Gesundheit und Erziehung: Eine Vorschule der Ehe 9783111543642, 9783111175539


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German Pages 275 [280] Year 1903

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Table of contents :
Vorwort zur zweiten Auflage
Einführung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
Belege und Bemerkungen
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Gesundheit und Erziehung: Eine Vorschule der Ehe
 9783111543642, 9783111175539

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Gesundheit und Erziehung Einr Vorschule der Ehr von

Georg Sticker Prof. Dr. mrd.

Ich weiß wohl, daß man euch

beflogen, euch trösten, euch auf» richten muß; aber vor Allem muß

man die Wahrheit sagen.

Fönelon.

Zweite vermehrte Auflage

Gießen Z. Nicker'sche Verlagsbuchhandtung (Alfred Cöyehnann) 1909.

Drmk vo« r. «. Röder in LetpAtg.

üirwort M Mette« Auflage. ES gereicht mir zur Freud«, mein Büchlein, welches zuerst im Jahre 1900 erschienen ist, bereits nach zwei Jahren zum zweitenmal in die Öffentlichkeit senden zu dürfen.

Auf seinem ersten Wege sind ihm zahlreiche freundliche Zustimmungen und Danksagungen zuteil geworden.

Sogar hat

Dieser und Jener ihm heimlich Sätze und Anregungen abge­

nommen, um sich öffentlich damit zu schmücken.

Ich hoffe,

daß, nachdem Einiges an ihm verbeffert, Mehreres hinzugesetzt

ist, es auch auf seinem zweiten Gang wohlwollenden Menschen

lieb werde. ES hat die Absicht, jungen Leuten, die aus dem Eltern­ haus und der Schule in das freiere Leben treten, ärztliche Aufklärung über Dinge zu geben, auf welche viele von ihnen mit Unruhe oder mit Leichtsinn sehen, je nachdem ihre Er­

zieher beim Abschied davon zu sprechen sich scheuten oder vor­

her den unreifen Jüngling unvorsichtig daran teilnehmen ließen. Steffen Erziehung abgeschlossen werden soll, der muß in jene Dinge klar und täuschung-los eingeweiht werden. Sie sind

ernst.

In ihnen liegt die Strenge deS Lebens, das auch ernst

und viel ernster ist, alS die Jugend ahnt. Möge sie jene Dinge ernst behandeln lernen, damit sie im übrigen auf ihr goldenes Recht, da- Leben heiter zu nehmen, nicht zu verzichten braucht.

Gießen, im August 1902.

Einführung. Wir kranken an vermeidbaren Übeln.

Was Rousseau für die körperliche Erziehung des Men­ schen gelehrt hat, haben Andere vor ihm und nach ihm gesagt,

Einige besser, die Meisten schlechter, überzeugter und eindring­ licher Niemand als er.

Selbst den unabhängigsten Geistern,

einem Basedow, einem Kant, einem Pestalozzi, sogar einem Goethe und Jean Paul schien nichts Wesentliches mehr zu sagen übrig, nachdem Rousseau gesprochen hattet*). Geringere

Geister zeigen, auch wenn sie sich frei geberden, ihre Ab­

hängigkeit von dem Gesetzgeber aller zukünftigen Erzieher deut­ lich, am auffallendsten da, wo sie die kleinen Irrtümer und

Sonderbarkeiten des Meisters ausbilden und übertreiben; von denen nicht zu reden, die in maßloser Nüchternheit einfache

Auszüge aus Emils Erziehungsgang oder Auszüge aus Aus­

zügen für ein eigenes Werk halten. ♦) Die Zahlen beziehen sich auf Anmerkungen am Schlüsse deBuches. Sticker, Gesundheit u. Erziehung.

L Aust.

1

Wer einmal das Naturgemäße entdeckt hat, kann nicht mehr übertroffen werden; jeder Versuch, seinen Gesetzen aus­

zuweichen und besondere zu machen, erscheint nach ihm eitel.

Die Wahrheit selbst huldigt ihm. —

Rousseau kümmert sich, wie sein Vorgänger Locke2), nur um die Erziehung des Gesundgeborenen; den kränklichen und schwächlichen Zögling weist er ab.

Der Erzieher sei kein

Krankenwärter und dürfe seine Zeit nicht verlieren, ein un­

nützes Leben zu pflegen. Diese Worte erscheinen härter als sic sein sollen. Rousseau selbst spricht es aus, daß abgesehen von jeder Leistung für die Gesellschaft der Einzelne der Menschlichkeit dadurch allein

schon nützt, daß er überhaupt auf der Welt ist.

Und den

scheinbaren Widerspruch begeht er absichtlich, um die in der

Ausführung unerschöpfliche Aufgabe der Erziehung für eine grundsätzliche Erörterung zu vereinfachen.

Ein Vater, sagt er, hat keine Wahl und darf keines seiner Kinder, die ihm Gott schenkt, auf Kosten der anderen bevor­ zugen.

Ob sie verkrüppelt sind oder nicht, ob sie siech sind

oder kräftig, jedes ist ein anvertrautes Pfand.

Aber der Er­

zieher, der sich seinen Zögling wählt, wird natürlich nur das Kind übernehmen, welches durch seine körperlichen Anlagen

eine gesunde Entwickelung des Geistes und der Sittlichkeit verspricht. Kränkliche und verkrüppelte Wesen geben diese Gewähr

nicht.

Für sie gilt nicht einmal immer oder auch nur häufig

das Wort Senecas, welches Rousseau seinem Erziehungswerk

vorsetzt: daß wir an heilbaren Übeln kranken. Nur im gesunden Körper webt eine kraftvolle Seele.

Ein siecher Leib schwächt auch den Geist. —

Die Frage, was die Eltern tun können,

um gesunde

Kinder zu erhalten, liegt dem Zwecke Rousseaus ferne.

Emils

Nachkommen können nicht anders als gesund zur Welt kommen. Über die Ursachen und damit über die Verhütung der angeborenen Schwächlichkeit und Kränklichkeit des Leibes und des Geistes weiß Rousseau und wissen, so viel ich sehe, alle

Nachfolger auf seinem Gebiet ebensowenig wie seine Vorgänger. Sie nehmen die neugeborenen Kinder, je nachdem sie sind,

als ein gutes oder ein schlechtes Geschenk der launischen Natur

und betrachten ihre unerfreulichen wie ihre erfreulichen Eigen­ schaften als notwendige Ergebnisse endloser Anstrengungen der

Natur, stets Anderes und Neues hervorzubringen; oder sie er­ klären, als Umkehrer der Darwinschen Entwickelungslehre, die

angeborenen Mängel für Zeichen natürlicher Entartung: die Familien sollen wie die Einzelnen eine bestimmte Lebensdauer

haben und nur noch lebensschwache Triebe hervorbringen können, wenn mit zunehmendem Alter die vom Stammhalter über­

erbte Kraft zu verlöschen beginnt.

Die meisten fragen über­

haupt nicht nach natürlichen Ursachen der Erscheinungen, son­ dern begnügen sich damit, ihren sittlichen Grund zu suchen; sie



sehen im Kranken und Schlechten des Kindes die Erbsünde des

Urzeugers oder im ganzen neugeborenen Leben die Schuld eine­

früheren Daseins, die von Mutterschoß zu Mutterschoß fliehen muß, bis sie endlich in höchster Entsagung erlöschen bars3).

In der Zuversicht, daß unser übersinnliches Wesen und unser natürliches Dasein im innigsten, wenn auch für uns unbegreiflichen Zusammenhang stehen und daß, wer die Ge­

setze des einen redlich sucht, nicht fürchten muß, mit denen des andern in unauflöslichen Widerspruch zu geraten, kümmere ich mich in meinem Buch zunächst um die sittlichen Ursachen

der angeborenen Übel nicht, sondern suche die natürlichen, um zu sehen, ob begründet die nimmerruhende Hoffnung des Menschengeschlechtes sei, sich aus dem Jrrsal leiblichen und sittlichen und geistigen Elendes kraft der Naturgesetze schon

im Diesseits herauszufinden, oder ob sie für dieses Leben entsagen und sich einzig auf ein Jenseits heften müsse, in

welchem die christtiche Religion einem Jeden, der zur Kind­ schaft Gottes gelangt ist, Erlösung und Vollkommenheit ver­ spricht. —

Für die Förderung schwächlicher und kränklicher Kinder

haben in neuerer Zeit Ärzte den Eltem und Lehrern wert­

volle Raffchläge gegeben.

Aber die Frage, was die Eltem

tun können, um keine kranken Kinder zu bekommen, werfen auch sie nicht auf oder beantworten sie mit der empörenden Forderung, nur gesunde Eltem dürfen Kinder zeugen.

Hufe-

land betont den Wert einer guten Gcburtsstunde für ein langes

und gesundes Leben; Hartmann spricht in seiner „Glückseligkeitslehrc

für das Physische Leben des Menschen" von der

Vererbung der Krankheitsanlagen. unserer ersten Stunde

zu

Aber wie die neidische Fee

versöhnen, wie der bösen Ver­

erbung zu begegnen sei, das wollen wir wissen.

Brücke be­

antwortet mit großer Umsicht die Fragen: „Wie behütet man

das Leben und die Gesundheit seiner Kinder?"') sage uns doch

Aber so

auch, wenn du kannst, wie verhütet man

Schwäche und Kränllichkeit der zukünftigen Kinder? Wissen wir nichts von den natürlichen Ursachen des an­ geborenen Elends? Entziehen sich diese unserer Gegenwirkung?

Ist es wahr, was in Entsagung der Dichter sagt? „Wir können die Kinder nach unserm Sinne nicht

formen.

„So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben". Müssen wirklich die Mütter in Demut mit Rousseaus Julie sprechen?

„Ich bin nur die Magd des Gärtners, ich jäte den

Garten und

rotte das Unkraut aus.

muß er selbst pflegen"").

Die guten Pflanzen

Gibt Gott und seine Natur den

Eltern die Kinder mit allen Fehlern und Schwächen wirllich

ohne ihr eigenes Zutun erbarmungslos nach unerforschlichem

unabänderlichem Ratschluß oder gar in spielender gedanken­ loser Laune?')

Nimmer.

Was mein Buch mit Sicherheit zeigen wird,

ist dieses: Es hängt von den Eltern ab, ob ihre Kinder gesnnd und schön und weise und gut, ob sie Blüten der Menschheit

oder ihr Abschaum sein werden. Der Mensch hat die Kinder,

welche er haben kann; er erzeugt sich die Nachkommenschaft, welche er verdient. Doch nein. Das wäre zu viel gesagt; er hat stets bessere

Nachkommen als er verdient.

Die Menschheit wäre längst

nicht mehr, wenn ihre rastlose Selbstzerstörung den ganzen

Erfolg hätte, wenn nicht eine Heilkraft in ihr wirkte, die immer aufs Neue ihren Baum erstehen und grünen und blühen machte. Mag dieser Baum zu stinkendem Moder zerfließen,

aus dem letzten Rest der kleinsten Wurzel erhebt sich not­

wendig und herrlich ein neuer Stamm, an dem Jahrtausende vergeblich ihre zerstörende Macht üben.

Das ist die Sorge

der Natur ohne das Zutun deS Menschen.

Was glaubt ihr aber, daß aus der Menschheit würde,

wenn sie ihr uraltes Werk der Selbstzerstörung einmal auf­ gäbe; wenn sie die Mittel und Wege der alles verjüngenden

Natur erkännte und ihnen mit Treue folgte; wenn sie den Mut hätte, gesund zu werden und gesund zu bleiben; wenn sie den Willen fände, ebenso alle Einflüsterungen von ihrer unverbesserlichen Jämmerlichkeit wie die Hoffart ihrer sieg­

reichen Entwicklung zu einer zukünftigen Gottgleichheit als betrügerisch abzuweisen und ihr Heil einzig in entschlossenem

Gehorsam gegen die deuüichen Vorschriften der Natur suchte? Was glaubt ihr, daß dann au- der Menschheit würde? Zwei Geschlechter einsichtiger willensstarker, frei der Natur

gehorchender Menschen: und die Menschheit ist gerettet aus dem wüsten Traum von Elend intb Schwäche, Dummheit und Bosheit, in welchem sie ohne Aussicht auf Erlösung herumirrt.

Bricht der große Tag endlich an? Wir dürfen eS leise hoffen, nachdem bei vielen Menschen ein ehrfürchtiges Fragen und Forschen nach dem Willen der

Natur an die Stelle kecker Weisheit aus innerer Anschauung und verzückter Offenbarung getreten ist. —

Der größte Irrtum, den wir Rouffeau in der Empfeh­ lung seiner Erziehungsweise vorwcrfen können, ist wohl dieser, daß er voraussetzt, man

würde in der ganzen Welt einen

zwetten Mann von der frühen Einsicht und Sittlichkeit des Erziehers seines Emil finden und diesen bereit, der Erziehung

eine-

anderen

Menschen

sein Leben

ungeteilt zu widmen.

Vielleicht kann der Arzt keinen größeren Irrtum begehen, als

sich einzubilden, irgendwo in der Welt fände sich ein einziges Elternpaar, das schon vor der Ehe die Weisheit besitzt, welche

dazu gehört, sich gesunder Nachkommen würdig zu erhalten, und das auch in der Ehe selbst unermüdet dieses Ziel vor Augen hat.

Der Wunsch mag bei Bielen sein; selbst die Ein­

sicht haben Einige.

Aber der Wille ist schwach.

Wir erheben uns hundertmal am Tage und fallen immer

wieder.

Der glühende Freund der Kinder, der ernste Erzieher

einer besseren Menschheit, Basedow, verkündet die Mäßigkeit als eine Angelegenheit der Gesundheitspflege und der Religion und widerrät überzeugt und eindringlich die geistigen Getränke und den Tabak als rastlose ZerstSrer der leiblichen und sitt­

lichen Gesundheit.

Gleichwohl pflegte er, wie uns Goethe

erzählt, ununterbrochen schlechten Tabak zu rauchen und blieb

bis zum Lebensende ein starker Trinker, der behauptete, die Konklusion „Ergo bibamus“ passe zu allen Prämissen').

Niemand kennt die Widersprüche, den Wankelmut, die sittliche Schwäche und Feigheit der Menschen besser als der Arzt.

Niemand erfährt sicherer, daß Predigen dawider wenig

oder gar nichts Hilst.

Soll er darum zusehen und schweigen,

wenn er die Menschen blind findet gegenüber den Ursachen chrer Gebrechen und Laster? —

Ja, wofern er etwa pre­

digen will.

Wenn er aber belehren kann, wenn er die Wurzeln eines

Übels erkannt zu haben glaubt, so muß er reden, selbst auf

die Gefahr hin, erschreckende Wahrheiten zu sagen.

Nur wo

Einsicht ist, beginnt die bleibende Besserung. Gesundheit ist eine Tugend, die jeden Augenblick mit

aller Willensanstrengung erkauft werden muß.

Vollendete

Tugend ist nur da, wo vollendete Einsicht besteht.

Die Heilkunde stellt wie die Religion an den Menschen die höchsten Anforderungen, damit sich zunächst wenigstens der

Wille Einzelner dem nähere, was die Meisten nicht erreichen. Sind aber einmal Wenige von den angeborenen Übeln der Menschheit erlöst und zu ihrer eingeborenen Vortrefflichkeit

gelangt, nicht durch Zufall, sondern weil die Erzeuger den Weg gesehen und das Ziel innig begehrt haben, dann werden immer Mehrere nachfolgen.

Und was die Menschheit in

natürlichen Dingen erkennt und will, das wird ihr in der

Fülle der Zeiten mit Naturnotwendigkeit zuteil.

1.

Wir bekennen und zu dem Geschlecht, bad and dem Dunkeln ind Helle strebt.

Goethe.

Es sollte Niemand über Erziehung reden, der nicht selbst Kinder geboren und erzogen hat!

Die Worte hat eine kummervolle Mutter ausgesprochen, als ein ungerufencr Ratgeber ihr die Früchte ihrer Erziehung vorhielt.

Wenn von dieser gerechten Verwahrung Jemand

sich ausnehmen darf, so ist es der Arzt, der jahrelang mit vielen Eltern die Sorgen und Rätsel der Kinderentwicklung

geteilt und den Gründen des Familienelendcs nachgedacht hat. Ihm wird es sogar zur Pflicht, wichtige Punkte der Kinder­

pflege öffentlich zur Sprache zu bringen, die im Verkehr mit den einzelnen Familien aus verschiedenen Gründen unberührt

bleiben müssen.

