bezug auf verschiedene Kriterien als angemessen oder unangemessen, d. h. als rational oder irrational beurteilen lassen. Die Pointe der instrumentalistischen Konzeption der praktischen Vernunft besteht nun aber gerade darin, dass Zwecke selbst weder vernünftig noch unvernünftig sein können. Rational oder irrational können gemäß dieser Auffassung nur die Mittel zur Erreichung gegebener Zwecke sein. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die instrumentalistische Konzeption praktischer Rationalität zwar mit der Annahme verschiedener Arten von Motiven kompatibel ist, dass sie aber auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe unvereinbar mit dem Pluralismus ist. Die einzige Variante des motivationalen Egoismus, die gemäß dem Grundsatz ultra posse nemo obligatur gegen die Möglichkeit von Rationalitätstypen spräche, ist demnach der psychologische Egoismus im strikten Sinne, d. h. die Auffassung, dass Menschen nur handeln, um etwas für sich Gutes herbeizuführen. Es wurde bereits dargelegt, warum sich diese These weder verifizieren noch falsifizieren lässt.
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6. Die Auseinandersetzung zwischen Monismus und Pluralismus wiederholt sich auf der Ebene der Rechtfertigungsgründe. Zwar kann der Monist nicht nachweisen, dass Menschen immer durch ein und dasselbe Ziel motiviert werden. Er kann aber die These vertreten, dass sie immer nur einen einzigen Zweck anstreben sollten. Auch in diesem Fall stellt der Egoismus die einflussreichste Version des Monismus dar. Sie wurde beispielsweise von Hobbes vertreten,17 und sie hat auch in der Gegenwart einige Anhänger. Der normative Egoismus, der auch als „rationaler Egoismus“ bezeichnet wird, bezieht sich in der Regel auf einen anspruchsvollen Begriff des Eigeninteresses: Es sei vernünftigerweise geboten, das zu tun, was langfristig im Interesse des Akteurs ist. Diese Forderung ist nach Ansicht einiger Vertreter dieser Lehre damit vereinbar, dass man sein Verhalten moralischen Beschränkungen unterwirft, weil dies alles in allem am besten für den rationalen Egoisten sei. Auf welche Weise lässt sich entscheiden, ob der normative Monismus oder die Lehre von den Rationalitätstypen im Recht ist? Offenbar besteht die einzige Möglichkeit darin, von der uns vertrauten Praxis des Rechtfertigens von Handlungen auszugehen, um so mittels einer „explikative(n) Theorie“18 zu einem angemessenen Begriff praktischer Rationalität zu gelangen. Zwar könnte die Philosophie auch mittels einer Nominaldefinition einen Begriff der praktischen Vernunft einführen, der nicht mehr dem Vorverständnis dieses Begriffs entspricht, aber in diesem Fall würde sie über einen theoretisch konstruierten Gegenstand sprechen und könnte daher nicht mehr unmittelbar zur Beantwortung der Frage beitragen, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln – zumindest nicht in ihrer geläufigen Bedeutung. Die Rationalitätstheorie sollte deshalb an unstrittige normative Überzeugungen anknüpfen und diese systematisch explizieren.19 Wir müssen also davon ausgehen, wie wir im Alltag vernünftige Entscheidungen treffen und wie Handlungen gerechtfertigt werden. Offensichtlich ist es so, dass die Rationalität einer Entscheidung unter verschiedenen Gesichtspunkten beurteilt werden kann Wer sich in einer bestimmten Situation die Frage
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stellt ‚Was soll ich tun?‘, der kann dabei unterschiedliche Kriterien zugrunde legen. Beispielsweise kann er sich fragen, was er tun soll, um das für ihn Beste zu erreichen. Es kann ihm aber auch darum gehen, was er tun soll, um einen Konflikt mit anderen auf möglichst gerechte Art und Weise zu lösen. Im ersten Fall wägt er prudentielle Gründe ab, im zweiten Fall moralische. Jürgen Habermas hat aufgrund einer ähnlichen Überlegung eine Typologie praktischer Rationalität entwickelt, in der er zwischen dem pragmatischen, dem ethischen und dem moralischen Gebrauch der Vernunft unterscheidet. Diesen drei Gebrauchsweisen entsprechen Habermas zufolge die Aspekte des Zweckmäßigen, des für den Handelnden Guten und des Gerechten20: Je nach Problemstellung gewinnt also die Frage „Was soll ich tun?“ eine pragmatische, ethische oder moralische Bedeutung. In allen Fällen geht es um die Begründung von Entscheidungen zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten; aber pragmatische Aufgaben erfordern einen anderen Typus von Handlungen, die entsprechenden Fragen einen anderen Typus von Antworten als ethische und moralische. („Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft“, S. 108)
In Bezug auf die V-Frage verdienen zwei Aspekte der Habermas’schen Typologie Beachtung. Erstens werden Rationalitätstypen durch verschiedenartige praktische Probleme und die ihnen entsprechenden Lösungen konstituiert. Zweitens ist der moralische Gebrauch der praktischen Vernunft nicht der einzig mögliche. Man muss die Frage ‚Was soll ich tun?‘ nicht im moralischen Sinn auffassen; es ist ebenso gut möglich, sie als eine pragmatische oder ethische zu verstehen und zu beantworten. Folgt man Habermas, dann lassen sich praktische Entscheidungen also unter verschiedenen Gesichtspunkten treffen. Jeder dieser Aspekte lässt sich als ein Ziel bestimmen, dass durch Handlungen erreicht werden soll. Es geht entweder darum, geeignete Mittel für beliebige Zwecke zu finden, oder darum, was für eine Person man sein will, oder schließlich um eine unparteiliche Lösung praktischer Konflikte. In allen drei Fällen werden praktische Entscheidungen im Hinblick auf bestimmte
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Folgen der Handlungen getroffen. Diese folgenbezogene Klassifikation der Gebrauchsweisen der Vernunft ist nicht die einzig mögliche. Man kann ebenso zwischen konsequentialen und nicht-konsequentialen Gründen und dementsprechend zwischen folgenbezogenen und nicht folgenbezogenen Rationalitätstypen unterscheiden. So verfuhr beispielsweise Max Weber, als er zwischen „Wertrationalität“ und „Zweckrationalität“ unterschied. In der Gegenwart hat Julian Nida-Rümelin vorgeschlagen, zwischen konsequentialen und nicht-konsequentialen Handlungsgründen zu unterscheiden.21 Rationalitätstypen können also in verschiedenen Hinsichten klassifiziert werden. Im Folgenden werde ich an Habermas’ Idee in leicht modifizierter Form anknüpfen, indem ich zwei Arten präskriptiver Gründe unterscheide: prudentielle und moralische. Offen bleiben kann hier, ob es darüber hinaus weitere Arten von Handlungsgründen und ihnen entsprechende Typen praktischer Rationalität gibt, z. B. eine politische oder eine ästhetische Vernunft. Diese Frage muss hier aus zwei Gründen nicht beantwortet werden. Wie sich im Folgenden zeigen wird, genügt im Hinblick auf mein Beweisziel die Annahme, dass es mindestens zwei Arten normativer Handlungsgründe gibt. Wenn es mehr als zwei Typen praktischer Rationalität geben sollte, würde das grundsätzlich nichts an den Voraussetzungen ändern, auf denen meine Argumentation beruht. Dies ist der erste Grund. Der zweite besteht darin, dass es sich bei den prudentiellen und den moralischen Handlungsgründen um die beiden Typen handelt, deren Annahme auf die größte Zustimmung stoßen dürfte. Wenn man einmal von den Vertretern des rechtfertigungstheoretischen Monismus absieht, dann ist es weitgehend unstrittig, dass sich prudentielle und moralische Rechtfertigungsgründe unterscheiden lassen. – Diese Unterscheidung soll zunächst erläutert werden. Danach werde ich mich der Frage zuwenden, wie Konflikte zwischen beiden Arten von Gründen gelöst werden können. 7. Unter „prudentiellen Gründen“ sollen präskriptive Gründe verstanden werden, die auf die Interessen des Handelnden bezogen
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sind. Dabei verstehe ich den Begriff des Interesses im objektiven Sinne: Im Interesse eines Handelnden ist das, was, langfristig gesehen, gut für ihn ist. Die grundlegenden Güter sind das Überleben (zumindest in der Regel), Gesundheit, Freiheit von Schmerz, Handlungsfreiheit und Lust.22 Das Interesse einer Person muss nicht auf sie selbst beschränkt sein, vielmehr schließt es das Wohlergehen derjenigen Menschen ein, an denen ihr liegt, z. B. das Wohl ihrer Familienmitglieder oder Freunde. Klugheitsgründe beziehen sich also auf das erweiterte Eigeninteresse. Aus der Tatsache, dass der Begriff des Interesses hier im objektiven Sinne verstanden wird, ergibt sich, dass dasjenige, was jemand will, nicht notwendigerweise mit dem übereinstimmt, was in seinem Interesse ist. Häufig wollen Menschen etwas, obwohl es schlecht für sie ist. Nur weil die objektiven Interessen nicht notwendigerweise mit dem übereinstimmen, was die Einzelnen wollen, kann es überhaupt Normen der Klugheit und ihnen entsprechende prudentielle Rechtfertigungsgründe geben. Wenn alle Menschen jederzeit nur das wollten, was gut für sie ist, wären diese Normen überflüssig. Als „moralische Gründe“ werden diejenigen normativen Handlungsgründe bezeichnet, die darauf abzielen, nicht nur den Interessen des Handelnden, sondern den legitimen Interessen aller von seiner Handlung Betroffenen gerecht zu werden. Es ist charakteristisch für moralische Erwägungen, dass die legitimen Interessen der von einer Handlung Betroffenen nicht nur strategisch berücksichtigt werden, sondern dass sie respektiert werden. Wie der moralische Standpunkt über diese grundsätzliche Aussage hinaus zu bestimmen ist, kann hier offen bleiben. Den beiden Arten von Gründen entsprechen zwei Typen praktischer Rationalität: die prudentielle und die moralische. Obwohl prudentiellen und moralischen Entscheidungen verschiedene Kriterien zugrunde liegen, können sie zu gleichen Ergebnissen führen. Dies lässt sich durch folgende Überlegung zeigen: Es wurde eben darauf hingewiesen, dass prudentielle Gründe nicht notwendigerweise nur auf das Wohl des Handelnden selbst bezogen sind. Deshalb darf Klugheit nicht mit
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Egoismus gleichgesetzt werden. Vielmehr geht es bei klugen Entscheidungen darum, dass der Akteur im Interesse der Menschen und der Dinge handelt, an denen ihm liegt. Je nachdem, welche Ideale eine Person hat und welche sozialen Bindungen für sie wichtig sind, variiert der Umfang dieser Interessen. Während ein radikaler Egoist in prudentieller Hinsicht gute Gründe hat, nur seine eigenen Interessen zu berücksichtigen, erstreckt sich das erweiterte Eigeninteresse eines konsequenten Philanthropen auf die gesamte Menschheit. Prudentielle Erwägungen schließen es daher nicht aus, dass in ihnen auch das Wohl und Wehe anderer Personen berücksichtigt wird. Diese Berücksichtigung fremder Interessen ist für sie aber nicht konstitutiv. Für moralische Gründe gilt das Gegenteil. Sie fordern, dass der Akteur nicht nur die Folgen seiner Handlungen für sich selbst, sondern auch für andere berücksichtigt, und zwar unabhängig von seinen persönlichen Sympathien und Antipathien. Wie der moralische Standpunkt angemessen expliziert werden kann, ist bekanntlich umstritten. Als Kandidaten für das Kriterium moralischer Entscheidungen werden sowohl Unparteilichkeit als auch widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit oder das größte Glück der großen Zahl genannt. Im Rahmen meiner Argumentation ist es nicht nötig, auf diese Kontroverse einzugehen. Für meine Zwecke genügt eine grobe Charakterisierung des moralischen Standpunkts. Entscheidend ist hier nur, dass sich das Kriterium moralischer Entscheidungen nicht auf den Gesichtspunkt der Klugheit reduzieren lässt und dieser nicht auf jenes.23 Wie bereits erwähnt, können prudentielle und moralische Begründungen zu gleichen Ergebnissen führen. Diese Konvergenz ist jedoch keine notwendige, sondern nur eine kontingente. Man muss in diesem Zusammenhang zwischen dem kriterialen und dem resultativen Verhältnis zwischen prudentiellen und moralischen Gründen unterscheiden. Kriterial betrachtet, d. h. in Bezug auf die ihnen zugrunde liegenden Kriterien, sind beide Arten von Gründen irreduzibel. Die Frage, was ich tun sollte, um mein erweitertes Eigeninteresse zu befördern, lässt sich nicht
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auf die Frage zurückführen, was ich tun sollte, um die Interessen aller Betroffenen (z. B. auf unparteiliche Weise) zu berücksichtigen, und umgekehrt. In resultativer Hinsicht, d. h. in Bezug darauf, was ich tun soll, können aber beide Arten der Begründung übereinstimmen. Das, was für mich zu tun klug ist, kann zugleich moralisch gefordert sein. Deshalb besteht zwischen den Forderungen der Klugheit und denen der Moral kein prinzipieller Konflikt. Manchmal ist es im Interesse einer Person, das zu tun, wozu sie moralisch verpflichtet ist. Zum Beispiel ist es häufig gleichermaßen ein Gebot der Klugheit und der Moral, dass man die Kollegen, auf deren Kooperationsbereitschaft man auch in Zukunft angewiesen sein wird, höflich behandelt. Die Normen der Klugheit und der Moral müssen also nicht divergieren, sie können es aber,24 und gerade die Fälle, in denen sie miteinander unvereinbar sind, sind im Hinblick auf die V-Frage von besonderem Interesse. Die entscheidende Frage lautet, ob und gegebenenfalls wie sich ein Konflikt zwischen prudentiellen und moralischen Gründen rational lösen lässt. 8. Das Ergebnis der bisher angestellten Überlegungen lautet: (i) Prudentielle und moralische Begründungen und Entscheidungen sind kriterial irreduzibel. (ii) Die Forderungen der prudentiellen und der moralischen Rationalität können resultativ unvereinbar sein. – Wie sollte man nun vernünftigerweise in Fällen handeln, in denen etwas anderes moralisch geboten ist als das, was zu tun klug ist? Nehmen wir an, dass in einer bestimmten Situation prudentielle Gründe für die Handlung A und moralische Gründe für die Handlung B sprechen und dass die Ausführung einer der beiden Handlungen die Unterlassung der jeweils anderen erfordert. Der Rückgriff auf das einzige allgemein anerkannte, formale Rationalitätskriterium der Konsistenz erlaubt hier keine Entscheidung. Wenn der Akteur zugleich die Überzeugungen hätte ‚Ich soll B ausführen‘ und ‚Ich soll B unterlassen‘, läge zwar ein Widerspruch vor, den er gemäß dem Konsistenzkriterium durch die Aufgabe einer der beiden Überzeugungen ausräumen sollte. Die Sachlage ist jedoch eine
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andere. Tatsächlich lauten seine Überzeugungen: (i) Unter dem prudentiellen Gesichtspunkt sollte ich B unterlassen. (ii) Unter dem moralischen Gesichtspunkt sollte ich B ausführen. Zwischen diesen beiden propositionalen Einstellungen besteht kein Widerspruch. Der Appell an das Streben nach Widerspruchsfreiheit beseitigt den Konflikt also nicht. Da nun das einzige übergreifende, formale Rationalitätskriterium der Konsistenz nicht dazu geeignet ist, das Problem zu lösen, verbleibt als einzige mögliche Lösung der Rückgriff auf ein materiales rationales Meta-Kriterium. Ein solches Metakriterium steht uns jedoch nicht zur Verfügung.25 „Es gibt nämlich“, wie Jürgen Habermas zu Recht anmerkt, „keinen Metadiskurs, auf den wir uns zurückziehen könnten, um die Wahl zwischen verschiedenen Formen der Argumentation zu begründen.“26 Dieser rationale Metadiskurs ist deshalb unmöglich, weil er einen Standpunkt voraussetzte, der weder mit dem prudentiellen noch mit dem moralischen Standpunkt identisch wäre. Abgesehen von dem bereits erwähnten unzureichenden, formalen Rationalitätskriterium der Konsistenz, gibt es aber neben den einzelnen Kriterien der Typen praktischer Rationalität – seien es nun zwei oder mehrere – keine weiteren materialen Kriterien der praktischen Vernunft. Wer einen Konflikt zwischen einem prudentiellen und einem moralischen Rechtfertigungsgrund auf rationale Weise lösen will, der kann daher nicht auf ein neutrales Rationalitätskriterium zurückgreifen. Das benötigte rationale Metakriterium müsste aber gegenüber den Rationalitätstypen auf der ersten Ebene neutral sein. Zwar steht uns kein rationales Metakriterium zur Verfügung, es gibt aber m. E. eine rationale Metanorm, die besagt, dass in jedem Fall eine Entscheidung getroffen werden sollte. Diese vernünftige Metanorm lässt sich zumindest pragmatisch rechtfertigen. Ich gehe davon aus, dass jedem Akteur daran gelegen sein sollte, die Ereignisse, die für ihn von Bedeutung sind, soweit wie möglich zu beeinflussen. Unter dieser Voraussetzung ist es in jedem Fall besser, entweder klug oder moralisch zu handeln als gar nichts zu tun.27
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Aufgrund der Irreduzibilität der Arten von Rechtfertigungsgründen und des Fehlens eines materialen rationalen Metakriteriums ziehe ich daher folgenden Schluss: Im Falle eines Konflikts zwischen verschiedenartigen präskriptiven Gründen ist jede der in Frage kommenden Handlungen rational erlaubt und keine von ihnen rational geboten. Es ist allerdings rational geboten, sich für eine der erlaubten Handlungen zu entscheiden. Wenn hingegen kein Konflikt zwischen Gründen vorliegt, sondern alle relevanten präskriptiven Gründe resultativ übereinstimmen, ist die Handlung, für die sie sprechen, rational geboten. Ich fasse diese Ergebnisse in drei Definitionen zusammen: (Definition 1) Eine Handlung ist rational erlaubt, wenn die präskriptiven Gründe mindestens einer Art alles in allem für ihre Ausführung sprechen. (Definition 2) Eine Handlung ist rational geboten, wenn die präskriptiven Gründe aller Arten jeweils alles in allem für ihre Ausführung sprechen. (Definition 3) Eine Handlung ist rational verboten, d. h. irrational, wenn die präskriptiven Gründe keiner Art alles in allem für ihre Ausführung sprechen.28 Wenn es richtig ist, dass moralische Gründe eine von mindestens zwei Arten präskriptiver Gründe bilden, dann lässt sich nunmehr eine vorläufige Antwort auf die Frage geben, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln: Es ist immer rational erlaubt, moralisch zu handeln. „Immer“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht „jederzeit“, sondern: „immer, wenn eine Handlung alles in allem durch moralische Gründe gerechtfertigt wird“. Um diese Antwort zu vervollständigen und zu präzisieren, müssen drei Typen von Entscheidungssituationen unterschieden werden: (Situationstyp 1) Es sprechen nur moralische Gründe für eine bestimmte Handlung. Ihnen stehen keine relevanten prudentiellen Gründe gegenüber. In
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diesem Fall ist es offensichtlich rational geboten, moralisch zu handeln. (Situationstyp 2) Es liegt ein Konflikt zwischen prudentiellen und moralischen Gründen vor. In diesem Fall ist keine der beiden Handlungsweisen rational geboten. Es ist rational erlaubt, sich klug zu verhalten, also unmoralisch zu handeln, und ebenso rational erlaubt, das moralisch Gebotene zu tun. (Situationstyp 3) Die prudentiellen und die moralischen Gründe sprechen für dieselbe Handlung. In diesem Fall ist es offensichtlich rational geboten, das zu tun, was sowohl moralisch als auch prudentiell gefordert ist. Aus den vorangegangenen Überlegungen und der Betrachtung dieser drei Typen lassen sich vier Schlussfolgerungen ziehen. Sie stellen meine vollständige Antwort auf die V-Frage dar:29 (i)
