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German Pages 275 [280] Year 1903
Gesundheit und Erziehung Einr Vorschule der Ehr von
Georg Sticker Prof. Dr. mrd.
Ich weiß wohl, daß man euch
beflogen, euch trösten, euch auf» richten muß; aber vor Allem muß
man die Wahrheit sagen.
Fönelon.
Zweite vermehrte Auflage
Gießen Z. Nicker'sche Verlagsbuchhandtung (Alfred Cöyehnann) 1909.
Drmk vo« r. «. Röder in LetpAtg.
üirwort M Mette« Auflage. ES gereicht mir zur Freud«, mein Büchlein, welches zuerst im Jahre 1900 erschienen ist, bereits nach zwei Jahren zum zweitenmal in die Öffentlichkeit senden zu dürfen.
Auf seinem ersten Wege sind ihm zahlreiche freundliche Zustimmungen und Danksagungen zuteil geworden.
Sogar hat
Dieser und Jener ihm heimlich Sätze und Anregungen abge
nommen, um sich öffentlich damit zu schmücken.
Ich hoffe,
daß, nachdem Einiges an ihm verbeffert, Mehreres hinzugesetzt
ist, es auch auf seinem zweiten Gang wohlwollenden Menschen
lieb werde. ES hat die Absicht, jungen Leuten, die aus dem Eltern haus und der Schule in das freiere Leben treten, ärztliche Aufklärung über Dinge zu geben, auf welche viele von ihnen mit Unruhe oder mit Leichtsinn sehen, je nachdem ihre Er
zieher beim Abschied davon zu sprechen sich scheuten oder vor
her den unreifen Jüngling unvorsichtig daran teilnehmen ließen. Steffen Erziehung abgeschlossen werden soll, der muß in jene Dinge klar und täuschung-los eingeweiht werden. Sie sind
ernst.
In ihnen liegt die Strenge deS Lebens, das auch ernst
und viel ernster ist, alS die Jugend ahnt. Möge sie jene Dinge ernst behandeln lernen, damit sie im übrigen auf ihr goldenes Recht, da- Leben heiter zu nehmen, nicht zu verzichten braucht.
Gießen, im August 1902.
Einführung. Wir kranken an vermeidbaren Übeln.
Was Rousseau für die körperliche Erziehung des Men schen gelehrt hat, haben Andere vor ihm und nach ihm gesagt,
Einige besser, die Meisten schlechter, überzeugter und eindring licher Niemand als er.
Selbst den unabhängigsten Geistern,
einem Basedow, einem Kant, einem Pestalozzi, sogar einem Goethe und Jean Paul schien nichts Wesentliches mehr zu sagen übrig, nachdem Rousseau gesprochen hattet*). Geringere
Geister zeigen, auch wenn sie sich frei geberden, ihre Ab
hängigkeit von dem Gesetzgeber aller zukünftigen Erzieher deut lich, am auffallendsten da, wo sie die kleinen Irrtümer und
Sonderbarkeiten des Meisters ausbilden und übertreiben; von denen nicht zu reden, die in maßloser Nüchternheit einfache
Auszüge aus Emils Erziehungsgang oder Auszüge aus Aus
zügen für ein eigenes Werk halten. ♦) Die Zahlen beziehen sich auf Anmerkungen am Schlüsse deBuches. Sticker, Gesundheit u. Erziehung.
L Aust.
1
Wer einmal das Naturgemäße entdeckt hat, kann nicht mehr übertroffen werden; jeder Versuch, seinen Gesetzen aus
zuweichen und besondere zu machen, erscheint nach ihm eitel.
Die Wahrheit selbst huldigt ihm. —
Rousseau kümmert sich, wie sein Vorgänger Locke2), nur um die Erziehung des Gesundgeborenen; den kränklichen und schwächlichen Zögling weist er ab.
Der Erzieher sei kein
Krankenwärter und dürfe seine Zeit nicht verlieren, ein un
nützes Leben zu pflegen. Diese Worte erscheinen härter als sic sein sollen. Rousseau selbst spricht es aus, daß abgesehen von jeder Leistung für die Gesellschaft der Einzelne der Menschlichkeit dadurch allein
schon nützt, daß er überhaupt auf der Welt ist.
Und den
scheinbaren Widerspruch begeht er absichtlich, um die in der
Ausführung unerschöpfliche Aufgabe der Erziehung für eine grundsätzliche Erörterung zu vereinfachen.
Ein Vater, sagt er, hat keine Wahl und darf keines seiner Kinder, die ihm Gott schenkt, auf Kosten der anderen bevor zugen.
Ob sie verkrüppelt sind oder nicht, ob sie siech sind
oder kräftig, jedes ist ein anvertrautes Pfand.
Aber der Er
zieher, der sich seinen Zögling wählt, wird natürlich nur das Kind übernehmen, welches durch seine körperlichen Anlagen
eine gesunde Entwickelung des Geistes und der Sittlichkeit verspricht. Kränkliche und verkrüppelte Wesen geben diese Gewähr
nicht.
Für sie gilt nicht einmal immer oder auch nur häufig
das Wort Senecas, welches Rousseau seinem Erziehungswerk
vorsetzt: daß wir an heilbaren Übeln kranken. Nur im gesunden Körper webt eine kraftvolle Seele.
Ein siecher Leib schwächt auch den Geist. —
Die Frage, was die Eltern tun können,
um gesunde
Kinder zu erhalten, liegt dem Zwecke Rousseaus ferne.
Emils
Nachkommen können nicht anders als gesund zur Welt kommen. Über die Ursachen und damit über die Verhütung der angeborenen Schwächlichkeit und Kränklichkeit des Leibes und des Geistes weiß Rousseau und wissen, so viel ich sehe, alle
Nachfolger auf seinem Gebiet ebensowenig wie seine Vorgänger. Sie nehmen die neugeborenen Kinder, je nachdem sie sind,
als ein gutes oder ein schlechtes Geschenk der launischen Natur
und betrachten ihre unerfreulichen wie ihre erfreulichen Eigen schaften als notwendige Ergebnisse endloser Anstrengungen der
Natur, stets Anderes und Neues hervorzubringen; oder sie er klären, als Umkehrer der Darwinschen Entwickelungslehre, die
angeborenen Mängel für Zeichen natürlicher Entartung: die Familien sollen wie die Einzelnen eine bestimmte Lebensdauer
haben und nur noch lebensschwache Triebe hervorbringen können, wenn mit zunehmendem Alter die vom Stammhalter über
erbte Kraft zu verlöschen beginnt.
Die meisten fragen über
haupt nicht nach natürlichen Ursachen der Erscheinungen, son dern begnügen sich damit, ihren sittlichen Grund zu suchen; sie
1»
sehen im Kranken und Schlechten des Kindes die Erbsünde des
Urzeugers oder im ganzen neugeborenen Leben die Schuld eine
früheren Daseins, die von Mutterschoß zu Mutterschoß fliehen muß, bis sie endlich in höchster Entsagung erlöschen bars3).
In der Zuversicht, daß unser übersinnliches Wesen und unser natürliches Dasein im innigsten, wenn auch für uns unbegreiflichen Zusammenhang stehen und daß, wer die Ge
setze des einen redlich sucht, nicht fürchten muß, mit denen des andern in unauflöslichen Widerspruch zu geraten, kümmere ich mich in meinem Buch zunächst um die sittlichen Ursachen
der angeborenen Übel nicht, sondern suche die natürlichen, um zu sehen, ob begründet die nimmerruhende Hoffnung des Menschengeschlechtes sei, sich aus dem Jrrsal leiblichen und sittlichen und geistigen Elendes kraft der Naturgesetze schon
im Diesseits herauszufinden, oder ob sie für dieses Leben entsagen und sich einzig auf ein Jenseits heften müsse, in
welchem die christtiche Religion einem Jeden, der zur Kind schaft Gottes gelangt ist, Erlösung und Vollkommenheit ver spricht. —
Für die Förderung schwächlicher und kränklicher Kinder
haben in neuerer Zeit Ärzte den Eltem und Lehrern wert
volle Raffchläge gegeben.
Aber die Frage, was die Eltem
tun können, um keine kranken Kinder zu bekommen, werfen auch sie nicht auf oder beantworten sie mit der empörenden Forderung, nur gesunde Eltem dürfen Kinder zeugen.
Hufe-
land betont den Wert einer guten Gcburtsstunde für ein langes
und gesundes Leben; Hartmann spricht in seiner „Glückseligkeitslehrc
für das Physische Leben des Menschen" von der
Vererbung der Krankheitsanlagen. unserer ersten Stunde
zu
Aber wie die neidische Fee
versöhnen, wie der bösen Ver
erbung zu begegnen sei, das wollen wir wissen.
Brücke be
antwortet mit großer Umsicht die Fragen: „Wie behütet man
das Leben und die Gesundheit seiner Kinder?"') sage uns doch
Aber so
auch, wenn du kannst, wie verhütet man
Schwäche und Kränllichkeit der zukünftigen Kinder? Wissen wir nichts von den natürlichen Ursachen des an geborenen Elends? Entziehen sich diese unserer Gegenwirkung?
Ist es wahr, was in Entsagung der Dichter sagt? „Wir können die Kinder nach unserm Sinne nicht
formen.
„So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben". Müssen wirklich die Mütter in Demut mit Rousseaus Julie sprechen?
„Ich bin nur die Magd des Gärtners, ich jäte den
Garten und
rotte das Unkraut aus.
muß er selbst pflegen"").
Die guten Pflanzen
Gibt Gott und seine Natur den
Eltern die Kinder mit allen Fehlern und Schwächen wirllich
ohne ihr eigenes Zutun erbarmungslos nach unerforschlichem
unabänderlichem Ratschluß oder gar in spielender gedanken loser Laune?')
Nimmer.
Was mein Buch mit Sicherheit zeigen wird,
ist dieses: Es hängt von den Eltern ab, ob ihre Kinder gesnnd und schön und weise und gut, ob sie Blüten der Menschheit
oder ihr Abschaum sein werden. Der Mensch hat die Kinder,
welche er haben kann; er erzeugt sich die Nachkommenschaft, welche er verdient. Doch nein. Das wäre zu viel gesagt; er hat stets bessere
Nachkommen als er verdient.
Die Menschheit wäre längst
nicht mehr, wenn ihre rastlose Selbstzerstörung den ganzen
Erfolg hätte, wenn nicht eine Heilkraft in ihr wirkte, die immer aufs Neue ihren Baum erstehen und grünen und blühen machte. Mag dieser Baum zu stinkendem Moder zerfließen,
aus dem letzten Rest der kleinsten Wurzel erhebt sich not
wendig und herrlich ein neuer Stamm, an dem Jahrtausende vergeblich ihre zerstörende Macht üben.
Das ist die Sorge
der Natur ohne das Zutun deS Menschen.
Was glaubt ihr aber, daß aus der Menschheit würde,
wenn sie ihr uraltes Werk der Selbstzerstörung einmal auf gäbe; wenn sie die Mittel und Wege der alles verjüngenden
Natur erkännte und ihnen mit Treue folgte; wenn sie den Mut hätte, gesund zu werden und gesund zu bleiben; wenn sie den Willen fände, ebenso alle Einflüsterungen von ihrer unverbesserlichen Jämmerlichkeit wie die Hoffart ihrer sieg
reichen Entwicklung zu einer zukünftigen Gottgleichheit als betrügerisch abzuweisen und ihr Heil einzig in entschlossenem
Gehorsam gegen die deuüichen Vorschriften der Natur suchte? Was glaubt ihr, daß dann au- der Menschheit würde? Zwei Geschlechter einsichtiger willensstarker, frei der Natur
gehorchender Menschen: und die Menschheit ist gerettet aus dem wüsten Traum von Elend intb Schwäche, Dummheit und Bosheit, in welchem sie ohne Aussicht auf Erlösung herumirrt.
Bricht der große Tag endlich an? Wir dürfen eS leise hoffen, nachdem bei vielen Menschen ein ehrfürchtiges Fragen und Forschen nach dem Willen der
Natur an die Stelle kecker Weisheit aus innerer Anschauung und verzückter Offenbarung getreten ist. —
Der größte Irrtum, den wir Rouffeau in der Empfeh lung seiner Erziehungsweise vorwcrfen können, ist wohl dieser, daß er voraussetzt, man
würde in der ganzen Welt einen
zwetten Mann von der frühen Einsicht und Sittlichkeit des Erziehers seines Emil finden und diesen bereit, der Erziehung
eine-
anderen
Menschen
sein Leben
ungeteilt zu widmen.
Vielleicht kann der Arzt keinen größeren Irrtum begehen, als
sich einzubilden, irgendwo in der Welt fände sich ein einziges Elternpaar, das schon vor der Ehe die Weisheit besitzt, welche
dazu gehört, sich gesunder Nachkommen würdig zu erhalten, und das auch in der Ehe selbst unermüdet dieses Ziel vor Augen hat.
Der Wunsch mag bei Bielen sein; selbst die Ein
sicht haben Einige.
Aber der Wille ist schwach.
Wir erheben uns hundertmal am Tage und fallen immer
wieder.
Der glühende Freund der Kinder, der ernste Erzieher
einer besseren Menschheit, Basedow, verkündet die Mäßigkeit als eine Angelegenheit der Gesundheitspflege und der Religion und widerrät überzeugt und eindringlich die geistigen Getränke und den Tabak als rastlose ZerstSrer der leiblichen und sitt
lichen Gesundheit.
Gleichwohl pflegte er, wie uns Goethe
erzählt, ununterbrochen schlechten Tabak zu rauchen und blieb
bis zum Lebensende ein starker Trinker, der behauptete, die Konklusion „Ergo bibamus“ passe zu allen Prämissen').
Niemand kennt die Widersprüche, den Wankelmut, die sittliche Schwäche und Feigheit der Menschen besser als der Arzt.
Niemand erfährt sicherer, daß Predigen dawider wenig
oder gar nichts Hilst.
Soll er darum zusehen und schweigen,
wenn er die Menschen blind findet gegenüber den Ursachen chrer Gebrechen und Laster? —
Ja, wofern er etwa pre
digen will.
Wenn er aber belehren kann, wenn er die Wurzeln eines
Übels erkannt zu haben glaubt, so muß er reden, selbst auf
die Gefahr hin, erschreckende Wahrheiten zu sagen.
Nur wo
Einsicht ist, beginnt die bleibende Besserung. Gesundheit ist eine Tugend, die jeden Augenblick mit
aller Willensanstrengung erkauft werden muß.
Vollendete
Tugend ist nur da, wo vollendete Einsicht besteht.
Die Heilkunde stellt wie die Religion an den Menschen die höchsten Anforderungen, damit sich zunächst wenigstens der
Wille Einzelner dem nähere, was die Meisten nicht erreichen. Sind aber einmal Wenige von den angeborenen Übeln der Menschheit erlöst und zu ihrer eingeborenen Vortrefflichkeit
gelangt, nicht durch Zufall, sondern weil die Erzeuger den Weg gesehen und das Ziel innig begehrt haben, dann werden immer Mehrere nachfolgen.
Und was die Menschheit in
natürlichen Dingen erkennt und will, das wird ihr in der
Fülle der Zeiten mit Naturnotwendigkeit zuteil.
1.
Wir bekennen und zu dem Geschlecht, bad and dem Dunkeln ind Helle strebt.
Goethe.
Es sollte Niemand über Erziehung reden, der nicht selbst Kinder geboren und erzogen hat!
Die Worte hat eine kummervolle Mutter ausgesprochen, als ein ungerufencr Ratgeber ihr die Früchte ihrer Erziehung vorhielt.
Wenn von dieser gerechten Verwahrung Jemand
sich ausnehmen darf, so ist es der Arzt, der jahrelang mit vielen Eltern die Sorgen und Rätsel der Kinderentwicklung
geteilt und den Gründen des Familienelendcs nachgedacht hat. Ihm wird es sogar zur Pflicht, wichtige Punkte der Kinder
pflege öffentlich zur Sprache zu bringen, die im Verkehr mit den einzelnen Familien aus verschiedenen Gründen unberührt
bleiben müssen.
Im Zwiegespräch mit der bckümniertcn Mutter oder dem verstimmten Vater hemmen ihn enge Schranken mitleidiger Verschwiegenheit, welche er nicht verlassen kann, ohne zu den
vorhandenen Sorgen der Eltern traurige Selbstvorwürfe zu
erregen und ohne neuen Kummer und Ratlosigkeit anstatt
der erbetenen Hilfe und des erhofften Trostes zu bringen.
Wie ost nennt er, nach den Ursachen der Leiden, der Schwächen, der Fehler ihrer Kinder gefragt, den Eltern die nächsten Veranlassungen und verschweigt die tieferen Ursachen,
redet diese sogar den Eltern aus, wenn sie in selbstquälerischer Ahnung darauf deuten. Kann der Arzt,
ohne
sich den Vorwurf entsetzlicher
Roheit zu machen, einer Mutter, die mit bestem Wollen, verleitet vom Rat einer weisheitsvollen Hebamme oder einer
im Geruch der Erfahrung stehenden Freundin oder eines
Zeitungsschreiers eine fehlerhafte Ernährung ihres Lieblings durchgeführt hat, kann er, darf er am Sterbelager des Kindes
sagen, warum das Kind zugrunde geht? Das würde dem Kinde
nichts mehr nützen, die Mutter vielleicht in Wahnsinn führen. Wie oft ist es dem Arzt unmöglich, dem Vater offen und klar darzulegen, warum sein Sohn, den er sich stets als Stolz und Stütze für die Tage des Alters vorgestellt hat, von dem er so oft gedacht und gesagt hat: der Junge soll
besser und tüchtiger werden als sein Vater, — warum der Sohn alle diese Erwartungen enttäuscht, warum sich bei ihm wieder
die Fehler
der Eltern und
neben
den gewohnten
Familienübeln neue zeigen, warum er körperlich siecht, geistig
zurückbleibt, sittlich verdirbt.
Um die Ursachen zu zeigen,
warum so vieles anders geworden ist, als der Vater hoffte,
warum das nicht anders werden konnte, müßte der Arzt er
barmungslos in Vergangenheiten forschen und auf Gescheh nisse deuten, welche längst und oft gerne und auch mit Recht
begraben sind, weil Blick und Mut sich in die Zukunft richten sollen.
Der Arzt kann also den Eltern nicht jedesmal die nackte
und volle Wahrheit über die Gebrechen ihrer Kinder sagen, weil in den meisten Fällen die Einsicht eben zu spät käme
und weil der Verstand
der Eltern selten
kühl und stark
genug ist, unnütz gewordene Regungen des Gemütes zu be
herrschen und ohne den Zusammenbruch ihres ganzen Seins bewußt die furchtbare Verantwortung aller Folgen zu tragen, welche sich mit der Zeugung einer Nachkommenschaft verknüpfen.
Das Vergangene ist unabänderlich. damit quälen ist fruchtlos.
Sich oder Andere
Kaum dann muß der Arzt es
schonungslos aufdecken, wenn er sieht, wie in Leichtsinn oder
Ruchlosigkeit die Wiederholung schon begangener Fehler neues Elend vorbereitet.
Denn auch hier nützen seine Worte selten
etwas; meistens gewinnt er damit statt dankbarer Folgsam keit die alte Erfahrung, daß Aufklärungen und Ratschläge,
die er in der besten Absicht gibt, als Vorwürfe, ja als Be leidigungen aufgefaßt werden.
Wie viele Menschen bedenken
denn, daß der Arzt keine Vorwürfe macht und nicht einmal wünscht,
werden').
daß
Selbstvorwürfe
entstehen
oder
sogar heftig
Bleibt also Mund und Wissen des Arztes verschlossen,
wenn er vor vollendeten Tatsachen steht, so darf er, soll er um so freier reden, wenn sein Wort sich nicht mehr an den
Einzelnen wendet, der geschehenen Schaden zu beklagen hat, sondern zur Menschheit spricht, welche gerne belehrt sein will,
wie Schäden an Leib und Geist ihrer zukünftigen Glieder
verhütet werden können. Wäre die Heilkunst allmächtig, könnte sie
alle Ge
brechen und Leiden beseitigen, könnte sie verlorene Gesundheit
in jedem Falle wiedergeben, dann bedürfte es der Belehrung nicht, wie Schwäche und Krankheit verhütet werden.
Aber
die Grenzen der ärztlichen Kunst sind sehr enge, die Wir kungen ihrer Mittel unvollständig und kurzlebig, und so war
immer und wird immer die höchste Lehre des Arztes bleiben: Verhütet die Krankheiten, erhaltet die Gesundheit!
Über die Bedingungen für die Begründung und Er haltung der Gesundheit besteht unter den Eltern, unter den
gebildeten wie unter den ungebildeten, eine merkwürdige Un kenntnis, welche dem Arzt jedesmal ein trauriges Erstaunen
bereitet, wenn er die Wichtigkeit der Sache im Auge hat, und welche ihn doch auch wieder nicht wundern kann, sobald er bedenkt, daß ja immer noch, wie auf eine heimliche Ver abredung hin, in Familie und Schule dem Heranwachsenden
Menschen die wichtigsten und nächsten Kenntnisse, die Kennt nisse von den Bedingungen des Daseins und der Wohlfahrt
des Einzelnen und der Gesellschaft, vorenthalten, ja zum Teil
im Namen der Sittlichkeit verboten werden, damit er um so
gründlicher die zwölf Stämme Israels und die zwölf Arbeiten des Herkules und die unmögliche Quadratur des Streifes und die angeblichen Gewichte der Fixsterne erlernen könne.
Vom
Leben der gesamten Menschheit, von der Gesellschaft, vom Wesen des Staates, vom eigenen Körper, von den natürlichen Ver richtungen desselben, von der Ehe, von der Kinderpflege, von
allen den Voraussetzungen, unter denen wir entstehen und vergehen, arbeiten
und denken, sittlich sind und dem Ziel
vollendeter Menschheit zustreben, erfährt der junge Mensch nichts.
Das alles soll nicht der Rede würdig und später
sehr selbstverständlich sein.
Besser werden ihm Märchen er
zählt, Hirngespinste eitler Träumer entwirrt und die Spiel zeuge bequemer Müßiggänger zum Erstaunen vorgelegt, da
mit er nur nicht nach dem Leben, wie es ist und was es
fordert, frage und die Erwachsenen in Verlegenheit setze").
Denn wahrlich in Verlegenheit würden wir geraten, wenn das Kind die Dinge lernte, in denen unsere Fehler und Ver irrungen und Frevel liegen; wenn es sähe, wie wir die natürlichen Pflichten verraten und entwürdigen.