Im Zwiegespräch mit der bckümniertcn Mutter oder dem verstimmten Vater hemmen ihn enge Schranken mitleidiger Verschwiegenheit, welche er nicht verlassen kann, ohne zu den

vorhandenen Sorgen der Eltern traurige Selbstvorwürfe zu

erregen und ohne neuen Kummer und Ratlosigkeit anstatt

der erbetenen Hilfe und des erhofften Trostes zu bringen.

Wie ost nennt er, nach den Ursachen der Leiden, der Schwächen, der Fehler ihrer Kinder gefragt, den Eltern die nächsten Veranlassungen und verschweigt die tieferen Ursachen,

redet diese sogar den Eltern aus, wenn sie in selbstquälerischer Ahnung darauf deuten. Kann der Arzt,

ohne

sich den Vorwurf entsetzlicher

Roheit zu machen, einer Mutter, die mit bestem Wollen, verleitet vom Rat einer weisheitsvollen Hebamme oder einer

im Geruch der Erfahrung stehenden Freundin oder eines

Zeitungsschreiers eine fehlerhafte Ernährung ihres Lieblings durchgeführt hat, kann er, darf er am Sterbelager des Kindes

sagen, warum das Kind zugrunde geht? Das würde dem Kinde

nichts mehr nützen, die Mutter vielleicht in Wahnsinn führen. Wie oft ist es dem Arzt unmöglich, dem Vater offen und klar darzulegen, warum sein Sohn, den er sich stets als Stolz und Stütze für die Tage des Alters vorgestellt hat, von dem er so oft gedacht und gesagt hat: der Junge soll

besser und tüchtiger werden als sein Vater, — warum der Sohn alle diese Erwartungen enttäuscht, warum sich bei ihm wieder

die Fehler

der Eltern und

neben

den gewohnten

Familienübeln neue zeigen, warum er körperlich siecht, geistig

zurückbleibt, sittlich verdirbt.

Um die Ursachen zu zeigen,

warum so vieles anders geworden ist, als der Vater hoffte,

warum das nicht anders werden konnte, müßte der Arzt er­

barmungslos in Vergangenheiten forschen und auf Gescheh­ nisse deuten, welche längst und oft gerne und auch mit Recht

begraben sind, weil Blick und Mut sich in die Zukunft richten sollen.

Der Arzt kann also den Eltern nicht jedesmal die nackte

und volle Wahrheit über die Gebrechen ihrer Kinder sagen, weil in den meisten Fällen die Einsicht eben zu spät käme

und weil der Verstand

der Eltern selten

kühl und stark

genug ist, unnütz gewordene Regungen des Gemütes zu be­

herrschen und ohne den Zusammenbruch ihres ganzen Seins bewußt die furchtbare Verantwortung aller Folgen zu tragen, welche sich mit der Zeugung einer Nachkommenschaft verknüpfen.

Das Vergangene ist unabänderlich. damit quälen ist fruchtlos.

Sich oder Andere

Kaum dann muß der Arzt es

schonungslos aufdecken, wenn er sieht, wie in Leichtsinn oder

Ruchlosigkeit die Wiederholung schon begangener Fehler neues Elend vorbereitet.

Denn auch hier nützen seine Worte selten

etwas; meistens gewinnt er damit statt dankbarer Folgsam­ keit die alte Erfahrung, daß Aufklärungen und Ratschläge,

die er in der besten Absicht gibt, als Vorwürfe, ja als Be­ leidigungen aufgefaßt werden.

Wie viele Menschen bedenken

denn, daß der Arzt keine Vorwürfe macht und nicht einmal wünscht,

werden').

daß

Selbstvorwürfe

entstehen

oder

sogar heftig

Bleibt also Mund und Wissen des Arztes verschlossen,

wenn er vor vollendeten Tatsachen steht, so darf er, soll er um so freier reden, wenn sein Wort sich nicht mehr an den

Einzelnen wendet, der geschehenen Schaden zu beklagen hat, sondern zur Menschheit spricht, welche gerne belehrt sein will,

wie Schäden an Leib und Geist ihrer zukünftigen Glieder

verhütet werden können. Wäre die Heilkunst allmächtig, könnte sie

alle Ge­

brechen und Leiden beseitigen, könnte sie verlorene Gesundheit

in jedem Falle wiedergeben, dann bedürfte es der Belehrung nicht, wie Schwäche und Krankheit verhütet werden.

Aber

die Grenzen der ärztlichen Kunst sind sehr enge, die Wir­ kungen ihrer Mittel unvollständig und kurzlebig, und so war

immer und wird immer die höchste Lehre des Arztes bleiben: Verhütet die Krankheiten, erhaltet die Gesundheit!

Über die Bedingungen für die Begründung und Er­ haltung der Gesundheit besteht unter den Eltern, unter den

gebildeten wie unter den ungebildeten, eine merkwürdige Un­ kenntnis, welche dem Arzt jedesmal ein trauriges Erstaunen

bereitet, wenn er die Wichtigkeit der Sache im Auge hat, und welche ihn doch auch wieder nicht wundern kann, sobald er bedenkt, daß ja immer noch, wie auf eine heimliche Ver­ abredung hin, in Familie und Schule dem Heranwachsenden

Menschen die wichtigsten und nächsten Kenntnisse, die Kennt­ nisse von den Bedingungen des Daseins und der Wohlfahrt

des Einzelnen und der Gesellschaft, vorenthalten, ja zum Teil

im Namen der Sittlichkeit verboten werden, damit er um so

gründlicher die zwölf Stämme Israels und die zwölf Arbeiten des Herkules und die unmögliche Quadratur des Streifes und die angeblichen Gewichte der Fixsterne erlernen könne.

Vom

Leben der gesamten Menschheit, von der Gesellschaft, vom Wesen des Staates, vom eigenen Körper, von den natürlichen Ver­ richtungen desselben, von der Ehe, von der Kinderpflege, von

allen den Voraussetzungen, unter denen wir entstehen und vergehen, arbeiten

und denken, sittlich sind und dem Ziel

vollendeter Menschheit zustreben, erfährt der junge Mensch nichts.

Das alles soll nicht der Rede würdig und später

sehr selbstverständlich sein.

Besser werden ihm Märchen er­

zählt, Hirngespinste eitler Träumer entwirrt und die Spiel­ zeuge bequemer Müßiggänger zum Erstaunen vorgelegt, da­

mit er nur nicht nach dem Leben, wie es ist und was es

fordert, frage und die Erwachsenen in Verlegenheit setze").

Denn wahrlich in Verlegenheit würden wir geraten, wenn das Kind die Dinge lernte, in denen unsere Fehler und Ver­ irrungen und Frevel liegen; wenn es sähe, wie wir die natürlichen Pflichten verraten und entwürdigen.

Darum tun

wir, als sei es überflüssig, von dem Wichtigsten zu reden, oder lügen gar, es sei unschicklich.

Lieber überlassen wir der stets

regen Neugier des Kindes, aus Ahnungen und aus leicht­ sinnigen oder frechen Andeutungen seiner Umgebung sich ver-

botene Vorstellungen zu schaffen.

Anstatt ihm zu sagen, daß

die Mutter unter Schmerzen das Kind zur Welt bringt wie

das Huhn sein Ei, daß das Ungeborene sich int Mutterleibe entwickelt wie das Würmchen in der Haselnuß; anstatt ihm

zu sagen, daß die Körperstellen, an welchen Kot und Harn als Auswürflinge unserer Nahrung abgeschieden werden, ebenso

wichtige und notwendige Orte sind, wie der Mund, der die

Nahrung aufnimmt, machen wir alberne Redensarten oder schamlose Lügen oder eine grinsende Miene, wenn das Kind nach den natürlichsten Dingen fragt 8). Den jungen Menschen gewöhnen wir an eine urteillose

Bewunderung oder Verwerfung der verschiedenen Volksschichten

und verwirren damit fortwährend sein gesundes Urteil, das in allen Ständen ebenso Männer, die seine Hochachtung, wie

Leute, die seine Verachtung verdienen, findet.

Anstatt ihm

seinen heiligen Eifer zu erhalten, indem wir ihm offen sagen, du bist berufen, nach deiner eigenen Einsicht Staat und Ge­

sellschaft zu verbessern, wenn du dich selbst einmal zum guten

und tüchtigen Manne herangebildet hast, machen wir ihn möglichst früh zum Anhänger unserer vorurteilvollen und

selbstsüchtigen

Genossenschaften

oder

tun,

als

ob Alles

wunderschön und die Zuftiedenheit mit dem Bestehenden die

natürlichste Pflicht und die allgemeine Sümmung sei. So verkehren wir in jeglichen Dingen das Natürliche,

verbergen das Wirkliche und erheucheln den Bestand vorüber-

gehender Meinungen.

Wir nennen dies eine ideale Erziehung

in glücklicher Unwissenheit und vergessen, daß das Kind früher oder später unsere Heuchelei erbarmungslos durchschauen wird und unter der Enttäuschung völlig verdirbt oder lebenslang

leidet.

Wir vergessen, was schlimmer ist, daß der kindliche

Scharffinn die vordringlichen Lügen der Gesellschaft und die

lüsternen Geheimnisse des Privatlebens weit früher erspäht, ehe er sich einen Begriff bilden konnte von dem Wahren und Guten und Schönen, welches den Grund auch der Verderb­ testen Lebensverhältnisse bildet.

Seine

Vorstellungen

sind

vergiftet, ehe die reine schlichte Wahrheit aller Dinge sie er­

füllt hat.

Es muß seine eigene Seele, seinen eigenen Körper

als einen Gegenstand des Ekels und als eine Quelle der

Sünde betrachten, ohne den Trost zu haben, daß Sünde und Krankheit in Wirklichkeit fremde Eindringlinge sind, die von

selbst ausbleiben, wo Gesundheitspflege und Sitte die gemein­

same Grundlage der Erziehung bilden, die aber nie ausbleiben werden, solange man glaubt, mit Glaubenslehren und Sitten­

lehren allein die Menschheit zu verbessern. Es ist nicht anders.

Je weiter unsere Erfahrung dringt,

je mehr wir den Zusammenhang der sittlichen und körper­ lichen Welt begreifen, desto mehr wird uns zur Gewißheit,

das Glück der Veredelung werde den Menschen nicht eher

blühen, als bis sie sich gewöhnen, in allen Lebensverhält­ nissen auszugehen von der Überzeugung, daß vergeblich bleibt

düs Mühen um die höheren Güter der Menschheit, wo Grund

und Boden unseres Daseins mißachtet oder gar verabscheut wird, daß die Sorge um das körperliche Wohlergehen das

erste Recht und die eigenste Pflicht eines Jeden ist, in welcher er sich durch Niemanden darf bevormunden lassen als durch

die Gesetze der Natur. Damit diese Pflicht erfüllt werde, ist aber vor Allem nötig, daß die Bedingungen unseres Daseins: Geburt, Wachs­

tum, Ernährung, Körperpflege, Zeugung, nicht länger Fach­ geheimnisse des Arztes und der Gegenstand lüsterner Neu­

gierde der anderen Leute bleiben, sondern die wichtigsten, die heiligsten Lehrgegenstände werden für Jünglinge und Jung­ frauen, welche sich zu ihrem Lebenslauf vorbereiten.

Dürfen

wir die Hoffnung hegen, daß Familie und Gesellschaft sich dieser Notwendigkeit nicht immer verschließen werden? —

Was inzwischen der Arzt tun kann und was wir ver­ suchen wollen zu tun, das ist, zu zeigen, wie die Grund­ lage für körperliche Gesundheit gelegt wird, von welchen Vor­

aussetzungen sie abhängt und welchen Sinn eine körperliche Erziehung des Menschen hat. Vorher wollen wir aber die Erziehungsftüchte betrachten, welche unter Vernachlässigung oder bei unzureichender Rück­

sicht auf die körperliche Pflege reifen.

2. Die innere Entwickelung unserer FLHigkeiten und der dazu erforderlichen Werkzeuge besorgt die Erziehung der Statut; die Erziehung der Menschen lehrt uns von jener Entwickelung Gebrauch -u machen.

Rousseau.

Der Mensch, sagen die Erzieher, ist Nichts als was

Erziehung aus ihm macht').

So viel ist sicher.

Im rohesten Naturzustande erhebt

sich der Mensch wenig über das Tier.

Ein bedeutender Fort-

schritt ist da, sobald der Vater den Sohn unterweist, den Speer zu werfen und die Götter zu ehren.

Da beginnt die

Macht des Menschen über die Erde und die Bildung zu den höchsten Gütern der Menschheit.

Mit dem weiteren Fort­

schreiten der Kultur steigern sich die Anstrengungen der Er­

zieher und die Leiden der Erzogenen.

Erziehung üben wird

immer mehr zur Last; erzogen werden immer mehr zur Qual2).

Ehe der junge Mensch

unserer Tage und in unseren

Ländern zu seiner Großjährigkeit kommt und von der Ge-

sellschaft als würdiges Mitglied anerkannt wird, soll er drei

Stufen der Erziehung

überschritten

haben, die Erziehung

durch die Familie, durch die Schule und durch das Heer.

Die Gesellschaft setzt voraus, daß am Ende dieser dreifachen Erziehung zunächst das getan ist, was den Menschen zum Kulturmenschen macht, zum Staatsbürger befähigt.

Manche

begnügen sich in Forderung und Ausführung mit den beiden

ersten Stufen; die dritte halten sie für überflüssig. Der

den

höheren Zielen

der

Menschheit

zustrebende

Erzieher verlangt mehr als die selbstgefällige Gesellschaft").

Während diese sich mit dem Wort Familie und mit leidlichen

Schulzeugnissen wohlzufrieden erklärt und mit Mcksicht auf

den häufigen Widerwillen gegen die Dienstleistungen im Heere irgend einen militärischen Grad für eine ganz besondere Em­ pfehlung erachtet, will der Freund einer besseren Menschheit

die wirklichen Früchte einer dreifachen Erziehung;

er will

körperliche, geistige und sittliche Ausbildung in ihrer Voll­

endung sehen.

Er verlangt am Erzogenen: Wohlgestalt und

Kraft, Vernünftiges Denken und Handeln, feste Sittlichkeit in

allen Lagen des Lebens. In unserer Zeit sind wir von den Früchten vollendeter

Erziehung so weit entfernt wie zu irgend einer Zeit der Ge­ schichte der Menschheit.

Der scharffichttge Blick des Welt­

verbesserers will sogar finden, daß hinter dem Fortschritt der

gesellschaftlichen

äußeren

Bildung

die

Erziehung 2*

des

Einzelnen weiter als je zurückgeblieben

ist, und es sollen

Rousseau und sein Schülers Kant Recht behalten mit ihrer Versicherung, daß die Erhöhung des Staatslebens unvermeid­

lich

mit

einer

Wertverminderung

des Einzelnen in jeder

Hinsicht einhergehe. Wir dürfen diese schwarzen Grillen des Menschenkenners,

der in trüben Stunden nur das Kranke an der Oberfläche

des Menschengeschlechtes

sieht

und

die

unendliche rastlose

Vermehrung innerer Kraft und Schönheit und Güte eine

Weile vergißt, leider nicht dem Winde übergeben.

Wir müssen

uns vorzüglich, ja ausschließlich mit dem kranken Teil der Menschlichkeit beschäftigen, wenn wir Ziel und Zweck der Er­ ziehung vor Augen haben.

Aber der wahre Erzieher wird

keinen Augenblick vergessen, daß gerade und nur der gesunde Kern im Menschen cs ist, der die Betrachtung der ihn ent­

stellenden Fehler und Schwächen erträglich und Pläne der

Befferung überhaupt der Mühe wert macht. Was ist schuld, daß die Früchte der Erziehung nicht den

Erwartungen entsprechen? Liegt das an den Erziehungswegen oder im Gegenstand der Erziehung?

Die Wege der Erziehung hat man wohl meistens im Verdacht.

Das beweisen zahllose Versuche, sie zu verbessern

und der häufige Wechsel ihrer Richtung.

Den Erziehungs­

bedürftigen hat man bisher, so viel ich sehe, stets für einen notwendig gegebenen gehalten

und nie die Hoffnung aus-

gesprochen, anders als eben durch die Erziehung an ihm etwas zu ändern. Manche

sagen,

kommen in Betracht.

weder Erziehungsweise

noch Zögling

Eure Erwartungen sind falsch.

Sie

leugnen jeden Einfluß der Erziehung überhaupt, ebensowohl

auf die körperlichen wie auf die geistigen und die sittlichen Eigenschaften.

Der Mensch, sagen sie, ist von Natur aus

stark oder schwach, geistig begabt oder unbegabt, böse oder gut,

und der Erzieher kann nichts tun, als den guten Fähigkeiten

Gelegenheit zur Ausbildung und Wirksamkeit geben und den schlechten Nahrung und Gelegenheit entziehen. Was die Verschiedenheit der Wege bei denen, welche eine

Erziehung

mit bewußten Zielen

für möglich und wirklich

halten, angeht, so wird ein dreifacher Weg zugegeben und

benutzt.

