Es ist zu schön, um wahr zu sein : Erinnerung an eine Jugend 3796201601


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Es ist zu schön, um wahr zu sein : Erinnerung an eine Jugend
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Sigi Sommer ES IST ZU SCHÖN UM WAHR ZU SEIN

SIGI SOMMER

Es ist zu schön um wahr zu sein Erinnerung an eine Jugend

VERLAG R. S. SCHULZ

Fürs Luiserl

Bei den in diesem Buch vorkommenden Personen sind vielfach ihre Namen, der Ablauf der einzelnen Situationen und Ereignisse aus Gründen der Diskretion geändert.

Copyright © 1981 by Verlag R. S. Schulz 8136 Percha am Starnberger See, Berger Straße 8 bis 10 8136 Kempfenhausen am Starnberger See, Seehang 4

Telefon (0 81 51) 1 30 41 bis 1 30 43 • Telex 05 26 427 buch Bildschirmtext * 717 # Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Vervielfältigung, auch auszugsweise, auf fotomechanischem oder anderem Wege

(Fotokopie, Mikrokopie etc.) sowie die Benutzung von Ausschnitten, nur mit Genehmigung des Verlages Schutzumschlagentwurf: Studio Meier-Freiberg

Fotos: Franz Hug, Alfred A. Haase und C.-L. Magnus Grundschrift: Garamond-Linotype Gesamtherstellung: Ebner Ulm

ISBN 3-7962-0160-1

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort: Statt Blumen................................................

Seite 7

Und so fing es an.............................................................

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Erstes Gedicht....................................................................... 22

Letztes Gedicht................................................................. 23 Die Sommerischen................................................................. 25

Im Schloß meiner Ahnen................................................. 41 »Uff Uff-............................................................................ 46

"Zahme Wildwestler............................................................ 51 Es waren einmal siebzehn junge Krieger

....

54

AUS DER JUGENDZEIT: Stiegenhausfreuden............................................................ 59 Das Bergeri....................................................................... 61 Im Schachteri Eis............................................................ 63 Seefahrt tut not................................................................. 64 Preiswerte Wasserflöhe................................................. 66 Schiff ahoi....................................................................... 68 Erste Lie-ie-iebe............................................................ 70 Der erste Aufriß............................................................ 73 Die Stenze....................................................................... 78 In einer Nacht im Mai................................................. 88 Unter den Raben............................................................ 99

Sag mir wo die Freunde sind.............................................. 117

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Seite Selig die, die ihre Seele kennen Fünfzehn Prominente entblättern sich........................... 137

. . . und neun zeigen ihre Blätter..................................... 161 . . . und immer noch geht Blasius durch die Stadt 171 Den Schnabel auf.......................................................... 172 Um den kalten Brei herum.......................................... 175 Es ist angerichtet.......................................................... 178 Ungeliebte Schmuddelkinder..................................... 181 Weiß ist die Unschuld..................................................... 184 Der blaue Engel.......................................................... 187 Den Apfel im Mund..................................................... 190 Wenn der Wurm kommt................................................ 193 Bis zum schäbigen Ende................................................ 196 Abendandacht ................................................................ 199 Apokalypse..................................................................... 202 In Memoriam............................................................... 205 Heuchelei im DIN-Format.......................................... 208 Von Fall zu Fall.......................................................... 211 Die Tituliersucht.......................................................... 214 Verwehte Spuren.......................................................... 217 Das Abgründige in einer Damenhandtasche . 220 Der Mann mit dem schwarzen Hut.......................... 224 Nun lacht mal schän..................................................... 227 Stadt im kalten Hemd..................................................... 230 Manchmal will er nicht............................................... 233 Idiometrische Übungen............................................... 236 Hoch die Arbeit.......................................................... 239 Melancholie im September.......................................... 243 Wie einst Lili Marleen............................................... 246 Ururgroßvater-Uhren..................................................... 248 Blasius und der Kardinal............................................... 251 6

Vorwort: Statt Blumen Einst, vor mehr als dreißig Jahren, kümmerte sich Sigi Sommer brüderlich um eine kleine Reporterin namens Anne­ liese Schuller. Aus ihr wurde Anneliese Friedmann, Herausge­ ber der »Abendzeitung* und als Sibylle langjähriger StarKolumnist des »Stern*. Uber die gemeinsame Zeit sagte Anneliese Friedmann in der Festrede zum 30jährigen BlasiusJubiläum: Seien Sie willkommen, Grüß Gott miteinand! Meine Damen und Herren, verehrte Festgäste, Fans, Stammtischbrüder, Sigi-Schwestern, freudig erregte, neiderfüllte und liebe Mit­ arbeiter. Vor allem aber hochgeschätzter Jubilar, Schreib­ sklave, Geldfuchser, Starkolumnist, geliebter Sommer-Sigi. Daß ich auf Sie einmal eine Rede halten darf, das hätte ich mir nicht träumen lassen damals, als ich mit dem Strohhut in der Hand ins schmale Zimmer der Lokalredaktion der »Süd­ deutschen Zeitung« trat und damit auch ein bisserl in Ihr Leben. »Oiso, des sag’ i Eahna glei, Freillein, mit dem Huat wem S’ net weit kemma!« war der einzige Satz, den der große Sommer der kleinen Schuller auf lang hinaus vergönnte. Sie schauten aus wie der Hans Albers und hatten den Hemdkragen offen, und die blonde Sekretärin, in die wir uns zu zwölft teilten, tippte nur für Sie. Mich hätten Sie am liebsten zum Leberkäsholen geschickt, nur gab’s keinen. Denn damals bestand die Zeitung aus vier Seiten, höchstens sechs, und erschien nur dreimal in der Woche. Wir versuch­ ten, im Präsens zu schreiben, weil das am wenigsten Platz brauchte, und neideten einander jede Zeile, die gedruckt wurde. Der Sommer Sigi wurde es immer, er hatte die besten Geschichten, wie die von der Einkaufstasche, aus der es 7

tropfte. Eine Frau hatte die Tasche einer anderen beim Schlangestehen in die Hand gedrückt, und als die hinein­ schaute, war ein Negerbaby drin. Die Mutter war weg. Ob’s ganz wahr war, weiß ich bis heute nicht. Aber es hätte wahr sein können damals, als wir noch alle arm waren, von den Amis besetzt, und anstanden um zwei Pfund Kartoffel auf Abschnitt K der Lebensmittelkarte. Das war’s jedenfalls, was dem damaligen Chefredakteur Werner Friedmann am Reporter Sigi Sommer gefiel, die Nase fürs Besondere und Absonderliche und ganz und gar Münchnerische. Sie nannten Werner Friedmann den Boß, und er behauptete, er hätte Sie erfunden - »dem alleinigen Urheber dieses Buches« schrieben Sie für ihn als Widmung in Exemp­ lar Nummer 2 Ihres Romans »Und keiner weint mir nach«. Jedenfalls war er es, der Sie zum Schreiben ermunterte. Wie mich auch, was Sie bald herausfanden. Von da an paßte der Sigi auf das Schuller-Deandl auf wie ein großer Bruder. »Was ham S’ denn do wieda für oan« pflegte er meine Abholer madig zu machen. Ausgerechnet von einem, der für mich ausschaute wie Johannes Heesters im Fuim, sagte der Sigi: »Sie, Freillein Schuller, im Hof drunt wart da Andreas Hofer auf Eahna.« So endete eine Liebe. Die gleichen strengen Maßstäbe wie an mein Treiben legte der Sigerl an mein Schreiben. »Geh, Sie Krampfhenna!« Und legte seine Füße auf meinen Schreibtisch, der neben dem seinen stand. Seit’ an Seite mit einem Genie zu arbeiten, hat halt seinen Preis. Oft zog der Sigi seine Schublade auf, denn auf die Platte hatte er die Telefonnummern von Stadträten notiert, die man dringend brauchte, und besondere Gedanken und Aus­ drücke, die ihm einfielen und zu schad’ erschienen für den Artikel, den er grad schrieb. Und Adressen von Vorstadt­ schönen auch - »wann s’ mit Kernseife gewaschen san, mog i s’ am liabern.« 8

Anneliese Friedmann und Sigi Sommer- aus einer Zeit, die längst vergangen ¡st . . .

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Es war eine herrliche Zeit damals im Zimmer der Lokalre­ daktion, als Sie das Regiment führten über die Lehrjahre späterer Leuchten des Journalismus, wie Ihres jetzigen Chef­ redakteurs Flade zum Beispiel. Auch des gefürchteten Peter Brügge vom »Spiegel«, von Ihnen Hess-Buberl genannt, über Jochen Steinmayr, heute Chef des Zeit-Magazins, über den immer schlafenden Klaus Arnsperger, jetzt SZ-Korrespondent in Washington. Und über ein paar, die schon tot sind - Liebelle, den Selfmade-Reporter, der mit dem Rucksack in die Redaktion kam, den Polizeireporter Walter France in seinem schmieri­ gen Gummimantel, der wie ein Geheimagent aussah. Nur zwei haben sich Ihrer Herrschaft nicht gebeugt: der StröblPepi, heute Herr des Verkehrsparlaments, der zu Ihnen sagte: »Geh, des geht doch net!« oder »Geh, do müß ma doch was macha!« Und der schöne Will Berthold, dessen Reportagen oft zu gut waren, um wahr zu sein, und der dann als erster absprang vom Journalismus zum Bestsellerschreiber. Ehrgeizig waren wir alle miteinander, und allen hat uns das genaue Sehen und Schreiben Bernhard Pollak beigebracht, der als Lokalchef abgetrennt im kleinen Zimmerl saß, immer im grauen Anzug mit schwarzer Strickkrawatte, immer ein bissl nervös, immer in Hetze, aber nie so, daß er sich nicht Zeit genommen hätte für jeden von uns, wenn wir unser Manuskript ablieferten. »Setzn S’ Eahna amal her«, sagte er und schaute hinter dicken Brillengläsern kurz auf. »Schaun S’, so kann ma dees net sagn. Was Sie moana, is doch . . .« Zusammen fanden wir den Ausdruck, der saß. Und rebellierten erst draußen wieder, wenn uns der Pollak Sätze herausgestrichen hatte, die wir für umwerfend hielten. »Gell, des is Herzblut«, tröstete uns dann der alte Metteur Münzer in der Setzerei. So was verbindet. Und dann lief der Sommer-Sigi uns allen davon. Bekannt 10

war er schon in der ganzen Stadt wegen seiner Lokalspitzerl am Samstag. Aber jetzt wurde er eine Figur, nämlich Blasius der Spaziergänger. Werner Friedmann hatte 1948 die »Abendzeitung« gegründet und brauchte Schreiber. Es gab wieder gutes Geld, wir hatten keins, alle wollten dazuverdie­ nen. Da bot der Boß dem Sigi an, jede Woche eine Kolumne in der »Abendzeitung« zu schreiben, eine Grantlerrede, eine München-Kritik. Wie er auf Blasius gekommen ist? Gestern erst habe ich das genau erfahren, nämlich von Bernhard Pollak. Der hatte dem Sigi die Figur eines grantelnden Spaziergängers eingeredet und sich dafür den Namen »Blasius Blinzl« ausgedacht. Also schrieb der Sigi am 29. November 1949 in der »Süddeutschen Zeitung« eine Lokalspitze, die begann: »Der Bundesbürger Blasius Blinzl kriegt eine Eintritts­ karte für ein Konzert geschenkt, >Die Musik beflügelt den Geistdes ist wahrJazz Conference< und die Namen Louis Armstrong, Dizzie Gillespie und Sidney Bechet. >Von dene is ma koana bekannts sagt Blinzl.« Warum Blinzl die erzeugte Musik als störendes Geräusch empfunden hat, beschreibt Blasius dann in der Art, die nun seit dreißig Jahren Münchner Herzen bis hinauf nach Schles­ wig-Holstein und hinunter nach Honolulu begeistert. »Nun, Sie sind doch mal so ’n richtiger Münchner - wie hat Ihnen denn det Ding jefallen?« wird Blasius Blinzl nach dem Konzert vom Reporter einer bekannten Wochenzeitung gefragt. »No, recht guat!« sagt Blasius. »Schad, daß koa Bier­ ausschank dabei war, sonst hätten’s vielleicht aa no mit de Maßkrüag zuag’schmißn. Nacha waar’s erseht zimpfti wom.« 11

Klar, daß der Boß Werner Friedmann da sagte: »Also, lieber Bernhard Pollak, den Blasius Blinzl kauf ich Ihnen ab, den muß ich in der >Abendzeitung< haben!« So wurde Blasius der Spaziergänger geboren, eine Figur, über deren Bekanntheitsgrad ich nichts zu sagen brauche, es hieße ja, die Frauentürme oder das Hofbräuhaus als Münch­ ner Wahrzeichen in Frage zu stellen. Auch Zitate aus dem Erleben unseres Spaziergängers kann ich mir sparen - wir alle, die heut’ hier mit ihm sitzen und ihn seit dreißig Jahren lesen, wissen, es sind nicht die einzelnen ausgefallenen Worte oder Beobachtungen, die Blasius ausmachen. Es ist die ungewöhnliche Verknüpfung derselben: die quere Sicht, die krumme Dinge so erstaunlich geraderückt. Es ist sein ganz eigener Stil und seine ebenso eigene Gramma­ tik - die Jungredakteurin Schuller manchmal zum Verzwei­ feln brachte und Schreiber Sommer fast zum Weinen: »Naa, des müassn S’ so schteh lassn - a wenn’s foisch iss, des iss ja grod!« Verzeihen Sie es der unnachsichtigen Dummheit der Jugend, lieber Sigi, die damals noch nicht begriff, daß in Ihnen ein wirklicher Dichter neben uns saß. Etwas ganz Rares: ein Poet der bayerischen Großstadt. Kein Thoma, schon gar kein Weiß-Ferdl, sondern einer, der feinste Schwingungen und Nuancen auffing und niederschrieb, wie sie nur Bayerns Hauptstadt München hervorbringt. Die Weltstadt mit und ohne Herz. Blasius der Spaziergänger ist zu einem Karl Valentin der Chrom- und Atomzeit geworden. Er ist ein Rufer in der Betonwüste, ein Minnesänger der Asphalthöfe, ein Siegfried von der Wurzerstraße, der Walter von der Vogelweide nicht nachsteht an Poesie mit Sätzen wie dem, den der Leo mit dem Zeigefinger an die feuchte Fensterscheibe schreibt: Und keiner weint mir nach . . . Wie der Valentin ist Blasius ein Linksrumdenker. Was

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natürlich nichts mit dem Links der Linken zu tun hat, sondern einfach das Rechte ist, bloß links rum eing’hakelt. Das Links von Blasius ist nicht dort, wo das Hirn sitzt, sondern dort, wo das Herz schlägt. Von da aus sieht er und hört und denkt und schreibt. Ein Gradaus-Herz, ganz warm geblieben und wahrhaftig, ganz zart unterm derben Mund­ werk, ein Herz, wie der Mensch es mitkriegt als Kind, wenn er das Böse noch nicht erfahren hat. Ein Herz, wie es aus dem heutigen Jubiläums-Blasius spricht, über die Punk-Rocker und den Pfarrer Betzwieser, den der Sigi den »Libero vom F. C. Jesus« nennt. Lieber Sigi, lassen S’ Ihr Herz noch lang im Blasius schlagen. Und für München. Für die »Abendzeitung« sowieso, da muß ich schon drum bitten als Ihre Prinzipalin, wie Sie immer sagen. Das meine liegt Ihnen zu Füßen. Aber das wissen Sie eh.

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Und so fing es an . . . Die ersten Beiträge in der Zeitschrift »Die Jugend«, in der »Süddeutschen Zeitung« und in der »Abend­ zeitung«

»Die Jugend«, Jahrgang 1936 Der Bart

Es gibt viele Bärte, man kann einen Bart bekommen, und man kann sich einen Bart stehen lassen. Es ist das zweierlei. Auch hat der Bart die mannigfachsten Verwendungsmöglich­ keiten. Kurz, der Bart ist heute zum Problem geworden. Mein Freund Benedikt sah das ein und ließ sich einen Bart wachsen. Nun heißt er Iwan. Um die Berechtigung dazu zu unterstreichen, überstreicht er seinen Bart mit Augenbrauenstift. Aber das ist sein Geheimnis. Mein derzeitiges Nebengeräusch Helli findet das »zackig«. Ich wage nicht zu widersprechen. Denn ich Unmöglicher. Oh ich Verworfener; Ich habe noch keinen Bart. Neulich waren wir beim Tanz. Helli tanzte mit »Iwan«. Ich durfte zusehen. Es war alles in schönster Ordnung; nur die Musik hatte einen Bart und das Lokal. Wir unterhielten uns glänzend.

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Ich erzählte den Witz vom Rübezahl. Helli winkte ab; hat einen Bart. Ich glaube, das stimmt. Dann ging sie mit »Iwan« ins Freie, weil sie Kopfweh hatte. Als sie zurückkamen, sah sie sehr erholt aus. Nur über der Oberlippe hatte sie einen harmlosen schwarzen Streifen; Es sah fast aus wie ein Bart. Ich machte schüchtern darauf aufmerksam. Dann durfte ich noch zahlen, und hatte auch einen Bart.

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Erste Beiträge in der »Süddeutschen Zeitung« Jahrgang 1946 Walli, schmeiß s’ aufs Kreiz!

Mit einem Musikstück, in dem alle Töne vorkommen, wird die Damenringkampfkonkurrenz eröffnet. Die starken Ladies heißen Maqué, Esomba, Karenia und Franceska. »Geh, d’ Schtinglhammer-Walli is von da Riadlerschtraß, i bin ja scho mit ihr gschom.« Ein alter weißgekleideter Scheich, verknittert wie eine weggeworfene Semmeltüte, ist Schiedsrichter. Er droht dem Publikum bei Zwischenrufen. Verboten ist den Akteurinnen das Schlagen, Drosseln, Bei­ ßen, Zwicken, Haarausreißen und gegenseitige Anspucken. »Walli, heng ihr’s Kreiz aus, dera Drauerweidn.« - »Jetz so was, de is kitzlig.« - »Packs bei da Butzwoi, des Rotschwanzl.« - »Ach, hast du den süßen Schrei gehört.« - »Was der für scharfe Augen macht, der is wohl aus Solingen.« Langsam färbt sich die Ringermatte rot, vom Purpur der Lippenstifte. »So a Ringerin, moan i, war nix Zwidas, do hätt ma lang wos davo«, bemerkt ein Herr mit einem Nickelzwikker und stößt sein Bierglas um.

Elfenreigen ausverkauft

Unter den Büschen des Alten Botanischen Gartens lehnen frischgemalte Bilder. Einige Menschen mit ungemein nackten Hälsen gehen auf und ab, das sind die Maler. Auf dem Plan erscheint Frau Walburga Tschumpel mit einer Markttasche, aus der Porreestangeri und Radischwanzl herausschauen. »Wos Korrekts dad i braucha, wos Solids ibas Bett vo mein Hannerl, weils heirad«, spricht sie einen der Jünglinge an, die 17

an den ausgestellten Bildern schuld sind. »Da käme für Sie«, findet einer der Modernen, »wohl nur meine Synthese des Liebeslebens mit versilbertem Rahmen in Frage - nur fünf­ undvierzig Mark.« Fassungslos betrachtet Frau Tschumpel das Bild, das aus­ sieht wie eine totalgeschädigte Vierfruchtmarmeladefabrik und wendet sich zum nächsten Künstler. »An Elfenreign häd i gern ghabt, wissn S’ scho, in original Öl, wenn’s geht.« Elfenreigen führe man nicht mehr, wird der Tschumplin erklärt, man zeigt ihr ein anderes Bild, betitelt »Seifenbla­ sen«. Lange steht die brave Frau davor und sucht sich über das Kunstwerk, das in ihr eine Vorstellung von halbaufge­ gessenem Topfenstrudel, Kuttelfleck und Pulswärmern er­ weckt, klarzuwerden. Dann meint sie abschließend: »Der häd seine Soafablasn aa liaba zum Hemadwaschn hernema soin, schtatt daß er ’s ois Buidl vakafft.«

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»Abendzeitung«, Jahrgang 1948 Blasius im Dampfbad Das große Zinkbadewanndl, in dem Blasius jeden Samstag seinen Leichnam vom nassen Großstadtstaub reinigt, hat ein Loch. Deshalb entschließt er sich einmal, eine größere Stöbe­ rei an seiner Figur im Karl-Müllerschen Volksbad vorzuneh­ men. »Was deaf’s denn sei, a Brause-, Wanna- oda Schwimm­ bad, a Moorbad oda Schlammbad oda vielleicht gor grie­ chisch-römisch, a Schwitzbad?« fragt das Fräulein hinter der Glasgardine. »Griechisch-römisch« klingt so lüstern in Bla­ sius’ Ohren, und er verlangt ein Billettl. »Wos, drei Mark fuchzge für a Schwitzbod, do fangt ma ja an da Kasse scho ’s Schwitzen oo bei soichane Preis«, entrüstet sich der Spazier­ gänger. Blasius wird an einen Schalter verwiesen. Dort muß er die Kennkarte abgeben und kriegt dafür eine Metallscheibe mit einer kleinen Nummer, eine Metallscheibe mit einer großen Nummer, zwei kleine Handtücher und ein großes Handtuch, alles für eine Kennkarte. Dann geht er durch eine Flügeltüre, die ihn beim selbsttätigen Schließen mit einem dumpfen Ton auf den Hinterkopf haut. Ein blaugestreifter Klinikdiener, der sich als Badewärter vorstellt, führt ihn in eine Zelle, mit dem Hinweis, sich zu entkleiden. »Moana S’, i gäh mid’n Gwand unta d’ Brause?« erwidert Blasius gereizt und stellt den Diebesschutz des kleinen Geldkasterls auf »Rom« ein. Mit einer quergestreiften, knielangen Badehose erscheint er wieder auf dem Plan, muß sich jedoch vom Klinikdiener belehren lassen, daß sich so ein Kleidungsstück für einen griechisch-römischen Badegast nicht geziemt. Also landet Blasius barfuß bis zum Hals hinauf in einem Vorraum, in dem ihm bedeutet wird, sich die Füße zu waschen. Zu diesem Zwecke steht ein Schropper mit langem Stiel in einem geka-

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chelten Bassin, und Blasius kehrt sich also mit dem nassen Besen seine Zehen ab. Dann weist man ihn in den Dampfraum. Aus grauen, heißen Nebeln hört Blasius auf steinernen Anrichten bleiche Gestalten stöhnen. Lang ausgestreckt liegen sie da wie die Weihnachsstollen beim Bäcker Seidl. Plötzlich fährt dem Blasius ein Dampfstrahl ins nackte Kreuz, da wo es zu Ende geht. Er taumelt auf eine Tür zu, erwischt in der Eile statt des Griffes die Nase eines Badegastes und platscht schließlich wie eine Stabbrandbombe ins Schwimmbassin. Dort sind meh­ rere dicke Herren mit Andacht dabei, einige Bruttoregister­ tonnen Badewasser zu verdrängen. Kaum hat sich Blasius an diesen Anblick gewöhnt, erscheint ein Herr mit roter Bade­ hose und winkt ihn kategorisch zu sich heran. »Jetzt wean s’ mi nausschmeiß’n«, denkt er erschaudernd. Doch der Herr nimmt ihn bei der Hand und führt ihn in einen kleinen gekachelten Raum. Dort drückt man ihn mit dem Gesicht nach unten auf eine steinerne Bank. »Auweh, Genickschuß«, sind Blasius’ letzte Gedanken. Man entläßt ihn jedoch nach der Massage mit einem schnalzenden Schlag ins Kreuz. Blasius schleppt sich an ein kleines Bassin mit klarem blauem Wasser und plumpst wil­ lenlos hinein. Sofort schrumpft sein Körper auf Bruchteile seines normalen Volumens zusammen. »13 Prozent minus im Schatten«, denkt er noch, bevor er gurgelnd in den eisigen Fluten versinkt. Als er wieder zu sich kommt, sitzt er im Schwitzraum, und zu seinen Füßen rauscht ein kleines rei­ ßendes Bächlein, das aus seinen weitgeöffneten Poren gespeist wird. Ein Herr ohne Haare, der mit seinen Fettwül­ sten aussieht wie der Dunlop-Reifen-Mann, erklärt: »Reuen s’ de Koin scho wieda zum Ei’hoazn, da dafriast ja herinna.« Als Blasius in die Ankleidekabine schlurft, röchelt er leise vor sich hin, aber sofort kommt der Klinikdiener und ruft streng: »Röcheln verboten!« Am Ausgang des Volksbades fragt ihn

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die Kassendame noch freundlich: »Goi, da fuit ma si wia neigeborn?« und Blasius erwidert: »Ja, ois wia wenn s’ oan in a Schnoibigl-Anschtalt durch d’ Waschmangl draaht hätt’n.«

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Dies ist mein erstes Gedicht. Ich schrieb es am 19. April 1934. Als es fertig war, hatte ich feuchte Augen. Denn ich tat mir als 20jähriger immer selber schrecklich leid. Das Gedicht wurde nie gedruckt. Du gingst von mir und mit Dir ging das Glück Der Abschied führte mich zurück ins dämmergraue Reich der Tage Eintönig sinnlos rinnt wie zäher Brei die Zeit Und frierend sehe ich das Ende Denn alles ist so schnell Vergangenheit noch spür ich streichelnd Deine blassen Hände

Doch alles geht so still vorbei Es geht die Sonne auf und wieder unter Es geht der Mai und still zieht auch der Sommer und die Jugend Das Leben macht so satt und trunken und taumelnd gehe ich umher Die Sonne ist für mich versunken und alles ist so fahl, so blaß und leer.

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Dies ist mein letztes Gedicht. Ich schrieb es nach dem Aufstand vom 17. Juni 1957. Es wurde sofort gedruckt. In Nummer 5 der hoch­ angesehenen literarischen Zeitschrift »Geist und Zeit« erschien es im September 1957. Wenige Tage darauf brachte es auch die russische Zeitung »Iswestija«. Kein weiterer Kommentar.

Qué sera Die Bibel fragt: Wozu sind wir auf Erden? Damit wir Gottes heiligen Willen tun Sagen die Bibier, und dadurch in den Himmel kommen. Aber die Physiker sagen, wir kommen in den Himmel durch: 1 - X (367) : 000/Y ES Ja wenn das alles so einfach wäre Und die Formeln vom Schüler Sebastian Seide Zu lösen wären Dann hätte Jenner ja Sein Kreuz zu Kisten zersägen können für preiswerte Toma­ ten aus Helena.

Nachmittag um 17 Uhr 03 Normalzeit Wenn die Sonne auf die Sünden tropft Da werden dem Jesusgott die Augen vor Rauch übergehen Und von dem Gestank der verbrennenden Huren, die eben noch fragen wollten »Wohin sollen wir die Freier führen?« »Ach, die Schlüssel sind so heiß.«

Jesus Christus Aus Amen und Vorbei Warum hast du auch die Erkenntnis nicht versteckt 23

Unter deinem weißen Bilderbuchhemd Alleluhjia, Alleluhjia Om mane padme hum

Aber Gott sei Dank, werden verschmelzen auch die Generäle Ihre Pensionen und die Zahnkronen ihrer unguten Weiber. Und sogar ihre braven Burschen, die auf Urlaub sind. Die Ampeln stehen vermutlich auf Grün. Doch wohin nur mit den vielen vielen zahmen Hamstern Des Filmschauspielers A. L. Kohlmann jun.

Das und eine Million wird sein an diesem Tag, Der im Kalender gar nicht einmal rot angestrichen ist. Doch ein Sergeant aus Abenthum Wird drücken auf einen Knopf, und Dann brechen die Augenblicke zusammen. Nur ein zorniger Strizzi, der gerade davorsteht, kann noch schnell denken: Jetzt wissen wir es endlich einmal, Warum du die ganze Zeit so dämlich gelächelt hast - Mona Lisa.