Darum tun
wir, als sei es überflüssig, von dem Wichtigsten zu reden, oder lügen gar, es sei unschicklich.
Lieber überlassen wir der stets
regen Neugier des Kindes, aus Ahnungen und aus leicht sinnigen oder frechen Andeutungen seiner Umgebung sich ver-
botene Vorstellungen zu schaffen.
Anstatt ihm zu sagen, daß
die Mutter unter Schmerzen das Kind zur Welt bringt wie
das Huhn sein Ei, daß das Ungeborene sich int Mutterleibe entwickelt wie das Würmchen in der Haselnuß; anstatt ihm
zu sagen, daß die Körperstellen, an welchen Kot und Harn als Auswürflinge unserer Nahrung abgeschieden werden, ebenso
wichtige und notwendige Orte sind, wie der Mund, der die
Nahrung aufnimmt, machen wir alberne Redensarten oder schamlose Lügen oder eine grinsende Miene, wenn das Kind nach den natürlichsten Dingen fragt 8). Den jungen Menschen gewöhnen wir an eine urteillose
Bewunderung oder Verwerfung der verschiedenen Volksschichten
und verwirren damit fortwährend sein gesundes Urteil, das in allen Ständen ebenso Männer, die seine Hochachtung, wie
Leute, die seine Verachtung verdienen, findet.
Anstatt ihm
seinen heiligen Eifer zu erhalten, indem wir ihm offen sagen, du bist berufen, nach deiner eigenen Einsicht Staat und Ge
sellschaft zu verbessern, wenn du dich selbst einmal zum guten
und tüchtigen Manne herangebildet hast, machen wir ihn möglichst früh zum Anhänger unserer vorurteilvollen und
selbstsüchtigen
Genossenschaften
oder
tun,
als
ob Alles
wunderschön und die Zuftiedenheit mit dem Bestehenden die
natürlichste Pflicht und die allgemeine Sümmung sei. So verkehren wir in jeglichen Dingen das Natürliche,
verbergen das Wirkliche und erheucheln den Bestand vorüber-
gehender Meinungen.
Wir nennen dies eine ideale Erziehung
in glücklicher Unwissenheit und vergessen, daß das Kind früher oder später unsere Heuchelei erbarmungslos durchschauen wird und unter der Enttäuschung völlig verdirbt oder lebenslang
leidet.
Wir vergessen, was schlimmer ist, daß der kindliche
Scharffinn die vordringlichen Lügen der Gesellschaft und die
lüsternen Geheimnisse des Privatlebens weit früher erspäht, ehe er sich einen Begriff bilden konnte von dem Wahren und Guten und Schönen, welches den Grund auch der Verderb testen Lebensverhältnisse bildet.
Seine
Vorstellungen
sind
vergiftet, ehe die reine schlichte Wahrheit aller Dinge sie er
füllt hat.
Es muß seine eigene Seele, seinen eigenen Körper
als einen Gegenstand des Ekels und als eine Quelle der
Sünde betrachten, ohne den Trost zu haben, daß Sünde und Krankheit in Wirklichkeit fremde Eindringlinge sind, die von
selbst ausbleiben, wo Gesundheitspflege und Sitte die gemein
same Grundlage der Erziehung bilden, die aber nie ausbleiben werden, solange man glaubt, mit Glaubenslehren und Sitten
lehren allein die Menschheit zu verbessern. Es ist nicht anders.
Je weiter unsere Erfahrung dringt,
je mehr wir den Zusammenhang der sittlichen und körper lichen Welt begreifen, desto mehr wird uns zur Gewißheit,
das Glück der Veredelung werde den Menschen nicht eher
blühen, als bis sie sich gewöhnen, in allen Lebensverhält nissen auszugehen von der Überzeugung, daß vergeblich bleibt
düs Mühen um die höheren Güter der Menschheit, wo Grund
und Boden unseres Daseins mißachtet oder gar verabscheut wird, daß die Sorge um das körperliche Wohlergehen das
erste Recht und die eigenste Pflicht eines Jeden ist, in welcher er sich durch Niemanden darf bevormunden lassen als durch
die Gesetze der Natur. Damit diese Pflicht erfüllt werde, ist aber vor Allem nötig, daß die Bedingungen unseres Daseins: Geburt, Wachs
tum, Ernährung, Körperpflege, Zeugung, nicht länger Fach geheimnisse des Arztes und der Gegenstand lüsterner Neu
gierde der anderen Leute bleiben, sondern die wichtigsten, die heiligsten Lehrgegenstände werden für Jünglinge und Jung frauen, welche sich zu ihrem Lebenslauf vorbereiten.
Dürfen
wir die Hoffnung hegen, daß Familie und Gesellschaft sich dieser Notwendigkeit nicht immer verschließen werden? —
Was inzwischen der Arzt tun kann und was wir ver suchen wollen zu tun, das ist, zu zeigen, wie die Grund lage für körperliche Gesundheit gelegt wird, von welchen Vor
aussetzungen sie abhängt und welchen Sinn eine körperliche Erziehung des Menschen hat. Vorher wollen wir aber die Erziehungsftüchte betrachten, welche unter Vernachlässigung oder bei unzureichender Rück
sicht auf die körperliche Pflege reifen.
2. Die innere Entwickelung unserer FLHigkeiten und der dazu erforderlichen Werkzeuge besorgt die Erziehung der Statut; die Erziehung der Menschen lehrt uns von jener Entwickelung Gebrauch -u machen.
Rousseau.
Der Mensch, sagen die Erzieher, ist Nichts als was
Erziehung aus ihm macht').
So viel ist sicher.
Im rohesten Naturzustande erhebt
sich der Mensch wenig über das Tier.
Ein bedeutender Fort-
schritt ist da, sobald der Vater den Sohn unterweist, den Speer zu werfen und die Götter zu ehren.
Da beginnt die
Macht des Menschen über die Erde und die Bildung zu den höchsten Gütern der Menschheit.
Mit dem weiteren Fort
schreiten der Kultur steigern sich die Anstrengungen der Er
zieher und die Leiden der Erzogenen.
Erziehung üben wird
immer mehr zur Last; erzogen werden immer mehr zur Qual2).
Ehe der junge Mensch
unserer Tage und in unseren
Ländern zu seiner Großjährigkeit kommt und von der Ge-
sellschaft als würdiges Mitglied anerkannt wird, soll er drei
Stufen der Erziehung
überschritten
haben, die Erziehung
durch die Familie, durch die Schule und durch das Heer.
Die Gesellschaft setzt voraus, daß am Ende dieser dreifachen Erziehung zunächst das getan ist, was den Menschen zum Kulturmenschen macht, zum Staatsbürger befähigt.
Manche
begnügen sich in Forderung und Ausführung mit den beiden
ersten Stufen; die dritte halten sie für überflüssig. Der
den
höheren Zielen
der
Menschheit
zustrebende
Erzieher verlangt mehr als die selbstgefällige Gesellschaft").
Während diese sich mit dem Wort Familie und mit leidlichen
Schulzeugnissen wohlzufrieden erklärt und mit Mcksicht auf
den häufigen Widerwillen gegen die Dienstleistungen im Heere irgend einen militärischen Grad für eine ganz besondere Em pfehlung erachtet, will der Freund einer besseren Menschheit
die wirklichen Früchte einer dreifachen Erziehung;
er will
körperliche, geistige und sittliche Ausbildung in ihrer Voll
endung sehen.
Er verlangt am Erzogenen: Wohlgestalt und
Kraft, Vernünftiges Denken und Handeln, feste Sittlichkeit in
allen Lagen des Lebens. In unserer Zeit sind wir von den Früchten vollendeter
Erziehung so weit entfernt wie zu irgend einer Zeit der Ge schichte der Menschheit.
Der scharffichttge Blick des Welt
verbesserers will sogar finden, daß hinter dem Fortschritt der
gesellschaftlichen
äußeren
Bildung
die
Erziehung 2*
des
Einzelnen weiter als je zurückgeblieben
ist, und es sollen
Rousseau und sein Schülers Kant Recht behalten mit ihrer Versicherung, daß die Erhöhung des Staatslebens unvermeid
lich
mit
einer
Wertverminderung
des Einzelnen in jeder
Hinsicht einhergehe. Wir dürfen diese schwarzen Grillen des Menschenkenners,
der in trüben Stunden nur das Kranke an der Oberfläche
des Menschengeschlechtes
sieht
und
die
unendliche rastlose
Vermehrung innerer Kraft und Schönheit und Güte eine
Weile vergißt, leider nicht dem Winde übergeben.
Wir müssen
uns vorzüglich, ja ausschließlich mit dem kranken Teil der Menschlichkeit beschäftigen, wenn wir Ziel und Zweck der Er ziehung vor Augen haben.
Aber der wahre Erzieher wird
keinen Augenblick vergessen, daß gerade und nur der gesunde Kern im Menschen cs ist, der die Betrachtung der ihn ent
stellenden Fehler und Schwächen erträglich und Pläne der
Befferung überhaupt der Mühe wert macht. Was ist schuld, daß die Früchte der Erziehung nicht den
Erwartungen entsprechen? Liegt das an den Erziehungswegen oder im Gegenstand der Erziehung?
Die Wege der Erziehung hat man wohl meistens im Verdacht.
Das beweisen zahllose Versuche, sie zu verbessern
und der häufige Wechsel ihrer Richtung.
Den Erziehungs
bedürftigen hat man bisher, so viel ich sehe, stets für einen notwendig gegebenen gehalten
und nie die Hoffnung aus-
gesprochen, anders als eben durch die Erziehung an ihm etwas zu ändern. Manche
sagen,
kommen in Betracht.
weder Erziehungsweise
noch Zögling
Eure Erwartungen sind falsch.
Sie
leugnen jeden Einfluß der Erziehung überhaupt, ebensowohl
auf die körperlichen wie auf die geistigen und die sittlichen Eigenschaften.
Der Mensch, sagen sie, ist von Natur aus
stark oder schwach, geistig begabt oder unbegabt, böse oder gut,
und der Erzieher kann nichts tun, als den guten Fähigkeiten
Gelegenheit zur Ausbildung und Wirksamkeit geben und den schlechten Nahrung und Gelegenheit entziehen. Was die Verschiedenheit der Wege bei denen, welche eine
Erziehung
mit bewußten Zielen
für möglich und wirklich
halten, angeht, so wird ein dreifacher Weg zugegeben und
benutzt.
Man erzielt entweder durch Predigen und Strafen
oder durch Belehren oder durch das Beispiel.
Das Kind soll in der Schule gerade sitzen; der Lehrer sagt: setze dich gerade oder du bekommst Schläge; oder er
sagt:
setze dich gerade, sonst wird dein Rücken krumm; oder
er setzt sich selbst gerade und hofft, daß alle Kinder es nach
machen.
Welchen Weg er nun auch vorziehen wird, immer
wird er am Ende lernen, wofern er es nicht vorher gewußt
hat, daß es auch Kinder gibt, die gar nicht gerade sitzen können,
weil
ihr Rücken
schwach
oder
schon
krumm
ist.
Diese Erfahrung, so einfach sie zu sein scheint, haben die
Erzieher auffallend spät gemacht, wenigstens
im Geistigen
und Sittlichen. Die drei Erziehungswege werden von den Berufserziehern gesondert oder vereinigt benutzt.
Die Wahl hängt keineswegs
von der Auffassung der Natur des Zöglings ab, in welcher die Erzieher weit auseinander gehen.
Viele sagen, der Mensch sei von Natur aus böse und seine Erziehung könne deshalb nur eine
abschreckende sein
und müsse durch Strafen wirksam unterstützt werden.
Andere,
so der Prediger Salomon und der Magister Kant, vereinigen sich in dem Satz, der Mensch habe nur gute Anlagen, welche
durch Erziehung entwickelt werden müßten.
Aber sie ent
zweien sich über die Wahl der Mittel. „Und meine Seele suchet noch und hat es nicht ge
funden.
Unter tausend habe ich einen vollkommenen Mann
gefunden, aber kein Weib unter allen.
Nur das hab ich ge
funden, daß Gott den Menschen recht gemacht hat. — — Rute und Strafe gibt
Weisheit.
Sohn und er wird dich ergötzen."
Darum züchttge deinen
So der Ecclesiast.
Und der Weise von Königsberg: „Gehe in die Welt, —"
läßt er den Schöpfer zum Menschen reden, — „gehe in die Welt! Guten.
Ich habe dich
ausgerüstet mit allen Anlagen zum
Dir kömmt es zu, sie zu entwickeln und so hängt
Dein eigenes Glück und Unglück von Dir selbst ab". —
Die Ursachen zum Bösen findet Kant nicht in der Natur-
anlage des Menschen: „das nur ist die Ursache des Bösen-, sagt er,
wird.
„daß die Menschheit nicht unter Regeln gebracht
Gute Erziehung gerade ist das, woraus alles Gute
in der Welt entspringt: die moralische Kultur muß sich also
gründen auf Maximen, nicht auf Disziplin; — durch Dis ziplin bleibt nur eine Angewohnheit übrig, die doch auch mit
den Jahren verlöscht""). Was haben die entgegengesetzten Empfehlungen erreicht? Die Kinder Israels und ihre Leidensgcnossen in der Straf
erziehung") sind durch die Schläge nicht besser geworden und wir Kinder Deutschlands nicht durch die Regeln.
Und wie
im Sittlichen so ist im Geistigen und Körperlichen nicht so
viel Unterschied zwischen heute und Salomons Zeit vor drei tausend Jahren, daß die Erziehungslehrer sich dessen rühmen
könnten.
Es konnte das auch kaum
anders sein, solange eine
ganz falsche Naturansicht oder vielmehr gar keine die Grund lage
der
Erziehung
bildete, solange die Einen als
ersten
Satz ihrer Erziehungslehre aufstellten: „Im Menschen liegen nur Keime des Guten"'), und die Anderen mit dem Satz
anhuben: „Im Menschen liegen nur Keime des Bösen""), und
viele gar behaupteten, die Seele des Kindes sei eine wehrlose unbeschriebene Tafel, auf welche der Erzieher schreiben könne, was ihm beliebe").
Daß die Kinder sehr verschieden zur Welt kommen, daß
Beides, Gutes und Böses, welches der Erzieher bei ihnen zu
entwickeln oder zu unterdrücken sucht, in der Anlage sowohl vorhanden sein wie fehlen kann, daß cs also mindestens zwei
Arten von Zöglingen in tausendfältiger Abstufung gibt, das
konnten nur die übersehen, welche in überlegener Weltweisheit sich die Zöglinge dachten, anstatt sie zu sehen.
Laßt euch
doch, die ihr den Übermut der unbeschränkten Schönseherei
habt, einmal in eine Verwahranstalt für blödsinnige Kinder führen!
Dort vergeht euch, denke ich, der unwahre Optimis-
mus und die Kühnheit, die Menschen ohne Wahl mit Maximen
zu erziehen.
Dort werdet ihr aus Optimisten zu Pessimisten
oder im besten Falle schränkt ihr euren Satz soweit ein, wie
es Rousseau
tut:
„Im gesunden Menschen
liegen nur
Keime des Guten", und wenn ihr dann noch weiter hofft, so stellt ihr euch die Frage: Gibt es kein Mittel in der
Welt, wodurch es zu erreichen wäre, daß bei der Geburt nur Keime des Guten im Menschen liegen? Wir haben noch einen Blick auf den dritten Erziehungs
weg zu werfen, auf die Erziehung durch das Beispiel Jüngere
Weltweise erwarten viel davon und es kann wohl nicht ge
leugnet werden, daß mehr als Ermahnung und Belehrung und
Strafe
im
großen
und
ganzen
das Beispiel
wirkt.
Kinder und Erwachsene ahmen nach und halten am Nach geahmten fest, bis sie an ihrem Vorbild Widersprüche und Fehler gefunden haben und ein anderes Beispiel das Über-
gewicht erlangt oder bis die Vernunft da ist und das bisher Gewohnte gutheißt oder verwirft. — In einer guten Umgebung
ist es für ein gewöhnliches Kind fast ebenso unmöglich, schlecht zu werden, wie in einer schlechten Umgebung, gut zu sein. Im
Allgemeinen werden schlechte Vorbilder als die auffälligeren
leichter und deshalb lieber nachgeahmt als gute, und auch schlechte Angewohnheiten werden schwerer und widerwilliger von der Vernunft ausgerottet als gute.
Für schlechte Sitten
genügt ein Sichgehenlassen, für die guten bedarf es täglicher und stündlicher Selbstbeherrschung.
In Krankheiten, bei Er
müdung erlahmt die Kraft dazu; darum schicken vernünftige
Eltern das wider seine Gewohnheit unartige Kind ins Bett,
weniger vernünftige stellen
es
in
die Ecke, unvernünftige
züchtigen es.
Was ist denn
durch Beispiel?
schließlich die Frucht einer Erziehung
Doch nichts anderes als eine mehr oder
minder stark befestigte Angewöhnung, die keinen Anspruch auf die Bezeichnung einer sittlichen hat.
Wir sind nicht sittlich,
wenn wir mit unserer Umgebung gut und hilfteich und edel
sind, sondern nur, soweit wir es ttotz ihr sind, soweit wir in uns den unverbrüchlichen eingefleischten Willen haben, selbst
dann das Gute und Wahre und Schöne zu verfolgen, wenn
es uns auch in einer argen Umgebung nie verwirklicht er scheint.
Bringt doch eure vom Beispiel der Familie und Gesell-
schäft erzogenen Kinder in jungen oder alten Jahren einmal in längere Berührung mit dem Laster und sehet zu, wie viele
von ihnen wahrhaft gut erzogen sind, wie vielen euer Unter schied zwischen Gut und Bös so eingewurzelt ist, daß sie sich
nicht von ihrer neuen Umgebung allmählich oder rasch herab
ziehen lassen, anstatt diese zu sich hinauf zu ziehen.
Zwei
oder drei werden die Probe bestehen und sich ihr eigenes
Selbst in allem Wechsel der äußeren Einflüsse erhalten, weil
ihre Natur und das Sittliche Eines sind; die tausend anderen werden wie dressierte Hunde, die unter dem wachenden Auge
des Herrn das verbotene Wild unberührt lassen und viel
leicht nicht einmal mit Begehrlichkeit anschauen, schamlos sich auf die Beute stürzen, sobald sie gewahren, daß der Herr sich nicht mehr um sie kümmert.
Nehmen wir es aber einen Augenblick für ausgemacht
an, der richttge und ausreichende Erziehungsgrund liege im guten Beispiel.
Wo findet die Heranwachsende Jugend es
denn verkörpert? Zweifellos in vielen, in sehr vielen Fällen bei ihren Eltern, ihren Lehrern und anderen Vorgesetzten.
Aber wie zahlreich sind doch die Fälle, wo das, was Eltern und Lehrer gut machen, von anderen Menschen verdorben
wird, wie zahlreich die Fälle, in denen überhaupt jedes gute
Beispiel fehlt. Gerade da, wo Wohlwollen, Redlichkeit, Herzensreinheit,
überhaupt Sittlichkeit unentbehrlich erscheint, in der Familie,
wird
sie
allzuhäufig
vermißt.
Famllienerziehung
ist
oft
nichts Anderes als eine Dressur deS Kindes, die Unarten und Launen der Erwachsenen zu sehen, zu ertragen und nicht nachzuahmen.
Und der lluge und artige Weltton, in dem
das Kind der sogenannten feinen Familien
nicht selten ausgemachte Heuchelei;
für
aufwächst, ist
wahrhaft
sittliche
Reden und Handlungen des treuherzigen KindeS besteht, so bald sie von der Tagesmode abweichen, ein so geringer Be griff, daß man den kleinen lästigen Mahner als schreckliches
Kind bezeichnet.
Mit dem Beispiel für die Jugend auf dem Gebiete des Verstandes ist es nicht anders.
Die geistige Durchbildung
des Volkes oder auch der Gebildeten im engeren Sinne ist
nicht einmal so groß, daß wahre Leistungen in Handwerken, in Künsten und in Wissenschaften vor den Scheinwerken des Strebers und Machers den Vorzug haben, und der junge
Mensch merkt es sich nur zu bald, daß er durch vieles Andere es weiter vor der Gesellschaft bringt als durch eine ehrliche Anwendung seiner geistigen Fähigkeiten. Was
die Erziehung
zur
körperlichen Vollkommenheit
durch das Beispiel angeht, so ist der Heranwachsende Mensch kaum daran gewöhnt, auf Gesundheit und Kraft Wert zu
legen.
Das lernt er erst spät, zu spät.
Er lebt unter
Menschen, die an tausend Schwächen und Krankheiten siechen.
Er sieht es fast nie, daß Leiden und Krankheiten für etwas
Schimpfliches gelten, dessen der Mensch sich zu schämen hätte, was er mit aller Straft abweisen sollte. — Im Gegenteil, er hört es immer, daß der Arzt, daß der Apotheker, daß tausend
Strankenhäuser und Bäder und Hellanstalten dafür da sind,
alle erdenklichen Krankheiten zu heilen, und niemand sagt
ihm, daß der Arzt mit allen seinen Hülfskrästen doch eigent lich recht wenig von der Allmacht besitzt, die man ihm wider seinen Willen zuschreibt.
Wie soll aber ein Kind Scheu vor
körperlichen Übeln bekommen, wenn Krankheiten und Kuren zum wohlanständigsten Gespräch in der gesellschaftlichen Unter
haltung gehören?
Dazu kommt
daß auf körperliche Fähig
keiten und Übungen, so viel man auch die Jugend dings dazu anhält, von den
neuer
Erwachsenen im allgemeinen
wenig Gewicht gelegt wird, also
auch
hier
das Beispiel
fehlt"). Nach alledem könnte es scheinen, als ob diejenigen Er
zieher, welche vom Beispiel das Hell für die Jugend er warten, im Rechte wären, wenn sie behaupten, die Fehler der
Erzieher, nicht die Natur der Zöglinge trügen die Schuld, daß wir im Körperlichen, Geistigen und Sittlichen weit hinter dem erwünschten und erstreiten Ziel zurück sind, und als ob das Wort Kants Sinn hätte, daß
„wenn einmal ein
Wesen höherer Art sich unserer Erziehung annähme, dann
man doch könne".
sehen würde, was aus dem Menschen
werden
Wollen wir nun aber den Borwurf des schlechten Bei spiels wirklich
erheben,
so
würden
die
Erzieher einmütig
schnell ein wirksames Mittel zur Hand haben, sich von aller
Schuld zu reinigen, indem sie sagten: wie könnt ihr von unS verlangen, daß wir Musterbeispiele seien!
können.