Es ist immer rational erlaubt, moralisch zu handeln (Typ 1, 2 und 3). (ii) Es ist manchmal rational geboten, moralisch zu handeln, d. h. es ist manchmal irrational (rational verboten), gegen moralische Normen zu verstoßen (Typ 1 und 3). (iii) Es ist manchmal rational erlaubt, gegen moralische Normen zu verstoßen (Typ 2). (iv) Es ist niemals rational geboten, unmoralisch zu handeln. (Typ 1, 2 und 3). Im Hinblick auf den starken ethischen Rationalismus, mit dem ich mich in den vorigen Kapiteln ausführlich auseinander gesetzt habe, sind vor allem zwei Aspekte dieser Antwort von Bedeutung. Erstens ist nun deutlich geworden, warum es nicht prinzipiell unvernünftig ist, gegen moralische Normen zu verstoßen. Zweitens stehen dem Akteur im Falle eines Konflikts zwischen prudentiellen und moralischen Gründen zwei ver-
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nünftige Optionen offen: Es ist ebenso vernünftig, moralisch zu handeln, wie es vernünftig ist, unmoralisch zu handeln. Die hier vertretene Auffassung soll als schwacher ethischer Rationalismus bezeichnet werden. Dieser Begriff soll zum Ausdruck bringen, dass sich einerseits moralische Handlungen auf vernünftige Weise rechtfertigen lassen, dass es aber andererseits nicht immer rational geboten ist, moralisch zu handeln. Zwar besteht ein enger Zusammenhang zwischen praktischer Vernunft und Moral; dieser ist aber nicht so unauflöslich, wie der starke ethische Rationalismus annimmt. Es dürfte deutlich geworden sein, dass der Begriff der rational erlaubten Handlung der Schlüssel für das Verständnis des Verhältnisses zwischen praktischer Vernunft und Moral ist. Soweit ich weiß, wurde dieser Begriff als terminus technicus von Bernard Gert in die Diskussion eingeführt.30 Auf Gerts wohl durchdachte und im Detail ausgearbeitete Rationalitätstheorie kann ich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht ausführlich eingehen. Deshalb beschränke mich auf einige kurze Bemerkungen, um anzudeuten, inwiefern sich meine Begründung der These, dass es rational erlaubte Handlungen gibt, von derjenigen Gerts unterscheidet. Gert geht von drei wichtigen Annahmen aus.31 (i) Es gibt eine Reihe von Grundübeln (basic evils), in Bezug auf die niemand vernünftigerweise bestreiten kann, dass sie für ihn intrinsisch schlecht sind.32 (ii) Personen handeln irrational, wenn sie wissen oder wissen sollten, dass sie durch ihre Handlung wahrscheinlich sich selbst oder anderen Personen, an denen ihnen liegt, eines der Grundübel zufügen werden, ohne dass es dafür einen adäquaten Grund gibt.33 (iii) Alle Handlungen, die nicht irrational sind, sind rational.34 Unter diesen Voraussetzungen sind nur die Handlungen rational geboten, die nötig und geeignet sind, um zu verhindern, dass einem selbst oder Personen, an denen einem liegt, eines der Grundübel zustößt, und zwar deshalb, weil ihre Unterlassung gemäß Annahme (ii) irrational wäre.35 Da nach Gert moralisch gebotene Handlungen nicht unter allen Umständen nötig und geeignet sind, um den Akteur selbst und die Personen, an denen
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ihm liegt, vor einem der Grundübel zu bewahren, ist er bereits zu der These gelangt, die ich hier auf andere Weise ebenfalls zu begründen versucht habe: „Rationality always allows, but it does not always require, acting morally.“36 Meine Thesen sind daher nicht in Bezug auf ihren Inhalt originell, sondern hinsichtlich ihrer Begründung. Festzuhalten ist in jedem Fall, dass Bernard Gert das Verdient zukommt, den Begriff der rational erlaubten Handlung in die philosophische Debatte eingeführt zu haben. Zwar sind inzwischen auch einige andere Autoren zu der Einsicht gelangt, dass Handlungen nicht nur rational geboten, sondern auch rational erlaubt sein können;37 in der Gegenwartsphilosophie dominiert jedoch noch immer die Auffassung, dass im Falle eines Konflikts zwischen verschiedenartigen normativen Handlungsgründen nur eine der entsprechenden Handlungsweisen rational geboten ist, sodass alle übrigen Optionen rational verboten, d. h. irrational sind. Solange man dieser irrigen Meinung anhängt, kann das Verhältnis zwischen praktischer Rationalität und Moral nicht angemessen beurteilt werden. 9. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung bestand darin, zwei Fragen zu beantworten: Ist es vernünftig, moralisch zu handeln? Ist es unvernünftig, unmoralisch zu handeln? Ich habe auf beide Fragen differenzierte Antworten gegeben. Auf den verbleibenden Seiten dieses Kapitels werde ich (i) meine Thesen gegen einige nahe liegende Einwände verteidigen, (ii) die in den vorangegangen Kapiteln kritisierten Theorien im Hinblick auf meine Ergebnisse würdigen und (iii) einige Schlussfolgerungen aus meinen Resultaten ziehen. Einwand 1: Wenn man klären will, ob es vernünftig sein kann, unmoralisch zu handeln, muss man die Schwere der möglichen Handlungsfolgen berücksichtigen. Es kann beispielsweise nicht vernünftig sein, einen schwerwiegenden und folgenreichen Verstoß gegen eine moralische Norm zu begehen, um einen vergleichsweise unerheblichen Vorteil zu erlangen. Möglicherweise ist es vernünftig, einen Diebstahl zu begehen, um das eigene Leben zu retten. Wenn hingegen jemand einen anderen ermordet, um
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ein Paar Turnschuhe zu erobern, dann lässt sich das auf keinen Fall rational rechtfertigen. – Diesem Einwand liegt zwar eine richtige Intuition zugrunde, er ist aber dennoch unzutreffend, weil in ihm moralische und prudentielle Erwägungen auf irreführende Weise vermengt werden. Man muss insbesondere rationale Rechtfertigungsgründe von moralischen Rechtfertigungsgründen unterscheiden. Wenn man dies tut, wird deutlich, warum die Schwere der Handlungsfolgen keine entscheidende Rolle für die Beantwortung der V-Frage spielt. Zur Erläuterung: Ich gehe davon aus, dass viele moralische Normen nicht ausnahmslos, sondern prima facie gelten. Im Falle einer Pflichtenkollision muss man gegen eine moralische Norm verstoßen. Dieser Verstoß ist aber moralisch gerechtfertigt. Derjenige, der einen Diebstahl begehen muss, um das Leben eines anderen Menschen zu retten, dürfte in der Regel als moralisch entschuldigt gelten, weil er gegen die Pflicht, nicht zu stehlen, verstoßen hat, um eine andere moralische Pflicht zu erfüllen, welcher der moralische Vorrang vor dem Verbot des Diebstahls zukommt. Für die Rechtfertigung der Handlung spielt offenbar die Tatsache, dass es um ein Menschenleben geht, eine wichtige Rolle. Die Intuition, dass es für die moralische Beurteilung einer Handlungsweise nicht unerheblich ist, wie schwerwiegend ihre Folgen sind, ist also richtig. Da hier aber gar keine prudentiellen Gründe im Spiel sind und somit auch kein Konflikt zwischen prudentiellen und moralischen Gründen vorliegt, kann dieser Fall nicht herangezogen werden, um darüber zu urteilen, wie Konflikte zwischen Klugheit und Moral rational gelöst werden sollten. Darüber hinaus gehören aber auch Erwägungen über die Grenzen der Zumutbarkeit und über Entschuldigungsgründe selbst zur Moral. Wandeln wir das bisher diskutierte Beispiel etwas ab und nehmen wir an, dass jemand einen Diebstahl begeht, um sein eigenes Leben zu retten. Zwar kann dieser Mann seinen Verstoß gegen das Verbot des Diebstahls nicht durch den Verweis auf eine andere moralische Pflicht rechtfertigen, wohl aber könnte man ihn für moralisch entschuldigt halten, ohne
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dadurch das Verbot des Diebstahls in Frage zu stellen. – Der Einwand verweist nun darauf, dass die Beantwortung der Frage, ob sich prudentiell begründete Verstöße gegen moralische Normen entschuldigen lassen, von der Schwere der Handlungsfolgen abhängt. Das ist richtig, hat aber mit dem hier zur Debatte stehenden Problem nichts zu tun. Zweifellos ist es so, dass derjenige, der einen anderen ermordet, um ein Paar Turnschuhe zu stehlen, verwerflicher handelt, als der, der eine Person ermordet, um das Überleben seiner gesamten Familie zu retten. Möglicherweise wird man Letzteren für moralisch entschuldigt halten, Ersteren sicherlich nicht. Diese moralischen Urteile dürfen aber nicht mit Urteilen über die Rationalität dieser Handlungen verwechselt werden. Ich will diesen Gedanken anhand des Raubmordes noch näher erläutern. Nehmen wir an, dass der Mörder in einem sogenannten No-Go-Area lebt, also in einem Gebiet, das von der Polizei aus Angst vor Angriffen gemieden wird. In diesem Fall ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Mörder für seine Tat bestraft wird, so gering, dass man sie vernachlässigen kann. Es spricht demnach ein prudentieller Grund für den Raubmord, nämlich die Aussicht auf den Besitz der Turnschuhe, und ein moralischer, aber kein prudentieller Grund gegen ihn. Wie ich bereits dargelegt habe, ist in diesem Fall der Raubmord trotz seiner moralischen Verwerflichkeit rational erlaubt. Die Schwere der Handlungsfolgen für das Opfer und den Täter spielt dabei keine Rolle. Der Einwand beruht also auf der unzulässigen Vermengung von moralischen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen und Urteilen über den Grad der moralischen Verwerflichkeit mit Urteilen über die rationale Erlaubtheit von Handlungen. Einwand 2: Die hier vertretene Auffassung ist dezisionistisch, ihr zufolge kann eine Entscheidung für die Moral und gegen die Klugheit nur irrational sein. – Der Begriff des Dezisionismus wird in der Philosophie fast ausschließlich im abwertenden Sinne gebraucht. Dies ist ebenso bedauerlich wie ungerechtfertigt. Warum hat der Dezisionismus einen so schlechten Ruf?
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Allein aus der Bedeutung dieses Begriffs lässt sich dies nicht erklären. Unter Dezisionismus versteht man gewöhnlich die Auffassung, dass bestimmte Arten von Entscheidungen nicht vernünftig gerechtfertigt werden können. Nun geht es bei der Frage, wie weit sich die Autorität der Vernunft erstreckt, zunächst um Tatsachen, und Tatsachen sollte man zur Kenntnis nehmen. Wenn sie einem missfallen und es möglich ist, sie zu ändern, hat man einen guten Grund, dies zu tun. Wenn es hingegen nicht in unserer Macht steht, andere Tatsachen zu schaffen, dann sollten wir uns mit der Wirklichkeit abfinden. Die Frage, ob es möglich ist, eine vernünftige Wahl zwischen prudentiellen und moralischen Gründen zu treffen, betrifft Tatsachen, die wir nicht ändern können. Also wäre es, wenn der Dezisionismus gerechtfertigt wäre, unangebracht, diesen Begriff pejorativ zu gebrauchen. So viel sei vorausgeschickt. Nun wende ich mich dem Einwand zu. Ich vertrete keinen vollständigen, sondern nur einen partiellen Dezisionismus. Tatsächlich kann im Konfliktfall die Entscheidung für oder gegen die Moral in einer Hinsicht nicht mehr rational gerechtfertigt werden. Da uns kein rationales MetaKriterium zur Verfügung steht, um zwischen prudentiellen und moralischen Gründen zu wählen, lässt sich die Wahl zwischen ihnen nicht mehr durch allgemein anerkannte vernünftige Gründe rechtfertigen. Man darf jedoch nicht übersehen, dass die Entscheidung für oder gegen die Moral nach der hier vertretenen Auffassung in zwei anderen Hinsichten nicht a- oder irrational ist. Erstens wird sie durch die pragmatisch begründete MetaNorm, dass überhaupt entschieden werden soll, gerechtfertigt. Und zweitens wird der Akteur, wie er sich auch entscheiden mag, aus guten Gründen handeln. Seine Handlung lässt sich ja durchaus unter einem Gesichtspunkt rechtfertigen, entweder in prudentieller oder in moralischer Hinsicht. Was sich hingegen nicht rechtfertigen lässt, das ist die Wahl des Gesichtspunktes selbst, unter dem er seine Entscheidung trifft. Die Forderung oder der Wunsch, dass sich auch noch Konflikte zwischen der prudentiellen und der moralischen Rationa-
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lität allein aufgrund vernünftiger Überlegungen auflösen lassen sollten, ist meiner Meinung nach ein Beispiel dessen, was Jon Elster treffend als Hyperrationalität bezeichnet hat. Elster erläutert diesen Begriff so: Hyperrationalität sei der „irrational belief in the omnipotence of reason“38. Dieser Glaube an die Allmacht der Vernunft lässt sich zumindest in Bezug auf das Verhältnis zwischen Vernunft und Moral nicht halten. Dies hat die ausführliche Kritik am starken ethischen Rationalismus gezeigt. Einwand 3: Wenn die hier vertretene Auffassung richtig wäre, dann wären Konflikte zwischen prudentiellen und moralischen Gründen unentscheidbar. Sie können aber aufgelöst werden, also sind die hier vertretenen Thesen falsch. – Dieser Einwand beruht auf einem Missverständnis. Ich habe nicht behauptet, dass es unmöglich ist, eine Entscheidung zwischen prudentiellen und moralischen Gründen zu treffen, sondern dass sich diese Entscheidung nicht mehr gänzlich auf vernünftige Weise rechtfertigen lässt. Tatsächlich treffen wir alle mehr oder weniger häufig derartige Entscheidungen. Wie sie jeweils ausfallen, hängt von mehreren Faktoren ab, u. a. vom Charakter, der Erziehung, den Ansprüchen an sich selbst und der Wahrscheinlichkeit innerer und äußerer Sanktionen. Dies lässt sich an einem bereits früher erwähnten Beispiel erläutern. Nehmen wir an, dass jemand des Nachts eine Brieftasche findet, die einen beachtlichen Geldbetrag enthält. Die betreffende Person ist von niemandem gesehen worden, sie befindet sich in finanziellen Schwierigkeiten und könnte das Geld daher gut gebrauchen. In einem solchen Fall werden weder der Schurke noch der Tugendhafte lange nachdenken. Ersterer wird die Brieftasche behalten, Letzterer wird sie ihrem Besitzer zurückgeben. Andere Menschen wiederum werden vielleicht zögern, bevor sie eine Entscheidung treffen. Alles in allem hängt es also von der Persönlichkeit sowie von den Umständen ab, wie die Entscheidung zwischen prudentiellen und moralischen Gründen ausfallen wird. Gewöhnlich wird der Akteur entweder der Klugheit oder der Moralität den Vorrang einräumen. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass eine Person im Fall des Konflikt zwischen pruden-
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tiellen und moralischen Gründen außerstande ist, dem einen oder dem anderen Gesichtspunkt die Priorität einzuräumen. In dieser Situation sollte die Person gemäß der pragmatisch begründeten Metanorm den Zufall entscheiden lassen. Sie könnte z. B. eine Münze werfen. Dieser Fall ist selbstverständlich sehr unwahrscheinlich. Er ist aber insofern aufschlussreich, als er den Unterschied zwischen den normativen Entscheidungskriterien und den individuellen Bedingungen von Entscheidungen verdeutlicht. Einwand 4: Die hier vertretene Auffassung ist falsch, weil sich Konflikte zwischen prudentiellen und moralischen Gründen durch den Rekurs auf die Präferenzen der Akteure rational rechtfertigen lassen. – Der sogenannten Entscheidungstheorie liegt die axiomatische Annahme zugrunde, dass die Präferenzen eines rationalen Akteurs vollständig und transitiv sind.39 Also sollte gemäß dieser Theorie jeder, der entscheiden will, ob er aus prudentiellen oder moralischen Gründen handeln soll, eine Präferenz für eine der beiden Optionen haben. Ausgehend von dieser Präferenz, lässt sich dann über die Kombination von subjektiven Nutzenund Wahrscheinlichkeitswerten ermitteln, welche der beiden Handlungsmöglichkeiten rational ist. Wenn man die Stichhaltigkeit dieses Einwands beurteilen will, muss man klären, welcher Status den Präferenzen innerhalb der Rationalitätstheorie zukommt. Das Axiom der Vollständigkeit der Präferenzen weist offenbar eine gewisse Ähnlichkeit mit der von mir vorgeschlagenen Metanorm auf, dass überhaupt entschieden werden soll. Allerdings kann die Entscheidung zwischen verschiedenartigen präskriptiven Gründen m. E. durch diese Norm nicht vollständig gerechtfertigt werden, weil sie nur fordert, dass man eine Entscheidung trifft, aber nicht angibt, wofür man sich entscheiden soll. Hier liegt das dezisionistische Moment, von dem bereits die Rede war. Mir scheint nun, dass dieser dezisionistische Aspekt in der Entscheidungstheorie dadurch verschleiert wird, dass man der Theorie rationaler Entscheidungen die Vollständigkeit der Präferenzen als Axiom zugrunde legt.
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Bei Aussagen über die Präferenzen der Akteure handelt es sich jedoch um deskriptive, nicht um normative Aussagen. Es mag psychologisch interessant sein, dass der Schurke es vorzieht, die gefundene Brieftasche zu behalten, während der Tugendhafte eine Präferenz für die Rückgabe an den Besitzer hat – in normativer Hinsicht sind diese Feststellungen irrelevant. Verschiedene Personen haben in der Regel auch verschiedene Präferenzen. Deshalb bilden Präferenzen keine geeignete Grundlage für die Begründung allgemein verbindlicher Handlungsnormen. Der entscheidende Punkt meiner Antwort soll noch einmal hervorgehoben werden. Sowohl das Axiom der Vollständigkeit der Präferenzen als auch die von mir vertretene Metanorm fordern, dass der Akteur eine Handlungsoption präferiert. Es ist also rational geboten, dass man sich im Konfliktfall für die prudentiellen oder die moralischen Gründe entscheidet. Weder aus dem Axiom der Vollständigkeit noch aus der Metanorm lässt sich aber ableiten, welche Option man wählen sollte. Kurz: Der Inhalt der Präferenzen bleibt von der rationalen Forderung, dass man sie ausbilden soll, unberührt. In Bezug auf ihren Inhalt lassen sich Präferenzen für prudentielle oder moralische Gründe aufgrund der normativen Inkommensurabilität dieser Arten von Gründen nicht mehr rechtfertigen. Einwand 5: Es ist grundsätzlich irrational, unmoralisch zu handeln, weil moralischen Gründen stets der normative Vorrang vor allen anderen Gründen zukommt. Diese Vorrangthese ist im Verlauf der Untersuchung bereits mehrmals erwähnt worden. Sie ist u. a. von Kurt Baier, Alan Gewirth, Wolfgang Kuhlmann und Nico Scarano vertreten worden.40 Wenn man sich, wie ich es bisher getan habe, der Einfachheit halber auf die Annahme zweier Arten von Gründen beschränkt, lässt sich die Vorrangthese so formulieren: Im Falle eines Konflikts zwischen prudentiellen und moralischen Gründen soll man vernünftigerweise Letzteren den Vorrang einräumen. Um zu prüfen, ob diese Behauptung zu überzeugen vermag, muss geklärt werden, welche Bedeutung das Wort „soll“ in diesem Zusammenhang hat. Offensichtlich sind alle Soll-Sätze auf bestimmte Kriterien bezogen.