Man erzielt entweder durch Predigen und Strafen

oder durch Belehren oder durch das Beispiel.

Das Kind soll in der Schule gerade sitzen; der Lehrer sagt: setze dich gerade oder du bekommst Schläge; oder er

sagt:

setze dich gerade, sonst wird dein Rücken krumm; oder

er setzt sich selbst gerade und hofft, daß alle Kinder es nach­

machen.

Welchen Weg er nun auch vorziehen wird, immer

wird er am Ende lernen, wofern er es nicht vorher gewußt

hat, daß es auch Kinder gibt, die gar nicht gerade sitzen können,

weil

ihr Rücken

schwach

oder

schon

krumm

ist.

Diese Erfahrung, so einfach sie zu sein scheint, haben die

Erzieher auffallend spät gemacht, wenigstens

im Geistigen

und Sittlichen. Die drei Erziehungswege werden von den Berufserziehern gesondert oder vereinigt benutzt.

Die Wahl hängt keineswegs

von der Auffassung der Natur des Zöglings ab, in welcher die Erzieher weit auseinander gehen.

Viele sagen, der Mensch sei von Natur aus böse und seine Erziehung könne deshalb nur eine

abschreckende sein

und müsse durch Strafen wirksam unterstützt werden.

Andere,

so der Prediger Salomon und der Magister Kant, vereinigen sich in dem Satz, der Mensch habe nur gute Anlagen, welche

durch Erziehung entwickelt werden müßten.

Aber sie ent­

zweien sich über die Wahl der Mittel. „Und meine Seele suchet noch und hat es nicht ge­

funden.

Unter tausend habe ich einen vollkommenen Mann

gefunden, aber kein Weib unter allen.

Nur das hab ich ge­

funden, daß Gott den Menschen recht gemacht hat. — — Rute und Strafe gibt

Weisheit.

Sohn und er wird dich ergötzen."

Darum züchttge deinen

So der Ecclesiast.

Und der Weise von Königsberg: „Gehe in die Welt, —"

läßt er den Schöpfer zum Menschen reden, — „gehe in die Welt! Guten.

Ich habe dich

ausgerüstet mit allen Anlagen zum

Dir kömmt es zu, sie zu entwickeln und so hängt

Dein eigenes Glück und Unglück von Dir selbst ab". —

Die Ursachen zum Bösen findet Kant nicht in der Natur-

anlage des Menschen: „das nur ist die Ursache des Bösen-, sagt er,

wird.

„daß die Menschheit nicht unter Regeln gebracht

Gute Erziehung gerade ist das, woraus alles Gute

in der Welt entspringt: die moralische Kultur muß sich also

gründen auf Maximen, nicht auf Disziplin; — durch Dis­ ziplin bleibt nur eine Angewohnheit übrig, die doch auch mit

den Jahren verlöscht""). Was haben die entgegengesetzten Empfehlungen erreicht? Die Kinder Israels und ihre Leidensgcnossen in der Straf­

erziehung") sind durch die Schläge nicht besser geworden und wir Kinder Deutschlands nicht durch die Regeln.

Und wie

im Sittlichen so ist im Geistigen und Körperlichen nicht so

viel Unterschied zwischen heute und Salomons Zeit vor drei­ tausend Jahren, daß die Erziehungslehrer sich dessen rühmen

könnten.

Es konnte das auch kaum

anders sein, solange eine

ganz falsche Naturansicht oder vielmehr gar keine die Grund­ lage

der

Erziehung

bildete, solange die Einen als

ersten

Satz ihrer Erziehungslehre aufstellten: „Im Menschen liegen nur Keime des Guten"'), und die Anderen mit dem Satz

anhuben: „Im Menschen liegen nur Keime des Bösen""), und

viele gar behaupteten, die Seele des Kindes sei eine wehrlose unbeschriebene Tafel, auf welche der Erzieher schreiben könne, was ihm beliebe").

Daß die Kinder sehr verschieden zur Welt kommen, daß

Beides, Gutes und Böses, welches der Erzieher bei ihnen zu

entwickeln oder zu unterdrücken sucht, in der Anlage sowohl vorhanden sein wie fehlen kann, daß cs also mindestens zwei

Arten von Zöglingen in tausendfältiger Abstufung gibt, das

konnten nur die übersehen, welche in überlegener Weltweisheit sich die Zöglinge dachten, anstatt sie zu sehen.

Laßt euch

doch, die ihr den Übermut der unbeschränkten Schönseherei

habt, einmal in eine Verwahranstalt für blödsinnige Kinder führen!

Dort vergeht euch, denke ich, der unwahre Optimis-

mus und die Kühnheit, die Menschen ohne Wahl mit Maximen

zu erziehen.

Dort werdet ihr aus Optimisten zu Pessimisten

oder im besten Falle schränkt ihr euren Satz soweit ein, wie

es Rousseau

tut:

„Im gesunden Menschen

liegen nur

Keime des Guten", und wenn ihr dann noch weiter hofft, so stellt ihr euch die Frage: Gibt es kein Mittel in der

Welt, wodurch es zu erreichen wäre, daß bei der Geburt nur Keime des Guten im Menschen liegen? Wir haben noch einen Blick auf den dritten Erziehungs­

weg zu werfen, auf die Erziehung durch das Beispiel Jüngere

Weltweise erwarten viel davon und es kann wohl nicht ge­

leugnet werden, daß mehr als Ermahnung und Belehrung und

Strafe

im

großen

und

ganzen

das Beispiel

wirkt.

Kinder und Erwachsene ahmen nach und halten am Nach­ geahmten fest, bis sie an ihrem Vorbild Widersprüche und Fehler gefunden haben und ein anderes Beispiel das Über-

gewicht erlangt oder bis die Vernunft da ist und das bisher Gewohnte gutheißt oder verwirft. — In einer guten Umgebung

ist es für ein gewöhnliches Kind fast ebenso unmöglich, schlecht zu werden, wie in einer schlechten Umgebung, gut zu sein. Im

Allgemeinen werden schlechte Vorbilder als die auffälligeren

leichter und deshalb lieber nachgeahmt als gute, und auch schlechte Angewohnheiten werden schwerer und widerwilliger von der Vernunft ausgerottet als gute.

Für schlechte Sitten

genügt ein Sichgehenlassen, für die guten bedarf es täglicher und stündlicher Selbstbeherrschung.

In Krankheiten, bei Er­

müdung erlahmt die Kraft dazu; darum schicken vernünftige

Eltern das wider seine Gewohnheit unartige Kind ins Bett,

weniger vernünftige stellen

es

in

die Ecke, unvernünftige

züchtigen es.

Was ist denn

durch Beispiel?

schließlich die Frucht einer Erziehung

Doch nichts anderes als eine mehr oder

minder stark befestigte Angewöhnung, die keinen Anspruch auf die Bezeichnung einer sittlichen hat.

Wir sind nicht sittlich,

wenn wir mit unserer Umgebung gut und hilfteich und edel

sind, sondern nur, soweit wir es ttotz ihr sind, soweit wir in uns den unverbrüchlichen eingefleischten Willen haben, selbst

dann das Gute und Wahre und Schöne zu verfolgen, wenn

es uns auch in einer argen Umgebung nie verwirklicht er­ scheint.

Bringt doch eure vom Beispiel der Familie und Gesell-

schäft erzogenen Kinder in jungen oder alten Jahren einmal in längere Berührung mit dem Laster und sehet zu, wie viele

von ihnen wahrhaft gut erzogen sind, wie vielen euer Unter­ schied zwischen Gut und Bös so eingewurzelt ist, daß sie sich

nicht von ihrer neuen Umgebung allmählich oder rasch herab­

ziehen lassen, anstatt diese zu sich hinauf zu ziehen.

Zwei

oder drei werden die Probe bestehen und sich ihr eigenes

Selbst in allem Wechsel der äußeren Einflüsse erhalten, weil

ihre Natur und das Sittliche Eines sind; die tausend anderen werden wie dressierte Hunde, die unter dem wachenden Auge

des Herrn das verbotene Wild unberührt lassen und viel­

leicht nicht einmal mit Begehrlichkeit anschauen, schamlos sich auf die Beute stürzen, sobald sie gewahren, daß der Herr sich nicht mehr um sie kümmert.

Nehmen wir es aber einen Augenblick für ausgemacht

an, der richttge und ausreichende Erziehungsgrund liege im guten Beispiel.

Wo findet die Heranwachsende Jugend es

denn verkörpert? Zweifellos in vielen, in sehr vielen Fällen bei ihren Eltern, ihren Lehrern und anderen Vorgesetzten.

Aber wie zahlreich sind doch die Fälle, wo das, was Eltern und Lehrer gut machen, von anderen Menschen verdorben

wird, wie zahlreich die Fälle, in denen überhaupt jedes gute

Beispiel fehlt. Gerade da, wo Wohlwollen, Redlichkeit, Herzensreinheit,

überhaupt Sittlichkeit unentbehrlich erscheint, in der Familie,

wird

sie

allzuhäufig

vermißt.

Famllienerziehung

ist

oft

nichts Anderes als eine Dressur deS Kindes, die Unarten und Launen der Erwachsenen zu sehen, zu ertragen und nicht nachzuahmen.

Und der lluge und artige Weltton, in dem

das Kind der sogenannten feinen Familien

nicht selten ausgemachte Heuchelei;

für

aufwächst, ist

wahrhaft

sittliche

Reden und Handlungen des treuherzigen KindeS besteht, so­ bald sie von der Tagesmode abweichen, ein so geringer Be­ griff, daß man den kleinen lästigen Mahner als schreckliches

Kind bezeichnet.

Mit dem Beispiel für die Jugend auf dem Gebiete des Verstandes ist es nicht anders.

Die geistige Durchbildung

des Volkes oder auch der Gebildeten im engeren Sinne ist

nicht einmal so groß, daß wahre Leistungen in Handwerken, in Künsten und in Wissenschaften vor den Scheinwerken des Strebers und Machers den Vorzug haben, und der junge

Mensch merkt es sich nur zu bald, daß er durch vieles Andere es weiter vor der Gesellschaft bringt als durch eine ehrliche Anwendung seiner geistigen Fähigkeiten. Was

die Erziehung

zur

körperlichen Vollkommenheit

durch das Beispiel angeht, so ist der Heranwachsende Mensch kaum daran gewöhnt, auf Gesundheit und Kraft Wert zu

legen.

Das lernt er erst spät, zu spät.

Er lebt unter

Menschen, die an tausend Schwächen und Krankheiten siechen.

Er sieht es fast nie, daß Leiden und Krankheiten für etwas

Schimpfliches gelten, dessen der Mensch sich zu schämen hätte, was er mit aller Straft abweisen sollte. — Im Gegenteil, er hört es immer, daß der Arzt, daß der Apotheker, daß tausend

Strankenhäuser und Bäder und Hellanstalten dafür da sind,

alle erdenklichen Krankheiten zu heilen, und niemand sagt

ihm, daß der Arzt mit allen seinen Hülfskrästen doch eigent­ lich recht wenig von der Allmacht besitzt, die man ihm wider seinen Willen zuschreibt.

Wie soll aber ein Kind Scheu vor

körperlichen Übeln bekommen, wenn Krankheiten und Kuren zum wohlanständigsten Gespräch in der gesellschaftlichen Unter­

haltung gehören?

Dazu kommt

daß auf körperliche Fähig­

keiten und Übungen, so viel man auch die Jugend dings dazu anhält, von den

neuer­

Erwachsenen im allgemeinen

wenig Gewicht gelegt wird, also

auch

hier

das Beispiel

fehlt"). Nach alledem könnte es scheinen, als ob diejenigen Er­

zieher, welche vom Beispiel das Hell für die Jugend er­ warten, im Rechte wären, wenn sie behaupten, die Fehler der

Erzieher, nicht die Natur der Zöglinge trügen die Schuld, daß wir im Körperlichen, Geistigen und Sittlichen weit hinter dem erwünschten und erstreiten Ziel zurück sind, und als ob das Wort Kants Sinn hätte, daß

„wenn einmal ein

Wesen höherer Art sich unserer Erziehung annähme, dann

man doch könne".

sehen würde, was aus dem Menschen

werden

Wollen wir nun aber den Borwurf des schlechten Bei­ spiels wirklich

erheben,

so

würden

die

Erzieher einmütig

schnell ein wirksames Mittel zur Hand haben, sich von aller

Schuld zu reinigen, indem sie sagten: wie könnt ihr von unS verlangen, daß wir Musterbeispiele seien!

können.

Wir tun was wir

Wir selbst sind nicht von Mustern erzogen worden.

Und so würde ein jeder den Vorwurf rückwärts weiter geben. In der Tat ist, wenn wir der Sache auf den Grund

gehen, nichts unnützer als jener Vorwurf.

Könnten wir die

Herzen erforschen, so würde sich zeigen, daß die allermeisten

Menschen den guten Willen haben, sich selbst zu vervoll­ kommnen und durch das beste Beispiel erzieherisch zu wirken,

daß es nicht am Willen aber an der Kraft fehlt.

Wir alle

haben diesen Willen oder haben ihn gehabt bis zu einer Zeit, die bei dem Einen früher, beim Anderen später sich einstellt,

wo wir denn endlich erfahren müssen, daß wir schwächer sind, als wir selbst geglaubt haben, wo in

wiederholtem

Unterliegen der Jugendtraum einer unverwüstlichen körper­ lichen, geistigen und sittlichen Frische verblaßt und eine feige

schlaffe Entsagung über uns kommt, in der wir zu uns selbst sprechen: Das Leben bringt ja notwendig Krankheit, Dumm-

heit, Laster hervor und des Lebens höchste Weisheit bleibt zum Schluß: Sich selbst ertragen!

Sich selbst ertragen!

Es ist noch ein Gewinn, roemt wir

in der sittlichen Wechselzeit, die uns unsere Minderwerttgkeit

zum Bewußtsein bringt, zu diesem Verzicht kommen.

Wir

hören dann wenigstens auf, uns selbst nutzlos zu quälen

und Andere ungerecht zu beschuldigen. Aber die Jugend soll und will diesen Verzicht nicht üben.

Sie fühlt den Mut zur Vollwertigkeit und hat die Mittel,

sich über eigene wie fremde Schwächen zu erheben und je

länger sie es tut, desto später ist sie alt. Was ist der Grund

„von jenem Mut, der früher oder später Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt,

Bon jenem Glauben, der sich stets erhöhter, Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt, Damit das Gute wirke, wachse, fromme,

Damit der Tag dem Edlen endlich komme?"") Woher nimmt die Jugend den Glauben an sich

und

an ihr Werk?

Sie schöpft ihn aus der heimlichen Erfahrung, daß alles Gutt und Große uns nicht von außen kommt, sondern in

uns selbst entsteht durch dieselbe Kraft, welche, indem sie ttotz einer feindlichen Umgebung unser Dasein wirtt und

bildet

und erhält, sich mächtiger erweist, als alles Äußere und fort­ schreitend die Welt überwindet, so lange sie noch im Über­ fluß vorhanden ist und sich nicht in der Erhaltung eines

elenden Körpers, an seinen Gebrechen und Krankheiten, ver­ zehren muß.

Wo die Jugend krank ist, da spart sie selbstsüchtig in sich jene heilige Kraft, die kaum mehr ausreicht „ihren Körper und ihre fünf Sinne vor Fäulnis zu schützen" **), und kommt bald zu der greisenhaften Entsagung, die da spricht: Alles

ist eitel! und die überlegen lächelt, wenn die großen Geister

ihr die höchsten Güter der Menschheit zeigen, ihr Wissenschaft

und Kunst, Recht und Sitte und Religion anbieten.

Das

lockt mich alles nicht, spricht sie, davon werde ich nicht satt. Gebt mir ein Amt, das den Mann und seine Familie nährt,

laßt mir das Ansehen eines Biedermannes in der Gesellschaft und ich verzichte gerne auf das übrige. Und wer wollte sie tadeln?

Selbst das Wort Gottes

sättigt nicht, wenn der Magen darben muß und der Körper

leidet. Jene vorzeitigen Greise sind es, an denen seit Jahr­

tausenden Mahnung und (Strafe, Belehrung und Beispiel,

die Weisheit scheitern.

der Lehrer

und

die Hingebung

der Eltern

3. Wenn der Mensch seinen Körper ändern

könnte wie seine Kleider, was würde da auS ihm werden!

Lichtenberg.