Wir tun was wir
Wir selbst sind nicht von Mustern erzogen worden.
Und so würde ein jeder den Vorwurf rückwärts weiter geben. In der Tat ist, wenn wir der Sache auf den Grund
gehen, nichts unnützer als jener Vorwurf.
Könnten wir die
Herzen erforschen, so würde sich zeigen, daß die allermeisten
Menschen den guten Willen haben, sich selbst zu vervoll kommnen und durch das beste Beispiel erzieherisch zu wirken,
daß es nicht am Willen aber an der Kraft fehlt.
Wir alle
haben diesen Willen oder haben ihn gehabt bis zu einer Zeit, die bei dem Einen früher, beim Anderen später sich einstellt,
wo wir denn endlich erfahren müssen, daß wir schwächer sind, als wir selbst geglaubt haben, wo in
wiederholtem
Unterliegen der Jugendtraum einer unverwüstlichen körper lichen, geistigen und sittlichen Frische verblaßt und eine feige
schlaffe Entsagung über uns kommt, in der wir zu uns selbst sprechen: Das Leben bringt ja notwendig Krankheit, Dumm-
heit, Laster hervor und des Lebens höchste Weisheit bleibt zum Schluß: Sich selbst ertragen!
Sich selbst ertragen!
Es ist noch ein Gewinn, roemt wir
in der sittlichen Wechselzeit, die uns unsere Minderwerttgkeit
zum Bewußtsein bringt, zu diesem Verzicht kommen.
Wir
hören dann wenigstens auf, uns selbst nutzlos zu quälen
und Andere ungerecht zu beschuldigen. Aber die Jugend soll und will diesen Verzicht nicht üben.
Sie fühlt den Mut zur Vollwertigkeit und hat die Mittel,
sich über eigene wie fremde Schwächen zu erheben und je
länger sie es tut, desto später ist sie alt. Was ist der Grund
„von jenem Mut, der früher oder später Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt,
Bon jenem Glauben, der sich stets erhöhter, Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt, Damit das Gute wirke, wachse, fromme,
Damit der Tag dem Edlen endlich komme?"") Woher nimmt die Jugend den Glauben an sich
und
an ihr Werk?
Sie schöpft ihn aus der heimlichen Erfahrung, daß alles Gutt und Große uns nicht von außen kommt, sondern in
uns selbst entsteht durch dieselbe Kraft, welche, indem sie ttotz einer feindlichen Umgebung unser Dasein wirtt und
bildet
und erhält, sich mächtiger erweist, als alles Äußere und fort schreitend die Welt überwindet, so lange sie noch im Über fluß vorhanden ist und sich nicht in der Erhaltung eines
elenden Körpers, an seinen Gebrechen und Krankheiten, ver zehren muß.
Wo die Jugend krank ist, da spart sie selbstsüchtig in sich jene heilige Kraft, die kaum mehr ausreicht „ihren Körper und ihre fünf Sinne vor Fäulnis zu schützen" **), und kommt bald zu der greisenhaften Entsagung, die da spricht: Alles
ist eitel! und die überlegen lächelt, wenn die großen Geister
ihr die höchsten Güter der Menschheit zeigen, ihr Wissenschaft
und Kunst, Recht und Sitte und Religion anbieten.
Das
lockt mich alles nicht, spricht sie, davon werde ich nicht satt. Gebt mir ein Amt, das den Mann und seine Familie nährt,
laßt mir das Ansehen eines Biedermannes in der Gesellschaft und ich verzichte gerne auf das übrige. Und wer wollte sie tadeln?
Selbst das Wort Gottes
sättigt nicht, wenn der Magen darben muß und der Körper
leidet. Jene vorzeitigen Greise sind es, an denen seit Jahr
tausenden Mahnung und (Strafe, Belehrung und Beispiel,
die Weisheit scheitern.
der Lehrer
und
die Hingebung
der Eltern
3. Wenn der Mensch seinen Körper ändern
könnte wie seine Kleider, was würde da auS ihm werden!
Lichtenberg.
Es sind körperliche Schwächen und Leiden, welche uns
für den Genuß und die Schätzung höherer Güter unfähig machen, und es sind körperliche Fehler und Krankheiten, die
jeder wirksamen Erziehung im Wege stehen. Könntet ihr daran zweifeln? ein gesundes, heiteres,
Achtet doch darauf, wie
lenksames und kluges Kind sofort
mürrisch, widerspenstig und stumpfsinnig wird, sobald eine
Krankheit es ergriffen hat, und wie mit dem Nachlaffen der Krankheit alle gewohnte Tugend wiederkehrt.
Vergleicht doch
eine Reihe gesunder und kränllicher Kinder und seht, welche
am wenigsten gehorchen, am schwersten geistig aufnehmen, am
widerwilligsten körperliche Übungen leisten und am trägsten eine dauernde Selbstzucht üben.
Wißt ihr nicht, daß viele,
sehr viele Kinder von den drei gewöhnlichen Erziehungs stufen zur menschlichen Blldung schon von vornherein da-
durch ganz ausgeschlossen bleiben, daß die Sorge um ihre körperlichen Fehler und Gebrechen so sehr den Inhalt ihres
ganzen Daseins bildet und so völlig die Arbeit ihrer Um gebung in Anspruch nimmt, daß etwas Anderes als die Er
haltung ihres siechen Leibes gar nicht mehr in Frage kommt? Zählt sie nur einmal,
die Kinder mit Drüsenleiden und
Knochenfraß und Schwindsucht , und anderen jahrelangen oder lebenslangen Siechtümern, welche als jammervolle Krüppel in den Famllien und in Krankenhäusern verpflegt werden;
zählt einmal die Blödsinnigen und Schwachsinnigen, die Fall süchtigen und Gelähmten, die eine angeborene oder früh zu stande gekommene Gehirnschwäche in das Elend der Idioten
anstalten verwiesen hat! Habt ihr euch einmal die Frage gestellt, wie viele von
allen in Deutschland geborenen Kindern das schulpflichtige
Alter erleben, wie viele das militärpflichtige Alter in erträg
licher Gesundheit
und
Vollsinnigkeit erreichen?
oder wir
wollen die Frage etwas begrenzen: Habt ihr einmal gezählt,
wie viele von allen Knaben in dem Alter, in welchem die männliche Jugend die Probe ihrer körperlichen Reife an den
Tag legen soll, wirklich diensttauglich für das Heer sind? In Deutschland werden jährlich rund zwei Millionen
Kinder geboren.
Nahezu die Hälfte davon sind Knaben.
Von rund einer Million deutscher Knaben, welche also den
jährlichen Nachwuchs
der männlichen Bevölkerung
Sticker, Gesundheit u. Erziehung.
2. Aufl.
3
bilden,
sind im einundzwanzigsten Lebensjahr, im militärpflichtigen Alter, 267 Tausend, also wenig mehr als der vierte Teil
waffentüchtig J).
Was ist aus
den
anderen drei Vierteln
geworden?
Ein keiner Teil, ungefähr zwei vom Hundert, waren tot geboren; ein bedeutender Teil, vierzig unter hundert, sind bis zum einundzwanzigsten Jahre aus den verschiedensten Ur sachen gestorben.
Von den achtundfünfzig Überlebenden sind
dreiunddreißig lebenslang, ganz wenige nur vorübergehend Reichskrüppel im wahren Sinne des Wortes.
Wie kommt es, was ist schuld, daß kaum drei Fünftel aller männlichen
Sprossen Deutschlands
den Beginn des
Mannesalters überhaupt erreichen und daß von diesen drei
Fünfteln wiederum drei Fünftel körperlich unbrauchbar sind? Die Aufftellung des Heerergänzungsgeschäftes gibt zur letzteren Frage folgende Erläuterungen: Mehr als fünfzehn
vom Hundert der Volljährigen sind wegen körperlicher oder
geistiger Gebrechen dauernd untauglich.
Etwas mehr als
einer von Zweihundert ist wegen Zuchthausstrafe des Heeres dienstes unwürdig, sittlich untauglich.
Beinahe fünfundvier
zig vom Hundert sind halbtauglich; sie haben kleine körperliche
Gebrechen, die sie zum Landsturm verweisen, und fünfund dreißig sind körperlich noch nicht entwickelt oder wegen anderer
Unlstände noch nicht tauglich. Unter den Tauglichen befinden sich ungefähr vier vom
Hundert, welche vor Beginn des dienstpflichtigen Alters, vom siebzehnten Lebensjahre an, als Freiwillige von der Ersatz
behörde in das Heer
eingereiht werden.
Also auf einen
Einzigen unter hundert geborenen Knaben darf die deutsche
Nation stolz sein und mit fünfundzwanzig zufrieden.
Die
anderen erweisen sich als körperlich, geistig oder sittlich minder
wertige Staatsangehörige, die zum kleineren Tell vor der Volljährigkeit zu Grunde gehen oder in Jdiotenasylen, in
Instituten für Blinde und Taubstumme, in Irrenhäusern, in Strafanstalten untergebracht sind, zum größeren Tell sich
als Halbinvaliden in die verschiedenen Stände einreihen und
nach ihrer Art sich selbst und dem Gemeinwesen nützen. Die Männer der geistigen Berufszweige möchten sich vielleicht mit Entrüstung dagegen verwahren, daß die Nation
berechtigt wäre,
mit
uns,
soweit wir
befrell worden sind, unzufrieden zu sein.
vom Milllärdienst
Sie rufen aus:
Kaufleute, Lehrer, Geistliche, Künstler, Ärzte, Rechtskundige,
die von der Ersatzbehörde zurückgewiesen worden sind, leisten vielleicht mehr dem Staat und der Gesellschaft als mancher vorzügliche Soldat!
Wir kennen bessere Aufgaben als un
seren Leib zum Krieg vorzubereiten und seine Kraft mit der Kraft des muskelstarken aber roheren Teiles unserer Nation zu messen!')
Daß es bessere Aufgaben als Kriegführen gibt, das soll unbestritten bleiben.
Aber daß geistige Tätigkeit von körper3*
licher Leistungsfähigkeit entbinden dürfe, das darf nicht zu gegeben werden.
Ihr müßt nicht fragen, ob ein körperlich ar
beitender Mensch oder ein geistig arbeitender mehr wert sei, ob dieser oder jener mehr dem Staat und der Menschheit nütze;
sondern ob ein geistiger Arbeiter mehr leistet, wenn er körper
lich kräftig und gesund, oder mehr, wenn er siech und krank ist.
Die ehrliche Antwort auf diese Frage macht euch die
Zahlen der Wehrhaftigkeit eines Volkes von Bedeutung.
Es ist ein großer, ein verhängnisvoller Irrtum, zu glau
ben, ein geistig tätiger Mensch dürfe ohne Nachteil für seinen persönlichen Wert an Körperkraft minderwertig sein, oder
gar, es habe einer nur um so viel mehr körperliche Tüchtig keit als er an geistiger zu wenig hat.
Die Offiziere wissen
es längst, daß der geistesarme Rekrut von herkulischem Körper bau sich in der Fähigkeit,
körperliche Anstrengungen und
Mühsale zu ertragen, mit einem geistig hochstehenden Ein
jährig-Freiwilligen nicht im entferntesten messen kann.
Er
verrichtet vielleicht einen einmaligen Akt roher Kraftäußerung
leichter als dieser, aber sobald Ausdauer und Zähigkeit ver
langt wird, unterliegt er.
Und wiederum hat in geistiger
Tätigkeit am meisten Ausdauer der, welcher körperliche Ge
sundheit und Kraft besitzt. Es ist ja sicher, daß die mllitärische Erziehung von den Staaten und ihren Regierungen immer noch in erster Linie
zu Kriegszwecken gefordert wird.
Aber alle einsichtigen Er-
zieher und Ärzte und ohne ihre Ermahnung das ganze Volk
würde auch im ewigen Weltfrieden die körperliche Kraft und Rüstigkeit, wie sie zur Waffentüchtigkeit gehört, zum Vorteil jedes einzelnen männlichen Bürgers verlangen und den etwa
unnötig gewordenen Heeresdienst durch pflichtmüßige Turn übungen und andere körperliche Bewegungsspiele sehr schnell
ersetzen, weil der Menschheit ihr innerstes Gewissen sagt, daß sie der körperlichen Kraft und Gewandtheit auch nicht auf den höchsten Stufen der äußeren und inneren Bildung, auf ihnen am allerwenigsten, entraten kann und in den Äuße
rungen der Leibeskräfte und Leibesftische ein besserer Grad messer für die geistige und sittliche Befähigung eines Volkes
liegt als in der Lebhaftigkeit des politischen Gezänkes, in der
Anzahl der Studierenden auf Hochschulen und so weiter. Ein Blick auf das englische Volk zeigt, daß ich Recht habe.
Es will die militärische Dienstzeit nicht und hält sich
Söldnerheere, aber nicht um die eigene Jugend von körper
licher Ausbildung und Übung zu entbinden, sondern um ihr zu den
vielfältigsten
und freiesten Übungen den weitesten
Spielraum zu gönnen, um von ihr das, was wir im einoder zweijährigen Soldatendienst abtun, für das ganze Leben zu fordern und eine manneswürdige Rüstigkeit, welche im
höchsten Alter ebenso Eichen fällt wie Völkergeschichte ent
scheidet und den Musen dient, bis zum Lebensende zu er halten.
Was bei uns noch vielfach als lästiger Frondienst
empfunden
und als Störung aller
bürgerlichen Geschäfts
zweige nach Möglichkeit gemieden wird, ist bei den Engländern und war bei den besten Nationen aller Zeiten Manncsehre und Mannesrecht.
Die Wenigen, welche heute im trägen Getriebe deutschen Alltaglebens, das fast nur die Wahl zwischen täglicher Er
mattung der Muskeln oder stetiger Aufreibung des Gehirns läßt, die Sehnsucht bekommen, einmal zu empfinden, was sie
körperlich und geistig und sittlich
wert sind, diese
suchen,
wenn nicht etwa die jährlich wiederkehrende Militärübung
ihnen die seltene Gelegenheit gibt, ihr Leben zu fühlen, von Zeit zu Zeit außerordentliche Ansttengungen, um alle ihre Kräfte in Bewegung zu setzen, unternehmen eine längere Fuß
reise oder Radfahrt oder eine mühevolle Bergbesteigung, um
sich ihre Vollkraft wieder einmal zum Bewußtsein zu bringen, und steuen sich, nachher jedesmal zu erfahren, wie eine un gewohnte Frische und Ausdauer in der Erfüllung der For
derungen ihres Berufes sie dafür belohnt, daß sie Kraft und Sicherheit ihrer Glieder und Sinne geübt und gemehrt haben.
Der Engländer, der mit allzu gerechtem Mitleiden auf
das kümmerliche Dasein der vielen deutschen Ladenhüter und Stubengelehrten sieht und unser Volk verachten würde, wenn
er nicht seine waffentüchtige Auslese fürchten müßte, gleicht, wenn seine Erwerbtättgkeit stundenlanges Sitzen und vor
wiegende Ansttengung des Geistes fordert, Tag um Tag die
Nachtelle einer einseitigen Lebensweise durch zweckmäßige Übun gen seiner Glieder und Sinneswerkzeuge aus. Steht er darum höher als der Deutsche? Vielleicht nicht.
Er zeigt aber täglich, was er ist, während wir nicht einmal wissen, was wir bei einer naturgemäßeren Lebensweise sein könnten.
Wer wird es uns lehren?
Entweder wir selbst, indem
wir mit festem Wollen in Jedem von uns die Gesundheit
und Kraft des Volkes erhalten und vermehren, oder die Not,
die uns zuletzt sicher zwingen wird, zu erwerben, was wir heute gleichgültig vernachlässigen').
Aber die Zahllosen, die zu jeder freien Körperübung unfähig sind, weil ihre Kraft kaum ausreicht, die täglichen
Forderungen der Notdurft des Lebens zu erfüllen, wer soll ihnen helfen?
Warum vermehrt und verbessert man nicht zu ihrem
Heil die Ärzte? Die guten Ärzte bei uns leisten am Kranken das Men
schenmögliche und stehen in Wissen und Können höher als die Ärzte aller anderen Länder.
allen Heilmitteln
Aber mit aller Kunst und
der Welt würden sie auch in vielfacher
Zahl und Tüchtigkeit immer außerstande sein, die Schwäch linge zu kräftigen, die Zahl der Waffenfähigen ihres Landes
um den kleinsten Bruchtell zu erhöhens.
Um so weniger
versöhnen sie sich mit den Zahlen, die ihres Volkes Elend
und Schande sind.
Was
die Zahlen
der Heeresuntauglichen,
welche
der
Statistiker ohne Verwunderung und Rührung betrachtet, da er sie als regelmäßig wiederkehrende für sehr natürlich und
notwendig halten muß, in Wirklichkeit bedeuten, das hat der Arzt bis zur Unerträglichkeit erfahren.
Ihm graut vor der
Summe, in welcher jede einzelne Ziffer die Qual eines jungen
siechen Lebens ist und unzählige durchgrämte Tage und ver weinte Nächte der Eltern enthält.
Ihm gräbt sich, wenn er
selbst im Laufe der Jahre ganze Reihen dieser Ziffern als
Menschen gekannt hat, die von Geburt aus um das Glück
der Gesundheit und Kraft betrogen waren, tief und tiefer ins Gemüt die Frage: wer soll, wer kann ihnen helfen?
Hat er
wieder einmal neben den verzweifelten Eltern am Kranken
bett, an der Leiche eines Kindes gestanden und keinen anderen Trost gesunden als das Wort: das Kind wäre doch lebens lang ein Schwächling, ein Krüppel geblieben, es ist besser,
daß es nicht gerettet wurde; — dann fragt er feine Wisscnschaft dringend, warum ist das Kind so schwach, so wider standslos, so hinfällig gewesen, daß cs nicht gerettet werden
konnte von der Krankheit, die ein stärkeres Kind überwunden hätte?
Gibt es keine Hülfe gegen das Elend, das so viele
junge Menschen vernichtet und zahllose so entkräftet, daß sie lebenslang vergeblich
das Gefühl völliger Gesundheit und
überreicher Kraft ersehnen; gegen das Elend, das nicht nur
Leben und Glück des Einzelnen, sondern überdies Bildung
und Veredelung
des Volkes,
den
Fortschritt
der
ganzen
Menschheit immer aufs neue vereitelt?
Und mit dem Arzt vereint sich der Erzieher in der
Frage:
Wäre es nicht möglich, den Fortschritt der Mensch
heit freudiger zu gestalten und zu vermehren, indem durch Verbesserung der körperlichen Gesundheit und Kraft die Zahl
der Erziehbaren vergrößert und so endlich die Zahl aller
Erzogenen der Zahl aller Geborenen gleich gemacht würde?
Die Aussicht auf eine solche allgemeine Vollwertigkeit ist verlockend wie keine mehr.
Aber laßt uns, ehe wir nach
den Bedingungen fragen, unter welchen sie etwa erreichbar wäre, genauer sehen, was an der gesunden Jugend Erziehung
wirken kann.
Denn an der kranken versuchten wir vergeblich,
den Satz zu begreifen, daß der Mensch nichts sei, als was Erziehung aus ihm mache.
4. Erziehung
gibt dem
waS er nicht auch
aus
Menschen nicht»,
sich
selbst
haben
könnte; sie gibt ihm das, wa- er au» sich
selber haben leichter.
könnte,
nur geschwinder und Lessing.
Ein gesundes Kind nimmt ohne Beihülfe an, wozu die stumme Umgebung es auffordert, sobald die Ausbildung seiner Organe den äußeren Eindrücken und Anregungen entgegen kommt.
Der sogenannte Nachahmungstrieb ist sein Erzieher.
Nie war es nötig, einem solchen das Greifen, das Stehen,
das Gehen zu lehren.
Wahrend ein schwächliches und krankes
Kind wiederholter Aufmunterung, ja endloser Bemühungen
bedarf, bis es schließlich widerwillig an der Hand der Mutter,
am Gängelband
oder im Laufkorbe den ersten Schritt tut,
übt das Gesunde selbst seine Glieder mit Lust, wenn sie nur freigelassen werden, und gebraucht sie, sobald die nötige Ent wickelung und Stärke der Muskeln da ist, zu jeder Tättgkeit,
die es Andere verrichten sieht. Es kommt in gewissen Grenzen nur auf das Vorbild der Umgebung an, daß es lernt und
was es lernt*).
anmutige
Unter gebildeten Menschen lernt es geschickte
Bewegungen,
unter
ungebildeten Menschen
un
geschickte rohe Bewegungen8); unter Tieren gewöhnt es sich die Lebensweise der Tiere an, läuft auf allen Vieren, klettert auf Bäume, frißt und säuft wie das Tier und beißt wie
seine Genossen, wenn Menschen ihm in den Weg kommen8). Ein Kind mit gesunden offenen Sinnen findet sich bald
in der Welt zurecht.
Es ergreift sie mit Augen und Ohren
und tastenden Händen, ehe wir daran denken, ihm den Ge brauch seiner natürlichen Werkzeuge zu zeigen.
Die Welt
seiner Sinne nährt so reich mit tausend und aber tausend
Eindrücken seinen Geist, daß wir uns immer wieder die Frage
stellen sollten, ob es gut sei, ein Übriges zu tun, wo die Natur Alles zu tun scheint.
Je bunter und weiter der Kreis
der Dinge, die ihm winken, desto lebhafter sein Verlangen, sich damit vertraut zu machen, desto größer die Lust, sich
selbst darin bewußt zu werden und zu erkennen.
Im Verkehr mit denkenden und handelnden Menschen wird das gesunde Kind vernünftig.
In der Einsamkeit ent
wickeln sich wie die äußeren Glieder auch die inneren Werk
zeuge seiner Vernunft ohne bestimmten Inhalt für einen zu
künftigen Gebrauch, harrend der Erlösung wie der Schmetter ling in der Puppe*). Fordern
und Treiben
der Erwachsenen ist der Ent
wickelung eines gesunden Kindes durchaus nicht förderlich.
Das stille Beispiel ist beredt genug. angemessen.
An Kindern
Nicht jedes Beispiel ist
erziehen sich Kinder gewöhnlich
leichter und schneller als an Erwachsenen.
Vergleicht einmal
in einer kinderreichen Familie das Erstgeborene und die Nach folgenden. Jenes wurde mit der großen Sorge und Neulust einer jungen Mutter von Tag zu Tag geleitet, angeregt, be
lehrt.