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Niemand soll etwas schlechthin tun, sondern jeweils in einer bestimmten Hinsicht. Je nach Kontext können Soll-Sätze z. B. rechtlich, konventionalistisch, religiös, ästhetisch, prudentiell oder moralisch gemeint sein. Auf welches Kriterium ist nun das Sollen in der Vorrangthese bezogen? In welcher Hinsicht kommt moralischen Gründen der Vorrang vor prudentiellen Gründe zu? – Grundsätzlich kommen hier drei Möglichkeiten in Betracht. Es könnte sich (i) um ein prudentielles, (ii) um ein moralisches oder (iii) um ein durch ein rationales Metakriterium begründetes Sollen handeln. Aus den bereits angeführten Gründen scheidet die dritte Möglichkeit aus. Ein rationales Metakriterium, mittels dessen sich die Konflikte zwischen Klugheit und Moral lösen ließen, steht uns nicht zu Gebote. Ebenso wenig kommt die zuerst genannte Möglichkeit in Frage. Vom Standpunkt der Klugheit aus betrachtet, wäre es vielmehr geboten, im Konfliktfall den prudentiellen Gründen den Vorrang vor den moralischen einzuräumen. Also kann sich das Sollen in der Vorrangthese nur auf den moralischen Gesichtspunkt der Beurteilung beziehen. Demnach besagt die These: Wenn sich Klugheitsgründe und moralische Gründe gegenüber stehen, dann sollte man aus moralischen Gründen den moralischen Gründen den Vorzug geben. Die Vorrangthese erweist sich somit selbst als ein moralisches Urteil. Als moralisches Urteil ist sie jedoch nicht dazu geeignet, die Irrationalität der Entscheidung gegen den moralischen Gesichtspunkt zu begründen, und zwar deshalb, weil sie sich nicht auf ein übergeordnetes Rationalitätskriterium bezieht, sondern auf einen Typ guter Gründe, auf den sich andere Arten guter Gründe nicht zurückführen lassen. Wenn die von mir vertretene These richtig ist, dass es kein materiales rationales Metakriterium gibt, dann besteht gewissermaßen ein Patt zwischen Klugheit und Moral. Moralisch gesehen, sollte man sich gegen die prudentiellen Gründe entscheiden; vom Standpunkt der Klugheit aus betrachtet, sollte man gegen moralische Normen verstoßen. Keines der beiden entsprechenden Rationalitätskriterien ist dazu geeignet, eine rationale Entscheidung zwischen den konkurrie-
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renden Gründen zu fällen. David Copp hat diesen Gedanken mit Bezug auf Platons Mythos vom Ring des Gyges folgendermaßen erläutert: Morality consists of a particular system of justified standards. These standards call for certain things; they call for Gyges not to kill the king. Similarly, the norm of self-grounded reason calls for agents to pursue the satisfaction of their needs, values, and desires. This norm calls for Gyges to kill the king. The question about overridingness is about the relative normative importance of these two systems of norms. It cannot be answered on the basis of either system. Each of these systems is concerned to evaluate our actions, traits of character, and the like; neither is concerned with the issue about the relative significance of normative standpoints. Moreover, although each system can yield a verdict about verdicts of the other system, these verdicts do not settle the relative normative significance of the systems. („The Ring of Gyges“, S. 97)
Als Ergebnis kann Folgendes festgehalten werden: Der These vom Vorrang der moralischen Gründe vor den prudentiellen lässt sich nur dann ein Sinn abgewinnen, wenn man sie als moralisches Urteil versteht. In diesem Fall beruht sie aber auf einer offensichtlichen petitio principii. Man nimmt den moralischen Standpunkt ein, um die Priorität moralischer Gründe zu begründen. Dieses Argument ist zweifellos ungültig. Im Anschluss an diese Überlegungen lässt sich genauer, als es bisher geschehen ist, angeben, worin die Fehler bestehen, die von den Vertretern der Vorrangthese begangen werden. Dies soll exemplarisch anhand zweier Zitate von Wolfgang Kuhlmann und Kurt Baier geschehen. Kuhlmann charakterisiert die Ethik und ihre Aufgabe folgendermaßen: Was auch immer Ethik im einzelnen sein mag, sie ist in jedem Fall die Disziplin, in der es um Handlungsorientierung geht, in der es um Fragen wie: „Was soll ich tun?“, „Was ist das Richtige?“, „Was ist gut?“ geht. Fragen dieser Art zielen aber auf nichts anderes als auf das vorrangig Geltende. Eine passende Antwort auf sie besteht gerade darin, das vorrangig Geltende zu nennen, nicht aber in dem Hinweis auf etwas, das im übrigen in zweiter und dritter Linie auch noch zu berücksichtigen wäre. Da nun Verbindlichkeit und vorrangige Geltung dasselbe sind, folgt, daß sich über das Kriterium der Verbind-
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Die erste Schwäche dieses Arguments besteht darin, dass Kuhlmann der Tatsache keine Beachtung schenkt, dass die Frage, was man tun soll, unverständlich ist, solange nicht angegeben wird, auf welches Kriterium sie bezogen ist. Sie kann beispielsweise bedeuten: „Was soll ich tun, wenn ich klug handeln will?“ „Was soll ich tun, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten?“ „Was soll ich tun, wenn ich mich moralisch verhalten möchte?“ Die Frage, was ich tun soll oder was das Richtige ist, bezieht sich immer auf einen bestimmten Gesichtspunkt, in Bezug auf den eine Entscheidung zu treffen ist. Aus diesem Grund stellen derartige Probleme kein Spezifikum der Moral dar. Sie können sich ebenso im Rahmen des Rechts oder innerhalb von Klugheitserwägungen stellen. Zweitens übersieht Kuhlmann, dass die Behauptung, moralischen Gründen käme immer der Vorrang vor allen anderen Gründen zu, sinnvollerweise nur dann aufgestellt werden kann, wenn man sich bereits dafür entschieden hat, den moralischen Standpunkt der Beurteilung einzunehmen. Vom Standpunkt der Klugheit aus betrachtet, kommt selbstverständlich den prudentiellen Gründen stets der Vorrang zu. Nicht besser ist es um Kurt Baiers Begründung der Vorrangthese bestellt, die allerdings einen anderen Fehler enthält. Baier zufolge lässt sich der moralische Standpunkt durch eine Reihe von Anforderungen (demands) charakterisieren, denen die Methode der Moralphilosophie gerecht werden muss, wenn sie moralische Gründe angemessen explizieren und begründen will.41 Im Zusammenhang mit der Vorrangthese sind nur die vierte und die fünfte Forderung von Belang, die Baier folgendermaßen erläutert. Die vierte Anforderung besage, „that the precepts of morality be treated as practical guidelines overriding those of self-interest, and, as far as I can see, all other kinds of guidelines as well“42. Diese Forderung hänge eng mit der fünften zusammen: This brings me to the closely related fifth demand, that morality be in accordance with reason, immorality contrary to it. [...] In other words, if justice = morality is not according to reason and injustice =
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immorality against it, we need not take much notice of the dictates of justice. The fifth demand is, in reason, required by the forth. For if people are to treat precepts of morality as overriding other guidelines, including reasons of self-interest, then these precepts must themselves be treated as reasons outranking all other types of reason: the moral point of view must be treated, from the point of view of reason, as „the highest“ point of view. But we could hardly in reason make this demand if it were not also the case that being moral really is in accordance with reason, being immoral contrary to it. („The Conceptual Link between Morality and Rationality“, S. 84f.)
Baier ist darin zuzustimmen, dass wir die Forderungen der Moral ignorieren dürften, wenn es nicht vernünftig wäre, moralisch zu handeln. Unberechtigt ist allerdings seine Schlussfolgerung, dass diese Bedingung nur dann erfüllt wäre, wenn es zugleich unvernünftig wäre, unmoralisch zu handeln. Dieser Fehlschluss beruht auf der falschen Annahme, dass im Falle des Konflikts zwischen verschiedenartigen Gründen jeweils nur eine der zur Auswahl stehenden Handlungsweisen rational ist und dass daher alle anderen Optionen irrational sind. Wie die Überlegungen zum Begriff der rational erlaubten Handlung gezeigt haben dürften, wird die Vernünftigkeit moralischer Handlungen jedoch nicht dadurch gefährdet, dass es ebenso vernünftig sein kann, unmoralisch zu handeln. Nachdem ich, wie ich hoffe, gezeigt habe, dass alle nahe liegenden Einwände gegen meine Thesen überzeugend zurückgewiesen werden können, wende ich mich nun nochmals den in den vorigen Kapiteln kritisierten Theorien zu, diesmal in der Absicht, ihren Beitrag zur Beantwortung der V-Frage zu würdigen. 10. Es wurde bereits in der Einleitung darauf hingewiesen, dass die in den Kapitel 2 bis 7 kritisierten Antworten auf die VFrage durchaus nicht wertlos sind. Obwohl keine von ihnen restlos zu überzeugen vermag, lässt sich doch fast jeder von ihnen etwas Positives abgewinnen.43 Deshalb sollen ihre Erträge hier rückblickend gewürdigt werden. – Thomas Hobbes und Peter Stemmer betonen zu Recht, dass Sanktionen einen wesent-
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lichen Beitrag dazu leisten können, die Zahl möglicher Konflikte zwischen Klugheit und Moral zu reduzieren. Je wirksamer Verstöße gegen moralische Normen durch den Staat oder die moralische Gemeinschaft geahndet werden, desto häufiger werden prudentielle und moralische Gründe resultativ übereinstimmen. Wer damit rechnen muss, dass Verstöße gegen moralische Normen bestraft werden, der wird einen solchen Verstoß nicht leichtfertig begehen. Er wird gezwungen, den möglichen Gewinn gegen den möglichen Verlust sorgfältig abzuwägen. Daraus folgt, dass moralische Gemeinschaften ein Interesse daran haben sollten, dass unmoralische Verhaltensweisen sanktioniert werden. Wo Rücksichtslosigkeit, Ungerechtigkeit oder Skrupellosigkeit nur noch zur Kenntnis genommen werden, dort sprechen keine prudentiellen Gründe mehr gegen diese Verhaltensweisen. Unter diesen Umständen ist es nahezu unvermeidlich, dass die Zahl unmoralischer Handlungen zunimmt. Darüber hinaus lässt sich aus Hobbes’ Vertragstheorie noch eine weitere Lehre ziehen. Die Antwort auf die Frage, ob es vernünftig ist, moralisch zu handeln, hängt stets auch von den politisch-rechtlichen Bedingungen ab, unter denen Menschen handeln. Nur wenn die Rechtsnormen eines Staates selbst moralischen Ansprüchen genügen, wird der Staat rationalen Egoisten normative Gründe dafür liefern, sich an moralische Regeln zu halten. In Unrechtsstaaten wird hingegen das Gegenteil der Fall sein. David Gauthiers Beitrag zu der Debatte über das Verhältnis zwischen Rationalität und Moral besteht vor allem darin, dass er die Aufmerksamkeit auf die Vorteile gelenkt hat, die sich durch moralkonformes Verhalten erlangen lassen. Zwar ist es richtig, dass die Moral häufig Verzicht, manchmal sogar Opfer fordert. Diesen Aspekt betonen Hobbes und Stemmer. Ebenso richtig ist es aber, dass man durch moralisches Handeln das Vertrauen anderer erlangen kann und dass Menschen, die sich moralischen Beschränkungen unterwerfen, gemeinsam etwas erreichen können, was kein Einzelner allein bewirken könnte. Anders als Kant und seine Anhänger meinen, spricht die Nütz-
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lichkeit einer Handlung durchaus nicht dagegen, dass sie moralisch wertvoll sein kann. Es kann der Durchsetzung moralischer Normen nur nützen, wenn ihre Befolgung unter bestimmten Umständen mit Vorteilen verbunden ist. Das Verdienst Kants und der Diskursethiker besteht hingegen darin, dass sie – implizit oder explizit – Typen praktischer Rationalität unterscheiden und dass sie auf der normativen Irreduzibilität des moralischen Standpunkts beharren. Dadurch vermeiden sie einerseits die ungerechtfertigte Reduktion der praktischen Vernunft auf Klugheit; andererseits nehmen sie aufgrund der Annahme von Rationalitätstypen die Konflikte zwischen Klugheit und Moral ernster, als es die Anhänger des Versöhnungsprojekts tun. Nur wenn man, wie Kant und die Vertreter der Diskursethik, die kriteriale Eigenständigkeit moralischer Rationalität anerkennt, wird man die Spannung zwischen Klugheit und Moral mitsamt ihren normativen Folgen angemessen würdigen können. 11. Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich auf eine Schlussfolgerung aufmerksam machen, die sich aus den hier vertretenen Thesen ergibt: Das Böse ist weniger rätselhaft, als gelegentlich angenommen wird. Wenn die These richtig ist, dass unmoralische Handlungen rational erlaubt sein können, dann lassen sich viele böse Handlungen als rationale Akte verstehen. Wer wissentlich gegen moralische Normen verstößt, um seinen eigenen Vorteil zu wahren, der gibt prudentiellen Gründen den Vorzug vor moralischen. Er tut etwas, was zwar nicht rational geboten, aber zumindest rational erlaubt und in diesem Sinne vernünftig ist. Dieser Gedanke lässt sich anhand der kantischen Typologie des Bösen verdeutlichen. Kant unterscheidet in der Religionsschrift bekanntlich drei Stufen des Bösen: die Gebrechlichkeit, die Unlauterkeit und die Bösartigkeit.44 Der Begriff der moralischen Gebrechlichkeit bezeichnet eine besondere Form der Willensschwäche. Ein Mensch weiß, wozu er moralisch verpflichtet ist, und er hat den Wunsch, diese Pflicht zu erfüllen – aber dieser Wunsch ist unwirksam,
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sodass ein anderes Motiv die Überhand gewinnt. Ein Fall von Unlauterkeit liegt vor, wenn jemand moralische Motive mit anderen vermischt. Ein Beispiel wäre die Handlung eines Spenders, der seine Spende nicht nur leistet, um anderen etwas Gutes zu tun, sondern auch, um ein gutes Gewissen zu haben. Die dritte Stufe beschreibt Kant so: [...] die Bösartigkeit (vitiositas, pravitas) oder, wenn man lieber will, die Verderbtheit (corruptio) des menschlichen Herzens ist der Hang der Willkür zu Maximen, die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz andern (nicht moralischen) nachzusetzen. Sie kann auch die Verkehrtheit des menschlichen Herzens heißen, weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt und obzwar damit noch immer gesetzlich gute (legale) Handlungen bestehen können, so wird doch die Denkungsart dadurch in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt und der Mensch darum als böse bezeichnet. (Religion, 6, 30)
Kants Typologie macht zum einen deutlich, dass böse Handlungen irrational sein können. Sie sind es dann, wenn jemand das Gute, das er zu tun wünscht, aufgrund seiner Willensschwäche nicht tut. Willensschwäche ist zweifellos ein unumstrittener Fall von Irrationalität. Andererseits geht aus Kants Beschreibung der dritten Stufe des Bösen hervor, dass es möglich ist, prudentiellen Gründen den Vorzug vor den moralischen zu geben. Warum eine solche Entscheidung nicht irrational ist, habe ich bereits ausführlich begründet. Zumindest für wohlüberlegte böse Handlungen gilt also, dass sie vernünftigerweise erlaubt sind. Wer wissentlich und absichtlich gegen eine moralische Norm verstößt, weil er sich davon einen Vorteil erhofft, den darf man moralisch verurteilen; Irrationalität darf man ihm hingegen nicht vorwerfen. Diese wohlüberlegten bösen Handlungen müssen allerdings von denjenigen bösen Verhaltensweisen unterschieden werden, die im Affekt, aufgrund unkontrollierbarer Leidenschaften oder infolge einer pathologischen seelischen Entwicklung vollzogen werden. Die hier vertretenen Thesen implizieren durchaus nicht, dass jegliche böse Tat rational gerechtfertigt werden kann. Wer unter einem krankhaften Neid oder Menschenhass oder übersteigerter, un-
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kontrollierbarer Eifersucht leidet und deshalb andere Menschen quält, der handelt selbstverständlich irrational. Er verhält sich aber nicht deshalb unvernünftig, weil er unmoralisch handelt, sondern weil sein Handeln nicht durch gute Gründe geleitet wird. Weil es rational erlaubt sein kann, gegen moralische Normen zu verstoßen, wird man böse Menschen nicht dadurch zu einer Änderung ihrer Lebensweise bewegen können, dass man an ihre Vernünftigkeit appelliert. Die Aufforderung ‚Kommen Sie doch endlich zur Vernunft!‘ ist hier verfehlt, weil diese Menschen sich nicht unvernünftig verhalten haben. Wenn man sie zu moralkonformem Verhalten motivieren will, dann muss man die sozialen und politischen Bedingungen so gestalten, dass sich unmoralisches Verhalten möglichst selten lohnt. Wie die Auseinandersetzung mit dem ethischen Kontraktualismus gezeigt hat, stößt jedoch auch diese Vorgehensweise an ihre Grenzen. Die körperliche, geistige und soziale Ungleichheit unter den Menschen lässt sich nicht ohne weiteres beseitigen. Darüber hinaus ist es weder möglich noch wünschenswert, dass alle moralischen Normen verrechtlicht und Verstöße gegen sie rechtlich sanktioniert werden. Schließlich lässt sich nicht gänzlich verhindern, dass Situationen eintreten, in denen sich die Gelegenheit zum Unrechttun im Verborgenen bietet. Mit diesen Bemerkungen über das Böse bin ich am Ende meiner Untersuchung angelangt. Ihre Resultate mögen enttäuschen oder ermutigen; dies hängt von den Erwartungen des Lesers ab. Was mich persönlich betrifft, so halte ich die Einsicht, dass im Falle eines Konflikts zwischen prudentiellen und moralischen Gründen sowohl die moralische als auch die unmoralische Handlungsweise rational erlaubt sind, nicht für bedrohlich. Wenn gezeigt werden kann, dass es stets vernünftigerweise erlaubt ist, moralisch zu handeln, dann ist schon viel erreicht.
Anmerkungen Einleitung 1 Ch. Fehige, Soll ich?, S. 212. 2 Ebd., S. 213. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Platon, Politeia, v. a. Buch 1 und 2. 5 Vgl. Platon, Gorgias 474c–476a, S. 261ff. 6 Vgl. H. A. Prichard, „Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?“, S. 51; W. Frankena, „Concepts of Rational Action in the History of Ethics“, S. 170f. 7 Vgl. Ph. Foot, „Tugend und Glück“, S. 216. 8 Vgl. M. Hossenfelder, „Sind die Guten glücklich?“, S. 303. 9 Th. Leiber, Glück, Moral und Liebe, S. 217. 10 Vgl. die ausführliche Darstellung bei D. Fenner, Glück, Kapitel 4; vgl. auch M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, S. 56–61. 11 „Non est beatus, esse se qui non putat.“ (Seneca, Briefe an Lucilius 9, 21, S. 62) 12 Vgl. D. Birnbacher, „Philosophie des Glücks“, S. 6f. 13 Vgl. ebd., S. 14. 14 M. Hossenfelder, „Sind die Guten glücklich?“, S. 294. 15 Vgl. H. Braun, „Empirische Glücksforschung“, S. 49.
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Im Kontraktualismus wird die Auffassung vertreten, dass nur scheinbar ein potentieller Konflikt zwischen Eigeninteresse und Moral besteht. Diese These wird in den Kapiteln 2 bis 4 analysiert und kritisiert. Kant z. B. bestritt die Möglichkeit von Pflichtenkollisionen (vgl. Die Metaphysik der Sitten, Einleitung, AA 6, 224 – Kants Schriften werden nach der Akademie-Ausgabe zitiert. Dabei bezeichnet die erste Ziffer den Band, die zweite die Seite). Diese Formulierung der Frage geht auf F. H. Bradleys Aufsatz „Warum soll ich moralisch sein?“ von 1876 zurück. Vgl. auch die folgenden
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Anmerkungen Titel: K. Bayertz (Hg.), Warum moralisch sein?; ders., Warum überhaupt moralisch sein?; K. Nielsen, Why be moral?. Vgl. K. Bayertz, „Einleitung“, S. 11. Vgl. z. B. Schopenhauers „Preisschrift über die Grundlage der Moral“, § 16, v. a. S. 565f. Vgl. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, AA 7, 321. Ähnliches gilt für die Ausnahmen, in denen einzelne pathologisch veranlagte Menschen nicht imstande sind, moralische Gefühle wie Mitleid oder Reue zu empfinden. Auch sie dürften sich kaum freiwillig dafür entschieden haben, nicht über diese Anlage zu verfügen. Vgl. B. Williams, Der Begriff der Moral, S. 10–20. Ähnlich wie Williams charakterisiert Joseph Raz den Amoralisten: „The amoralist does not believe in morality, either because he doubts its validity, or because he is not aware of it, or does not comprehend it.“ („The Amoralist“, S. 370). – Gelegentlich wird unter einem Amoralisten auch eine Person verstanden, die als moralfähiges Wesen fortwährend gegen moralische Normen verstößt, weil sie diese als bloße Hindernisse ansieht. Diese Version des Amoralisten wird später diskutiert. Achim Lohmar hat in seinem Aufsatz „Gibt es Pflichten gegen sich selbst?“ gezeigt, dass man mit guten Gründen bezweifeln kann, ob es sinnvoll ist, von Pflichten gegenüber sich selbst zu sprechen. Eine strikte Abgrenzung zwischen „moralischen“ und „ethischen“ Problemen findet sich z. B. bei Jürgen Habermas; moralische Fragen betreffen ihm zufolge nur verallgemeinerbare Normen der Gerechtigkeit, während Ratschläge, wie ein gutes Leben zu führen sei, in den Bereich der Ethik fallen. (Vgl. J. Habermas, „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft“.) – Für die Einbeziehung der Lebenskunst in die Ethik hat sich hingegen bereits früh, im Jahr 1973, Wilhelm Kamlah ausgesprochen (vgl. Philosophische Anthropologie, S. 145f. u. ö.). Später haben die Arbeiten von Pierre Hadot und die späten Schriften Foucaults zur Rehabilitierung der Frage nach dem guten Leben beigetragen. Vgl. zur Vielfalt der Bedeutungen des Begriffs „Rationalität“ z. B. den Art. „Rationalität, Rationalisierung“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie; J. Elster, „Rationality“; H. Lenk/H. Spinner, „Rationalitätstypen, Rationalitätskonzepte und Rationalitätstheorien im Überblick“ sowie H. Lenk, „Einleitung des Herausgebers“. Vgl. zu dieser Auffassung z. B. R. Forst, „Praktische Vernunft und rechtfertigende Gründe“, S. 48f. Dies lässt sich schon bei Max Weber zeigen, dessen Begriff der Wertrationalität auf verschiedene „Wertsphären“, wie die politische, die moralische, die ästhetische oder die erotische bezogen werden kann.