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Die Sommerischen Kleine Reise in die Vergangenheit Der Schriftsteller Hanns von Gumppenberg, einer der »Elf Münchner Scharfrichter», brachte vor Jahrzehnten die Geschichte seiner Familie zu Papier. Und da stellte sich heraus: Gumppenbergs Vorfahren sind auch die Ahnherren Sigi Sommers. Unter ihnen einige sehr bemerkenswerte Gestalten. Uber sie schrieb Gumppenberg: Um die Zeit der rentamtlichen Praxis meines Vaters war ein Onkel meiner Mutter, der beim Prinzen Karl von Bayern eine Vertrauensstellung innegehabt hatte, in Miesbach ansässig geworden, um dort in ländlicher Ruhe seine Pension zu verzehren. Und er hatte seinen ihm besonders lieben Bruder, den damals in München lebenden Ingenieur-Geographen a. D. Johann Nepomuk Sommer zu dem Entschlüsse vermocht, mit seiner Frau und seiner noch unverheirateten jüngsten Tochter Engelbertha, meiner nachmaligen Mutter, gleichfalls nach Miesbach zu ziehen. Ehe ich den Verlauf der Dinge weiter verfolgte, sei das Bezeichnendste aus der Geschichte dieser bürgerlichen und protestantischen Familie mitgeteilt. Die Urväter meiner Mutter waren gegen Ende des sieb­ zehnten Jahrhunderts und im achtzehnten Jahrhundert ehr­ same Meister der Schneiderzunft. Der Ururgroßvater meiner Mutter, der 1681 geborene und 1747 verstorbene Jakob Sommer, war Schneidermeister und Krämer in Reichenbach bei Roding, der 1734 geborene Urgroßvater, Jakobs ältester Sohn, Johann Adam, Schneidermeister in Regensburg. Die in meinem Besitz befindliche kleine Fotografie eines verloren­ gegangenen Olbildnisses von ihm zeigt einen bedeutenden

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Kopf mit mächtiger Stirn, der eher auf einen Gelehrten als auf einen Handwerksmeister raten ließe. Johann Adam war dreimal verheiratet, hatte aber nur aus erster Ehe drei Söhne. Joseph, den Großvater meiner Mutter (geb. 1764), Jakob (geb. 1768) und Mathias (geb. 1771). Die Neigung zum Romantischen und Ungewöhnlichen, die in der Familie immer wieder hervortrat, ließ einen der Brüder Josephs - ob es sich um Jakob oder Mathias handelte, steht nicht ganz fest - alle Fesseln der zunftmäßigen Überlieferung zerreißen. Das erbliche Handwerk, dem auch er frönen sollte, war ihm unleidlich, er brannte als junger Mensch in die Schweiz durch und ließ sich dort zu den Söldnern anwerben, die damals also um das Jahr 1790 - nach Indien gingen. Dort zeichnete er sich im Heere des Radschah von Sirhint dermaßen aus, daß er schnell zum Oberbefehlshaber vorrückte, die vertraute Freundschaft seines Fürsten gewann und schließlich von diesem, der kinderlos war, adoptiert und zum Thronfolger bestimmt wurde. Vordem Radschah »Somroo«, wie er dann in indischer Anpassung seines Namens hieß, tanzten eines Tages Bajaderen, darunter eine, die sich ebenso durch auffal­ lende Schönheit wie durch Verschlagenheit und Machtgier auszeichnete. Es gelang ihr, den tumben Deutschen so heillos zu bezaubern, daß er sie bei sich behielt, ja zu seiner Gemahlin erhob. Beim Vermählungsfeste wußte sie ihn zu bestimmen, mit ihr Ringe, die in einer Kapsel tödliches Gift bargen, und den feierlichen Schwur zu tauschen, daß jedes den Inhalt seines Ringes austrinken wolle, sobald es vom Tod des anderen erführe. Bald darauf brach in einer entfernten Provinz ein Aufstand aus, während der Radschah gerade an einem Fieber darnie­ derlag. Statt seiner setzte sich die heimtückische Schöne an die Spitze der Truppen, die gegen die Empörer ausgezogen, und erinnerte den arglosen Gemahl beim Abschied noch an den wechselseitigen Eid. Durch einen Günstling, den sie sich

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heimlich beigestellt hatte, ließ sie dann alsbald die falsche Nachricht überbringen, ein feindliches Geschoß habe sie getötet. Worauf Radschah Somroo ohne Besinnen seinen Ring austrank und starb. So am Ziel ihrer Pläne angelangt, bestieg die ehemalige Bajadere den Thron von Sirhint, regierte als »Begum Somroo« mit unleugbarer Herrscherbe­ gabung und machte den Engländern arg zu schaffen. Als auch sie um 1830 gestorben war, ohne erbberechtigte Nachkom­ menschaft zu hinterlassen, suchte die britische Regierung längere Zeit hindurch nachweisbare europäische Verwandte des Radschah Somroo als die Erben eines Vermögens von 500 Millionen. Der Regensburger Ausreißer hatte den ersten Teil seiner indischen Erlebnisse, seinen Aufstieg bis zum Oberbe­ fehl über das Heer und zur persönlichen Freundschaft mit dem Fürsten in mehreren Briefen seinem Vater mitgeteilt und jedesmal betont, daß ihm zum vollen Glück nur die Verzei­ hung des Vaters fehle. Aber dieser, ein typischer Starrkopf, wollte von dem »verlorenen Sohn« nichts mehr wissen und verbrannte alle jene Briefe, ohne sie zu beantworten. So pflanzte sich deren Inhalt und die schroffe Stellungnahme des Vaters nur durch die versöhnliche Mutter als mündliche Überlieferung in der Familie Sommer fort, was gegenüber der späteren englischen Ausschreibung natürlich keinen Beweis­ wert hatte. Doch erzählte der Weltreisende Orlich in seinem Buche über Indien, das noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschien, die ganze Geschichte des Radschah Somroo und der mörderischen Bajadere auf Grund von Berichten, die er von den Eingeborenen an Ort und Stelle erhalten hatte und die auch die süddeutsche Herkunft, den Namen Sommer und das ursprüngliche Schweizer Söldnertum des nachmaligen Radschah bestätigen. Mehrere süddeut­ sche Familien ganz anderen Namens suchten daraufhin zu erhärten, daß ein Angehöriger ihres Geschlechts jener Rad­ schah Somroo gewesen sei. 27

Schließlich konnte eine Familie Reinhard dokumentarisch nachweisen, daß einer von den ihren ungefähr um die ent­ sprechende Zeit zu den Schweizer Söldnern ging. Durch einen erfindungsreichen Advokaten ließ sie geltend machen, der Betreffende sei nach der Familientradition von finsterer Gemütsart gewesen, man habe ihm daher bei den Söldner jedenfalls »Le sombre« (der Düstere) genannt, und aus diesem Beinamen sei dann ohne Zweifel der indische Namen »Somroo« entstanden. Die Engländer erklärten zwar den Beweis für sehr unzulänglich, billigten aber nichtsdestoweni­ ger der Familie Reinhard eine Abfindungssumme von zwei Millionen zu, offenbar, um die Sache damit aus der Welt zu schaffen und die übrigen 498 Millionen bequem und endgül­ tig selbst einstecken zu können. In der Familie meiner Mutter glaubte man aber von jeher fest an die Identität des Radschah Somroo mit jenem Urgroßonkel meiner Mutter, und das hatte auch alle psychologische Berechtigung. Man braucht, ganz abgesehen von der Namensübereinstimmung, nur zu erwägen, daß jene genaue mündliche Überlieferung im eng­ sten Kreise einer schlichten Provinzfamilie vorhanden war, lange ehe Orlich sein Buch schrieb und in Europa die späteren Schicksale des Radschah bekannt und seine Verwandten gesucht wurden. Es läßt sich vorstellen, wie sehr dieser andere Glaube an das zwar nicht erweisliche und nicht verwertbare, trotzdem aber bestehende Anrecht auf ein märchenhaft ungeheures Vermögen den ohnehin in der Fami­ lie vorhandenen Hang zum Ungewöhnlichen und Romanti­ schen bestärken mußte. Noch kurz vor dem Weltkrieg forderte mich eine mir persönlich ganz unbekannte entfernte Verwandte meiner Mutter in leidenschaftlich erregter Zuschrift auf, doch end­ lich meinen Anspruch auf den indischen Fürstenthron und die mittlerweile auf circa 13 Milliarden angewachsenen 500 Millionen geltend zu machen. Zugleich erbot sie sich, mir auf 28

ihre Kosten mehrere Anwälte zur Verfügung zu stellen, in der Hoffnung, daß auch für sie dann ein paar Milliönchen abfallen möchten. Als ich selbst in jungen Jahren zuerst von der Sache erfahren hatte, beschäftigte sie auch meine Phanta­ sie eine Weile, freilich aber nicht im Sinne irgendwelcher materieller Hoffnungen. Hatte doch schon mein Vater in früherer Zeit durch nüchterne Nachforschungen die IJnmöglichkeit festgestellt, mit Hilfe von Kirchbüchern oder ande­ ren Dokumenten den nötigen Beweis zu erbringen. Daß übrigens diese merkwürdige indische Angelegenheit früher weiteste Kreise beschäftigte, zeigt der Roman Jules Vernes »Die Millionen der Begum« wie auch eine Dramatisierung des Gegenstandes, die Friedrich Halm, den Dichter des »Fechters von Ravenna« und des »Sohnes der Wildnis«, zum Verfasser hatte. Abgesehen von diesem unerweisbaren abenteuerlichen Sei­ tensprung auf einem indischen Fürstenthron gewann die Familie Sommer ihren sozialen Aufschwung erst durch den ältesten Bruder des Radschah Somroo, meinem Urgroßvater Joseph Sommer. Auch er sollte nach dem Willen seines hartnäckigen Vaters als Regensburger Schneidermeister leben und sterben, aber auch ihn faßte der Drang in die weite Welt, und wenn er auch nicht bis nach Indien kam, so gelang es ihm doch, bei einem Bischof und anderen hohen Herrschaften Stellung zu finden, sie auf ihren Reisen zu begleiten und so schon in sehr jungen Jahren alle deutschen Staaten, Ungarn und Frankreich kennenzulernen. Dabei arbeitete er in seinen Musestunden, namentlich nachts, mit unermüdlichem Selbststudium an seiner Bildung, so daß er bereits 1793, also mit 29 Jahren, Lehrer der Geographie, der Rechenkunst und der Schreibkunst in München werden konnte und ein Jahr später eine Beamtenstellung im kurfürstlichen MilitärArbeitshause erhielt. Im gleichen Jahre heiratete er ein Fräu­ lein Eleonora von Lindtnern, das er auf dem Gräflich von 29

Brühl’schen Gute Pforten in Sachsen kennengelemt hatte. Es war dieses Fräulein von Lindtnern, die Tochter eines Oberst­ leutnants und eines Fräuleins von Furth, einer Tochter des Bayerischen Kurfürsten Ferdinand Maria aus morganatischer Ehe. Wie nahe die Beziehungen des Fräuleins von Furth zum kurfürstlichen Hause geblieben waren, geht unter anderem daraus hervor, daß ihre Trauung mit dem Oberstleutnant von Lindtnern in der Münchner Hofkapelle unter Teilnahme des ganzen Hofes stattfand, auch waren alte Olbildnisse Ferdi­ nand Marias und des Fräuleins von Furth von Urgroßvaters Zeiten her im Besitz der Familie. Als Mann von rastloser Unternehmungslust und Tatkraft begnügte sich der Großvater meiner Mutter keineswegs mit seiner Beamtenstellung. Im Jahre 1800 gelang ihm die Errich­ tung einer Wollstrickerei, die bald Hunderte von Arbeitern beschäftigte und deren schneller und großer materieller Erfolg ihm nach kurzem ermöglichte, die von Kommerzien­ rat Brügelmann in den Räumlichkeiten des vorerwähnten kurfürstlichen Militär-Arbeitshauses betriebene Leinen­ damastfabrik käuflich zu erwerben. In angestrengter Arbeit brachte er diese Fabrik zu solcher Blüte, daß sich der Ruf ihrer Erzeugnisse über ganz Deutschland verbreitete. Er konnte bedeutende Aufträge für das bayerische Heer über­ nehmen und wurde bald einer der angesehensten und wohl­ habendsten Bürger Münchens, wo er zwischen 1807 und 1811 mehrere Häuser kaufte oder selbst bauen ließ. Außerdem erwarb er 1814 noch ausgedehnte Räumlichkeiten für seine Fabrik und 1818 die Georgenschwaige bei München, wo er eine Leinenbleiche in großem Stil mit besonderem Maschi­ nenhaus errichtete. Seit 1805 Hoflieferant, wurde er 1819 Distriktvorsteher, dann auch ein Mitglied des Polytechni­ schen Vereins und des Generalkomitees des Landwirtschaft­ lichen Vereins, Gemeindebevollmächtigter und Mitglied des Armenpflegeschaftsrates. Er war von hohem und stattlichem 30

Wuchs, und die von ihm erhaltenen Bildnisse zeigen männ­ lich schöne, dabei gutmütige Züge. Mäßig in seinen Lebens­ gewohnheiten, erfreute er sich einer stämmigen Gesundheit und erreichte ein Alter von 81 Jahren. An sein Münchner Wohnhaus schloß sich ein größerer Garten, in dem er, als erfahrener Promologe in ganz München bekannt, die edelsten Obstsorten zog. Aus dieser Liebhaberei war ihm eine leiden­ schaftliche Liebe zur Musik wie auch zu geschichtlicher und geographischer Lektüre eigen. Er muß in jedem Betracht ein außerordentlicher Mann gewesen sein, denn der König Max Joseph würdigte ihn seiner persönlichen Freundschaft. Er zog ihn des öfteren an seine Tafel, deren kostbare Damasttü­ cher aus der Fabrik und deren Obst aus dem Garten meines Urgroßvaters stammten, und auch zu den Kindern der Familie stand der König in vertraulichstem Verkehrsver­ hältnis. In solcher Atmosphäre wuchs neben zwei älteren Brüdern, Joseph und Friedrich, von welchen aber Joseph schon mit acht Jahren infolge eines Apothekerversehens starb, der Vater meiner Mutter, Johann Nepomuk Sommer auf. In ihm gewannen die phantasievoll-romantischen Neigungen des Familiencharakters mit aller Entschiedenheit die Oberhand, während ihnen bei seinem Vater praktische Lebensklugheit das Gleichgewicht gehalten hatte. Einem Jugendbildnis von ihm, das von der Hand des ihm befreundeten Münchner Malers Peter Heß stammte, sah ich in meiner Studentenzeit ähnlich. Und als ich seine Persönlichkeit aus Erzählungen und hinterlassenen Papieren näher kennenlernte, entdeckte ich auch allerlei, gebildet zwar und nach anderen Zielen gerichtet, aber doch unverkennbar. Es steckte auch ein Poet in ihm, der freilich nicht zur Entwicklung kam, sich aber im engeren Kreise deutlich genug kundgab. 1798 geboren, erhielt er Gymnasiumausbildung und erwarb sich am Münchner Lyzeum gründliche Kenntnisse in der französi-

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sehen und englischen Sprache, in den »Artillerie- und Fortifikationswissenschaften«, wie man damals sagte, und in Archi­ tektur- und Terrainzeichnen. Auch musikalischen Unterricht genoß er damals, wofür wohl die Musikleidenschaft seines Vaters mitbestimmend war. Blutjung als Eleve in das stati­ stisch-topographische Büro aufgenommen, bestand er 1815 das für eine dortige Anstellung vorgeschriebene Examen mit Auszeichnung, wurde noch im gleichen Jahre zum »Dessina­ teur-Praktikanten« und 1823 zum »Dessinateur« ernannt. Als »Ingenieur-Geographe« blieb er dann bis 1839 in diesem Wirkungskreise tätig. In seiner Jungmännerzeit nahm er an der romantischen Empfindsamkeit der damaligen teutschen Jünglinge lebhaften Anteil. Er gehörte einem »Bund« von Münchner Altersge­ nossen an, dessen dichtende und schwärmende Mitglieder sich ossianische Namen beilegten und in dem er als »Barde Sined« eine hervorragende Rolle spielte. Vor allem aber begeisterte er sich für die Romantik des Rittertums und für die deutschen Burgruinen. Auf einer Fußwanderung hatte er die damals dem Fürsten Öttingen-Wallerstein gehörenden Überreste der 1809 im Tiroler Krieg zerstörten Burg Hohen­ schwangau kennen- und liebengelernt. Als er 1824 erfuhr, daß die Ruine um 353 Gulden zum Abbruch verkauft werden sollte, faßte ihn das heiße Verlangen, sie zu erwerben. Sein praktisch denkender Vater, an den er sich zuerst wandte, wollte die Kaufsumme für einen »nutzlosen Steinhaufen« nicht zur Verfügung stellen. Ihm erschien der Herzens­ wunsch des Sohnes nur als törichte Schrulle eines Phantasten. Da fiel meinem Großvater der König ein, der ja auch zu ihm vertraulich stand und sich ihm schon bei anderer Gelegenheit gütig erwiesen hatte. Mit raschem Entschluß ließ er sich denn auch heimlich beim König melden, der ihm sogleich die erbetene Audienz gewährte. »Na, Muckl - wo fehlt’s denn?« frug Max Joseph in seiner leutselig-gemütlichen Art den

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fieberhaft Erregten. Und Johann Nepomuk berichtete seine Herzensnot. Der König aber entnahm einer Schatulle eine Rolle Goldes, brach sie mitten entzwei und übergab dem Glücklichen die Hälfte mit den Worten: »Da, nimm, ich will mit dir teilen. Komm aber das nächste Mal zu einer Zeit, wo mein Geld noch nicht so sehr zu Ende naht.« So konnte sich mein Großvater in der Tat die Ruine kaufen. Er versah sie mit einem Dache, restaurierte dann seine Burg soweit, daß sie bewohnbar wurde und verbrachte seine Urlaubszeiten auf diesem seinem erträumten Ritterschloß mit seiner jungen Frau Louise, einer geborenen Stademann, die ihm vier Kinder gebar. Eine Tochter Cäcilie und die Söhne Ludwig, Emanuel und Theodor. Die Ehe war indessen nicht glücklich. Nach­ dem die Gatten schon seit 1827 getrennt lebten, wurde sie aus Verschulden der Frau 1831 gerichtlich geschieden. Die Hohenschwangauer Ruine schmückte mein Großvater mit allerlei altdeutschen Sprüchen in gotischer Schrift, wie er überhaupt den gotischen Stil zeitlebens liebte. Auch mit entsprechenden Malereien verzierte er die Wände der Innen­ räume und verwandte alle seine Ersparnisse auf die stilge­ rechte Verschönerung seines Besitzes. Sehr charakteristisch für seine damaligen Auffassungen und Träume ist ein aus jener Zeit erhaltenes Gedicht von seiner Hand, das mit den Versen beginnt: »Das Geschlecht von Schwanenstein Soll in mir den Vater ehren, Ewig mir gehorsam sein!«

Allein, wie mit seiner ersten Ehe sollte er auch mit seiner ersten Burg kein Glück haben. Der Kronprinz Maximilian von Bayern zeigte gelegentlich eines Ausfluges in jene Gegend solches Gefallen an dem Kleinod meines Großvaters, daß die liebedienerischen Kavaliere seines Gefolges alles

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aufboten, die Burg in seinen Besitz zu bringen. Wie zu begreifen ist, widerstrebte mein Großvater erst hartnäckig dem Verkaufe, schließlich wurde er aber doch genötigt, gegen eine verhältnismäßig geringe Summe sein Schatzkästlein dem Kronprinzen abzutreten. In dem Buche »Das bayrische Hochland« schrieb Gustav Wanderer über diesen Vorgang: »Den im Tiroler Kriege zur Ruine gewordenen Besitz kaufte Fürst Wallerstein auf Abbruch und von diesem 1824 J. N. Sommer, ein begeisterter Archäologe, welcher mit sachkun­ diger Hand die vorhandenen Trümmer wieder zu einem Ganzen verband und die Burg im echten mittelalterlichen Stile zu restaurieren begann. Unter den Bewunderern des neuerstehenden Ritterbesitzes stand Kronprinz Max von Bayern obenan, und den Überredungskünsten seiner Umge­ bung gelang es endlich, den ungern weichenden Retter der Burg 1832 zu deren Abtretung zu bewegen.« Freilich, in späteren Darstellungen der Geschichte Hohen­ schwangaus wurden die Verdienste meines Großvaters um die Erhaltung des Schlosses geflissentlich totgeschwiegen, aus Gründen, die nicht erst betont zu werden brauchen. Natürlich ließ es ihm nun keine Ruhe, bis er eine andere Burgruine erwerben, stilgemäß restaurieren und sich wohn­ lich darin einrichten konnte. Nach fast zehnjährigem Suchen fand er sie in dem unweit Landsberg gelegenen alten Schlosse Kaltenberg. Es war diese Burg 1293 an Stelle eines Römerka­ stells von Herzog Rudolf von Stammler, einem Bruder Ludwig des Bayern, erbaut worden. Spärliche Ruinen krön­ ten einen vereinzelten Hügel, so daß man von ihnen aus das flache Heideland weitum erblicken konnte. Auch diese Reste der versunkenen Ritterherrlichkeit wurden 1841 auf Abbruch ausgeboten. Und mein Großvater, der 1839 wegen eines Augenleidens in den Ruhestand getreten war, zögerte nicht, sie nebst zugehörigen 86 Dezimalen Grundstück um 8000 Gulden zu erwerben. Während der folgenden 13 Jahre restau­ 34

rierte er dann die Ruine gründlichst und ergänzte sie unter bedeutendem Aufwand durch Neubauten, so daß er schließ­ lich eine sehr stattliche und umfangreiche stilecht gotische Burg sein eigen nannte. Auch weiterhin mit seinen archäologischen und künstleri­ schen Liebhabereien beschäftigt, fand er außerdem in der Bewirtschaftung des Schloßgutes, die er mit allem Eifer aufgriff, auch eine Fülle rein praktischer Aufgaben. Bald nach der Erwerbung von Kaltenberg führte er seine zweite Frau heim, Katharina Friedl, die aus einer ursprünglich adeligen, dann durch Verarmung kleinbürgerlich gewordenen Familie stammte und durch Anmut, große Herzensgüte, sonnige Heiterkeit des Gemüts und alle Hausfrauentugenden ausge­ zeichnet, ihm ein volles Eheglück bescherte. Von den vier Töchtern, die sie ihm gab, starb die jüngste, Malwine, schon als zweijähriges Kind. Die älteste, Schwanhilde, heiratete den späteren Kreiskassier Wilhelm Esslair, der als Sohn des berühmten Münchner Hofschauspielers Ferdinand Esslair sich erst selbst als jugendlicher Held auf den Brettern ver­ suchte, dann aber Verwaltungsbeamter wurde. Die zweite, Theodorlinde, wurde die Frau des Rechnungskommissärs und nachmaligen Rechnungsrats Max Rupprecht und starb bei der Geburt ihres ersten Kindes. Die dritte Tochter, Engelbertha, wurde meine Mutter. Die ungewöhnlichen Namen, die mein Großvater seinen Töchtern gab, sind bezeichnend genug für seine romantisch-idealistische Sinnesrichtung. Frau Katharina nahm sich auch der drei Söhne aus erster Ehe mit mütterlicher Gewissenhaftigkeit und Liebe an, daß auch diese mit großer Zuneigung an ihr hingen und das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern sich durchaus harmonisch gestaltete. Das Kalten­ berger Burg- und Familienidyll als die reife Lebensfrucht meines Großvaters muß für alle Beteiligten, namentlich aber

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für die sechs jüngeren Kinder - die älteste Tochter aus erster Ehe, Cacilia, war schon 1842 die Frau des Münchner Bild­ hauers Sebastian Mark geworden -, von größtem Reiz gewe­ sen sein. Meine Mutter hat mir oft genug davon erzählt, und es ging ihr immer das Herz dabei auf. Nicht nur alle archäologischen Kenntnisse und künstlerischen Fertigkeiten, die meinem Großvater zu Gebote standen, verwertete er hier in ganzer Fülle und Meisterschaft, er pflegte auch einen reichen Blumenflor im Schloßgarten, zog Edelobst wie sein Vater, versenkte sich mit liebevollem Verständnis in alle Einzelheiten des Naturlebens und führte mit den Kindern auf Grund seines reichen und vielseitigen Wissens universalbe­ lehrende Tischgespräche über Gott und die Welt. Mein Großvater war trotz der erstaunlichen bienenfleißi­ gen Hingabe und peinlichen Genauigkeit, die alle von ihm erhaltenen kunstschriftlichen, kunstgewerblichen und zeich­ nerischen Arbeiten zeigen, keine Stubenhockernatur. Er hatte von seinem Vater die körperliche Strammheit und Energie geerbt, und seinen großen persönlichen Mut bewährte er bei verschiedenen Gelegenheiten. Als er einmal in München spätnachts und allein von einer Abendgesell­ schaft heimkam, wurde er, der nicht einmal einen Stock bei sich hatte, von zwei mit Messern bewaffneten Strolchen räuberisch angefallen. Kurz entschlossen warf er jedem eine Prise Schnupftabak in die Augen, entwand den schmerzhaft Geblendeten' die Messer und schleppte dann beide Kerle eigenhändig zur nächsten Wache. Auch seine Söhne erfreuten sich dieser körperlichen Frische und Kraft. Der älteste und sehnigste, der rothaarige Ludwig, scheint in jüngeren Jahren sogar eine Art Athlet gewesen zu sein, denn als einmal ein landfahrender Ringkämpfer nach Kaltenberg kam und nach einer siegreichen Probe seiner Leistungsfähigkeit vergeblich alle Zuschauer herausforderte, trat Ludwig gegen ihn in die Schranken und warf ihn auf den Rücken. 36

Die Lebenswege von Johann Sommers Söhnen (Ludwig königlicher Rat, die Brüder Offiziere) verraten, daß auch die Kaltenberger Herrlichkeit entgegen den Seßhaftigkeitsträu­ men ihres Schöpfers nicht von Dauer war. So tatkräftig und hingebend er daran gearbeitet hatte, die Ökonomie ertragsfä­ hig zu machen, war er doch seiner Vorbildung nach fast ebensowenig ein landwirtschaftlicher Praktiker wie mein Großvater Gumppenberg. Und schließlich mußte er einse­ hen, daß der Besitz des Schloßgutes, dessen Restaurierung und Verschönerung ohnehin den größten Teil seiner Mittel in Anspruch genommen hatte, auch den Rest seiner Habe verschlingen würde. Schweren Herzens vertauschte er daher im Oktober 1854 Kaltenberg gegen drei Anwesen an der Erzgießereistraße in München. Dieser Schritt war aber unheilvoll genug, denn die Neuerwerbungen erwiesen sich auch nicht annähernd so erträgnisreich, als man sie meinem Großvater dargestellt hatte, so daß er sie schon nach wenigen Jahren zur Deckung seiner Verpflichtungen abgeben und froh sein mußte, als bescheidener Mietwohner ohne alle Burgromantik, aber wenigstens auch ohne drückende Sorgen seine Tage beschließen zu können. Von seinen Kindern teilte nur mehr meine nachmalige Mutter das still zurückgezogene Leben meiner Großeltern und begleitete sie dann auch nach Miesbach, als der Großvater jener Ubersiedlungsanregung seines Bruders Friedrich folgte. Die menschliche Eigenart meines Großvaters Sommer, so wie sie in seiner späteren Lebenszeit ausgeprägt war und unvergeßlich in der Erinnerung seiner Kinder fortlebte, kennzeichnet wohl nichts besser als ein großes dickleibiges Notenbuch in liegendem Format aus starkem Kartonpapier und mit massivem Halbledereinband, eine »Allerlei für das Pianoforte« betitelte Sammlung damals besonders beliebter Salonstücke und Potpourris, die er für seine Töchter und zwei Nichten Malwina und Thusnelda eigenhändig zur litho-

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graphischen Vervielfältigung schrieb, mit unendlichem Fleiß und so mathematischer Genauigkeit, daß diese handschriftli­ chen Noten in keiner Weise von gesetzten zu unterscheiden waren. Dabei gab er jedem einzelnen Stück der Sammlung eine charakteristische, angepaßte zeichnerische Umrahmung und sonstige Verzierungen ornamentaler oder figürlicher Art, die bald alte Motive der Gotik oder Renaissance in freien Kombinationen verwerten, bald auch seine eigenste künstle­ rische Phantasie in reiz- und geschmackvollen Gebilden spielen ließen. In dem Exemplar meiner Mutter, die als jüngste und charakterverwandteste Tochter wohl sein Lieb­ ling war, kolorierte er dann auch diese zeichnerischen Aus­ schmückungen, und zwar mit so meisterlich feinem Farben­ sinn, daß Maler von Beruf, die das Buch sahen, bis in die neueste Zeit ihre helle Freude daran hatten. Aber auch menschlich und dichterisch wurde dieses Buch zu einer Spiegelung seiner Persönlichkeit. Eines der Titelblätter zeigt einen Kranz erblühender lichtroter Rosen, aus deren halbver­ schlossenem Kelch die Köpfe der beschenkten Mädchen hervorguckten und inmitten dieses Rosen- und Mädchen­ kranzes, dem Beschauer verträumt entgegenblickend, das Brustbild des fleißigen Notenschreibers, auftauchend aus einem stilisierten Sonnenblumenkelch, während sich links und rechts von dem Kranze, durch zierliche ornamentale Schnörkel damit verbunden, Vergißmeinnichtsträuße er­ heben. Darunter aber trägt, wieder in geschmackvoller Verknüpfung mit dem Ganzen, eine Gedenktafel die Verswidmung. Bei der poesievollen Veranlagung und Lebensauffassung meines Großvaters Sommer konnte es nicht fehlen, daß er wie zu vielen Münchner bildenden Künstlern auch zu einzelnen Dichtem der damaligen Zeit Beziehungen gewann. So war er namentlich mit Jean Paul Richter näher befreundet, von dem auf diese Art mancher intimere Zug in der Familie bekannt

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wurde. Unter anderem die Gewohnheit, sich vor dem dichte­ rischen Produzieren ein Sekträuschchen anzutrinken. Übri­ gens war auch sein Großvater selbst ein Freund und Kenner edler Weine, ohne daß die Mäßigkeit seiner Lebensweise dadurch beeinträchtigt worden wäre. In seiner besten Kalten­ berger Zeit lag eine stattliche Sammlung erlesener Flaschen für Gäste und festliche Gelegenheiten im Schloßkeller bereit. Außer jenem Notizbuche, mit dem ich schon in meiner Knabenzeit vertraut war, blieben von unserem Großvater in meinem Elternhause namentlich auch eine Reihe kunstvoller, mit demselben Stilverhältnis, Schönheitssinn und eisernen Fleiß ausgeführte Holzschnitzarbeiten erhalten und im Sinne seiner Geistesrichtung wirksam. So eine Anzahl von Schränkchen und Truhen und ein größerer Schreibtisch, der später in meinen Besitz überging, und den ich dann selbst in Gebrauch nahm. Von den erwähnten beiden Kusinen meiner Mutter aber war Malwina die Tochter des Landschafters Lorenz Quaglio aus der bekannten Münchner Künstlerfamilie der Quaglios geworden. (Aus: Gumppenberg „Lebenserinnerungen“, Berlin-Zürich 1929)

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Im Schloß meiner Ahnen Gleich hinter der Tür des Königschlosses hängen vier kleine Kanonenkugeln an der Wand. Und der Fremdenführer erklärt in einem Sprachgemisch von sächsischem Beamten­ deutsch und Steingadener Zahnweh-Dialekt, die Franzosen hätten seinerzeit mit diesen Eisenbatzen vom Nachbarberg auf die Burg Hohenschwangau geschossen. Ein gemütlicher alter Münchner meint zu diesem lächerlichen Bombarde­ ment: »De hätt’n ja genausoguad glei mit Leberknödl rüberschmeiß’n könna.« Die ehrwürdige Schloßkapelle ist heute Billettl-Raum. Und in der zeitblassen Sakristei, die dem Kastellan als Büro dient, liegt ein angebissener Bauernapfel auf einem handge­ schnitzten Betschemel. Neben einem Ölgemälde aber, das eine verruchte Sünderin im Kniefall darstellt, hängt ein graues Thermometer, das genau zweiundsechzig Grad anzeigt. Viel­ leicht die Temperatur der liederlichen Weibsperson zur Zeit ihres Fehltritts. Vor mir geht eine breithüftige Ausflugs-Walküre, die einen Buben mitführt, dem die Ohren groß und ausgedehnt wie zwei Kirchweihnudeln wegstehen. Bei allem, was der bescheidene Sprößling sieht oder was erklärt wird, deutet er mit seinem wundgelutschten Zeigefinger hin und sagt lako­ nisch: »Haben, haben.« Auch als der Führer vor den Orden­ schränken der bayerischen Könige erklärt: »In der Middä sähen Sie den Burlamähride und danäben ein Gemälde, darstellend die Ölsa mit dem Schwan«, sagt der Gnom »haben.« Ein blaß geschmirgelter Eisenritter steht auf dem Treppenabsatz und ist oben offen, so daß viele Besucher ihre Eintrittskarten und sonstige Papierl in das Innere des Zink­ blechrecken fallen lassen können. Beim Betreten des ehemali­ gen Wohnraumes Seiner Majestät des Märchenkönigs ziehen 41

sechzehn bayerische Bauern ihre Hüte. Aber als der Geschichtskundige erzählt, daß die Mutter des Königs Maria hieß und eine Preußin war, setzen zwei ihren Scheitelschoner schwer enttäuscht wiederauf. Ein Mädchen, das den Daumen

Sigi Sommers Urgroßvater, der Königliche Rat Ludwig Sommer, aufge­ wachsen in den Schlössern Hohenschwangau und Kaltenberg.

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Ernennungs-Urkunde meines Urgroßvaters Ludwig Sommer zum Gehei­ men Sekretär im Staatsministerium des Inneren. Zwei schäbige Schachteln Chesterfield wollte mir ein Souvenir sammelnder Ami-Soldat 1945 für dieses Original-Dokument mit der eigenhändigen Unterschrift des »Märchenkö­ nigs« Ludwig II. geben. Da hörte ich lieber das Rauchen auf.

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tief im Munde hat, wird von ihrer Mutter hart angefahren: »Schämst di net, im König sein Zimmer.« Zu den Umstehen­ den jedoch sagt sie mit einem entschuldigenden Blick auf die marmorblaße Monarchenbüste: »Wissen’s, sie is hoid von Gelsenkirchen in de Ferien da.« Hernach erläutert der Burg­ verwalter ins Hochdeutsche übersetzt: »Diese Uhr hat noch König Ludwig schlagen hören. Er war einen Meter vierund­ neunzig groß und galt als der schönste Mann von Europa.« Und er fügt noch hinzu, auf den Chronometer deutend: »Sie geht heute noch.« Acht Touristen vergleichen darauf sofort die altehrwürdige Zeit mit der ihrer Armbanduhren und nicken bestätigend. Dann klimpert der wackere Erläuterer auf dem Klavier Seiner Königlichen Hoheit. Kein Zweifel, es ist »Hänschen klein«. Im Toilettenschubladen der weiß-blauen Queen, den ich vorsichtig aufziehe, liegt ein Stück Leukoplast und ein Klumpen Glaserkitt. Energisch hält ein junges Mädchen ihren Galan beim Ärmel fest und zeigt ihm lange das Bild, wie der Herzog Ludwig seiner Ludmilla die Ehe verspricht. »Haben, haben«, sagt das Nudelohr und deutet auf den abgeschlagenen Kopf eines Türken, der bei dem Gemetzel, das Barbarossa unter den Heiden anrichtet, fast vor die Füße der Besucher rollt. Plötzlich reißt der Führer blitzschnell eine Bettdecke herab und erklärt: Darunter habe Richard Wagner immer geschlafen. Drei Damen sind sichtlich enttäuscht, weil der Komponist nimmer darunter liegt. Zum Abschluß erzählt der brave Schloßwart noch, daß früher zehn Festmeter Holz täglich in den vielen Kachelöfen verheizt wurden. »Und heite hamma nur ne einzche Butzfrau noch.« Es kling wie ein unverzeihlicher Vorwurf gegen die miserable Königstreue der bayerischen Ritzenreinigungsdamen. Als die Besichtigung von Neuschwanstein endgültig zu Ende ist, deutet der winzige Ohrenprinz gleich gar noch auf das ganze Gebäude und fordert hart: »Schloß haben.« Da 44

aber sagt die Mama endlich: »Da hättest schon bei der Auswahl deiner Vorfahren vorsichtiger sein sollen, weißt, Emil.« Ich muß bei diesen Worten ein bißchen ironisch lächeln. Denn vor rund einhundertfünfzig Jahren hieß der Herr von Hohenschwangau nämlich nicht etwa Maximilian oder König Ludwig. Sondern ganz schlicht: Johann Adolf Nepomuk Sommer. Und das war der Ururgroßvater von mir. Trotzdem aber mußte der Chronist halt achtzig Pfennig Eintritt bezah­ len in die Burg seiner Väter. »Sic transit gloria mundi.«

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»Uff Uff« Am schönsten war es immer am Sonntagvormittag. Wenn mein Vater unsere Großmutter fesselte. Da stand die alte, leise lächelnde Frau vor einer riesigen Schüssel in der Küche und rieb die Kartoffeln für die Feiertagsknödel. Mein Vater, der große Häuptling »Abendwind«, schwang unter der schwankenden Gaslampe ein Wäscheleinen-Lasso, zielte, warf und fast jedesmal senkte sich dann die Schlinge um unsere Oma. Unterdessen hatte »Bull Brake«, meines Alten jüngerer Bruder, ein Bügelbrett an die Küchentüre gelehnt und darauf in Augenhöhe den Kopfsalat für das Mittagessen montiert. Dies sollte wohl ein Marterpfahl sein, an den ein schuftiger Renegat gebunden war. Denn mein Onkel warf mit scharfen Messern nach dem grünköpfigen Halunken immer knapp links und rechts vorbei. Manchmal allerdings traf er den grasigen Verräter auch mitten ins Herz, so daß er schmerzhaft die Blätterohren hängen ließ. Aber das machte nichts, denn er kam ja sowieso bald in die Salatschüssel. Meine Mutter, längst an das Leben einer ergebenen Squaw gewöhnt, schüttelte nur manchmal heimlich den Kopf zu diesem Treiben, während ich selber mit winzigem Kriegsge­ schrei vor dem kleinen Hasenstall hin und her sprang, der auf unserem Balkon stand und den erstaunt blinzelnden »Belgi­ schen Riesen« bedrohte. Schon in frühester Jugend machte mich mein alter Herr mit der glorreichen Vergangenheit des sterbenden Indianervolkes bekannt. »Sitting Bull«, der rote Napoleon, war mir schon weit früher ein Begriff als der Fürst Bismarck. Und an der Wand unseres gemeinsamen Schlaf­ zimmers hing ein riesiger Farbendruck, welcher das blutige Ende darstellte, das der große schweigsame Chief dem Rei­ terheer des amerikanischen Generals Custer bereitete, als er am Little Big Horn drei Kavalleriebrigaden bis zum letzten Mann aufrieb.