Es
machte gute Fortschritte
und schmeichelte dem
Mutterstolz als vermeintliche Frucht ihrer Bemühungen. Dann
kam das zweite, dritte, vierte Kind.
Der Mutter blieb nicht
die Zeit, nicht die Kraft mehr, jedem die ruhelose Geschäftig keit zu widmen, welche sie dem Erstgeborenen bereit hielt; die
leibliche Pflege des Kleinen füllte allein die Zeit aus.
Aber
zu ihrem Erstaunen entwickelten sich die jüngeren Geschwister
in jeder Beziehung noch besser als das Älteste.
Jede erfahrene Mutter gesteht es zuletzt:
Die besten
Lehrer der Kinder sind Kinder; sie ahmen leichter und lieber
ihresgleichen nach als den Erwachsenen.
Wir Eltern sind
ihnen fast ein Hindernis, weil wir verlangen anstatt vor
zumachen, ermüden anstatt anzuregen, verwirren anstatt zu belehren. Die jüngeren Kinder entwickeln sich also besser, nicht weil die Eltern mehr Übung im Erziehen gewonnen, sondern
die ungeduldige Lust oder die überflüssige Zeit dazu ver loren haben.
Darum sind auch die zahlreichen Kinder der
Taglöhner und Landleute, indem sie sich selbst und einander
überlassen werden, verhältnismäßig weit geschickter und klüger und gesitteter als das von Erziehern, von Eltern, Lehrern,
Dienstboten stets umgebene Kind des Reichen, bei welchem höchstens ein widerwilliger Gehorsam
befriedigt
und
urteillose und unbescheidene Altklugheit verblüfft.
eine
In der
Schule ist der Nachteil einer übertriebenen Beeinflussung des Kindes nicht weniger deutlich.
Das sicherste Mittel, einen
gutbcanlagten Schüler zu verdummen, ist dieses, daß der pflichteifrige Lehrer, um aus dem seltenen Gast einen Stolz
seiner Schulklasse zu machen, ihm unausgesetzt seinen beson
deren Eifer zuwendet. Wozu also, fragt ihr, Erziehung für ein begabtes, ge
sundes Kind, wenn sie hinderlich und schädlich ist? wir etwa dem Schafhirt folgen, der uns versichert:
Sollen
„Die
Hauptsache bleibt das Waschen und Kämmen, das Füttern
und daß feind sich überfrißt; für alles Übrige sorgt der liebe
Gott"). Nicht Erziehung an sich ist schädlich; aber die falsche ist es. Und welche Art ist denn gut und zweckmäßig? Wovon sollen wir sie lernen?
Ich habe es gesagt: von den Kindern.
Oder wenn ihr
von diesen nicht lernen könnt, überlaßt die Erziehung den Kindern.
Eine andere Frage ist die: Was wollt ihr mit der Er ziehung erreichen?
Es kann euch nicht gleichgültig sein, wie
und wozu das Kind seine Glieder bewegt, was sich sein Geist aneignet, was es für sittlich hält.
Die Richtung seines Lebens
ist es, was Erziehung ihm geben kann und geben soll. Das gesunde Kind lernt essen ohne Hülfe.
Aber wie es
ißt, das hängt von dem Beispiel seiner Umgebung ab.
Wenn
die Eltern mit Anstand essen, so wird das gesunde Kind es auch tun.
Aber wenn der Vater seine Suppe mit Geräusch
schlürft, so schlürft der Junge, der von Natur allen Lärm und alle Bewegung liebt, ebenfalls und, wenn möglich, noch lär
mender, und nun hat die Mutter Gelegenheit, ein schlechtes Beispiel durch Mahnen und selbst durch Strafen im Namen der Erziehung zur Anständigkeit auszugleichen.
„Der Himmel
belohnt die Tugend der Mutter durch die gute Artung ihrer
Kinder""); aber die Mütter strafen auch ost an den Kindern die Sünden der Väter.
Ein gesundes Kind braucht ihr nicht zum Essen anzu halten; cs verlangt nach Nahrung, wenn es Hunger hat, und Hunger hat es zur richtigen Zeit.
Aber ihr müßt die Speisen
für dasselbe auswählen, da es nicht immer unterscheidet, was
ihm zuträglich oder nachteilig ist. Ein
gesundes
Kind
bedarf keiner Aufforderung zum
Lernen; es lernt aus eigenem Triebe, gern und leicht, ohne daß ihr es dazu anspornt.
Aber die Dinge, die es lernen
soll, müßt ihr wählen, damit es nicht unbewußt das Über
flüssige oder Schädliche ergreife und seine Zeit und sich verderbe.
Kennt ihr die Geschichte von den Hunden des Lycurgus? Dieser weise Gesetzgeber der Spartaner nahm zwei Hunde von
einem Wurf und zog sie in verschiedener Weise auf, den einen
zum leckeren und bequemen Näscher, den anderen zum Auf spürer und Erjager des Wildes. Als die Tiere herangewachsen
waren, benutzte er die Gelegenheit einer Volksversammlung, um den Spartanern zu sagen und zu zeigen, wie großen Ein
fluß Gewöhnung und Unterricht auf das Denken und Han
deln habe; er ließ die beiden Hunde vorführen und setzte einen
Braten und einen lebendigen Hasen vor sie; sogleich sprang der eine Hund dem Hasen nach, der andere ging zur Braten
schüssel.
Als die Spartaner nicht begriffen, was Lycurgus
mit den Hunden wollte, sprach er: Beide Hunde sind von denselben Eltern zur selben Zeit geboren, aber auf verschiedene
Weise erzogen worden; so wurde der eine ein Leckermaul, der andere ein Jagdhunds.
Ein gesundes Kind ernährt Leib und Geist aus eigenem Triebe; es trifft nur nicht immer die richtige Wahl; und diese zu treffen und zugleich schlechte Gelegenheiten und Einwir
kungen aus der Umgebung zu entfernen, sie durch das eigene
Beispiel abzuschwächen und auszulöschen oder, was immer bedenllich ist, sie dem Kinde als schlecht zu widerraten, das
ist die Aufgabe der Erziehung, die es mit gesunden Kindern
zu tun hat. Freilich, um dem Kinde die richtige körperliche und geistige
Nahrung zu bestimmen, müßten die Eltern selbst wissen, was
not tut, und weniger dem trägen Herkommen und der Tages
mode und dem Gerede der Leute, als ihrer Einsicht und dem
Rate weiser Männer folgen 8).---------Eine weit schwierigere, umfänglichere, mühevollere Auf gabe ist die Erziehung des schwächlichen, kränklichen, verküm merten Kindes.
Da werden unzählige Hülfsmittel und Heil
mittel nötig. Greist das gesunde Kind unaufgefordert zu den Speisen,
wenn es Hunger hat, und weist sie ab, wenn die Lust gestillt
ist, so habt ihr bei einem kranken eure Not, ihm die Nahrung anzubieten,
sie
ihm besonders schmackhaft und reizend zu
machen, oder auch es vor der Überfüllung mit Speisen zu schützen.
Freut sich das gesunde Kind am Tage auf Be
wegung und am Abend auf den Schlaf, so habt ihr eure
Last, das träge zum Spielen, zum Laufen und Springen an-
zuspomen und das reizbare, aufgeregte zu später Stunde ins
Bett zu bringen. Lernt das gesunde Kind gerne, leicht und rasch von seiner
Umgebung, von seinen Lehrern, aus seinen Büchern, wenn
ihm nur Angemessenes und Verständliches angeboten wird, so
müht ihr euch ohne Rast, dem kränklichen Kinde Lust zum Lernen zu machen, es zu überreden, es zu zwingen, und seht
doch zu eurem Leid, daß es hinter dem andern überall zurück bleibt.
Oder auch, ihr habt seine einseitigen Neigungen, seine
ausschweifende Fragesucht
und Lesewut zu bekämpfen und
schwebt in beständiger Furcht, das rastlose arme Gehirn möchte
den elenden Körper verzehren. Hat das gesunde Kind eine natürliche Sittlichkeit, welche es zwar nicht gleich für unsere feinen und gebildeten Gesell
schaftskreise erträglich aber doch vor den Augen eines ver
nünftigen Mannes liebenswert und erfreulich macht, so habt ihr beim kränllichen Kinde unzählige Gelegenheiten, kleine und
große Laster, Unsauberkeit, Unkeuschheit, Lügenhaftigkeit, Nasch
haftigkeit, Unverträglichkeit,
Zornmütigkeit mit Ermahnung
und Befehl und Strafe im Zaume zu halten, und geringe Hoffnung, sie je ganz auszurotten.
Und bei allen diesen Erziehungsbestrebungen an schwäch lichen und kranken Kindern peinigt euch beständig der Zweifel, ob ihr etwas erreichen werdet und wie weit ihr mit Auf
munterung oder Abmahnung, mit Drohung oder Züchtigung gehen dürst, um euren Zweck zu erreichen, ohne zu schaden. Der Zweifel ist nur zu sehr begründet.
Ihr müßtet,
— das ahnt ihr mehr oder weniger deutlich, — ihr müßtet
in jedem Falle genau die Ursachen des Übels kennen, um eine erfolgreiche, glückbringende Gegenwirkung zu treffen, und diese Kenntnis fehlt euch leider ganz.
Nun geht ihr nach Rat zu Freunden, zu Lehrern, zu
Priestern, zu Ärzten, um meistens doppelt mutlos zurückzu
kehren, nachdem ihre Worte und vielerlei Mittel aber keine Sticker, Gesundheit u. Erziehung.
2. Aufl.
4
Hülfe gefunden habt, vielmehr erfahren mußtet, daß ein Fremder
selten raten kann, wenn die eigenen Eltern ihr Kind nicht
mehr verstehen.
Dann meint ihr verzweifelnd, es sei besser,
die Dinge gehen zu lassen, wie sie gehen wollen, oder ihr
quält Herz und Hirn ab mit der rastlosen Frage: Wer gibt mir Einsicht, wer kann mir helfen? Ihr selbst könnt euch helfen; habet nur den Mut und
die Kraft zur ungeschminkten Wahrheit;
belügt euch nicht
selbst, schickt euch in das Unvermeidliche, aber verzagt nicht
im Erringen des Möglichen.
Versucht einmal, alle geistigen und sittlichen Mängel und Auswüchse als Folgen und Zeichen körperlicher Fehler zu be
trachten und das Erziehungswerk am Kinde mit schlechten Neigungen oder mit unzureichender Begabung als einen Teil
der Heilkunde anzusehen, die ihre natürlichen Mittel und ihre natürlichen Grenzen hat.
Dann lernt ihr verstehen, was Er
ziehung soll, was Erziehung kann.
Vielleicht macht euch ein Beispiel, das aus dem Grenz gebiet der Erzieher und der Ärzte genommen ist, den Vor schlag annehmbarer. Wir gehen in das Aufnahmezimmer einer Lehranstalt
für stumme Kinder und verfolgen mit Aufmerksamkeit, wie der
Vorsteher und der Anstaltsarzt gemeinsam') die hülfesuchenden Kinder prüfen und wie sie dann darüber beraten, welche von ihnen
ärztliche Hülfe bedürfen, welche zum Unterricht im
Sprechen geeignet sind und welche als unheilbar und unver
besserlich den Eltern zurückgegeben werden müssen, damit diese sie zu Hause pflegen oder in einer Anstalt für hülflose Blöd sinnige unterbringen.
Wir gewahren alsbald, wie die stummen
Kinder gesondert werden, je nachdem ein Mangel an den Sprachwerkzeugen der Grund ihrer Stummheit ist oder der
Mangel an Hörvermögen, und wie man genau untersucht, ob
die äußeren Werkzeuge des Gehörs oder des Sprechens krank sind oder ob die Bildung der inneren Gehirnteile, welche das
vom Ohr Empfangene zum Bewußtsein bringen und die Be
wegung zum Sprechen auslösen, gestört ist. Ein Kind, so sagen uns die Sachverständigen, welchem
die Gebrauchsfähigkeit der äußeren Sprechwerkzeuge abgeht, ist für den Sprechunterricht so unbrauchbar wie ein Kind zum
Gehen untüchtig ist, das keine Beine oder lahme Beine hat.
Man wird ihm aber eine Zeichensprache, das Fingeralphabet oder das Schreiben oder auch beides beibringen, wie man dem fußlosen Kind die Fortbewegung seines Körpers mittelst
der Arme auf Krücken lehrt. Ein
Kind
ohne
die
inneren
Sprachwerkzeuge
muß
als unfähig zu jedem Unterricht im Sprechen, überhaupt
zu jedem
geistigen
Verkehr
durch
Mundsprache
oder Ge
bärdensprache oder Schriftsprache abgewiesen und seine Eltern
müssen
auf spätere Zeiten vertröstet werden, wo etwa sein
Gehirn sich
noch
nachträglich entwickelt.
Bis dahin wäre 4*
an ihm jeder Sprachunterricht so verloren wie am sprach losen Tiere.
Nun ist glücklicherweise ein gänzlicher Mangel der Werk zeuge des Sprechens und der Sprache äußerst selten, so daß
die
meisten Hülfcsuchenden
mit Fehlern
daran
wenigstens
versuchsweise zum Unterricht zugelassen werden, und es zeigt
sich dann oft, daß aus kleinen Resten, ja aus Spuren der
zum Sprechen unentbehrlichen Teile durch geeignete Pflege und Übung allmählich recht erfreuliche Fähigkeiten sich ent
wickeln
lassen, welche die Anstrengungen
der Lehrer
und
Schüler reichlich lohnen. In eine zweite Gruppe wurden die Kinder gestellt, bei
welchen ein Mangel an den Gehörswerkzeugen die Ursache der Stummheit ist.
Sie sind stumm geblieben, weil sie das
Sprechen der Mutter und ihrer Umgebung nie gehört haben;
sie würden reden lernen, sobald ihre Taubheit geheilt wäre, müßten aber zeitlebens taubstumm bleiben, wenn cs weder
gelänge, ihr Gehör herzustellen, noch auch möglich wäre, ihr Gehör durch irgend einen anderen Sinn zu ersetzen.
Die Erziehung, welche einem unheilbar tauben Kinde die Sprache schenken soll, besteht nun darin, daß die Kunst der Lautbildung, welche sein Gehör ihm nicht vermittelt, auf Um
wegen in seinem Bewußtsein geweckt wird.
nimmt der Taubstummenlehrer
Zu diesem Zwecke
gewöhnlich
das Auge
des
Kindes zu Hülfe; er zeigt ihm die Mundstellungen, die Lippen-
bewegungen, die Zungenbewegungen, welche wir beim Aus sprechen der einzelnen Laute und Wörter machen, und indem
er cs gewöhnt, diese Bewegungen und Stellungen immer
besser nachzuahmen, bildet er es allmählich zur Kunst, sich
mit verständlichen Lauten und endlich mit fehlerloser Rede
auszudrücken.
Dabei bleibt es nun gewöhnlich nicht aus, daß
der Lehrer, um Alles recht deutlich zu zeigen, übertriebene
Vorstellungen des Sprechens macht und der taube Schüler,
dem ohnehin das Urteil über die notwendige Stärke seiner Laute abgeht, wenigstens im Anfang sich an ein schreiendes
eintöniges Sprechen mit zahlreichen Grimassen gewöhnt, so
daß
er das Zerrbild seines Lehrers darstellt, wenn nicht
frühzeitig
nach
dem Rat
der
Gesanglehrer
mittels
eines
Spiegels sein Auge zum Wächter der Ausdrucksbewegungen gemacht wird.
Die
angedeutete
Art
des
Unterrichtes")
führt
am
sichersten zum Ziel, wenn das Kind mit einem Rest des Hörvermögens den Bemühungen des Lehrers entgegenkommt.
Doch auch ganz tauben Kindern hat man damit die Sprache gegeben.
Je nachdem ein mehr oder weniger großer Rest des Gehörs erhalten ist, kann
derselbe
statt des Auges oder
wenigstens zugleich mit dem Auge beim Sprechunterricht be nutzt werden.
Auch ohne Unterricht lernt das Kind damit
sprechen, aber für uns unverständlich.
Indem nämlich nur
Spuren der Mutterstimme durch sein Ohr zum Bewußtsein
dringen, sondert es allmählich diese Spuren und lernt sie verstehen, wie das vollhörige Kind die volle Sprache der Mutter in Wörter und Begriffe sondern und verstehen lernt.
Für unser Ohr wäre, was das halbtaube oder fast taube
Kind vernimmt, eine Folge unklarer Töne und Laute, ge
wissermaßen eine Reihe schwer zu entziffernder Bruchstücke
von einer verwischten Schrift oder eine Folge unpunftierter hebräischer Zeilen.
Das Kind mit verstümmeltem Gehör ist
nicht anders gewöhnt als Bruchstücke der Rede zu hören; darum hat es gelernt, den Sinn von Bruchstücken zu ver
stehen und nach Bruchstücken seine Gegenrede zu bilden, die ihm selbst deutlich und begreiflich vorkommt, uns aber ein
verworrenes unverständliches Lallen bleibt, falls wir nicht
etwa, wie die Mutter des Kindes, durch lange Gewöhnung
im Verstehen derselben geübt oder feine Sprachkenner sind, denen es leicht wird, verstümmelte Laute zu ergänzen. An diesem Beispiel erkennt ihr, wie eine geeignete Er ziehung imstande ist, Fehler der menschlichen Körperteile und ihrer Verrichtungen dadurch auszugleichen, daß sie die vor
handenen Reste der kranken Teile übt oder den gänzlichen
Mangel ihrer Tätigkeit durch die Hülfe Teile ersetzt.
anderer
gesunder
Ihr ahnt aber auch, daß große Mühe und
viel Zeit aufgewendet werden muß, bis solche Fehler durch
Erziehung ausgeglichen
werden.
Alle die
Jahre rastloser
Anstrengung, welche der Taubstummenlehrer aufwendet, dem Kinde das Sprechen
beizubringen, gehen verloren für den
Unterricht in anderen Dingen, die jedes gesunde Kind, welches
die Fähigkeiten des Hörens und Sprechens ohne Kunsthülfe besitzt, inzwischen mühelos erlernt.
Nun versucht einmal die Anwendung vom Unterrichte der
Taubstummen
auf
die Erziehung
eines
Kindes
mit
geistigen oder sittlichen Fehlern! Seht ihr nicht, daß auch
bei ihm verschiedene Möglichkeiten, auf denen der Fehler be
ruhen könne, erwogen und erforscht werden müssen, daß auch
bei ihm je nach der Ursache und dem Umfang des Fehlers die Hülfsmittel der Heilkunde mit den Hülfsmitteln der Er ziehung zugleich in Frage kommen, daß auch bei ihm der
Erfolg der angewendeten Mittel wiederum abhängen wird
von der Ursache und dem Grad des Fehlers? Vielleicht bringt ein zweites Beispiel vom Grenzgebiet der Heilkunde und der Erziehung das, was ich verlange, dem
Verständnis noch näher.
Ihr habt davon gehört oder es
selbst erfahren, daß Blindgeborene wie Blindgewordene das
fehlende Augenlicht in manchen Fällen durch ärztliche Hülfe wiedererhalten, daß es ihnen in anderen Fällen dadurch er setzt werden muß, daß sie gewöhnt werden, das Erkennen,
das Suchen, das Lesen, welches ihre Augen nicht verrichten
können, mit dem tastenden Finger auszuführen. Bei manchen der unheilbar Blinden kommt es nun neben
der Ausbildung des Tastsinnes in den Fingern allmählich zu einer Vervollkommnung des ganzen Hautgefühls, des Ge ruchs und des Gehörs, welche ihnen gestattet, die verschieden sten Eindrücke der Außenwelt zur Erkennung ihrer Umgebung
so zu verwerten, daß sie sich nach und nach wie Sehende
darin
zurechtfinden.
Einzelne Blinde
brachten es in der
Verwertung ihres Hautgefühls so weit, daß sie die geringsten
Veränderungen im Widerstände
der Luft
empfanden
und
richtig deuteten, so zwar, daß sie in geschlossenen Räumen
und, bei unbewegter Atmosphäre, auch im Freien größere
Gegenstände, Tische, Bäume, Personen, aus der Änderung
der Luftströmungen mehrere Schritte weit erkannten").
Bei anderen entwickelte sich der Geruchsinn in so un gewöhnlichem Grade, daß sie mit seiner Hülfe Personen und
angehörige
ihnen
Dinge
unterschieden").
Wieder
andere
bildeten ihr Ohr zu einer Feinheit, daß sie durch das Gehör geleitet die freiesten Bewegungen ausführten, ja mit Sehen den
in
konnten.
der
Überwindung
von Weghindernissen
wetteifern
Örter, an welchen sie einmal gewesen waren, er
kannten sie nach langer Zeit wieder durch den Schall ihrer
Schritte am Boden und an den Mauern.
In der Nacht
wandelten sie sicherer als am Tage, weil keine störenden Geräusche ihr Ohr verwirrten.
Wege in den Alpen, welche
bei Tage einem Sehenden tausend Schwierigkeiten und Ge fahren bereiteten, ging ein Blinder in der Nacht mühelos,
wenn das Wetter klar und füll war.
Aber das Rollen
eines Wagens, das Sausen eines Sturmes, das Rauschen eines Wasserfalls verwirrte seinen Weg.
Wind und Regen
waren seine 9Zad)tls). So kann also der Mangel eines Sinnes durch die Aus
bildung eines anderen Sinnes oder mehrerer anderen ersetzt werden.
Der Geist, dem die Sinnenwelt von einer Seite
verschlossen bleibt, ruht nicht, bis er zu ihr neue Wege sich
eröffnet hat, die unter gewöhnlichen Verhältnissen von ihm
unbenutzt bleiben.
Ja auch den Reinsten Ausweg, der ihm
zum Verkehr mit der Außenwelt bleibt, benutzt er, um über
alle Hindernisse zu siegen, wie die höchst merkwürdigen Fälle beweisen, in welchen Taubstummblinde und sogar Menschen,
denen außer dem Gefühlssinn alle anderen Empfindungen, Gesicht und Gehör und Geruch und Geschmack, ganz oder
fast ganz zerstört waren, aus der tiefen Abgeschlossenheit ihres Daseins einzig und allein durch den Gefühlssinn zur
Erkenntnis der Welt, der Menschheit und ihrer selbst gelangt sind.