Es sind körperliche Schwächen und Leiden, welche uns

für den Genuß und die Schätzung höherer Güter unfähig machen, und es sind körperliche Fehler und Krankheiten, die

jeder wirksamen Erziehung im Wege stehen. Könntet ihr daran zweifeln? ein gesundes, heiteres,

Achtet doch darauf, wie

lenksames und kluges Kind sofort

mürrisch, widerspenstig und stumpfsinnig wird, sobald eine

Krankheit es ergriffen hat, und wie mit dem Nachlaffen der Krankheit alle gewohnte Tugend wiederkehrt.

Vergleicht doch

eine Reihe gesunder und kränllicher Kinder und seht, welche

am wenigsten gehorchen, am schwersten geistig aufnehmen, am

widerwilligsten körperliche Übungen leisten und am trägsten eine dauernde Selbstzucht üben.

Wißt ihr nicht, daß viele,

sehr viele Kinder von den drei gewöhnlichen Erziehungs­ stufen zur menschlichen Blldung schon von vornherein da-

durch ganz ausgeschlossen bleiben, daß die Sorge um ihre körperlichen Fehler und Gebrechen so sehr den Inhalt ihres

ganzen Daseins bildet und so völlig die Arbeit ihrer Um­ gebung in Anspruch nimmt, daß etwas Anderes als die Er­

haltung ihres siechen Leibes gar nicht mehr in Frage kommt? Zählt sie nur einmal,

die Kinder mit Drüsenleiden und

Knochenfraß und Schwindsucht , und anderen jahrelangen oder lebenslangen Siechtümern, welche als jammervolle Krüppel in den Famllien und in Krankenhäusern verpflegt werden;

zählt einmal die Blödsinnigen und Schwachsinnigen, die Fall­ süchtigen und Gelähmten, die eine angeborene oder früh zu­ stande gekommene Gehirnschwäche in das Elend der Idioten­

anstalten verwiesen hat! Habt ihr euch einmal die Frage gestellt, wie viele von

allen in Deutschland geborenen Kindern das schulpflichtige

Alter erleben, wie viele das militärpflichtige Alter in erträg­

licher Gesundheit

und

Vollsinnigkeit erreichen?

oder wir

wollen die Frage etwas begrenzen: Habt ihr einmal gezählt,

wie viele von allen Knaben in dem Alter, in welchem die männliche Jugend die Probe ihrer körperlichen Reife an den

Tag legen soll, wirklich diensttauglich für das Heer sind? In Deutschland werden jährlich rund zwei Millionen

Kinder geboren.

Nahezu die Hälfte davon sind Knaben.

Von rund einer Million deutscher Knaben, welche also den

jährlichen Nachwuchs

der männlichen Bevölkerung

Sticker, Gesundheit u. Erziehung.

2. Aufl.

3

bilden,

sind im einundzwanzigsten Lebensjahr, im militärpflichtigen Alter, 267 Tausend, also wenig mehr als der vierte Teil

waffentüchtig J).

Was ist aus

den

anderen drei Vierteln

geworden?

Ein keiner Teil, ungefähr zwei vom Hundert, waren tot­ geboren; ein bedeutender Teil, vierzig unter hundert, sind bis zum einundzwanzigsten Jahre aus den verschiedensten Ur­ sachen gestorben.

Von den achtundfünfzig Überlebenden sind

dreiunddreißig lebenslang, ganz wenige nur vorübergehend Reichskrüppel im wahren Sinne des Wortes.

Wie kommt es, was ist schuld, daß kaum drei Fünftel aller männlichen

Sprossen Deutschlands

den Beginn des

Mannesalters überhaupt erreichen und daß von diesen drei

Fünfteln wiederum drei Fünftel körperlich unbrauchbar sind? Die Aufftellung des Heerergänzungsgeschäftes gibt zur letzteren Frage folgende Erläuterungen: Mehr als fünfzehn

vom Hundert der Volljährigen sind wegen körperlicher oder

geistiger Gebrechen dauernd untauglich.

Etwas mehr als

einer von Zweihundert ist wegen Zuchthausstrafe des Heeres­ dienstes unwürdig, sittlich untauglich.

Beinahe fünfundvier­

zig vom Hundert sind halbtauglich; sie haben kleine körperliche

Gebrechen, die sie zum Landsturm verweisen, und fünfund­ dreißig sind körperlich noch nicht entwickelt oder wegen anderer

Unlstände noch nicht tauglich. Unter den Tauglichen befinden sich ungefähr vier vom

Hundert, welche vor Beginn des dienstpflichtigen Alters, vom siebzehnten Lebensjahre an, als Freiwillige von der Ersatz­

behörde in das Heer

eingereiht werden.

Also auf einen

Einzigen unter hundert geborenen Knaben darf die deutsche

Nation stolz sein und mit fünfundzwanzig zufrieden.

Die

anderen erweisen sich als körperlich, geistig oder sittlich minder­

wertige Staatsangehörige, die zum kleineren Tell vor der Volljährigkeit zu Grunde gehen oder in Jdiotenasylen, in

Instituten für Blinde und Taubstumme, in Irrenhäusern, in Strafanstalten untergebracht sind, zum größeren Tell sich

als Halbinvaliden in die verschiedenen Stände einreihen und

nach ihrer Art sich selbst und dem Gemeinwesen nützen. Die Männer der geistigen Berufszweige möchten sich vielleicht mit Entrüstung dagegen verwahren, daß die Nation

berechtigt wäre,

mit

uns,

soweit wir

befrell worden sind, unzufrieden zu sein.

vom Milllärdienst

Sie rufen aus:

Kaufleute, Lehrer, Geistliche, Künstler, Ärzte, Rechtskundige,

die von der Ersatzbehörde zurückgewiesen worden sind, leisten vielleicht mehr dem Staat und der Gesellschaft als mancher vorzügliche Soldat!

Wir kennen bessere Aufgaben als un­

seren Leib zum Krieg vorzubereiten und seine Kraft mit der Kraft des muskelstarken aber roheren Teiles unserer Nation zu messen!')

Daß es bessere Aufgaben als Kriegführen gibt, das soll unbestritten bleiben.

Aber daß geistige Tätigkeit von körper3*

licher Leistungsfähigkeit entbinden dürfe, das darf nicht zu­ gegeben werden.

Ihr müßt nicht fragen, ob ein körperlich ar­

beitender Mensch oder ein geistig arbeitender mehr wert sei, ob dieser oder jener mehr dem Staat und der Menschheit nütze;

sondern ob ein geistiger Arbeiter mehr leistet, wenn er körper­

lich kräftig und gesund, oder mehr, wenn er siech und krank ist.

Die ehrliche Antwort auf diese Frage macht euch die

Zahlen der Wehrhaftigkeit eines Volkes von Bedeutung.

Es ist ein großer, ein verhängnisvoller Irrtum, zu glau­

ben, ein geistig tätiger Mensch dürfe ohne Nachteil für seinen persönlichen Wert an Körperkraft minderwertig sein, oder

gar, es habe einer nur um so viel mehr körperliche Tüchtig­ keit als er an geistiger zu wenig hat.

Die Offiziere wissen

es längst, daß der geistesarme Rekrut von herkulischem Körper­ bau sich in der Fähigkeit,

körperliche Anstrengungen und

Mühsale zu ertragen, mit einem geistig hochstehenden Ein­

jährig-Freiwilligen nicht im entferntesten messen kann.

Er

verrichtet vielleicht einen einmaligen Akt roher Kraftäußerung

leichter als dieser, aber sobald Ausdauer und Zähigkeit ver­

langt wird, unterliegt er.

Und wiederum hat in geistiger

Tätigkeit am meisten Ausdauer der, welcher körperliche Ge­

sundheit und Kraft besitzt. Es ist ja sicher, daß die mllitärische Erziehung von den Staaten und ihren Regierungen immer noch in erster Linie

zu Kriegszwecken gefordert wird.

Aber alle einsichtigen Er-

zieher und Ärzte und ohne ihre Ermahnung das ganze Volk

würde auch im ewigen Weltfrieden die körperliche Kraft und Rüstigkeit, wie sie zur Waffentüchtigkeit gehört, zum Vorteil jedes einzelnen männlichen Bürgers verlangen und den etwa

unnötig gewordenen Heeresdienst durch pflichtmüßige Turn­ übungen und andere körperliche Bewegungsspiele sehr schnell

ersetzen, weil der Menschheit ihr innerstes Gewissen sagt, daß sie der körperlichen Kraft und Gewandtheit auch nicht auf den höchsten Stufen der äußeren und inneren Bildung, auf ihnen am allerwenigsten, entraten kann und in den Äuße­

rungen der Leibeskräfte und Leibesftische ein besserer Grad­ messer für die geistige und sittliche Befähigung eines Volkes

liegt als in der Lebhaftigkeit des politischen Gezänkes, in der

Anzahl der Studierenden auf Hochschulen und so weiter. Ein Blick auf das englische Volk zeigt, daß ich Recht habe.

Es will die militärische Dienstzeit nicht und hält sich

Söldnerheere, aber nicht um die eigene Jugend von körper­

licher Ausbildung und Übung zu entbinden, sondern um ihr zu den

vielfältigsten

und freiesten Übungen den weitesten

Spielraum zu gönnen, um von ihr das, was wir im einoder zweijährigen Soldatendienst abtun, für das ganze Leben zu fordern und eine manneswürdige Rüstigkeit, welche im

höchsten Alter ebenso Eichen fällt wie Völkergeschichte ent­

scheidet und den Musen dient, bis zum Lebensende zu er­ halten.

Was bei uns noch vielfach als lästiger Frondienst

empfunden

und als Störung aller

bürgerlichen Geschäfts­

zweige nach Möglichkeit gemieden wird, ist bei den Engländern und war bei den besten Nationen aller Zeiten Manncsehre und Mannesrecht.

Die Wenigen, welche heute im trägen Getriebe deutschen Alltaglebens, das fast nur die Wahl zwischen täglicher Er­

mattung der Muskeln oder stetiger Aufreibung des Gehirns läßt, die Sehnsucht bekommen, einmal zu empfinden, was sie

körperlich und geistig und sittlich

wert sind, diese

suchen,

wenn nicht etwa die jährlich wiederkehrende Militärübung

ihnen die seltene Gelegenheit gibt, ihr Leben zu fühlen, von Zeit zu Zeit außerordentliche Ansttengungen, um alle ihre Kräfte in Bewegung zu setzen, unternehmen eine längere Fuß­

reise oder Radfahrt oder eine mühevolle Bergbesteigung, um

sich ihre Vollkraft wieder einmal zum Bewußtsein zu bringen, und steuen sich, nachher jedesmal zu erfahren, wie eine un­ gewohnte Frische und Ausdauer in der Erfüllung der For­

derungen ihres Berufes sie dafür belohnt, daß sie Kraft und Sicherheit ihrer Glieder und Sinne geübt und gemehrt haben.

Der Engländer, der mit allzu gerechtem Mitleiden auf

das kümmerliche Dasein der vielen deutschen Ladenhüter und Stubengelehrten sieht und unser Volk verachten würde, wenn

er nicht seine waffentüchtige Auslese fürchten müßte, gleicht, wenn seine Erwerbtättgkeit stundenlanges Sitzen und vor­

wiegende Ansttengung des Geistes fordert, Tag um Tag die

Nachtelle einer einseitigen Lebensweise durch zweckmäßige Übun­ gen seiner Glieder und Sinneswerkzeuge aus. Steht er darum höher als der Deutsche? Vielleicht nicht.

Er zeigt aber täglich, was er ist, während wir nicht einmal wissen, was wir bei einer naturgemäßeren Lebensweise sein könnten.

Wer wird es uns lehren?

Entweder wir selbst, indem

wir mit festem Wollen in Jedem von uns die Gesundheit

und Kraft des Volkes erhalten und vermehren, oder die Not,

die uns zuletzt sicher zwingen wird, zu erwerben, was wir heute gleichgültig vernachlässigen').

Aber die Zahllosen, die zu jeder freien Körperübung unfähig sind, weil ihre Kraft kaum ausreicht, die täglichen

Forderungen der Notdurft des Lebens zu erfüllen, wer soll ihnen helfen?

Warum vermehrt und verbessert man nicht zu ihrem

Heil die Ärzte? Die guten Ärzte bei uns leisten am Kranken das Men­

schenmögliche und stehen in Wissen und Können höher als die Ärzte aller anderen Länder.

allen Heilmitteln

Aber mit aller Kunst und

der Welt würden sie auch in vielfacher

Zahl und Tüchtigkeit immer außerstande sein, die Schwäch­ linge zu kräftigen, die Zahl der Waffenfähigen ihres Landes

um den kleinsten Bruchtell zu erhöhens.

Um so weniger

versöhnen sie sich mit den Zahlen, die ihres Volkes Elend

und Schande sind.

Was

die Zahlen

der Heeresuntauglichen,

welche

der

Statistiker ohne Verwunderung und Rührung betrachtet, da er sie als regelmäßig wiederkehrende für sehr natürlich und

notwendig halten muß, in Wirklichkeit bedeuten, das hat der Arzt bis zur Unerträglichkeit erfahren.

Ihm graut vor der

Summe, in welcher jede einzelne Ziffer die Qual eines jungen

siechen Lebens ist und unzählige durchgrämte Tage und ver­ weinte Nächte der Eltern enthält.

Ihm gräbt sich, wenn er

selbst im Laufe der Jahre ganze Reihen dieser Ziffern als

Menschen gekannt hat, die von Geburt aus um das Glück

der Gesundheit und Kraft betrogen waren, tief und tiefer ins Gemüt die Frage: wer soll, wer kann ihnen helfen?

Hat er

wieder einmal neben den verzweifelten Eltern am Kranken­

bett, an der Leiche eines Kindes gestanden und keinen anderen Trost gesunden als das Wort: das Kind wäre doch lebens­ lang ein Schwächling, ein Krüppel geblieben, es ist besser,

daß es nicht gerettet wurde; — dann fragt er feine Wisscnschaft dringend, warum ist das Kind so schwach, so wider­ standslos, so hinfällig gewesen, daß cs nicht gerettet werden

konnte von der Krankheit, die ein stärkeres Kind überwunden hätte?

Gibt es keine Hülfe gegen das Elend, das so viele

junge Menschen vernichtet und zahllose so entkräftet, daß sie lebenslang vergeblich

das Gefühl völliger Gesundheit und

überreicher Kraft ersehnen; gegen das Elend, das nicht nur

Leben und Glück des Einzelnen, sondern überdies Bildung

und Veredelung

des Volkes,

den

Fortschritt

der

ganzen

Menschheit immer aufs neue vereitelt?

Und mit dem Arzt vereint sich der Erzieher in der

Frage:

Wäre es nicht möglich, den Fortschritt der Mensch­

heit freudiger zu gestalten und zu vermehren, indem durch Verbesserung der körperlichen Gesundheit und Kraft die Zahl

der Erziehbaren vergrößert und so endlich die Zahl aller

Erzogenen der Zahl aller Geborenen gleich gemacht würde?

Die Aussicht auf eine solche allgemeine Vollwertigkeit ist verlockend wie keine mehr.

Aber laßt uns, ehe wir nach

den Bedingungen fragen, unter welchen sie etwa erreichbar wäre, genauer sehen, was an der gesunden Jugend Erziehung

wirken kann.

Denn an der kranken versuchten wir vergeblich,

den Satz zu begreifen, daß der Mensch nichts sei, als was Erziehung aus ihm mache.

4. Erziehung

gibt dem

waS er nicht auch

aus

Menschen nicht»,

sich

selbst

haben

könnte; sie gibt ihm das, wa- er au» sich

selber haben leichter.

könnte,

nur geschwinder und Lessing.

Ein gesundes Kind nimmt ohne Beihülfe an, wozu die stumme Umgebung es auffordert, sobald die Ausbildung seiner Organe den äußeren Eindrücken und Anregungen entgegen­ kommt.

Der sogenannte Nachahmungstrieb ist sein Erzieher.

Nie war es nötig, einem solchen das Greifen, das Stehen,

das Gehen zu lehren.

Wahrend ein schwächliches und krankes

Kind wiederholter Aufmunterung, ja endloser Bemühungen

bedarf, bis es schließlich widerwillig an der Hand der Mutter,

am Gängelband

oder im Laufkorbe den ersten Schritt tut,

übt das Gesunde selbst seine Glieder mit Lust, wenn sie nur freigelassen werden, und gebraucht sie, sobald die nötige Ent­ wickelung und Stärke der Muskeln da ist, zu jeder Tättgkeit,

die es Andere verrichten sieht. Es kommt in gewissen Grenzen nur auf das Vorbild der Umgebung an, daß es lernt und

was es lernt*).

anmutige

Unter gebildeten Menschen lernt es geschickte

Bewegungen,

unter

ungebildeten Menschen

un­

geschickte rohe Bewegungen8); unter Tieren gewöhnt es sich die Lebensweise der Tiere an, läuft auf allen Vieren, klettert auf Bäume, frißt und säuft wie das Tier und beißt wie

seine Genossen, wenn Menschen ihm in den Weg kommen8). Ein Kind mit gesunden offenen Sinnen findet sich bald

in der Welt zurecht.