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Mein Vater, der Häuptling.

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Die Stämme der Dakotas, der Sioux, die edlen Blackfoots, Delawaren und Cheyennes kannte ich längst vor den Schwa­ ben oder Sachsen. Und ich wußte schon, wohin der Rio Grande floß, bevor man mir sagte, wo die schöne grüne Isar entsprang. Etwa im siebten Jahre meiner herrlichen Kindheit mochte es gewesen sein, da bekam ich dann meine Feuertaufe. Es war ein Tag, an dem meine Mutter in die Stadt gegangen war, um billige Äpfel zu kaufen. Es wurde teures Obst. Denn mein Alter nahm mich bei der Hand, und wir gingen ins Schlafzim­ mer. Dort schnitt er in eine alte Schuhschachtel ein Loch, stellte eine brennende Kerze hinein und leimte diese kleine Laterne dann an die Wand. Ich mußte mich auf den Boden setzen wegen des Rückstoßes und mit beiden Händen den Griff eines sechsschüssigen Colts umspannen. Während mein Vater hinter mir saß und mich festhielt. Dann versuchten wir das Licht auszuschießen. Schon beim ersten Donnerschlag löste sich ein pfannkuchengroßer Mörtelfleck vom Verputz und als die Trommel leer geschossen war, saßen wir im Pulverdampf und Mörtelstaub. Da kam dann plötzlich eine unwiderstehliche Kleinkaliberwut über uns und nacheinan­ der nahmen wir den gräßlichen Dornauszieher auf der Kom­ mode, die Strohblumen vom Vertiko und sogar das linke Ohr der Gipsbüste vom Prinzregenten Luitpold unter schweres Feuer. Bis endlich nach einer halben Stunde eine gewisse seelische Erleichterung eintrat. Dann nahm mich mein Vater, der Häuptling, wieder bei der Hand und wir gingen in die nahe Wirtschaft, um dort die Heimkehr unserer Mutter abzuwarten. Manchmal hielt der Wildwest-Verein im Isartal auch ein Sommerfest ab. Da wurde dann über offenem Feuer saftige Büffellende gebraten und von vielen Gästen augenrollend verzehrt. Erst später erfuhr ich, daß diese Büffellende vom Pferdemetzger Hieb stammte. Von dem die Leute manchmal 48

Aber nicht nur mit Tomahawk und Lanze war mein geliebter Alter vertraut, sondern ebenso sehr mit dem Violinbogen. Und wenn er bei geöffneter Balkontür am Sonntagvormittag dicTosclli-Serenade auf einer alten Meister­ geige fiedelte, dann war es mäuschenstill im mürben Hinterhaus und nur mehr das leise Rieseln des Steinsandes war noch zu hören. Ein dezenter Applaus, für den sich der verhinderte Paganim stilgerecht verbeugte, dankte ihm für das kleine Hofkonzert.

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recht gern erzählten: »Beim Hieb ist wieder weiße Woche. Er hat einen Schimmel geschlachtet.« Nun, vor zweiundzwanzig Jahren ging mein Vater in die »ewigen Jagdgründe« ein. Es war ihm vergönnt, als Mann zu sterben. Als ich ihn zum letzten Mal sah, saß er aufrecht und stumm im Bett und ich mußte an das Gedicht denken, das er oft zitiert hatte: »Vorseinem Wigwam im Wald, saß der letzte der Mohikaner. Erloschen das Auge und kalt.« Der Professor, mit dem ich nachher sprach, sagte sinnend: »Welch ein Glück, wenn sich ein Mensch die Ideale seiner Kindheit bis ans Ende seiner Tage bewahren kann.« Monate nach seinem Tode kam eines Tages noch ein verknitterter Brief an. Aus Arizona. Zehn abgegriffene Dol­ larscheine waren drin und ein paar ungeschickte Zeilen. »Für Blumen auf meines Vaters Grab« hieß es. Ein paar echte alte Indianer aus der Reservation hatten sie gesammelt. »Uff, Uff«. Mag sein, daß mein Vater nur ein kleiner unbedeutender Arbeiter aus einer Münchner Vorstadt war. Für mich bleibt er immer der große Häuptling »Abendwind«.

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Zahme Wildwestler Es war vor Jahrzehnten im Nebenzimmer der realen Bier­ wirtschaft »Zur Abendsonne«. Da rollte der Hosenschneider Sebastian Zagerl sein rotes Buffalo-Bill-Heft zusammen, stieß seinen Maßkrug um und sprach: »Des dabacka de niamois alloa. Dreihundert Komantschn san scho wieda im Anmarsch, und de Delawaren kumma aa no dazua. Und do soid da Buffalo Bill mit zwoa oide Trapper des Fort Roxy hoidn. Nia, sog i.« Und »nia« rufen auch der Pflasterer Bruch, der Nepomuk Szabo, den sie Zigeunermuckl nennen, der Invaliden-Max und die anderen Gäste der »Abend­ sonne«. Die Kellnerin Minna nickt dazu. Also beschlossen die jungen erbosten Zecher auf Vorschlag vom rasch herbeigeeilten Wirt, vorerst zur moralischen Unterstützung der Trapper, Waldläufer und weißen Pfadfin­ der im fernen Amerika den Stammtisch »Wildwest« zu gründen. Später wollten die sieben Aufrechten, denn so viel waren es beim raschen Durchzählen, dann selber an den Rio Grande del Norte eilen, um dort die Lage zu bereinigen. Das Geld für die große Fahrt aber sollte nach einem Mehrheitsbe­ schluß der versammelten Abenteurer durch einen größeren Gewinn in der Klassenlotterie beschafft werden. Fortuna jedoch hielt bereits lächelnd den Daumen nach unten. Da sprach der Hosenschneider abermals: »Liebe Wild­ westler. Indem es sich aber schlecht anhört, wenn ich mich beim Buffalo Bill vorstelle: >Gestatten, Kundschafter Zagerk, schlage ich vor, daß wir uns alle anderscht hoaßn. I bin deshalb ab sofort der Frank Gordon.« - »Dann hoaß i glatt >Bill MontanaPa-Ha-haska< nennen, was auf Indianisch soviel wie Langhaar bedeutet.« Der Postler war schon etwas ausgedehnt kahl.

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Leise lächelnd, wie über eine Jugendtorheit, erzählt uns der alte Wildwest-Romantiker die Griindungsgeschichte des Münchner Cowboy-Clubs. Blutjung war er selbst, der »Old Shatterhand« der Isartaler Lederstrümpfe, Cowboys und Rothäute. Und er ist auch der letzte der sieben Befreier vom Fort Roxy. Die anderen haben längst in das immergrüne Gras der ewigen Jagdgründe gebissen. »Old Shatterhand« selber wurde nur durch die Jahre ein bißchen skalpiert. Doch, wie er den Büffellederdeckel des Vereinsalbums aufhebt, in das die alten Zeiten und Winnetous Enkel eingeschlossen sind, mur­ melt er den Trappergruß, den sich die Abenteurer aus der »Abendsonne« einst zuriefen, vor sich hin: »How kola - gut Freund.« Das waren sie also: Sechs drohende Revolverläufe zielen dem Betrachter genau zwischen die Augen. Verpackt und verschnürt wie ein DDR-Paket, liegt der siebente Krie­ ger auf der Theresienwiese und blickt flehentlich zum soeben angezapften Freibierfaßl hin. Es ist der Zigeunermuckl, der sich in die Rolle einer schuftigen Rothaut finden mußte, denn die Rächer vom Rio Grande brauchten ja auch einen Komantschen, an dem sie ihre Tricks und Griffe für den Ernstfall üben konnten. Im Hintergrund die Bavaria. Darunter »Das Gründungsfest«. Dann folgen ein paar Bilder als grauhäutige Kundschafter Kaiser Wilhelms. Und dann ein zweites Gründungsdoku­ ment. Mit einigen neuen Gesichtern. Ja, wer hoppelt denn da über die Prärie? Tatsächlich, es ist der Joe Stöckl, der seinerzeit mit den Münchner Lederstrümpfen seine ersten Wildwest-Filme drehte. Und jener Missionar? Das war der Pater Andreas Gietl, der lange Jahre unter den echten Sioux gelebt hatte, aber sich bei den Sendlinger Apachen genauso wohl fühlte. Darunter: »Ein Sommerfest.« Ei, wie schmeckte den dummen Bleichgesichtern und ihren Hängekleid-Squaws das köstliche Deichsel-Schweinerne der letzten bayerischen Kavalleriegäule, das die pfiffigen Cowboys am Lagerfeuer

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brieten und nur an ganz besonders verständige Feinschmekker verkauften. Und weiter durch die Jahre. Der Cowboy-Club ist längst zu einem friedlichen und angesehenen Verein geworden, der seine eigene Ranch besitzt und eine bedeutende ethnographi­ sche Sammlung sein eigen nennt. Amerika hat sich ja auch inzwischen selbst geholfen. Und weil die Münchner Weide­ reiter nicht nach dem Wilden Westen kamen, kam dieser zu ihnen. Mit der Indianertruppe des Circus Krone zum Bei­ spiel. Ja, und da starb dann auch einmal ein junger Krieger im Schatten des Alten Peter. Schwarzer Elch hieß er. Aber auf dem Grabstein im Schwabinger Friedhof stand Josef Xapanka, denn er war getauft. Trotzdem saß sein Stamm die ganze Nacht am Grabhügel und sang ihm Klagelieder. Und die Münchner Rothäute sangen mit. Längst schrieben sich die Freunde diesseits und jenseits des großen Teiches. Als dann die Völker der Welt wieder auf den Kriegspfad zogen, schickte der Häuptling »Tonka ta Tanka« aus der Sioux-Reservation dicke Pakete. Mit saftigen Büffel­ lenden. Und Virginia-Tabak. Und so kam es, daß die Frie­ denspfeifen auch in jener Zeit nicht verlöschten. Doch das letzte Revanchepaket mit Glasperlen und Adlerflaum, das der Club hinübersandte, kam zurück. »Empfänger gestorben«, stand im Begleitbrief. Und ein Sterbebild von »Tonka ta Tanka« im vollen Kriegsschmuck lag dabei. Old Shatterhand schließt das Album. »Jetzt muaß i meine Tropfa nehma«, sagt er. »Sechzehn - achtzehn - hoppla.« Die nie fehlende Schmetterhand ist unsicher geworden. Sie trifft nicht mehr ganz genau in den Kaffeelöffel.

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Es waren einmal siebzehn junge Krieger Die erste Seite des alten Albums zeigt einen nackten Wicht auf einem Eisbärfell. Der runde Muskopf ist dem Beschauer zugedreht und fragt erstaunt: »Wieso zum Beispiel?« Und die Augen sind zwei Wacholderbeeren, die sich in eine Hefennu­ del verirrt haben. Dann kommt auch schon das Kommunion­ bild mit trutzig vorgehaltener Kerze. Nun, sie ist etwas verwackelt. Das war, weil die schwarzen langen Woll­ strümpfe so bissen. Das dritte Dokument aus dem Vorgestern aber ist eine Totalansicht von Winnetous Erben. »16 junge Krieger, Flaucher 1927« steht quer darunter. Nur muß sich der Schreiber dieser Unterschrift verzählt haben, denn das Foto zeigt 17 kleine Indianer. Wie dem auch sei, der dritte von rechts, ja, der mit dem Tafelmesser zwischen den Milch­ zähnen und dem Sperrholzkriegsbeil in zerschundener Schusserhand. War ich. Ein Jugendbild tut immer weh. Man schaut es an wie ein Vertriebener. Auch die 17 jungen Krieger hat das Leben hinausgestoßen aus ihren befransten Rupfenhosen. Und hin­ ein in den Arbeitsdrillich, in die Uniform oder auch schon in den hölzernen Wigwam des ewigen Friedens. Howgh. Aber will der Krieger »Kritzelnde Lanze« nicht lieber erzählen von den Taten und Abenteuern seiner Kriegsgefährten auf ihrem Weg ins Leben. Anstatt sich das Auge trüben zu lassen von dem salzigen Wasser der Erinnerung. Ja doch, natürlich, das will er. Also in der Mitte, dessen Viertklasslerstirne mit den Schwänzen zahlreicher Kirchweihhasen garniert ist, das war unser Häuptling »Eisenkopf«. Als er die Führung des Stam­ mes übernahm, mußte er eine Eignungsprüfung über sich ergehen lassen. Jeder Krieger durfte mit der Faust eine 54

Walnuß auf seinem Kopf aufschlagen. Wir hatten sie in der Stadtgärtnerei erbeutet. Sie waren noch ganz frisch. Na ja, ein paarmal zuckte der Häuptling schon. Vielleicht hatte er auch bloß Angst, daß einer danebenhaut. Nachher sah die edle Rothaut aus, als hätte ihn ein Schwarm Hornissen frisiert. Aber ein Indianer kennt keinen Schmerz. Glaubten wir. Er war jedoch nur am Kopf so hart. Denn, wenn ihn in der Schule der Lehrer rückwärts »ausstaubte«, war sein Wehge­ schrei bis mindestens zum Rio Grande zu hören. Aber heut ist er Beamter und hält hinten auch was aus. Er sitzt acht Stunden am Tag. Allerdings nicht auf Walnüssen. Aber immerhin. 55

»Siehst Vater du den Hut dort auf der Stange?« Keine Stange, mein roter Bruder, das war der lange Vogelmeier. Und auch kein Hut. Die zwei Fittiche an seinen Schläfen stammen von einer Weihnachtsgans, weil sie einen Mietgar­ ten hatten. Und der Franzosenhelm, auf dem sie montiert waren, hing vorher lange Zeit auf dem Balkon an einer Kette, als Blumentopf. Der Schüler Vogelmeier durfte alle Schwät­ zer der Klasse auf die Tafel schreiben, weil er doch so groß war. Stand aber nie einer drauf. »Die Kreide ist mir abgebro­ chen, Herr Lehrer«, meldete Kundschafter »Zittergras«. Später wurde er Vertreter. »Gestatten, Vogelmeier, Sterbe­ geldversicherungen.« Er verbeugte sich immer sehr wegen seiner Länge. Und dann kam er nochmals auf den Kriegspfad. Ich sah ihn fallen. Bevor er hinfiel, machte er schnell noch seinen Diener. Als wollte er sagen: »Danke für den Auftrag.« Eins, zwei, vier, nein sechs Kreuze schweben unsichtbar über den letzten Mohikanern. Dazu noch der Watzmann Lullu. Immer hatte er den linken Fuß vorne wie ein Fechter beim Ausfall. Wenn er ein Gedicht aufsagte: linker Fuß vorne. In der Turnhalle beim Abzählen, ja sogar, wenn der Schulrat kam, und auch auf seinem Hochzeitsbild. Im Krieg wurde er Bombenwitwer. Später stand er dann einmal im Polizeibericht als Trittbrettfahrer. Jetzt sitzt er manchmal am Eingang der eleganten Passage. Und hat den rechten Fuß vorne, der andere fehlt. Feuersteine verkauft der Lullu, Schuhbänder und Rasierklingen. Mich kennt er längst nicht mehr. Man sagt, er sei meistens betrunken. Ja und dort der winzige Blank-Poldi mit der kahlen Lauskugel. Ein Schürzeri trug er noch und eine Botanisier­ büchse. Wir brauchten ihn immer dringend für den Marter­ pfahl. Nein, der schöne Schild vom Guggemoos Willi ist nicht gekauft. Das war nur ein umgedrehter Aschentonnen­ deckel. Und wie der Gang Lorenz mit seinem Pfeil drohend in die Zukunft zielt. Und getroffen hat der auch noch. Erst 56

kurz einen Zehner im Toto. Jetzt brät er Schaschlik im Hausgang. Zahme Büffellende überm Siemens-SchuckertFeuer. Und links mein Busenfreund Tom. Auch Tomate genannt. Immer wollte ich seine schöne Schwester heiraten. Doch die nahm dann einen wirklichen Cowboy. Und ist schon lange drüben in den Staaten. Und die Tomate ist ausgezeichnet gediehen. Als Verkehrsschutzmann. Alle Leute kannten seinen roten, freundlichen Kopf. Manchmal beim Haltesignal schrie er zu mir herunter: »Howgh, alte Fischhaut.« Und dann raste ich schnell die dreißig Jahre zurück. Bis Grün kam. Da schimpfte aber die Tomate: »Komm, komm, weiter geht’s. Halt mir die Leut nich auf mit deiner Träumerei.« Nachdem aber die Verkehrspolizisten heute fast alle durch Ampeln ersetzt wurden, habe ich den Tom auch schon lange aus den Augen verloren.

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Aus der Jugendzeit Stiegenhausfreuden Wenn auf der Gassn der Nebel um die frischgefüllten Sandki­ sten schlich, war die Freiluftsaison bei den Kindern zu Ende. Dann verlegten sie ihre Spielplätze in windgeschützte Torein­ fahrten, in die Hausgänge und Treppenhäuser, die Wohnkü­ chen und Waschspeicher. Auch das Spielzeug wechselte dann. Das Radirutsch wurde im Keller zwischen den Kapuzinerkistln aufgebockt, die verrunzelte Kastanienkette heizte die Mutter verstohlen ein, und die scheppernden Radfelgen wurden neben dem Fußwaschwandl auf den Balkon gehängt. In die alten Mietshäuser aber zog neues Leben ein. »S’Good, Frau Waglhuaba, bittschön deaf da Schole a weng aufs Schtianghaus naus«, fragte der Waggi mit abge­ blendeter Scheinheiligkeit in den Augen. »Meinatwen«, sagte die Vielgeplagte, »aba deats’ma fei d’ Wäsch net verschmiern.« »Auf Ehr net«, beteuerte der Waggi und wuzelte verlegen den blauen Zimmermannstift in der Hosentasche. Im ersten Stock saßen mit angezogenen Knien zwei Spezi auf dem Stiegenhausfensterbrett und warteten schon. Der Schole schlug ein schönes Spiel vor. Sie nahmen den eisernen Fußrost vom Parterre, setzten sich drauf und rutschten damit die steinernen Staffel zur Kellertür hinab. Das Geschepper hörte der magenkranke Eisenbahner Züngerl vom vierten Stock bis unter das Bettplümo, wo er seinen Kopf verzweifelt versteckte. Es ging um die Weltmeisterschaft im Hallenbob. Manchmal öffnete sich eine Wohnungstür und rahmenfül­ lende Hausfrauen wischten sich drohend die nassen Hände an der Schürze ab. Da redeten die Buben schnell von der Hausaufgab’ und grüßten laut mit frischem Blick. Dann setzten sie sich zur Beratung alle vier auf die unterste 59

Treppenstufe, so daß der eintretende Briefträger bescheiden lächelnd sagte: »Bittschön vorbeigehn zu dürfen.« Schließ­ lich einigte man sich auf ein Fußballwettspiel und der Waggi zog einen gehäkelten Stoffball, die Handarbeitsaufgabe seiner Schwester Minna, aus der Tasche. Der Türstock vom Trompeter Hackl war das Goal. Jedes­ mal, wenn ein Tor fiel, pumperte es dumpf. Beim Stande von 11 : 10 ging die Tür auf und vorbei am öffnenden Musikus sauste ein Volleyschuß vom Bene ins unbekannte Wohnungs­ dunkel. »Hundsgribben, den Boi hoaz i ei«, drohte der erzürnte Trompeter, aber der Waggi parierte: »Dea g’heat ja gor net uns, dea g’hört da Hausvawoita-Bobby, de sogt’s ihram Babba, na müassn S’ ausziang, aber schnoi.« Nachmittags war es dem Schole gelungen, den Waschspei­ cherschlüssel vom Rahmeri abzuhängen. Deshalb wurde nun der Ort der Handlung unter die Dächer verlegt. Die vier jungen Musketiere hatten sich nach dem Muster von Tom Mix meterlange Cowboypeitschen gemacht. Der Waggi war der erste, der die Treffsicherheit seiner befreundeten Trapper über sich ergehen lassen mußte. Er kriegte ein zusammenge­ rolltes Papierröhrl in den Mund gesteckt und die anderen versuchten nun, ihm dasselbe mit einem kräftigen Hieb herauszuschnalzen. Weil sich die Geißelschnüre aber schon ein paarmal in den aufgehängten Unterhosen verfangen hatten, war die linke Wange des tapferen Artisten rasch liniert wie ein Lateinheft. Da schlug der Mißhandelte vor: »Wißt’s wos, i hoi unsan Lux rauf, mit dem kemma pfundig trainieren. Dem bind’ ma des Papierl an Schwanz hi, do is der fast unempfindlich, weil eahm neili a Handkarren driba gfahrn is.« Der Lux aber war längst schon für andere Rollen eingeteilt. Es wurde ihm drunten in der Waglhuberküche von der Meisi gerade ein Puppenpullover angezogen und eine Serviette umgebunden. Dann mußte er sich ins Kinderwagl legen und

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die Augen schließen, was ihm die Meisi vormachte. Auf einem kleinen Hockeri aber saß der scharlachverdächtige Bubi und malte ein Mandl mit Steckerifingern. Er würde das Kunstwerk nachher seiner Großmutter um ein Fünferl anbie­ ten, und die würde es auch kaufen.

Das Bergeri Das Bergeri gehörte genauso zu den Inseln der Kinderselig­ keit, wie die Sandkisten, die alten Gaslaternen oder die dunklen Toreinfahrten. Jedes Vorstadtviertel besaß minde­ stens ein solches Bergeri, das durch die Aushebung eines Baugrundes, einer Kiesgrube oder aus einem Schuttablade­ platz und leider oft auch durch das Explodieren einer fetten Bombe entstanden war. Während das Bergeri im Sommer nur geringe Bedeutung hatte, und höchstens einmal von einem Trupp Hühnerfedern-Mohikaner gestürmt wurde, wuchs sein Lustbarkeits­ wert im Winter ganz gewaltig. Kaum hatte Petrus seinen kühlen Knecht Korbinian Reaumur auf die Erde geschickt, da nahte im Dezember-Gedämmer der Waginger Lenzl mit einer alten Wasserkanne und goß auf dem Bergeri eine »Rutschn« auf. »Hod scho ganz zeam ozog’n«, stellten am anderen Morgen seine Spezi sachkundig fest und sausten mit fetzenden Stiefelsohlen über den schmalen Sulzeis-Pfad, aus dem noch Ziegelbrocken und die Kanten von rostigen Win­ keleisen herausschauten. Dann fiel der erste Schnee und das Bergeri wurde zum Mittelpunkt der Kinderwelt. Der Beni kam als erster und furchte mit seinem Familienschlitten »bäucherls« die erste Spur in den jungfräulichen Hang. Spezialisten im Rücklingsfahren prallten mit ihren »Goaßn« wuchtig gegen den splitternden nahen Gartenzaun.

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Die Lehner Mausi schrie mit Siebengeißleinstimme verge­ bens »aus da Booh«, wurde vom Lingerl Waggi angeschubst und landete beleidigt in einem unbefahrenen Seitental zwi­ schen Matratzenfedern und kichernden Konservenbüchsen. Am zweiten Tag war das Bergeri nach einem erneuten Kaltwasseraufguß ein glattgehobelter Eisbuckel geworden. Der Seidenfalter Buwi hatte sich von der Hausverwalter Mädi ihren polierten Modeschlitten zu leihen genommen. Er sauste mit Riesenschwung über die Walze, flog zwei Meter frei durch die Luft, schmetterte wieder auf den Boden und saß dann grinsend auf einem Bündelholz, den traurigen Resten von Mädis schöner Nikolausgabe. Außer vom Rodlervölkchen wurde das Bergeri auch noch von Ski-Hinfliegern und Schlittschuhkünstlern strapaziert. Der Lingerl Waggi hatte soeben umständehalber einen neuen Weltrekord im einfüßigen Halifax-Slalom aufgestellt, weil er den zweiten Schlittschuh mitsamt dem rechten Stiefelabsatz am Gürtel hängen hatte. Wenn sich dann abends langsam die graue Nebelfrau um das Bergeri schlich, nahte vom Häuserblock her die kummer­ gewöhnte Witwe Seidenfalter mit dem Ausklopfer in der Rechten, um ihrem Sprößling das Zeitgefühl zum Heimgehen einzuprügeln. Beim Hydranten traf sie die Hausmeisterin Lingerl, die mit gleichen Absichten, jedoch mit einem Spani­ schen unterwegs war. »Dch-dch-dch« machten die zwei mit den Zungen. »De Gribben bringa oan no ins Grob, kannt ja a leicht wos bassiert sein.« Wie sie dann beim Bergeri eintrafen und von ihren Fexern scheinheilig begrüßt wurden, hatte sich der Groll unter ihren handgestrickten Jumpern schon wieder verkrochen. Mit leicht beschädigtem Nachwuchs, aber unbe­ nützten Schlagwerkzeugen kehrten sie heim an den kachel­ warmen Herd. Der Nachtfrost aber bemühte sich bis zum anderen Morgen, die Schrunden und Kratzer des Bergeris wieder zu heilen. 62

Im Schachteri Eis Das biedere Volk unterm Glockenspiel grantelte über die verkehrte Welt. In Italien regnet’s wia in an Brausebad und bei uns kriagst um Nikolaus an Sonnenbrand. Seit Wochen strichen sich die Skigeschäftsinhaber ihr Gleit- und Steig­ wachs mürrisch auf die Brotzeitsemmeln und die Motten in den Pelzmänteln feierten ein rauschendes Erntedankfest. Nun war das erste himmlische Naphtalin endlich gefallen und die Schullehrer konnten mit gutem Gewissen und weißer Kreide das längst überfällige Aufsatzthema »Der erste Schnee« auf die Tafel schreiben. Zwei Stützpunkte hatte jedoch der säumige General Winter schon seit längerer Zeit in München erobert, das kühle Parkett im Prinzregentenstadion und das Schachterieis in der Galeriestraße. Jeden Tag war dort Eislauf. Die Typen, die sich auf diesen gefrorenen Nudelbrettern bewegten, waren seit der Entste­ hung des bekannten Liedes »Still ruht der See in Schwabing drunten - a oide Jungfer Schlittschuh lafft«, fast dieselben geblieben. Die Röcke der Schlittschuhdamen allerdings waren schon seit geraumer Zeit kürzer geworden, und die erzielten Geschwindigkeiten ebenso wie die Eisbahneintritts­ preise bedeutend höher. In der Anfängerklasse wurden die Buben mit den Spezial­ absatzreißern immer rarer. Nur selten sah man noch einen von ihnen und stöckellosen Sonntagsschuhen im Zweitakter­ gang heimwärts humpeln. Schnell konnten sie vor- und rückwärts übersetzen, den Dreier, Achter und den Carioca fahren. Wenn sie mit wetzenden Scherenschritten über das Eis huschten, hingen sie mit den Armen weit vornüber wie gefrorene Hemden über eine Wäscheleine. Die anderen Eis­ laufgäste wurden von ihnen als willkommene Slalompfähle benützt. Den Mittelpunkt des Eisstadions bildete Fräulein Brum­

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merbach. Ihre Formen waren reichlich. Sie hatte eine Sand­ uhrtaille und war kühl und spröde wie die Unterlage, auf der sie fuhr. Wenn sich ihr roter Rock beim Drehen einer Pirouette drehte, sah sie aus wie ein gefährlicher Fliegen­ schwammerl im Hofoldinger Forst. Um sechs Uhr wurde sie von einem kurzhaarigen Herrn mit einem großen schnellen Auto abgeholt, weil sie um neun Uhr daheim sein mußte. Zum Standardtyp des Schlittschuhläufers gehörte noch immer der Kanzleiassistent Redlich mit spätgotischem Knikkerbockeranzug und hausgemachten Rentierfäustlingen. Er fuhr, in den Gelenken leise quietschend, den streng akademi­ schen Gesundheitsstil. Die Hände hielt er auf dem Rücken wie Andreas Hofer, und die rotgefütterten Ohrenschützer lagerten im Bereitschaftsfutteral. Sein Revier war die schon etwas aufgeweichte Knöcherlsulzecke. Dort kratzte er in das weiche Eis mit mäßigem Charme und Schwung die Anfangs­ buchstaben seiner Jugendliebe Helene Eierschmalz, bis ihn ein amoklaufender Lackel umstieß. Dann ging er still und mit vollgesaugtem Hosenboden dem Ausgang zu.

Seefahrt tut not Wenn die Trauerweiden ihre grünen Vorhangfransen wieder in den Kleinhesseloher See tauchten und am Lago di Hinterbrühl die Frösche den olympischen Dreisprung übten, lief eine frischlackierte Münchner Ruderboot-Armada aus. Drei­ ßig Westentaschenkreuzer waren am Kai des Schwabinger Meeres vertäut und ein gutes Dutzend lag am Gestade von Hinterbrühl vor Anker. »Sebastian II«, »Luiselotte« oder »Libelle« hießen die kleinen Feierabend-Galeeren, die nur wenige Bruttoregisterzentner hatten. Schon früh am Vormit­ tag kamen bei schönem Wetter und linoleumglattem Wasser die ersten Amateurkapitäne und heuerten eine der Muskel64

Dschunken zum ortsüblichen Stundentarif. Meist waren es Firmlinge mit ihren Paten, Besucher vom Land oder junge Pärchen, die einen freien Tag hatten. Mit kühnem Satz sprangen die Buben an Bord, während die Erwachsenen mit ausgebreiteten Armen balancierten, wenn sie die schwankenden Planken betraten. »So, Biaberl, do weast schaug’n«, sagte dann der »Göd« im Vorgefühl des Wellenabenteuers und zwickte sich säuerlich lächelnd eine Blase in die Hand, wenn er die Ruder einhängte. Zwar war der alte Bootsbauer beim Stapellauf der Wasserdroschke behilflich, doch stach der Pate jetzt nur mehr sehr zaghaft in See. In unregelmäßigem Dreivierteltakt gelang es ihm, mit dem Regattalöffel einen nicht unerheblichen Teil der Fluten in das Schifferi zu schöpfen. Nachdem der Wasserspiegel barbarisch zerkratzt war, schaukelte der Familiennachen endlich auf hoher See. Auf Vorschlag des Buben wurde die Meerestiefe mit Hilfe des Ruders gemessen, wobei sich dieses selbständig machte. Bei dem Bemühen, es wieder einzufan­ gen, entgingen die zwei Passagiere nur mit Mühe dem Seemannstod. Nun fiel es dem Bürscherl ein, daß es auch einmal selber rudern möchte. An einer seichten Uferstelle rührte der Pate noch schnell mit der Wellenschaufel den Grundschlamm auf, daß der Weiher trüb wie eine Milzsuppe wurde. Dann vollzog sich der Wechsel der Arbeitskräfte, und wieder geriet die Mannschaft in große Seenot. »Eins, zweii«, zählte jetzt der Abgelöste. Bei zwei rutschte der Ferdi mit dem Ruder jedesmal aus und schützte dabei seinem Betreuer liebliche Wellen in den Schoß. Wenn der Bootsverleiher vom Ufer winkte, daß die Zeit um war, probierte es der Ferdi mit dem Wenden. Das Boot drehte sich aber hartnäckig im Kreise wie ein Hund, der sich in den Schwanz beißen will. Nach einer Stunde und dreiundvierzig Minuten erreichten die zwei mit stark geröteten Innenhandflächen wieder feste Erde. 65

Hier wartete schon eine bleischwere Dame mit ihrem dünnarmigen Neffen auf »Sebastian II«. Als sie das Heck beschwerte, setzte sich das Boot sofort auf die Hinterbeine und der Kiel stieg hoch empor. Mürrisch pflügte die Dame durch den nassen Acker. Gegen Abend kamen dann die jungen Ladenmädchen mit ihren Herren. Lässig gossen sich diese Binnensee-Sirenen auf die hintere Bootsbank hin und der »Tscharli« machte noch einmal »da dadlda didlda tschcha«, bevor er mit wippenden Knien im Jazzrhythmus das Ruderwerk begann. Wenn der Mond über den Horizont gezogen wurde, klang manchmal das helle Lachen eines jungen Mädchens vom Schilf zum Ufer herüber. Manchmal spielte auch eine Mundharmonika mit Tremolo die Melodie von der »Schönen Fischerin« oder ». . . der Großpapa singt leise.« Dann nickte vielleicht ein älterer Herr auf der Anlage­ bank und verlor ein verspätetes Lächeln.