Diese lebendig Begrabenen, in deren Nacht kein Licht-
sttahl aus der umgebenden Welt dringt, deren schweigende Einsamkeit kein Laut unterbricht, deren eintöniges Dasein kein
Duft, kein Geschmacksreiz belebt, denen nichts, gar nichts ver raten will, daß außer ihnen eine Schöpfung voll Licht und
Schall und Genuß webt, daß außer ihnen eine unermeßliche Welt von Gestalten und Gedanken, von Freude und Qual,
von Gut und Böse in ununterbrochenem Wechsel entsteht und vergeht, diese tief Abgeschlossenen fanden den Weg in das gemeinsame Leben der Menschen, wenn ein Lehrer sich ihrer
annahm und die Bewegung und das Gefühl ihrer Finger spitzen
benutzte,
ihnen die erste Bedingung aller geistigen
Tätigkeit und jeglichen Menschcnverkehrs, die Sprache, zu vermitteln.
Zu dem Zweck lernten sie zuerst die greifbaren
Dinge und dann mit den greifbaren Dingen an erhabenen Buchstaben den Namen der Dinge, den Schriftausdruck und
Gedankenausdruck
der Dinge
ertasten;
allmählich wurden
ihnen die feineren tastbaren Eigenschaften
räumlichen
Beziehungen
eigenen Leibe klar.
der Dinge
der Dinge, die
zueinander
und zum
Es entstanden die abgezogenen Begriffe
der Dinge, die Vorstellungen von Raum und Zeit, von Ur sache und Folge, und endlich überlieferten ihnen Fingersprache
und Schriftsprache die Ideen der Menschen über sich und
die Welt und Gott.
Kurz, der Tastsinn offenbarte ihrem
Geiste alle sinnlichen und übersinnlichen Wissenschaften, die in uns durch fünf Sinne gebildet und erweckt werden").
Nicht an allen Sinnberaubten vollzog sich durch solchen Unterricht der Übergang aus dem bewußtlosen Dunkel des ungeborenen Menschen in die Helle des Bewußtseins, welche das Dasein des vollsinnigen Menschen nach der Geburt von
Tag zu Tag mehr klärt.
Bei vielen von ihnen blieb der
Erfolg aus oder war so gering, daß sie im selben Dunkel
die Welt
verließen,
in
welchem
sie hineingetreten waren.
Entweder machten die Bemühungen des Lehrers überhaupt
keinen Eindruck auf sie, sie verharrten in blöder Stumpf sinnigkeit; oder sie übernahmen ohne Begier und ohne Freude
die Anstrengungen, welche das Lernen ihrem Geist auferlegte, und ließen bald wieder fahren, was ihnen mühsam beigebracht
worden war, well sie so wenig damit anzufangen wußten,
wie etwa der zum Einjährig-Freiwilligendienst Gepreßte mit dem fremden Latein und Griechisch, das er für ein wider wärtiges Examen mühsam und unwillig ausgenommen hat.
Die aber, welche den Anstrengungen des Lehrers freudig antworteten, warteten nicht einmal auf den Beginn seiner
Tätigkeit, sondern arbeiteten schon vorher an dem Wege zum
Verkehr ihres Bewußtseins mit der Außenwelt in rastloser Selbsterziehung ihres Tastsinnes, wie Verschüttete in einem
Bergwerk mit allen vorhandenen Werkzeugen dem Licht ent gegengraben und mit scharfer Aufmerksamkeit lauschen, ob
ein Retter ein Zeichen gebe, damit sie ihm durch Pochen den Weg anzeigen, den er nehmen soll.
Die toten Unglücks
gefährten aber wurden nur ausgegraben, um aufs neue be stattet zu werden. Es ist also klar, daß der Versuch geistiger Erziehung
am sinnberaubten Zögling ein Unterricht ist, der gelingt, wenn er an jungen Menschen gemacht wird, welche von selbst
lernen
würden,
falls
der Mangel
ihrer Sinne sie nicht
hinderte, mit der Außenwelt in Verkehr zu treten; der aber mißlingt, wenn er an menschenähnlichen Krüppeln verschwendet
wird, denen außer den Sinnen noch etwas fehlt, was bei der geistigen Erziehung vorausgesetzt wird.
Ganz ebenso, fanden
wir, steht es um die Erziehung der vollsinnigen Kinder. Die einen haben Erfolg im Lernen, weil sie lernbegierig und lern
tüchtig sind, die anderen werden ohne Erfolg unterrichtet, weil sie trotz der vollen Sinne die innere Begabung nicht haben.
Zwischen der gänzlichen Sinnberaubung und der höchsten
Vollsinnigkcit liegen natürlich alle Grade der größeren oder geringeren Sinnesschwäche und ihnen entsprechend hängt der Erfolg oder der Mißerfolg bei der Erziehung das eine Mal
mehr vom Schüler, das andere Mal mehr vom Lehrer ab. Und wiederum bestehen bei Kindern mit gleicher Sinnen
tüchtigkeit die verschiedensten Grade der Lcrnbegier und Lern fähigkeit, die dem Ergebnis der Erziehungskunst natürliche
Schranken setzen.
Wie mit der Schulung des Verstandes, verhält es sich mit der Schulung der Sittlichkeit.
Die sittliche Erziehung
ist entweder die Unterweisung und Übung eines Kindes, das
gerne und willig den Vorschriften folgt, die ihm nicht schwer fallen, vielmehr seiner Natur gemäß sind,
Aufzucht eines
Kindes, das widerwillig
oder sie ist die
gehorcht, weil es
Zwang und Qual in der Unterordnung unter Gesetze em pfindet, die ihm ein Stärkerer aufcrlegt, denen seine Natur
aber entfremdet ist. Auch zwischen dem Kinde mit angeborener
Lust zur Sitte und dem Kinde mit Abneigung dawider liegen alle Grade des Unterschiedes. Worauf beruht diese Verschiedenheit?
Wie kommt es,
daß das eine Kind sich selbst erzieht, das andere von den besten Eltern und Lehrern nicht erzogen wird?
es, daß
Wie kommt
bei dem einen Taubstummblinden die Erlernung
irgend eines Verkehrsmittel mit anderen Menschen, der Finger
sprache oder der Schriftsprache oder der Mundsprache, den
Hunger nach Wissen und Können, nach Wollen und Voll bringen, weckt und täglich mehr nährt, bei dem anderen der
Sprachunterricht
nicht
gelingt
oder sich als eine nutzlose
Mühe des Erziehers herausstellt, die unfruchtbarer bleibt als das Sprechenlehren bei Staren und Papageien und Pudeln? In dem einen, sagt ihr, wirkt ein lebendiger Geist, in
dem anderen fehlt das geistige Leben. Gewiß ist es so.
Wem der Geist fehlt, dem nützen
seine Sinne nichts und dem helfen die besten Lehrer nichts.
Je mehr Geist Einer hat, desto mehr kann er den Lehrer entbehren und desto siegreicher überwindet er etwa vorhandene Mängel seines Leibes.
Der geistig begabte Blinde steht hoch
über dem Vollsinnigen ohne Geist.
Ja der Widerstand, den
die Gebrechen der Sinne ihm entgegensetzen, eröffnen dem Geist mit neuen Aufgaben auch neue Erfolge 15). ist immer die größte Lehrerin.
Die Not
Es ist nicht zufällig, daß
einer der bedeutendsten Blindenlehrer selbst blind von früher Jugend an war"), daß wichtige Entdeckungen in der Kunst
des Unterrichtes der Sinne von Sinnberaubten gemacht worden sind") und daß unter den Blinden sich so manche Ruhm in den Künsten der Phantasie und in den Wissenschaften er
warben").
Wer den meisten Geist hat, ist der Lehrer der
Anderen, auch wenn Fehler seiner Glieder ihn hülflos machen oder die geringere Zahl der Jahre und die Lebensstellung
ihm den Namen des Schülers geben.
Die größeren Geister
sind die Erzieher der Menschen und der Menschheit.
Aber was ist denn der Geist, von dem wir sprechen,
mit dem wir so bekannt tun, als ob wir ihn gesehen hätten, den wir loben, wenn etwas Tüchtiges und Gutes sich kund
tut, den wir schelten, wenn er fehlt? Fragt doch die Weisen wartet
vergeblich
auf
der Erde darum.
Antwort.
Keiner,
der
Aber ihr
ehrlich
ist
und sich des Wortgeflunkers schämt, gibt einen anderen Be
scheid, als ihr euch selbst geben könnt: Wir wissen es nicht. Für unseren Zweck brauchen wir es auch gar nicht zu
wissen. Was wir wissen müssen, das sind nur die Bedingungen, unter welchen die Kraft,
die wir Geist nennen, vorhanden
ist oder fehlt, unter denen sie wirkt oder ruht, unter denen
ihre Wirkungen groß sind oder klein. Die Frage danach beantwortet uns die Wissenschaft des Arztes.
Die notwendige, die unentbehrliche Voraussetzung aller
geistigen Tätigkeit ist das Instrument des Geistes, das Ge hirn.
Jede geistige Empfängnis und jede geistige Äußerung
hängt vom Vorhandensein bestimmter Gehirnteile ab.
Einen
Menschen ohne Gehirn versucht ihr vergeblich zu unterrichten
und zu bilden.
Der geistig höhere Mensch unterscheidet sich
vom geistig niederen in nichts als in der Ausbildung und
Kraft seines Gehirns.
Statt der Ausdrücke, ein Mensch steht
geistig hoch, er ist geistesarm, dürfen und müssen wir sagen, er hat viel Gehirn, er hat wenig Gehirn, wie wir ja auch
die Ausdrücke, er ist stark, er hat viel Muskel, oder er ist schwach, er hat wenig Muskel, in gleicher Bedeutung ab wechselnd gebrauchen.
Wer einem
schwächlichen
Kinde die
Muskelmasse vermehrt, der macht es stark, und wer einem
geistig elenden, einem sittlich minderwertigen Kinde Masse und Tätigkeit bestimmter Gehirnteile vermehren könnte, der
würde es zum verständigen und sittlichen machen. Die geistigen Strafte, Verstand
und Wille, haben die
Erzieher seit Jahrtausenden vergeblich zu vermehren und zu stärken versucht.
Wie wäre es, wenn wir einmal anfingen,
das Organ dieser Kräfte, das Gehirn zu verbessern?
Hängen in der Tat Einsicht und Sittlichkeit von der Be
schaffenheit unseres Gehirns ab?
Wir wollen es untersuchen.
5. Man soll sich gewöhnen, seine Geister kräfte durchaus al» physiologische Funktionen
zu betrachten, um danach sie zu behandeln, anzuftrengen u. s. w., und zu
zu schonen,
bedenken, daß jede» körperliche Leiden, Be
schwerde, Unordnung,
in welchem Teil eS
auch fei, den Geist affizirt. Schopenhauer.
Einige Naturforscher sagen: ohne Gehirn kein Gedanke!
Vielleicht behaupten sie damit zu viel. Sie selbst und wir alle bilden keinen Gedanken
unser Gehirn.
ohne
Aber daraus zu schließen, daß nur, wo Gehirn
ist, der Gedanke webt, das ist nicht weniger eitel als die
Behauptung des Einzelnen sein würde, außer meinem Gehirn
kein Gedanke. Die Natur hat viele Formen, unter denen sie ihre Gaben
verleiht und
ihre Kräfte zeigt.
Sie
läßt den Phosphor
leuchten und das Glühwürmchen, den Blitz und die Sonne:
und wenn sie alle diese Lichtträger vergehen läßt, dann gibt sie anderen Dingen die Leuchtkraft.
Warum sollte sie Be
wußtsein und Erkenntnis auf Gehirnmasse und ihre vergäng-
liche Dauer beschränkt haben?
Sie hat Räume und Seiten,
wohin unser Erkennen nicht gedrungen ist.
So ziemt es uns,
mit Ehrfurcht zu warten, ob uns Geheimnisse unseres Seins enthüllt werden, die wir heute nicht begreifen.
Dieses Menschen
jedoch
ist
sicher
und
Für
unleugbar.
uns
in unserem jetzigen Zustande gibt es keinen Ge
danken ohne unser Gehirn; für uns geht mit dem Verlust
des Gehirnes jede Spur von Bewußtsein und Vernunft und Sitte verloren.
kann
in
Die höchste Einsicht und die festeste Tugend
jedem Menschen
augenblicklich
wenn sein Gehirn verändert wird.
vernichtet
werden,
Das Werkzeug des Geistes
ist das Gehirn und die höchsten
menschlichen Fähigkeiten,
Verstand und Sittlichkeit, sind ebensosehr durch ihre Organe bedingt wie die niedersten *).
Und wie die Erhaltung der
niederen Körperteile von der Wachsamkeit der höheren ab
hängt^), so ist der vorzüglichste Teil wiederum nur völlig
imstande, wenn der übrige Körper wohlauferbaut ist. Die Naturgeschichte des Menschen und der Tiere, die Völkerkunde, die Krankheitslehre, die tägliche Erfahrung, die
jeder Einzelne an sich machen
kann, sie
alle
sprechen
in
gleichem Sinne8). Mensch wie Tier werden blödsinnig, wenn ihr Vorder hirn zerstört wird.
Wird es ganz weggenommen, so bleibt
das Bewußtsein für immer aus; wird es nur vorübergehend
gelähmt durch betäubenden Schlag oder betäubendes Gift, so Sticker, Gesundheit u. Erziehung.
2. Aufl.
5
das
kehrt wieder.
geistigen
Bewußtsein
mit
der
Erholung
des
Gehirnes
Die Klarheit des Bewußtseins und die Höhe der
Fähigkeiten
stehen
im
geraden
Verhältnis
Größe und Entwickelung bestimmter Gehirntcile.
zur
Aus dem
kindlichen unbewußten Dasein gelangt der Mensch zum Ge
fühl
seiner selbst und zum freien Gebrauch seiner Sinne
und Glieder nur unter der Bedingung, daß die Teile seines
Gehirnes auswachsen, welche der Erwachsene vor dem Kind voraus hat. Der Mensch besitzt von allen Tieren im Verhältnis zum
Körper das schwerste Vorderhirn, und der Teil desselben, von dessen Unversehrtheit das Bewußtsein abhängt, die Groß hirnrinde, ist bei ihm am bedeutendsten entwickelt.
spricht dem weitesten
Umfang seines Geistes.
Das ent
Die Tiere,
welche wie der Mensch in Geselligkeit leben und den Trieb
zu holden Künsten haben, teilen mit ihm auch die Ausbil dung der Großhirnkugeln.
Der Vorstellungsreichtum beim Menschen entspricht dem Verhältnis seiner Gehirnmasse zum Körpergewicht und zur Körperlänge.
Finden wir bei den geistig hochstehenden Kultur
völkern, bei Deutschen, Engländern, Flamländern, Franzosen,
Schotten, ein Mittelgewicht von 1300 bis 1450 Gramm, so erlangt bei den Herdenvölkern der Äquatorialneger das Ge hirn kaum mehr als die Hälfte jenes Gewichtes, etwa 750
Gramm, also eine Masse, welche von dem Gehirn unserer
Kinder am Ende des ersten Lebensjahres erreicht oder über troffen wird. Menschen und Völker mit angeborener Minderentwicke
lung des Gehirnes sind auf keine Weise aus dem Stande der
Wildheit zur Zivilisation zu bringen. Die Versuche zivilisierter Eroberer. Negern und Indianern Aufilärung und Gesittung
zu geben, haben keinen Erfolg gehabt*). Bei geistigen Riesen steigt das Gehirngewicht weit über
das Mittel; womit nicht in Widerspruch steht, daß einseitig begabte Menschen, sogenannte Genies unter den Künstlern
und Gelehrten, Musiker, Maler, Schauspieler, Rechenkünstler, Statistiker, recht kleine Gehirne haben, und daß bei den wirk
lichen Gewaltigen, die in hohen Jahren sterben, der Gehirn schwund
des
sich
Greisenalters
als
Gewichtverminderung
merklich macht.
Ausbildung besonderer geistiger Fähigkeiten bedingt beim
Menschen wie beim Tiere Ausbildung
teile.
Das
Tastorgan
unterscheidet sich
vom
des
geistig
Tastorgan
besonderer Gehirn
hochstehenden Blinden
des
ihm
gleichstehenden
Bollsinnigen Ä) wie der große Riechlappen des Hundes, für
den die Erkenntnis der Außenwelt
Nase abhängt wie
fast
so
sehr
von der
für uns vom Auge, sich von unserem
kleinen Riechlappen, der wenig in Anspruch genommen wird, unterscheidet.
Wo
einzelne
geistige
Fähigkeiten
durch
Verlust
5*
der
äußeren Sinne und Glieder untätig geworden sind, da kann der entsprechende Gehirnteil verkümmern.
Geistig hochstehende Völker verlieren an
Hirngewicht,
wenn ihr Dasein in Knechtschaft und Lebenssorgen aufgeht.
So das ehedem hochbegabte Volk der Indier. Bei uns
hat der Mann ein Gchirngewicht von 1370
Gramm, das Weib von 1260 Gramm.
Mag
der Unter
schied auf einer natürlichen Anlage beider Geschlechter beruhen
oder durch die gesellschaftliche Stellung des Weibes hervor gebracht sein, jedenfalls entspricht er dem kürzeren Verstand
des Weibes int allgemeinen. Menschen, die der geistigen Fähigkeiten ganz ermangeln,
haben auffallend kleine Gehirngewichte.
hundert Gramm
Zahlen von fünf
und weniger, wie man sie beim gesunden
dreimonatigen Kinde findet, sind bei ihnen nicht selten.
Ihr
Gehirn zum Wachstum bringen, wäre gleichbedeutend damit, ihnen den Verstand geben.
Das ist keine leere Vermutung,
sondern Erfahrung. Es gelingt in der Tat, bei manchen jener
Idioten die Entwickclungshemmung des Gehirnes und Ver
standes zu heilen.
Das ist der Fall bei denjenigen, deren Gc-
hirnverkümmerung in einer Krankheit begründet ist, welche sich
als sogenannte Kropffucht oder Trottelkrankheit äußert.
wirkt mitunter schon im Mutterleibe auf
Sic
das Ungeborene
ein und verursacht dann die schwersten Grade des angeborenen Blödsinns durch Behinderung des Gehirnwachstums.
Bei
der zeitigen Anwendung der Mittel gegen die Kropfsucht ent wickeln sich entsprechend einem neuen Wachstum des klein
gebliebenen Kopfes und Gehirnes die geistigen Fähigkeiten. Wenn das Kropfübel Erwachsene befällt, so nimmt es auch
ihnen den Verstand in geringem oder stärkerem Grade; und die Wiederkehr des Verstandes hängt auch bei ihnen von
der Heilung des Grundleidens ab.
Wie die Kropfsucht so wird jede Schädlichkeit, welche das Gehirn trifft, für die rüstigsten Geisteskräfte verhängnis voll, gleichgültig ob innere Krankheiten oder äußere Gewalten
oder Gifte es angreifen oder ob ihm einfach die Nahrung
entzogen wird. Jedermann weiß, daß bei Blutleere des Gehirns durch Aderlaß oder durch genügend langes Zudrücken der Halsadern, welche das Gehim speisen, das Bewußtsein so lange ausbleibt,
bis der Blutzufluß wieder hergestellt ist.
Ebenso raubt Druck
auf das Gehirn das Bewußtsein, mag er von außen her am
unvollkommen verknöcherten Schädel ausgeübt werden oder von innen her durch krankhafte Flüssigkeitsansammlungen oder
durch wachsende Geschwülste entstehen. Gifte, die das Gehirn angrcifen, beeinflussen die geistigen
Tätigkeiten in dem Maße als sie auf das Gehim einwirken, gleichgültig ob sie vom Magen oder von anderen Körperteilen
her dem Blut mitgeteilt wurden oder sich bei Fieberkrank heiten, bei Darmleiden, bei Leberleiden, bei Nierenleiden im
Körper selbst bildeten und durch das Blut zum Gehirn ge langten.
Schnelle Vergiftungen wie mit Morphium, Chloroform, großen Weingeistmengen, heben rasch die Geisteskräfte auf, welche ganz oder teilweise mit dem Ausgleich der Vergiftung
wiederkehren.
Langsame Vergiftungen wie bei gewohnheits
mäßigem Genuß geistiger Getränke, bei allmählicher Aufnahme von Blei, Arsenik, untergraben heimlich und schleichend die Gehirntätigkeit, die sich um so schwerer erhoft, je dauernder
das Gift eingewirkt hatte.
Bei den langsamen Vergiftungen wird das Gehirn nicht
im Ganzen auf einmal geschädigt, sondern zuerst in einzelnen
Teilen, so daß die einzelnen Fähigkeiten des Geistes erst nach und nach gehemmt und zerstört werden.
Die Wahlverwandt
schaft der verschiedenen Gifte zu verschiedenen Hirnteilen ist
nun verschieden groß, so daß aus der gesetzmäßigen Reihen folge, in welcher die geistigen Kräfte erlahmen, der Arzt die
Schädlichkeit selbst zu erkennen vermag.
So zeigt sich die
fortschreitende Vergiftung des Gehirnes unter dem Einfluß gewohnheitsmäßigen Weingeistgenusses zuerst im Untergang
der geselligen Tugenden; der Trinker wird unverträglich, auf
brausend, zuletzt roh und gewalttätig, besonders gegenüber
denen, gegen welche er schon für gewöhnlich sich gehen läßt,
gegenüber der Familie, seinen Freunden, seinen Untergebenen. Er wird ungesellig, einsam, menschenscheu.
Nach der gemüt-
lichen Verödung
des Trinkers
kommt seine
sittliche Ver
sumpfung: Verlogenheit, Unredlichkeit, Willensschwäche, Ge
wissenlosigkeit.
Endlich beginnt mit geistiger Trägheit und
Gleichgültigkeit ein fortschreitender Verfall des Verstandes und
der Vernunft. In der Reihenfolge der Zerstörungen verschieden zeigt
sich der Einfluß anderer Gifte und überhaupt aller derjenigen
Schädlichkeiten, welche schrittweise das ganze Gehirn ergreifen.
Wird das Gehirn nicht im Ganzen verletzt, sondern nur
in einzelnen Teilen, so kommt es auch nur zur Hemmung und zum Untergang einzelner Fähigkeiten des Geistes.
So
rauben Verwundungen des Gehirnes je nach der Ausdehnung
und der Stelle, welche getroffen ist, die Gesichtsempfindung,
die Gehörsempfindung, das Gedächtnis für bestimmte Erinnerungsreihcn, das Sprechvermögen, den Wortvorrat, die
Raumvorstellung, die Zeitschätzung, die besonnene Überlegung; oder sie führen zu Veränderungen des Charakters, zum Ver
lust einzelner sittlicher Eigenschaften.