Es ergreift sie mit Augen und Ohren

und tastenden Händen, ehe wir daran denken, ihm den Ge­ brauch seiner natürlichen Werkzeuge zu zeigen.

Die Welt

seiner Sinne nährt so reich mit tausend und aber tausend

Eindrücken seinen Geist, daß wir uns immer wieder die Frage

stellen sollten, ob es gut sei, ein Übriges zu tun, wo die Natur Alles zu tun scheint.

Je bunter und weiter der Kreis

der Dinge, die ihm winken, desto lebhafter sein Verlangen, sich damit vertraut zu machen, desto größer die Lust, sich

selbst darin bewußt zu werden und zu erkennen.

Im Verkehr mit denkenden und handelnden Menschen wird das gesunde Kind vernünftig.

In der Einsamkeit ent­

wickeln sich wie die äußeren Glieder auch die inneren Werk­

zeuge seiner Vernunft ohne bestimmten Inhalt für einen zu­

künftigen Gebrauch, harrend der Erlösung wie der Schmetter­ ling in der Puppe*). Fordern

und Treiben

der Erwachsenen ist der Ent­

wickelung eines gesunden Kindes durchaus nicht förderlich.

Das stille Beispiel ist beredt genug. angemessen.

An Kindern

Nicht jedes Beispiel ist

erziehen sich Kinder gewöhnlich

leichter und schneller als an Erwachsenen.

Vergleicht einmal

in einer kinderreichen Familie das Erstgeborene und die Nach­ folgenden. Jenes wurde mit der großen Sorge und Neulust einer jungen Mutter von Tag zu Tag geleitet, angeregt, be­

lehrt.

Es

machte gute Fortschritte

und schmeichelte dem

Mutterstolz als vermeintliche Frucht ihrer Bemühungen. Dann

kam das zweite, dritte, vierte Kind.

Der Mutter blieb nicht

die Zeit, nicht die Kraft mehr, jedem die ruhelose Geschäftig­ keit zu widmen, welche sie dem Erstgeborenen bereit hielt; die

leibliche Pflege des Kleinen füllte allein die Zeit aus.

Aber

zu ihrem Erstaunen entwickelten sich die jüngeren Geschwister

in jeder Beziehung noch besser als das Älteste.

Jede erfahrene Mutter gesteht es zuletzt:

Die besten

Lehrer der Kinder sind Kinder; sie ahmen leichter und lieber

ihresgleichen nach als den Erwachsenen.

Wir Eltern sind

ihnen fast ein Hindernis, weil wir verlangen anstatt vor­

zumachen, ermüden anstatt anzuregen, verwirren anstatt zu belehren. Die jüngeren Kinder entwickeln sich also besser, nicht weil die Eltern mehr Übung im Erziehen gewonnen, sondern

die ungeduldige Lust oder die überflüssige Zeit dazu ver­ loren haben.

Darum sind auch die zahlreichen Kinder der

Taglöhner und Landleute, indem sie sich selbst und einander

überlassen werden, verhältnismäßig weit geschickter und klüger und gesitteter als das von Erziehern, von Eltern, Lehrern,

Dienstboten stets umgebene Kind des Reichen, bei welchem höchstens ein widerwilliger Gehorsam

befriedigt

und

urteillose und unbescheidene Altklugheit verblüfft.

eine

In der

Schule ist der Nachteil einer übertriebenen Beeinflussung des Kindes nicht weniger deutlich.

Das sicherste Mittel, einen

gutbcanlagten Schüler zu verdummen, ist dieses, daß der pflichteifrige Lehrer, um aus dem seltenen Gast einen Stolz

seiner Schulklasse zu machen, ihm unausgesetzt seinen beson­

deren Eifer zuwendet. Wozu also, fragt ihr, Erziehung für ein begabtes, ge­

sundes Kind, wenn sie hinderlich und schädlich ist? wir etwa dem Schafhirt folgen, der uns versichert:

Sollen

„Die

Hauptsache bleibt das Waschen und Kämmen, das Füttern

und daß feind sich überfrißt; für alles Übrige sorgt der liebe

Gott"). Nicht Erziehung an sich ist schädlich; aber die falsche ist es. Und welche Art ist denn gut und zweckmäßig? Wovon sollen wir sie lernen?

Ich habe es gesagt: von den Kindern.

Oder wenn ihr

von diesen nicht lernen könnt, überlaßt die Erziehung den Kindern.

Eine andere Frage ist die: Was wollt ihr mit der Er­ ziehung erreichen?

Es kann euch nicht gleichgültig sein, wie

und wozu das Kind seine Glieder bewegt, was sich sein Geist aneignet, was es für sittlich hält.

Die Richtung seines Lebens

ist es, was Erziehung ihm geben kann und geben soll. Das gesunde Kind lernt essen ohne Hülfe.

Aber wie es

ißt, das hängt von dem Beispiel seiner Umgebung ab.

Wenn

die Eltern mit Anstand essen, so wird das gesunde Kind es auch tun.

Aber wenn der Vater seine Suppe mit Geräusch

schlürft, so schlürft der Junge, der von Natur allen Lärm und alle Bewegung liebt, ebenfalls und, wenn möglich, noch lär­

mender, und nun hat die Mutter Gelegenheit, ein schlechtes Beispiel durch Mahnen und selbst durch Strafen im Namen der Erziehung zur Anständigkeit auszugleichen.

„Der Himmel

belohnt die Tugend der Mutter durch die gute Artung ihrer

Kinder""); aber die Mütter strafen auch ost an den Kindern die Sünden der Väter.

Ein gesundes Kind braucht ihr nicht zum Essen anzu­ halten; cs verlangt nach Nahrung, wenn es Hunger hat, und Hunger hat es zur richtigen Zeit.

Aber ihr müßt die Speisen

für dasselbe auswählen, da es nicht immer unterscheidet, was

ihm zuträglich oder nachteilig ist. Ein

gesundes

Kind

bedarf keiner Aufforderung zum

Lernen; es lernt aus eigenem Triebe, gern und leicht, ohne daß ihr es dazu anspornt.

Aber die Dinge, die es lernen

soll, müßt ihr wählen, damit es nicht unbewußt das Über­

flüssige oder Schädliche ergreife und seine Zeit und sich verderbe.

Kennt ihr die Geschichte von den Hunden des Lycurgus? Dieser weise Gesetzgeber der Spartaner nahm zwei Hunde von

einem Wurf und zog sie in verschiedener Weise auf, den einen

zum leckeren und bequemen Näscher, den anderen zum Auf­ spürer und Erjager des Wildes. Als die Tiere herangewachsen

waren, benutzte er die Gelegenheit einer Volksversammlung, um den Spartanern zu sagen und zu zeigen, wie großen Ein­

fluß Gewöhnung und Unterricht auf das Denken und Han­

deln habe; er ließ die beiden Hunde vorführen und setzte einen

Braten und einen lebendigen Hasen vor sie; sogleich sprang der eine Hund dem Hasen nach, der andere ging zur Braten­

schüssel.

Als die Spartaner nicht begriffen, was Lycurgus

mit den Hunden wollte, sprach er: Beide Hunde sind von denselben Eltern zur selben Zeit geboren, aber auf verschiedene

Weise erzogen worden; so wurde der eine ein Leckermaul, der andere ein Jagdhunds.

Ein gesundes Kind ernährt Leib und Geist aus eigenem Triebe; es trifft nur nicht immer die richtige Wahl; und diese zu treffen und zugleich schlechte Gelegenheiten und Einwir­

kungen aus der Umgebung zu entfernen, sie durch das eigene

Beispiel abzuschwächen und auszulöschen oder, was immer bedenllich ist, sie dem Kinde als schlecht zu widerraten, das

ist die Aufgabe der Erziehung, die es mit gesunden Kindern

zu tun hat. Freilich, um dem Kinde die richtige körperliche und geistige

Nahrung zu bestimmen, müßten die Eltern selbst wissen, was

not tut, und weniger dem trägen Herkommen und der Tages­

mode und dem Gerede der Leute, als ihrer Einsicht und dem

Rate weiser Männer folgen 8).---------Eine weit schwierigere, umfänglichere, mühevollere Auf­ gabe ist die Erziehung des schwächlichen, kränklichen, verküm­ merten Kindes.

Da werden unzählige Hülfsmittel und Heil­

mittel nötig. Greist das gesunde Kind unaufgefordert zu den Speisen,

wenn es Hunger hat, und weist sie ab, wenn die Lust gestillt

ist, so habt ihr bei einem kranken eure Not, ihm die Nahrung anzubieten,

sie

ihm besonders schmackhaft und reizend zu

machen, oder auch es vor der Überfüllung mit Speisen zu schützen.

Freut sich das gesunde Kind am Tage auf Be­

wegung und am Abend auf den Schlaf, so habt ihr eure

Last, das träge zum Spielen, zum Laufen und Springen an-

zuspomen und das reizbare, aufgeregte zu später Stunde ins

Bett zu bringen. Lernt das gesunde Kind gerne, leicht und rasch von seiner

Umgebung, von seinen Lehrern, aus seinen Büchern, wenn

ihm nur Angemessenes und Verständliches angeboten wird, so

müht ihr euch ohne Rast, dem kränklichen Kinde Lust zum Lernen zu machen, es zu überreden, es zu zwingen, und seht

doch zu eurem Leid, daß es hinter dem andern überall zurück­ bleibt.

Oder auch, ihr habt seine einseitigen Neigungen, seine

ausschweifende Fragesucht

und Lesewut zu bekämpfen und

schwebt in beständiger Furcht, das rastlose arme Gehirn möchte

den elenden Körper verzehren. Hat das gesunde Kind eine natürliche Sittlichkeit, welche es zwar nicht gleich für unsere feinen und gebildeten Gesell­

schaftskreise erträglich aber doch vor den Augen eines ver­

nünftigen Mannes liebenswert und erfreulich macht, so habt ihr beim kränllichen Kinde unzählige Gelegenheiten, kleine und

große Laster, Unsauberkeit, Unkeuschheit, Lügenhaftigkeit, Nasch­

haftigkeit, Unverträglichkeit,

Zornmütigkeit mit Ermahnung

und Befehl und Strafe im Zaume zu halten, und geringe Hoffnung, sie je ganz auszurotten.

Und bei allen diesen Erziehungsbestrebungen an schwäch­ lichen und kranken Kindern peinigt euch beständig der Zweifel, ob ihr etwas erreichen werdet und wie weit ihr mit Auf­

munterung oder Abmahnung, mit Drohung oder Züchtigung gehen dürst, um euren Zweck zu erreichen, ohne zu schaden. Der Zweifel ist nur zu sehr begründet.

Ihr müßtet,

— das ahnt ihr mehr oder weniger deutlich, — ihr müßtet

in jedem Falle genau die Ursachen des Übels kennen, um eine erfolgreiche, glückbringende Gegenwirkung zu treffen, und diese Kenntnis fehlt euch leider ganz.

Nun geht ihr nach Rat zu Freunden, zu Lehrern, zu

Priestern, zu Ärzten, um meistens doppelt mutlos zurückzu­

kehren, nachdem ihre Worte und vielerlei Mittel aber keine Sticker, Gesundheit u. Erziehung.

2. Aufl.

4

Hülfe gefunden habt, vielmehr erfahren mußtet, daß ein Fremder

selten raten kann, wenn die eigenen Eltern ihr Kind nicht

mehr verstehen.

Dann meint ihr verzweifelnd, es sei besser,

die Dinge gehen zu lassen, wie sie gehen wollen, oder ihr

quält Herz und Hirn ab mit der rastlosen Frage: Wer gibt mir Einsicht, wer kann mir helfen? Ihr selbst könnt euch helfen; habet nur den Mut und

die Kraft zur ungeschminkten Wahrheit;

belügt euch nicht

selbst, schickt euch in das Unvermeidliche, aber verzagt nicht

im Erringen des Möglichen.

Versucht einmal, alle geistigen und sittlichen Mängel und Auswüchse als Folgen und Zeichen körperlicher Fehler zu be­

trachten und das Erziehungswerk am Kinde mit schlechten Neigungen oder mit unzureichender Begabung als einen Teil

der Heilkunde anzusehen, die ihre natürlichen Mittel und ihre natürlichen Grenzen hat.

Dann lernt ihr verstehen, was Er­

ziehung soll, was Erziehung kann.

Vielleicht macht euch ein Beispiel, das aus dem Grenz­ gebiet der Erzieher und der Ärzte genommen ist, den Vor­ schlag annehmbarer. Wir gehen in das Aufnahmezimmer einer Lehranstalt

für stumme Kinder und verfolgen mit Aufmerksamkeit, wie der

Vorsteher und der Anstaltsarzt gemeinsam') die hülfesuchenden Kinder prüfen und wie sie dann darüber beraten, welche von ihnen

ärztliche Hülfe bedürfen, welche zum Unterricht im

Sprechen geeignet sind und welche als unheilbar und unver­

besserlich den Eltern zurückgegeben werden müssen, damit diese sie zu Hause pflegen oder in einer Anstalt für hülflose Blöd­ sinnige unterbringen.

Wir gewahren alsbald, wie die stummen

Kinder gesondert werden, je nachdem ein Mangel an den Sprachwerkzeugen der Grund ihrer Stummheit ist oder der

Mangel an Hörvermögen, und wie man genau untersucht, ob

die äußeren Werkzeuge des Gehörs oder des Sprechens krank sind oder ob die Bildung der inneren Gehirnteile, welche das

vom Ohr Empfangene zum Bewußtsein bringen und die Be­

wegung zum Sprechen auslösen, gestört ist. Ein Kind, so sagen uns die Sachverständigen, welchem

die Gebrauchsfähigkeit der äußeren Sprechwerkzeuge abgeht, ist für den Sprechunterricht so unbrauchbar wie ein Kind zum

Gehen untüchtig ist, das keine Beine oder lahme Beine hat.

Man wird ihm aber eine Zeichensprache, das Fingeralphabet oder das Schreiben oder auch beides beibringen, wie man dem fußlosen Kind die Fortbewegung seines Körpers mittelst

der Arme auf Krücken lehrt. Ein

Kind

ohne

die

inneren

Sprachwerkzeuge

muß

als unfähig zu jedem Unterricht im Sprechen, überhaupt

zu jedem

geistigen

Verkehr

durch

Mundsprache

oder Ge­

bärdensprache oder Schriftsprache abgewiesen und seine Eltern

müssen

auf spätere Zeiten vertröstet werden, wo etwa sein

Gehirn sich

noch

nachträglich entwickelt.

Bis dahin wäre 4*

an ihm jeder Sprachunterricht so verloren wie am sprach­ losen Tiere.

Nun ist glücklicherweise ein gänzlicher Mangel der Werk­ zeuge des Sprechens und der Sprache äußerst selten, so daß

die

meisten Hülfcsuchenden

mit Fehlern

daran

wenigstens

versuchsweise zum Unterricht zugelassen werden, und es zeigt

sich dann oft, daß aus kleinen Resten, ja aus Spuren der

zum Sprechen unentbehrlichen Teile durch geeignete Pflege und Übung allmählich recht erfreuliche Fähigkeiten sich ent­

wickeln

lassen, welche die Anstrengungen

der Lehrer

und

Schüler reichlich lohnen. In eine zweite Gruppe wurden die Kinder gestellt, bei

welchen ein Mangel an den Gehörswerkzeugen die Ursache der Stummheit ist.

Sie sind stumm geblieben, weil sie das

Sprechen der Mutter und ihrer Umgebung nie gehört haben;

sie würden reden lernen, sobald ihre Taubheit geheilt wäre, müßten aber zeitlebens taubstumm bleiben, wenn cs weder

gelänge, ihr Gehör herzustellen, noch auch möglich wäre, ihr Gehör durch irgend einen anderen Sinn zu ersetzen.

Die Erziehung, welche einem unheilbar tauben Kinde die Sprache schenken soll, besteht nun darin, daß die Kunst der Lautbildung, welche sein Gehör ihm nicht vermittelt, auf Um­

wegen in seinem Bewußtsein geweckt wird.

nimmt der Taubstummenlehrer

Zu diesem Zwecke

gewöhnlich

das Auge

des

Kindes zu Hülfe; er zeigt ihm die Mundstellungen, die Lippen-

bewegungen, die Zungenbewegungen, welche wir beim Aus­ sprechen der einzelnen Laute und Wörter machen, und indem

er cs gewöhnt, diese Bewegungen und Stellungen immer

besser nachzuahmen, bildet er es allmählich zur Kunst, sich

mit verständlichen Lauten und endlich mit fehlerloser Rede

auszudrücken.