Preiswerte Wasserflöhe Der Gröninger Wastl, in der Finanzamtskartei als Tierfutter­ fänger erfaßt und veranlagt, wohnte in der Quellstraße in einem Haus, in dem man den Kaffee aus der Dachrinne trinken hätte können. In seinem Mansardl standen vier große Vogelkäfige mit zwei Schwarzblattln und einem Gartenspöt­ ter, mit denen sich der Sebastian, den Kopf schräg auf der Schulter, in seinem Hochwald-Esperanto manchmal unter­ hielt. Wie der Gröninger zum Flohfangen gekommen war: Das war vor zwanzig Jahren gewesen, er war arbeitslos und ins Holz gegangen, um Butzkühe zu sammeln. Da hatte er einen Mann gesehen, der bewachte eine gewaltige Ameisenarmee, die sich auf einer Wolldecke versammelt hatte. Keuchend schleppten die kleinen Viecherl winzige weißwurstförmige 66

Hülsen hinter sich her. Das waren Ameiseneier, von denen etwa 80 000 auf einen Liter gingen, für den man drei Markl kriegte, »wenn’s gut ging.« Der Wastl hatte es schnell heraus gehabt, wie man die Ameisen zur Eierablieferungspflicht erzog. Zuerst wurde ein Ameisenhaufen aufgemacht und der Eiersucher dabei dreibis hundertmal gezwickt und an allen Körperteilen mit ätzender Säure bespritzt. »Des is prima fürs Rheumatische«, frohlockte der Wastl. Er legte die Wolldecke über die zer­ störte Festung und wartete, bis die Tierchen mitsamt den Eiern darauf spazieren gingen. Dann trug er sie in die Sonne und breitete sie aus. Hierauf bestreute er den Deckenrand mit Blättern. Sofort begannen die Ameisen, ihre Gaggerl unter das schattige Laub zu transportieren. Waren sie damit fertig, so hielt er ihnen ein Handtuch hin, an dem sie sich festkrall­ ten. Nun wurden sie über dem Heimathaufen wieder abge­ streift. Auch das Wasserflohfangen wollte gelernt sein, doch waren die Marineflöhe, im Gegensatz zu ihren Vettern auf dem festen Land, gut zu hüten. Bei den Wasserflöhen war vor allem die Parole »Bring sie lebend heim« zu beherzigen. Mit einem Stück Vorhang fischte sie der Sebastian aus den oberbayerischen Bauernweihern, tat sie in ein Milliküberl und verkaufte sie nach Gewicht an die Froschladeri, das Pfund zu sieben Markl, auf daß sie den Stichlingen und Schmuckfischen zum Fräße wurden. »Jetzt da schaug her!« sagte der Wastl zu sich selber, als er einmal an einem sonnigen Sammeltag im Deisenhofener Himbeerschlag eine Kreuzotter auf seinem abgestellten Haferl liegen sah und schützte den ungebetenen Gast ins Gebüsch zurück. Der Auer Hagenbeck fing keine Schlangen, Feuersalamander oder Laubfrösche mehr, »’s Froschgeschäft ham ma dTtaliener vadorm«, murrte er, »de liefern ’s Schtück um a Zwanzgerl, da kon i mit der einheimischen War’ nimma 67

konkurriern.« Die Ringelnattern, Blindschleichen oder Eidechsen waren im Kurs ebenfalls so gefallen, daß sich die Pirsch »bei den steigenden Lebenshaltungskosten« nicht mehr lohnte. »Schaugn S’«, zog der Wastl eine diesbezügliche Parallele, »jetzt zoi i aa scho siemmarkfuchzge Wohnungs­ miete im Monat.« Später hatte er dann einen städtischen Auftrag bekommen. Er sollte jedes Jahr im Herbst laut Magistratsbeschluß die wilden Tauben in der Stadt zusammenfangen. Heute ist er längst am anderen Ufer des Auer Mühlbachs.

Schiff ahoi Die jungen Würmseefischerl tummelten sich erwartungsvoll, aber völlig umsonst um den Auspuff des Motorschiffes »Utting«, wie Spatzen um ein Pferdeheck. Aber es kam nichts heraus. Eine mittlere Renke, die plötzlich herbeischwamm, erklärte das den dummen Glotzäuglern, und da verschwan­ den sie alle auf einmal, ohne von den Markstücken, die ein kindischer Mann ins Wasser spuckte, noch die geringste Notiz zu nehmen. Zweihundert Personen, die, in die Wellen träumend, auf die Abfahrt des Tango-Kreuzers warteten, sahen die feuchte Währung langsam zerfließen. Jeden Samstag bei schönem Wetter machte die weißblaue Titanic auf dem Starnberger See eine dreistündige Vergnü­ gungsfahrt mit Tanz an Bord und anderen Wochenendfreu­ den. Achthundert Passagiere: Lustige Ladenmädchen mit wehendem Zottelskalp, reife Männer mit Zigarren unter der Nase und allerlei Offerten im Blick und glanzhaarige Wechselschritt-Bubis. Auch Familien, Wandervögel, Touristen, denen viele Photoapparate um den Hals baumelten und ein Omnibus voll Viechtachern. »Schee in d’Mittn muaßt de sitzn, Oide, wega dein Gwicht, und hint hi, weil a Schiff 68

oiwei mi’n Schnöbe zerscht sinkt, des kennst«, erklärte ein solcher halbwitzig seinem schweren Eheweib. Ein Frösteln durchlief den vielumstrittenen Leib der Staats-Dschunke und der Kapitän mit dem gewinnenden Tarockgesicht schrie jemandem in die Nacht hinaus zu: »Ziagts o!« Dann rülpste der Dampfer zweimal, wie wenn er den ganzen Schiffsbauch voll Rettiche geladen hätte. Ein mechanischer Caruso sang dazu: »Allerhand - allerhand.« Der Oberviechtacher zählte mit bedeutendem Zeigefinger die Schwimmwesten. Auf der Höhe von Schloß Berg war er bei dreihundertsechzehn. Da hörte er zufrieden auf. Es waren noch mehr da. An Backbord kicherte ein bäuerliches Pärchen wie eine Fehlzündung. Vorne am Bug hielt der Geschäftsmann seinen Bauch herausfordernd in den strammen Fahrwind. Er meinte, da nähme man davon ab. Drei persianerhaarige Gigolos, die ihre Schüttelfrost-Bräute zum Derwisch-Reigen aufs Achterdeck führten, erklärten ihnen in rätselhaftem Neudeutsch: »Des is de Gangway, des geigt se.« Da klang von Lee ein jäher Schrei: »Hut über Bord!« Der Matrose, der rasch kam, sagte: »Nee, mei Gudster, der is futsch, futschimaro.« Von den neugierigen Globetrottern, die sich in die Dunkelheit hinauslehnten, ließ einer sofort seine Box hinter­ herfallen. Auf zur Bord-Polonäse, tönte es aus dem eisernen Laut­ sprecherhals. Der Binnensee-Commodore führte sie an. Vor­ bei am kalten Büfett und der größenwahnsinnigen UKWStation ging’s aufs schwankende Oberdeck. Auf einmal brach einer aus der Reihe und gleich darauf über die Reeling. Schade um die kaum benützten Wiener Würstl. In den Schnaufpau­ sen deutete er auf die kreischenden Möwen: »D’Aasgeier san aa scho do, für mei Leich.« »Hollaradijuhu« jodelten die Niederbayern zum Schwesternschiff »Bayern« hinüber, das in schauriger Neonpracht 69

vorüberzog. »D’Hauptsach is, mia fahrn in koan Nogl nei«, meinte der Stolz von Viechtach, der bei Ammerland schon die neunte Halbe hatte. Sein gehorsames Weib hielt sich mitt­ schiffs an der Sitzbank fest. Ein sanfter Heuschnupfen-Passat wehte von Feldafing herüber. Der kühne Samstag-Kolum­ bus, den die kleine Verkäuferin am willig überlassenen Mittelfinger hielt, summte schwermütig in die bayerische Sternennacht hinaus: »Blaue Adria du - deckst warm mich zu.« - »Geh, Willi, sog doch so wos net«, flüsterte die Kleine ängstlich. Nicht weit davon stand der erschöpfte ForellenMäzen, die rechte Hand am Koppelschloß, und sagte stöh­ nend zu seiner Wellenbraut: »Es is scho wos dro an dem Sprichwort: Bleibe an Land und nähre dich redlich.« Der Stahlband-Gigli sang indes weit über die Wellen: »Eine Seefahrt, die ist lustig.«

Erste Lie-ie-iebe Die erste Liebe bricht meistens im Lenz aus und manchmal schon in der Volksschulklasse 6b. Wenn der Tratzmüller Koni einen blauen Heftumschlag mit einem Rundschreiben ins Schulzimmer für Mädchen tragen muß und mit pimperlrotem Kopf sagt: »Eine schöne Empfehlung vom Herrn Lehrer Zast«, dann kichern die Mädchen mit vorgebeugten Köpfen in die nach Faber-Castell Nummer zwei riechenden Schulbänke hinein. Das Fräulein klopft mit dem Lineal auf den Katheder und befiehlt Ruhe. Sie weiß aber schon, was los ist, weil die Stiel Minna ihre glucksende Banknachbarin immer pufft, wenn der Konrad hereinkommt. Auf dem Schulweg und beim Spielen schreien die anderen Kinder der Minna »Buamamadl« nach. Einmal im Winter erlaubte der Lehrkörper in der Pause eine gemischte Schnee­ ballschlacht im Schulhof. Dabei trifft der Koni seine Auser70

Bloß ein bisserl verliebt ist Sigi Sommer hier in die Elke Sommer, aber sonst weder verwandt noch verschwägert.

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wählte mit einer kühlen Kugel voll ins Genick. Nachher reibt er sie auch noch mit Schnee ein. Seitdem bestellt sie öfters durch die Schwester vom Konrad einen schönen Gruß an ihn. Im Frühjahr aber steht auf einmal mit weißer Kreideschrift auf der Sandkiste: »Die Minna >schibd< mit dem Konrad.« Ist der Konrad 14 Jahre alt, dann steht er abends mit seinen Freunden am Eck beim alten Kastanienbaum. Sie warten auf die Minna, die jetzt Lehrmädl im Süßwarenhandel ist, um acht Uhr kommt sie aus der Zitherstunde und begibt sich anschließend mit ihrem schwarzen Kasten in die versammelte männliche Gesellschaft. Unweigerlich aber naht eines Abends auch einmal der Herr Stiel in Hausschuhen, bleibt drei Schritte von der scheinheilig grüßenden »Blasn« entfernt stehen und winkt seiner Tochter wortlos mit dem Kopf. Im Hausgang sagt er: »So, deswegen dauert d’Schtund jetz allaweil länger!« Daraufhin kassiert die Minna die letzte väterliche Ohrfeige ihres Lebens, die aber ohne rechte Über­ zeugung verabfolgt wird und nur den brünetten Scheitel streift. Als unter Konrads Nase der Bart sprießt und er sich Conny nennt, hängt sich die Minna, die jetzt Mia heißt, öffentlich an seinen Arm und macht beim Gehen genauso lange Schritte wie er. Während in den Flaucheranlagen vom Wirtsgarten herüber eine Ziehharmonika leiert: »Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht«, schnitzt der Conny ein Herz in eine Eberesche. Es naht die Zeit des Samstagabendtanzes. Beim Englisch-Waltz legt die Mia ihren kühlen Unterarm zärtlich um seinen Henkerhaarschnitt. Am Tisch aber sitzt und wartet Konrads Freund, der Ferdi. Er ist die dritte und deshalb tragische Figur jeder Jugendliebe. »A Pfundskerl«, sagt die Mia, und der Conny läßt ihn nicht im Stich, das wäre feig. Dafür repariert der Ferdi das abgerissene Armbandl der Freundin seines Freundes und zerlegt ihren Radfreilauf. Auf einmal aber ist die erste Liebe aus. Die Familie der Mia 72

verzieht nach Langenisarhofen, wo der Bahnbeamte Stiel Stationsvorstand wird. Zuerst verdient die Post noch viel am Liebesschmerz, aber dann hört die Appetitlosigkeit und das Absingen wehmütiger Lieder doch einmal auf. 40 Jahre später spielt das Radio aus der alten Plattenkiste die Melodie aus dem Flaucher. Da geht der Konrad Tratzmüller vor dem Mittagessen in die Isaranlagen und sucht aus Gaudi seine Schnitzerei. Das Herz schaut jetzt aus wie ein ausgewachse­ ner Rettich.

Der erste Aufriß Wie ich mit meinem Buch durch die Frühlingsstraße ging, sah ich vor der Auslage einer großen Bäckerei ein Mädchen, das sich gerade zu ihrem Fahrrad hinabbückte. An dem Lenker hing ein Netz mit Semmeln. Auf einmal fiel das Rad um, und das Mädchen fuhr erschreckt hoch. Bevor es sich wieder bücken konnte, um das Radi aufzuheben, war ich schon da und tat es. Das Rad war fast neu, mit einem Dynamo dran. Ich sagte: »Den Lenker hat’s verschoben.« Tatsächlich, die Lenkstange stand schief zur Fahrtrich­ tung. Das Mädchen sagte: »Danke schön.« Da sah ich es an. Sofort wurde mir heiß. Ich sah in ein Gesicht, das weich war und gut und fließend. In ein Gesicht, in das noch gar nichts geschrieben war als nur das Jungsein und die Erwar­ tung; keine Gier und kein Hunger, sondern nur das Bereit­ sein für das Leben und eine kleine Ergebenheit und auch ein bißchen verwischtes Dummseindürfen. Eine bescheidene Pfirsichfarbe nahm auf den Wangen des Mädchens Platz. Die wachsrosa Lippen gaben kleine Mäuse­ zähnchen frei. Eine butterblonde Zottel wehte ins Gesicht. 73

Das Mädchen lächelte. Ich drückte ihr das Buch in die Hand und sagte: »Da, bittschön, haltens das.« Dann nahm ich das Vorderrad zwischen die Beine, visierte ganz scharf auf den Sattel hin und brachte den Lenker mit einem schnellen Ruck wieder in die richtige Stellung. Mit der Faust schlug ich noch ein paarmal auf das Ende der stählernen Hörner und korrigierte so eine winzige Unregelmäßigkeit. Das Mädchen schaute lächelnd und still zu, und als ich fertig war und »so« sagte, gab sie mir das Buch zurück und meinte: »So ein dickes.« »Ja«, sagte ich, »das ist schon allerhand dick.« Und ich lachte über meinen Ausspruch unsicher. Da sagte das Mädchen: »Jetzt hätt ich beinahe das Dankeschönsagen vergessen. Dank schön, gell.« »Geh«, sagte ich wegwerfend. Und dann standen wir beide da. Zweimal schluckte ich, und dann läutete ich an der Fahrradglocke, die auf der Lenkstange war. Und dann lachte ich wieder. Da sagte das Mädchen: »Also dann.« »Ja also«, sagte ich. Das Mädchen begann, sein Fahrrad auf die Straße zu schieben und richtete das Netz mit den Semmeln. Als sie die Pedale so gedreht hatte, daß sie mit dem linken Fuß gleich antreten konnte und mit geglättetem Rock auf dem Sattel saß, griff ich noch einmal nach der Lenkstange und läutete wieder mit der Glocke. Und auf einmal sagte ich mit einem Riesenanlauf: »Möchtens nicht einmal mit mir fortgehen, Fräulein? Tun Sie’s halt.« Das Mädchen lachte ein ganz hohes Zwitscherlachen und blies über die vorgeschobene Unterlippe zu ihrer Nase hinauf, die ein Haar kitzelte. Dann sagte sie: »Ich kenn Ihnen ja gar nicht.« 74

»Das macht aber doch nichts«, sagte ich hastig und ver­ schluckte mich sofort. »Wo möchtens denn hingehn?« fragte darauf das Mädchen. »Wo Sie halt gerne hingehn möchten«, sagte ich zitternd. »Vielleicht zum Tanzen?« fragte das junge Fräulein auf dem Rad. »Ja, das wär pfundig«, haspelte ich. »Aber nur, wenn ich selber für mich zahlen darf«, sagte das Mädchen ganz unverhofft. Ich erschrak. Ein Mädchen einla­ den zum Tanzen - mit so einem Taschengeld, wie ich es hatte . . . Und so ein Glück. Jetzt wollte dieses herrliche Mädchen selber für sich bezahlen. Also die war doch eigens für mich bestimmt. Von hundert Mädchen lernt man höch­ stens eines kennen, und von hundert kennengelernten zahlt vielleicht eines für sich selber. Ja, das war ein Verhältnis von eins zu tausend, rechnete ich blitzschnell und falsch, und dann sagte ich: »Wenn Sie unbedingt wollen, kann ich eben nix machen.« »Ich lass’ mir nie was zahlen«, sagte das Mädchen stolz. »Das ist schad!« Ich wurde rot, weil ich log. Und wir machten aus, daß wir uns morgen, am Samstag, treffen würden, und ich sagte, daß ich meinen Freund mitbringen würde, wenn’s ihr recht sei, und sie hatte nichts dagegen. Mit schwindelnden Vorstellungen ging ich heim. Also jetzt hatte ich eine ganz allein kennengelernt, weil ich ein eiskalter, frecher Hund war. Da würde aber der Biwi schauen. Und die anderen. Einfach angeredet hatte ich die. Ich erschrak wieder, bekam aber auch eine hohe Meinung von mir selbst. Aber wenn sie nicht kam? Was, die, die kam, da würde ich gleich alles wetten, daß die kam. Wenn aber was passierte? Wenn sie krank wurde oder vom Radi fiel? Oder nicht fort durfte von daheim? Immer, wenn ich mich auf etwas freute, dann 75

passierte todsicher was. Ich wurde völlig verzagt. Aber dann dachte ich: Man muß sich eben auf nichts freuen, man muß ganz wurschtig sein, dann macht das Schicksal gerade das Gegenteil. In meiner Vorstellung war das Schicksal oder die Bestim­ mung, oder wie man dieses Unbekannte nannte, ein Gegner, und zwar ein ungemein boshafter. Ja, man mußte vorher das Gegenteil denken, dann tat das Schicksal wahrscheinlich, was man wollte. Haha, das war eine List, die ich da anwendete. Aber man durfte auch wieder nicht zu stark an diese List denken, sonst hörte es das Schicksal womöglich und merkte es, und dann mußte man noch eine Stufe weiter zurückden­ ken, also das Gegenteil vom Gegenteil von dem, was man haben wollte; aber dann konnte es sein, daß das Geschick das doch nicht merkte und meinte, es wäre das Erstgedachte, und tat dann das Gegenteil - und dann war man wieder der Geprellte. Also dachte ich schnell was ganz anderes. Ich dachte mir jetzt: Diese, die Neue da, die kommt mir nicht mehr aus. Stundenlang hatte ich schon über die Weiber nachgedacht und genau herausbekommen, wie man eine Frau an sich fesseln mußte. Das war doch ganz klar. Da mußte man eben der sein, den so ein Mädchen wollte. Und was so eine wollte, mußte man ganz schnell herauskrie­ gen. Nach höchstens einer Stunde mußte man wissen, was so ein neues Mädchen von einem erwartete - und ich war mir klar darüber, daß ich jeden Wunschmann spielen konnte. Vielleicht wollte da eine einen Träumer, der sentimental war und poetisch und unglaublich romantisch . . . Konnte sie haben bei mir. Bitteschön. Ich würde einer solchen von Palmen und Flieder erzählen, vom Goldenen Tor und der Hagia Sophia und dem Bosporus und eine Menge sehnsüchtiger und rätselhafter Namen gebrauchen wie Gaurisankar, Jaspis, Lotosblüte und Sierra Nevada. Ich hatte mir schon allerhand angelesen. Ja, da 76

würde sie staunen, wie romantisch ich war. Ich würde allerhand Fernweh in so einer erwecken können. Unter Umständen würde ich auch ganz leise singen, vielleicht das sündige Jugendlied: »Auf ihre Ringellocken, da fielen Blüten­ flocken. « Und ich würde, wenn sie mittat, feuchte große Augen kriegen, das fiel mir gar nicht so schwer, und von Wehmut und Trennung sprechen, bis sie ganz weich war und ich auch. Gab es vielleicht irgendwo jemanden, der auch nur annä­ hernd so romantisch war wie ich? Da war ich weit und breit der Beste. Oder ich fände heraus, daß ein Mädchen, von dem ich wollte, daß es sich in mich verliebte, einen kühlen harten Helden suchte. Da würde ich kurz sein und verschlossen. Herrisch und kalt. Ein Naturbursche. Da würde ich, ohne eine Miene zu verziehen, durch die Isarstrudel schwimmen, sie würde auf dem Brückengeländer stehen, die Hände verzweifelt auf die Brust gefaltet, und sie würde in den schäumenden Wogen schauen, wann ich dann endlich wieder auftauchte. Und ich konnte doch bis einhundertfünfzehn unter Wasser bleiben! Oder ich würde einen Widersacher, den das Mädchen nicht wollte und der ihr immer nachlief, kurz bedienen. »Hör mal zu«, würde ich zu dem sagen, »was willst du von meiner Freundin, du Nikolaus, du Harlekin, du trauriger. Wenn du eine Braut willst, dann such dir selber eine. Und jetzt nimm diesen Rechten mit auf die Reise und den da.« Und dann würde ich zu dem Daliegenden noch sagen: »Bist du jetzt satt?« und die blutigen Knöchel von meiner Hand würde ich mit einem Taschentuch umwickeln, und zu meinem aufschreienden Mädchen würde ich abwinkend sagen: »Laß nur, ich habe dummerweise seine Zähne ge­ troffen. « War aber vielleicht ein lustiger Bursche ihr Ideal, so konnte sie den auch haben. Einen richtigen Gaudiburschen. Einen 77

Leichtfuß und Luftikus, dem alles einfach Wurscht war. Der einen ganzen Tisch so zum Lachen brachte, daß alle flehent­ lich baten: »Bittschön, hör auf jetzt, wir können nicht mehr.« Ich wußte eine ganze Menge Witze, und es fielen mir immer eine Unmenge Späße ein, die allerlustigsten, wenn ich verliebt war und froh und heiter. Aber auch ein Verschlossener war in mir drin, ein Gefährli­ cher, ein Still-Versonnener, ein Ehrlicher oder ein Sündiger. Ja, gewiß, wenn ich auch noch keine Erfahrung hatte, dafür hatte ich Phantasie. Mein System, ein Mädchen verliebt in mich zu machen, war unfehlbar. Ich mußte nur die richtige Platte erwischen. Und nach ein paar Wochen, wenn so eine dann hoffnungslos verschossen war in einen, dann konnte man ja langsam wieder so werden, wie man wirklich war. Denn auf die Dauer war das natürlich anstrengend, immer­ fort einen anderen spielen zu müssen. Auf einmal aber fragt mich jemand, wie ich denn wirklich war. Warum ich denn nicht einfach so war, wie ich wirklich war. Und da kam eine große Verzagtheit über mich. Ja, wie war ich denn bloß? Mein Gott, ich war ja doch gar keiner. Nein, ein Halber war ich. Ach nein, nicht einmal ein Halber war ich ganz.

Die Stenze Eines Tages gingen der Biwi, der Bubi, der Nazi Kästl und ich zum erstenmal zu einer Tanzveranstaltung. Im Ausstellungs­ park war ein kleiner dämmriger Pavillon eröffnet worden. »Maskottchen« hieß er. Biwi Leer trug einen dunklen Zwei­ reiher mit fast weißen Streifen, den ihm der Hosenschneider Münch nach eigenen Angaben gefertigt hatte. In der linken Hand trug er braune Nappalederhandschuhe mit Wollfutter, in der rechten hatte er einen Hut mit einer winzigen Stieglitz­ 78

feder unter dem Band. Aufsetzen wollte er ihn nicht wegen der sorgsam gedrückten Wasserwellen. Der Bubi Rupp besaß schon zwei lange Anzüge. Den neuen mit Fischgrätenmuster hatte er an. Seine Schuhe waren gelb. Ein Restpaar vom Kaufhaus Gutmann. Und der Nazi ging kombiniert. Graue Flanellhose, Sportsakko mit Lederknöpfen und Schlitz. Aus der Brusttasche sah ein Stecktüchlein hervor, auf dem ein Fußballer abgebildet war. Der schoß gerade. Der Nazi war frisch rasiert. Mein neuer Anzug war das Prachtstück. Aber ich, der fünfzehn Mark dazugelogen hatte, als man nach dem Preis fragte, wußte auch, was er wert war. Ich hielt die Arme beim Gehen ganz steif, weil der Stoff erbärmlich knitterte. In der Innentasche des zweireihigen Sakkos steckten drei Visiten­ karten. Das Fräulein Hegele hatte sie mir ausnahmsweise auf der alten Schreibmaschine getippt. Es stand drauf: Sigi Sommer Elektrotechniker z. Z. München

»Zur Zeit« stand drauf. Aber ich war in meinem ganzen Leben noch nie aus München hinausgekommen. Und ich wollte auch gar nicht fort von der Mondstraße. Das »Maskottchen« war ein Holzbau. Zirkusrund. Auch innen sah es wie eine Manege aus. Um eine kreisförmige Tanzfläche waren zweiundzwanzig Logen gebaut. Weiter hinten standen gewöhnliche Wirtshaustische und Klappgar­ tenstühle. Neben dem »Maskottchen« war eine Bau- und Werkkantine. Die war bis um zwölf Uhr nachts geöffnet. Eine uralte Frau verkaufte dort in den Tanzpausen schwarzen Preßsack auf Hausbrot. Zwanzig Pfennig die Portion. Für die hungrigen Tänzer und ihre Tanzliebchen. Weil die Frau Asthma hatte und beim Preßsackschneiden laut rasselte, wurde sie die Kreissäge genannt. 79

Der Eintritt ins »Maskottchen« war frei. Aber der Garde­ robepreis betrug dreißig Pfennig. Deshalb kam jeder ohne Hut und Mantel. Nur solche Anfänger wie der Biwi brachten einen Hut mit. Es war im »Maskottchen« üblich und her­ kömmlich, daß man dem Oberkellner, der bediente, im voraus dreißig Pfennig Trinkgeld gab. Sonst servierte er während des Tanzens das Getränk ab. Er hatte schließlich Familie. Der Pächter des »Maskottchens« seinerseits sperrte am Samstag auf den Toiletten die Wasserhähne zum Hände­ waschen. Weil die jungen, heißgetanzten Leute sonst über­ haupt nur Wasser getrunken hätten. Aus der hohlen Hand. So mußte denn jeder sehen, wie er zum Zuge kam. Es standen sowieso immer ein halbes Dutzend Amateurgigolos in den Gängen herum und plauderten gelangweilt und sehr erhaben. Sie standen von acht Uhr abends bis zwei Uhr früh in scharf gebügelten Anzügen herum, wenn sie nicht gerade tanzten. Sie hatten halt kein Geld. Aber sie waren halt auch jung. Unter einem Verdeck, auf dem zwei Bogenlichtscheinwer­ fer zischten, saß die Kapelle. Es waren vier Mann, alle mit dünnen schwarzen Mäuseschwanzbärtchen. Sie führten alle vier einen fortgesetzten Lebenswandel und hatten unter den anwesenden Sonntagsbräuten immer die erste Wahl. Der kleine Trompeter hatte die allererste, denn das war der Schönste, und er blies manchmal, wenn er besonders gut aufgelegt war, aus der Hocke den vorbeitanzenden Mädchen unter die Röcke. Ja, das tat er. Die zwei Scheinwerfer bediente ein hemdärmeliger Ausländer, ein Kroat oder so was, der hob auch auf dem nahen Tennisplatz die Bälle auf, bei den reichen Leuten, wenn die danebenschlugen, sowie im Keglerheim die umgefallenen Saunägel. Beim English Waltz »Ramona« und beim »Tango Bolero« richtete er seine schar­ fen Lampen auf eine Kugel aus hundert kleinen Glasspiegeln, die sich auf einer Säule inmitten des Tanzparketts drehte. Dieser blitzende Globus wiederum warf das Licht zurück auf 80

die Tanzenden, die dann aussahen, als würde es Silbertaler auf sie regnen. Lauter große, neue Fünfmarkstücke, wie sie der Ober nur ganz selten zum Wechseln bekam. Es war nicht üblich, daß im »Maskottchen« nach einer Tanzmelodie oder einem sehnsuchtsschweren Hawaii-Lied, bei dem der kleine Trompeter eigens einen Spezialtrichter vorne in den Trompetenmund steckte, geklatscht wurde. Das hätte die feierliche Stille entweiht. Alle tanzten sie bei diesen Melodien mit den Mienen von Sterbenden. Von der Geige, die ein langer, einförmiger Musiker strich, tropfte fast das geschmolzene Holz zu Boden, so groß war die Sehnsucht und die Wehmut. Die Augen der schwerelosen Tänzer glänzten geheimnisvoll und schwarz wie Anthrazit. »Und so weit liegt Tahiti, ach, so weit.« Und die kleinen Vorstadtmädchen, die nach billiger Seife rochen, waren glücklich und bereit. Denn sie wußten ja noch nicht, daß sie schon drei Monate später mit Glühwein, Fußbädern und Herunterspringen vom Tisch verzweifelt versuchen würden, die Folgen der nächtlichen Tanzpausen wieder loszuwerden. Und überall war das große Sehnen im Gange. Sogar die alte Frau, die in weißer Schürze in der Ecke stand und vom notwendigen Kreislauf des Lebens ein kümmerliches Benefiz erhielt, hörte zu und hatte den Schlüsselbund in der Hand und einen entsagenden Mund, der sonst spitz und voll gleichmäßiger Falten war wie das Ende einer Hartwurst. Heißes, ungeschminktes Verlangen nistete in den Augen­ winkeln der frühverbrauchten, salatölhaarigen Burschen, die mit dem Finger über die glatten Rückgratmuskeln der Mäd­ chen hinweghuschten. Ihre Sonnabendgeliebten sangen ihnen leise in die Ohren und küßten sie ganz schnell mit der Zungenspitze. Die Burschen sahen alle brutal sieghaft und männlich drein, ohne es je zu sein oder zu werden. Sie gingen und taten alle wie Johnny Weissmüller, Gary Cooper oder Hans Albers. Wiegend, barsch und mit »Weg da« und 81