Zahlreich sind die Bei
spiele, in welchen ein Schlag auf den Kopf die Erinnerung für einen ganz bestimmten Lebensabschnitt auslöschte; eine
Gehirnverletzung die Fähigkeit zu sprechen überhaupt oder eine einzelne Sprache, die Schriftsprache und so weiter, ver
nichtete; eine Gehirnkrankheit ungezügelten Geschlechtstrieb bei einem Menschen hervorrief, der sich sonst beherrschte. — Die Bedeutung des Gehirnes und seiner Gesundheit für
die geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Menschen haben
von jeher einzelne Gelehrte, sogar Ärzte, damit zu erschüttern versucht, daß sie sagten, es gibt ja doch Menschen, welche
dumm und trage, bösartig und lasterhaft, kaum zu belehren und schwer zum Guten zu führen sind, ohne daß ein Schaden
des Gehirnes dafür verantwortlich gemacht werden könnte. Bei Verbrechern, bei Irrsinnigen, bei Blödsinnigen haben wir
das Gehirn gesund und schön entwickelt gefunden. Legt solchen Leuten
ein feines Genfer Uhrwerk vor,
welches fülle steht, wiewohl für das gewöhnliche Auge alle Teile
unverletzt
sind.
Sie
bemühen
sich
vergeblich,
mit
Brillen und Vergrößerungsgläsern den Schaden zu entdecken. Gebt das Werk einem geübten und einsichtigen Uhrmacher;
er zeigt euch die Verletzung, welche den Gang der Räder stört, sofort.
Es wird nicht mehr lange dauern, daß Einer behaupten darf, der Geist könne krank sein, ohne daß zuvor das Gehirn gelitten habe.
Man würde ihn mit Recht der gröbsten Un
wissenheit zeihen.
Freilich war es bisher schwer, oft auch
unmöglich, bei den Geisteskranken,
Geistesarmen,
Geistes
schwachen die Verstümmelungen, die Verbildungen, die Mängel
des Körperteiles aufzuzeigen, dessen Bau so ungeheuer ver wickelt, so kunstvoll und wunderbar ist, daß selbst dem er fahrensten Zergliederer die lang vermuteten und immer wieder gesuchten Veränderungen entgehen
konnten,
die
heute
der
Schüler sieht.
Aber nachdem in der jüngsten Zeit die Mittel
gefunden sind, welche es gestatten, nicht nur die kranke Hirn
zelle von der gesunden und die vergiftete von der entgifteten, fonbcut sogar die ermüdete von der ausgeruhten zu unter scheiden, nachdem man angefangen hat, einzusehen, daß eine
große Reihe von Krankheiten, bei welchen jede krankhafte Veränderung der vorhandenen Telle vermißt wird, auf der Minderzahl der ausgebildeten Telle oder auf der Mangel haftigkeit
ihrer Ernährung
beruht"),
wird
der sorgfältige
Untersucher in keinem Falle mehr den Beweis vermissen, daß
bei allen Mängeln und Fehlern des Verstandes wie der Sitt lichkeit erworbene oder angeborene Verbildungen
oder Er
nährungsstörungen des Gehirnes und seiner Teile die Grund lage bilden.
Ein anderer Einwurf, den die Anhänger eines körper
losen Geistes gegen die Abhängigkeit der geistigen Fähigkeiten von dem Bestand und der Gesundheit des Gehirnes immer
wieder erheben, ist dieser, daß doch so mancher Mensch klug und brav und sogar hervorragend begabt und tugendhaft gewesen sei,
bei welchem nach dem Tode ein krankes und
vielfach angegriffenes Gehirn gefunden wurde.
Der Einwurf
ist so vernünftig wie der, den Lungenkranke bisweilen ihrer Umgebung machen, wenn sie zur Vorsicht und Schonung
ihrer Brust ermahnt werden: Ich bin doch nicht brustkrank,
sonst könnte ich ja nicht atmen und singen und treppauf
treppab laufen. — Die teilweise Zerstörung eines Körper teils kann weit um sich gegriffen und seine Leistungsfähigkeit bedeutend herabgesetzt haben, ehe der Laie oder der unauf-
merffame Arzt etwas davon merken, weil sie immer nur darauf sehen, was noch von Kräften vorhanden ist, und nicht
danach fragen, was fehlt.
Bei einem Organ, wie die Lunge,
welche nur die eine gleichmäßige Arbeit der Atmung hat, stellt sich nun wirllich entsprechend der Verminderung seiner
Größe und Gesundheit eine verhältnismäßige Verminderung der Leistung ein.
Im Gehirn, welches nicht ein einheitliches
Werkzeug wie die Lunge ist, sondern ein verwickeltes Gefüge
aus zahllosen Organen, die in geregeltem Zusammenarbeiten das vollbringen, was
wir Denken
und Handeln nennen,
können einzelne Teile mit ihren Kräften verloren gehen und
andere sich auf Kosten der untergegangencn so entwickeln, daß ihre Leistungen bedeutend und selbst erstaunlich werden.
So
kommt es, daß geistesarme Menschen auf einzelnen Gebieten
des menschlichen Wissens und Könnens tausend Gesunde nicht allein erreichen sondern sogar überragen
und
daß sittlich
schwache Menschen in einer besonderen Richtung des Willens mitunter eine außerordentliche Kraft entwickeln. Solche staunt
dann die urteillose Menge an, wie sie Kinder anstaunt, die
ein unerhörtes Wort sprechen, das sie in der Einfalt ihres Gemütes selbst nicht begreifen, oder wie sie im blinden Huhn ein Wunder sieht, wenn es zufällig aus dem Mist einen
Edelstein herausscharrt.
Die tausend unsinnigen Worte des
Dummkopfes vergißt sie, wenn sie ein einziges gescheidtes
hört; das Gebühren des Idioten scheint ihr originell, da sie nicht überlegt, daß eben der Mangel des wichtigsten Bildungs
mittels, der Fähigkeit, die Umgebung nachzuahmen und sich ihr anzupassen, es ist, was die Narren zum Original macht,
und daß es zweierlei ist, ob einer ein Original aus über
legener Freiheit, ein Narr zum eigenen Vergnügen ist, oder
ein unfreier armer Tropf, der nicht anders kann. Zu allen Zeiten und von allen Völkern sind aufgeregte Narren und halbwache Träumer als Hellige und Übermenschen
verehrt worden, wie in Indien die Kuh dem bewogenen Pöbel
um so heiliger ist, je mißgestalteter sie zur Welt kommt.
Die
Zahl solcher Götzen ist der beste Gradmesser für die geistige
und sittliche Unreife der sogenannten Gebildeten eines Volkes. Das Volk, welches in Goethe die Verkörperung des höchsten
und weitesten Wiffens, der edelsten Kunst und des tiefsten Ringens nach Sittlichkeit gehabt hatT) und dennoch den After
rittern des Geistes zujubelt und den Heiligen des Tages nachläuft, ist noch tief in den Kinderschuhen.
Ihm darf man
einreden, daß das Kennzeichen wahrer Geistesgröße eine Bei mischung von Irrsinn ist, daß das Genie nur auf dem Boden
der Entartung wächst.
Ihm darf man seine herrlichen Dichter
und Künstler, Denker und Forscher, welche das unselige Los
was, geisteskrank zu werden, zum Beweis für die krankhafte
Natur alles Großen anführen, ohne daß es solche Gespenster
geschichten abweist.
Ihm darf man
in den Trägern der
höheren Menschheit die angeblich notwendige Verbindung von
Genie und Irrsinn zeigen, ohne daß es sich sagt, daß Ge
sundes und Krankes sich in Jedem mischen können wie reines und unreines Getier im Tuch des Apostels; ohne daß es die schlichte Wahrheit sieht, daß wo Krankes ist, es nur auf der Grundlage des Gesunden und trotz dem Gesunden besteht; ohne daß es erwidert, jeder ursprünglich gesunde Geist müsse
gelegentlich auch einmal krank werden können, wie dem stärk sten Mann einmal ein Arm oder Bein gebrochen wird; ohne
daß ihm einfällt, der Stärkere sei dem
Unterliegen
mehr
unterworfen als der Schwächling, weil er sich den Gefahren mehr aussetzt.
Ihm kommt es nicht in den Sinn, daß schon
eine gewisse Größe des Geistes dazu gehört, wenn seine Er krankung, sein Verlust auffallen soll, und daß nicht gar viele
von der großen Herde einen solchen Überfluß an Geist haben,
daß sie je fürchten müßten, einmal ins Irrenhaus zu kommen. — Anstatt Goethe zum Beispiel zu nehmen, daß „Höher
stehen und Pathologischsein" zusammengehören 8), weil er wie
jeder Mensch
des Krankhaften Einiges zeigt, sollten wir an
ihm lernen, wie abhängig die Geistestätigkeit von der Gesund
heit des Körpers ist, wie das Gehirn und seine Tätigkeit leidet, wenn der übrige Körper leidet.
Jener klare, milde und
starke Mensch, den die schärffte Erkenntnis des Schlechten und
Kranken in der Menschheit nie an ihrem guten Urgrund ver
zweifeln läßt, so lange er selbst gesund ist, verliert seine Freudigkeit, wird verworren, bitter, ungeduldig, als eine ent zündliche Krankheit seine Brust ergreift, fteilich nur so lange, als die Höhe der Krankheit währt.
Ihm war das Kranke,
Ungesunde, Schtöuche verhaßt, weil er an sich selbst es er fahren hat, daß Gesundheit und Kraft die erste Bedingung des Wahren, Gutm und Schönen ist.
Was antwortete er, als
Eckermann ihn fragte, ob die geniale Produktivität bloß im Geiste eines bedeutenden Menschen oder auch im Körper liege?
„Wenigstens, erwiderte Goethe, hat der Körper darauf
den größten Einfluß.
Es gab zwar eine Zeit, wo man in
Deutschland sich ein Genie als klein, schwach, wohl gar buckelig dachte; allein ich lobe mir ein Genie, das den gehörigen
Körper hat"e).
Glaubt es nur und prägt cs tief eurem Gemüte und eurer Erkenntnis ein: Geist und Gehirn sind unzertrennlich,
Gesundheit des Gehirnes und Gesundheit des übrigen Körpers bedingen sich so sehr, daß sie nicht ohne einander bestehen.
Nur im gesunden Körper wohnt der ganz gesunde Verstand
und die ganz gesunde Sitte.
Nie haben in einem elenden
Körper die höheren menschlichen Eigenschaften und Fähig keiten ihre völlige Ausbildung erreicht.
Das ist eine Regel,
die keine wahre Ausnahme erleidet. Der gute und gescheite Mensch mit kränklichem Körper
würde noch besser und gescheiter fein, wenn sein Leib gesund wäre").
Fraget ihn selbst, ob er in den Tagen des Wohl
befindens, wo kein körperliches Übel ihn peinigte, nicht weit besser und klüger war.
„Nachfolge Christi":
Sagt doch auch der Verfasser der
„So lange du gesund bist, kannst du
vieles Gute tun; aber wieviel dir in kranken Tagen gelingt, weiß ich nicht.
Kranksein macht wenige besser" n).
Dir Gesundheit und Kraft des Gehirnes hängt so innig
von dem übrigen Körper ab, daß jenes leidet, wenn dieser an irgend einer Stelle gequält oder verletzt wird,
oft früher leidet als die übrigen Organe.
und daß es
Ein schmerzender
Zahn kann den tiefsten Denker, für den Augenblick wenigstens,
blödsinnig, der Hunger den Sittlichsten unsittlich machen und
ein berauschendes Getränk lähmt zuerst Sitte und Geist und dann die Muskelkraft.
Ein gesundes vollentwickeltes Gehirn in einem gesunden
schönen Körper, das sind die Bedingungen, von denen das Glück und die Freiheit des Einzelnen und der Fortschritt der Menschheit abhängt.
Nicht das Eine, nicht das Andere ist
viel wert, sondern nur beides zusammen.
Ein muskelstarker und gesunder Idiot ohne Verstand und Sitte zu sein, der wie andere Tiere ein freud- und leid loses Dasein bis in ein hohes Alter gleichmäßig fortführt, das kann ebensowenig das Begehren des Menschen sein, wie
hervorragende geistige Fähigkeiten zu haben und sie wegen
einer elenden, gebrechlichen Körperbeschaffenheit nicht benutzen
zu können.
Beide würden ja nicht durch sich selbst, sondern
von der Gnade ihrer Mitmenschen leben, als tierische oder
geistige Schmarotzer
der Gesellschaft,
die
nur unter der
Voraussetzung bestehen, daß viele Andere sich ihrer Erhaltung annehmen,
sie
sich
gewissermaßen zum Luxus als Tisch
genossen halten. Der Städter, der seinen Sohn zu gescheit für körper liche Arbeiten hält und ihn an Leib und Gliedern verkümmern
läßt, um das arme Gehirn zu übermüden, ist nicht klüger als
der Bauer, welcher meint, sein Junge sei zu schwach, um
Landmann zu werden und tauge um so besser zum Pfarrer. Das war ein Krebsschaden vergangener Jahrhunderte,
daß die Menschen sich gewöhnt hatten, Krankheiten als etwas Gleichgültiges oder gar Liebenswürdiges anzusehen, körperliche
Häßlichkeit für eine geringe Schande zu halten und überhaupt wie Leib und Geist so auch Gesundheit, Kraft und Schönheit
zu sondern.
Wir denken zum Teil nicht anders.
Aber es
muß einmal die Zeit kommen, in welcher wir die Pflege der
Gesundheit und Kraft wie eine religiöse Pflicht verehren, in welcher uns der Leib so heilig wie die Seele ist.
Es nutzt
nichts, daß wir zum höchsten Sittengesetz des Christentums das höchste menschliche Vernunftgesetz fügen, wenn wir die
Grundlage aller Sitte und Vernunft, das Naturgesetz unseres
Daseins, verachten und verstoßen").
Vermeint nicht, daß diese Religion neu sei, der törichte
Traum eines Unwcisen.
heit der Menschen.
Sie ist so alt wie die älteste Weis
Schon Homer lehrt uns, daß die Eigen
schaften des Leibes und des Geistes untrennbar sind.
Indem
er Agamemnon die Tochter des Chryses loben läßt, sagt er, daß Klytemnestra sich mit ihr weder an Gestalt noch an Wuchs und darum natürlich auch nicht in Verstand und Kunstfertigkeit vergleichen tönnc13).
Nicht anders läßt Goethe
den Pfarrer urteilen, der mit einem Blick auf Dorothea die Wahl des Jünglings für gut erklärt:
„Glücklich, wem doch Mutter Natur die rechte Gestalt gab... .
ein vollkommener Körper gewiß verwahrt auch
„So
die Seele
„Rein""). Warum opferte Sokrates den Göttinnen der Anmut?
Warum
blickte
Aspasia?'^)
sein Auge
mit Liebe
auf Alkibiades und
Weil er wußte, daß der Leib das Spiegelbild
der Seele und der Ausdruck des Geistes ist.
Alle Übung
des Gehirnes nutzt nichts, wenn der übrige Körper vernach lässigt wird, lehrten die weisesten Griechen des Perikleischen
Zeitalters.
Darum waren die Ringspiele in der Palaestra
ihre Vorschule und darum verbanden sie in den Gymnasien mit den musischen die körperlichen Übungen und gaben Knaben
und Jünglingen keinen Unterricht, der nicht in freier Natur
möglich war").
Standen sie uns in geistigen Dingen darum
Eine einzige falsche Wortbetonung im Theater brachte
nach?
bei ihnen den sogenannten Pöbel in Aufruhr, während die ge
duldigen Sinne unserer „Gebildeten" die größten Scheußlichkeiten unter den Locknamen der Kunst und Wissenschaft ertragen.
Als Rom entartet war, da fand der bekümmerte Patriot kein anderes Rettungsmittel als das Gebet der Jugend an die Götter um Gesundheit des Leibes, damtt in diesem wachse und wohne eine gesunde Vernunft'').
Sogar der Sttfter des Jesuitenordens vertritt den Grund satz:
„In der Seelsorge richtet ein Lot Heiligkeit mit einer
vorzüglichen Gesundheit des Leibes mehr aus als eine aus gezeichnete Heiligkeit mit einem Lot Gesundheit"18).
Nicht zufällig knüpft sich die Befreiung des Deutschen Volkes an die Turnanstalt, welche Jahn im Jahre 1811 in der Hasenheide eröffnete, und nicht ohne List schloß eine frei« heitfeindliche Politik schon sieben Jahre später die Turnplätze
wieder.
Der einzelne harmlose Demagoge war es nicht, den
sie fürchtete, sondern das Wachsen des fteiheitliebenden Geistes
und das Erstarken des sittlichen Nationalgefühlcs in gesun
deren Leibern. Als ein wahrer Vater des Vaterlandes hat sich Kaiser
Wilhelm LL bewährt, da er die körperlichen Spiele und Übungen,
zu denen ein Teil des Volkes sich sein Recht wieder geholt hatte, durch Beispiel und Rat der Jugend zur Pflicht machte"). Sticker, Gesundheit ». Erziehung. 2. Sufi.
6
So vereinigen sich die Stimmen der besten Männer ihrer Zeiten zu dem Preis körperlicher Gesundheit und Kraft als
der unbedingten Grundlage jeglicher Tüchtigkeit.
Keine andere
Grundlage fordern die bedeutendsten Erzieher für ihr Wirken
am kindlichen Zögling.
Die körperliche Unversehrtheit setzt
Rousseau für seinen Emil als gegeben voraus.
Er wählt
sich seinen Emil als gesundgeborenes Kind gesunder Eltern. Basedow, der begeisterte Apostel Rousseaus,
nahm in das
Dessauische Philanthropin nur kräftige wohlgewachsene Knaben
aus gesunden Familien auf, da auch er sah, daß nur an
solchen die Früchte der höheren Erziehungsstufen reifen.
Der
Erfolg hat seine Voraussicht gelobt. Der Philosoph und der Privatmann können sich ihren
Zögling wählen.
Die Eltern und die Gesellschaft müssen
erziehen, was zur Erziehung da ist: Schwächlinge und Krüppel.
Pflicht.
Kranke und Gesunde,
Und damit tun sie einfach ihre
Es bleibt ihnen nicht einmal der Trost, von Wohl-
tätigkeit dabei zu sprechen, den sich Manche so gerne gönnen möchten.
Wenn ihnen eine Einrede erlaubt ist, dann ist es
allein die Frage:
Wie wäre es zu erreichen, daß wir nur
gesunde Menschen bekommen, daß die Kranken sich vermindern
oder ganz zur Fabel werden?
6. Gesundheit ist die Leibe-beschaffenhett voll
lebendiger Arast, die zu jeglicher Tüchtigkeit stht, »acht.
elbre4t bln
Das also steht fest: Alles Geistige und Sittliche hat
im Gehirn seine körperliche Gmndlage.
Im gesunden vollentwickeltcn Gehirn hat menschliche Ver nunft und Sitte ihren festen Hort. In ihm ist die Erkenntnis
des Wahren, die Berwirllichung des Guten und die Empfäng
lichkeit für das Schöne Eins. In ihm gedeihen keine irren, keine abergläubischen, keine lleinmüttgen Gedanken, keine jäm merlichen und verderbten Gelüste und die natürlichen Begier den werden von ihm in den Schranken gehalten, welche die Pflichten gegen den Nächsten ziehen.
In chm reifen die
Früchte des Geistes, welche der Apostel nennt: Liebe, Freude,
Frieden, Geduld, Mllde, Güte, Langmut, Sanftmut, Treue, Bescheidenheit, Mäßigkett, Keuschheit').
Wenn das Gehirn unentwickelt geblieben ist oder mißblldet wurde, weil eine frühe oder späte Krankheit es traf 6»
oder ein siecher Leib eS nicht zur vollen Entwickelung kommen
ließ, dann ist ein Mangel geistiger Begabung die Folge. Wenn es verletzt wird oder wenn ein Leiden anderer Körper teile sich chm mitteilt, dann geht ein Teil des Menschen als denkendes und verantwottliches Wesen verloren.
Vergeblich müht ihr euch ab, Menschen mit krankem Gehirn und elendem Körper den hohen Zielen der Mensch
heit entgegenzuführen.
Im gesunden Leib mit gesundem Ge
hirn und nur in ihm wohnt ein gesunder Geist und erst
wenn die Menschhett sich einmal zur leiblichen Gesundheit durchgerungen hat, dann wird die Erziehung erreichen, was sie will und soll, ohne sich in der Ausrottung von Hinder
nissen, in der Überwindung von Widerständen, in der Er
setzung von Mängeln zu erschöpfen, dann werden verschwunden
sein die krankhaften Stimmungen und Launen des Gemütes,
die Jrrsale und Mängel des Geistes, die Schwächen und Laster des Willens. Leibliche Erziehung ist es, was den Menschen vor Mem nottut.
Erzieht die Kinder zu leiblicher Vollwcrtigkeit, sorgt
dafür, daß im wohlgebildeten und starken Körper ein voll entwickeltes Gehirn ist, und alles Übrige werdet ihr ihnen mit Leichtigkeit hinzu geben.
Die Frage, wie die Grundlage für jene glückliche Ge
sundheit zu legen sei, hat Erzieher und Ärzte schon ost be schäftigt.
Indem
wir
uns
nun ihrer Beantwortung zuwcnden
möchten, werden wir durch die Überlegung aufgehalten, daß
das Wort Gesundheit, welches wir bisher so ost gebraucht haben und immer wieder nennen werden, nicht von Men mit derjenigen Übereinstimmung verstanden und angewendet
wird, welche bei unseren weiteren Untersuchungen wünschenswert, ja unerläßlich erscheint.
Wenn der heidnische Philosoph Demokritus den Satz
ausspricht: „Wo Gesundheit ist, da wächst der Geist, Krank heit aber macht die Seele blind"2) und wenn der christliche
Lehrer Thomas von Kempen sagt:
„So lange du gesund
bist, kannst du vieles Gute tun; aber wieviel dir in kranken Tagen gelingt, weiß ich nicht"*), so verstehen sie unter Ge sundheit offenbar dasselbe, aber etwas durchaus Anderes als
der Mann, der gemeint hat: „Biele Kerngesunde leisten Nichts
und viele Schwache Großes"*).
Dieser nennt einen Menschen gesund, dessen äußere Er scheinung gute Eingeweide, Kraft der Glieder und Tüchtigkeit
der Sinne verspricht, vergißt aber, daß hiermit weniger ein
gesunder Mensch als das gesunde Tier im Menschen be schrieben wird.
Eigenschaften
Jene betrachten am Menschen zuvörderst die
und Leistungen, welche
ihn über
die
Tiere
stellen, und überlegen, wie sich das Höhere verhält, wenn das Medere unvollkommen ist. gründlicher untersuchen.