Dabei bleibt es nun gewöhnlich nicht aus, daß

der Lehrer, um Alles recht deutlich zu zeigen, übertriebene

Vorstellungen des Sprechens macht und der taube Schüler,

dem ohnehin das Urteil über die notwendige Stärke seiner Laute abgeht, wenigstens im Anfang sich an ein schreiendes

eintöniges Sprechen mit zahlreichen Grimassen gewöhnt, so

daß

er das Zerrbild seines Lehrers darstellt, wenn nicht

frühzeitig

nach

dem Rat

der

Gesanglehrer

mittels

eines

Spiegels sein Auge zum Wächter der Ausdrucksbewegungen gemacht wird.

Die

angedeutete

Art

des

Unterrichtes")

führt

am

sichersten zum Ziel, wenn das Kind mit einem Rest des Hörvermögens den Bemühungen des Lehrers entgegenkommt.

Doch auch ganz tauben Kindern hat man damit die Sprache gegeben.

Je nachdem ein mehr oder weniger großer Rest des Gehörs erhalten ist, kann

derselbe

statt des Auges oder

wenigstens zugleich mit dem Auge beim Sprechunterricht be­ nutzt werden.

Auch ohne Unterricht lernt das Kind damit

sprechen, aber für uns unverständlich.

Indem nämlich nur

Spuren der Mutterstimme durch sein Ohr zum Bewußtsein

dringen, sondert es allmählich diese Spuren und lernt sie verstehen, wie das vollhörige Kind die volle Sprache der Mutter in Wörter und Begriffe sondern und verstehen lernt.

Für unser Ohr wäre, was das halbtaube oder fast taube

Kind vernimmt, eine Folge unklarer Töne und Laute, ge­

wissermaßen eine Reihe schwer zu entziffernder Bruchstücke

von einer verwischten Schrift oder eine Folge unpunftierter hebräischer Zeilen.

Das Kind mit verstümmeltem Gehör ist

nicht anders gewöhnt als Bruchstücke der Rede zu hören; darum hat es gelernt, den Sinn von Bruchstücken zu ver­

stehen und nach Bruchstücken seine Gegenrede zu bilden, die ihm selbst deutlich und begreiflich vorkommt, uns aber ein

verworrenes unverständliches Lallen bleibt, falls wir nicht

etwa, wie die Mutter des Kindes, durch lange Gewöhnung

im Verstehen derselben geübt oder feine Sprachkenner sind, denen es leicht wird, verstümmelte Laute zu ergänzen. An diesem Beispiel erkennt ihr, wie eine geeignete Er­ ziehung imstande ist, Fehler der menschlichen Körperteile und ihrer Verrichtungen dadurch auszugleichen, daß sie die vor­

handenen Reste der kranken Teile übt oder den gänzlichen

Mangel ihrer Tätigkeit durch die Hülfe Teile ersetzt.

anderer

gesunder

Ihr ahnt aber auch, daß große Mühe und

viel Zeit aufgewendet werden muß, bis solche Fehler durch

Erziehung ausgeglichen

werden.

Alle die

Jahre rastloser

Anstrengung, welche der Taubstummenlehrer aufwendet, dem Kinde das Sprechen

beizubringen, gehen verloren für den

Unterricht in anderen Dingen, die jedes gesunde Kind, welches

die Fähigkeiten des Hörens und Sprechens ohne Kunsthülfe besitzt, inzwischen mühelos erlernt.

Nun versucht einmal die Anwendung vom Unterrichte der

Taubstummen

auf

die Erziehung

eines

Kindes

mit

geistigen oder sittlichen Fehlern! Seht ihr nicht, daß auch

bei ihm verschiedene Möglichkeiten, auf denen der Fehler be­

ruhen könne, erwogen und erforscht werden müssen, daß auch

bei ihm je nach der Ursache und dem Umfang des Fehlers die Hülfsmittel der Heilkunde mit den Hülfsmitteln der Er­ ziehung zugleich in Frage kommen, daß auch bei ihm der

Erfolg der angewendeten Mittel wiederum abhängen wird

von der Ursache und dem Grad des Fehlers? Vielleicht bringt ein zweites Beispiel vom Grenzgebiet der Heilkunde und der Erziehung das, was ich verlange, dem

Verständnis noch näher.

Ihr habt davon gehört oder es

selbst erfahren, daß Blindgeborene wie Blindgewordene das

fehlende Augenlicht in manchen Fällen durch ärztliche Hülfe wiedererhalten, daß es ihnen in anderen Fällen dadurch er­ setzt werden muß, daß sie gewöhnt werden, das Erkennen,

das Suchen, das Lesen, welches ihre Augen nicht verrichten

können, mit dem tastenden Finger auszuführen. Bei manchen der unheilbar Blinden kommt es nun neben

der Ausbildung des Tastsinnes in den Fingern allmählich zu einer Vervollkommnung des ganzen Hautgefühls, des Ge­ ruchs und des Gehörs, welche ihnen gestattet, die verschieden­ sten Eindrücke der Außenwelt zur Erkennung ihrer Umgebung

so zu verwerten, daß sie sich nach und nach wie Sehende

darin

zurechtfinden.

Einzelne Blinde

brachten es in der

Verwertung ihres Hautgefühls so weit, daß sie die geringsten

Veränderungen im Widerstände

der Luft

empfanden

und

richtig deuteten, so zwar, daß sie in geschlossenen Räumen

und, bei unbewegter Atmosphäre, auch im Freien größere

Gegenstände, Tische, Bäume, Personen, aus der Änderung

der Luftströmungen mehrere Schritte weit erkannten").

Bei anderen entwickelte sich der Geruchsinn in so un­ gewöhnlichem Grade, daß sie mit seiner Hülfe Personen und

angehörige

ihnen

Dinge

unterschieden").

Wieder

andere

bildeten ihr Ohr zu einer Feinheit, daß sie durch das Gehör geleitet die freiesten Bewegungen ausführten, ja mit Sehen­ den

in

konnten.

der

Überwindung

von Weghindernissen

wetteifern

Örter, an welchen sie einmal gewesen waren, er­

kannten sie nach langer Zeit wieder durch den Schall ihrer

Schritte am Boden und an den Mauern.

In der Nacht

wandelten sie sicherer als am Tage, weil keine störenden Geräusche ihr Ohr verwirrten.

Wege in den Alpen, welche

bei Tage einem Sehenden tausend Schwierigkeiten und Ge­ fahren bereiteten, ging ein Blinder in der Nacht mühelos,

wenn das Wetter klar und füll war.

Aber das Rollen

eines Wagens, das Sausen eines Sturmes, das Rauschen eines Wasserfalls verwirrte seinen Weg.

Wind und Regen

waren seine 9Zad)tls). So kann also der Mangel eines Sinnes durch die Aus­

bildung eines anderen Sinnes oder mehrerer anderen ersetzt werden.

Der Geist, dem die Sinnenwelt von einer Seite

verschlossen bleibt, ruht nicht, bis er zu ihr neue Wege sich

eröffnet hat, die unter gewöhnlichen Verhältnissen von ihm

unbenutzt bleiben.

Ja auch den Reinsten Ausweg, der ihm

zum Verkehr mit der Außenwelt bleibt, benutzt er, um über

alle Hindernisse zu siegen, wie die höchst merkwürdigen Fälle beweisen, in welchen Taubstummblinde und sogar Menschen,

denen außer dem Gefühlssinn alle anderen Empfindungen, Gesicht und Gehör und Geruch und Geschmack, ganz oder

fast ganz zerstört waren, aus der tiefen Abgeschlossenheit ihres Daseins einzig und allein durch den Gefühlssinn zur

Erkenntnis der Welt, der Menschheit und ihrer selbst gelangt sind.

Diese lebendig Begrabenen, in deren Nacht kein Licht-

sttahl aus der umgebenden Welt dringt, deren schweigende Einsamkeit kein Laut unterbricht, deren eintöniges Dasein kein

Duft, kein Geschmacksreiz belebt, denen nichts, gar nichts ver­ raten will, daß außer ihnen eine Schöpfung voll Licht und

Schall und Genuß webt, daß außer ihnen eine unermeßliche Welt von Gestalten und Gedanken, von Freude und Qual,

von Gut und Böse in ununterbrochenem Wechsel entsteht und vergeht, diese tief Abgeschlossenen fanden den Weg in das gemeinsame Leben der Menschen, wenn ein Lehrer sich ihrer

annahm und die Bewegung und das Gefühl ihrer Finger­ spitzen

benutzte,

ihnen die erste Bedingung aller geistigen

Tätigkeit und jeglichen Menschcnverkehrs, die Sprache, zu vermitteln.

Zu dem Zweck lernten sie zuerst die greifbaren

Dinge und dann mit den greifbaren Dingen an erhabenen Buchstaben den Namen der Dinge, den Schriftausdruck und

Gedankenausdruck

der Dinge

ertasten;

allmählich wurden

ihnen die feineren tastbaren Eigenschaften

räumlichen

Beziehungen

eigenen Leibe klar.

der Dinge

der Dinge, die

zueinander

und zum

Es entstanden die abgezogenen Begriffe

der Dinge, die Vorstellungen von Raum und Zeit, von Ur­ sache und Folge, und endlich überlieferten ihnen Fingersprache

und Schriftsprache die Ideen der Menschen über sich und

die Welt und Gott.

Kurz, der Tastsinn offenbarte ihrem

Geiste alle sinnlichen und übersinnlichen Wissenschaften, die in uns durch fünf Sinne gebildet und erweckt werden").

Nicht an allen Sinnberaubten vollzog sich durch solchen Unterricht der Übergang aus dem bewußtlosen Dunkel des ungeborenen Menschen in die Helle des Bewußtseins, welche das Dasein des vollsinnigen Menschen nach der Geburt von

Tag zu Tag mehr klärt.

Bei vielen von ihnen blieb der

Erfolg aus oder war so gering, daß sie im selben Dunkel

die Welt

verließen,

in

welchem

sie hineingetreten waren.

Entweder machten die Bemühungen des Lehrers überhaupt

keinen Eindruck auf sie, sie verharrten in blöder Stumpf­ sinnigkeit; oder sie übernahmen ohne Begier und ohne Freude

die Anstrengungen, welche das Lernen ihrem Geist auferlegte, und ließen bald wieder fahren, was ihnen mühsam beigebracht

worden war, well sie so wenig damit anzufangen wußten,

wie etwa der zum Einjährig-Freiwilligendienst Gepreßte mit dem fremden Latein und Griechisch, das er für ein wider­ wärtiges Examen mühsam und unwillig ausgenommen hat.

Die aber, welche den Anstrengungen des Lehrers freudig antworteten, warteten nicht einmal auf den Beginn seiner

Tätigkeit, sondern arbeiteten schon vorher an dem Wege zum

Verkehr ihres Bewußtseins mit der Außenwelt in rastloser Selbsterziehung ihres Tastsinnes, wie Verschüttete in einem

Bergwerk mit allen vorhandenen Werkzeugen dem Licht ent­ gegengraben und mit scharfer Aufmerksamkeit lauschen, ob

ein Retter ein Zeichen gebe, damit sie ihm durch Pochen den Weg anzeigen, den er nehmen soll.

Die toten Unglücks­

gefährten aber wurden nur ausgegraben, um aufs neue be­ stattet zu werden. Es ist also klar, daß der Versuch geistiger Erziehung

am sinnberaubten Zögling ein Unterricht ist, der gelingt, wenn er an jungen Menschen gemacht wird, welche von selbst

lernen

würden,

falls

der Mangel

ihrer Sinne sie nicht

hinderte, mit der Außenwelt in Verkehr zu treten; der aber mißlingt, wenn er an menschenähnlichen Krüppeln verschwendet

wird, denen außer den Sinnen noch etwas fehlt, was bei der geistigen Erziehung vorausgesetzt wird.

Ganz ebenso, fanden

wir, steht es um die Erziehung der vollsinnigen Kinder. Die einen haben Erfolg im Lernen, weil sie lernbegierig und lern­

tüchtig sind, die anderen werden ohne Erfolg unterrichtet, weil sie trotz der vollen Sinne die innere Begabung nicht haben.

Zwischen der gänzlichen Sinnberaubung und der höchsten

Vollsinnigkcit liegen natürlich alle Grade der größeren oder geringeren Sinnesschwäche und ihnen entsprechend hängt der Erfolg oder der Mißerfolg bei der Erziehung das eine Mal

mehr vom Schüler, das andere Mal mehr vom Lehrer ab. Und wiederum bestehen bei Kindern mit gleicher Sinnen­

tüchtigkeit die verschiedensten Grade der Lcrnbegier und Lern­ fähigkeit, die dem Ergebnis der Erziehungskunst natürliche

Schranken setzen.

Wie mit der Schulung des Verstandes, verhält es sich mit der Schulung der Sittlichkeit.

Die sittliche Erziehung

ist entweder die Unterweisung und Übung eines Kindes, das

gerne und willig den Vorschriften folgt, die ihm nicht schwer fallen, vielmehr seiner Natur gemäß sind,

Aufzucht eines

Kindes, das widerwillig

oder sie ist die

gehorcht, weil es

Zwang und Qual in der Unterordnung unter Gesetze em­ pfindet, die ihm ein Stärkerer aufcrlegt, denen seine Natur

aber entfremdet ist. Auch zwischen dem Kinde mit angeborener

Lust zur Sitte und dem Kinde mit Abneigung dawider liegen alle Grade des Unterschiedes. Worauf beruht diese Verschiedenheit?

Wie kommt es,

daß das eine Kind sich selbst erzieht, das andere von den besten Eltern und Lehrern nicht erzogen wird?

es, daß

Wie kommt

bei dem einen Taubstummblinden die Erlernung

irgend eines Verkehrsmittel mit anderen Menschen, der Finger­

sprache oder der Schriftsprache oder der Mundsprache, den

Hunger nach Wissen und Können, nach Wollen und Voll­ bringen, weckt und täglich mehr nährt, bei dem anderen der

Sprachunterricht

nicht

gelingt

oder sich als eine nutzlose

Mühe des Erziehers herausstellt, die unfruchtbarer bleibt als das Sprechenlehren bei Staren und Papageien und Pudeln? In dem einen, sagt ihr, wirkt ein lebendiger Geist, in

dem anderen fehlt das geistige Leben. Gewiß ist es so.

Wem der Geist fehlt, dem nützen

seine Sinne nichts und dem helfen die besten Lehrer nichts.

Je mehr Geist Einer hat, desto mehr kann er den Lehrer entbehren und desto siegreicher überwindet er etwa vorhandene Mängel seines Leibes.

Der geistig begabte Blinde steht hoch

über dem Vollsinnigen ohne Geist.

Ja der Widerstand, den

die Gebrechen der Sinne ihm entgegensetzen, eröffnen dem Geist mit neuen Aufgaben auch neue Erfolge 15). ist immer die größte Lehrerin.

Die Not

Es ist nicht zufällig, daß

einer der bedeutendsten Blindenlehrer selbst blind von früher Jugend an war"), daß wichtige Entdeckungen in der Kunst

des Unterrichtes der Sinne von Sinnberaubten gemacht worden sind") und daß unter den Blinden sich so manche Ruhm in den Künsten der Phantasie und in den Wissenschaften er­

warben").

Wer den meisten Geist hat, ist der Lehrer der

Anderen, auch wenn Fehler seiner Glieder ihn hülflos machen oder die geringere Zahl der Jahre und die Lebensstellung

ihm den Namen des Schülers geben.

Die größeren Geister

sind die Erzieher der Menschen und der Menschheit.

Aber was ist denn der Geist, von dem wir sprechen,

mit dem wir so bekannt tun, als ob wir ihn gesehen hätten, den wir loben, wenn etwas Tüchtiges und Gutes sich kund­

tut, den wir schelten, wenn er fehlt? Fragt doch die Weisen wartet

vergeblich

auf

der Erde darum.

Antwort.

Keiner,

der

Aber ihr

ehrlich

ist

und sich des Wortgeflunkers schämt, gibt einen anderen Be­

scheid, als ihr euch selbst geben könnt: Wir wissen es nicht. Für unseren Zweck brauchen wir es auch gar nicht zu

wissen. Was wir wissen müssen, das sind nur die Bedingungen, unter welchen die Kraft,

die wir Geist nennen, vorhanden

ist oder fehlt, unter denen sie wirkt oder ruht, unter denen

ihre Wirkungen groß sind oder klein. Die Frage danach beantwortet uns die Wissenschaft des Arztes.