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Dass der Begriff der praktischen Rationalität durchaus nicht nur im ökonomistischen Sinn verstanden werden muss, zeigt sich in der Gegenwart u. a. an den Rationalitätstypologien von K.-O. Apel (vgl. „Rationalitätskriterien und Rationalitätstypen“) und H. Schnädelbach (vgl „Rationalitätstypen“). Vgl. J. Habermas, „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft“; H. Schnädelbach, „Rationalitätstypen“. Beispiele sind der späte Rawls, der – anders als in der Theorie der Gerechtigkeit – zwischen Rationalität (rationality) und Vernunft (reason) unterschied (vgl. z. B. „Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“, S. 98ff.; Gerechtigkeit als Fairneß, S. 27f.), A. Gewirth (vgl. „Rationality and Reasonableness“) sowie U. Steinvorth (vgl. Was ist Vernunft?, S. 104–109). Dies gilt, wenn man sich auf beabsichtigte Handlungsfolgen beschränkt. In diesem Fall werden Handlungen, die zwar moralisch motiviert sind, aber entgegen der Absicht des Handelnden gegen moralische Normen verstoßen, ausgeschlossen. Ebenso bleiben Handlungen unberücksichtigt, die aus anderen als moralischen Motiven ausgeführt werden und entgegen der Absicht des Akteurs moralischen Normen gemäß sind. Diese beiden Zusatzbedingungen, die aus stilistischen Gründen im Haupttext nicht erwähnt werden, sollen hier als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Die Auffassung, dass es Typen praktisch-normativer Gründe und ihnen entsprechende Typen praktischer Rationalität gibt, wird in Kapitel 8 erläutert und verteidigt. Es ist unübersehbar, dass die Unterscheidung zwischen „moralkonformen Handlungen“ und „moralisch motivierten“ Handlungen an Kants Unterscheidung zwischen bloß „pflichtmäßigen Handlungen“ und „Handlungen aus Pflicht“ erinnert (vgl. z. B. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, 397). Kant scheint seine eigene Unterscheidung als eine disjunktive verstanden zu haben: Demnach könnte keine pflichtgemäße Handlung zugleich eine Handlung aus Pflicht sein und umgekehrt. Demgegenüber soll die im Haupttext eingeführte Unterscheidung als eine inklusive aufgefasst werden: Alle moralisch motivierten Handlungen sind moralkonform, aber nicht alle moralkonformen Handlungen sind auch moralisch motiviert. Vgl. K. Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?, S. 20–24. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23.
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25 Ebd. 26 Dies unterscheidet ihn vom früher erwähnten Amoralisten im Sinne von Bernard Williams und Joseph Raz. 27 Ebd., S. 24. 28 Auf den Einwand, dass sich die Frage nach der Rationalität der Befolgung moralischer Normen nicht von der Frage nach deren Begründung trennen lässt, werde ich in diesem Kapitel in Abschnitt 6, S. 30ff., eingehen. 29 Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass zahlreiche ethische Theorien inhaltlich weitgehend übereinstimmen, obwohl sie sich in Bezug auf die Art und Weise der Begründung moralischer Normen stark unterscheiden. Beispielsweise bestehen zwischen dem Kantianismus, dem ethischen Kontraktualismus oder der Ethik Schopenhauers erstaunliche inhaltliche Übereinstimmungen. – Eine Ausnahme bildet hier wahrscheinlich der Utilitarismus, der häufiger als andere Moralphilosophien zu kontraintuitiven Ergebnissen gelangt. 30 Wie Rainer Trapp in einer eindrucksvollen Untersuchung gezeigt hat, ist es nicht sinnvoll, jegliche Gewaltanwendung gegen Straftäter als Folter zu bezeichnen. Trapp argumentiert mit guten Gründen dafür, dass es moralisch gerechtfertigt sein kann, Straftätern in gewissen Grenzen mit Gewaltanwendung zu drohen oder ihnen Gewalt zuzufügen, um Schaden von Unschuldigen abzuwenden (vgl. R. Trapp, Folter oder Selbstverschuldete Rettungsbefragung). 31 Vgl. M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, S. 206f. u. 211f. 32 Ebd., S. 69. 33 Ebd. 34 Vgl. Platon, Politeia 357, S. 80ff. 35 F. H. Bradley, „Warum moralisch sein?“, S. 70. 36 Vgl. v. Verf., Selbsttötung als philosophisches Problem, S. 328–333. 37 H. A. Prichard, „Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?“, S. 49. 38 Vgl. zu Prichards Dilemma K. Bayertz, „Einleitung“, S. 17ff. 39 H. A. Prichard, „Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?“, S. 51. 40 Vgl. Ch. Korsgaard, „The Normativity of Instrumental Reason“. 41 Vgl. U. Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, S. 30f. 42 In den folgenden Ausführungen soll „ethischer Rationalismus“ als Sammelbegriff für alle Arten des ethischen Rationalismus und Kognitivismus stehen. Um umständliche Formulierungen zu vermeiden, wird hier der wichtige Unterschied zwischen Rationalismus und Kognitivismus nicht terminologisch angezeigt. 43 Im Anschluss an Bernard Gert und andere Autoren werde ich in Kapitel 8 eine schwache Version des ethischen Rationalismus vertei-
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digen, die nicht impliziert, dass unmoralisches Handeln notwendigerweise irrational ist. K. Baier, „The Conceptual Link Between Morality and Rationality“, S. 88. K. Baier, „Moralische Gründe und Gründe, moralisch zu sein“, S. 124, Fn. 16. Vgl. ebd. Ebd., S. 124. Ebd., S. 125. Vgl. H. Frankfurt, Taking ourselves seriously & Getting it right, S. 21f. Vgl. zum Begriff der Irrtumstheorie J. Mackie, Ethik, S. 39f. u. 59f. Ähnliche Beispiele wie dieses diskutiert K. Bayertz (vgl. „Einleitung“, S. 9ff.; Warum überhaupt moralisch sein?, S. 17ff.). Der Unterschied zwischen äußeren und inneren Sanktionen wird später erläutert (vgl. Kapitel 4, Abschn. 10, S. 164–169). Ein Beispiel dafür war die sogenannte Nationale Volksarmee in der DDR.
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Vgl. zum Überblick über die Struktur und die Varianten des Kontraktualismus z. B. L. Kern, Neue Vertragstheorie, S. 9–14; P. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, S. 11–30; W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 11–58; Th. Schmidt, Die Idee des Sozialvertrags; A. Leist, „Einleitung“, S. 14–33. Vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 3; P. Stemmer, Handeln zugunsten anderer, S. 94–99 u. ö. Vgl. W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 47f. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. z. B. D. Gauthier, Morals by Agreement, S. 9; ders., „Between Hobbes and Rawls“, S. 30f.; Th. Schmidt, „Hobbes’ Ethik und hobbesianische Ethik“, S. 123. Hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausgestaltung unterscheidet z. B. Peter Koller drei Vertragsmodelle, das „individualistische“, das „freiheitlich-besitzindividualistische“ und das „universalistische“; diese würden durch Hobbes, Locke sowie Rousseau und Kant repräsentiert (vgl. Neue Theorien des Sozialkontrakts, S. 17–30). Je nachdem, ob der Argumentation ein hypothetischer oder ein wirklicher Vertrag zugrunde gelegt wird, kann man außerdem zwischen „konsensaprio-
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Anmerkungen ristischen“ und „konsensempiristischen“ Spielarten des Kontraktualismus unterscheiden (vgl. W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 32ff.). Weitere Unterscheidungen finden sich z. B. bei K. Graf Ballestrem, „Vertragstheoretische Ansätze in der politischen Philosophie“, S. 4–7, A. Zaitchik, „Hobbes’s Reply to the Fool“ und Th. Schmidt, Die Idee des Sozialvertrags, S. 32–39. Vgl. dazu z. B. W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 51ff. Kersting unterscheidet zwischen „staatsphilosophischem“ und „rechtfertigungstheoretischem“ Kontraktualismus: „Der staatsphilosophische Kontraktualismus liefert eine vertragstheoretische Legitimation staatlicher Herrschaft in Gestalt einer rationalen Rekonstruktion der Entstehung des Staates aus dem vereinten Willen der Bürger; das kontraktualistische Argument betraut den Vertrag mit der Rolle der sichtbaren staatsgründenden Hand. [...] Der rechtfertigungstheoretische Kontraktualismus verwendet den Vertrag hingegen, um eine Verfassung, Gerechtigkeitsprinzipien, Moralnormen oder eine öffentliche Ethik zu begründen.“ (Ebd., S. 51) Neben Rawls galten in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts Robert Nozick und James M. Buchanan als wichtigste Vertreter der „new contractarians“. Vgl. R. Nozick, Anarchy, State, and Utopia (1974) und James M. Buchanan, The Limits of Liberty (1975). Vgl. Ch. Kahn, „The Origins of Social Contract Theory“. Vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 23f. Vgl. ebd., S. 130–139 u. Kap. 6. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 29. Vgl. z. B. J. Rawls, „Gerechtigkeit als Fairneß“, S. 257–265. D. Gauthier, Morals by Agreement, S. 4. Allerdings besteht zwischen dem entscheidungstheoretischen Rationalitätsbegriff und dem ethischen Kontraktualismus keine notwendige Verbindung, sondern nur eine Wahlverwandtschaft. Die von Thomas Scanlon entwickelte Variante des Kontraktualismus ist ein Beispiel dafür, dass die ethische Vertragstheorie auch mit einem anderen Begriff praktischer Vernunft einhergehen kann (vgl. What we owe to each other, S. 191–197). G. S. Kavka, „Das Versöhnungsprojekt“, S. 155. Vgl. ebd. Wie z. B. P. Stemmer behauptet hat (vgl. Handeln zugunsten anderer, S. 85; „Moralischer Kontraktualismus“, S. 2). Warum Hobbes nicht dem ethischen Kontraktualismus zugerechnet werden kann, wird die Darstellung zeigen. Morals by Agreement, S. 10.
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20 Th. Hobbes, Leviathan, I.13, S. 96. – Hobbes’ Werke werden nach folgenden Siglen zitiert: EL = The Elements of Law; L = Leviathan; VB = Vom Bürger; VM = Vom Menschen. 21 Ich folge hier mit geringfügigen Abweichungen der Darstellung Gregory Kavkas (vgl. Hobbesian moral and political Theory, S. 33f.). 22 Vgl. L, I.11, S. 75. 23 VM, 11.15, S. 29. 24 „Die Macht eines Menschen besteht, allgemein genommen, in seinen gegenwärtigen Mitteln zur Erlangung eines zukünftigen anscheinenden Guts und ist entweder ursprünglich oder zweckdienlich.“ (L, I.10, S. 66). 25 L, I.11, S. 75. – Vgl. EL, I.7.7, S. 45. 26 L, I.11, S. 75. 27 Vgl. VM, 11.6, S. 24. 28 VB, 1.7, S. 81. Vgl. VB, Widmung, S. 62 und 2.18, S. 94. – Ich habe an anderer Stelle Belege dafür angeführt, dass Hobbes zufolge der Tod nicht immer als größtes Übel anzusehen ist (vgl. v. Verf., Selbsttötung als philosophisches Problem, S. 221ff.). 29 Vgl. VB, 1.7, S. 81. 30 L, 1.13, S. 94. Den Beleg dafür sieht Hobbes darin, „daß jedermann mit seinem Anteil zufrieden ist“ (ebd.). 31 L, I.13, S. 95. 32 Ebd.; vgl. VB, 1.6, S. 81: „Am häufigsten wollen die Menschen einander verletzen, weil viele denselben Gegenstand zugleich begehren, der sehr oft weder gemeinsam genossen noch geteilt werden kann.“ Vgl. auch EL, I.14.5, S. 78. 33 L, II.17, S. 133. Vgl. L, I.11, S. 76; VB, 5.5, S. 126; EL, I.14.4, S. 78. 34 Vgl. F. S. McNeilly, „Egoism in Hobbes“ (1966); B. Gert, „Hobbes and Psychological Egoism“ (1967). McNeilly vertrat die werkhistorische These, dass Hobbes im Verlauf der Zeit mindestens zwei psychologische Thesen vertreten habe (a.a.O., S. 165). Vor dem Jahr 1647, als Hobbes mit der Arbeit am Leviathan begann, habe er eine egoistische Lehre der Motivation vertreten, von der er dann abgerückt sei (ebd., S. 174f.). – Bernard Gert zufolge gelte der psychologische Egoismus nach Hobbes nur für Kinder (vgl. „Hobbes’s psychology“, S. 167). Darüber hinaus vertrat Gert die These, dass Hobbes nicht nur kein Anhänger des psychologischen Egoismus war, sondern dass dieser mit seiner politischen Theorie unvereinbar sei („Hobbes and Psychological Egoism“, S. 503). 35 Für die These, dass Hobbes dem psychologischen Egoismus anhing, vgl. z. B. D. Gauthier, The Logic of Leviathan, S. 7; G. Kavka, Hobbe-
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sian moral and political theory, S. 64ff. (mit der Einschränkung, dass Hobbes keinen ausschließlichen, sondern einen vorherrschenden psychologischen Egoismus vertrat); W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 67; P. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, S. 19; J. Sprute, „Moralphilosophie bei Hobbes“, S. 835. Für die Gegenposition vgl. neben den in Anm. 34 genannten Arbeiten von McNeilly und Gert z. B. R. Schüßler, „Hobbes und der Egoismus“, S. 184, 195 u. ö. L, I.14, S. 101. Ähnliche Formulierungen finden sich häufig bei Hobbes. Vgl. z. B. L, II.25, S. 196 u. 197; VB, 1.7, S. 81; ebd., 1.10, S. 83; ebd., 1.13, S. 84; ebd., 6.4, S. 133; ebd., 9.3, S. 166; EL, I.14.6, S. 78f.; ebd., I.14.12, S. 80; I.16.6, S. 90. Vgl. G. Kavka, Hobbesian moral and political theory, S. 47f. Ein eindeutiger Beleg dafür findet sich in VM, 11.4, S. 22: „Alle Dinge, die erstrebt werden, bezeichnet man, sofern sie erstrebt werden, mit einem gemeinsamen Namen als ‚Güter’, alle, die wir vermeiden, als ‚Übel’.“ Vgl. z. B. VB, 6.4, S. 133: „[...] alle Menschen wählen mit Naturnotwendigkeit, was ihnen als ein Gut für sie selbst erscheint.“ Vgl. VM, 11.5, S. 23. EL, I.12.2, S. 71. Vgl. B. Gert, „Hobbes and Psychological Egoism“, S. 507. „[...] for Hobbes it is simply a matter of definition that all voluntary acts are done in order to satisfy our desires.“ (B. Gert, „Hobbes and Psychological Egoism“, S. 507) VB, Vorwort an die Leser, S. 69. VB, 1.4, S. 80. VB, 1.12, S. 83; vgl. EL, I.15.11, S. 80. VM, 10.3, S. 17. VB, 6.4, S. 133. Vgl. VB, 14.2, S. 218. „[...] men aim at dominion, superiority, and private wealth“ (EL, I.19.5, S. 105). „For ‚good’ is, in the first instance, only formally defined for Hobbes, relative to the changing inclinations of man, which vary from person to person and are not eo ipso egoistic.“ (G. Braungart, „Ethics and Its Amoral Justification in Hobbes“, S. 385) Vgl. B. Gert, „Hobbes and Psychological Egoism“, S. 507. Vgl. zum „predominant egoism“ bei Hobbes: G. Kavka, Hobbesian moral and political theory, S. 64–80. Besonders deutlich wird das an der Stelle in Vom Menschen, an der Hobbes „wahre“ und „scheinbare“ Güter unterscheidet: „Unerfahrene,
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welche die Folgen der Dinge nicht weit genug überschauen, nehmen daher, was als gut erscheint, hin, ohne das damit verknüpfte Übel zu sehen, und machen nachher schlimme Erfahrungen.“ (VM, 11.5, S. 23) – Nun zerfällt aber die Menge der Güter nicht in zwei Teilklassen, scheinbare Güter und wahre Güter. Vielmehr sind Dinge, die nur gut zu sein scheinen und deshalb gewollt werden, keine Güter. Hier wird deutlich, dass eine voluntaristische Definition der Begriffe „Gut“ und „Übel“ widersinnig ist. Vgl. v. Verf., Selbsttötung als philosophisches Problem, S. 213ff. Dort finden sich auch entsprechende Belege. EL, I.15.1, S. 82. Vgl. L, I.15, S. 111. L, I.14, S. 99. – In dieser Hinsicht kann ich mich G. Braungarts These anschließen, dass Hobbes’ „system of ethics cannot be justified on the basis of self-interest in general, but only on the basis of of a higher-level order of self-interest, namely self-preservation, which is also the fundamental condition for the pursuit of egoistic interests“ („Ethics and Its Amoral Justification in Hobbes“, S. 395). Wie bereits angemerkt, bestreitet B. Gert, dass Hobbes ein Anhänger des psychologischen Egoismus war. Was aber seine normative Lehre von der praktischen Vernunft betrifft, so vertrete Hobbes einen „rational egoism“ (vgl. „Hobbes’s psychology“, S. 169). Vgl. B. Gert, „Hobbes’s psychology“, S. 169ff.; ders., „Hobbes on Reason“, S. 255 u. ö. Vgl. VM, 11.6–15, S. 24–29. Hobbes vertritt zwar die Auffassung, dass es nichts gebe, was an sich gut ist. Deshalb „darf man nicht von einem Gut schlechthin reden“ (VM, 11.4, S. 22). Gemeint ist damit offenbar, dass das Gutsein eine zweistellige Relation ist: Etwas ist für einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen gut. Diese Auffassung ist aber durchaus mit der Annahme verträglich, dass es neben den Dingen, „die für einige Güter, für andere Übel sind“ (ebd.), auch Dinge gibt, die für alle Menschen gut sind: „Ein Gut kann allgemein sein und man kann zutreffend von etwas sagen, es sei gemeinhin ein Gut, d. h. für viele von Nutzen, oder für den Staat ein Gut. Man kann auch bisweilen sagen, ‚für alle ein Gut’, z. B. von der Gesundheit.“ (Ebd.; vgl. dazu B. Gert, „Hobbes’s psychology“, S. 171) L, I.13, S. 96. L, I.14, S. 100. Vgl. ebd. Vgl. L, I.15, S. 110. Vgl. L, Kap. 15, S. 110–122. VB, 14.2, S. 218.