Doch wir müssen die Sache
Wir haben bisher von leiblicher, von geistiger und von sittlicher Gesundheit gesprochen.
Wir haben die Ausdrücke
gesunde Anlage, angeborene Gesundheit gebraucht.
Wir haben
zwischen
Schönheit,
den
Worten
Gesundheit,
Lebenskraft,
Tauglichkeit, Vollwertigkeit nicht strenge unterschieden. im Gegensatz
haben
zu Gesundheit
die Worte
Wir
Krankheit,
Schwäche, Verkrüppelung, Minderwertigkeit angewendet, von leiblichen Gebrechen, geistigen Mängeln, sittlichen Fehlern als
Zeichen der Ungesundheit geredet. Heißt das nicht, das Wott Gesundheit und seinen Gegen
satz mißbrauchen?
Haben nicht die Motte Gesundheit und
Krankheit einen weit bestimmteren und engeren Sinn? Es scheint so, wenn inan den gemeinen Mann fragt,
was
er unter Gesundheit versteht.
Indem er sich gesund
nennt, meint er, daß sein Befinden von dem, welches er ge
wöhnt ist, nicht wesentlich abweicht, daß er seine gewohnte
Arbeit verttchten kann, daß er sein gewohntes Denken nicht behindett fühlt, daß er seine gewohnte Stimmung, seine ge
wohnten Launen und Neigungen, ja seine gewohnten Fehler
und Irrtümer hat, daß ihm das Essen und Trinken schmeckt
und wohl bekommt, daß er seine regelmäßigen Ausscheidungen hat, schlafen kann
und ausgeruht erwacht, daß er weder
Schmerzen noch Schwäche, weder Fieber noch Husten, weder
Atemnot noch Herzklopfen, weder Angst noch sonstige Stö rungen
seines Befindens oder seines Handelns wahrnimmt.
Er nennt sich oder fürchtet sich dagegen front, wenn daS
Gegenteil von dem einen oder anderen der genannten Dinge oder gar von ihnen allen eintritt. Tauschen sich nun aber die einzelnen Menschen chre
Ansprüche an das, was ein Jeder von ihnen Gesundheit
nennt, aus, so finden sie bald, daß der Gesundheitsbegriff
nach ihrem Sinne in weitesten Grenzen schwankt.
Der Eine
ist schon mit ein paar Stunden Schlaf zufrieden und fühlt
sich nach kurzer Ruhe erquickt
und zu jeglicher Tätigkeit
tüchtig; der Andere klagt über Störung seiner Gesundheit, wenn er einmal den Schlaf nicht fand oder aber zwar die
ganze Nacht geschlafen hat, jedoch vor dem Einschlafen eine Stunde wach gelegen hat oder auch nur eine halbe Stunde
zu frühe erwacht ist.
Der Eine erachtet seine geringe Eßlust
nicht als krankhaft, weil er stets weniger als Andere gegeffen
hat; der Andere hält sich sofort für sterbenskrank, wenn er einmal nicht wie sonst für zwei essen kann.
die bei
der geringsten Verstimmung
ihres
Es gibt Leute, gewohnten Be
findens sich gleich krank nennen und zu Bette legen; und hinwiederum gibt es Leute, die den Mut haben, sich sofort für gesund zu erklären, wenn sie inmitten eines langwierigen
Kranffeins einmal für ein paar Tage können.
das Bett
verlassen
Da ist ein Schwachkopf, den quält es nicht, wenn
er kaum begreifen kann, daß zwischen
zwei
und
drei
ein
bestimmter Unterschied ist, während ein Gelehrter, weil chm
augenblicklich
tiefere Denken schwerer fällt als
das
sich sagt: meine Gesundheit ist nicht
in Ordnung.
sonst,
Da ist
ein Verbrecher, der sich mit Entrüstung dagegen verwahrt, vom
Arzt
als krank
bezeichnet
zu werden,
weil er seine
Taten im Gegensatz zu den meisten Leuten für erlaubt, ja für gut hält; er pocht auf seinen gesunden Verstand: und umgekehrt
erkennt ein Mann, der früher nie aus den Geleisen des bürger lichen Lebens gewichen war, bei einem kleinen Verstoß, den er
gegen die gute Sitte gemacht hat, sich selbst nicht wieder und erklärt denselben
mit einer vorübergehenden leiblichen
oder
geistigen Krankheit. So hat ein Jeder gewissermaßen seine eigene Gesund heit, er mißt sic nach eigenem Gefühl und braucht als Maß
stab seine
gewohnten leiblichen Verrichtungen und äußeren
Leistungen. Fällt ihm ein Hindernis für jene oder ein Mangel in diesen auf, so spricht er, falls sie ihm gering erscheinen, von
Übelbefinden, Unwohlsein, Versttmmung, Störung; treten be deutende Störungen in den Verrichtungen seiner Teile, in
seinem Denken, Fühlen, Handeln hervor, so gebraucht er das Wort Krankheit, beschräntt aber dieses gerne mit einer listigen Willkür auf die gröbsten Störungen seines leiblichen
oder
besser gesagt, tterischen Wesens und hört nicht gerne, daß
man von Krankheit seiner menschlichen Fähigkeiten,
seines
Geistes, seiner Sittlichkeit, seines Willens spricht. Immerhin stimmen Alle wenigstens darin überein, daß
Gesundheit für den Einzelnen zunächst das Freibleiben von Störungen und Verstimmungen aller Art bedeutet. Zweifellos wird aber für den Begriff Gesundheit noch
mehr
verlangt.
Sehr
viele Menschen machen mehr oder
weniger deutlich die Erfahrung, daß sie gegen besondere äußere Einflüsse eine geringe Widerstandskraft besitzen, daß sie leiden
und Störungen erfahren, sobald sie sich ihnen aussetzcn. Ver gleichen sie ihre Erfahrungen untereinander, so gewahren sic
bald,
daß
die
Widerstandsschwäche
störenden Einflüssen
schieden ist.
bei
den
gegenüber
verschiedenen
gesundheit
Menschen
ver
Der Eine setzt sich gerne und ungestraft dem
schärfften Zugwind aus, verträgt aber schlecht warme Lust.
Ein Zweiter wird vom leisesten Luftwechsel empfindlich be rührt
und vermeidet ängstlich rasche Übergänge
aus
dem
Warmen in das Kalte und aus dem Kalten in das Warme :
ein Luftzug ist sein Todfeind.
Ein Dritter erkrankt sofort
heftig, wenn er einmal kalte Füße bekommt.
Bei
einem
Vierten ist der Nacken oder der Kopf oder der Unterleib
empfindlich und er schützt seinen schwachen Tell ganz be sonders gegen Einflüsse des Wetterwechsels oder andere Ein
wirkungen. — Einige sind gegen Lärm und Geräusch, einige gegen strahlendes Licht, einige gegen Gerüche so empfindlich,
daß sie Kopfschmerzen und Erbrechen bekommen und stunden lang
oder
tagelang zu jeder geringsten Tätigkeit unfähig
werden, wenn jene Reize auf sie eingewirkt haben. — Andere
büßen eine Überschreitung ihrer gewohnten Nahrungsmenge oder den Genuß ungewohnter Speisen und Getränke oder die
geringste Verderbnis eines Gerichtes mit schweren Störungen ihrer Eingeweide.
Manche dürfen nicht mit Menschen um
gehen, die an Schnupfen
oder Husten oder irgend einem
Schleimfluß leiden, ohne Gefahr zu laufen, alsbald angesteckt
zu werden. Und so gibt es tausend Abarten in der Empfindlichkeit einzelner Körperteile und gegen verschiedene Einflüsse, und
je nach dieser Empfindlichkeit ist der Schritt von der Ge
sundheit zu Krankheit bei den verschiedenen Menschen ver schieden groß.
Wie es sich mit der Widerstandskraft der niederen Teile und Verrichtungen unseres Leibes verhält, so ist es auch mit seinen höheren.
Das Maß der geistigen Arbeit, dem der
Einzelne sich gewachsen zeigt, die Macht der anstürmenden Gefühlsausdrücke, für die der Einzelne empfänglich und ge
wappnet ist, die Größe der Entschlüsse und der sittlichen An
forderungen, in denen der Einzelne seine Festigkeit und Be harrlichkeit zu zeigen vermag, die Weite der Nächstenliebe, in die der Einzelne aus seinem engen Ich hinausschreiten kann, dir Größe der Ehrfurcht und der Verantwortlichkeit gegenüber dem höchsten Wesen, welche der Einzelne seinem Sein und
Wirken zum Grunde legt, ist, wenn man die Menschen mit
einander vergleicht, unendlich verschieden
und bei vielen so
gering, daß
schon unter den gewöhnlichsten Lebensver-
hältniffen eine krankhafte Schwäche ihrer Leistung hervortritt.
Während nun der Sprachgebrauch eine auffallende Wider standslosigkeit der Haut, des Magens, der Lungen und so
weiter als Kränklichkeit bezeichnet, umgeht er diesen Ausdruck gerne wieder dann, wenn die Sinne, die Nerven, das Gehirn,
der Verstand, der Wille, das Gemüt sich ungenügend erweisen und wendet lieber das Wort Schwäche statt Kränklichkeit an,
wie auch im Gegensatz dazu das Wort Kraft statt Gesundheit.
Indessen sieht gemäß dem, was wir früher über die Abhängig kett der höheren Kräfte des Menschen von bestimmten Teilen seines Leibes dargelegt haben, wohl ein Jeder ein, daß der Arzt keinen Fehler begeht, wenn er auch in ihrem Bereich
ebenso von dem Wott Kränklichkeit wie von dem Wort Krank heit Gebrauch macht und sogar die Ausdrücke Sünde und
Sündhaftigkeit, welche der Priester vom Standpunkt der Re
ligion aus gebrauchen muß, und die Ausdrücke Verbrecher und Verbrechernatur, welche der Sttafrichter als Verweser der Staatsgewalt anwcndet, in die auf dem Standpunkt der Heilkunde allein verständlichen Ausdrücke Krankheit und Kränk
lichkeit übersetzt ^).
Daß nun eine einigermaßen große Widerstandskraft gegen äußere Einflüsse und innere Vorgänge aller Art zu den
Zeichen der Gesundheit gehört, bezweifelt Niemand.
Daß
Schwäche und Kränllichkeit dem Kranksein verwandt, ja bei-
nahe Krankheit selbst ist,
hat der Meister der Heilkunde,
Hippokrates, ausdrücklich bemerkt").
Daß es zwischen Gesund
heit und Kränklichkeit keine bestimmte Grenze gibt, daß der
Übergang von der einen zur anderen fließend ist, gesteht wieder unsere Sprache ein, indem sie zwischen Empfindlichkeit, Ermüdbarkeit, Widerstandslosigkeit, Kränklichkeit, Schwäche
nicht strenge unterscheidet.
Noch etwas Anderes trägt dazu
bei, die Unterschiede
zwischen Gesundheit und Krankheit und Kränklichkeit und ihren verschiedenen Graden zu verwischen: das ist eine Art unschul
digen, ja heiligen Selbstbetrugs, mit dem wir uns das Gefühl der Gesundheit einbilden, wo diese fehlt, mit Hülfe dessen wir
zahllose keine und große Gebrechen und Beschwerden über setzen, die uns am Leben und Handeln hindern möchten, und
durch den wir Mut gewinnen, auch in kümmerlichen Verhält nissen das Dasein zu ertragen und in dem uns bestimmten
Kreise ungehindert und unerschrocken weiter zu wirken. eine spartanische Erziehung
Wo
oder eine preußische Selbstzucht
jene königliche Tugend, gesund sein zu wollen, verliehen hat, da ist die Hälfte aller Schwächen und Krankheiten getilgt.
Freilich hält die schöne Täuschung nicht allzeit stand.
In
Augenblicken unerbittlichen Selbstgerichtes überkommt auch den Willensstärksten die lähmende Erkenntnis, daß all sein Streben
und Arbeiten doch nur ein ohnmächtiges Ringen in Fesseln bedeutet, welche allein das verlorene Zauberwort Gesundheit
sprengen könnte.
Und so gleichen unzählige Menschen, wenn
gleich sie durch ihre Tätigkeit und ihre Leistungen Jedem Be
wunderung und Anerkennung abzwingen, dennoch im Grunde allzusehr dem Knaben, der seine Rolle unter den luftigen Musikanten spielt:
„Ich habe früh das Bein gebrochen,
Die Schwester trägt mich auf dem Arm, Aufs Tamburin muß rasch ich pochen, —
Sind wir nicht froh? — daß Gott erbarm!"')
Wer es auch immer sei, der für sich selbst einen beschei denen Begriff von Gesundheit voll Geduld und Entsagung
sich geblldet und durch ihn mit dem elendesten Dasein sich
ausgesöhnt hat, er möchte jenen
Begriff in
alle
Weiten
dehnen, sobald er als Vater oder als Lehrer die Kräfte eines
lieben Kindes oder Zöglings zu üben sich vomimmt.
Jetzt
genügt ihm nicht mehr jene erbärmliche Mißgestalt von Ge
sundheit, wie sie dem spießbürgerlichen Begriff entspricht.
Er
sucht einen höheren Begriff, und kein Borblld dünkt ihm zu hoch und unerreichbar.
Auch wir können uns der Empfindung nicht erwehren, daß, nachdem wir gemäß dem Bisherigen als Gesundheit des
Einzelnen das Freisein von Krankheiten und die Widerstands kraft gegen Schädlichkeiten
unter den gewöhnlichen Bedin
gungen unseres Lebens bezeichnet haben, ein allzu bescheidener
Begriff von Gesundheit zustande gekommen ist, der überdies
noch dadurch wenig befriedigt, daß er einem jeden Menschen
seine eigene Gesundheit zuspricht.
Wenn es kleine und große, kurze und lange, überhaupt viele und sehr verschiedene Gesundheiten gibt, dann dürfen
wir doch das Wort nicht in einem allgemeinen Sinne gc brauchen, sondern sollten, sobald wir von Gesundheit sprechen,
jedesmal hinzufügen, welche Gesundheit wir meinen.
Falls
es aber eine höchste und vollkommene Gesundheit gibt, dann
wäre diese dem allgemeinen Begriff zu Grunde zu legen. Indem wir nun die größte und andauerndste Gesundheit
als vorbildliche suchen, erscheinen vor unserem Geist Menschen,
denen man in Wahrheit eine fast unbedingte und unbeschränkte
Gesundheit in dem Sinne zugestehen muß, daß sie unter den außerordentlichsten Bedingungen, die über jegliche Gewöhn lichkeit weit hinausliegen, von Zeichen der Kränklichkeit und Schwäche, von Krankheit und Gebrechen frei waren, daß sie
in kaum verminderter Jugend des Lebens und des Geistes die Zahl der menschlichen Jahre erfüllt und es kaum an
sich erfahren haben, daß es Grenzen für das menschliche
Wollen und Wirken innerhalb des Natürlichen gibt. Keineswegs denken wir hier an den unverwundbaren
Leib des gewaltigen Achilles oder des hörnernen Siegfried, an dem nur eine schwache Stelle war, oder an den unbezwing
lichen Geist des Übermenschen8), der mit dem Schrecken der Walpurgisnacht und mit dem Graus der thessalischen Felder
und sogar mit den Müttern ungestraft verkehrte, oder an die
ftagwürdige Sittenstärke des Herrenmenschen"), der die Welt
jenseits von Gut und Böse erobert hat. auch nicht
jene
Wir meinen aber
für uns unerreichbare Tugend, die
schon
im Diesseits die Welt des Vergänglichen und das eigene Ich überwunden hat, die den Leib und den Geist und den Willen,
das ganze Selbst, soweit besiegt hat, daß sie, auf Sinnesgenuß
und Wisien, auf Freiheit und' Ehre verzichtend, dem Leib kaum das Unentbehrlichste gestattet"), in grenzenloser Geduld dem Nächsten dient, den Haß der Menschheit fteudig trägt
und Liebe ohne Maß gibt.
Diese Heiligkeit können wir,
deren Boden die Erde und die ganze sinnenfällige Welt ist,
nicht meinen; sie ist Allem, worin wir bestehen und des Lebens Inhalt sehen, abgestorben; sic trägt nur die Scheingestalt des
Menschen. Woran wir denken, das sind die wirklichen Gestalten jener Helden der Vorzeit und der Gegenwart, auf die der Vater und der Erzieher den Zögling hinweist, wenn er ihm ragende Vorbilder für sein Leben und Streben zeigen will.
Wir sehen vor uns Cäsar, der von Jugend auf in allen
Leibesübungen
gestählt, auf
beschwerlichen Heerfahrten die
streitbaren Völker Galliens und Spaniens und Nordafrikas unterwirft, seine Legionen durch das unwirtliche Germanien und Britannien siegreich führt; der seine Soldaten alle bei Namen nennt und jedem von ihnen Herr und Freund zu-
gleich ist; der als Meister der Rede von Cicero selbst beneidet wird', auf rastlosen Zügen seine unsterblichen Tagebücher und
Werke der Gelehrsamkeit schreibt und zu gleicher Zeit liest
und diktirt; der alle Herzen durch Mllde und Güte gewinnt, keine Wohltat vergißt, aber das Böse in seinem Gedächtnis
auslöscht und, unter den Dolchen seiner Freunde verblutend, kaum an die Verräterei des Besten unter
ihnen glauben
möchte. — Wir sehen Alexander von Humboldt; als Mann
von dreiunddreißig Jahren ersteigt er eine Höhe der Erde,
auf der kein Mensch vor ihm gestanden war; wie er mit
leiblichem Auge die Gebirgsketten der Cordilleren überschaut, so umfaßt er mit dem geistigen Auge das ganze ungeheure Gebiet des Naturwissens und der Menschenkunde; im Alter
von fünfundsiebzig Jahren beginnt er, die Welt der sichtbaren Dinge in einem Buch zu beschreiben, das er ein halbes Jahr
hundert lang in der Seele
getragen hatte,
und
erst im
neunzigsten Lebensjahre legt er die Feder aus der Hand. —
Wir sehen Sopholles in der ersten Blüte seiner Jugend das Siegesfest der Athener durch die Schönheit seiner Gestalt und die Gewandtheit seiner Glieder verherrlichen, als junger Mann
trägt er zum ersten Male und später noch viele Male den
Preis als Dichter vor den größten Dichtern seiner Zeit und
vielleicht aller Zeiten davon; als reifer Mann führt er ein Heer der Griechen ins Feld und als Greis dichtet er das letzte seiner unvergänglichen Werke, um im neunzigsten Jahre,
daS Kunstwerk eines Nebenbuhlers neidlos genießend, freund lich, wie er gelebt, zu sterben. — Wir sehen Leonardo da
Vinci; in einem langen rastlosen Leben fehlt ihm nie die
Rüstigkeit des Körpers, mit welcher er die wunderbarste Viel
seitigkeit eines nie versagenden Geistes verbindet; es war ihm ein Leichtes, eine dicke Eisenstange
mit
den Händen
zur
Schraube zu drehen und eine Glocke, die sonst vier Männer bewegen mußten, allein zu läuten; er hat musikalische In
strumente erfunden und Festungen gebaut, die wunderbarste Reiterstatue gebildet und das Abendmahl gemalt; unersättlich
nach dem Höchsten in Wissen und Kunst und Genuß und
Ehren sttebend wird er tausendfach enttäuscht, aber nie ver
zagt er und in den Tiefen und auf den Höhen des Lebens
stellt er so sehr den vollwerttgsten Menschen dar, daß die Sage einen großen König zu ehren glaubt, indem sie Leo
nardo in seinen Armen sterben läßt. — Wir sehen Sokrates, waffentüchtig, kunstbegabt, an Wißbegierde keinem weichend, an
Kraft und Schönheit der Rede unübertroffen, als Weisester der Menschen vom Gott der Weisheit selbst bezeichnet; in den
Widerwärttgkeiten häuslichen Unfriedens, in den Beschwerlich
keiten der Feldzüge, in den Unbilden der Jahreszeiten zeigt er unbegrenzte Geduld und Ausdauer;
in den Schlachten
schützt er seine Freunde mit eigenem Leibe, auf der Flucht ist er der letzte; über sich selbst hat er unbedingte Herrschaft.
Sange schwankt er als Jüngling, was sein Lebensberuf sei; Sticker, Gesundheit u. Erziehung.
2. Anst.
7
soll er
der
Schönheit
die Wahrheit suchen
dienen
in
mit
bildender
allen Verhältnissen
Kunst
oder
des Lebens?
Schließlich entscheidet er, in einer Zeit, in welcher man an fing, jener auf Kosten der anderen zu opfern, sich der ver
nachlässigten
zu
widmen.
Nun
bleibt
sein
ungebeugtes
Trachten, überall das Wahre zu erkennen und es im eigenen Leben, im Leben der Mitbürger, im Leben des Staates es
geltend zu machen.
Er belehrt Gleichgesinnte und Wider
sacher; er zeigt Jedem, was seines Standes und Berufes sei; er widersteht der Gewaltherrschaft und bekämpft die schamlose
Volksgewalt; der bestehenden Ordnung
aber unterwirft er
sich und fügt sich ihretwillen auch dem mißbrauchten Gesetz; so nimmt er als Greis, seinem Gotte getreu, aus der Hand verderbter Richter heiter den tödlichen Giftbecher. — Wir sehen
Goethe und wir wissen nicht, was wir mehr an ihm bewun dern und beneiden sollen, die edle Gestalt, den Zauber des Geistes, die Milde des Herzens? Wie vereinigt er in schönstem
Gleichgewicht Ausdauer seines Leibes mit Genußfähigkeit und Bedürfnislosigkeit, Vielseitigkeit des Verstandes mit Tiefe und
Unermüdlichkeit, Reinheit des Wollens mit Feuer und Geduld! Alle leiblichen und geistigen Fähigkeiten zu entwickeln und zu üben, das Edelste zu genießen, von Tag zu Tag über sich selbst die Herrschaft zu befestigen, unaufhörlich in Wissen und
Wirken zu wachen, Güte und Hülfe und Treue zu spenden,
Freundschaft und Liebe zu gewinnen und zu verdienen, Ord-
SS nung im Kleinsten und Größten zu stiften, das Zugängliche
zu ergründen und das Unerforschliche unberührt zu verehren, die eigene Würde zu erhalten und sich einer göttlichen Vor sehung getrost anheimzugeben, das war sein Leben, sein leuch
tendes
und
erwärmendes
das
Beispiel,
noch
im Uralter
und im Tode aus der unversehrten Gestalt und Schönheit
seiner Erdenhülle dem staunenden Schüler entgegentritt. Wir sehen Athanasius und Augustinus, Columbus und
Franklin, Boerhave nnd Haller, Washington und den großen
Friedrich und alle die außerordentlichen Menschen und müssen uns sagen: Vielleicht gibt es Höheres als Mensch zu sein;
aber wer berufen ist, in unserer Gestalt auf der Erde zu leben, der müßte ausgewählt sein wie jene. —
Wer aus der Ferne die Alpen erblickt,
der sieht chre
höchsten Berge als reine Spitzen, an denen kein Fehl ist,
in den Himmel ragen; wer aber ihre Nähe ausgesucht hat,
der weiß, daß auch die glänzendsten ihrer Gipfel tiefe Risse und dunkle Schluchten haben, wenngleich die Ferne nichts davon verrät.