»Kleines Baby«. Und sie waren doch alle so weich und wehrlos wie eine Schnecke ohne Haus. Ganz nackt und mit der bloßen empfindlichen Seite dem Leben zugekehrt, das sie nur mit dem Finger zu berühren brauchte, und schon war es um sie geschehen. Und an anderen Tischen saßen Jünglinge mit Fernwehau­ gen, die schon der Verzicht auf das Leben glacierte und die dennoch mit beharrlicher Unsinnslogik auf einen grauen Engländer warteten, der jetzt gleich durch die Tür herein­ kommen würde und schon lange einen Reisebegleiter nach Borneo, Sumatra und Java oder die Großen und Kleinen Sundainseln suchte. Der einfach auf sie zugehen würde und sagen: »Hello, da sitzt du ja, willst du auf meine Elefanten­ flinte aufpassen bei der Großwildjagd und mit mir einen Whisky Soda im weißen Bungalow trinken, wenn es Abend wird und mich das Heimweh überfällt nach meinem kühlen Schloß in Schottland? Willst du in Surabaja, wenn mich ein halbes Dutzend schurkischer Beach combers in der Bar zu >König Salomons Diamanten< ausnehmen will, mit zwei stahlblauen Colts den Perlenschnurvorhang teilen und sagen: >Los, nehmt schon eure dreckigen Klauen hoch, ihr Seelenhändlerh Willst du das und noch eine verdammte Menge mehr, dann komm nur gleich mit, old fellow. Laß den lächerlichen Himbeersoda stehen, wir fahren noch rasch zu Stenbroock nach Hamburg wegen deiner Tropenkleidung, und ein paar Schießeisen wirst du auch brauchen. Einen Smith & Wesson und auch einen flachen Browning für die Innentasche des weißen Dinnerjacketts, einen, der sich nicht abhebt.« Ja, auf diesen von der Tropensonne gegerbten und vom Beriberi-Fieber zerrütteten Gentleman warteten diese jungen Slowfox-Tramps auf den verwetzten Gartenstühlen im »Mas­ kottchen«. Zur Not könnte es ja auch eine Miß sein. Na ja, man 82

brauchte sie nicht gleich zu heiraten. So eine alleinstehende, von Clubs und Parties übersättigte Dame im Tropendreß brauchte doch sicher einen Chauffeur für ihren Rolls Royce und manchmal ein bißchen Trost für ihren überzüchteten Weltschmerz. »He, Willi, du Wahnsinniger, was wirfst mir denn mein Sodawasser um. Schütt bloß schnell von deinem Glas die Hälfte rein, sonst räumt’s der Ober weg. Dieser Rabe.« Mit diesem Kreis wurden jetzt zum erstenmal wir vier Mondstraßler bekannt. In einer der Parkettlogen mit den abgeschabten Plüschbänken nahmen wir Platz. Das bewies sofort, wie unerfahren wir als Tanzpalastbesucher noch waren. Denn da konnte ja keiner schnell herauskommen, aus diesem Schnellzugsabteil. Bis da einer herauskommt, wenn der Geiger zu seiner Fiedel greift und die anderen Tänzer bereits das Startbein anziehen zum raschen Engagieren, sind die Fannys ja längst alle vergriffen. Der Biwi las die Getränkekarte durch. Gott, was war denn das? »Ginger Ale« oder ganz unten »chips«. Das wäre schon billig gewesen, aber was mochte es wohl sein und wie sprach man das Zeug aus? Der Rupp Bubi traute sich nicht recht. Er sagte: »Ein Bier ist immer noch das Reellste.« »Aber das ist halt gar nichts Besonders«, sagte der Biwi, der das meiste Geld besaß. Schließlich kassierte der Biwi uns drei Kameraden im voraus ab, und wir bestellten eine Flasche Süßwein, wie ihn die alten Frauen trinken, aus hohen Gläschen, die sofort Umfallen. Den Kellner bezahlten wir gleich und gaben ihm sechzig Pfennig Trinkgeld. Da sagte der Kellner geschniegelt: »Vielleicht wollen die Herren sechs Gläser, wenn noch Damen kommen.« Und der Biwi entgegnete gewandt: »Vielleicht später.« Der Kellner lächelte aber nicht. 83

Der erste, der ein fremdes Mädchen zum Tanz holte, war der Biwi. Seelenruhig stand er auf, ging auf ein Fräulein mit einem Kleid zu, auf dem viele Heckenrosen blühten und sagte: »Mit Verlaub.« Das Dornröschen erhob sich sofort, und es sah aus, als würde es kein Ende mehr nehmen. Der Biwi ging dieser aufrechten Girlande knapp bis zum Schlüsselbein. Doch ohne Zaudern griff er seiner Tänzerin an die Hüften. In der linken Hand hielt sie ein sauber gefaltetes, lauwarmes Taschentuch. Kaum merklich zählte der Biwi beim Tanzen mit. Die Große blickte gelangweilt zum kalten Büfett hin­ über. Der Biwi sprach kein einziges Wort. Mit unverhohle­ nem Respekt schaute ich, der Nazi und der Bubi zu. Als der Biwi zurückkam und um ein Haar über den losen Kokosläufer auf dem Verbindungsgang gestolpert wäre, fragte alle drei auf einmal: »Wie war’s?« Der Biwi sagte gelassen: »Ein ganz glatter Has war die, ein ganz ein glatter.« Da sagte der Bubi boshaft: »Ein bisserl groß is sie halt.« Aber der Nazi ermunterte den mutigen Biwi mit einem unwiderlegbaren Ausspruch seines Vaters: »Die Großen sind halt nicht kleiner.« »Bist ihr oft nauftreten?« wollte ich wissen. »Von wegen«, sagte der Biwi. »Beim nächstenmal hol ich auch eine«, sagte der Nazi. »Ich wart noch«, verkündete ich und nahm mir vor, wenn die zwei anderen tanzten, mit dem Rupp Bubi zusammen schnell ein verbotenes Glas Süßwein aus der Gemeinschaftsflasche zu trinken. Mir war jetzt schon ange­ nehm schwindelig im Kopf und ich sah stolz und finster drein wie Napoleon. 84

Aber ich erlebte gleich beim ersten Foxtrott im »Maskott­ chen« mein Waterloo. Ich hatte eine runde Kleine, die noch nie geholt worden war, gerade noch erwischt, als sie schon aus Langeweile gehen wollte. Am ganzen Körper leicht zitternd, spürte ich die prallen Wulstreifringe auf dem Rükken meiner Tänzerin da, wo der Büstenhalter einschnitt. Da sagte ich zu dem Fräulein, sie dort, wo sie eingeschnitten war, mit dem Mittelfinger antippend: »Tut denn das nicht weh?« Das Mädchen sah mich verständnislos an und ließ mich bei der ersten Pause einfach stehen. Aber gar nicht einmal wegen dieser Bemerkung. Nein, aus einem viel ernsteren Grund. Der Foxtrott, den ich getanzt hatte, war nämlich ein English Waltz gewesen. Zu meinen Freunden am Tisch sagte ich unverfroren: »Jetzt so was, muß ich grad eine erwischen, die’s nicht kann.« Als wir vier hochbegeistert um ein Uhr nach Hause gingen, lachend und sehr gescheit redend, dachte ich voll Bewunde­ rung und Hochachtung an die schweigsamen, selbstbewuß­ ten Tangohelden, die eine Frau haben konnten wie nichts. Ich beschloß an diesem Tage fest und entschieden, ein Stenz zu werden. Der Leer Biwi summte leise vor sich hin: »O mia bella Napoli.« Er wiegte dazu im Takt den Kopf mit einer Miene, als wolle er sagen: »Unglaublich, was ich für einer bin. Alle Achtung.« Wenn ich aber einer von diesen bewunderten, geheimnis­ umwitterten Tangolöwen werden wollte, mußte ich ein Mädchen haben, das war mir klar. Ja, ich mußte nach einer schauen, mit der ich angeben konnte und zu der ich dann eines Tages mit eisiger Miene sagen konnte: »Geh schon, ich kann deinen Anblick nicht mehr länger ertragen.« Und die dann doch mit wehen Mandelaugen zu mir sagen würde: »Ich gehe nicht, und wenn du mich noch so verstößt.« 85

Es müßte aber eine sein mit wehen Mandelaugen, die niemals gehen würde, weil sie mich unendlich liebte, ja, weil sie durch meinen Willen und meine innere Macht, die ich ausstrahlte, meine Sklavin war. Eine, die mit roten Lippen und schimmernden Zähnen zu mir sagen würde, wie es in diesem traumschönen Tangolied hieß: »Es ist mir gleich, ob du mir Glück bringst oder Schmerzen.« Eine solche mußte her, träumte ich. Wir würden dann zusammen ins »Maskottchen« gehen, und sie müßte sich allein an einen eigenen Tisch setzen. Rätselhaft müßte sie in weite Fernen schauen, und ich würde irgendwo mit schmalen Augen im Dunklen stehen und ihren Willen mit meiner wellenweise gesendeten Energie lenken. Und wenn dann die anderen jungen Männer von meinem Mädchen mit schrägen Blicken haufenweise abgewiesen worden waren und sich tuschelnd und scheu unterhielten, wer wohl diese fremde Schöne sei, dann würde ich aus dem Dunkel treten und nur eine herrische Bewegung mit dem Kopf machen, und sie würde wie eine Traumwandlerin auf mich zuschreiten. Viel­ leicht würde ich dabei nicht einmal die Hände aus den Taschen meines Jacketts nehmen. Und wenn sie, den Kopf im Nacken, vor mir stünde, willenlos ergeben, und die Musik zu spielen aufhörte, sogar der kleine Trompeter, würde ich nur mit dem Kopf zum Ausgang hindeuten, und sie müßte gehen und sich nicht ein einziges Mal umdrehen dabei. Ja, so müßte es sein. Und vielleicht würde ich dann auch nicht mehr Sigi heißen. So ein saudummer Name, Siegfried. Sondern Dschonny, und mein Mädchen würde ich Ginger taufen oder Chérie. Ja, Chérie wär nicht schlecht. So würde ich sie nennen. »Scherie«. Ein halbes Jahr lang machte ich Jagd nach einer solchen Sehnsuchtsfrau. Nach einer Freundin. Einmal hatte ich sogar ein Inserat aufgegeben, auf einer Reklametafel, wie sie für 86

minderbemittelte Personen an verschiedenen Plätzen der Stadt aushingen und auf denen Dinge angeboten, verkauft oder getauscht wurden, die den Preis für eine Zeitungsan­ nonce nicht mehr wert waren. Ich hatte so ausgeschrieben: Suche Freundin, die Lust zu allem hat. Es hatten sogar drei Mädchen geschrieben, die Lust zu allem hatten, wie sie vorgaben. Als ich aber die drei Bildchen, die in den Briefen lagen, angeschaut hatte, war mir die Lust zu allem vergangen. Eine, die sich angeboten hatte, war gleich gar schon achtunddreißig. Für Ausflüge und Fußwanderungen. Die andere stammte aus Cham und hatte in ihrer Art Privat­ deutsch geschrieben: »Geährter Härr!« Mit »ä« gleich zwei­ mal. Die dritte war Inhaberin eines Ehevermittlungsbüros. So ging es nicht, das war jetzt geklärt. Mittlerweile aber hatte ich ganz schön tanzen gelernt. Sogar Tanganilla und Swing. Ich hatte schon ein paar im »Maskottchen«, die blieben sitzen, wenn ich mit dem Zeige­ finger eine Bewegung zu ihnen hinmachte und mit dem Kopf nickte, und sie nickten auch und galten demnach als enga­ giert. Da konnte mir dann keiner zuvorkommen. Aber schön waren die halt weniger. Eine, die noch am ehesten ging, wartete nur immer auf ihren Alten, der am Samstag Karten spielte und dann mit einem Riesenrausch vor dem »Maskott­ chen« erschien. Und der war als Raufer ziemlich gefürchtet und hatte nur mehr an die sechs oder acht Zähne. Also das war nichts mit der. Ein anderes Mal hatte ich den Biwi überredet, er solle das Lehrmädchen vom Lechner, die Nini, mitbringen. Auf Ver­ dacht - das hieß, sie müßte selber für sich zahlen. Die Nini aber hatte unten herum ein Fundament wie das Ulmer Münster, und der Unterrock, ein hellblauer war’s, hatte ihr auch noch herausgeschaut, als ich die »Schraube«, eine 87

bedeutende Slowfox-Figur, mit ihr drehen wollte. Nein, auch mit der Nini war kein Staat zu machen. Aber da wäre ja die Marilli Kosemund . . .? Jetzt war’s heraus. Die wäre es wohl, dachte ich. Jaja, die Marilli, die rote Marilli.

In einer Nacht im Mai Sigi Sommers Theaterstück » Marile Kosemund« erlebte 1970 die Welturaufführung in den Münchner Kammerspielen. Hier eine Szene aus dem dritten Bild - eine Szene aus Sigi Sommers Jugend. Was er dachte und empfand, spricht im Stück der junge Leo aus. Zeit etwa acht Uhr abends. Monat Mai. Neben einer Gasla­ terne des alten Münchner Typs steht eine Anlagenbank. Man sieht einen schmalen Kiesweg in die Gebüsche des Englischen Gartens münden. Ein Fliederstrauch, ein bißchen Jasmin und ein kleines eingesäumtes Stück Wiese ist sichtbar. Links von der Bank steigen die Fensterreihen eines Neubaus empor. Ein paar Fenster sind beleuchtet. Parterre ist ein junges Pärchen im Rahmen zu sehen. Er ist hemdärmelig mit Hosenträgern. Sie ein wenig verschmuddelt. Das zweite Fenster neben ihnen ist das Schlafzimmerfenster. Die Jalousie ist herabgelassen. Drinnen brennt mattes rotes Licht. Das Paar hat vor sich auf dem Fensterbrett ein kleines Transistorradio stehen. Man hört zuerst die Sportnachrichten. Der Mann dreht weiter, und ein Sprecher sagt: »Sie hören jetzt den Tagesbericht« und dann kündigt er Evergreens an. Auf der Bank sitzt der Leo. Er hat eine Decke neben sich liegen. Das Pärchen am Fenster bemerkt er nicht. Nach einiger Zeit steht er auf, geht hinter die Bank und beginnt mit Schattenboxen. Er schlägt lange linke Gerade, ein paar Aufwärtshaken und macht dazu elegante Sidesteps. Bei jedem 88

Schlag nach dem unsichtbaren Gegner stößt er pfeifend die Luft aus. Dann hört man das steife Stöckelgeklapper auf Klinkerstei­ nen. Von einem Mädchen, das beim Gehen die Absätze zuerst aufsetzt und deshalb fast wie ein Gardeleutnant mar­ schiert. Es ist die Marile. Sie kommt um die Laterne herum, bleibt stehen, schaut dem Leo zu und pfeift dann leise. Es ist der Pfiff ihrer frühen Jugend, den die ganze Blase kennt, aber der nur dann ausgestoßen werden darf, wenn jemand nach dem anderen Sehnsucht hat oder ihn dringend braucht (der Pfiff besteht aus den ersten Takten des Siegfried-Motivs). Der Leo hört mit Schattenboxen auf, lächelt erwartungsfroh und erwidert den Pfiff leise. Die Marile kommt auf ihn zu und er sagt:

Leo: Grüß dich, Schönheit, grausame. (Die Marile gibt ihm die rechte Hand und nimmt ihn mit den Fingern der linken Hand an der Nase. Dann sagt sie:) Marile: Servus, du. (Sie setzen sich, und die Marile fragt:) Marile: Hast unsern Pfiff noch nicht vergessen, gell? Weißt auch, daß man ihn nur dann pfeifen darf, wenn man jemand ganz dringend braucht? (Leo lächelt nur.) Marile: Hast jetzt du vorher auf den Sonntag trainiert oder auf mich? Sag einmal, Leo, warum hörst du das blöde Boxen nicht auf? Du spinnst doch sanft, wennst mich fragst. Leo: Weißt du, Maruschka, ich glaube, das verstehst du nicht ganz. Schau, ich bin einer, der eigentlich keinem was tun kann. Weißt, ich bin kein Aggressiver nicht, kein Angrei­ fer. Und weil ich niemand nichts tun kann, möcht’ ich, daß mir auch niemand was tun kann. Verstehst du das? Schau, das Boxen heißt man auch die edle Kunst der Selbstvertei89

digung. Ich möcht’ das nämlich einmal so gut können, daß mich überhaupt keiner mehr treffen kann. Weißt, in London da hat’s einmal einen Boxer gegeben, der hat Tschimmi Wilde geheißen. Und von dem hat man gesagt, er ist so ein Faß im Ausweichen und Abducken, daß er sich auf ein ausgebreitetes Taschentuch stellen kann, und wenn man dann eine Hand voll Erbsen nach ihm wirft, dann würde ihn nicht eine einzige treffen. So reagiert der und so kann er ausweichen. Und so möcht’ ich’s auch können. Nicht das Zuhauen. Oh, no, no, ich bin kein Killer nicht. Marile: Mhm, und warum willst dann trotzdem gewinnen am Sonntag bei den Meisterschaften? Leo: Ja, Marile, da hast mich jetzt genau an meinem Nerv getroffen. Schau, ich hab’ am Sonntag den Sewald aus Nürnberg zum Gegner. Den kenn ich schon. Das ist so ein kleiner Blockadebrecher. Der greift an wie ein Bulldozer, so hirnlos. Und ich kann ihn mit einer Hand schlagen. Die andere laß ich mir noch auf den Rücken binden, des kannst glauben. Und was sagst jetzt da, trotzdem hab’ ich Bauch­ weh vor dem Kampf. Weil ich weiß, daß was schiefgeht. Irgendwie ist heut schon der Wurm drin. Weißt, ich tat auf mich selber kein Pfundstück setzen, obwohl ich den an der Nasn spazieren führ’ wie einen Waschbären. Wenn ich bloß wüßt, was das mit mir immer ist. Marile: Weißt, wie man das heißt, was du da hast, Leo? Das heißt man nämlich Komplexe. Ich weiß zum Beispiel von meiner Mutsch, daß du in der letzten Schulklasse acht Einser gehabt hast im Abschlußzeugnis. Und daß dein Lehrer persönlich bei deiner Großmutter war. Sie soll dich bloß studieren lassen. Weil er einen solchen Schüler die letzten fünfzehn Jahr nimmer gehabt hat, hat der Lehrer gesagt. Meine Mutsch hat dann auch gleich in deinem Horoskop nachgeschaut, und da hättest du im achten Haus die Sonne und den Merkur miteinander drin, hat sie gesagt, 90

Das wär sie gewesen, die ideale Marile Kosemund. Aber sie wollte liebereine andere Rolle spielen und heiratete bald, ich glaube irgendwo ins Schwäbische hinüber. Gott schütze sie.

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und wärst gar nicht mit dem Geldzählen fertig geworden, später einmal, hat die Mutsch gesagt. Und da hast du auch noch dauernd solche Komplexe und Störungen und so. Du Dummer, du. (Sie gibt ihm jetzt selber einen kleinen Schlag in den Magen und bläst ihm dann von unten wieder in die Augen. Aber der Leo wird gar nicht recht froh. Er redet halb zur Marile hin und halb zu sich selber:) Leo: Ja, das mit meiner Oma ist auch so ein Kapitel. Du weißt ja, daß sie nix sieht und daß sie eigentlich längst ins Spital soll, weil’s halt immer jemand braucht um sich herum. Aber wie meine Mama gestorben ist, du weißt ja, an Krebs, da hab’ ich ihr versprechen müssen, daß ich die Oma nie allein laß. Schau, und drum lieg’ ich auch immer auf dem Bauch, finanziell. Weil das bisserl Marie, was ich als Lehrbub verdienen kann, einfach nicht hinhaut. Und für meine acht Einser, da krieg’ ich nicht einmal ein Pfund Orangen beim Obstler Semmelmann. Ich weiß einfach nicht, warum das alles bei mir nicht spurt. Andere haben’s so leicht. Aber irgendwer da droben, glaub’ ich, mag mich halt einfach nicht. Und ich hab’ auch schon Angst, wenn’s mir manchmal ein bisserl gut geht. Oder wenn ich einen kleinen Stand hab’ bei einem kleinen Hasen, wie bei dir. Dann kommt aber auch die Rechnung postwendend nach, hopplahopp. Bei mir ist der liebe Gott halt leider immer nur ein korrekter Gott. Aber kein gütiger. Ich krieg’ einfach nichts geschenkt von ihm. Das Schicksal liefert mir alles zum Höchstkurs. Und dann ist auch noch der Zins viel zu hoch. Aber was soll’s schon. Weißt, Marile, man muß sich nur selber einmal richtig kennenlernen. Und ich kenn’ mich. Ich kenn’ den Leo. Der ist und bleibt ein Neunundneunzig-Pfennig-Mensch. Bei mir wird’s nie zu einer ganzen Mark reichen. Marile: (irgendwie ist sie nun auch ein bisserl deprimiert) 92

Glaubst, Leo, manchmal geht’s mir grad genauso. Irgendwas stimmt nämlich auch bei mir net. Das spür’ ich ganz deutlich, bloß weiß ich noch nicht, woher der Wind pfeift. Aber irgendwas haut nicht hin. So was spürt man. Glaubst mir, ich mag dich wirklich schreck­ lich gern, Leo. Ich steh auf dich wie eine römische Eins. Aber wenn ich mir manchmal denk’, wie wär’s denn, wenn wir zwei heiraten täten. Dann krieg’ ich sofort ein bisserl einen pelzigen Geschmack auf der Zunge. Weißt, wie wenn man in eine Schlehdornperl hineinbeißt. Und ich denk mir, wenn der Leo kein Ganzer ist, und ich bin auch keine Ganze. Das gibt einfach kein Gespann. Das hat einfach keine Zukunft nicht. Denn was ist schon zweimal nix. Immer wieder nix. (Während des ganzen Gesprächs hat das andere Pärchen - das aus einem Neubau herausschaut - langsam zu tuscheln und zu gurren begonnen. Sie rücken näher zusammen, und er sagt ihr plötzlich halblaut was ins Ohr. Gerade jetzt, wo die Marile und der Leo eine Gesprächspause machen. Und was er sagt, das hört man gerade noch:) Mann am Fenster: Fräulein, ich hätt’ Ihnen was Dringendes mitzuteilen. Aber ziehn S’ bitte keinen Schlüpfer an. (Die Frau schlägt nach ihm, gibt aber dann rasch ihren Fensterplatz auf und man sieht sie durch die Jalousie­ schlitze im Schlafzimmer erscheinen. Ihre Silhouette bewegt sich. Sie deckt das Bett auf und zieht dann einen Pulli über den Kopf. Jetzt erscheint auch er als Scheren­ schnitt im Schlafzimmer, und das Licht vom Nachtkäst­ chen dunkelt stark ab, weil sie ihren Pulli über die kleine Lampe wirft. Der Transistorradio spielt jetzt die Ever­ greenserie, und man hört einen kleinen Caruso das Lied vom weißen Flieder schluchzen. Die Marile und der Leo haben das kleine Zwischenspiel jeder für sich beobachtet und glauben, der andere hätte es nicht so genau gesehen. 93

Sie zwickt ihn leicht ins Ohrläppchen, und der Leo muß etwas lächeln, verschluckt sich und beginnt zu husten. Da sagt die Marile:) Marile: Beim Husten muß man immer die Hand vorhalten, sagt die Briefkastentante in der Illustrierten. (Und sie hält sich die Hand spaßhaft vor. Aber nicht vor den Mund, sondern vor das rechte Auge. Dazu hustet sie auch ein wenig. Vom Fensterbrett her ertönt jetzt eine Schnulze aus den zwanziger Jahren:) Transistor: Es wird in hundert Jahren wieder so ein Frühling sein - genauso schön, mein Schatz, wie heut’. Vielleicht steht dort noch unsre alte Bank im Sonnenschein - doch die drauf sitzen, das sind leider andre Leut. (Die Marile macht den Leo auf diesen netten Text, der so auf sie zwei paßt, aufmerksam, summt ein bißchen mit, und bei dem Wort »Bank« und »die drauf sitzen, das sind leider andre Leut« deutet sie zuerst auf die Bank, dann auf ihren Geliebten, dann auf sich selber und dreht nachher die Hand ein paarmal verneinend hin und her. Dazu sagt sie:) Marile: Nn - Nn. (Dann zieht sie ihr rechtes Bein bis zur Bankkante hoch, versucht zum Spaß dem Leo sein Haar mit dem Haus­ schlüssel, den sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hat, zu kämmen, und der läßt sich das still gefallen. Bis die Marile schließlich sagt:) Marile: Weißt was, Schatz, jetzt schminken wir uns zwei Hübschen die ganze süße Traurigkeit schön wieder ab und stoßen uns dafür eine warme Weiße unter das Näschen. (Und sie nimmt zwei Zigaretten aus der Gegend des Büstenhalters unter ihrem Pullover hervor. Die Zigaretten sind eingewickelt in Stanniol. Und etwas krumm gebogen, aber weil sie sich in der Folie befinden, können sie nicht brechen. Die Marile erklärt das dem Leo und sagt:) Marile: Das hat mir die Antschi Blei gezeigt. Weißt schon, die 94

von Nummer vierzehn, die erst kurz verheiratet ist und immer Keile kriegt von ihrem Alten, wenn sie was zu rauchen will. Drum hat sie auch das mit dem Silberpapier erfunden. Da kann man nämlich eine Zigarette ruhig hineinwickeln und ganz klein zusammenrollen und sogar in die Schuhe stecken, und sie bricht nicht ab. (Sie macht dem Leo das vor und rollte ihre Zigarette ganz zusammen und streicht sie dann wieder glatt, und es fehlt gar nichts dran. Der Leo schaut interessiert zu und auch auf die Marke, dann sagt er:) Leo: Die sind doch von der Hanne. Dem greislichen Unzahn. Wie du nur auf so eine gräßliche Dauerschraube stehen kannst als Freundin. Die ist doch häßlicher wie der Zweite Weltkrieg. (Dann zünden sie sich die Zigaretten an und rauchen. Die Marile bläst den Rauch aus den Nasenlöchern heraus, schaut ihm eine Zeitlang nach und sagt dann:) Marile: Ja, du. Ich weiß eigentlich auch net, was ich an der find. Dabei kennt die auch noch alle Schlechtigkeiten der ganzen Welt von Bern bis Budapest. Aber ist dir das noch net selber aufgfalln, Leo. Daß ein sauberer, schöner Mensch fast immer das Gegenteil zum Freund hat. Daß ein Kleiner gern eine Große hat und ein Dicker eine Dünne. Oder eine Blonde einen Schwarzen. Das ist doch die Gschicht von den Gegensätzen. Vielleicht ist aber auch die Hanne bloß mein schlechtes Gewissen, das hinter mir herläuft. (Der Fensterbrett-Transistor dudelt immer noch vor sich hin »Im Rosengarten von Sanssouci« oder »Zwei rote Rosen, ein zarter Kuß.« Und das Licht im Schlafzimmer­ parterre geht wieder an. Man sieht die Pullover-Gymna­ stik in umgekehrter Reihenfolge, und der Mann erscheint wieder am Wohnzimmerfenster, wo er sich die Hosenträ­ ger richtet und einen leisen Fluch ausstößt. Dann kommt 95

auch sie. Stumm nimmt sie ihren Platz neben ihm ein und stochert mit einem Zündholz in den Zähnen herum. Dann spuckt sie irgend etwas übers Fensterbrett auf die Straße. Jetzt schaut er mißmutig ganz nach rechts auf die eine Seite des Trottoirs, und sie demonstrativ auf die andere. Das Radio wechselt sein Programm, und ein Sprecher kündigt an:) Transistor: Es folgt nun die Stunde der Gewerkschaft. (Ein Redner erzählt von Ecklöhnen und gekündigten Tarifen, und der Mann am Fenster sagt:) Mann am Fenster: Ach, halt doch dein blödes Maul. (Und dann haut er mit der flachen Hand oben auf den Apparat, der sofort verstummt. Da erheben sich auch der Leo und die Marile. Der Leo nimmt seine zusammenge­ rollte Decke und macht einen Bogen um die Laterne. Unter dem Licht der kleinen Ampel bleibt er einen Augen­ blick stehen und schaut der Marile ganz gerade in die Augen. Da sagt sie:) Marile: Braucht’s das überhaupt noch, Leo. Warum fragst du mich noch mit den Augen. Fühlst nicht die ganze Zeit schon, wie ich immer SOS funke? (Der Leo küßt sie ganz im Huschen mit trockenen, wischenden Lippen und sagt leise:) Leo: Und du weißt, daß wir’s jetzt tun wollen. Und du weißt auch, daß ich’s weiß. Und wir zwei schämen uns nicht einmal. Was bist du doch für ein Traummädchen, Marile. Und was für ein Wunschweib. Komm! (Das Pärchen teilt die Zweige neben dem Holunder­ strauch, und der Leo legt seine Decke auf das kleine Stückchen Wiese hin. Die Marile hilft ihm beim Ausbrei­ ten. Es ist ziemlich dunkel, als sich die Marile zuerst hinlegt. Weiter weg singt ein Vogel. Dem Mädchen fallen die langen Haare bis auf die angezogenen Knie herunter, und unter diesem Vorhang schiebt ihr der Leo, der sich 96

neben sie hingekniet hat, den Pulli hoch. Zieht ihn aber nicht aus. Sie läßt alles mit sich geschehen, tut aber nichts von selber. Der Leo muß sie sanft zurücklegen, nestelt an irgendeinem Verschluß an . em Rücken, und dann nimmt ihn die Marile plötzlich am Nacken und drückt seinen Kopf zu sich herab und küßt ihn. Dann sagt sie ganz heiser:) Marile: Mit den Zähnen, Leo, bitte, bitte. (Und man fühlt, wie sie mit ihren Zähnen an den seinen entlang fährt. Ein Ton wie von Porzellan auf Porzellan. Der Leo hat sie jetzt ganz zugedeckt und zwingt sie mit sanftem Druck zum Offnen der Knie. Der enge Rock ist hochgerutscht, und die Marile gibt ihm durch leichtes Anheben des Kreuzes die Chance, ihn auch hinten ganz hinaufzustreifen. Doch plötzlich senkt der Leo seinen Kopf und legt sein Gesicht neben die langen Haare der reglos in die Blätter schauenden Marile. Die beginnt ihn nun zu streicheln. Und auf einmal fangen die Schultern Leos zu zucken an. Aber die Marile merkt sofort, daß das keine Wollust ist, richtet sich auf die Ellenbogen auf, bettet den Kopf vom Leo an ihre Brust und sieht, daß er weint. Da sagt sie:) Marile: Leo, du, Leo. Aber was ist dir denn? Aber Leo, das darf doch net wahr sei. Das würde uns doch kein Mensch glauben. Das nimmt uns gewiß keiner ab. Komm, Leo. Komm, laß mich gut sein zu dir. Das ist doch noch viel schöner als Liebe machen. Komm, Leo. Mir macht das doch nix aus. Bist ja auch so meiner. Ach komm, Buale, bitte nicht mehr weinen. Komm, laß uns recht zärtlich sein. Du, du, bist ja mein Streichelkind, gell. Weißt, ich versteh’ dich doch so gut. Möcht ja selber gern ein Streichelkind sein. (Und sie küßt ihm die langsam rinnenden Tränen überall weg. Auch vom Kinn, und wischt den Rest mit dem 97

Handrücken auseinander. Auch über die Augen wischt sie ihm. Dann zieht sie ein Taschentuch heraus, das sie zwischen Straps und Strumpfband versteckt hat und steht auf. Sie streichelt das blasse, stumme Gesicht ihres Liebha­ bers, dreht es zu der Laterne hin und trocknet es ganz ab. Und redet immer wieder wie eine Schwester auf ihn ein:) Marile: Komm, komm, du Dummer du, du ganz Dummer, du Tschapperl. Mein dummes, gutes Tschapperl. (Dann rollte sie die Decke zusammen. Der Leo nimmt sie stumm. Er fährt noch über seine Kleider und geht dann voraus. Die verhunzte Hose ist zu sehen. Neben der Laterne bleibt er stehen und sagt nun in ganz sachlichem, aber brüchigem Tonfall:) Leo: Versprichst mir eins, Marile, versprichst mir, daß du das niemandem erzählst. Ich schätze, das geht nämlich nur uns zwei was an. Ist das klar? Marile: Leo, jetzt sag’ ich dir mal was. Das ist bei mir so gut aufgehoben, als hätt’ ich unser Geheimnis einfach in einen Tresor eingesperrt und dann den Schlüssel verschluckt. Ist das auch klar? Leo: Auch klar. (Dann legt er seine Decke wieder auf die Bank und weiß nicht recht weiter. Da löst die Marile von ihrem Hals ein dünnes Silberkettchen mit einem tablettendicken Amulett. Es ist der heilige Antonius. Sie gibt das Amulett dem Leo und sagt zögernd und ein bißchen krampfhaft fröhlich:) Marile: Jetzt paß einmal auf, geliebter Versager. Dieses Amulettl ist von meiner Mutsch. Sie hat es mitgebracht von einer Pilgerfahrt nach Lourdes. Weißt, mit der Pfarrei ist sie damals gefahren. Ich schenk’s dir, Leo. Die Mam sagt, es wird dem, der es hat, immer weiterhelfen. Weil es der heilige Antonius ist, der doch überall herausfindet. Und auch dann noch einen Ausweg weiß, wenn man gar nimmer weiter kann. Auch in größter Lebensgefahr, hat 98

die Mutsch gesagt. Und er soll dich auch immer ein bisserl an diesen Frühlingsabend und an uns zwei Schönen erin­ nern. Und an die Stunde, wo ich dich am liebsten gehabt hab’ auf der ganzen Welt. Denn so eine Stunde wird’s nimmer geben für mich. Nie wieder. Die Stunde nimmer, Leo, und dich. Keins mehr wird’s geben. Leb wohl, Leo. (Sie drückt ihm das kleine weiße Ding mit halb abgewand­ tem Gesicht schnell in die Hand und läuft dann mit stöckelnden Absätzen weg. Das Geräusch verhallt in der still gewordenen Straße. Der Leo selber schaut lange abwesend auf das kleine Anhängsel und steckt es dann in das vordere Fach seines flachen Geldbeutels. Dann setzt er sich noch allein auf die Bank neben seine Decke hin. Es ist ganz still. Doch auf einmal steht der junge Mann auf und beginnt wieder krampfhaft mit dem Schattenboxen. Er duckt sich, schlägt hart und schnell zu, doch plötzlich läßt er beide Hände fallen. Dann winkt er mit der Rechten völlig resigniert und bedient ab. Im Hintergrund und in seiner Phantasie ertönt irgendwo ein Gongschlag, wie man ihn auch nach jeder Boxrunde hört. Und am Ende eines Kampfes. Langsam geht der Leo weg. Die Decke hat er vergessen.)