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Anmerkungen
67 „Das ungeschriebene Gesetz ist das, welches keiner andern Verkündung als durch die Stimme der Natur oder die natürliche Vernunft bedarf; dahin gehören die natürlichen Gesetze.“ (VB, 14.14, S. 226) 68 L, I.15, S. 121. 69 Vgl. VB, 14.2, S. 218. 70 Vgl. L, I.15, S. 122. 71 Ebd. 72 VB, 3.26, S. 109. – Hervorhebung v. mir. 73 Dies legt z. B. J. Sprute nahe. Die natürlichen Gesetze scheinen „als moralische Regeln technische Regeln zu sein, die vorschreiben, wie man einen bestimmten Zweck, nämlich die Selbsterhaltung der Menschen, erreichen kann“ („Moralphilosophie bei Hobbes“, S. 840). Später heißt es: „Dass die Gesetze der Natur eine bestimmte Art des Verhaltens nicht nur empfehlen, sondern die Menschen dazu verpflichten, dürfte bei Hobbes psychologisch zu verstehen sein, aber nicht deontologisch oder theologisch.“ (Ebd., S. 844) – Eine ähnliche Auffassung scheint Th. Schmidt zu vertreten (vgl. „Hobbes’ Ethik und Hobbesianische Ethik“, S. 137ff.). 74 Vgl. z. B. EL, I.15.1, S. 82. 75 Vgl zu „Vorschrift“, „verbieten“ und „verpflichten“ L, I.14, S. 99. Vgl. zum natürlichen Gesetz als „Gebot der rechten Vernunft“ VB, 2.1, S. 86f. 76 Dem widerspricht nicht, dass Hobbes wiederholt betont, dass die natürlichen Gesetze keine Gesetze im strengen Sinn sind (vgl. z. B. L, I.15, S. 122 u. II.26, S. 205; VB, 3.33, S. 114). Dies ergibt sich einfach aus Hobbes’ Verständnis des Begriffs „Gesetz“: Ein Gesetz sei „nach dem strengen Sprachgebrauch die Rede dessen, der andern etwas zu tun oder zu unterlassen mit Recht befiehlt“ (VB, S. 114). Sofern man die natürlichen Gesetze nicht als Gebote Gottes auffasst (dies ist möglich, vgl. z. B. L, I.15, S. 122 u. II.26, S. 213; VB, 14.4, S. 220), sind sie aber keine Befehle eines anderen an die Menschen, sondern Normen, die sie sich kraft ihrer Vernunft selbst auferlegt haben. Ihrem deontischen Status tut dies keinen Abbruch. 77 Vgl. L, I, Kap. 14 und 15. 78 Vgl. G. Kavka, „Das Versöhnungsprojekt“, S. 159. 79 L, I.15, S. 120. Vgl. VB, 3.27, S. 110f.; EL, I.17.10, S. 97. 80 Vgl. zur Darstellung und Interpretation des Gefangenendilemmas z. B. J. Nida-Rümelin/Th. Schmidt, Rationalität in der praktischen Philosophie, S. 94–104. – Die Bezeichnung als Dilemma ist deshalb unzutreffend, weil den Akteuren nicht genau zwei inakzeptable Optionen, die sogenannten Hörner des Dilemmas, offen stehen. Stattdessen handelt es sich einfach um das theoretische Problem, dass zwei
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Akteure, die sich offenbar rational verhalten, dennoch zu suboptimalen Ergebnissen gelangen. (Vgl. dazu A. Alexandra, „Should Hobbes’s State of Nature be Represented as a Prisoner’s Dilemma?“, S. 7.) So bereits David Gauthier im Jahr 1969 (vgl. The Logic of Leviathan, S. 79f.); vgl. u. a. auch G. Kavka, Hobbesian moral and political theory, S. 109ff.; J. Hampton, Hobbes and the Social Contract Tradition, S. 80f.; J. Nida-Rümelin (mit Vorbehalten), „Bellum omnium contra omnes“, S. 118–124; A. Hüttemann, „Naturzustand und Staatsvertrag bei Hobbes“, S. 32f. – Vgl. zur Kritik an der Deutung des Naturzustands als Gefangenendilemma z. B. A. Alexandra, „Should Hobbes’s State of Nature be Represented as a Prisoner’s Dilemma?“. – Alexandras Kritik verbleibt allerdings im Rahmen der spieltheoretischen Hobbes-Deutung. Er vertritt die These, dass der Naturzustand nicht als Gefangenendilemma, sondern als „Assurance Game“ begriffen werden sollte (vgl. ebd., S. 2 u. ö.). Vgl. Kavka, Hobbesian moral and political theory, S. 109. Vgl. J. Nida-Rümelin/Th. Schmidt, Rationalität in der praktischen Philosophie, S. 122. Die Autoren ziehen diese These als eine mögliche Deutung in Erwägung, beurteilen ihre Plausibilität aber mit Zurückhaltung. L, II.17, S. 135. L, I.16, S. 123. Vgl. zu dem überaus wichtigen Begriff der Autorisierung das gesamte 16. Kapitel des Leviathan mit dem Titel „Von Personen, Autoren und der Vertretung von Dingen“. Vgl. L, II.26, S. 205. Vgl. ebd. Hobbes weist darauf hin, dass man das Wesen des Naturzustands „aus der Lebensweise ersehen“ kann, „in die solche Menschen, die früher unter einer friedlichen Regierung gelebt haben, in einem Bürgerkrieg abzusinken pflegen“ (L, I.13, S. 97). Vgl. L, I.11, S. 76 u. I.13, S. 98. Vgl. R. Tuck, Hobbes, S. 92 u. 103. Im Leviathan umfasst sie, wenn man großzügig zählt, nur fünf Kapitel (Kap. 10, 11, 13, 14 und 15). L, I.15, S. 110. Vgl. ebd. VB, 2.11, S. 91. Freilich lässt sich diese Deutung nicht mit der „irritierenden“ Stelle im 14. Kapitel des Leviathan in Einklang bringen, an der es heißt: „Verträge, die im reinen Naturzustand aus Furcht geschlossen worden sind, verpflichten.“ (L, I.14, S. 106) Meiner Meinung nach hätte Hobbes diese These, die unvereinbar mit der von ihm häufig beton-
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Anmerkungen ten Auffassung ist, dass alle natürlichen Gesetze erst im Staat in foro externo gelten, nicht vertreten dürfen. (Vgl. zu dieser „irritierenden“ Unstimmigkeit J. Nida-Rümelin/Th. Schmidt, Rationalität in der praktischen Philosophie, S. 110.) Vgl. A. Zaitchik, „Hobbes’s Reply to the Fool“, S. 401. Vgl. G. S. Kavka, „The Rationality of Rule-Following“, S. 5. Vgl. ebd., S. 8. G. S. Kavka, „Right Reason and Natural Law in Hobbes’s Ethics“, S. 426. Vgl. „The Rationality of Rule-Following“, S. 21f. Vgl. zum „Disaster Avoidance Principle“ G. S. Kavka, „Right Reason and Natural Law in Hobbes’s Ethics“, S. 429f. Vgl. dazu die Formulierung des vierten natürlichen Gesetzes (L, I.15, S. 116). Deshalb hält D. Gauthier Hobbes’ politische Lösung des Problems, wie Vernunft und Moral versöhnt werden könnten, für suboptimal (vgl. Morals by Agreement, S. 164).
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D. Gauthier, „Warum Kontraktualismus?“, S. 189. Vgl. ebd., S. 191. Vgl. ebd., S. 190. „The weakness of traditional contractarian theory has been its inability to show the rationality of compliance.“ (D. Gauthier, Morals by Agreement, S. 15) – Morals by Agreement wird im Folgenden als MA zitiert. Alle Seitenzahlen im Haupttext beziehen sich auf dieses Buch. „Certainly choices reveal preferences: a conception of preference that treated the linkage between preference and choice as merely accidental would be even more evidently inadequate than one that makes preference parasitic on choice.“ (MA, S. 27) Den von Gauthier sicherlich nicht beabsichtigten normativen Konsequenzen der Unterscheidung zwischen der Dimension des Verhaltens und der Dimension der propositionalen Einstellungen geht R. Brandom in seinem Aufsatz „What Do Expressions of Preference Express?“ nach. „[...] value is created or determined through preference. Values are products of our affections.“ (MA, S. 47) Vgl. A. Ripstein, „Preference“, S. 40 u. 43. Vgl. H. Schnädelbach, „Philosophie als Theorie der Rationalität“, S. 50.
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10 „Our concern is to provide a justificatory framework for moral behaviour and principles, not an explanatory framework. Thus we shall develop a normative theory.“ (MA, S. 2) 11 Vgl. dazu J. Broomes Kritik an Gauthiers Annahme, dass Präferenzen bzw. Intentionen rechtfertigende Gründe sind, in „Are Intentions Reasons?“. 12 „[...] as we shall argue, because the world is not a market, morality is a necessary constraint on the interaction of rational persons. Morality arises from market failure.“ (MA, S. 84) 13 „[...] we shall determine the conditions for rational co-operative choice, or rational agreement on an outcome.“ (MA, S. 117) 14 Vgl. zu Rawls’ Idee, dass die Gesellschaft „ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil“ ist, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 105 u. ö. 15 „Relative concession is independent of the choice of utility scale. Each person’s relative concessions are fixed no matter how we choose to measure his utilities.“ (MA, S. 136) 16 „In most cases, minimax relative concession will result in equal relative concessions, but Alvin Roth has demonstrated that this is not always so. What we may show is that, if there is an optimal outcome requiring equal relative concessions from each person, then the principle of minimax relative concession selects that outcome.“ (MA, S. 140) 17 Dies betont Gauthier mehrmals (vgl. z. B. MA, S. 129 u. 151). 18 „The lines of rationality thus converge at the point that preserves the maximizing intent of rational actors free from all particular individuation.“ (MA, S. 256) 19 „[...], Archimedean choice does not itself yield compliance with the social contract. Although each person identifies with the ideal actor’s choice of social principles, he is not thereby rationally committed to personal compliance with those principles. The rationality of compliance, [...] depends on the characteristics and circumstances of the individuals involved in interaction. It is not determinable from the Archimedean point.“(MA, S. 266) 20 „Is not the Foole’s ultimate argument that the truly prudent person, the fully rational utility-maximizer, must seek to appear trustworthy, an upholder of his agreements? For then he will not be excluded from the co-operative arrangements of his fellows, but will be welcomed as a partner, while he awaits opportunities to benefit at their expense – and, preferably, without their knowledge, so that he may retain the guise of constraint and trustworthiness.“ (MA, S. 173)
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Anmerkungen
21 Mir ist noch keine Übersetzung des englischen Begriffs „translucency“ bekannt geworden, die gleichzeitig präzise und stilistisch annehmbar wäre. Deshalb werde ich den Gebrauch des Substantivs vermeiden und das vertretbare Adjektiv „durchscheinend“ verwenden. 22 „We have not supposed that actual moral constraints represent the outcome of real agreement, but we have argued that, if they are to be justified, we must be able to consider them as objects of a hypothetical ex ante agreement, the rationality of which we now recognize ex post.“ (MA, S. 339) 23 Das eheliche Treuegelöbnis entspricht dem Gebot des „promisekeeping“, die Pflicht, dem Käufer wahrhaftig über den Zustand des Gebrauchtwagens Auskunft zu geben, dem Gebot des „truthtelling“ und die Pflicht, die verlorene Brieftasche zurückzugeben, der Pflicht des „fair-dealing“. 24 Vgl. z. B. G. Sayre-McCord, „Deception and reasons to be moral“, S. 185, Fn. 9; D. Copp, „Contractarianism and moral skepticism“, S. 221; H. Smith, „Deriving morality from rationality“, S. 238f. 25 „We want to relate our idealizing assumptions to the real world.“ (MA, S. 174) 26 Vgl. D. Parfit, „Bombs and Coconuts, or Rational Irrationality“, S. 82ff. 27 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 1. 28 Vgl. G. Sayre-McCord, „Deception and reasons to be moral“, S. 192f.; H. Smith, „Deriving morality from rationality“, S. 243; Th. Schmidt, Die Idee des Sozialvertrags, S. 81. 29 „[...] the proviso introduces a rudimentary structure of rights into natural interaction. It converts the predatory natural condition described by Hobbes into the productive natural condition supposed by Locke. But its primary role is to make possible the further structures required for the forms of social interaction, both competitive and co-operative.“ (MA, S. 208) 30 Vgl. MA, Kap. X („The Ring of Gyges“) und Kap. XI („The Liberal Individual“). 31 „Our theory of morality, although it makes use of the idea of economic man, is not committed to that idea as a full and adequate account of human nature. Economic man remains a caricature, albeit a useful one for both explanatory and normative purposes.“ (MA, S. 317) „[...] we should realize how alien economic man is from our real selves.“ (MA, S. 325) 32 Vgl. z. B. MA, S. 324, 342f., 346. 33 „Here we emphasize the self-critical dimension of practical rationality, since this seems lacking from the crude conception of merely economic rationality.“ (MA, S. 346)
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Kapitel 4 1
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Stemmers Schriften werden nach folgenden Kurztiteln zitiert: Handeln = Handeln zugunsten anderer (2000); Pflicht = „Der Begriff der moralischen Pflicht“ (2001); Kontraktualismus = „Moralischer Kontraktualismus“ (2002); Rechtfertigung = „Die Rechtfertigung moralischer Normen“ (2004). Alle im Haupttext in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf Handeln. Auch A. Leist hat in seiner Kritik an Stemmer darauf hingewiesen, dass es innerhalb der Hume’schen Auffassung der Wünsche unmöglich ist, rationale Wünsche auszuzeichnen (vgl. „Moralische Skepsis, instrumentelle Vernunft und öffentliche Moral“, S. 106f.). Stemmer rückt übrigens selbst im Verlauf seiner Untersuchung von der voluntaristischen Konzeption praktischer Vernunft ab, indem er den Begriff des Wunsches durch den des basalen Interesses ersetzt (vgl. Handeln, § 7). Dies führt zu einer beträchtlichen Modifikation seiner Theorie, die von ihm in ihrer Tragweite nicht gebührend gewürdigt wird. Die Wünsche einer Person stimmen nämlich bekanntlich nicht immer mit dem überein, was in ihrem Interesse ist. Folglich muss man sich in der Ethik zwischen der Berufung auf Wünsche und der auf Interessen entscheiden. (Darauf gehe ich unten in Abschnitt 7, S. 147f., näher ein.) In Kapitel 8 werde ich im Anschluss an Bernard Gert den Begriff der rational erlaubten Handlung und seine Bedeutung für die Beantwortung der V-Frage ausführlich erläutern. Fraglich ist, ob es eine strikte Korrelation zwischen Pflichten und Rechten gibt. In der Ethik findet sich auch die Gegenposition, dass es zumindest einige Pflichten gibt, denen keine Rechte entsprechen, beispielsweise indirekte Pflichten gegenüber Verstorbenen oder Tieren. Diesen fiktiven Zustand, dessen Annahme nur eine heuristische Funktion hat, bezeichnet Stemmer manchmal als „vormoralischen Zustand“ (vgl. z. B. Handeln, S. 92–99) und manchmal im Anschluss an die Tradition als „Naturzustand“ (vgl. z. B. Kontraktualismus, S. 6f.; Pflicht, S. 490f.). Vgl. Rechtfertigung, S. 491. Allerdings folgt Stemmer zufolge aus der Tatsache, dass Säuglinge und ähnlich schwache Menschen moralisch rechtlos sind, nicht, dass sie auch moralisch schutzlos sind. Die annähernd gleich Starken können sich nämlich aufgrund ihrer Interessen dazu verpflichten, den Schwachen bestimmte Dinge nicht anzutun (vgl. Handeln, S. 276ff.).
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Anmerkungen „Die kontraktualistische Moral ist eine Moral zwischen gleich Starken; und deshalb kennt sie nicht das moralische ‚Muß’, zugunsten des Schwächeren zu handeln.“ (Handeln, S. 292) „Ein Müssen konstituiert sich durch eine negative Konsequenz im Falle des Anders-Handelns. [...] Die Unausweichlichkeit der negativen Konsequenzen konstituiert das Müssen.“ (Handeln, S. 91) Z. B. dann, wenn einer von zwei Partnern seine Leistung früher als der andere erbringen muss. Vgl. zu den Gründen der Instabilität der Kooperationsstrukturen im vormoralischen Zustand Handeln, S. 95– 99. Vgl. Handeln, S. 99f. Vgl. Kapitel 2. Vgl. z. B. P. Schaber, „Die Pflichten des Skeptikers“, S. 203. Aus demselben Grund hat G. Seebaß Stemmers „explikativen Sanktionismus“ kritisiert: „Daß jemand eine bestimmte Handlung tun soll oder zu ihr verpflichtet ist, heißt hier nichts anderes, als daß ihre Unterlassung negative Sanktionen nach sich zieht bzw. ihre Ausführung positive.“ („Die sanktionistische Theorie des Sollens“, S. 165) Diese Angleichung moralischer Sanktionen an „Kaufpreise“, d. h. in Kauf zu nehmende negative Folgen, sei aber kontraintuitiv, weil sie den Unterschied zwischen normativ und anders begründeten Freiheitsbeschränkungen nivelliere (vgl. ebd., S. 178). Vgl. H. Steinfaths Kritik an Stemmer: Da die Moral Ausdruck eines gemeinsamen „Wir-Verständnisses“ sei, seien Sanktionstheorien der Moral falsch (vgl. „Wir und ich“, S. 94f.). Auch U. Wolfs Einwand gegen Tugendhat lässt sich auf Stemmers Ethik beziehen: Wer von der Berechtigung einer moralischen Norm überzeugt sei, für den sei die Norm selbst, nicht erst das Vermeidenwollen der Sanktion ein Handlungsgrund (Vgl. Das Problem des moralischen Sollens, S. 31.) Vgl. z. B. A. Leist: „Nun ist unser alltäglicher Begriff des moralischen Sollens sicher nicht gleichbedeutend mit einem Sollen, das dem Egoisten gegenüber rational zwingend ist – im Gegenteil dürften wir meist der Meinung sein, daß gerade das Gegenteil der Fall ist. Die Moral soll nach üblichem Verständnis den Egoismus korrigieren, nicht ihn bedienen.“ („Einleitung“, S. 30). Vgl. Handeln, S. 192f. u. ö. Kontraktualismus, S. 17. Vgl. Handeln, S. 21. Vgl. Th. Bronisch, Der Suizid, S. 24. Vgl. z. B. zur Kritik an der These, dass alle Suizidenten geisteskrank seien, v. Verf., Selbsttötung als philosophisches Problem, S. 18ff. u. 113–119.
Anmerkungen
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22 Dies versteht sich allerdings nicht von selbst. Beispielsweise kann man mit guten Gründen dafür argumentieren, dass u. U. andere Güter, wie Gerechtigkeit oder Ruhm, wichtiger als die Selbsterhaltung sind (vgl. P. Rinderle, „Pflichten, Interessen und Sanktionen“, S. 337f.). 23 „Ich werde im folgenden die Ausdrücke ‚Wünsche‘, ‚Wollen‘, ‚Interessen‘, ‚Präferenzen‘ trotz ihrer in anderen Kontexten wichtigen Unterschiede unterschiedslos verwenden, weil es in der jetzigen Diskussion auf ihre Differenzen nicht ankommt.“ (Handeln, S. 20, Fn. 4) 24 Es ist bezeichnend für diese Tendenz, dass Stemmer die Liste der basalen Interessen mit Rekurs auf die antike „Dreiteilung der Güter in Güter der Seele, Güter des Körpers und äußere Güter“ einführt (Handeln, S. 196 – Hervorhebung v. mir). 25 Zur Erinnerung: „Die Wünsche sind [...] das, woran sich entscheidet, was zu tun vernünftig ist.“ (Handeln, S. 21) Auf den „fundamentalen Widerspruch“ zwischen Stemmers voluntaristischem Begriff der Vernunft und der Annahme basaler Interessen hat auch P. Rinderle hingewiesen (Vgl. „Pflichten, Interessen und Sanktionen“, S. 338). 26 Das tut Stemmer offenbar auch selbst in einer späteren Veröffentlichung: „Wie bereits gesagt, liegt, wenn klar ist, was die Interessen und Ideale einer Person sind, unabhängig vom Urteil dieser Person fest, ob eine Regelung für sie vernünftig ist oder nicht.“ (Pflicht, S. 851 – Hervorh. v. mir) 27 Wenn mein Eindruck nicht trügt, dann stützt sich Stemmer selbst in den nach Handeln veröffentlichten Aufsätzen zunehmend auf die Annahme bestimmter Interessen. Der Begriff des Wunsches spielt in ihnen kaum noch eine Rolle. 28 „Das Verhältnis der Macht bestimmt das Verhältnis der Verteilung.“ (Handeln, S. 222) 29 Zumindest inhaltlich ist Stemmer also ein Anhänger Lockes, nicht Hobbes’. 30 „Wenn es zur Empörung gehört, einen Schuldvorwurf zu enthalten, bietet die kontraktualistische Moral keine Basis für diese Emotion.“ (Handeln, S. 139) 31 Vgl. P. Rinderle, „Pflichten, Interessen und Sanktionen“, S. 333. 32 Damit soll natürlich nicht bestritten werden, dass es in kleinen, überschaubaren Gemeinschaften möglich ist, einzelne Menschen moralisch zu ächten. Die Geschichte kennt dafür viele Beispiele. 33 Vgl. Kapitel 2. 34 Vgl. P. Schaber, „Die Pflichten des Skeptikers“, S. 206. 35 Vgl. die bereits zitierte Stelle: „Wenn dem, der in Situationen des Unbeobachtetseins moralwidrig handelt, aber keine Sanktionen dro-
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Anmerkungen
hen, gibt es in diesen Situationen kein moralisches Müssen. Die moralischen Sanktionen nötigen einen hier nicht, zugunsten anderer zu handeln.“ (Handeln, S. 162) – N. Roughley hat darauf hingewiesen, dass diese Schlussfolgerung nicht mit dem geläufigen Verständnis moralischer Forderungen übereinstimmt: Wenn Stemmer Recht hätte, könnte von „dürfen“ und „sollen“ nur mit Bezug auf Situationen gesprochen werden, in denen Sanktionen drohen (vgl. „Normbegriff und Normbegründung im moralphilosophischen Kontraktualismus“, S. 228). 36 Auch P. Schaber weist darauf hin, dass die Annahme innerer Sanktionen nicht zu Stemmers Voraussetzungen passt (vgl. „Die Pflichten des Skeptikers“, S. 206). 37 Vgl. Kapitel 3.