So ist auch das Leben der herrlichsten Menschen nicht makellos.
Keinen gibt es unter ihnen, den nicht zeitweise
Krankheiten heimgesucht, Schwächen des Geistes vermindert,
Mängel der Sitte entstellt hätten.
Je genauer der Lebens
lauf des scheinbar Unversehrtesten unter ihnen durchforscht
wird,
um
so
größer,
schier
endlos,
wird
die Zahl
7*
der
Stunden und Tage, wo er krank darniedcrlag, wo er geirrt
und gefehlt hat.
Man würde der Wahrheit Gewalt antun, wollte man diese Mängel nicht sehen und anerkennen;
aber man ver
unglimpft die Menschheit und ihren Schöpfer, wenn man sich das grausame Spiel erlaubt, alle die Mängel, die im Leben
eines Großen unter uns hervorgetreten sind, zu einem Ge samtbild zu vereinigen und, absichtlich die gesunde Grundlage,
an der sie hervortraten, auslöschend,
ein Ungeheuer von
Fehlern, Schwächen und Lastern als angeblich wahres Bild dessen zusammenzusetzen, den das einfältige Auge als einen
Gottgeliebten anstaunt.
Es werden uns solche verzerrten und verkleinerten Bilder
immer und immer wieder vorgehalten").
Sie lehren uns
nur Eines, was ohnehin jeder besonnene Mensch sieht, daß auch
der Vollkommenere
sich
nicht
dem
Geständnis
ent
ziehen darf: „Uns bleibt ein Erdenrest, Zu tragen peinlich,
Und wär' er von Asbest,
Er ist nicht reinlich"12).
So wäre es also mit jenem höchsten Begriff von Ge sundheit des Leibes und des Geistes nichts!
Wenn die Vor
bilder der Menschheit von allem Elend, welches wir selbst tragen, berührt werden können, wo bleibt da der Unterschied?
Er ist vorhanden und nicht zu verkennen.
Was jene
Großen von uns unterscheidet und uns von ihnen ist dieses:
Sie werden von Krankheiten befallen, aber sie genesen davon
und genesen immer wieder davon so
vollständig,
daß sie
nachher sind, was sie zuvor waren, und auch im höchsten Alter nichts oder wenig von dem Siechtum und Greisentum
erspart
zeigen,
welches
bleibt.
Sie irren oft und irren mitunter schwer, aber sie
uns
gewöhnlichen Menschen
nicht
kommen von ihren Irrtümern zurück und lernen davon, sodaß ihr Geist nachher klarer und weiter und beweglicher ist als
zuvor, während wir allmählich oder bald unsere Irrtümer
lieb gewinnen und darin erstarren.
Sie fallen siebenmal am
Tage und fallen oft tiefer als der Alltagsmensch; aber sie stehen auf und, wenn sie sich erhoben haben, so gewinnen sie eine höhere Stufe der Sittlichkeit, durchaus unfähig, sich in die Selbstzufriedenheit bürgerlicher Tugend einzuschläfern
oder in
bequemen
Gewohnheiten
und
kleinen Lastern zu
versumpfen.
Gesundheit kann also unmöglich das Freibleiben von Krankheiten des Leibes und des Geistes bedeuten, ebensowenig
wie die Notwendigkeit zu sterben den Begriff des Lebens auslüscht
oder die Möglichkeit zu fallen die Fähigkeit zu
stehen aufhebt.
Krankwerden, sich irren, sittlich fallen ist so
allgemein menschlich, daß es zum Begriff des Menschen ge hört.
Aber nicht allgemein, außerordentlich und mit allen
Wünschen des Herzens erstrebenswert ist, von Krankheiten und Irrtümern und Fehltritten wieder aufzuerstehen und so
vollständig zu genesen, daß keine Kränklichkeit, kein Rest des Übels, keine Verkrüppelung zurückbleibt, vielmehr jene Steige rung der Kraft einttitt, die eine alte Sage den Riesen An-
taeus von jedem Sturz auf die Erde gewinnen läßt.
Jeder Mensch hat einmal in seinem Leben den Keim der Schwindsucht ausgenommen, aber nicht alle find davon
schwindsüchttg geworden; der Eine hat ihn leicht, der Andere
schwer, der dritte nie überwunden.
Jenen nennen wir gesund
und stark, diesen schwach und kränklich.
Was die großen
Gesunden in der Geschichte der Menschheit von den kümmer lich Gesunden des Alltagslebens unterscheidet, das ist neben
der größeren Widerstandskraft gegenüber gewöhnlichen und sogar gegenüber außerordentlichen Krankheitsursachen zugleich die Genesungsfähigkeit von unvermeidlich gewordenen Krankhetten.
Jetzt wissen wir, glaube ich, was jene größte und aus dauerndste Gesundheit ist, die wir suchten.
Sie ist nichts
Anderes als Lebenskraft im höchsten Maße, sie ist die Leibes beschaffenheit voll lebendiger Kraft, die zu jeglicher Tüchtig
keit bereit macht; sie ist die Schwungkraft in den Gliedern,
im Geist, im Gemüte, die den Auserwählten über das all
gemeine Elend hebt, die ihn vor Sttllstand und vor Rückschritt bewahrt, die ihn zu rastloser Übung
und Vervoll-
kommnung aller menschlichen Anlagen treibt und bis zum Tode fortschreiten läßt.
Sie ist die Genesungsfähigkeit, ver
möge deren der Gottbegnadete aus allen Einflüssen,
denen
Leib und Geist und Sitte der meisten unterliegen, als Sieger hervorgeht. Wo Ungesundheit ist, da bleibt die Krankheit Siegerin, wo Gesundheit ist, da wird sie besiegt.
Eine Krankheit, die
völlig überwunden wurde, nahm nur so viele Tage aus dem Leben des Befallenen, als sie dauerte, und danach ist der
Mensch wie zuvor, oder in vielen Fällen widerständiger als
zuvor.
Eine Krankheit, die nicht zur völligen Heilung geriet,
die im Körper fortschleicht oder Verstümmelungen hinterlassen
hat, vermindert den Menschen um so viel, als sie Teile
seines Körpers besetzt hält oder vernichtet hat.
Sie ver
mindert ihn um so mehr, je edler der angegriffene Teil und
je wichtiger er für den Einzelnen ist.
Der Verlust des Ge
hirnes macht den Menschen minderwertiger als der Verlust aller Glieder; denn er setzt ihn auf die Stufe des Tieres
hinab.
Der Verlust eines Fingers ist für den Lastträger zu
verschmerzen, für den Handarbeiter schwerer zu ertragen, für
den, dem jeder einzelne Finger ein wichtiges Werkzeug ist, wie dem Geiger, dem Flötenbläser und so weiter kaum er setzlich; aber gänzlich unersetzlich erscheint er uns, wenn wir
nicht ein mehr oder minder brauchbares Stück der Gesellschaft
sehen wollen, sondern den ganzen, den vollkommenen Menschen.
Durch den Verlust oder die Schwäche eines Körperteils
wird ein Kind von vornherein von all den Bestimmungen und Tätigkeiten des bürgerlichen Lebens ausgeschieden, die
von der Unversehrtheit des betreffenden Teiles abhängen; da bei kann es immerhin noch ein nützliches Glied der Gesell
schaft bleiben, wenn der Fehler nicht übermäßig ist. Von dem höchsten Begriff des Menschen ist es durch den kleinsten Schaden ausgeschieden.
Wie wäre aber die Grundlage zu legen für jene glück liche Gesundheit des Kindes, die mit leiblicher Vollwertigkeit gleichbedeutend ist?
7. Wie du anfingst, wirst du bleiben,
So viel auch wirket die Not Und die Zucht, da- Meiste nämlich
vermag die Geburt. Hölderlin.
Wovon also hängt die Vollwertigkeit des Kindes, des
zukünftigen Menschen ab? Die Antwort auf diese Frage, mit welcher sich Unzählige beschäftigt haben, ist sehr verschieden ausgefallen, je nachdem man die Ursache der körperlichen und geistigen Schäden in
einer erblichen Anlage oder in äußeren Schädlichkeiten, unter
welchen der junge Mensch sich entwickelt, gesucht und zu finden geglaubt hat.
Die Einen sagen: Pflegt eure Kinder von Geburt an richtig und es wird nicht fehlen, daß sich Leib und Geist
trefflich entwickeln. Kinder sind zarte Pflanzen, die man vor
den Unbilden des Wetters und der Umgebung hüten, gegen Sonnenbrand und Winterftost schützen muß, damit sie zu
starten fruchtbringenden Bäumen erwachsen. — Aber warum
mißraten denn so viele Kinder trotz der sorglichsten Pflege
und Hütung, und warum gedeihen so viele andere trefflich,
die von der Stunde der Geburt ab beinahe schutzlos auf wachsen müssen und weiter nichts haben als die kümmerlichste
Notdurft des Leibes? Ihr nährt die Kinder zu schlecht, rufen Andere.
Gebt
ihnen möglichst früh Fleisch und Eier und stärkende Getränke
und ihr erzieht Mustermenschen.
Der Rindsbraten macht
den Engländer. — Als ob es in England keine elenden und
schwächlichen Leute trotz reichlichster Ernährung gäbe und als ob nicht in Südtirol, wo die Menschen buchstäblich zeitlebens nur von Milch und Wasser, von Brot und Maispolenta leben, der gesundeste, stärkste und schönste Volksschlag sich fortpflanze!
In Indien bilden, nachdem das Kind von der
Mutter möglichst spät entwöhnt worden ist, Reis und Wasser und höchstens gedörrte Fische mit wenig Milch die ausschließ
liche Nahrung, und davon erhält sich selbst int entnervenden
Tropenklima
ein schönes ausdauerndes Geschlecht, welches
eine große Anzahl unserer Kinderkrankheiten nicht kennt und
angeborene Mißbildungen des Leibes und des Geistes nur
fetten sieht'). Die grönländischen Eskimos nähren ihre Kinder
mit der Milch der Mutter oder des Renntiers; später bildet das Fleisch der Meertiere, der Seehundspeck und, wenn es
hochkommt, der Inhalt des Renntiermagens die Nahrung. Auch bei ihnen gibt es nicht mehr Schwächlinge und Kränk-
finge als bei uns.
So ist unter allen Himmelsstrichen die
erste Nahrung des jungen Menschen Milch, die nur zu seinem
Schaden durch andere Speisen ersetzt wird;
später wechselt
unter dem Einfluß der verschiedenen Himmelsstriche Nahrungs
gelegenheit und Nahrungsbedürfnis.
Wie aber auch die Er
nährung sei, immer und überall sehen wir unabhängig von ihr vollwertige
wie
minderwertige
Menschen heranwachfen
und des Lebens äußerste Grenze erreichens.
Härtet die Kinder früh ab, fordern wieder Andere, und ihr erzieht eine leiblich gesunde und geistig frische Nachkom
menschaft.
Wollt ihr den Geist des Kindes kräftigen, so übt
die Muskeln, ruft schon Montaigne seinen Zeitgenossen ju3).
Kaltes Wasser und Turnen! lautet ein immer wiederkehrendes Schlagwort unseres Tages. — So einfach ist die Lösung unserer Frage nun auch nicht; es gibt zahllose Kinder, welche
zu keiner Zeit ihres Lebens die vorgeschlagenen Abhärtungs
maßregeln vertragen und zu den geforderten Muskelübungen gar nicht die Kraft haben.
Beide Maßnahmen sind vorzüg
lich und notwendig, um eine kräftige Natur zu erhalten, auch
wohl geeignet, die wankende Gesundheit wieder herzustellen
und neu zu befestigen;
aus
aber sie sind durchaus unvermögend,
einem schwächlichen Körper einen starken zu machen.
Vielmehr können sie den schwächlichen Körper gänzlich zer
rütten.
Man rühmt von den alten Deutschen, daß sie die
Neugeborenen während des Winters in das Wasser der zu-
gefrorenen Flüsse und Seen tauchten. Das war offenbar das
beste Mittel, sich der schwächlichen Kinder zu entledigen, und nicht schonender als die Gepflogenheit der Spartaner, ihre Schwächlinge und Krüppel in das wilde Gebirge auszusetzen.
Abhärtung um jeden Preis ist ein Unternehmen der Unver
nunft.
Das eine Kind verträgt die schlimmsten Roheiten
rücksichtsloser Abhärtung, das
Versuch.
andere
nicht den mildesten
Je jünger ein Kind, um so empfindlicher ist es
gegen Überansttengung seiner Glieder und gegen die Wir
kungen der Kälte.
Eine einzige Übermüdung, ein einziges
Flußbad verdirbt in der ersten Kindheit oft mehr als monate lange Abhärtung nutzt. Die Kindersterblichkeit ist im Sommer
bei den Armen am größten infolge der Durchfälle durch ver
dorbene Milch, im Winter bei den Reichen infolge der Katarrhe
durch unvernünftige Wasseranwendungen.
Nicht durch ver-
ftühte Übungen wird Leibeskraft erworben, sondern durch die
natürliche Entwickelung und Erstarkung der Körperteile bei angemessenem Gebrauch.
Wie die Bewahrung des kindlichen
Verstandes vor dem Irrtum und der kindlichen Erfahrung vor dem Laster alle frühen Belehrungen über Wahrheit und Tugend an Nutzen weit übertrifft, so ist auch die Abwehr
von Krankheiten, Unbilden und Überansttengungen für den zarten unentwickelten Körper der ersten Kindheit wichttger
als aller Turnunterricht und alle Wasserkünste.
Die vor-
sichttgeren Ärzte raten also entschieden und immer mehr von
erzwungenen Übungen während der ersten sechs oder sieben Lebensjahre ab, um desto stärker die Notwendigkeit zu be tonen, daß dem Kinde die Gelegenheit gegeben werde, seinen
Körper nach eigenem Drang im Spiel der Glieder auszu bilden, weniger in der Absicht, nicht vorhandene Kräfte zu
entwickeln als schlummernde nicht in Untätigkeit ersticken zu lassen.
Daß sie damit keine Verweichlichung der Jugend
empfehlen wollen und daß sie sich nicht widersprechen, wenn sie während der zweiten Kindheit, nach dem sechsten oder siebenten Jahre durch Leibesübungen, Schulturnen, Singen,
Schwimmen und so weiter wirkliche Anstrengungen von der Jugend verlangen, bedarf wohl keines Erweises *).
Schonung und Übung, sagt der Vierte, möget ihr noch so umsichtig verteilen, ihr werdet damit vielleicht ein schwaches
Leben,
schwachen Verstand,
einen
einen schwachen Willen
unterstützen, aber nie einem Schwächling die Kraft geben, welche sich selbst Hilst, welche allen äußeren Übeln zum Trotz durchdringt.
Die leiblichen und geistigen Fähigkeiten werden
nicht erworben;
es sind natürliche Anlagen, von der Natur
der Erzeuger abhängig. zeugen
gesunde
schwächlichen
und
Nur gesunde und starke Eltern er
starke
Kinder;
von
kränklichen
und
Eltern werden minderwertige Kinder geboren.
Daß es endlich nur vollwertige Menschen gebe, dafür bleibt einzig dieser Rat: die Gesunden allein sollen heiraten. —
Die Erklärung des Übels, welche wir vernehmen, scheint der
Prüfung sehr wert. ist empörend.
Aber die Abhülfe, welche empfohlen wird,
Das Volk würde sich mit Recht um solche
spartanische Maßregeln der Gelehrten nie kümmern und der
letzte Rest eines gesunden Instinktes müßte Alle zum heftigen
Widerspruch entflammen, wenn der Vorschlag jener Weisen nach ihrem Wunsche zum Gesetz erhoben würde.
Ein krankes
Kind, ein einfältiges, selbst ein schlechtes Kind ist immer noch besser als gar keines!
ruft die trostlose Mutter am Sarge
des elendesten der Wesen, das sie geboren hat.
Ein Vater
kann seinen Sohn verstoßen, seine Tochter verfluchen, aber er wünscht sich nicht, daß sie nie geboren wären.
Und wenn
Eltern alles erdenkliche Unglück in einer Reihe mißratener
Kinder erlebt haben, immer wieder erhoffen sie von einem
neuen Sprößling, daß endlich in ihm wahres Elternglück chnen zuteil werde.
Wo die Menschen anfangen, die Zeugung
der Kinder willkürlich zu betreiben und nach ihrem kurzen
Verstände künstlich zu beschränken, da beginnt ein rascher
Verfall der Familien und Völker und ihre Rolle in der Geschichte der Menschheit ist schnell ausgespielt.
Wenn
also die Zuchtwahl nicht ausführbar
und die
körperliche Pflege nicht ausreichend ist, ein vollwertiges Ge
schlecht hervorzubringen, gibt es dann gar keinen Ausweg aus dem Jrrsal von Schwäche und Kränklichkeit, welches das
Menschengeschlecht gefangen hält?
Vielleicht findet er sich, wenn wir weiter und gründlicher
die Untersuchung verfolgen, wie es kommt, daß die Menschen
nur zum Teil gesund sind, woher die Minderwertigkeit der Meisten? Fragen wir einmal die kränklichen Menschen selbst oder
ihre Angehörigen, was ihre kleineren und größeren Gebrechen
verursacht hat. Krankheiten
Die meisten werden sagen, daß überstandene
oder eine falsche Erziehung oder der schädliche
Einfluß der Schule, des Militärdienstes, des Gewerbes, die
Schuld tragen.
Wir müssen die Anklagen prüfen.
Was zunächst die Krankheiten angeht, welche von außen an den
Menschen
herantreten,
so
sind sie
es im aller
seltensten Falle, die ihn für sein Leben minderwertig machen. Der von Geburt an kräftige Mensch wird überhaupt nicht
leicht krank; nur besonders heftigen Einflüssen unterliegt er
und wenn er durch sie in eine Krankheit gefallen ist, so stirbt er daran, oder er wird bei richtiger Pflege und mit
unter sogar trotz einer unrichtigen wieder gesund und rüstig.
Anders der schwächliche Mensch; der leidet schon von gering» fügigen Einflüssen, schleppt sich mit den Resten des Leidens
ost zeitlebens umher und wird von
den Beschwerden trotz
aller Fürsorge nicht frei; er erleidet Krankheit um Krankheit,
Rückfall
um Rückfall,
von
jeder neuen Erkrankung wird
mehr und mehr seine Kraft verzehrt und sein Widerstand
vermindert gegen das Andringen der Krankheitserreger, die uns beständig umgeben.
Freilich kann am Ende auch der kräftigste Mensch sogar
von kleinen Schädlichkeiten mürbe gemacht und aufgerieben werden.
Das lehren die Erfahrungen über die Gewerbe
krankheiten, welche in bestimmten Arbeitszweigen durch die
stete Wiederkehr geringfügiger Nachteile für die Gesundheit, durch Staub, kleine Giftmengen, Nervenermüdungen, usw. entstehen und schließlich die beste Kraft untergraben.
Aber
es bedarf des unausgesetzten Andringens solcher Krankheits
ursachen durch Jahre und Jahrzehnte, wenn die schlimme
Wirkung sich zeigen und unheilbar werden soll, und es be
darf sehr häufig der Beihülfe anderer verderblicher Gewohn heiten,
des Übergenusses
von schädlichen Reizmitteln und
Genußmitteln, von geistigen Getränken, Tabak, geschlechtlichen Ausschweifungen, damit die sogenannten Gewerbekrankheiten
den Widerstand des gesunden Körpers brechen.
Bedenken
wir überdies, daß auch in ganz unschädlichen und leichten Gewerben stets eine Zahl von Schwachen und Kranken sich
findet, die ihre Tätigkeit als gesundheitswidrig und lebens verkürzend beschuldigen, so kann kein Zweifel daran sein, daß
in sehr vielen Fällen ganz andere Ursachen für die Schwäche
und Kränklichkeit als die vermeinten gewirkt haben. Wie groß ist denn überhaupt die Zahl derer, welche
gesund und stark in ihren Lebensberuf eintreten? Wir haben früher festgestellt, daß nur ein Viertel aller
männlichen Kinder den Grad körperlicher Entwickelung erreichen,
der sie zum Heeresdienst tauglich erscheinen läßt. Wir müssen
jetzt hinzufügen, daß auch von diesem Mertel noch eine nicht Leine Zahl solcher, die anfänglich zum Heer zugelaffen waren,
nachträglich ausgeschlossen werden muß, weil sich über kurz oder lang körperliche Mängel zeigen, die anfänglich übersehen
worden sind oder erst im Dienst sich entwickelt haben. Fragen wir diese nachträglichen Invaliden nach der
Ursache ihrer Entwertung, so hat den meisten von ihnen, nach ihrer Meinung, der Dienst geschadet. Die anderen aber,
welche von vornherein zum Waffendienst nicht zugelaffen
waren, schieben mit seltener Einmütigkeit ihre körperliche Schwäche auf die Schule, und Familie und Militärbehörden
stimmen der Anllage bei.
Die Lehrer laffen auf ihren
Schulen den Vorwurf nicht sitzen, sondern berufen sich auf die Tatsache, daß schon zu den Schulbänken eine große Zahl
der Kinder schwach und kränklich gelangt und viele andere wegen verschiedener Fehler gar nicht zugelaffen worden sind.
Sie schieben also die Schuld mit anscheinender Gerechtigkeit weiter auf die Eltern, und die Eltern — sie Lagen, falls
sie überhaupt zugeben, daß ihr Junge immer ein Sorgenkind
von früh auf gewesen ist, in ihrer Ratlosigkeit den lieben Gott oder den tückischen Zufall oder schwere Zahnung ober
den Hausarzt oder das Kindermädchen oder sonst wen an. So schiebt Einer die Schuld auf den Andern und keiner will sie behalten. 6ti