Unter den Raben Ach ja, mir gefiel es immer sehr unter den Raben. Einer Clique von Nichtstuern und Tunichtguten, kleinen Die­ ben, Arbeitsscheuen, Klingelmännern. Aber nicht alles gefiel mir. Besonders aber nicht meine Stierität. Ich war schon ganz wund an den beiden Beckenknochen, die an meiner Hose scheuerten. Aber da gab’s dann auf einmal einen wunderschönen Job, der von den Mädchen kam. 99

Die Asa nämlich und die Heidi, das waren zwei »Linksge­ webte«. Die hatten also keinen »Klingelmann« und keinen Freund und deshalb eine ganze Menge Geld. Und an einem schönen Frühlingstag kamen sie auf den Gedanken, die ganze »Lage« könnte doch mal eine Landpartie machen. Mit ein paar Leihwagen vielleicht. Und ich sollte das alles arran­ gieren. Ich bekam fast einstimmig den Auftrag für dieses Unter­ nehmen und noch die Sondergenehmigung, daß ich meine Braut, die augenblicklich immer noch Hilde hieß, mitnehmen dürfte. Die Landpartie sollte wohl an die fünfzig Kilometer in die Natur hinausgehen und abends mit Kegelschieben in einem beschaulichen Gasthof beendet werden. Da hatte ich zu tun! Die alte Luis hatte die Kasse. Und sie warf auch gleich einen gehörigen Vorschuß für mich aus. So’n Tagegeld nach den Beamtensätzen, wie sie den anderen erklärte. Und für meinen Anteil als Organisator und Fahrer des Wagen »eins« wurde ein halber Schein in bar ausgeworfen. Die Luis gab mir auch diese fünfzig Mark - den halben Schein - gleich. Und ich sang hierauf hocherfreut und wiederholt an diesem Tag: »Schön ist jede Mark, die du mir gibst, Marie-Luise.« Wagen »zwei« wollte Jonas fahren. Und er wollte es gern tun und ganz umsonst. Nun, ich machte die zwei Schlitten schnell bei einem Autoverleiher aus. Und ich kam auch mit ihm ins reine wegen der Rechnungen und ein paar Mark Provision. Die möchte schon sein, sagte ich mir. ’s waren zwei alte Opel Kapitän. Sechssitzig ein jeder. Und es war ein ausgesproche­ ner Bilderbuchtag, als wir starteten, zur Landpartie. Ein Wetter nach Maß war das. Die Mädchen, die an Arbeitstagen alle Schlechtigkeiten der Welt kannten, waren kindlich und schnatterten wie eine Herde Gänse. Es waren dabei: Die Alte Luis, und die Bella Marie, Heide mit dem kessen Vater Asa, der rote Betuchte, Hänschen Seelig, Guido der Gespensterknobler, der schöne Oskar, Mannometer-Paul. Und 100

der Alte Fritz und die Puppenfee. Ich am Steuer und meine Klinik-Hilde daneben. Professor Radius hatte sich in letzter Minute schriftlich entschuldigen lassen. Das war schade, denn er war schon eine Autorität in der Lage. Richard Löwenherz blieb ebenfalls lieber zu Hause und badete seine Hände in warmer Kamille. Die Gräfin konnte auch nicht kommen, denn sie erwartete einen ständigen Freier aus dem Kohlenpott. Einen Freier, bei dem es einen »Riesen« gab, erzählte man sich. Ein Riese, das waren tausend Mark. Dann werden private Passionen natür­ lich klein geschrieben. Schon der Start war ne kleine Sensation. Alle Herren trugen weiße Margeriten im Knopfloch. Die Idee war von mir, und sie wurde gebührend gelobt. Die Mädchen trugen Henkelkörbe an den angewinkelten Armen oder Fliegerta­ schen wie jene von der verlassenen Else. Und was war da alles drin! Das hätte für eine kriegsstarke Kompanie gereicht. Und Salz und Pfeffer und Servietten und sogar Zahnstocher hatten sie auch dabei. Sie gaben eine ganze Wucht an, wenn sie sich das gegenseitig erzählten. Man hätte meinen können, es wäre ein Verein zur Förderung bürgerlichen Familienlebens gewe­ sen, der da einstieg, und nicht beinahe das Gegenteil. ’n paar blöde Spießer schauten mit neidisch blankgezoge­ nen Augenzähnen hinter ihren Geranienstöcken herunter auf uns, als wir unsere Ausflugskreuzer bestiegen. Den Jonas kannte fast keiner wieder, so vornehm war der, mit einer schwarzen Schmetterlingsschleife am Hals, die er bei Kilome­ ter acht schon wieder abnahm, ’s war eine mechanische. Wir waren nunmehr vierzehn an der Zahl. Ich gab nicht wenig an beim Fahren; die linke Hand hielt ich gleich aus dem Wagen­ fenster raus mit ’ner brennenden Zigarette. Natürlich gab’s auch bald den ersten Zwischenfall, weil die Mädchen auf Veranlassung des Alten Fritz ein lustiges Lied angestimmt hatten und alle laut aus den heruntergekurbelten 101

Fenstern in die Gegend sangen, das Lied von dem Mädchen, das nach Hamburg ging, und das den Refrain hat: »Bei dir zu schlafen, das ka-ann ich nicht, das leidet mei-ei-ei-ne Mutter nicht.« Und das sang natürlich der ganze Verein besonders schön und aus voller Brust, weil’s doch eine Lust war und eine Freude - eine so schöne Landpartie. Da stand dann auf einmal ein Schupo mitten auf der Straße und machte: Halt. Aber die Puppenfee rief im Anschluß an den gerade gesunge­ nen Text gleich aus dem Fenster: »Dir haben wir ja gar nicht gemeint!« Ja, da stoppte der Schupo unseren Wagen, und er schaute amtlich drein. Aber ich hielt ihm vielleicht meinen Führer­ schein unter die Nase. Meine Besatzung war nicht wenig stolz, daß der Herr Wichtelmann nichts aussetzen konnte an meinen Fleppen. Und die Puppenfee sagte zu dem Herrn mit dem amtlichen Blick: »Sie können uns gar nichts machen damit Sie’s gleich wissen. Wir können singen in die Gegend hinein, solang wir wollen, weil wir Freiberufliche sind. Gar nichts können Sie uns machen - Höchstens die Tür können Sie wieder zumachen.« Nun, die hatte recht, unsere Kesse. Der Schupo schaute zwar säuerlich. Aber er machte dann unseren Wagendeckel doch wieder zu und salutierte ’n bißchen halbseiden. Da gab ihm die Luis durchs hintere Fenster ein hartgekochtes Ei. Und das nahm er ganz überrascht in die Hand und sagte: »Danke.« Wir sahen aber durch das hintere Wagenfenster, wie der Hüter des Gesetzes noch lange auf der Straße stand und das Ei in der Hand hielt. »Akkurat wie der Kolumbus«, fiel es dem Alten Fritz ein, und alle lachten wie die Wilden. Dann ging es hurtig weiter mit dem Gesang: »Meine Mutter, die hat mich ausgeschickt hat mir ’nen Taler in die Hand hineingedrückt!« Na, und ich saß vorn am Volant. Zwischen mir und der Alten Luis, welcher dieser Ehrenplatz widerspruchslos 102

zuerkannt worden war, saß meine Hilde, der ich ungefähr Bescheid gesagt hatte über meine Fuhre. Ich fühlte ihr strammes Bein. Wenn ich beim Schalten an die Schenkel der Hilde kam, dann rutschte das Kleid auf und ab, und ich wurde fast ein wenig beischläfrig. Hinten im Fond ging jetzt die Unterhaltung los über Kleider und Küchenfragen, und ein stocksolider Diskurs kam zustande. Der Guido knobelte mit der Bella Marie schon die dritte Runde Mirabellengeist aus. Natürlich wieder im Geiste und ohne Würfel. Die Marie ließ ihn jedesmal ganz schön stolpern und sagte »Heini« zu ihm und »Nikoläuschen«. Alles war einfach eitel Freude, und die Harmonie und das kurze Glück übern grünen Weg fuhr mit in unserer Asphaltarche. Nach ’ner Weile hielt ich dann mal an. Ja, als Reiseleiter war ich schon eine Wucht und wußte, daß man auch mal anhalten muß und die Damen links rauslassen und die Herren vis-ä-vis. Bevor die Mädchen plappernd verschwanden, ging die Pup­ penfee als Parodie täschchenschwingend auf der Landstraße auf und ab, und alles lachte, weil sie so herausfordernd ging, als hätte sie Ameisen in der Unterwäsche. Der schöne Oskar kam von der anderen Seite aus dem Gelände und sprach sie an. Ganz auf solid und notwendig halt. Und alles lachte wieder. Bis auf die Luis, welche die Anstandsdame spielte und ein Verbot erlassen hatte, daß während der Fahrt nicht »gekippt« werden durfte. Nach einer Weile fehlte aber die Bella Marie. Die Luis dachte schon, die genehmigt sich einen Heimlichen hinter den jungen Büschen, und schnaufte per­ sönlich in die Gegend, um die Marie zu suchen. Nach ein paar Minuten kam sie auch daher mit ihr. Aber die Marie hielt nur einen Blumenstrauß in der Hand und war recht stolz und kindisch, als sie uns das gelbe, leuchtende Bukett zeigte. Der Mannometer aber brüllte gleich los und sagte: »Mensch, du bist doch dümmer wie drei Pfund Staubzukker. Mann, Mannometer, das ist ja Löwenzahn, Marie103

chen.« Wir standen alle herum um die Marie, und wir sagten auch lachend: »Klar ist das Löwenzahn. Gleich wird die Milch rauslau­ fen.« Die lief aber auch schon heraus auf die schöne, neue Bluse der Marie. Da warf die Marie das Gebinde von sich, mitten auf den Asphalt, und sagte: »bäh, bäh« - wie ein kleines Mädchen. Gerade als ein paar helle Glocken über die Hügel bimmel­ ten, waren wir am kleinen, klaren Fluß. Wir hatten ’ne Menge Decken mit. Die Mädchen sagten zu uns Männern: »Wir werden euch jetzt ein filmreifes Picknick hinlegen, aber geht einstweilen an den Bach und laßt uns zufrieden, bis wir rufen. Haut doch endlich ab.« Da gingen wir an den Bach. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaub, der Guido war der erste, der auf die Idee kam, wir sollten mit Anlauf über das kleine Flüßchen springen und ausprobieren, wer von uns da hinüberkäme. Der rote Betuchte, der es am nötigsten hatte, ein bißchen anzugeben, denn bei seiner Braut, der Puppenfee, war er der Herr Niemand und eben nur ein Lottel, zog dann sein Sakko aus und krempelte die Ärmel hoch, so daß ein paar käsige Arme zum Vorschein kamen, mit ’ner Million Sommerspros­ sen drauf. Er nahm mit einem zugekniffenen Auge Maß. Dann ging er, um einen Anlauf zu nehmen, lang wie eine Olympiastrecke, und sagte: »Ein Indianer kennt keine Furcht!« Und alle, auch die Mädchen, schauten hin, wie der Rote und Betuchte im Sprinterstil und mit der Armbanduhr am Arm auf den munter fließenden Bach zurannte. Aber als er noch ’nen halben Schritt vom Ufer weg war, schrie er laut: »Salute«, stolperte und fiel schnalzend, wie ein Bügelbrett, ins Wasser. Er war über das zarte Geflecht einer Blumengat­ tung gefallen, die wohl Erika heißt oder Heidekraut. Mann, haben wir da gelacht! Dem Guido trat gleich das 104

Tränenwasser in die Augen vor lauter Humor und Freude. Und der Rote sah ganz armselig aus, als er aus den Fluten stieg, aber keineswegs wie Neptun. Da kam die Puppenfee gelaufen, die gerade Leberwurststullen gemacht hatte, und sagte zu ihrem Liebsten: »Du alter, lahmer Idiot, was machst denn da für eine Schau! Was gibst denn da an wie in Siphon?« »Jeh, und die Marie«, rief die Puppenfee auch noch. »Der Vogel hat die ganze Marie eingeweicht.« Sie konnte so mit dem Roten reden, denn er hatte laut Abmachung die Kesse nur im Lokal. Sonst war er der große Schweiger. Sie fingerte hinten an der Gesäßtasche ihres Alten herum, zog die Brieftasche heraus und legte den Inhalt unter einen nahen Baum zum Trocknen. Ich sah später hin. Ein Entlassungsschein war auch unter den Dokumenten; von Plötzensee her. Aber unser Mütchen war noch keineswegs gekühlt. Hänschen sagte: »Was ist denn da schon los wegen dem bißchen Tau, wo du da am Wams hast. Gar nichts ist los. Für ’nen Zehner spring ich glatt hinein da in den Rio Grande.« »Springst nicht«, stichelte der schöne Oskar. »Spring ich ja.« »Mit ’ m Hecht?« »Mit ’m Hecht.« »Der Zehner ist gebracht«, sagte der Oskar, nahm eine kleine Papierrolle aus der Tasche, schälte einen Zehner ab und warf ihn auf die Wiese am Bachrand. »Aber im vollen Ornat«, sagte der Oskar noch. Na, Hänschen klein räumte dann seine Taschen aus und legte alles fein säuberlich auf die grüne Heide hin. Dann sprang er auch schon. Wie ’n Schaukelpferd, das fliegen lernen will, mit bedeutendem Hohlkreuz. Dauerte alles nur ’ne halbe Minute, bis er den Zehner grinsend kassiert hatte und dann seine patschnassen Klamotten vom Leibe zog. Bis auf die 105

Unterhose, eine kurze. Das Zeug wrang er dann aus und schlenzte es gegen den Wald hin. Schon nach wenigen Minuten lag alles in der Sonne zum Trocknen. »Schöne Freier gibt’s hier«, rief er laut und lachte vergnügt. »Mußt dir ein W auf den Rücken malen lassen, Ossi. Ein W wie Würze.« Und jetzt lachten wir alle den Oskar aus, denn so billiges Geld gab’s hier auf der Wiese am rauschenden Bach. Aber den Oskar schmerzte sein Verlust dann doch. Das sah jeder von uns, als er so dastand. Und schließlich sagte der Mannometer, ein ganz Abgründiger, zum Hänschen: »Mußt ihm eigentlich eine Revanche geben, Hänschen, deinem Wohltäter, wäre schon fair.« Beim Kleinen hatte es sofort geklingelt, was der Paul da vorhatte und bezwecken wollte, und er sagte: »Klar, Revanche kann er haben. Kann ja auch ’nen Satz machen für ’nen Zehner. Kannst deine Marie wieder besehen, Ossi, wenn du auch springst. Aber mit Hut an!« Der Ossi überlegte. Der kleine Schein, den er mit seiner blöden Wetterei da vermacht hatte, schmerzte ihn schon sehr. Man sah’s an seinem Gesicht, wie weh ihm der tat. Also sagte er: »Komm rüber mit dem Money.« Hänschen deponierte die Kohlen beim Guido. Ich rief den Mädchen. Aber die Luis schimpfte zu mir her: »Hört doch auf mit dem Zirkus. Wir sind doch nicht beim Wasserballett, ihr bestußten Säcke ihr. Gleich gibt’s Me­ nage. « Doch der Oskar setzte sich den dunklen Homburg aufs Haupt, ging ganz nah an des Wässerleins Rand und sagte: »Ho ruck.« Aber der Guido stoppte noch einmal und sagte, das müsse ganz nach sportlichen Regeln gehen, und zählte: »Eins - zwei - ab!« Der Oskar sprang. 106

Dann lagen die drei Eingeweichten friedlich im Scheine des Zentralgestirns zum Trocknen, bis die Mädchen Decken brachten und sagten, es wäre Essenszeit. Die Wassersportler murrten und kauerten sich um das kalte Wiesenbüfett mit den umgehängten Decken wie die letzten Mohikaner um Buffalo Bill vor dem Massaker beim Little Big Horn. Der Guido rechnete ihnen indes haargenau vor, daß trotz der anerken­ nenswerten Leistungen keiner der nassen Brüder jetzt eine einzige Mark Geld mehr hatte als vorher, als sie noch trocken gewesen waren. Da sahen sich Ossi und Hänschen lange an, und sie einigten sich schließlich darauf, daß sie die derzeit größten Vögel seien in dem ganzen Gebiet, die nahe Amsel, die von der Asa für ’nen Specht gehalten wurde, mit einge­ schlossen. Und es gab viel Gelächter während des Essens im Freien. Die Asa schob ihrer Heidi immer die besten Bissen zu, und wir mußten immerzu alles loben, den Fleischsalat und die Kotelettes und die harten Eier; und daß die Olsardinen gut seien und daß eine jede von den Damen eine prächtige Hausfrau sei, allerdings eine verhinderte. Alkohol gab’s laut Tagesbefehl der Luis immer noch nicht. Auch nur eine einzige Zigarette nach dem Essen wegen eines möglichen Waldbrands. Nachher gruppierten sich die Pärchen. Die Damen zogen die Schuhe aus und legten sich seitwärts ins Gras. Sie lagen da wie die Toten nach einer mittelalterlichen Schlacht, schön malerisch und gleichmäßig verstreut. Ich schnappte mir mein Reh, und wir gingen Blumen pflücken. Ich fand dann schon die richtigen Blumen zusammen mit der Hilde. Wenn’s auch nicht gerade die begehrte blaue Blume war, die ich pflückte, sondern eine dunkelblonde halt. Allerdings waren da auch noch eine Menge Mücken, die meine Naturbetrachtung zart beeinflußten. Nachher wusch mir die Hilde am Bach das bißchen Lippenstift mit einem Taschentuch aus dem Gesicht. Sie sagte: 107

»Damit die andern nichts merken!« Ich beruhigte sie. Die Hilde machte noch schnell einen Pfennig in den Straps, weil der Gummiknopf gerissen war. Gegen fünf Uhr machte ich die Runde unter den Schlum­ mernden und weckte die, die noch schliefen, mit einem Tannenzweig. Auch die Asa und die Heidi, die nebeneinan­ derlagen und Händchen hielten. Die Luis gab ein Kom­ mando. Dann mußten wir alle Papierfetzen und Eierschalen einsammeln. Wir trugen sie zum Bach und sahen zu, wie sie schaukelnd mitgenommen wurden. Wir hatten nur noch ’n paar Kilometer durch den grünen Tann bis zum Gasthof zu fahren, bei dem ich uns telefonisch angemeldet hatte. Die Bella Marie und sogar der mürrische Alte Fritz und natürlich die andern auch alle, bis auf die Luis, die Lächelnde, und meine Hilde, sangen in der Vorfreude auf die doppelstöckigen und kühlen Blonden ein altes Lied von den Straßenmädchen und ihrem Leben. Sie schrien eine Menge sündiges Zeug in den erstaunten Abendwind hinein. »Wenn der Lui mit der Tille übern Rinnstein geht - und die Straßenbahn, die macht Bimbim!« Ich steuerte wieder mit einer Hand und horchte zu. Aber einmal dachte ich mir: Eine schöne Fuhre hast da beisammen. Sexualrentner und alte Knattertilien. Wenn du jetzt mit diesem Omnibus an einen Baum fahren würdest und die ganze Ladung Mist käme dann auf einmal zusammen vor der Himmelspforte an, da würde sich der Petrus aber die Nase zuhalten! Doch da waren wir auch schon im Landgasthof, einer alten ehemaligen Mühle mit eigenem Forellenteich. Wir hatten schon besprochen, daß wir allesamt Forellen speisen wollten. Blau mit Butter. Nur die Puppenfee natürlich wollte Hecht haben. Sie hatte mich schon dreimal gefragt, ob sie auch sicher den Hecht bekommen würde, und ich hab’ jedesmal gesagt: 108

»Klar kriegst du den Hecht.« »Weh, wenn nicht«, sagte sie dann jedesmal. »Dann gehst du aber ’nen Hecht pflücken.« Sie hielt das für einen feinen Witz und lachte. »Vierzehnmal« sagte der Wirt, bieder und mit weißer Schürze, »sehr erfreut«, weil ich ihm die ganze Mischpoche vorstellte. Und er zeigte mir auch gleich die Kegelbahn, auf der wir nachher kullern wollten. Den Kegeljungen auch. Einen ungewaschenen Brocken Kerl von etwa hundertacht­ zig Pfund, aber ein bißchen doof, wie der Gastwirt ohne Befangenheit erzählte. Ich ging nach meiner Inspektion zur Luis hin und sagte: »Na, wie hab’ ich das geritzt?« Und die alte Luis erwiderte leise: »Lang nur richtig hin, beim Abrechnen. Und unterbau auch noch ein paar Mark. Um denen ihre Marie ist’s wirklich nicht schade.« Sie stand immer ein wenig in Opposition zu ihren Berufskolleginnen, wie mir schien. Ich konnte mir die Luis auch nur schwer vorstellen in ihrem Beruf; aber ich hatte schon gehört, daß sie eine ganz besondere Kundschaft hatte, keine auf altdeutsch, sondern richtige Spezialkundschaft. Doch es wurde der Luis wohl trotzdem nichts geschenkt, denn mehr als einmal hatte sie schon seufzend zu mir gesagt: »Unser Beruf ist kein Honiglecken nicht. Es ist wahr, es ist das älteste Gewerbe der Welt, was wir betreiben, aber ein Honiglecken ist’s bei Gott nicht.« Dann ging es ans Bestellen. Es kam eine einheimische Maid mit einem mühsam gebändigten Satthals, um den ein silberner Zaun lief. Sie hielt einen Block in der Hand und einen Bleistift, um alles zu notieren. Aber der betuchte Rote nahm ihr dieses Handwerkszeug gleich ab und machte sich wichtig und notierte alle Wünsche. Dann ging er mit der Kellnerin gleich in die Küche hinaus, um die Forellen im Zementbecken 109

zu besichtigen, ob sie auch noch lebten. Denn der Betuchte war sehr mißtrauisch, und er sagte, er würde nur lebende Forellen oder gar keine essen. »Der hat’s nötig«, sagte die Luis halblaut. »In Moabit werden sie ihm wohl auch immer zuerst das Aquarium gezeigt haben, bevor er seinen >Schlag< kriegte.« Bis die Forellen dann aufgetragen wurden, kam eine schräge und zum Teil recht interessante Unterhaltung zuwege. Der Guido, der wohl den Alten Fritz angesprungen hatte oder auch schon mit ihr liiert war, denn er »brand­ schatzte« sie unter dem Tisch um ein glattes Pfund, erzählte mit viel Effekt die Inspektor-Schulte-Story. Und es gab viel Hallo dazu. Das war so: Bei der Sitte war ’n Inspektor, der immer auf Sherlock Holmes machte und der die Acht-Groschen-Jungens am Bedürfniskiosk haschen sollte. Ausgerechnet dieser Beamte hatte nun eine Stimme wie ein Kapaun. Einen Sopran hatte er, fast wie die Erna Sack. Ganz hoch und süß, als ob er selber auch einer von der Legion wäre. Und wenn er nun Jagd machte auf die Jüngelchen am Notstandspavillon, dann wählte er die abenteuerlichsten Verkleidungen dazu. Zum Beispiel ging er gerne als Kleingärtner mit Lüstersakko und altem Trachtenhut und mit ’nem Rettich in der Tasche, von dem das Kraut oben noch herausragte. Oder als Tourist mit Rückentüte und einem Fernglas vorn auf der Brust. Aber jedesmal, wenn er auf fast zwanzig Schritte an die Bubis ran war, um ihr sündiges Treiben zu beobachten, hatten die schon Voralarm gegeben, weil sie ihn trotz des Mummen­ schanzes sofort erkannten. Und dann klang ihm ein Chor der sieben Geißlein entgegen, in der Tonlage, als hätten die Boys alle geriebene Kreide gefuttert: »Guten Tag, Herr Inspektor. Die Großmutter ist einkau­ fen, und wir dürfen nicht aufmachen.« Da zog natürlich der entlarvte Sexualspion unter dem 110

Gelächter der Jüngelchen und mit einem Bauch voller Wut wieder ab. Voller Zorn und Unbill rief er flüchtend über die Schulter zurück: »Ich krieg euch schon noch. Euch alle krieg ich noch!« Aber er erwischte gar keinen. Und die bösen Buben sangen ihm noch ihre süße Hymne nach: »Wir sind die Homo-sexu-ellen - wir sind der Ruin von den Bordel-len.« Eines Tages aber kriegte sogar den Herrn Inspektor selbst einer, weil die Jungens einen ganz gewöhnlichen Schupo mobilisiert und ihn auf den komischen Herrn mit der ver­ dächtig hohen Stimme aufmerksam gemacht hatten. Der Schupo nahm den Inspektor dann eines Abends wirklich fest, und jener hatte nicht einmal einen Ausweis dabei. Das Hohngelächter und die Blamage über diese Köpenickiade drang gleich bis ins Präsidium. Daraufhin wurde der Inspek­ tor Schulte versetzt. Zur Abteilung für Opferstockmarder und ähnliche Delikte. Da brauchte er dann kein Wort zu sprechen. »Kannst dich noch an Stempel Teddy erinnern«, ergriff nach dieser Erzählung der Oskar das Wort. Und zwei, drei wußten seine Geschichte schon. Aber die anderen sagten: »Erzähl!« »Das war doch ’ne ausgesprochene Bettschönheit«, erzählte da der Ossi. »Noch ’ne Kleinigkeit hübscher wie ich. Und der war immer auf der Lauer, wenn einer mit seiner Alten recht angab, und sagte, bei meiner geht genau gar nichts. Und wenn einer dann gar zu mächtig und schlau wurde, dann legte der Teddy seine Wette drei zu eins, daß er die sagenhafte Steherin schon schaffen würde. Und als Beweis möchte er der nach getaner Arbeit einen kleinen Stempel aufdrücken während der Schäkerei, wenn sie’s nicht merkte. An irgend so ’ner Stelle. Und den Stempel könnte ihr Galan dann selbst besichtigen. Und erst dann brauchte er die Wette auszuspucken. 111

Wohl ein dutzendmal wurde der Stempel Teddy in anerkann­ ten Fällen Sieger. Und auf dem Stempel stand übrigens: >Zum alsbaldigen Verbrauch bestimmt.« Der Teddy hatte ihn ein­ mal in einer Lebensmittelfabrik geklaut, wo er Ausfahrer gewesen war. Aber schließlich kam er dann mit seiner Tour an einen Linken, an einen Verheirateten, einen Fleischer oder so. Und der machte ihm nachher ein ganz schönes Loch in die Weste. Drei Lungenstiche waren’s. Da steckte dann der Teddy sein Gewerbe auf. Aber den Stempel hat er noch heute.« Die Asa und die Heidi hielten sich fest an den Händen bei dieser Story wie Hänsel und Gretl und nippten an einem roten Likör. Hänschen Seelig schlug sich auf die Schenkel, und der Mannometer Paul werkte schon mit dem dritten Zahnstocher im Munde herum, bis die Luis den Zahnstocher­ topf wegnahm. »Schmeiß noch einen rin ins Gläschen«, rief die Bella Marie, die schon den vierten hatte, der errötenden Bedienung zu, die die Marie bis jetzt für eine Dame gehalten hatte. Meine Hilde sah mich an, schüttelte den Kopf und biß mich leicht in die Fingerknöchel. Jonas Kiesel schnellte einen Stoß Bieruntersätze so in die Höhe, daß er sie wieder mit der Hand auffangen konnte. Und am Tisch daneben renommierte der Betuchte mit einer Tänzerin, die er einmal besessen und auf die er immer in der Garderobe gewartet hätte. Diese Dame hätte ihm allein in der Pause jedesmal drei »Hiebe« abgebettelt. Und er hatte sich immer, wenn er mit ihr beisammen war, gedacht, bei der soll mich mittendrin einmal der Schlag treffen. »Und hat er dich getroffen«, feixte Hänschen zu dem Angeber hin. Der Rote schaute bös und sagte: »Nee, wieso?« »Das wollt ich nur genau wissen«, sagte Hänschen. Alle lachten bis auf den Roten, der zu dumm war, um die Pointe mitzukriegen. 112

Dann kamen die Forellen, und für die Puppenfee kam ein armlanger Hecht, der sie gelassen anblickte, während sie ihn in mäßiger Manier zerlegte. Dem Jonas, der nicht ganz zurechtkam mit seiner Mahlzeit, zerlegte die Luis die Forelle. Dafür stupste der Boxer mit seinem Finger naiv auf die Flundern der Luis und sagte reichlich tolpatschig: »Deiner ist jetzt kalt.« Die Bella Marie trank drei Himbeergeist zur Forelle, wobei sie behauptete: »Fischlein müssen schwimmen!« Nachher ging’s auf die Kegelbahn. Natürlich spielte sich der Rote gleich wieder mächtig auf und schimpfte über die schlechte Bahn und die miese Kugel. Aber es ging dann doch ein Spiel vom Stapel. Hänschen Seelig schob sogar einen Kranz. Und der Jakob, wie der Kegeljunge hieß, stieß einen Juchzer aus, der sich nach Halskrankheit anhörte. Doch dann kam halt alles, wie’s kommen mußte. Die Luis hatte schon ein paarmal mit dem Kopf gewackelt und zu mir gesagt: »Diese Landpartie geht ins Auge. Wirst sehen, die liegen jetzt gleich alle auf dem Bauch.« Die erste, die das tat, war die Marie. Kunststück! Mit schätzungsweise drei Promille im Blut. Zuerst machte sie mal Jagd auf den Kegeljungen. Sie schrie zu ihm hinaus: »He, Seppel, ich liebe dich. Was kostet das?« Dann fiel sie beim nächsten Schub der Länge nach hin. Die Luis wollte ihr schon einen Bahnverweis geben, aber die Marie schwor, am Hinfallen wären nur die Pumps schuld gewesen. Sie schob von da ab in Strümpfen weiter. Aber immer wieder zielte sie auf die markigen Beine des beklopp­ ten Kegelbuben. Sie machte auch gar keinen Hehl aus ihrer Absicht und sagte zur Asa: »Mensch du, ich möcht mal mit so ’nem Denkmal schlafen. Hast du schon mal mit ’nem Standbild gepennt? Ich nicht, na. Aber ich möcht mal. Du nicht auch? Ach ja, du natürlich 113

nicht! Aber du vielleicht mit der Berolina. Mensch, bin ich ein Stück Mist!« Na, und dann war sie fix und fertig. Doch als der Kegeljunge einmal schnell wegmußte, war auch die Marie verschwunden. Blitzschnell und in Strümpfen. Die Luis sagte zum Oskar: »Komm, Ossi, räum der den Aufsetzer rasch aus den Zähnen, bevor sie ihm ein Leid antut.« Der Ossi brachte die Marie denn auch gleich wieder an und setzte sie in die Ecke. Und da mußte sie sitzen bleiben, denn für sie war Feierabend. Die saß da hinten, die Marie, und fing an zu flennen, und machte auf Zerknirschung. Meine Hilde meinte, sie müsse da vielleicht helfen, weil sie doch Kranken­ schwester sei, und müsse sie trösten. Und sie gab acht auf sie. Doch die flennte weiter und nässelte in ihr Taschentuch hinein und nuschelte dann: »Was bin ich denn? Bin ich ein Papierkorb oder ein Dreckkübel oder gar ein Misthaufen?« Da sagte der Rote zu ihr, der auch schon recht satt war vom Kirschwasser: »Ach, halt’s Maul. Ein Klozahn bist du doch. Was denn sonst?« Die Luis wiederum schimpfte zum Roten hinüber: »Du wurmiger Hund, sei du doch bloß ganz stille.« Da schwieg der Rote. Aber als die Marie wieder zu flennen begann, und die Hilde sie noch immer trösten wollte, sagte er doch noch leise: »Laß die doch heulen, die doofe Nuß. Das ist doch ganz gut, dann muß sie nicht so oft raus.« Nur gut, daß die Luis das nicht gehört hatte. Langsam versickerten jedoch die salzigen Ströme der Marie, und sie wischte sich fest ab und sagte nur noch drohend: »So, und morgen werde ich auswandern. Aus mir selbst werde ich auswandern. Um elf Uhr, oder wenn ich halt ausgeschlafen habe, bring ich mich um.« Dann pennte sie in der Ecke ein, und das war gut so. Doch 114

der Zopf und das allgemeine Palaver gingen munter weiter. Auch die Asa und die Heidi waren jetzt blau. Die Asa winkte mir. Ich ging hin. Da sagte die Heide: »Weißt, Sigi, wir möchten jetzt manchmal so ’nen kleinen Ausflug machen. Nur wir beide natürlich. Und über Land fahren. Und da dachten wir, du kämst vielleicht als Chauffeur für uns in Frage?« »Ja, und da wollten wir dich fragen, ob du auch ein Zeugnis hast«, sagte die Asa. Mensch, dachte ich, die ist gar nicht so witzlos, ’ne Kartenfrau und ’nen Chauffeur mit Zeugnis. So mußte es kommen. Und ich sagte: nee, Zeugnis hätte ich nicht. »Das ist aber schade«, meinte die Asa. »Wir hätten so gern einen Fahrer gehabt mit ordentlichen Fleppen und Eins-aZeugnissen. Aber wenn’s nicht ist, dann geht’s zur Not auch ohne.« Und die Heidi bestätigte: »Na ja, er fährt ja ganz gut, der Siegfried. Dann eben ohne Mundstück. Ohne Zeugnis mein ich.« Ich ging wieder in die Ecke zur Luis zurück. Da saß meine Hilde und röhrte leise, und die Luis war es, die sie tröstete. Der betuchte Rote hatte nämlich versucht, meine Kleine ein bißchen gleichzuschalten und hatte ihr etwa gesagt: »Was willst du denn, Kleine. Da läufst du dein Leben lang herum und trägst ein Vermögen knapp über der Erde spazie­ ren und kannst nichts daraus machen!« Das und noch mehr so gemeines Zeug hatte er gesagt. Und jetzt tröstete die alte Luis meine Hilde. Doch als ich zum Roten hinüber wollte, um ihm Bescheid zu sagen, winkte die Luis ab und erklärte: »Laß den mal. Das ist der geborene Lude und ein schmutzi­ ger Bastard. Dem seine Mutter ging ja schon anschaffen. Und der hat ja wenigstens zwölf Väter. Was willst denn von so einem. Der hat ja nicht einmal einen Fingerhut voll Ehre in seinem schmutzigen Bauch. Der hat ja sogar seine eigenen 115

Kumpel reingelegt. Denn wie die mal einen Bruch gemacht hatten in so einem Blitzerladen und die Schore verkaufen wollten, da hat der bei einem Galanteriewarengeschäft einen Sack voll Tinnef aufgekauft und selbst abgestempelt und an seine eigenen Kollegen von der Lage verscheuert für echt. Weil ihm da keiner was machen konnte. So eine miserable Sorte Mist ist der. Oh, pfui Teufel«, sagte die Luis. Und dann reichte es auch für heute. Der bekloppte Jonas und ich luden unsere Fuhren ein, denn sie waren alle vollgelaufen bis zum Zahnfleisch. Wir schachtelten sie in zwei Fuhrwerke, so gut es ging. Der Rote natürlich machte auch noch dem Wirt schnell ein Theater und sagte: »Vielen Dank auch für die linke Achille und dein selbstge­ brauchtes Fleckenwasser. « Aber der Wirt, obwohl nur aus dem flachen Lande, hatte eine prima Haltung und sagte ganz geradeaus: »Ich danke ebenfalls sehr, und beehren Sie mich bitte nie wieder.« Selbst hatte ich keine gute Stunde während der Heimfahrt, da man hinten im Wagen schnarchte und ein Föhn von stickigem Schnaps und verbrauchtem Rauch zu mir vorzog. Die Luis saß ganz rechts an der anderen Tür. Und zwischen uns schlief die Hilde mit dem Kopf an meinem Schaltarm. Die Luis sagte nachher auf halber Strecke zu mir: »Sigi, mach dich frei von unserer Lage. Das hat keine Zukunft für dich.« Und nach ’ner Weile sagte sie dann noch: »Wir sind ehrlich nichts wert. Fahr uns bloß rasch in eine Kiesgrube und dann Chlorkalk über den ganzen Haufen. Zeit wär’s.« Dann schlief aber auch sie ein, bis wir, der Jonas und ich, die Fuhr wieder ausluden, einen jeden vor seinem Hause.