Zusammenfassung zu Teil I 1 2
G. S. Kavka, „Das Versöhnungsprojekt“, S. 157. Vgl. K. Nielsen, „Noch einmal“, S. 238.
Kapitel 5 1
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Dies ist zumindest eine mögliche Interpretation, die z. B. von Thomas E. Hill in Bezug auf den Dritten Abschnitt der Grundlegung vertreten wird (vgl. „Kant’s Argument for the Rationality of Moral Conduct“, S. 253). Vgl. Patons Diktum über Kants Prinzip der Moral: „Seine Formeln können völlig stichhaltig sein, auch wenn seine Anwendung völlig falsch wäre.“ (Der kategorische Imperativ, S. 155) Vgl. MST, 6, 422ff. (Selbsttötung), 6, 424ff. (Selbstbefriedigung) und 6, 444f. (Entwicklung der eigenen Talente). – Kants Schriften werden nach folgenden Siglen zitiert: GMS = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, KpV = Kritik der praktischen Vernunft, MSR = Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, MST = Metaphysik der Sitten. Tugendlehre, Religion = Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft. Alle Seitenangaben beziehen sich auf die Akademie-Ausgabe; dabei bezeichnet die erste Ziffer den Band, die zweite die Seite. Vgl. dazu und zum Folgenden v. Verf., „Über einige Voraussetzungen und Ergebnisse der Ethik Kants“.
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Vgl. GMS, 4, 393ff. (zum Begriff des uneingeschränkt guten Willens) u. 397ff. (zum Begriff der Pflicht). Vgl. GMS, 4, 392. – Vgl. zum Programm der Exposition, Reduktion und Deduktion des Prinzips der Moral v. Verf., „Über einige Voraussetzungen und Ergebnisse der Ethik Kants“, S. 29. Vgl. GMS, 4, 389. Kant unterscheidet „die Allgemeinheit des Princips (universalitas)“ der Moral, d. h. dessen ausnahmslose Geltung, von der „bloße(n) Gemeingültigkeit (generalitas)“ anderer Prinzipien, die Ausnahmen zulässt (vgl. GMS, 4, 424). Kant scheint dem Unterschied keine Bedeutung beizumessen, denn er nennt beide Arten der Unbedingtheit in einem Atemzug, ohne ihrer Verschiedenheit Beachtung zu schenken. Er sagt über das Sittengesetz, „daß es nicht bloß für Menschen, sondern alle vernünftige Wesen überhaupt, nicht bloß unter zufälligen Bedingungen und mit Ausnahmen, sondern schlechterdings nothwendig gelten müsse“ (GMS, 4, 408). Dies wird z. B. an folgender Stelle deutlich: „Allein mit den Sittengesetzen ist es anders bewandt [als mit den allgemeinsten Naturgesetzen – H.W.]. Nur sofern sie als a priori und nothwendig eingesehen werden können, gelten sie als Gesetze, [...].“ (MST, 6, 215) Dass Kant hier im Plural von den Sittengesetzen spricht, bedeutet nicht, dass es mehrere Prinzipien der Moral gibt; vielmehr bezeichnet der Begriff hier die einzelnen Normen, die mit dem Prinzip der Moral übereinstimmen. Dies betont Kant an zahlreichen Stellen. Er warnt z. B. davor, „daß man es sich ja nicht in den Sinn kommen lasse, die Realität dieses Princips [des Prinzips der Moral – H. W.] aus der besonderen Eigenschaft der menschlichen Natur ableiten zu wollen. Denn Pflicht soll praktisch-unbedingte Nothwendigkeit der Handlung sein; sie muß also für alle vernünftige Wesen (auf die nur überall ein Imperativ treffen kann) gelten und allein darum auch für allen menschlichen Willen ein Gesetz sein.“ (GMS, 4, 425) „[...] eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.“ (MSR, „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“, 6, 217) Freilich sind alle wirklichen Zwecke auch möglich. (Dies ergibt sich aus dem modallogischen Grundsatz, dass aus der Wirklichkeit die Möglichkeit folgt.) Deshalb besteht zwischen den Mengen der möglichen und der wirklichen Zwecke bzw. der ihnen entsprechenden problematischen und assertorischen Imperative nicht – wie Kant suggeriert – ein disjunktives, sondern ein inklusives Verhältnis: Die
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Anmerkungen Menge der assertorischen Imperative ist eine (leere) echte Teilmenge der problematischen Imperative. Vgl. GMS, 4, 415. Kant bezeichnet die problematischen Imperative auch als „Imperative der Geschicklichkeit“ (vgl. ebd.) und als „technische Imperative“ (vgl. ebd., 4, 415f.). Kant zufolge dürfen die den problematischen und assertorischen Imperativen entsprechenden Regeln nicht als Gesetze, sondern nur als „Principien“ bezeichnet werden, weil sie nur kontingenterweise, aber nicht notwendigerweise gelten (vgl. GMS, 4, 420). Vgl. GMS, 4, 415. Assertorische Imperative werden von Kant auch als „Rathschläge der Klugheit“ (vgl. ebd., 4, 416) und als „pragmatische Imperative“ bezeichnet (vgl. ebd., 4, 417). Vgl. z. B. GMS, 4, 415f. GMS, 4, 418. Da „Allwissenheit erforderlich sein würde“, um zu bestimmen, was einen Menschen „wahrhaft glücklich machen werde“, sei „die Aufgabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche Handlung die Glückseligkeit befördern werde, völlig unauflöslich, mithin kein Imperativ in Ansehung derselben möglich, [...], der im strengen Sinne geböte, das zu thun, was glücklich macht“ (GMS, 4, 418). Vgl. MSR, „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“, 6, 215f. „Also ist der Imperativ, der sich auf die Wahl der Mittel zur eigenen Glückseligkeit bezieht, d. i. die Vorschrift der Klugheit, noch immer hypothetisch; die Handlung wird nicht schlechthin, sondern nur als Mittel zu einer andern Absicht geboten.“ (GMS, 4, 416) GMS, 4, 402. Vgl. KpV, 5, 27: „Nun bleibt von einem Gesetze, wenn man alle Materie, d. i. jeden Gegenstand des Willens, (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung.“ Vgl. auch MSR, 6, 214. In den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 heißt es: „Derjenigen unter den Menschen, die nach Grundsätzen verfahren, sind nur sehr wenige, [...].“ (2, 227) An dieser Auffassung hält Kant auch später fest. Z. B. schreibt er in der Anthropologie, dass der „Charakter“, d. h. „diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subject sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat“, eine „Seltenheit“ sei (7, 292). So hat z. B. Paton die These vertreten, dass es neben den „materialen Maximen“, auf deren Analyse ich mich beschränke, die „formale Maxime“ gibt: „Ich will dem allgemeinen Gesetz an sich gehorchen.“ (Der kategorische Imperativ, S. 160) M. E. sollte dieser Vorsatz eher als moralische Gesinnung bezeichnet werden. Doch unabhängig
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von dem Streit um Worte ist entscheidend, dass die von Paton angeführte „formale Maxime“, da sie ja die Gesetzestauglichkeit bereits zum Inhalt hat, im Unterschied zu materialen Maximen nicht mehr auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin geprüft werden muss. – J. Timmermann unterscheidet „Maximen als die Prinzipien erster Stufe von Handlungen“, „Maximen höherer Stufe“ und „Maximen als feste Grundsätze“ (vgl. Sittengesetz und Freiheit, S. 149–154). Beispiele für Maximen als „feste Grundsätze“ sind die Maxime, „keine Beleidigung ungerächt zu erdulden“ (KpV, 5, 19), und der Grundsatz, sein „Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern“ (KpV, 5, 27). Im Unterschied zum „bloße(n) Wunsch“, der nicht notwendigerweise handlungswirksam wird, ist der Wille „die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind“ (GMS, 4, 394). „A maxim is [...] an ordered triplet consisting of a type of circumstances S, a type of conduct C, and a type of material end E: M = < S, C, E>.“ (Th. W. Pogge, „The Categorical Imperative“, S. 189) – „Eine Maxime schließt einen Zweck ein, um dessentwillen ich in einer Situation eines bestimmten Typs eine Handlung einer bestimmten Art ausführen will.“ (J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 151) – Diese Definitionen gelten nur für Maximen erster Stufe; Maximen als feste Grundsätze (vgl. Anm. 23) fallen nicht unter sie. Diese müssen hier nicht berücksichtigt werden (s. o.). Vgl. O. O’Neill, „Consistency in action“, S. 96. Vgl. M. Albrecht, „Kants Maximenethik“, S. 135. MSR, „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“, 6, 225. Vgl. A. Esser, Eine Ethik für Endliche, S. 279, 288 u. ö.; O. O’Neill, „Consistency in action“, S. 84f. Vgl. O. O’Neill, „Consistency in action“, S. 85. R. Bittner, „Maximen“, S. 489; vgl. O. Höffe, Immanuel Kant, S. 188. Vgl. ebd. – Selbstverständlich bestreite ich nicht, dass Maximen Lebensregeln, die mehrere Handlungen umfassen, sein können. Ich behaupte nur, dass der Bezug auf das ganze Leben und mehrere mögliche Handlungen nicht konstitutiv für Maximen ist. Vgl. H. J. Paton, Der kategorische Imperativ, S. 159f. Vgl. z. B. O. Höffe, Immanuel Kant, S. 186ff.; M. Albrecht, „Kants Maximenethik“, S. 129. MST, „Einleitung“, 6, 388. Vgl. GMS, 4, 412f.; MSR, „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“, 6, 221. „Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte,
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Anmerkungen weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz nothwendig übereinstimmig ist.“ (GMS, 4, 414) Vgl. MSR, 6, 222. Vgl. z. B. Paton, Der kategorische Imperativ, S. 152f.; D. Schönecker/A. Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 123ff. Vgl. GMS, 4, 421. Die Tugendlehre ist deshalb nicht mit der These vereinbar, dass es sich bei Kants Moralphilosophie um eine Maximen-Ethik handelt, weil Kant in ihr moralische Normen zu begründen versucht, die sich nicht auf Maximen, sondern unmittelbar auf Handlungsweisen beziehen. So wird beispielsweise der Suizid als solcher, unabhängig von den Motiven und den Maximen der Lebensmüden, moralisch verurteilt: „Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen (Mord).“ (MST, § 6, 422) Entsprechendes gilt für die Lüge (vgl. 6, 429f.). GMS, 4, 429. Vgl. J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 175. – M. Albrechts These, dass „Kant den kategorischen Imperativ jedesmal ausschließlich auf Maximen“ bezieht („Kants Maximenethik“, S. 129), ist also offensichtlich falsch. GMS, 4, 436. Daneben kann „Autonomie“ auch den Akt der Selbstgesetzgebung sowie diese Selbstgesetzgebung bezeichnen. MSR, Einleitung, § D, 6, 231. Vgl. Ch. Schnoor, Kants kategorischer Imperativ als Kriterium der Richtigkeit des Handelns, S. 59f. Vernünftige Wesen werden „Personen“ genannt, „weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet“ (GMS, 4, 428). Vgl. GMS, 4, 428. KpV, 5, 73. „Kant hat [...] nie eine echte Werttheorie entwickelt. Er sagt weder, was genau Werte im ethischen Kontext sind, noch, wie wir solche Werte erkennen. Er begründet daher auch überhaupt nicht, warum es autonome Vernunftwesen sind, die absoluten Wert (Würde) besitzen.“ (D. Schönecker/A. Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 145) Bereits Schopenhauer wies in seiner Kritik an Kant zu Recht darauf hin, dass der Begriff des absoluten Werts unverständlich ist, weil alle Werte relativ, d. h. wertvoll für wertende Subjekte, und komparativ, d. h. auf andere Werte bezogen sind (vgl. A. Schopenhauer, „Preisschrift über die Grundlage der Moral“, S. 518). Vgl. dazu v. Verf., „Kants Begründung der Würde des Menschen“, S. 53f.
Anmerkungen
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52 Es hat sich deshalb im Anschluss an Patons Klassifikation der verschiedenen Formeln des kategorischen Imperativs eingebürgert, sie als Formel Ia, d. h. als Unterformel der Gesetzes-Formel zu bezeichnen (vgl. H. J. Paton, Der kategorische Imperativ, S. 152). 53 Vgl. GMS, 4, 436. 54 Vgl. KpV, § 7, 5, 30; MSR, „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“, 6, 225; MST, „Einleitung“, 6, 389 u. 395. 55 Außerdem beruht die Typik der reinen praktischen Vernunft auf der vermeintlichen Analogie zwischen Naturgesetzen und Gesetzen der Freiheit (vgl. KpV, 5, 67–71). 56 Vgl. v. Verf., Selbsttötung als philosophisches Problem, S. 125ff.; „Über Kants Verbot der Selbsttötung“, S. 193–198. 57 Vgl. R. Wimmers zutreffende Beobachtung, dass „eine widersprüchliche Natur nach Kant selbst ein Unbegriff ist“ („Die Doppelfunktion des Kategorischen Imperativs“, S. 310). 58 Zu diesem Schluss gelangt auch Paton: „In der Tat können wir ganz allgemein sagen, daß jeder Versuch, das Kausalgesetz der Natur zu einem Prüfstein für das moralische Gesetz zu machen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.“ (Der kategorische Imperativ, S. 177) Allerdings vertritt er die Auffassung, dass die Naturgesetz-Formel brauchbar sei, wenn man den ihr enthaltenen Begriff des Naturgesetzes als „teleologisches Naturgesetz“ auffasse (vgl. ebd., S. 177ff.). Ich werde mich mit dieser These am Ende dieses Abschnitts beschäftigen. 59 Vgl. GMS, 4, 424. 60 Ich habe andernorts alle Argumente Kants für das moralische Suizidverbot ausführlich analysiert und kritisiert (vgl. v. Verf., „Über Kants Verbot der Selbsttötung“). 61 Vgl. D. Birnbacher, „Selbstmord und Selbstmordverhütung aus ethischer Sicht“, S. 402. 62 Vgl. Ch. Schnoor, Kants kategorischer Imperativ als Kriterium der Richtigkeit des Handelns, S. 125. 63 Den gleichen Fehler wie Höffe begeht z. B. H. Schöndorf (vgl. „,Denken-Können’ und ‚Wollen-Können‘ in Kants Beispielen für den kategorischen Imperativ“, S. 556f.) 64 Diesen Nachweis hoffe ich an anderer Stelle in aller Ausführlichkeit erbracht zu haben (vgl. v. Verf., Selbsttötung als philosophisches Problem und „Über Kants Verbot der Selbsttötung“). 65 Vgl. O. Höffe, „Kants nichtempirische Verallgemeinerung“, S. 230. 66 Vgl. zur Kritik an dieser Auffassung v. Verf., Selbsttötung als philosophisches Problem, S. 160–165.
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Anmerkungen
67 Vgl. ebd., S. 154–160 – dort finden sich auch Hinweise auf die einschlägigen Belegstellen bei Kant. Vgl. auch J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 76. 68 MSR, 6, 225 – fett v. mir. 69 Vgl. Th. Pogge, „The Categorical Imperative“, S. 190f. 70 GMS, 4, 403, fett v. mir. 71 Kant verfährt übrigens an dieser Stelle inkonsequent, weil er hier die Anwendung der Naturgesetz-Formel demonstrieren will, aber die Formel des Allgemeinen Gesetzes zugrunde legt. Laut der NaturgesetzFormel wäre zu fragen, ob es sich widerspruchsfrei denken lässt, dass tatsächlich nur noch falsche Versprechen gegeben würden. Diese Inkonsequenz gereicht Kants Argumentation jedoch nicht zum Nachteil, denn die Naturgesetz-Formel ist – wie oben nachgewiesen – ohnehin als Grundsatz der Moral unbrauchbar. 72 Z. B. spricht N. Hoerster von einem „pragmatischen Widerspruch“ (vgl. „Kants kategorischer Imperativ als Test unserer sittlichen Pflichten“, S. 470) und Ch. Korsgaard von einer „practical contradiction“ (vgl. „Kant’s Formula of Universal Law“, S. 92f.); W. Kersting hingegen hält es für angemessener, den Widerspruch als einen „logischen im Willen“ zu bezeichnen (vgl. „Der kategorische Imperativ, die vollkommenen und die unvollkommenen Pflichten“, S. 410f.). 73 Vgl. Ch. Korsgaard, „Kant’s Formula of Universal Law“, S. 92. 74 „On the practical Contradiction Interpretation, the contradiction arises because the agent wills to engage in a conventional action, but he also wills a state of affairs in which the action will no longer work.“ (Ebd., S. 97) 75 Vgl. Ch.Korsgaard, „Kant’s Formula of Universal Law“, S. 84ff. u. 97ff. 76 Vgl. W. Kersting, „Der kategorische Imperativ, die vollkommenen und die unvollkommenen Pflichten“, S. 414. 77 Vgl. N. Hoerster, Ethik und Interesse, Kap. 2: „Die Funktion von Normen“. 78 KpV, 5, 3. 79 So geht J. Habermas bei seiner an Kant anknüpfenden Unterscheidung zwischen pragmatischer, ethischer und moralischer Vernunft vor (vgl. „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft“). 80 Vgl. dazu Kapitel 8. 81 „Menschen handeln [...] vernünftig und frei, wenn sie so handeln, wie sie handeln sollen, dieses Sollen mag ihnen in der Form von kategorischen oder hypothetischen Imperativen entgegentreten.“ (J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 105)
Anmerkungen
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82 Vgl. die Interpretation von J. Timmermann: „Wer im [...] Konfliktfall moralisch handelt, handelt vernünftig, wer seinen momentanen Neigungen nachgibt oder sein langfristiges Eigeninteresse befördert, das ex hypothesi hier der Moral widerspricht, handelt unvernünftig.“ (Sittengesetz und Freiheit, S. 106f.)
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W. Kuhlmann, „Begründungsprobleme in der Diskursethik“, S. 11. Vgl. z. B. K.-O. Apel, „Diskursethik als Antwort auf die Situation des Menschen in der Gegenwart“, S. 51–60; W. Kuhlmann, „Reflexive Letztbegründung“, S. 15–22. Vgl. J. Habermas, „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“, S. 107. Vgl. zum Unterschied zwischen Universal- und Transzendentalpragmatik auch ders., „Was heißt Universalpragmatik?“, S. 379–385. Vgl. für die konservative Kritik O. Marquard, „Das Über-Wir“, und für die gesellschaftskritische Auseinandersetzung die Beiträge in dem von G. Bolte herausgegebenen Band Unkritische Theorie. Vgl. für die Sicht des Kritischen Rationalismus z. B. H. Albert, „Münchhausen oder der Zauber der Reflexion“, für eine durch Peirce inspirierte Kritik G. Schönrich, Bei Gelegenheit Diskurs. Vgl. z. B. W. Kuhlmann, „Rationalität und Reflexion“, S. 82f. Vgl. zu dieser Unterscheidung zweier Arten des Wissens bzw. Könnens Gilbert Ryles klassischen Aufsatz „Knowing How and Knowing That“. Vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 13ff.; zur Kritik an der Transzendentalpragmatik vgl. ders., „Münchhausen oder der Zauber der Reflexion“. Vgl. z. B. K.-O. Apel, „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik“, S. 406ff.; ders., „Diskursethik als Antwort auf die Situation des Menschen in der Gegenwart“, S. 52f.; ders., „Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik“, v. a. S. 39–52; W. Kuhlmann, „Reflexive Letztbegründung“, S. 5f. Vgl. W. Kuhlmann, „Reflexive Letztbegründung“, S. 6. Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 8. Vgl. zu diesem Argument das Ende der Ersten und den Beginn der Zweiten Meditation (R. Descartes, Meditationen über die Erste Philosophie, S. 73–79).