Die notwendige, die unentbehrliche Voraussetzung aller

geistigen Tätigkeit ist das Instrument des Geistes, das Ge­ hirn.

Jede geistige Empfängnis und jede geistige Äußerung

hängt vom Vorhandensein bestimmter Gehirnteile ab.

Einen

Menschen ohne Gehirn versucht ihr vergeblich zu unterrichten

und zu bilden.

Der geistig höhere Mensch unterscheidet sich

vom geistig niederen in nichts als in der Ausbildung und

Kraft seines Gehirns.

Statt der Ausdrücke, ein Mensch steht

geistig hoch, er ist geistesarm, dürfen und müssen wir sagen, er hat viel Gehirn, er hat wenig Gehirn, wie wir ja auch

die Ausdrücke, er ist stark, er hat viel Muskel, oder er ist schwach, er hat wenig Muskel, in gleicher Bedeutung ab­ wechselnd gebrauchen.

Wer einem

schwächlichen

Kinde die

Muskelmasse vermehrt, der macht es stark, und wer einem

geistig elenden, einem sittlich minderwertigen Kinde Masse und Tätigkeit bestimmter Gehirnteile vermehren könnte, der

würde es zum verständigen und sittlichen machen. Die geistigen Strafte, Verstand

und Wille, haben die

Erzieher seit Jahrtausenden vergeblich zu vermehren und zu stärken versucht.

Wie wäre es, wenn wir einmal anfingen,

das Organ dieser Kräfte, das Gehirn zu verbessern?

Hängen in der Tat Einsicht und Sittlichkeit von der Be­

schaffenheit unseres Gehirns ab?

Wir wollen es untersuchen.

5. Man soll sich gewöhnen, seine Geister­ kräfte durchaus al» physiologische Funktionen

zu betrachten, um danach sie zu behandeln, anzuftrengen u. s. w., und zu

zu schonen,

bedenken, daß jede» körperliche Leiden, Be­

schwerde, Unordnung,

in welchem Teil eS

auch fei, den Geist affizirt. Schopenhauer.

Einige Naturforscher sagen: ohne Gehirn kein Gedanke!

Vielleicht behaupten sie damit zu viel. Sie selbst und wir alle bilden keinen Gedanken

unser Gehirn.

ohne

Aber daraus zu schließen, daß nur, wo Gehirn

ist, der Gedanke webt, das ist nicht weniger eitel als die

Behauptung des Einzelnen sein würde, außer meinem Gehirn

kein Gedanke. Die Natur hat viele Formen, unter denen sie ihre Gaben

verleiht und

ihre Kräfte zeigt.

Sie

läßt den Phosphor

leuchten und das Glühwürmchen, den Blitz und die Sonne:

und wenn sie alle diese Lichtträger vergehen läßt, dann gibt sie anderen Dingen die Leuchtkraft.

Warum sollte sie Be­

wußtsein und Erkenntnis auf Gehirnmasse und ihre vergäng-

liche Dauer beschränkt haben?

Sie hat Räume und Seiten,

wohin unser Erkennen nicht gedrungen ist.

So ziemt es uns,

mit Ehrfurcht zu warten, ob uns Geheimnisse unseres Seins enthüllt werden, die wir heute nicht begreifen.

Dieses Menschen

jedoch

ist

sicher

und

Für

unleugbar.

uns

in unserem jetzigen Zustande gibt es keinen Ge­

danken ohne unser Gehirn; für uns geht mit dem Verlust

des Gehirnes jede Spur von Bewußtsein und Vernunft und Sitte verloren.

kann

in

Die höchste Einsicht und die festeste Tugend

jedem Menschen

augenblicklich

wenn sein Gehirn verändert wird.

vernichtet

werden,

Das Werkzeug des Geistes

ist das Gehirn und die höchsten

menschlichen Fähigkeiten,

Verstand und Sittlichkeit, sind ebensosehr durch ihre Organe bedingt wie die niedersten *).

Und wie die Erhaltung der

niederen Körperteile von der Wachsamkeit der höheren ab­

hängt^), so ist der vorzüglichste Teil wiederum nur völlig

imstande, wenn der übrige Körper wohlauferbaut ist. Die Naturgeschichte des Menschen und der Tiere, die Völkerkunde, die Krankheitslehre, die tägliche Erfahrung, die

jeder Einzelne an sich machen

kann, sie

alle

sprechen

in

gleichem Sinne8). Mensch wie Tier werden blödsinnig, wenn ihr Vorder­ hirn zerstört wird.

Wird es ganz weggenommen, so bleibt

das Bewußtsein für immer aus; wird es nur vorübergehend

gelähmt durch betäubenden Schlag oder betäubendes Gift, so Sticker, Gesundheit u. Erziehung.

2. Aufl.

5

das

kehrt wieder.

geistigen

Bewußtsein

mit

der

Erholung

des

Gehirnes

Die Klarheit des Bewußtseins und die Höhe der

Fähigkeiten

stehen

im

geraden

Verhältnis

Größe und Entwickelung bestimmter Gehirntcile.

zur

Aus dem

kindlichen unbewußten Dasein gelangt der Mensch zum Ge­

fühl

seiner selbst und zum freien Gebrauch seiner Sinne

und Glieder nur unter der Bedingung, daß die Teile seines

Gehirnes auswachsen, welche der Erwachsene vor dem Kind voraus hat. Der Mensch besitzt von allen Tieren im Verhältnis zum

Körper das schwerste Vorderhirn, und der Teil desselben, von dessen Unversehrtheit das Bewußtsein abhängt, die Groß­ hirnrinde, ist bei ihm am bedeutendsten entwickelt.

spricht dem weitesten

Umfang seines Geistes.

Das ent­

Die Tiere,

welche wie der Mensch in Geselligkeit leben und den Trieb

zu holden Künsten haben, teilen mit ihm auch die Ausbil­ dung der Großhirnkugeln.

Der Vorstellungsreichtum beim Menschen entspricht dem Verhältnis seiner Gehirnmasse zum Körpergewicht und zur Körperlänge.

Finden wir bei den geistig hochstehenden Kultur­

völkern, bei Deutschen, Engländern, Flamländern, Franzosen,

Schotten, ein Mittelgewicht von 1300 bis 1450 Gramm, so erlangt bei den Herdenvölkern der Äquatorialneger das Ge­ hirn kaum mehr als die Hälfte jenes Gewichtes, etwa 750

Gramm, also eine Masse, welche von dem Gehirn unserer

Kinder am Ende des ersten Lebensjahres erreicht oder über­ troffen wird. Menschen und Völker mit angeborener Minderentwicke­

lung des Gehirnes sind auf keine Weise aus dem Stande der

Wildheit zur Zivilisation zu bringen. Die Versuche zivilisierter Eroberer. Negern und Indianern Aufilärung und Gesittung

zu geben, haben keinen Erfolg gehabt*). Bei geistigen Riesen steigt das Gehirngewicht weit über

das Mittel; womit nicht in Widerspruch steht, daß einseitig begabte Menschen, sogenannte Genies unter den Künstlern

und Gelehrten, Musiker, Maler, Schauspieler, Rechenkünstler, Statistiker, recht kleine Gehirne haben, und daß bei den wirk­

lichen Gewaltigen, die in hohen Jahren sterben, der Gehirn­ schwund

des

sich

Greisenalters

als

Gewichtverminderung

merklich macht.

Ausbildung besonderer geistiger Fähigkeiten bedingt beim

Menschen wie beim Tiere Ausbildung

teile.

Das

Tastorgan

unterscheidet sich

vom

des

geistig

Tastorgan

besonderer Gehirn­

hochstehenden Blinden

des

ihm

gleichstehenden

Bollsinnigen Ä) wie der große Riechlappen des Hundes, für

den die Erkenntnis der Außenwelt

Nase abhängt wie

fast

so

sehr

von der

für uns vom Auge, sich von unserem

kleinen Riechlappen, der wenig in Anspruch genommen wird, unterscheidet.

Wo

einzelne

geistige

Fähigkeiten

durch

Verlust

5*

der

äußeren Sinne und Glieder untätig geworden sind, da kann der entsprechende Gehirnteil verkümmern.

Geistig hochstehende Völker verlieren an

Hirngewicht,

wenn ihr Dasein in Knechtschaft und Lebenssorgen aufgeht.

So das ehedem hochbegabte Volk der Indier. Bei uns

hat der Mann ein Gchirngewicht von 1370

Gramm, das Weib von 1260 Gramm.

Mag

der Unter­

schied auf einer natürlichen Anlage beider Geschlechter beruhen

oder durch die gesellschaftliche Stellung des Weibes hervor­ gebracht sein, jedenfalls entspricht er dem kürzeren Verstand

des Weibes int allgemeinen. Menschen, die der geistigen Fähigkeiten ganz ermangeln,

haben auffallend kleine Gehirngewichte.

hundert Gramm

Zahlen von fünf­

und weniger, wie man sie beim gesunden

dreimonatigen Kinde findet, sind bei ihnen nicht selten.

Ihr

Gehirn zum Wachstum bringen, wäre gleichbedeutend damit, ihnen den Verstand geben.

Das ist keine leere Vermutung,

sondern Erfahrung. Es gelingt in der Tat, bei manchen jener

Idioten die Entwickclungshemmung des Gehirnes und Ver­

standes zu heilen.

Das ist der Fall bei denjenigen, deren Gc-

hirnverkümmerung in einer Krankheit begründet ist, welche sich

als sogenannte Kropffucht oder Trottelkrankheit äußert.

wirkt mitunter schon im Mutterleibe auf

Sic

das Ungeborene

ein und verursacht dann die schwersten Grade des angeborenen Blödsinns durch Behinderung des Gehirnwachstums.

Bei

der zeitigen Anwendung der Mittel gegen die Kropfsucht ent­ wickeln sich entsprechend einem neuen Wachstum des klein­

gebliebenen Kopfes und Gehirnes die geistigen Fähigkeiten. Wenn das Kropfübel Erwachsene befällt, so nimmt es auch

ihnen den Verstand in geringem oder stärkerem Grade; und die Wiederkehr des Verstandes hängt auch bei ihnen von

der Heilung des Grundleidens ab.

Wie die Kropfsucht so wird jede Schädlichkeit, welche das Gehirn trifft, für die rüstigsten Geisteskräfte verhängnis­ voll, gleichgültig ob innere Krankheiten oder äußere Gewalten

oder Gifte es angreifen oder ob ihm einfach die Nahrung

entzogen wird. Jedermann weiß, daß bei Blutleere des Gehirns durch Aderlaß oder durch genügend langes Zudrücken der Halsadern, welche das Gehim speisen, das Bewußtsein so lange ausbleibt,

bis der Blutzufluß wieder hergestellt ist.

Ebenso raubt Druck

auf das Gehirn das Bewußtsein, mag er von außen her am

unvollkommen verknöcherten Schädel ausgeübt werden oder von innen her durch krankhafte Flüssigkeitsansammlungen oder

durch wachsende Geschwülste entstehen. Gifte, die das Gehirn angrcifen, beeinflussen die geistigen

Tätigkeiten in dem Maße als sie auf das Gehim einwirken, gleichgültig ob sie vom Magen oder von anderen Körperteilen

her dem Blut mitgeteilt wurden oder sich bei Fieberkrank­ heiten, bei Darmleiden, bei Leberleiden, bei Nierenleiden im

Körper selbst bildeten und durch das Blut zum Gehirn ge­ langten.

Schnelle Vergiftungen wie mit Morphium, Chloroform, großen Weingeistmengen, heben rasch die Geisteskräfte auf, welche ganz oder teilweise mit dem Ausgleich der Vergiftung

wiederkehren.

Langsame Vergiftungen wie bei gewohnheits­

mäßigem Genuß geistiger Getränke, bei allmählicher Aufnahme von Blei, Arsenik, untergraben heimlich und schleichend die Gehirntätigkeit, die sich um so schwerer erhoft, je dauernder

das Gift eingewirkt hatte.

Bei den langsamen Vergiftungen wird das Gehirn nicht

im Ganzen auf einmal geschädigt, sondern zuerst in einzelnen

Teilen, so daß die einzelnen Fähigkeiten des Geistes erst nach und nach gehemmt und zerstört werden.

Die Wahlverwandt­

schaft der verschiedenen Gifte zu verschiedenen Hirnteilen ist

nun verschieden groß, so daß aus der gesetzmäßigen Reihen­ folge, in welcher die geistigen Kräfte erlahmen, der Arzt die

Schädlichkeit selbst zu erkennen vermag.

So zeigt sich die

fortschreitende Vergiftung des Gehirnes unter dem Einfluß gewohnheitsmäßigen Weingeistgenusses zuerst im Untergang

der geselligen Tugenden; der Trinker wird unverträglich, auf­

brausend, zuletzt roh und gewalttätig, besonders gegenüber

denen, gegen welche er schon für gewöhnlich sich gehen läßt,

gegenüber der Familie, seinen Freunden, seinen Untergebenen. Er wird ungesellig, einsam, menschenscheu.

Nach der gemüt-

lichen Verödung

des Trinkers

kommt seine

sittliche Ver­

sumpfung: Verlogenheit, Unredlichkeit, Willensschwäche, Ge­

wissenlosigkeit.

Endlich beginnt mit geistiger Trägheit und

Gleichgültigkeit ein fortschreitender Verfall des Verstandes und

der Vernunft. In der Reihenfolge der Zerstörungen verschieden zeigt

sich der Einfluß anderer Gifte und überhaupt aller derjenigen

Schädlichkeiten, welche schrittweise das ganze Gehirn ergreifen.

Wird das Gehirn nicht im Ganzen verletzt, sondern nur

in einzelnen Teilen, so kommt es auch nur zur Hemmung und zum Untergang einzelner Fähigkeiten des Geistes.

So

rauben Verwundungen des Gehirnes je nach der Ausdehnung

und der Stelle, welche getroffen ist, die Gesichtsempfindung,

die Gehörsempfindung, das Gedächtnis für bestimmte Erinnerungsreihcn, das Sprechvermögen, den Wortvorrat, die

Raumvorstellung, die Zeitschätzung, die besonnene Überlegung; oder sie führen zu Veränderungen des Charakters, zum Ver­

lust einzelner sittlicher Eigenschaften.

Zahlreich sind die Bei­

spiele, in welchen ein Schlag auf den Kopf die Erinnerung für einen ganz bestimmten Lebensabschnitt auslöschte; eine

Gehirnverletzung die Fähigkeit zu sprechen überhaupt oder eine einzelne Sprache, die Schriftsprache und so weiter, ver­

nichtete; eine Gehirnkrankheit ungezügelten Geschlechtstrieb bei einem Menschen hervorrief, der sich sonst beherrschte. — Die Bedeutung des Gehirnes und seiner Gesundheit für

die geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Menschen haben

von jeher einzelne Gelehrte, sogar Ärzte, damit zu erschüttern versucht, daß sie sagten, es gibt ja doch Menschen, welche

dumm und trage, bösartig und lasterhaft, kaum zu belehren und schwer zum Guten zu führen sind, ohne daß ein Schaden

des Gehirnes dafür verantwortlich gemacht werden könnte. Bei Verbrechern, bei Irrsinnigen, bei Blödsinnigen haben wir

das Gehirn gesund und schön entwickelt gefunden. Legt solchen Leuten

ein feines Genfer Uhrwerk vor,

welches fülle steht, wiewohl für das gewöhnliche Auge alle Teile

unverletzt

sind.

Sie

bemühen

sich

vergeblich,

mit

Brillen und Vergrößerungsgläsern den Schaden zu entdecken. Gebt das Werk einem geübten und einsichtigen Uhrmacher;

er zeigt euch die Verletzung, welche den Gang der Räder stört, sofort.

Es wird nicht mehr lange dauern, daß Einer behaupten darf, der Geist könne krank sein, ohne daß zuvor das Gehirn gelitten habe.

Man würde ihn mit Recht der gröbsten Un­

wissenheit zeihen.

Freilich war es bisher schwer, oft auch

unmöglich, bei den Geisteskranken,

Geistesarmen,

Geistes­

schwachen die Verstümmelungen, die Verbildungen, die Mängel

des Körperteiles aufzuzeigen, dessen Bau so ungeheuer ver­ wickelt, so kunstvoll und wunderbar ist, daß selbst dem er­ fahrensten Zergliederer die lang vermuteten und immer wieder gesuchten Veränderungen entgehen

konnten,

die

heute

der

Schüler sieht.