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Sag mir wo die Freunde sind . . . In den nachstehenden acht Bildern schildert Sigi Sommer einige der Gefährtinnen und Gefährten seiner frühen Jahre.

Der große Preis von München Nun, möglicherweise war die Elli Spielberger vielleicht nicht das schönste Mädchen der Stadt, aber bestimmt das schönste Mädchen vom ganzen Land. Sie galt jedenfalls bei der jungen Tanz-Tee-Welt als »der große Preis von München«. Und obwohl wir bald wußten, daß wir uns ewig lieben würden, gingen wir schließlich doch noch auf ein Amt und ließen uns das von einem wildfremden Mann gegen eine Gebühr von 14,60 Mark auch noch schriftlich bestätigen und bestempeln. Am schönsten an der Swing-Else war ihr Gang. Sie lief so wundervoll und vornehm wie eine ganz teure Schweizer Uhr auf zwanzig Steinen. Als wir nach dem Kriege in ein Trümmerhaus Einzug hielten, begann die eigentliche Zeit der großen Liebe. Und ich tat auch die drei Dinge, die ein Mann in seinem Leben tun soll. Ich zeugte ein Kind, ich pflanzte einen Baum und ich baute ein Haus. Doch mit dem Wohl­ stand kam dann rasch auch die Trägheit der Herzen. Und dann kam der Wurm. Denn wenn ich sagte, das Ding da sei blau, meinte die Elli plötzlich: »Ja, aber erdbeerblau.« Und ihre Einstellung zu allen unseren gemeinsamen Dingen wurde von einer ganz seltsamen Logik bestimmt. Etwa von der Sorte: Ist’s auf Silvester hell und klar, so ist’s am andern Tag Neujahr. So kam dann auch alles, was kommen mußte. Nämlich der Herr mit dem schwarzen Kapperi. Der Herr Amtsgerichtsrat. Und siehe da, der wußte sofort, daß ich schuld an der ganzen Misere war. Obwohl doch nicht er, 117

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sondern ich zwölf Jahre mit dem »großen Preis« verheiratet war. Nun, ich habe mich längst damit abgefunden, daß ich als Justizirrtum herumlaufe. Doch es gibt zwischen uns beiden immer noch ein gutes Wort, ein bißchen Gaben auf den Tisch, rote Rosen zur gegebenen Zeit und eine kleine bitter­ süße Erinnerung an die friedlichen Jahre der goldenen Ringe.

Der Stolz unserer Straße Weil in einer Vorstadt das Leben meist hart und herb ist, lernen die kleinen Buben rasch, das handwarme Geld, das ihnen die Mama zum Milchholen mitgibt und das ihnen die größeren Halunken abgaunern wollen, zu verteidigen. Und aus diesen Notwehr-Bürscherln werden dann später nicht selten gute Ringer, Boxer oder Judo-Kämpfer. So auch in jener Straße, in welcher ich aufwuchs. Da gab es gleich drei Deutsche Meister im Boxen. Und im Viertel nebenan wohnte der Schleinkofer Biwi, der sogar eine Silber-Medaille bei den Olympischen Spielen gewann. Auch die zwei SchmidtBuben, die als erste in der Welt die Matterhorn-Nordwand bestiegen, gehörten dazu. Sie entstammten, ebenso wie die Sedlmeiers, einem berühmten Bergführer-Geschlecht, von denen der Max allerdings in der Eiger-Nordwand umkam. Und nicht zu vergessen die vielen Fußballer-Größen, die aus diesen Revieren kamen. So einer war auch der Georg Bayerer, mit dem ich acht Jahre den gemeinsamen Schulweg zurück­ legte. Bei uns hieß er jedoch nur der »Buale«. Die BayererKinder hatten genau dasselbe wie die anderen alle auch. Nämlich zwanzig Stallhasen auf dem Balkon oder in den langen Wohnungsgängen, dazu ein latentes Hungergefühl im Bauch und meistens nur ein einziges Paar Schuhe. Deshalb gingen wir alle bis zum November hinein barfuß. Schwer beneidet von den halbreichen Beamten-Bälgern, die ihre 119

weichen Kommunion-Stiefel selbst im Hochsommer tragen mußten. Das Barfußlaufen mag möglicherweise dazu beige­ tragen haben, daß der »Buale« ein so feines Gefühl in seine Vorderhufe bekam. Denn er konnte eine Kastanie mühelos aus fünf Meter Entfernung in ein Mauseloch hineinspitzeln. Später, als er als Fußball-Talent klar erkannt war, sagte der Lehrer öfter zu ihm: »Bayerer, du hast halt deinen Verstand in den Beinen.« Und bereits mit sechzehn Jahren war der 120

Georg Bayerer dann der jüngste Liga-Spieler in ganz Deutschland und durfte bei Wacker München in der ersten Mannschaft zusammen mit dem renommierten Linksaußen, dem Nationalstürmer Heini Altvater, passen und dribbeln. Zu seinem Linksaußen mußte er allerdings selbst als aner­ kannter Mannschaftskamerad während des Spieles immer noch »Sie« sagen: »Sie, Herr Altvater, schpieln Sie bittschön zu mir, ich schtehe frei.« Als Entlohnung gab’s in dieser Sportler-Aera bei Gewinn sieben Mark fünfzig für die gemeinsamen Kicker. Bei verlorenem Spiel nix und »G’schimpfte«. Dazu ist aber der »Buale« ganz schön weit herumgekommen. Bis nach Augsburg, Bamberg und Ingol­ stadt sogar. Und später einmal nach Budapest. Dort erhielt die siegreiche Elf dann als Entgelt ein Speiseeis, das sie auf einer Anlagenbank verzehren durften. »Buales« große Lei­ denschaft aber waren die Kartoffelknödel. Und als er wieder einmal zehn Stück davon verkonsumiert hatte und auf dem Spielfeld ausschaute, als wäre er von unten auf den Rasen angeschraubt, schrieb die Zeitung über ihn:»Bayerer >stand< wieder einmal in gewohnter Form seinen Mann.« Bis vor kurzem stand der »Buale« auch heute noch immer. Nämlich sieben Stunden in seinem Schreibwaren- und TotoGeschäft, das er jetzt aufgegeben hat. Nur spielen tat er da selber nicht mehr. Das machten die anderen für ihn. Dafür darf er jetzt Kartoffelknödel essen soviel er will. »Sieben Stück meistens«, gestand er mir erst gestern.

Die Salzsäure-Else Von allen verrückten Hühnern, hinter denen ich als junger Gockel herkrähte, war die Else Heer bestimmt die vielseitig­ ste. Sie war wohl noch verrückter als die Irre von Chaillot. Sogar französisch konnte sie. Allerdings nur ein einziges 121

Wort. Nämlich: Sellawie. Das sagte sie so oft wie möglich. »Sellawie«, als uns ihr Vater zum ersten Mal hinter der Haustüre erwischte, und sie ein paar saftige Ohrfeigen ein­ fing, »Sellawie«, nachdem sie feststellen mußte, daß ihre Tage ausgeblieben waren und »Sellawie« dann auch viele Jahre später, als sie ein reicher Mann aus dem Mittelwesten geheira­ tet hatte und die Else ihre geliebte kleine Welt um den Alten Peter verließ. Die Else stand auf mich wie ein Zinnsoldat, aber sie war sehr eifersüchtig. Einmal, als ich von einer mittelprächtigen Person nach Hause gebracht wurde, warf sie nach mir mit einer kleinen Flasche mit Inhalt, traf mich aber nicht, weil ich seinerzeit Boxer war und ein großes Geschick im Abducken besaß. Auf den Scherben der Flasche war nachher noch das Etikett zu lesen, auf dem »Salzsäure« stand. Manchmal und zwar meistens hatten wir beide kein Geld, um zu zweit ins Ring-Café zu gehen. Dann ging ich allein, nachdem ich ihr einziges Paar Strümpfe versteckt hatte und die Riemenschuhe mit einem Fahrradkabel zusammengeschlossen. Doch es dauerte nie lange und das Elsen-Kind strahlte mich mitten auf der Tanzfläche mit ihrem Tausend-Watt-Lächeln an. Dann hatte sie die Beine einfach mit gelber Bodenholz-Farbe eingefärbt und die Riemchen der Schuhe abgeschnitten. Später wechselte sie zu einem älteren Konditor-Meister hinüber. Aber sie vergaß mich dann trotzdem nie. Und gar manches liebe Mal lag ein großes Stück Butter vor meiner Bleibe in der Schillerstraße. Nach vielen Jahren, als ich gerade meinen zweiten Roman »Meine 99 Bräute« geschrieben hatte, bekam ich plötzlich von der Elisabeth, die schließlich einen Amerikaner geheiratet hatte, einen langen Brief. Damals war sie bereits längst wieder geschieden. Denn die schönste Farm ihres Cowboys hatte sich als eine lausige Wellblech-Bude an einem namenlosen Fluß in Wyoming entpuppt. Und der reiche Ami war aus irgendeinem Grund acht Jahre »zum 122

Nachdenken verurteilt« worden. Die Else schrieb mir viel von Jugendliebe und -leid. Auch berichtete sie, daß sie jetzt ein Flintenweib geworden sei. Sie schoß nämlich Eichhörn­ chen und bekam dafür von der Regierung fünfzig Cent, wenn 123

sie die zwei Ohren des erlegten Haselnuß-Marders ein­ schickte. Einen kurzen Nachsatz hatte der Brief übrigens auch noch. Es stand da. PS: Es war nur essigsaure Tonerde gewesen. »Sellawie.«

Der brave Soldat Max »Ted ist gefallen und George ist tot und Richard gestorben, verdorben. Aber Blut ist immer noch rot und für die Armee wird schon wieder geworben.« So reimte der Dichter. Doch natürlich gab es auch ein paar Figuren, die gingen fast unbeschadet aus dem angezettelten Stahlbad wieder hervor. Einer davon war der brave Soldat Wittmann. Der »Maxe«, den ich schon von den Tanz-Cafes her kannte und der dann in Frankreich in meine InfantrieGruppe kam. Bereits in der Garnison aber mußte ich einmal herzhaft lachen über ihn. Denn da hatte er nachts einen Brief geschrieben und ihn versehentlich auf dem UnterkunftsTisch liegen lassen. Und darin schilderte er, wie gierige Neger, das blanke Messer zwischen den Zähnen, um sein Zelt schlichen. Diese Erzählungen schickte er dann seinen Bräu­ ten und die schickten ihm wiederum lange Kuchen und lange Würste. Und ich dachte mir, daß kann ja gut gehen mit dem an der Front. Als wir dann schließlich vor der Maginot-Linie lagen, sah ich auch tatsächlich durch mein Fernglas den braven Soldaten Wittmann in voller Uniform auf einem Damenfahrrad im Niemandsland herumkurven. Und dabei trug er eine lange Fastnachtsnase im Gesicht. Wahrscheinlich waren die Franzosen genauso verdutzt wie ich, denn sie schossen nicht einmal auf ihn. So ging das dann lustig weiter, den ganzen Vormarsch hindurch. Einmal war der Max so parfümiert, daß die gesamte Kompanie wie ein Freudenhaus roch. Das andere Mal stand er totenbleich geschminkt, in 124

Reih und Glied und erklärte dem Herrn Hauptmann, das sei deshalb, weil er eben den Feind ersehrecken wolle. Und unentwegt gab’s »Bau« für Maxen. Weil er in einer kleinen Stadt fast alle Häuser nach Apfelkompott durchsucht hatte, das er so schrecklich gern mit Kartoffelpuffer aß, kriegte er 125

beispielsweise fünf Tage verpaßt. Und die saß er dann während des Vormarsches in einem klappernden Gefechts­ wagen ab. Überall wo wir Quartier machten, kam der Maximilian sofort in irgendein Mansardenzimmer, in einen leeren Schulraum oder ins Spritzenhaus zum »Sitzen«. Es war klar, daß es für einen solchen Soldaten natürlich keine Litzen oder Winkel gab. Deshalb blieb die Uniform des wackeren Infanteristen Wittmann die ganzen Jahre hindurch jungfräu­ lich bis zum Ende. Dafür war sein feldgrauer Wams aber bald so behangen mit Buntmetall und Orden, daß die Kameraden meinten, selbst der dicke Hermann könnte nicht mehr Klim­ per auf seinem Bauch herumtragen. In Gefangenschaft gera­ ten, machte der Maxe damit auch noch ein zwielichtiges Geschäft. Denn er verscheuerte die ganze Pracht an einen amerikanischen Sergeanten nach der Formel I (Gewicht gegen Gewicht). Und so bekam er für die Nahkampf-Spange, die Eisernen Kreuze, die Sturmabzeichen und sein riskiertes Leben schließlich achtzehn Schachteln Chesterfield. Vorjahr und Tag traf ich diesen Wahnsinnskrieger tatsäch­ lich einmal unverhofft in Münchens Straßen. Er redete ein sehr geschliffenes Manager-Deutsch und zeigte Bilder mit großem Wagen und großem Haus. Dann lud er mich herzlich zum Essen ein, in ein verstecktes hervorragendes Speiselokal, das er irgendwo entdeckt hatte. Ich frag ihn neugierig, was es denn dort so besonderes gäbe. Und er erwiderte strahlend: »Was denn schon, Mann, was wird’s denn da schon geben, Apfelkompott mit Kartoffelpuffer selbstverständlich.«

Die Gräfin von Monte Christo Dann gab es da noch so eine. Die »bleiche Gräfin von Monte Christo« oder wie sie auch noch geheißen wurde, »die Mae West der Vorstädte«. Und sie war - nicht viel älter als 126

siebzehn Jahre. Aber dafür war sie blond wie die Mitter­ nachtssonne, und sie spann. Sie war die süßeste, sanfte Irre, die es gab, und verrucht wie die Dolly Dollar, die Schygulla und die Nasti zusammengenommen. Für mein Auge war sie außerdem noch viel, viel schöner als der schönste Hundert­ markschein. Und gar manches liebe Mal zogen wir zwei eine »dufte Show« ab, wie man heute sagen würde. Seinerzeit hieß das unter uns noch »einen Schwank machen«. Und das ging etwa so: Die Helga, wie sich die Gräfin schlicht schrieb, und ich, der »René«, wie ich damals gerade hieß, stiegen in eine Straßenbahn und setzten uns getrennt hin. Dann begann ich leise meinen Nachbarn aufzusticheln: »Was die da bloß für lange Fingernägel hat und Wasserstoff im Haar. Wo so eine an einem hellichten Werktag wohl hinfahren würde?« Wor­ auf die Helga nur verächtlich hinüberzischte: »ProletenLümmel.« Und das ging dann hin und her, bis es alle Leute spitzkriegten und sich die Fahrgäste in zwei Lager geteilt hatten. Und wenn’s dann ganz knapp an einem Handge­ menge war, sagte die Helga plötzlich an der nächsten Halte­ stelle zu mir: »Komm, Geliebter, wir steigen aus. Die Menschen hier sind so gewöhnlich.« Und ich fügte schnell hinzu: »Und sie riechen auch so schlecht.« Oder ich ging mit meiner Hinterhaus-Adeligen einmal um den Luitpold-Block herum und hatte sie an einer langen, dünnen Messingkette am Fuß angehängt. So führte ich sie spazieren. Und wenn dann ein Bekannter kam und fragte, was denn das bedeuten solle, sagte ich ziemlich gelangweilt zu ihm: »Also weißt du, schön ist das Mädchen ja schon, aber dumm. Die ist nämlich so dumm, daß sie die Pferde beißen. Und wenn ich sie nicht anbinde, verläuft sich die doch hundertmal. « Daraufhin mußte die Gräfin die Augen niederschlagen und völlig versklavt mit dem Kopf nicken. 127

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Doch eines Tages ging auch sie den Weg aller Bürgerlichen und heiratete. Aber schön war die Zeit mit ihr schon gewesen. So schön wie alle alten Zeiten sind. Übrigens, die »Helga von Monte Christo« gibt es noch immer. Ich habe ihre Adresse nach dreißig Jahren wieder ausgegraben und erst kurz mit ihr telefoniert. Aber sehen wollten wir uns doch lieber nicht mehr. Das wollen wir uns beide ersparen.

Der schöne Edi Der schöne Edi war für mich schon immer der Inbegriff aller persönlichen Freiheit gewesen. Er war ein wahrhafter »FreiHerr«. Damals, in unserer Maienzeit, so mit sechzehn herum, wohnte er in einem umgebauten Hasenstall. Und ich zog zu ihm. Später verlegten wir unser Hauptquartier dann in einen alten Lagerschuppen in der Schillerstraße. Und ein großes Messingbett stand auch darin. Das war unser liebster Tummelplatz. Gar manche Jungfrau behauptete damals, sie hätte auf dieser Wiese ihren Titel verloren. Der Edi war ein großer Erfinder. Mit Ausnahme der Arbeit hätte er fast alles erfunden. Einmal konstruierte er auch einen Abreißkalender, der rückwärts ging: So daß man nach jedem Blatt, das man abriß, einen Tag jünger war. Oder er bastelte einen langen, viereckigen Topf zum Spaghettikochen, den er den dummen Eisenwarenhändlern anbieten wollte. Auch in dieser Hinsicht ein wahres Genie. Er hatte nur leider noch nicht gehört, daß sich die italienischen »Tomaten-Halme« beim Kochen sowieso bogen und man sie deswegen auch in jedem anderen Gefäß sieden konnte. Jeden Morgen machte der Edi zwanzig Liegestütze vor dem Spiegel, damit er auch stark genug war, um jeder Beschäftigung aus dem Wege zu gehen. Aber wenn uns der Hunger dann halt bereits die Hosenträger abfraß, schufteten wir für einen Schildermaler. 129

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Und dazu hatte der Edi auch schon wieder was erfunden. Nämlich das Meisterspiel. Und das ging so: Einer von uns zog einen weißen Kittel an und war dann der Chef. Der andere mußte auf die Staffelei steigen, die vor dem betreffen­ den Geschäft aufgebaut war. Ging dann eine junge Todsünde vorüber, spritzte der Gehilfe von oben ein wenig Farbe auf die nichts ahnende Pracht hinab. Darauf fing der Meister sofort zu toben an und schrie auf die Leiter hinauf: »Sie schwachsinniger Vogel, Sie sind sofort entlassen. Holen Sie sich flugs Ihre Papiere.« Der tolpatschige Gehilfe aber flehte zurück: »O Chef, sind Sie doch nicht gar so hart. Bittschön, nicht entlassen. Nur das nicht.« Nun mischte sich dann meistens die verunglimpfte junge Dame in dieses soziale Drama ein und bat ebenfalls für den verdatterten Gesellen. Schließlich gab dann ein Wort das andere, bis ein neues G’schpusi daraus wurde. Heute ist der Edi längst selber ein richtiger Meister gewor­ den. Aber ein »Frei-Herr« ist er immer noch. Denn er zieht von Volksfest zu Volksfest und stellt in zwei Stunden die Lautsprecheranlagen für die Musik auf. Dann hat er wieder vierzehn Tage frei. Gelernt ist gelernt.

Die unbekannte Rote Eigentlich war dieses Mädchen um drei Nummern zu elegant für mich. Aber dann lief alles wie gehabt, und sie war mir sehr zugetan. Ich gab ihr den Kriegsnamen »Die unbekannte Rote aus der Seidlstraße«. Nach dem nachmaligen Gips-Bestseller »Die unbekannte Tote aus der Seine«. Denn sie war überall von Geheimnissen umwittert. Als ich sie zum ersten Mal sah und nach ihrem Namen fragte, sagte sie: »Nennen Sie mich Valerie.« Das war dann aber auch schon alles, was ich jemals von ihr erfuhr. Jedesmal kam sie mit einem »Maybach131

Zeppelin« zum Rendezvous-Platz vorgefahren. Die Limou­ sine hielt dann in einiger Entfernung, ein Chauffeur öffnete ihr den Schlag. Nun, vielleicht aber war das auch ihr Bruder, der Automechaniker war und eine Probefahrt machen mußte. Manchmal sagte ich auch »Fräulein Lohengrin« zu ihr, wegen der bekannten Strophe »Nie sollst du mich befragen«. Und als ich einmal scherzhaft meinte: »Oder heißt du vielleicht 132

Rumpelstilzchen?« hätte ich mich gar nicht gewundert, wenn sie mit dem Märchenausruf »Das hat dir der Teufel gesagt« gekontert hätte. Valerie mußte auf jeden Fall eine Meise haben. Zwar war sie das gepflegteste Mädchen, das ich jemals streicheln durfte, aber überall und immer ließ sie ihren komischen Hut auf. Auch im Augenblick der Wahrheit. Und da waren sechs Kirschen drauf, die jedesmal leise mitklapper­ ten. Da muß man schon ernst bleiben können. Und eines Tages war alles aus. Da sagte sie mit ihrem dämlichen Ertrunkenen-Lächeln: »Jetzt komme ich noch einmal, dann nimmermehr.« So wie es in den Gebrüdern Grimm stand. Tatsächlich fuhr zwar der Maybach noch einmal vor, aber heraus stieg nur der Fahrer und überreichte mir ein Kuvert. Darin war ein kleines Bild von ihr. Sonst nichts. Keine Zeile und kein Gruß. Nur das kleine Kennkartenfoto. Ich ließ später davon ein paar Abzüge machen und zeigte sie meinen Freunden und den Raben in der Stadt. Einer sagte, er hätte sie mit Sicherheit als Schießbuden­ fräulein wiedererkannt. Ein anderer behauptete sogar, die kenne er ganz genau, es sei eine ledige Tochter des Bischofs von Salzburg. Und der dritte schwor darauf, daß sie eine hohe BDM-Führerin war. »Qué sabe«. Ich habe jedenfalls die unbekannte Rote mein ganzes Leben nie mehr gesehen.

Iwan der Schreckliche Eines Tages kam ein Neuer hinzu zu den 76 Kindern unseres Vorder- und Hinterhauses. Er hieß Benedikt Höger und war vier Jahre alt. So alt wie ich. Also mußten wir es »ausma­ chen«. Durch einen tückischen Griff, meine Geheimwaffe, die man »Pasinger Mops« nannte und die eine Art »NasenZwanzgerl« war, wurde ich Sieger. Von da an war es völlig klar, wer beim Apfelstehlen und der Kastanienernte die 133

»Krax’n« machen mußte oder den verschossenen Fußball aus dem Schlafzimmerfenster der Hausmeisterin Hitzig zu holen hatte. Aber sonst teilten wir alles miteinander, die Pause­ brote, die Prügel vom Schuloffizianten und später auch die Bräute. Wir hatten auch einen »Tango-Zahn« gemeinsam. Jeden Samstag ging sie mit einem anderen von uns zum FünfUhr-Tee ins Odcon-Kasino und zahlte. Denn sie war ein Biermöpseri, und wir waren arbeitslos. Drum lasen wir auch sehr viel. Der Benedikt hauptsächlich russisches Zeugs von Gogol, Puschkin und Dostojewski. Deshalb nannten wir ihn auf einmal auch »Iwan«, »Iwan den Schrecklichen«. Er war aber gar nicht schrecklich, sondern herzensgut. Denn wenn zum Beispiel einmal eine Wespe auf dem Stück Obstkuchen

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saß, das er zum Geburtstag spendiert bekam, wartete er geduldig, bis sie gefressen hatte, bevor er hineinbiß. Einmal mußten wir übrigens auch gemeinsam wegen so einer Charleston-Schönheit zum Vormundschaftsgericht. Aber als dieses Schätzchen von unseren Reichtümern hörte, heiratete sie lieber doch ihren Zimmerherrn. Und dann erschossen ihn ausgerechnet seine geliebten Russen. Meinen »Iwan«. Bei vierzig Grad minus im Mittelabschnitt. Der Hauptmann schrieb, er sei durch Kopfschuß gefallen. Damals fielen bei allen Hauptleuten alle Landser meistens durch Kopfschuß oder durch Herzschuß. Als »Rostbraten« in einem glühenden Panzer gegrillt oder als gieriger Fraß eines Flammenwerfers oder auch mit aufgetriebenem Pferdebauch starb keiner. Sein Feldwebel aber erzählte mir, der Benno Höger sei direkt von einer »Ratsch-Bum« voll erwischt worden. Es hätte ihm der ganze Oberkörper vom Koppel aufwärts gefehlt. Und das Herz meines Freundes natürlich auch.

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Selig die, die ihre Seele kennen Fünfzehn Prominente entblättern sich . . . Mit über viertausend Buchstaben versucht »der neue Brock­ haus«, den Begriff der menschlichen Seele zu analysieren. Dabei kommt folgendes heraus: Die Seele besitzt eine Substanzialität. Auch die Gestirne haben eine Seele, sagten die ganz Alten. Manche Naturvölker hielten auch die Wahrneh­ mung des Herzschlages und das Erblicken des eigenen Schat­ tens für Seelentrümmer. Die Pythagoreer wiederum meinten, dieses rätselhafte Inkreisch des Menschen wären feinste bewegliche Sonnen­ teilchen. Während die Griechen hauptsächlich den Atem als Träger der Lebenskraft bezeichneten. Und im Mittelalter wurde der Satz geprägt: »Anima forma corporis«, was soviel wie »die Seele ist die den Körper formende Kraft« bedeutet. Erst die Neuzeitdenker sagten dann so klare Worte wie, daß die Seele die allgemeine Ur-Anlage sei, entwickelten eine sogenannte Substanzialitätstheorie und sahen in der Seele ein reales und einheitliches Wesen. Ich habe nun einmal einen einfachen Weg beschritten und fünfzehn prominente Zeigenossen, Politiker, Künstler und Schauspieler gebeten, ihre Seele zu zeichnen. Das Ergebnis dieses Tests aber braucht nicht unbedingt ernst genommen zu werden und erhebt auch keinen Anspruch auf Logik oder Vollständigkeit. Oder wie es in den Romanvorspannen meistens heißt: »Parallelen und Verglei­ che zu wirklichen Vorkommen sind rein zufällig und liegen in keinem Falle in der Absicht des Autors.«

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Dr. Hans-Jochen Vogel Zeitweiliger Oberbürgermeister von München und Berlin

Manche Leute meinen vielleicht, die Seele des großen Städte­ formers und -erneuerers Hans-Jochen müßte die Form eines Umleitungsschildes haben. Denn damals, als er die Geschicke der »heimlichen Hauptstadt« noch fest in seiner demokrati­ schen Hand hatte, kam in München der Slogan auf, die schwarz-gelbe Metropole sei jetzt nicht mehr die Hauptstadt der Bewegung, sondern die Hauptstadt der Erdbewegung. Die an sich recht nüchterne und sachliche Zeichnung des »Hans in allen Gassen« über seine geheimsten Innereien erinnern vielleicht irgendwie auch an jenen Schneidermeister, der seine Kundschaft beim Maßnehmen einfach auf ein großes Blatt Papier legte und mit dem Bleistift drum herum­ fuhr. Drum ist diese Skizze eigentlich ein Ausdruck des absoluten Wissens, um jedes Detail, besonders um jedes 138

politische. Mathematiker könnten natürlich auch sagen, die Seele des Einser-Schülers Hans-Jochen zeigt ganz deutlich, daß er für sich privat die »Quadratur des Kreises« längst gelöst hat. Simplere Betrachter behaupten hinwiederum fest und steif, der Astral-Leib vom Hansi habe lediglich die Form des mittleren Ringes, den er einst eigens für seine Hauptstadt schuf. Und wenn er jetzt auch fremdgegangen ist, und womöglich den Berlinern ein leises Gruseln mit seiner Super­ intelligenz verursacht, so wird er sich kaum ganz von Mün­ chen abnabeln können, so daß sein Geist ewig und ruhelos um die heimliche Hauptstadt herumkurven wird. Und zwar im sanften Linksdrall, wie es sich eben für einen linientreuen Sozialdemokraten geziemt.