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Anmerkungen
14 Vgl. zur Rezeption der Searle’schen Sprechakttheorie durch die Diskursethik z. B. K.-O. Apel, „Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen“; J. Habermas, „Was heißt Universalpragmatik?“, v. a. S. 385–436. 15 Vgl. J. Searle, Sprechakte, S. 30. 16 Vgl. ebd., S. 40. 17 K.-H. Ilting hat die Präsuppositionen der Argumentation deshalb in kritischer Absicht als „problematisch-hypothetische Imperative“ bezeichnet (vgl. „Der Geltungsgrund moralischer Normen“, S. 626). 18 M. Kettner hat darauf hingewiesen, dass Äußerungen, die performativ widersprüchlich erscheinen, nicht notwendigerweise Versuche eines Diskursbeitrags sein müssen (vgl. „Ansatz zu einer Taxonomie performativer Selbstwidersprüche“, S. 209). 19 W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, S. 182. 20 Vgl. ebd., S. 193f. 21 Ebd., S. 185. 22 W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, S. 189. 23 Ebd. 24 In einer Fußnote behauptet Kuhlmann zwar, dass für die „Erläuterung der Explikation von N 1 durch N 2 der Rekurs auf eine derartige Wahrheitstheorie [gemeint ist die von ihm vertretene Konsenstheorie der Wahrheit – H. W.] nicht erforderlich ist“ (Reflexive Letztbegründung, S. 190, Fn. 11); aus den im Haupttext angeführten Gründen halte ich diese Aussage jedoch für unplausibel. 25 W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, S. 189. 26 E. Tugendhat hat in seiner Kritik an der Diskursethik zu Recht darauf hingewiesen, dass die Vertreter der Konsens-Theorie der Wahrheit ein Kriterium für den qualifizierten Konsens benötigen, das nicht wiederum in einem Konsens bestehen kann (vgl. Vorlesungen über Ethik, S. 163). 27 „Das Faktum des Konsenses, selbst wenn er unter idealen Bedingungen einträte, kann kein Grund für die Wahrheit des für wahr Gehaltenen sein.“ (A. Wellmer, „Zur Kritik der Diskursethik“, S. 72) Auch Ch. Lumer hat darauf hingewiesen, dass der Konsens bestenfalls ein Indiz, aber kein Kriterium für die Wahrheit von Aussagen oder die Richtigkeit von Normen sein kann (vgl. „Habermas’ Diskursethik“, S. 61). 28 W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, S. 197. 29 Ebd., S. 198. 30 Ebd., S. 198. 31 Auch U. Steinhoff hat die These vertreten, dass die Befolgung der Diskursregeln nicht „schlechthin rational“ ist, sondern dass es sich
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bei ihnen um „hypothetische Imperative“ handelt (vgl. Kritik der kommunikativen Rationalität, S. 67ff.). Apel behauptet: „[...] alle pragmatischen Beschränkungen des Apriori der prinzipiellen Gleichberechtigung aller Diskursmitglieder und der prinzipiell unbegrenzten Thematisierbarkeit menschlicher Lebensinteressen im Diskurs bedürfen ja selbst noch einer Rechtfertigung, die im Prinzip die Konsensfähigkeit der Gründe für alle Betroffenen voraussetzt [...].“ („Läßt sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationalität unterscheiden?“, S. 61) Wenn damit gemeint sein soll, dass alle pragmatischen Beschränkungen des Diskurses der faktischen Zustimmung aller Betroffenen bedürfen, dann liefe das darauf hinaus, dass bestimmte Diskurse nicht die Funktion erfüllen könnten, für die sie bestimmt sind. Wenn allerdings die Einschränkung „im Prinzip“ andeuten soll, dass die Zustimmung aller nur erforderlich ist, sofern diese einsichtig und vernünftig sind, dann ist für die Berechtigung der pragmatischen Beschränkungen nicht der Konsens, sondern die Sachdienlichkeit maßgeblich. Apel zufolge müssen „wir [...] mit jedem universalen Geltungsanspruch – z. B. mit einem Wahrheitsanspruch – die Möglichkeit eines Konsensus in einer idealen, unbegrenzten Diskursgemeinschaft unterstellen“ („Diskursethik als Antwort auf die Situation des Menschen in der Gegenwart“, S. 57). Vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 392–399. Vgl. W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, S. 194. Vgl. ebd., S. 204. Darauf weist Kuhlmann selbst hin: „[...] es ist auch richtig, daß mit der Verpflichtung, diese vergleichsweise sehr harmlosen Konfliktsfälle, die ja nur Geschäftsordnungsfragen des theoretischen Diskurses betreffen, konsensuell aufzulösen, die eigentlich interessanten Probleme der Ethik, die viel weniger harmlos sind, noch gar nicht erreicht werden.“ (Reflexive Letztbegründung, S. 204) Vgl. ebd., S. 207; W. Kuhlmann, „Begründungsprobleme in der Diskursethik“, S. 33ff. Vgl. Reflexive Letztbegründung, S. 222. Vgl. dazu v. a. K.-O. Apel, „Rationalitätskriterien und Rationalitätstypen“; ders., „Das Problem einer philosophischen Theorie der Rationalitätstypen“; ders., „Läßt sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationalität unterscheiden?“; J. Habermas, „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft“. Vgl. zur an Kant anknüpfenden Rede vom „eigentlichen Wollen“: Reflexive Letztbegründung, S. 185; „Motivation in der Diskursethik“,
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Anmerkungen S. 121. –Vgl. zur Kritik an der diskursethischen Erklärung unmoralischer Handlungen (des „Bösen“) G. Schönrich, Bei Gelegenheit Diskurs, S. 134–141. Apel räumt dies übrigens ausdrücklich ein: „Freie Anerkennung durch menschliche Subjekte ist nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung der moralischen Geltung von Normen.“ („Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“, S. 415) Wenn man Harry Frankfurts Stufentheorie der Wünsche und Volitionen zugrunde legt, lässt sich dieser Fall so beschreiben: Die Person hatte auf der ersten Stufe den handlungswirksamen Wunsch, d. h. den Willen, X zu tun; auf der zweiten Stufe hatte sie hingegen die unwirksame Volition, dass der Wunsch erster Stufe, X zu tun, nicht handlungswirksam werde. Unter dieser Beschreibung hatte die Person nicht zwei Willen, sondern einen Willen und den unwirksamen Wunsch zweiter Stufe, einen anderen Willen zu haben (vgl. H. Frankfurt, „Freedom of the will and the concept of a person“). Sie sind es deshalb nicht, weil Menschen nicht alles, was sie tun können, auch angemessen beschreiben können. Ein einschlägiges Beispiel dafür sind die Äußerungen von Profifußballern, die nach dem Spiel gefragt werden, wie sie die Tore erzielt haben. Ausnahmen bestätigen hier wie immer die Regel. Unter bestimmten Umständen können auch nicht-sprachliche Handlungen als Argumente eingesetzt werden. Wenn der Kyniker Diogenes demonstrativ vor den eleatischen Philosophen auf und ab geht, um ihre These zu widerlegen, dass Bewegung unmöglich ist, dann lässt sich sein Handeln durchaus als Argument auffassen (vgl. Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, 6, 39, S. 267), aber dieser Ausnahmefall kann nicht verallgemeinert werden. Vgl. dazu Apels These, „daß schon das intersubjektiv gültige Denken als sprachgebundenes die Struktur des Diskurses hat“ („Läßt sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationalität unterscheiden?“, S. 61). Die diesem Gedanken zugrunde liegende Konsens-Theorie der Wahrheit habe ich bereits kritisiert (vgl. Abschnitt 1.5, S. 241ff.). Vgl. zur Kritik am Egalitarismus z. B. den von A. Krebs herausgegebenen Band Gleichheit oder Gerechtigkeit. Vgl. J. Habermas, „Diskursethik“, S. 93–108. Vgl. „Erläuterungen zur Diskursethik“, S. 135. J. Habermas, „Diskursethik“, S. 96. Vgl. ebd., S. 97. Ebd. Ebd., S. 98.
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Ebd. Ebd. Ebd., S. 99. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 102. Vgl. zur Rede von der „Unausweichlichkeit“ der Argumentationsvoraussetzungen „Diskursethik“, S. 99. – Wie bereits angedeutet, hält Habermas im Unterschied zu Apel und Kuhlmann eine Letztbegründung für unmöglich. Dies begründet er so: „Der Nachweis performativer Widersprüche eignet sich zur Identifizierung von Regeln, ohne die das Argumentationsspiel nicht funktioniert: wenn man überhaupt argumentieren will, gibt es für sie keine Äquivalente. Damit wird die Alternativenlosigkeit dieser Regeln für die Argumentationspraxis bewiesen, ohne daß diese selbst aber begründet würde.“ (Ebd., S. 105) Die Begründung der Argumentationspraxis könne aber grundsätzlich nicht infallibel sein, denn: „Die Gewißheit, mit der wir unser Regelwissen praktizieren, überträgt sich nicht auf die Wahrheit von Rekonstruktionsvorschlägen für hypothetisch allgemeine Präsuppositionen; denn diese können wir auf keine andere Weise zur Diskussion stellen als beispielsweise ein Logiker oder ein Linguist seine theoretischen Beschreibungen.“ (Ebd., S. 107) Im Hinblick auf die V-Frage kann diese Differenz zwischen Apel und Habermas außer Acht gelassen werden. Hier ist Habermas wohl versehentlich eine falsche Formulierung unterlaufen. Angesichts der Tatsache, dass er sich vom transzendentalpragmatischen Projekt der Letztbegründung ausdrücklich distanziert hat (vgl. Fn. 61) und dass er selbst das Verfahren der „rekonstruktiven Wissenschaften“ bevorzugt, müsste es wohl „universalpragmatischen“ statt „transzendentalpragmatischen“ heißen. Eine detaillierte Kritik der Begründung dieser Prinzipien findet sich z. B. bei Ch. Lumer, „Habermas’ Diskursethik“, S. 45–53. Der praktische Diskurs ist Habermas zufolge „ein Verfahren nicht zur Erzeugung von gerechtfertigten Normen, sondern zur Prüfung der Gültigkeit vorgeschlagener und hypothetisch erwogener Normen: „Praktische Diskurse müssen sich ihre Inhalte geben lassen.“ („Diskursethik“, S. 113) Vgl. Kapitel 5. Vgl. „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft“, S. 101f. Ebd., S. 103. Vgl. zur Kritik an Habermas’ Typologie M. Kettner, „Habermas über die Einheit der praktischen Vernunft“.
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Anmerkungen
69 J. Habermas, „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft“, S. 117. 70 „Bleibt es dann nicht dem Belieben, bestenfalls einer prädiskursiven Urteilskraft des Einzelnen anheimgestellt, ob wir ein gegebenes Problem unter Gesichtspunkten des Zweckmäßigen, des Guten oder des Gerechten auffassen und behandeln möchten?“ (Ebd., S. 118) 71 Vgl. ebd., S. 118. 72 „Erläuterungen zur Diskursethik“, S. 135. 73 Vgl. auch ebd., S. 190. 74 Vgl. U. Steinhoff, Kritik der kommunikativen Rationalität, S. 86f. 75 Dafür spricht auch seine Feststellung, dass der Befolgung moralischer Normen „starke Interessen anderer Art entgegenstehen“ können („Erläuterungen zur Diskursethik“, S. 190). 76 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, Abschnitt III.II: „Moralund Rechtsnormen: Zum Ergänzungsverhältnis von Vernunftmoral und positivem Recht“, S. 135–151. 77 Vgl. ebd., S. 135. 78 Vgl. zur Kritik an der Annahme, dass wir im „posttraditionalen“ oder „postkonventionellen“ Zeitalter leben O. Marquard, „Das Über-Wir“, S. 29. 79 J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 138. 80 Ebd. 81 Vgl. ebd., S. 141ff. 82 Vgl. dazu die Kritik an Hobbes in Kapitel 2. 83 J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 147. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 146. 86 Vgl. ebd., S. 148f. 87 Ebd., S. 146. 88 Ebd., S. 147. 89 Ebd. 90 Ebd., S. 149. 91 Vgl. Kapitel 2. 92 Habermas „spezieller Lösungsvorschlag jedoch hat die inakzeptable Konsequenz, daß moralische Pflichten nicht über rechtliche hinausgehen und diesen sogar widersprechen können“ (Ch. Lumer, „Habermas’ Diskursethik“, S. 43, Fn. 3). 93 Für diese These werde ich in Kapitel 8 argumentieren.
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Eine ausgewogene Kurzdarstellung und Würdigung seines Werks findet sich in St. Browns Nachruf „Alan Gewirth“. Für eine sorgfältige Rekonstruktion seiner Ethik vgl. K. Steigleder, Grundlegung der normativen Ethik. Die bislang umfassendste Darstellung und Verteidigung seiner Theorie bietet D. Beyleveld in The Dialectical Necessity of Morality. Vgl. A. Gewirth, „The Justification of Morality“, S. 246f. Vgl. A. Gewirth, Reason and Morality, S. 25; ders., „From the Prudential to the Moral“. Vgl. z. B. A. Gewirth, „The Future of Ethics“, S. 29. Vgl. M. Kettner, „Apel oder Gewirth?“, S. 303f.; M. H. Werner, „Minimalistische Handlungstheorie“, S. 308. Vgl. M. Kettner, „Apel oder Gewirth?“, S. 309. Vgl. z. B. A. Gewirth, Reason and Morality, Kap. 5; ders., Human Rights, Part II: Essays on Applications. Der Titel von Gewirths Hauptwerk Reason and Morality wird mit „RM“ abgekürzt. Alle Seitenangaben im Haupttext beziehen sich auf dieses Werk Vgl. RM, S. 44. Vgl. A. Gewirth, „The Rationality of Reasonableness“, S. 228. Später hat er zwischen instrumenteller Rationalität und moralischer Vernünftigkeit unterschieden (vgl. „The Rationality of Reasonableness“) und die These vertreten, dass im Fall des Konflikts zwischen beiden der Vernunft der Vorrang zukommt (vgl. ebd., S. 243ff.). Ich werde darauf später zurückkommen. Vgl. A. Gewirth, „The Golden Rule Rationalized“, S. 139. Vgl. A. Gewirth, „The Future of Ethics“, S. 19. Gewirth betont, dass seine Argumentation dazu geeignet sein soll, auch einen Amoralisten zu überzeugen (vgl. RM, S. 89ff.; „Must One Play the Moral Language Game?“, S. 79ff.). Vgl. seine Kritik am sogenannten „moral reasons“ approach („The Future of Ethics“, S. 19). Vgl. RM, S. 158f. Vgl. „The Justification of Morality“, S. 246f. Es lautet im Original: „Act in accord with the generic rights of your recipients as well as of yourself.“ (RM, S. 135) Der terminus technicus „recipient“ bezeichnet diejenigen Personen, deren Handlungsfähigkeit von den Handlungen des Akteurs betroffen sind (vgl. RM, S. 130ff.). Vgl. „ The ‘Is-Ought’ Problem Resolved“, S. 101f.
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20 Vgl. K. Steigleder, Grundlegung der normativen Ethik, S. 28 u. ö. 21 Vgl. zur These der Irrationalität unmoralischer Handlungen z. B. RM, S. 80f., 133, 135, 139, 150, 194. 22 Vgl. A. Gewirth, „The Rationality of Reasonableness“, S. 241. – Steigleder schenkt dieser These m. E. nicht genügend Beachtung. Er schreibt: „Es ist wichtig, von vornherein zu beachten, daß das Begründungsvorhaben auf den Aufweis eines Beurteilungsmaßstabes für die Richtigkeit oder Falschhheit moralischer Normen abzielt. Es geht also um die Erkenntnis des Richtigen. Davon sind Fragen der Motivation oder Bereitschaft, das Erkannte bzw. (grundsätzlich) Erkennbare auch wirklich zu tun, streng zu unterscheiden. Die Behauptung einer rationalen Nötigung zur Anerkenntnis ist also nicht mit der erkennbar falschen These zu verwechseln, daß Handelnde gar nicht anders können, als in Übereinstimmung mit dem Moralprinzip zu handeln.“ („Gewirth und die Begründung der normativen Ethik“, S. 251f.) Richtig ist, daß Gewirth zufolge die Anerkennung des PGC nicht notwendigerweise zu seiner Befolgung motiviert; falsch ist hingegen, daß es ihm nur um die Erkenntnis des Richtigen geht. Der Anspruch der rationalen Nötigung durch das PGC erstreckt sich nach Gewirth nicht nur auf Einsichten, sondern auch auf die ihnen entsprechenden Handlungen. 22 Vgl. A. Gewirth, „The Rationality of Reasonableness“, S. 241. 23 Vgl. auch diese beiden klaren Aussagen: „[...] there are no rationally tenable alternatives to the PGC in the context of action.“ (RM, S. 156) „An apodictic justification of this sort serves to explain, among other things, how and why the precepts of morality are categorically obligatory, in that compliance with them is rationally mandatory for all actual or prospective agents regardless of their personal desires or institutional affiliations.“ („The Justification of Morality“, S. 245 – Hervorh. v. mir) 24 Vgl. A. Gewirth, „The Normative Structure of Action“. 25 Vgl. ebd., S. 242. 26 Vgl. ebd., S. 240f. 27 Vgl. ebd., S. 243; RM, S. 51. – Deshalb ist Kutscheras Vorwurf, Gewirth unterscheide nicht „zwischen ‚E ist gut für a’ und ‚a glaubt, daß E gut ist’“, unberechtigt (vgl. „Drei Versuche einer rationalen Begründung der Ethik“, S. 72). Ob Gewirth konsequent an dieser Unterscheidung festhält, ist allerdings eine andere Frage. 28 Vgl. auch RM, S. 57; „The ‘Is-Ought’ Problem Resolved“, S. 117f. 29 Vgl. z. B. die Kritik bei E. J. Bond („Gewirth on Reason and Morality“). Bond bestreitet, dass Zwecke notwendigerweise in mindestens einer Hinsicht für gut gehalten werden müssen. Es sei möglich, etwas
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zu erstreben, ohne es positiv zu beurteilen. Zwischen dem Erstreben bzw. Wünschen und dem Bewerten könne schon deshalb kein Implikationsverhältnis bestehen, weil Bewerten ein Zustand des Überzeugtseins sei („a belief-state“), Wünschen oder Wollen hingegen eine motivationale Neigung (vgl. ebd., S. 43f.). Bond erörtert die Möglichkeit, dass jemand seine Handlungsfähigkeit als ein Übel ansieht, von dem er befreit sein möchte (vgl. „Gewirth on Reason and Morality“, S. 45). Von solchen seltenen Fällen sehe ich in meiner Auseinandersetzung mit Gewirth ab. „A complete rights-statement has the following structure: ,A has a right to X against B by virtue of Y.‘“ (RM, S. 65) Vgl. v. Verf., Selbsttötung als philosophisches Problem, S. 207ff. Vgl. J. Scheuermann, „Gewirth’s Concept of Prudential Rights“, S. 293; K. Steigleder, Grundlegung der normativen Ethik, S. 83. Vgl. J. Scheuermann, „Gewirts’s Concept of Prudential Rights“, S. 293f. „To justify something is to show or establish that it is right or correct according to some relevant criterion, and the criterion here is prudential, consisting in the agent’s need for the necessary conditions of action. Thus, from his own conative standpoint as an agent he has a justifying as well as a motivating reason for addressing to all other persons the requirement that they not interfere with or remove his freedom and well-being.“ („Why Agents Must Claim Rights“, S. 405) Vgl. auch „The Normative Structure of Action“, S 254. „,Ought‘ and Reasons for Action“, S. 175. Vgl. auch A. Gewirth, „The Egoist’s objection“; „The Golden Rule Rationalized“, S. 140. Vgl. z. B. E. Regis, „Gewirth on Rights“, S. 790 u. 793; K. Nielsen, „Against Ethical Rationalism“, S. 73f.; J. Narveson, „Gewirth’s Reason and Morality“, S. 661f. Vgl. J. Narveson, „Gewirth’s Reason and Morality“, S. 664. Vgl. dazu die Ausführungen zum Problem der Ungleichheit der Handelnden in Kapitel 1. J. Narveson, „Gewirth’s Reason and Morality“, S. 663. Vgl. ebd., S. 664. Vgl. P. Stemmer, Handeln zugunsten anderer, S. 255f., sowie Kapitel 4 der vorliegenden Untersuchung. Vgl. Kapitel 1. Vgl. R. Brandt, „The Future of Ethics“, S. 40; E. J. Bond, „Gewirth on Reason and Morality“, S. 40ff. Ich stimme Bond zwar darin zu, dass es Gewirth nicht gelungen ist, die Irrationalität unmoralischer Handlungen nachzuweisen, allerdings aus anderen Gründen als er.