Erika Köth Kammersängerin und tirilierende Weltreisende

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Eigentlich müßte sie doch wohl eher wie ein Violinschlüssel aussehen. Die Seele einer weltbekannten Sängerin. Aber Frau Köth schreibt zu ihrem »Sesam-öffne-dich« fürs Jenseits selber: »Da auch in meiner Brust zwei Seelen wohnen, hab’ ich mir dieselben als einen Schlüssel gedacht, der gleichzeitigzwei Türen nach >Gut< und >Böse< aufsperrt. Na ja.« »Na ja«, sagt da auch der Psychologe dazu. Na ja, groß genug ist dieser Ewigkeits-Sperrhaken wohl für die Himmelstüre. Aber wenn die Erika damit einmal die Endgül­ tigkeits-Pforte aufsperrt, so könnte es ja leicht sein, daß auch viele ihrer Fans gleichzeitig mit hinein wollten. Und mit ihnen vielleicht auch ein paar böse Kritiker, die zwar selber nicht einmal ordentlich »Hosianna« singen können, aber immer alles besser wissen. Und solche Seelen müssen doch erst einmal im Fegfeuer chemisch gereinigt werden von ihrer Mißgunst. Da ist es wohl besser, Frau Köth steigt einfach auf ihrer berühmten Tonleiter durch ein Oberlicht-Fenster ein und hüpft von dort aus direkt ins Paradies. Viele brave Engelchen werden ihr bestimmt ein Sprungtuch aufspannen.

Michael Pfleghar Star-Regisseur Beim ersten Anblick dieser Zeichnung könnte man glauben, dieser Mann dürfte eigentlich nicht Pfleghar heißen, sondern Wirrwarr oder Roßhaar. Aber einem Haarspalter wird es dann rasch deutlich, daß es sich bei diesem Künstler um einen außergewöhnlichen Feinspinner handelt. Pfleghar, der Showgeschäfts-Wunderknabe und Fernseh-Gründgens, hat die feinen Fäden seiner Radar-Seele wie ein Spinnennetz geknüpft, und was sich darin fängt, ob Mücke oder Mäd­ chen, wird von seinem heißhungrigen Intellekt ausgesaugt, bis nur mehr die schäbige Verpackung bleibt. Er selbst 140

vergleicht allerdings seine Federzeichnung vielleicht mit einer Sonne. Wenn die Seele von Michael Pfleghar einen Vornamen hätte, würde sie womöglich »Tinabibianschy« heißen. Nach einigen blonden langhaarigen Pappeln benannt, die an seinem Wege standen und die er im Vorüberhuschen alle ein bißchen streifte.

Heinz Oestergaard Modeschöpfer und Paladin der schönen Frauen Die Seele des Modeschöpfers Heinz Oestergaard ist ein bunter schillernder Fisch, schnell, geschmeidig und beweg­ lich. Ein fliegender Fisch, der sich nicht in den unheimlichen Tiefen eines dunklen Bergsees aufhält, sondern elegant durch die Luft springt wie ein kluger Delphin. Anpassungsfähig, liebenswürdig macht er der Gesellschaft seine Modesprünge vor, so wie sie es erwartet. Unter Wasser aber wird er sich wohl manchmal ein leises Lächeln nicht verkneifen können. Seine Entwürfe jedoch ziehen immer wieder weite Kreise und 141

schlagen beachtlich hohe Wellen. Soeben ist er sichtlich mit einer Frühlingsblume aus den Fluten aufgetaucht, und die Idee für eine neue Frühjahrskollektion ist geboren.

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Udo Jürgens Schlagersänger und Teenager-Halbgott

Dies ist zweifellos eine Jet-Seele. Eine vom allermodernsten Baumuster. Schon in der ganzen Anlage erinnert sie an ein Strahltriebwerk, mit dem es dem Besitzer gar nicht schwerfal­ len konnte, den Höhenweltrekord in seiner Klasse aufzu­ stellen. Freilich ist diese Seele manchem biederen Mitbürger viel­ leicht auch so unverständlich wie das Produkt eines Jungfil­ mers. Das soll aber nicht besagen, daß sie nicht das Prädikat »besonders wertvoll« verdient. Jürgens’ Seele ist so einmalig, wie seine einmalige Stimme. Sie durchdringt alle Schallmau­ ern. Und in weiser Voraussicht hat der Zeichner in der Mitte seines innerlichen Selbstporträts auch eine kleine runde Öff­ nung gelassen, durch die seine Unsterblichkeit einst in den Schlager-Olymp auffahren kann. Wie gut wird es dann sein, daß seine Seele nicht viereckig ist. 143

Max Schmeling Boxheros und Sportler des Jahrhunderts

Max Schmeling, »der schwarze Ulan vom Rhein«, wie einst sein Kriegsname lautete, hat also keine »Bum-bum«- oder »Hau-ruck«-Seele, wie wohl manche seiner geschlagenen Gegner meinen könnten. Nein, dieser teutonische Koloß, der so viele seiner Rivalen in das Land der Träume schickte, ist selber ein Träumer geblieben. Er stellt sich deshalb seinen 144

unsterblichen Schatten wohl als eine Art Elektrokardio­ gramm der Ewigkeit vor. Sein »ständiger Begleiter« kommt irgendwoher aus dem Unendlichen, macht ein bißchen »Zikken« und verschwindet dann wieder im Nirgendwo. Zuerst ging es also geradeaus, und dann kamen die kleinen Hügel des sportlichen Erfolges, bis schließlich der Himalaja der Weltmeisterschaft erklommen wurde mit darauffolgen­ der unvermeidlicher Talsohle. Nachher kam aber auch schon sie. Die Anny Ondra. Seine geliebte blonde Zweitseele. Und mit ihr erlebte der Max über fünfzig Jahre lang das Hänselund-Gretel-Glück des rhythmischen Auf und Nieder. »Immer auf und ab, so ist’s halt mal im Leben«, hieß einmal ein berühmter Schlager. Hoppla, und dann kommt immer wieder ein kleiner Gipfel des geschäftlichen Erfolges. Und zum Schluß geht’s wieder schön geradeaus bis zum letzten Gong. Und einem hochverdienten Unentschieden mit dem Schicksal.

Willy Millowitsch Theaterbesitzer und Mattscheibenliebling Dies ist eine sogenannte Hülsenfrucht-Seele. Der Witzmaster aus Köln streut seine Seele auf ebenso breiter Basis aus wie seine Pointen. Und drum wird auch seine Seele einmal hoch droben genausogut und todsicher ankommen wie seine herr­ lichen Späße. Wenn auch ein paar dickere rheinische Bohnen unter dieser Saat des Gekichers sind. Das mögen vielleicht ein paar derbere Kalauer sein. Doch heißt es wohl auch beim Schmunzel-Willy genau wie bei vielen anderen Künstlern auch: »Zwei Seelen wohnen ach in seiner Brust.« Denn sicher hat auch er noch eine feine wertvolle Sonntags-Seele. Die er sorgsam aufbewahrt, wie eine teure Glashütter-Uhi; in einem blauen Samtfutteral. Und wenn dann dereinst der Engel vom 145

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Dienst an der Himmelstüre zu ihm sagt: »Bitte, Herr Millowitsch, vergleichen Sie die Zeit«, dann wird der »Willem« seine goldene Uhr aus dem Futteral nehmen und verblüfft feststellen, daß die Stunde seines himmlichen Auftritts auf die Sekunde stimmte. Und derCherubin wird lächelnd befehlen: »Vorhang auf für Millowitsch. Zweiter Akt.«

Margot Hielscher Chansonette und Herzdame

Eine typische Genuß-Seele, allen schönen Dingen der Welt aufgeschlossen, voller Poesie und Sinnenfreude. Heiter, spie147

lerisch und unbefangen liegen in den beiden Herzkammern alle Requisiten des Glücks dicht beieinander. Delikate Forel­ len, schöne Literatur, die beiden Lieblingspudel Castor und Pollux, die Mütze des Küchenchefs eines französischen VierSterne-Restaurants, ein zartes Spitzendessous mit koketten

Schleifen, ein Römer mit Trauben vom besten Jahrgang, die Sterne, die in seidenweichen südlichen Nächten scheinen und die strahlende Sonne des himmelblauen Ferienglücks. Kein Platz darin für den Infarkt, sondern schwingend im Kreislauf des Dreivierteltakts. Was Meister Barnard aller­ dings mit so einem Herzen anfangen würde, wenn es ihm einmal in die Hände fiele, ist rätselhaft. Aber an Überra­ schungen hat es ja bei der Margot nie gefehlt. 148

Max Colpet Poet und Hausdichter von Marlene Dietrich

Ein winziges Gärtlein der Romantik, in dem sich die zarten Mimosen seiner Dichterromantik am Zaune des Erfolges hochranken. Darüber die vier Vögel des Poeten. La Paloma, die weiße Taube; die Schwalbe, die gen Süden zieht; einer der Kraniche vom Ibykus und der sagenhafte Vogel Roch. So stellt sich der harte Barde Colpet sein flüchtiges Ich vor. Drei Tage hat er an dieses Konterfei hingearbeitet. Länger als wie an sein berühmtes Dietrich-Lied »Man lebt in einer großen Stadt« und fast so lange wie an dem Welterfolg »Sag mir, wo die Blumen sind«. In seinem »Deserteur« läßt Colpet 149

Jean Claude Pascal singen: »Ich weiß, Herr General, Sie geben die Befehle, doch ich hab’ eine Seele, das ist es, was uns trennt.« Nun, »Max der Reimer« wird es jedenfalls beim großen Zapfenstreich einmal gar nicht so leicht haben, seinen Astral­ leib hinaufzubefördern. Öffentliche Verkehrsmittel stehen ihm nämlich, nachdem was er bisher alles gegen die Gesell­ schaft dichtete, kaum zur Verfügung.

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Elke Sommer Star und Export in Blond

Die Seele der Elke Sommer ist ebenso verschlungen wie die Wege einer braven Pastorentochter zum gefeierten Holly­ wood-Star. Oft mag ihr ihr Leben selbst wie ein Irrgarten vorkommen, aus dem sich’s schwer wieder herausfinden läßt. Aber sie steht immer ein bißchen neben sich und beobachtet sich mit einem Auge. Und dann lächelt sie wohl manchmal über den kleinen stacheligen bayerischen Wolpertinger, der sich ganz schön durchbeißt und behauptet und die Fäden auf seine Art 151

spinnt. Und dem es schließlich sogar gelungen ist, einen der bekanntesten amerikanischen Journalisten geschickt zu umgarnen und in seinen Bau zu ziehen.

Siegfried Lowitz Neugieriger Fisch Eine Seele wie ein Bilderrätsel. Da taucht ein neugieriger Fisch zwischen Mond und Sonne auf. Die Sonne des Erfolges leuchtet über dem Meer der Stürme. Und der Mond, das Gestirn der Künstler, ist trotz des Ruhmes eigentlich erst richtig aufgegangen und noch gewaltig im Zunehmen. »Da kann ich ja beruhigt wieder untertauchen in meine geliebte Dämmerwelt der Philosophie«, scheint der Fisch zu denken. Die Seele dieses berühmten Schauspielers ist außer­ dem rund und nahtlos, wie jene kleinen Zierfischgläser, welche einst in den Kaiser-Wilhelm-Salonen herumstanden. Deshalb ist sie leider wohl auch sehr gefährdet und zerbrech152

lieh. Stoßt darum nie an dieses gläserne Gehäuse hin, Freunde! Das wäre sehr traurig. Denn es ist immer sehr still, wenn die Goldfische sterben, sagt der Dichter. Oder die hohen Einschaltquoten des »Alten« der Vergangenheit ange­ hören würden.

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F.J. Strauß Geflügelt wie ein Starfighter

So also wird die Seele des Franz Josef Strauß einst vor den Toren des Paradieses stehen: mit unschuldsvollem Augenauf­ schlag, den Blick nach oben gerichtet zum himmlischen Fraktionschef. Und schon zum großen Halleluja ansetzend: »Hier steht dein treuer Diener Franz.« Geflügelt wie ein Starfighter, nur nicht so stromlinienförmig, dafür aber garan­ tiert absturzsicher. Brav zeigt er seine leeren Hände vor, wie einst Kalanag vor jedem Trick. »Nichts im Ärmel, nichts in der Tasche, kein doppelter Boden.« Die Füße stecken in biederen Filzpantof154

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fein, denn als christlich-demokratischer Politiker mit einem heißen Draht zum Jenseits weiß er ganz genau, daß man nicht nach guter bayerischen Manier laut polternd ins Paradies eindringt mit Knobelbechern und Nagelschuhen, sondern sich auf leisen Sohlen einschleichen muß, unbemerkt, auf Taubenfüßen. Ein kleiner Heiligenschein ist auch schon gewachsen, das geht übrigens automatisch bei seiner jahr­ zehntelangen Zugehörigkeit zur CSU. Bleibt nur noch die Frage: Was verbirgt er wohl unter seinem unschuldigen weißen Engelshemd? Angesichts des Herrgotts und geblen­ det von seiner Herrlichkeit wird er’s vielleicht einmal schüt­ zend vors Gesicht halten. Und dann weiß die Welt einmal wirklich, was darunter steckte. 155

Manfred Schreiber Er ist immer bereit, das Böse zu harpunieren

Eine aggressive Seele, wenn man sie vertikal betrachtet. Eine Art Senkrechtstarter. Oder ein Schaschlikspieß mit Widerha­ ken. Jederzeit bereit, das Böse zu harpunieren. Vielleicht aber auch nur ein stilisierter Schutzmannsäbel, von Picasso ent­ worfen. Dieses superschlanke Jenseitsmöbel erlaubt viele Deutun­ gen. In horizontaler Lage könnte es sich vielleicht um das Röntgenbild eines Berufsbeamten handeln. Auch als das Haar in jener Gefängnissuppe, die Münchens Polizeipräsi­ dent manchem Spitzbuben schon eingebrockt hat, ließe sich das Fragment auslegen. Wer aber hat je schon einmal wirklich das Abgründige in einem Kriminalisten ergründet. Vielleicht soll diese Gebrauchsgraphik lediglich ein Wegweiser ins Jenseits sein. Mit der unsichtbaren Aufschrift: »Von Mün­ chen bis zur Ewigkeit ist gar nicht weit, um neun Uhr ging der Manfred fort, um zehn Uhr war er dort.« 156

Karel Gott Schlagersänger und östlicher Frankie-Boy

Sieben Fabelwesen des Erfolgs erklimmen den steilen Berg des Ruhms und wissen noch nicht, daß sie eines Tages stürzen werden ins Dunkel des großen Vergessens. Im Gleichschritt eines gemafreien Zweivierteltaktes marschieren sie, dicht hintereinander, den ungebrochenen Optimismus im naiven Blick. Mit ihren spitzen Schnauzen graben sie nach dem Geld und Glück dieser Welt. Das achte aber, Karels Einsiedler-Seele, distanziert sich von der Herde, igelt sich ein und schließt die Höhle hinter sich. Kein Manager kann ihn da erreichen, kein Fan und 157

kein Vertrag, kein Telefon und kein Termin. Und so winzig klein ist die Klause, daß er nur für sich darin Platz hat. Das scheint sein Traum zu sein von der Ewigen Seligkeit: Allein sein und fern von Reihenhaus, Schwiegermutter und Park­ platznot.

Lale Andersen Weltbekannte Laternenschönheit Im Herzen lauter Blumen und den Kopf voll süßem Unsinn. Eine lindgrüne Frühlingsseele voll Grazie, Unbekümmert­ heit und Poesie. Blüten, wo bei anderen der Katarrh sitzt, die Mao-Grippe und das Manager-Leiden. Und wo die Jahresbi­ lanz geprüft werden sollte und die letzte Gegenabrechnung. Lauter große Fragezeichen. Eine unheilbare Romantikerin mit dem großen Talent zum Glücklichsein, die sicher keine Angst zu haben brauchte, als es da oben in den himmlischen Vorgärten hieß: 158

»Wenn sich die letzten Nebel dreh’n, dann werden wir die Seele seh’n von der Lily Marleen.«

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. . und neun zeigen ihre Blätter Die Idee des »Baumtests« ist uralt. Schon in den Tagen des Sokrates hat man die Jünglinge beim Eintritt ins Gymnasium Bäume in den Sand malen lassen, um so ihren Charakter zu erkennen. Napoleon, dem eine geradezu geniale Begabung dafür nachgesagt wird, daß er den richtigen Mann an den richtigen Platz zu stellen wußte, prüfte seine Offiziere durch den Baumtest. Noch kurz vor der Schlacht von Austerlitz, die ihm einen glänzenden Sieg eintrug, soll er diese Methode praktiziert haben. Auch Katharina die Große, bekannt für ihre extravaganten Ideen, hat auf ähnliche Weise ihre Favori­ ten ausgewählt. Man erzählt sich, daß sie erst dann einem Mann ihre Gunst schenkte, wenn sie einen gezeichneten Baum von ihm gesehen hatte. Die moderne Psychologie hat sich in neuerer Zeit der wissenschaftlichen Auswertung des Baumtests angenommen. Aus vierzehn Bänden verschiedener Autoren, die es allein in der Bayerischen Staatsbibliothek gibt, kann man erfahren, was jedes Symptom und Detail einer Baumzeichnung be­ deutet. Hier wollen wir den Test natürlich vereinfachen und ganz unernst betrachten, sozusagen als psychologisches Gesell­ schaftsspiel. Die Journalistin Gisela Bree und ich haben einige Prominente gebeten, uns ein Bäumchen zu zeichnen. Nun wollen wir versuchen, ihnen auf die kleinen Schwächen zu kommen, die sich hinter Baumstämmen, Asten und Blättern verbergen.

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Luise Ullrich, Schauspielerin Ein fester, dunkler Stamm trägt eine hohe, ausgeglichene Krone. Ein gescheiter, vernunftbegabter Mensch mit Herz. Hier ergänzen sich Verstand und Gefühl und halten sich in erstaunlichem Gleichgewicht. Eine Frau mit der glückhaften Begabung zur Harmonie. Aber auch ein bißchen süße Trau­ rigkeit ist darin, die leise Melancholie der Wissenden.

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Franz Beckenbauer, Fußballstar Klar und gradlinig wie der Stamm des Baumes ist der Charakter des Zeichners. Ein fairer Spieler - nicht nur auf dem Rasen. Dieses Beispiel zeigt, daß der liebe Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß einem Menschen den Verstand auch in die Waden verlegen kann. Aus dem Franzi sollte ja auch kein Philosophieprofessor werden, sondern einer der besten Fußballer der Welt. Und was das Honorar angeht, da übertrifft es das eines Rektors der Harvard-Universität ganz gewiß um ein Vielfaches. Bilanz: Dem einen gibt’s der Herr im Schlaf, dem andern in die Beine.

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Siegfried Lowitz, Schauspieler Der Spalierbaum ist ein gezüchtetes Gewächs und verrät große Selbstdisziplin wie ausgeprägte Begabung für Systema­ tik. Daher Vorliebe für Philosophie und symmetrische Schlipse. Die Blätter, der Schmuck des Baumes, zeigen Geschmack und Phantasie, hervorragende Darstellungsgabe sowie starke Neigungen zum Schönen, Wahren, Jungen. Der vergitterte Topf läßt vermuten, daß der Zeichner das ihm Gehörige oder das, was er noch nicht hat, am liebsten sicher hinter Gittern verschließen würde, gewiß ein Trauma aus seiner Kriminalinspektorszeit.

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Franz Josef Strauß, Politiker Die atompilzähnliche Energiepalme kann so gefährlich wer­ den wie eine Kobaltbombe. Hier ist alles ausgefüllt, kompri­ miert, geballte Kraft. Da ist keine Verästelung, Verzweigung, Zerstreuung. Besonders die aggressive Spitze am Stamm (nach rechts!) beweist, daß es für ihn das Wort »unmöglich« nicht gibt - höchstens als Druckfehler.

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Erika Köth, Kammersängerin Zart und feinnervig wie diese Birke ist ihre Zeichnerin selbst, ein höchst sensibler, empfindsamer, musischer und harmoni­ scher Mensch. Das ist ganz sicher das Märchenbäumchen vom Aschenbrödel, das mit dem Zauberspruch beschworen wird: »Bäumchen, Bäumchen, rüttle dich, wirf Gold und Silber über mich«. Hier hat es die gute Fee wirklich getan. Irgend jemand da oben muß die Erika Köth wohl mögen.

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Dr. Hans-Jochen Vogel, Politiker Die große, ausladende Krone beweist geistige Neigungen, Intellektualität und Begeisterungsfähigkeit. Das deutliche Überwiegen der rechten Hälfte - also der aktiven, handeln­ den Seite - zeigt den nicht zu hemmenden Tätigkeitsdrang des Zeichners und seinen klaren Weitblick (nicht nur an Föhnta­ gen). Daß sich der linke Teil des Baumes durchaus in Grenzen hält, läßt erkennen, daß sein Engagement an die Linke das bürgerliche Maß nicht überschreitet. Fazit: ein Revolutionär im Dinnerjackett.

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Gert Fröbe, Schauspieler Das ist eine typisch männliche Zeichnung. Ein pinienähnli­ cher Baum, der Schatten spendet, Schutz und Geborgenheit. In seiner Nähe hat man das Gefühl der Sicherheit. Das Laub wird in drei Kronen aufgeteilt, eine eigenwillige, intelligente und künstlerisch gestaltete Lösung, die große schauspieleri­ sche Fähigkeiten ausdrückt und Orginalität in der Art der Darstellung. Analyse: ein Komödiant, wie er im (Dreh)Buche steht.

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Marianne Koch, Schauspielerin Das ist der Apfelbaum aus dem Bilderbuch, spielerisch, voll Anmut und bezaubernder Naivität. Wer Früchte zeichnet, ist, nach dem bekannten Baumtest des Psychologen Karl Koch, ein Erfolgsmensch, einer, der es versteht die Früchte zu ernten. Der Stamm ist auf der linken Seite deutlich schraffiert; links, wo das Herz ist. Und da ist auch Wärme und Gefühl. Die graziöse, gemütvolle Zeichnung einer ech­ ten Eva, die Apfel malt und großes Talent zum Glück hat.

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Max Schmeling, Boxer Er entscheidet sich für einen Tannenbaum, das Symbol des Aufrechten. Und tatsächlich ist ja die Vertikale für einen Boxer die einzige Lebenshaltung. Eine Zeichnung mit waag­ rechter Tendenz wäre ganz undenkbar. Auch der betonte, druckstarke Stamm deutet auf Kraft und Standfestigkeit in Stürmen und Herausforderungen. Außerdem ist die Tanne der höchste unter den Bäumen, was sicher in Zusammenhang mit der alten Boxerweisheit steht: je größer die Gegner, desto wuchtiger fallen sie um.

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. . . und immer noch geht Blasius durch die Stadt

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Den Schnabel auf Der erste, der angetrippelt kommt, ist so verwittert, so mager und V •/ Nfv schnabelnasig wie der Kirchturm..-ls gockel einer ganz armen Landgemeinde. Und wenn er redet, kräht er auch noch. Sie nennen ihn überall nur den »Finessen-Sepperl«. Nach einem vergessenen Münchner Original aus dem vorigen Jahrhundert. Überall ist der kleine Kerl von seinem langen Leben schon angebissen worden. Wie von den Motten. Aber trotzdem ist er überaus lustig. Blasius hätte ihm aber statt des Zuckerstückchens viel lieber ein paar Naphthalin-Kugeln zum Schlucken gegeben. Nachdem er seine Schluckimpfung bekommen hat, nimmt er brav seinen porösen Zwerg-Nase-Hut ab und will der lächelnden Schwester einen tiefen Handkuß dafür geben. Er zielt aber daneben und hätte die junge Polio-Schönheit mit seinem witzigen Zinken beinahe ins Knie gehackt. Der Spaziergänger hat es hoffentlich nicht allein vernom­ men, daß in diesen Wochen in vielen bayerischen Turnsälen, Kindergärten und Gemeinschaftsräumen wieder einmal »der Tag des offenen Mundes« stattfindet. »Reißt den Schnabel auf«, lautet die Parole, der nach Möglichkeit und Vernunft alle zehn Jahre nachgekommen werden sollte. Allerdings, Personen über vierzig Lenze brauchen sich den segensreichen Löffel nicht mehr unbedingt in die Speiseröhre hinunter­ jubeln zu lassen. Denn nach Meinung der Weißkittel können sie nicht mehr von der Kinderlähmung befallen werden, sondern höchstens noch von der Gicht oder einem bösen Weibsbild. Deshalb sieht Blasius in dem alten Schwabinger Haus auch meistens nur die sieben Zwerglein, winzige Klabautermänner 172

und kichernde Saunägel antrippeln. Manche von ihnen haben ihre zartrosa Ansaugdüsen auch schon an der Eingangstüre weit geöffnet wie die Strahlenturbinen von Kinderspielzeu­ gen. Und immer wieder reißen auch die begleitenden Erwachsenen vor Aufregung ihre »Brotschubladen« auf und schnappen hörbar nach der Gratisgabe wie ein Dackel nach einer Stubenfliege. Ein entschlossen aussehender Fünfziger, der seinen Stammhalter wohl in Vertretung der Mama bringt, die vielleicht gerade im Waschsalon ist, versucht verzweifelt, sich etwas Passendes als Trost einfallen zu lassen. Da ihm aber kein geeigneter Gedanke kommt, singt er seinem erstaunt blickenden Spargel einfach den »Guten Kameraden« vor. Alle drei Strophen. Eine nudeldicke Wichtelmadam läßt sich von der geduldi­ gen Assistentin aber keineswegs den Löffel führen, sondern sie gibt das blitzende Suppenruder dem lieben Mütterlein und sagt dazu im hohen G’schaftlhuber-Tenor: »Gell, Mama, von flemden Tanten dalf man nix annehmen.« Eine andere Prin­ zessin auf der Erbse wiederum besteht darauf, daß auch ihr »Snauzel« eine Portion von dem geheimnisvollen Verhü­ tungsmittel abkriegt. Als nun der Spaziergänger alle diese kleinen Idylle so beobachtet, muß er auf einmal denken, was doch der Mensch in seinem Leben sonst noch alles zu schlucken bekommt. Und daß er dabei das meiste einfach still in sich hineinwürgen muß. Trambahnverspätungen beispiels­ weise, mittelprächtige Gemeinheiten und dunkelrote Magen­ schläuche genauso sachlich wie Beleidigungen und Band­ nudeln, Weinkrämpfe oder glitschige Weinbergschnecken. Und hoffentlich wird es der Wissenschaft auch bald einmal gelingen, Pülverchen gegen Heimweh oder Joseph Beuys ebenso herzustellen wie gegen Schwiegermütter und Schwarzmeer-Konflikte. Aber gegen die Dummheit wird es wahrscheinlich niemals entsprechende Kügelchen geben. Denn wie sagt schon der 173

Berliner so schön: »Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen.« Und Blasius möchte dazu auch noch bemerken, wenn schon, dann müßten solche Tabletten mindestens so groß sein wie ein Emmentaler-Käselaib, wenn sie überhaupt helfen sollten. Dann sieht der Spaziergänger im Geiste noch einmal die einst so gefürchtete Impferei in der Schule und beim Barras. Und auch seinen eisenharten Spezi Gaggi, der einen Zimmer­ mannsnagel mit den Zähnen biegen und einem Dutzend Maikäfer die Köpfe abbeißen konnte. Als er aber dem Schularzt mit seiner vernickelten Pockenlanze die stattlichen Oberarme hinhalten mußte, wurde er bleich wie ein abge­ schältes Ei und fiel dem bereitstehenden Turnlehrer stumm und steif wie ein Bügelbrett an die Brust. Auch bei den späteren Impfungen verstand es der Gaggi immer wieder, dieser Brandmarkung, die nur bei den Germa­ nen als Zeichen eines Schlachtstempels so weithin sichtbar angebracht werden konnte, zu entgehen. Und als ihm gar ein Tropentauglichkeits-Serum verpaßt werden sollte, besorgte er sich ein kleines Jodflascheri, markierte damit die fragliche Stelle selber und stellte sich mit schmerzhafter Miene in die Reihe der Abgefertigten. Die dann alle als Zeichen ihrer Bravheit in der gestochenen Brust eine Schwellung bekamen, nicht ganz so groß wie jene der Sophia Loren. Dafür aber leider ohne jeden Reiz. Den Juckreiz natürlich ausge­ nommen. Nun, beim Gaggi wäre die ganze Impferei ja sowieso ohne jede Bedeutung gewesen. Denn sein Schicksal war nicht der Typhus. Sondern der Kaukasus. Und gegen die bleischweren Bazillen aus einer russischen MP hat es bisher leider noch immer kein medizinisches Vorbeugungsmittel gegeben.

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Um den kalten Brei herum Das erste Eis, das Blasius kennenir ¿xA// lernte, war ein sogenanntes Konfektionseis. Weil es nämlich »von der Stange« kam. Von jener Stange, welehe der schweigsame Bierfahrer mit seinem spitzen Stachel aus dem weißgestrichenen Pferdewagen herausholte, der die Vor­ stadtwirtschaften mit dem im Winter aus den nahen Seen heraus gesägten Natureis-Balken versorgte. Und weil beim Harpunieren mancher spröde Splitter abfiel, schob der Mann diesselben lachend in die weit aufgerissenen Karpfen-Mäul­ chen der wartenden Gassenkinder. Und die massierten damit im schnellen Auf und Ab ihre unschuldigen Speiseröhren. Und so war das erste Gelati des Spaziergängers eben scharf­ kantig und schmeckte nach eingeschlafenen Füßen. Aber es kostete halt null. Später durften die größeren Buben dann bei der guten Standlfrau Walburga Wambach auch manchmal die hölzerne Eis-Retorte drehen, in der sie aus selbstgebrockten Himbee­ ren und Taubeeren ihr köstliches Mus bereitete. Als ausrei­ chende Belohnung galt es, wenn dann der fleißige »Hilfsmo­ tor« den Eiskübel ausschlecken durfte, wobei der Kopf des Glückseligen bis zu den Ohren im kühlen Lust-Mörser verschwand. Freilich, der Herr Bezirksinspektor hielt von dieser Art des Geschirrspülens nicht sehr viel. Wahrscheinlich aber nur deshalb, weil er mit seinem abstehenden Eichkatzl-Schnurrbart sowieso nie in die Herstellungs-Röhre hineingekommen wäre. Nach dem Genuß der Wambach-Labe aber zeigten sich anschließend die Kinder ihre gefärbten Zungen, die dann stark an jene der Chow-Chow-Hunde erinnerten oder an die 175

kleinen lila Federlapperl, die damals den Abc-Schützen noch fröhlich von ihren Schulranzen flatterten. In diesen Jahren hatte sich auch ein Mann namens Häbrätschinek oder so ähnlich dem Erfrischungs-Gewerbe zuge­ wandt. Und er verkaufte für ein Fünferl sonntagnachmittags an der Schinderbrücke ein seltsames Eigenfabrikat. Das bestand nämlich lediglich aus zerstoßenem Natur-Eis. Und dieses grießige Produkt war mit einem giftigen Alisi-Grün oder einem entzündeten Hunderachen-Rosa eingefärbt. Die chemischen Essenzen aber, welche diesem Gaumen-Schreck beigemischt wurden, waren so gemeingefährlich, daß bei älteren Herrschaften, welche dem ambulanten AmateurKonditor aus Mitleid was abkauften, die Plomben ihrer Krankenkassen-Zähne sofort zu rosten begannen. Damals verabreichten die Händler das gelbe oder rote Gefrorene noch zwischen zwei dünnen Waffelblättchen oder in kleinen eßbaren Schifferin. Bis viel später erst das »Gezwickte« aufkam, wobei mit einer vernickelten Beiß­ zange kleine halbrunde Globusse hergestellt wurden. Nimmermehr vergessen aber wird Blasius das winzige EisCafe an der großen Isar-Brücke. Denn dort bediente an heißen Tagen die ebenso heiße Ramona, die irgendwo aus der Karibik stammte. Sie war eine ganz besonders »Raachige«, wie die Leute sagten, und hatte Beine wie ein Reh. Doch nicht so schlank, sondern nur so haarig. Wenn sie den jungen, aber harmlosen Vorstadt-Strizzis ihr »Kleines« servierte, dann grinste die ganze Bande lüstern. Denn die Ramona trug nur ein hauchdünnes »Fähnchen«. Und bei Gegenlicht konnte man bei ihr ganz genau das »Bermuda-Dreieck« sehen. Bis einmal der »mürrische Lenz«, ihr Herr Bräutigam, den Grund dieser Grinserei herauskriegte. DasagteerzudenerotischenNassauern nur gelassen: »Wenn’s ihr mein Fräulein Braut no amoi >durchschautsBegräbnisse