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Anmerkungen Im Übrigen schließe ich mich nicht seiner Auffassung an, dass Handlungen prinzipiell nicht inkonsistent sein könnten (vgl. ebd.). Der Akteur sei verpflichtet, die konstitutiven Rechte anderer nicht zu verletzen, und zwar „even in circumstances where his own interests will be more effectively advanced by other sorts of action“ („The Justification of Morality“, S. 246). Vgl. Ch. McMahon, „Gewirth’s Justification of Morality“, S. 268. Vgl. M. G. Singer, „On Gewirth’s Derivation of the Principle of Generic Consistency“, S. 297f.; E. Regis, „Gewirth on Rights“, S. 791; Ch. McMahon, „Gewirth’s Justification of Morality“, S. 275ff.; K. Nielsen, „Against Ethical Rationalism“, S. 68f.; R. M. Hare, „Do Agents Have to Be Moralists?“, S. 54f.; F. v. Kutschera, „Drei Versuche einer rationalen Begründung der Ethik“, S. 74; E. J. Bond, „Gewirth on Reason and Morality“, S. 48ff.; J. Narveson, „Gewirth’s Reason and Morality“, S. 660ff. A. Gewirth, „Why Agents Must Claim Rights“, S. 405; vgl. „,Ought‘ and Reasons for Action“, S. 172; „The Rational Justification of Morality Revisited“, S. 72. Vgl. A. Gewirth, „The Golden Rule Rationalized“, S. 139. Vgl. A. Gewirth, „Why Agents Must Claim Rights“, S. 407. Gewirth zufolge ist das „muss“ in dem Urteil „I must have freedom and well-being“ nicht beschreibend, sondern „practical-prescriptive“ („Addendum: Replies to Some Criticisms“, S. 69). Vgl. ebd., S. 71f. Vgl. „Why Agents Must Claim Rights“, S. 407. Vgl. auch „’Ought’ and Reasons for Action“, S. 175: „The addressees have a reason because the addressor has given them one. As we have seen, whether they accept the reason is irrelevant to whether they have it.“ Ähnlich argumentiert in apologetischer Absicht K. Steigleder (vgl. Grundlegung der normativen Ethik, S. 74 u. 85ff.). Steigleder bestreitet die der Kritik an Gewirth zugrunde liegende Auffassung, „daß man nur dann sinnvoll einen anderen [für] zu etwas verpflichtet halten kann, wenn für den Addressaten eines Sollensanspruchs selbst ein zureichender Verpflichtungsgrund besteht“ (ebd., S. 88). Wenn aber für mich „kein hinreichender Verpflichtungsgrund“ besteht, dann ist es irrelevant, ob mich ein anderer für verpflichtet hält. Vgl. E. J. Bond, „Gewirth on Reason and Morality“, S. 51f.
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Dieses Ziel scheint mir Andreas Luckner in seiner Untersuchung Klugheit (2005) zu verfolgen. So verfährt Gerhard Ernst in Die Objektivität der Moral (2008). Allerdings gebraucht Ernst den um das Element der Klugheit erweiterten Begriff der Moral nur im Rahmen der Metaethik. Die Fragen, ob Konflikte zwischen der Moral im engen Sinne und der Klugheit auftreten können und wie diese gelöst werden sollen, lässt er offen. Vgl. etwa Peter Stemmers Aussage: „Obwohl moralisches Handeln ein Handeln zugunsten anderer ist, kann seine Vernünftigkeit nur darin liegen, daß es zugleich auch im Interesse des Handelnden ist.“ (Handeln zugunsten anderer, S. 38 – Hervorh. v. mir) Vgl. z. B. K.-O. Apel, „Läßt sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationalität unterscheiden?“; ders., „Rationalitätskriterien und Rationalitätstypen“; J. Habermas, „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft“; H. Schnädelbach, „Rationalitätstypen“. Vgl. zur Rolle der Gründe in „deliberation“, „justification“ und „explanation“ K. Baier, The Moral Point of View, S. 40–50. Vgl. z. B. H. Schnädelbach, „Rationalität und Normativität“, S. 93ff. Vgl. z. B. St. Gosepaths Aussage: „’Irrational’ und ‚rational’ sind wesentlich präskriptive Begriffe.“ („Eine einheitliche Konzeption von Rationalität“, S. 105) – Warum diese These in Bezug auf das Prädikat „rational“ nicht uneingeschränkt richtig ist, wird später erläutert. Ich knüpfe hier an C. D. Broads Terminologie an, der zwischen dem „Monism of Ultimate Desires“ und dem „Pluralism of Ultimate Desires“ unterschied (vgl. „Egoism as a Theory of Human Motives“, S. 105). Vgl. Broads treffende Bemerkung: „If Psychological Hedonism, e.g., had been true, the only ethical theory worth discussing would have been an egoistic form of Ethical Hedonism. For one cannot be under an obligation to attempt to do what is psychologically impossible.“ („Egoism as a Theory of Human Motives“, S. 114) Vgl. R. Shaver, „Egoism“, S. 2. Vgl. K. Baier, „Egoism“, S. 198. D. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, S. 324. Vgl. B. Gert, „Hobbes and Psychological Egoism“, S. 507. Vgl. K. Baier, „Egoism“, S. 199. Vgl. R. Shaver, Rational Egoism, S. 2f. J. Nida-Rümelin und Th. Schmidt weisen darauf hin, dass in der Entscheidungstheorie „die Nutzenfunktion zunächst in keiner Weise
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Anmerkungen inhaltlich interpretiert ist. Sie kann also auch außerordentlich moralische Einstellungen gegenüber bestimmten Handlungskonsequenzen zum Ausdruck bringen.“ (Rationalität in der praktischen Philosophie, S. 28f.) – Vgl. auch Ch. Korsgaards treffende Beobachtung: „Das instrumentelle Prinzip sagt uns lediglich, dass wir die Mittel für unsere Zwecke ergreifen müssen; es sagt schlechterdings nichts darüber, welche Zwecke wir haben sollten.“ („Der Mythos des Egoismus“, S. 152) Vgl. R. Shavers historisch-kritische Darstellung Rational Egoism. Vgl. H. Schnädelbach charakterisiert die Rationalitätstheorie als „eine explikative Theorie, d. h. den Versuch einer systematischen Explikation des Rationalitätsbegriffs vor dem Hintergrund seiner exemplarischen Verwendungskontexte“(„Rationalitätstypen“, S. 258). J. Nida-Rümelin formuliert diesen Gedanken so: „Eine Theorie praktischer Rationalität, die sich gegen einen Großteil allgemein akzeptierter guter Handlungsgründe stellt, bedürfte einer besonderen Rechtfertigung. Ich wüßte nicht, woher eine solche Theorie ihre Rechtfertigung nehmen könnte, denn diese müßte derart stark sein, daß sie zentrale und umfangreiche Bereiche unseres normativen Überzeugungssystems überwinden könnte. Ich sehe dazu weder eine Möglichkeit noch eine Notwendigkeit.“ („Die Vielfalt guter Gründe und die Theorie praktischer Rationalität“, S. 98) Vgl. die Ausführungen in Kapitel 6. Vgl. J. Nida-Rümelin, „Die Vielfalt guter Gründe und die Theorie praktischer Rationalität“, S. 99ff. Ich knüpfe hier an die von Bernard Gert in seinem Buch Morality entwickelte Lehre von den Grundübeln an, beschränke mich dabei jedoch auf die Annahme, dass es eine Menge grundlegender Güter gibt. Vgl. zur „Inkommensurabilität von moralischem und eigennützigem Standpunkt“ K. Nielsen, „Noch einmal: Warum soll ich moralisch sein?, S. 239. Vgl. Kapitel 1. Vgl. D. Copp, „The Ring of Gyges“, S. 97ff. J. Habermas, „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft“, S. 117f. – Warum Habermas’ These, dass im modernen Verfassungsstaat die Kluft zwischen Vernunft und Moral durch das Recht geschlossen wird, nicht zu überzeugen vermag, ist bereits dargelegt worden (vgl. Kapitel 6). Eine ähnliche Metanorm formuliert A. Luckner im Anschluss an Descartes’ „provisorische Moral“ (vgl. Klugheit, S. 147). Die etwas umständliche Formulierung „wenn die Gründe einer Art alles in allem für die Ausführung der Handlung sprechen“ soll Fälle
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ausschließen, in denen zwar ein präskriptiver Grund vorliegt, die Handlung aber in der entsprechenden Hinsicht nicht alles in allem gerechtfertigt ist. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Eine Person, die über ein hohes Einkommen verfügt und abenteuerlustig ist, möchte in einen afrikanischen Staat reisen, um dort bestimmte Tiere in der Wildnis zu beobachten, z. B. Krokodile und Nashörner. Sie hat also einen prudentiellen Grund für die Reise. Es ist aber bekannt, dass die Regierung dieses Staates skrupellos gegen alle Weißen vorgeht und dabei auch nicht davon zurückschreckt, Touristen überfallen zu lassen. Deshalb spricht auch ein prudentieller Grund gegen die Reise, durch den der Pro-Grund überwogen wird. In diesem Fall sprechen die normativen Gründe einer Art nicht alles in allem für die Handlung. Ich gehe davon aus, dass alle in irgendeiner Hinsicht gebotenen Handlungen in derselben Hinsicht auch erlaubt sind. Gebotene Handlungen bilden daher eine Teilmenge der erlaubten Handlungen. Vgl. B. Gert, Morality, S. 59ff. Vgl. die knappe Darstellung seiner Theorie in „Substantielle Rationalität“. Vgl. ebd., S. 319 u. 329ff. Vgl. ebd., S. 319. Vgl. ebd., S. 321. Vgl. B. Gert, Morality, S. 59f. u. 92. Ebd., S. 178. Z. B. unterscheidet Peter Stemmer zwischen „rational zwingenden“ und „rational möglichen Handlungen“ (vgl. Handeln zugunsten anderer, S. 15f.). Auf der Grundlage dieser Unterscheidung vertritt er die These, dass moralische Handlungen rational zwingend sind (vgl. zur Kritik an dieser Auffassung Kapitel 4). – Die These, dass moralische Handlungen nur rational erlaubt, aber nicht rational geboten sind, findet sich bei Kai Nielsen, allerdings nicht in derselben Klarheit wie bei Gert (vgl. „Noch einmal“, S. 239). Auch David Copp vertritt implizit diese These (vgl. „The Ring of Gyges“, S. 86f. u. ö.). Zu einem ähnlichen Ergebnis wie ich gelangt auch Alison Hills (vgl. „Is Ethics Rationally Required?“, S. 14f.). J. Elster, Solomonic Judgments, S. 17. – Elster hat den Begriff zwar auf die überzogenen Erwartungen an eine spezielle Rationalitätstheorie, nämlich die Entscheidungstheorie, bezogen; seine These lässt sich jedoch auch allgemeiner verstehen. Vgl. z. B. V. Kunz, Rational Choice, S. 38. Vgl. K. Baier, „The Conceptual Link between Morality and Rationality“, S. 84f.; A. Gewirth, „Rationality and Reasonableness“, S. 244f.;
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Anmerkungen W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung, S. 186f.; N. Scarano, Moralische Überzeugungen, S. 125ff. Vgl. K. Baier, „The Conceptual Link between Morality and Rationality“, S. 82. Ebd., S. 84. Die einzige Ausnahme stellt m. E. Alan Gewirths Theorie dar. Vgl. I. Kant, Religion, 6, 29f.
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Personen- und Sachregister A Agreement 138 f. Alexy, R. 265 Amoralist 20, 22–24, 31, 368 Anm. 8 Apel, K.-O. 16, 223, 225, 229, 242, 253–255, 265, 283, 363 assertorische Methode (Gewirth) 284 f. Aushandeln (bargaining) 93–97, 105 f. B Baier, K. 32 f., 357, 360f. basale Interessen nach Stemmer 142–145 Bayertz, K. 19–21, 31 Befolgungs-Interpretation des kategorischen Imperativs 208–212 Begründung moralischer Normen 22, 24, 28–30 beschränkter Maximierer (constrained maximizer) 100– 104, 111 f., 114 f. Bond, J. 398f. Anm. 29, 399 Anm. 30, 399 f. Anm. 45 Böse, das 33 f., 248, 363–365 Bradley, F. H. 25 f., 367 Anm. 3 Brandom, R. 378 Anm. 6 Braungart, C. 375 Anm. 57
Broad, C. D. 401 Anm. 8, 401 Anm. 9 Broome, J. 379 Anm. 11 Buchanan, J. 372 Anm. 8 C Copp, D. 359, 403 Anm. 37 D Descartes, R. 228 Dezisionismus 272 f., 353–355 dialektisch notwendige Methode (Gewirth) 284–287 direkter Maximierer (straightforward maximizer) 100–104, 111 f., 114 f. Disposition zum moralischen Handeln 101 f., 104, 110– 112, 164–167 Dutroux, M. 33 E Egoismus, instrumenteller 339 f. Egoismus, normativer 50, 55–57 (bei Hobbes) Egoismus, psychologischer 51– 55 (bei Hobbes), 334–338 Egoismus, tautologischer 52, 55, 338 f. Einwand des Toren 69–78 Elster, J. 403 Anm. 38 Entschuldigungsgründe 352 f. Epikur 44, 159
Personen- und Sachregister
420
Erklärungsgründe 331–334 Erlaubnis–Interpretation des kategorischen Imperativs 209, 212–215 Ernst, G. 401 Anm. 2 ethischer Rationalismus 1–3, 31–35 Externalien 89 F Fehige, Ch. 1 Fichte, J .G. 44 Foucault, M. 368 Anm. 10 Frankena, W. 10 f. Frankfurt, H. G. 31, 34, 394 Anm. 43 G Gauthier, D. 3, 16, 46, 47, 8 1– 120, 121, 134, 165, 171, 282, 325, 362 f., 378 Anm. 103 Gefangenendilemma 62–65, 376 f. Anm. 80 Gert, B. 16, 50, 55, 350 f., 373 Anm. 34, 375 Anm. 58, 402 Anm. 22 Geschäftsordnungsdiskurs 244– 246 Gesetzes-Formel des kategorischen Imperativs 188 f., 208–215, 390 Anm. 71 Gewirth, A. 3, 16, 32, 282–323, 325, 357, 369 Anm. 15 Glück und Moral 3–6, 15 Gosepath, St. 401 Anm. 7 H Habermas, J. 16, 17, 223, 229, 263–281, 342 f., 347, 363, 368 Anm. 10, 379 Anm. 79
Hadot, P. 368 Anm. 10 Handeln wider besseres Wissen 274 Handlungen aus Pflicht 369 Anm. 18 Handlungstheorie 332–334 Hill, Th. E. 384 Anm. 1 (zu Kap. 5) Hitler, A. 33 Hobbes, Th. 3, 16, 44, 45, 4 7– 80, 134, 165, 171, 280 f., 325, 361 f., 372 Anm. 18 Hoerster, N. 216 f., 390 Anm. 72 Höffe, O. 203–207, 389 Anm. 63 Hume, D. 83, 122 Hyperrationalität 355 I Ilting, K.-H. 242, 392 Anm. 17 Immoralist 20 f. innere Sanktionen s. Sanktionen, innere Interesse 142–145 (Begriff des I.s), 343 f. K Kamlah, W. 368 Anm. 10 Kant, I. 3, 12, 16, 139, 177– 222, 249 f. 280, 325, 363 f., 367 Anm. 2 (zu Kap. 1) Kavka, G. S. 47, 55, 65, 75–77, 126, 172, 373 Anm. 21 Kersting, W. 42 f., 213 f., 371f. Anm. 6, 372 Anm. 7, 390 Anm. 72 Kettner, M. 392 Anm. 18, 395 Anm. 68 Koller, P. 42, 371 Anm. 6 Kontraktualismus, allgemein 30, 41–44
Personen- und Sachregister Kontraktualismus, ethischer 30, 44 f., 81 f., 136–140 (bei Stemmer), 282, 309 Kontraktualismus, politischer 44 f. Kontraktualismus, schwacher vs. starker K. 45–47 Korsgaard, Ch. 214 f., 390 Anm. 72, 402 Anm. 16 Kuhlmann, W. 16, 32, 223, 227–252, 255–263, 265, 283, 357, 359 f., 363 Kutschera, F. v. 398 Anm. 27 L Leist, A. 381 Anm. 2, 382 Anm. 16 Lock’sche Klausel (Lockean Proviso) 115 f. Locke, J. 44 Lohmar, A. 368 Anm. 9 Luckner, A. 401 Anm. 1 Lumer, Ch. 392 Anm. 27, 395 Anm. 63 M Marktzustand s. „vollkommen kompetetiver Markt“ Maxime 183–187, 189 McNeilly, F. S. 50, 373 Anm. 34 Mengele, J. 33 Minimax-Prinzip der relativen Zugeständnisse 95–99, 105 Monismus der Gründe 334, 338, 339–343 Moral der annähernd gleich Starken 130–132, 309 Moral 14 (Begriff der M.), 26 (Funktion der M.) moralisch motivierte Handlungen 18, 369 Anm. 18 moralische Dilemmata 9 f.
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moralische Gefühle 12 f., 14, 147–150 (bei Stemmer) moralische Handlungsgründe 9, 196, 343–346, 348 f., 355 f., 357 f. moralischer Skeptiker 125 f., 160, 162 f. moralischer Skeptizismus 33 moralkonforme Handlungen 18, 369 Anm. 18 N Naturgesetz-Formel des kategorischen Imperativs 197–208, 390 Anm. 71 natürliche Gesetze bei Hobbes 58 f., 60 f., 67 f., 135 f. Naturzustand 41, 48, 62–65 (bei Hobbes), 115 f. Nero 33 Nida-Rümelin, J. 343, 377 Anm. 83, 401 f. Anm. 16, 402 Anm. 19 Nielsen, K. 403 Anm. 37 Nozick, R. 115, 372 Anm. 8 O O’Neill, O. 185, 210 f. P Paton, H. J. 384 Anm. 2 (zu Kap. 5), 386 f. Anm. 23, 389 Anm. 52, 389 Anm. 58 performativer Selbstwiderspruch 226, 229–231, 265–267 Pflichtenkollision 352 pflichtgemäße Handlungen 369 Anm. 18 Platon 1, 35, 359 Pluralismus der Gründe 338, 339–343
Personen- und Sachregister
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Pogge, Th. 185 Präferenzen 83–86, 356 f. praktische Rationalität 15–18, 33, 83–88 (bei Gauthier), 122–125 (bei Stemmer), 171, 286 f. (bei Gewirth), 329– 321 , 333, 339 f. praktische Vernunft 15–18, 33, 55–57 u. 60 (bei Hobbes), 171, 177, 271–273 (bei Habermas), 329–331, 333 Prichard, H. A. 26–28 Prinzip der artbezogenen Konsistenz (principle of generic consistency) 288, 291, 311 f. Problem der rechtlichen Kodifizierbarkeit der Moral 78 f., 277 f. Problem der Ungleichheit der Handelnden 36–38, 157 f., 172 f. Problem des Unrechttuns im Verborgenen 35 f., 113, 157, 159–169 (bei Stemmer), 172 f. prudentielle Handlungsgründe 9, 343–346, 348 f., 355 f., 357 f. prudentielle Konflikte 9 f. prudentielles Recht (Gewirth) 305 f., 319, 322 R rational erlaubte Handlungen 125 f. (bei Stemmer), 348– 351 rational gebotene Handlungen 125 f. (bei Stemmer), 348 f., 351 rational verbotene Handlungen 348, 351 rationale Metanorm 347
rationales Metakriterium 347 Rationalismus, ethischer s. „ethischer Rationalismus“ Rationalitätstypen 343–346 Rawls, J. 41, 46, 369 Anm. 15, 372 Anm. 8, 379 Anm. 14 Raz, J. 368 Anm. 8 Rechtfertigungsgründe 331–334, 341–343 Regelegoismus 75 f. Rinderle, P. 383 Anm. 22, 383 Anm. 25 Rousseau, J.–J. 44 S Sanktionen, innere 159–164 Sanktionen, moralische 133– 135, 145–150, 151–156, 168 f. Scanlon, Th. 372 Anm. 15 Scarano, N. 32, 357 Schaber, P. 382 Anm. 14 Schmidt, Th. 376 Anm. 73, 377 Anm. 83, 401 f. Anm. 16 Schnädelbach, H. 17, 402 Anm. 18 Schöndorf, H. 389 Anm. 63 Schopenhauer, A. 388 Anm. 51 schwacher ethischer Rationalismus 350 Searle, J. 229 Seebaß, G. 382 Anm. 14 Seneca 5 Sprute, J. 376 Anm. 73 starker ethischer Rationalismus 3, 31–38, 100, 274, 349 Steigleder, K. 310 f., 317 f., 398 Anm. 22, 400 Anm. 56 Steinfath, H. 382 Anm. 15 Steinhoff, U. 392f. Anm. 31 Steinvorth, U. 369 Anm. 15
Personen- und Sachregister Stemmer, P. 3, 16, 41, 121–170, 171, 282, 309, 325, 361 f., 372 Anm. 18, 401 Anm. 3, 403 Anm. 37 Sugden, R. 45 f. T Timmermann, J. 185, 387 Anm. 23 Transzendentalpragmatik 223 f., 225–227 Trapp, R. 370 Anm. 30 Tugendhat, E. 392 Anm. 26 U Überlegungsgründe (Motive) 331–334, Universalpragmatik 223 f. Unrechttun im Verborgenen s. „Problem des Unrechttuns im Verborgenen“
423 V
Versöhnungsprojekt des Kontraktualismus 47, 126, 171 f. V-Frage 10 f., 13, 18–24 vollkommen kompetetiver Markt 88–91 Vorrang der Moral s. „Vorrangthese“ Vorrangthese 29, 197, 234, 357–361 W Warum moralisch sein? 11–13 Weber, M. 343, 368 f. Anm. 13 Wellmer, A. 273 Williams, B. 368 Anm. 8 Z Zweck-Formel des kategorischen Imperativs 189–197