Aber nachdem in der jüngsten Zeit die Mittel

gefunden sind, welche es gestatten, nicht nur die kranke Hirn­

zelle von der gesunden und die vergiftete von der entgifteten, fonbcut sogar die ermüdete von der ausgeruhten zu unter­ scheiden, nachdem man angefangen hat, einzusehen, daß eine

große Reihe von Krankheiten, bei welchen jede krankhafte Veränderung der vorhandenen Telle vermißt wird, auf der Minderzahl der ausgebildeten Telle oder auf der Mangel­ haftigkeit

ihrer Ernährung

beruht"),

wird

der sorgfältige

Untersucher in keinem Falle mehr den Beweis vermissen, daß

bei allen Mängeln und Fehlern des Verstandes wie der Sitt­ lichkeit erworbene oder angeborene Verbildungen

oder Er­

nährungsstörungen des Gehirnes und seiner Teile die Grund­ lage bilden.

Ein anderer Einwurf, den die Anhänger eines körper­

losen Geistes gegen die Abhängigkeit der geistigen Fähigkeiten von dem Bestand und der Gesundheit des Gehirnes immer

wieder erheben, ist dieser, daß doch so mancher Mensch klug und brav und sogar hervorragend begabt und tugendhaft gewesen sei,

bei welchem nach dem Tode ein krankes und

vielfach angegriffenes Gehirn gefunden wurde.

Der Einwurf

ist so vernünftig wie der, den Lungenkranke bisweilen ihrer Umgebung machen, wenn sie zur Vorsicht und Schonung

ihrer Brust ermahnt werden: Ich bin doch nicht brustkrank,

sonst könnte ich ja nicht atmen und singen und treppauf

treppab laufen. — Die teilweise Zerstörung eines Körper­ teils kann weit um sich gegriffen und seine Leistungsfähigkeit bedeutend herabgesetzt haben, ehe der Laie oder der unauf-

merffame Arzt etwas davon merken, weil sie immer nur darauf sehen, was noch von Kräften vorhanden ist, und nicht

danach fragen, was fehlt.

Bei einem Organ, wie die Lunge,

welche nur die eine gleichmäßige Arbeit der Atmung hat, stellt sich nun wirllich entsprechend der Verminderung seiner

Größe und Gesundheit eine verhältnismäßige Verminderung der Leistung ein.

Im Gehirn, welches nicht ein einheitliches

Werkzeug wie die Lunge ist, sondern ein verwickeltes Gefüge

aus zahllosen Organen, die in geregeltem Zusammenarbeiten das vollbringen, was

wir Denken

und Handeln nennen,

können einzelne Teile mit ihren Kräften verloren gehen und

andere sich auf Kosten der untergegangencn so entwickeln, daß ihre Leistungen bedeutend und selbst erstaunlich werden.

So

kommt es, daß geistesarme Menschen auf einzelnen Gebieten

des menschlichen Wissens und Könnens tausend Gesunde nicht allein erreichen sondern sogar überragen

und

daß sittlich

schwache Menschen in einer besonderen Richtung des Willens mitunter eine außerordentliche Kraft entwickeln. Solche staunt

dann die urteillose Menge an, wie sie Kinder anstaunt, die

ein unerhörtes Wort sprechen, das sie in der Einfalt ihres Gemütes selbst nicht begreifen, oder wie sie im blinden Huhn ein Wunder sieht, wenn es zufällig aus dem Mist einen

Edelstein herausscharrt.

Die tausend unsinnigen Worte des

Dummkopfes vergißt sie, wenn sie ein einziges gescheidtes

hört; das Gebühren des Idioten scheint ihr originell, da sie nicht überlegt, daß eben der Mangel des wichtigsten Bildungs­

mittels, der Fähigkeit, die Umgebung nachzuahmen und sich ihr anzupassen, es ist, was die Narren zum Original macht,

und daß es zweierlei ist, ob einer ein Original aus über­

legener Freiheit, ein Narr zum eigenen Vergnügen ist, oder

ein unfreier armer Tropf, der nicht anders kann. Zu allen Zeiten und von allen Völkern sind aufgeregte Narren und halbwache Träumer als Hellige und Übermenschen

verehrt worden, wie in Indien die Kuh dem bewogenen Pöbel

um so heiliger ist, je mißgestalteter sie zur Welt kommt.

Die

Zahl solcher Götzen ist der beste Gradmesser für die geistige

und sittliche Unreife der sogenannten Gebildeten eines Volkes. Das Volk, welches in Goethe die Verkörperung des höchsten

und weitesten Wiffens, der edelsten Kunst und des tiefsten Ringens nach Sittlichkeit gehabt hatT) und dennoch den After­

rittern des Geistes zujubelt und den Heiligen des Tages nachläuft, ist noch tief in den Kinderschuhen.

Ihm darf man

einreden, daß das Kennzeichen wahrer Geistesgröße eine Bei­ mischung von Irrsinn ist, daß das Genie nur auf dem Boden

der Entartung wächst.

Ihm darf man seine herrlichen Dichter

und Künstler, Denker und Forscher, welche das unselige Los

was, geisteskrank zu werden, zum Beweis für die krankhafte

Natur alles Großen anführen, ohne daß es solche Gespenster­

geschichten abweist.

Ihm darf man

in den Trägern der

höheren Menschheit die angeblich notwendige Verbindung von

Genie und Irrsinn zeigen, ohne daß es sich sagt, daß Ge­

sundes und Krankes sich in Jedem mischen können wie reines und unreines Getier im Tuch des Apostels; ohne daß es die schlichte Wahrheit sieht, daß wo Krankes ist, es nur auf der Grundlage des Gesunden und trotz dem Gesunden besteht; ohne daß es erwidert, jeder ursprünglich gesunde Geist müsse

gelegentlich auch einmal krank werden können, wie dem stärk­ sten Mann einmal ein Arm oder Bein gebrochen wird; ohne

daß ihm einfällt, der Stärkere sei dem

Unterliegen

mehr

unterworfen als der Schwächling, weil er sich den Gefahren mehr aussetzt.

Ihm kommt es nicht in den Sinn, daß schon

eine gewisse Größe des Geistes dazu gehört, wenn seine Er­ krankung, sein Verlust auffallen soll, und daß nicht gar viele

von der großen Herde einen solchen Überfluß an Geist haben,

daß sie je fürchten müßten, einmal ins Irrenhaus zu kommen. — Anstatt Goethe zum Beispiel zu nehmen, daß „Höher­

stehen und Pathologischsein" zusammengehören 8), weil er wie

jeder Mensch

des Krankhaften Einiges zeigt, sollten wir an

ihm lernen, wie abhängig die Geistestätigkeit von der Gesund­

heit des Körpers ist, wie das Gehirn und seine Tätigkeit leidet, wenn der übrige Körper leidet.

Jener klare, milde und

starke Mensch, den die schärffte Erkenntnis des Schlechten und

Kranken in der Menschheit nie an ihrem guten Urgrund ver­

zweifeln läßt, so lange er selbst gesund ist, verliert seine Freudigkeit, wird verworren, bitter, ungeduldig, als eine ent­ zündliche Krankheit seine Brust ergreift, fteilich nur so lange, als die Höhe der Krankheit währt.

Ihm war das Kranke,

Ungesunde, Schtöuche verhaßt, weil er an sich selbst es er­ fahren hat, daß Gesundheit und Kraft die erste Bedingung des Wahren, Gutm und Schönen ist.

Was antwortete er, als

Eckermann ihn fragte, ob die geniale Produktivität bloß im Geiste eines bedeutenden Menschen oder auch im Körper liege?

„Wenigstens, erwiderte Goethe, hat der Körper darauf

den größten Einfluß.

Es gab zwar eine Zeit, wo man in

Deutschland sich ein Genie als klein, schwach, wohl gar buckelig dachte; allein ich lobe mir ein Genie, das den gehörigen

Körper hat"e).

Glaubt es nur und prägt cs tief eurem Gemüte und eurer Erkenntnis ein: Geist und Gehirn sind unzertrennlich,

Gesundheit des Gehirnes und Gesundheit des übrigen Körpers bedingen sich so sehr, daß sie nicht ohne einander bestehen.

Nur im gesunden Körper wohnt der ganz gesunde Verstand

und die ganz gesunde Sitte.

Nie haben in einem elenden

Körper die höheren menschlichen Eigenschaften und Fähig­ keiten ihre völlige Ausbildung erreicht.

Das ist eine Regel,

die keine wahre Ausnahme erleidet. Der gute und gescheite Mensch mit kränklichem Körper

würde noch besser und gescheiter fein, wenn sein Leib gesund wäre").

Fraget ihn selbst, ob er in den Tagen des Wohl­

befindens, wo kein körperliches Übel ihn peinigte, nicht weit besser und klüger war.

„Nachfolge Christi":

Sagt doch auch der Verfasser der

„So lange du gesund bist, kannst du

vieles Gute tun; aber wieviel dir in kranken Tagen gelingt, weiß ich nicht.

Kranksein macht wenige besser" n).

Dir Gesundheit und Kraft des Gehirnes hängt so innig

von dem übrigen Körper ab, daß jenes leidet, wenn dieser an irgend einer Stelle gequält oder verletzt wird,

oft früher leidet als die übrigen Organe.

und daß es

Ein schmerzender

Zahn kann den tiefsten Denker, für den Augenblick wenigstens,

blödsinnig, der Hunger den Sittlichsten unsittlich machen und

ein berauschendes Getränk lähmt zuerst Sitte und Geist und dann die Muskelkraft.

Ein gesundes vollentwickeltes Gehirn in einem gesunden

schönen Körper, das sind die Bedingungen, von denen das Glück und die Freiheit des Einzelnen und der Fortschritt der Menschheit abhängt.

Nicht das Eine, nicht das Andere ist

viel wert, sondern nur beides zusammen.

Ein muskelstarker und gesunder Idiot ohne Verstand und Sitte zu sein, der wie andere Tiere ein freud- und leid­ loses Dasein bis in ein hohes Alter gleichmäßig fortführt, das kann ebensowenig das Begehren des Menschen sein, wie

hervorragende geistige Fähigkeiten zu haben und sie wegen

einer elenden, gebrechlichen Körperbeschaffenheit nicht benutzen

zu können.

Beide würden ja nicht durch sich selbst, sondern

von der Gnade ihrer Mitmenschen leben, als tierische oder

geistige Schmarotzer

der Gesellschaft,

die

nur unter der

Voraussetzung bestehen, daß viele Andere sich ihrer Erhaltung annehmen,

sie

sich

gewissermaßen zum Luxus als Tisch­

genossen halten. Der Städter, der seinen Sohn zu gescheit für körper­ liche Arbeiten hält und ihn an Leib und Gliedern verkümmern

läßt, um das arme Gehirn zu übermüden, ist nicht klüger als

der Bauer, welcher meint, sein Junge sei zu schwach, um

Landmann zu werden und tauge um so besser zum Pfarrer. Das war ein Krebsschaden vergangener Jahrhunderte,

daß die Menschen sich gewöhnt hatten, Krankheiten als etwas Gleichgültiges oder gar Liebenswürdiges anzusehen, körperliche

Häßlichkeit für eine geringe Schande zu halten und überhaupt wie Leib und Geist so auch Gesundheit, Kraft und Schönheit

zu sondern.

Wir denken zum Teil nicht anders.

Aber es

muß einmal die Zeit kommen, in welcher wir die Pflege der

Gesundheit und Kraft wie eine religiöse Pflicht verehren, in welcher uns der Leib so heilig wie die Seele ist.

Es nutzt

nichts, daß wir zum höchsten Sittengesetz des Christentums das höchste menschliche Vernunftgesetz fügen, wenn wir die

Grundlage aller Sitte und Vernunft, das Naturgesetz unseres

Daseins, verachten und verstoßen").

Vermeint nicht, daß diese Religion neu sei, der törichte

Traum eines Unwcisen.

heit der Menschen.

Sie ist so alt wie die älteste Weis­

Schon Homer lehrt uns, daß die Eigen­

schaften des Leibes und des Geistes untrennbar sind.

Indem

er Agamemnon die Tochter des Chryses loben läßt, sagt er, daß Klytemnestra sich mit ihr weder an Gestalt noch an Wuchs und darum natürlich auch nicht in Verstand und Kunstfertigkeit vergleichen tönnc13).

Nicht anders läßt Goethe

den Pfarrer urteilen, der mit einem Blick auf Dorothea die Wahl des Jünglings für gut erklärt:

„Glücklich, wem doch Mutter Natur die rechte Gestalt gab... .

ein vollkommener Körper gewiß verwahrt auch

„So

die Seele

„Rein""). Warum opferte Sokrates den Göttinnen der Anmut?

Warum

blickte

Aspasia?'^)

sein Auge

mit Liebe

auf Alkibiades und

Weil er wußte, daß der Leib das Spiegelbild

der Seele und der Ausdruck des Geistes ist.

Alle Übung

des Gehirnes nutzt nichts, wenn der übrige Körper vernach­ lässigt wird, lehrten die weisesten Griechen des Perikleischen

Zeitalters.

Darum waren die Ringspiele in der Palaestra

ihre Vorschule und darum verbanden sie in den Gymnasien mit den musischen die körperlichen Übungen und gaben Knaben

und Jünglingen keinen Unterricht, der nicht in freier Natur

möglich war").

Standen sie uns in geistigen Dingen darum

Eine einzige falsche Wortbetonung im Theater brachte

nach?

bei ihnen den sogenannten Pöbel in Aufruhr, während die ge­

duldigen Sinne unserer „Gebildeten" die größten Scheußlichkeiten unter den Locknamen der Kunst und Wissenschaft ertragen.

Als Rom entartet war, da fand der bekümmerte Patriot kein anderes Rettungsmittel als das Gebet der Jugend an die Götter um Gesundheit des Leibes, damtt in diesem wachse und wohne eine gesunde Vernunft'').

Sogar der Sttfter des Jesuitenordens vertritt den Grund­ satz:

„In der Seelsorge richtet ein Lot Heiligkeit mit einer

vorzüglichen Gesundheit des Leibes mehr aus als eine aus­ gezeichnete Heiligkeit mit einem Lot Gesundheit"18).

Nicht zufällig knüpft sich die Befreiung des Deutschen Volkes an die Turnanstalt, welche Jahn im Jahre 1811 in der Hasenheide eröffnete, und nicht ohne List schloß eine frei« heitfeindliche Politik schon sieben Jahre später die Turnplätze

wieder.

Der einzelne harmlose Demagoge war es nicht, den

sie fürchtete, sondern das Wachsen des fteiheitliebenden Geistes

und das Erstarken des sittlichen Nationalgefühlcs in gesun­

deren Leibern. Als ein wahrer Vater des Vaterlandes hat sich Kaiser

Wilhelm LL bewährt, da er die körperlichen Spiele und Übungen,

zu denen ein Teil des Volkes sich sein Recht wieder geholt hatte, durch Beispiel und Rat der Jugend zur Pflicht machte"). Sticker, Gesundheit ». Erziehung. 2. Sufi.

6

So vereinigen sich die Stimmen der besten Männer ihrer Zeiten zu dem Preis körperlicher Gesundheit und Kraft als

der unbedingten Grundlage jeglicher Tüchtigkeit.

Keine andere

Grundlage fordern die bedeutendsten Erzieher für ihr Wirken

am kindlichen Zögling.

Die körperliche Unversehrtheit setzt

Rousseau für seinen Emil als gegeben voraus.

Er wählt

sich seinen Emil als gesundgeborenes Kind gesunder Eltern. Basedow, der begeisterte Apostel Rousseaus,

nahm in das

Dessauische Philanthropin nur kräftige wohlgewachsene Knaben

aus gesunden Familien auf, da auch er sah, daß nur an

solchen die Früchte der höheren Erziehungsstufen reifen.

Der

Erfolg hat seine Voraussicht gelobt. Der Philosoph und der Privatmann können sich ihren

Zögling wählen.

Die Eltern und die Gesellschaft müssen

erziehen, was zur Erziehung da ist: Schwächlinge und Krüppel.

Pflicht.

Kranke und Gesunde,

Und damit tun sie einfach ihre

Es bleibt ihnen nicht einmal der Trost, von Wohl-

tätigkeit dabei zu sprechen, den sich Manche so gerne gönnen möchten.

Wenn ihnen eine Einrede erlaubt ist, dann ist es

allein die Frage:

Wie wäre es zu erreichen, daß wir nur

gesunde Menschen bekommen, daß die Kranken sich vermindern

oder ganz zur Fabel werden?

6. Gesundheit ist die Leibe-beschaffenhett voll

lebendiger Arast, die zu jeglicher Tüchtigkeit stht, »acht.

elbre4t bln

Das also steht fest: Alles Geistige und Sittliche hat

im Gehirn seine körperliche Gmndlage.

Im gesunden vollentwickeltcn Gehirn hat menschliche Ver­ nunft und Sitte ihren festen Hort. In ihm ist die Erkenntnis

des Wahren, die Berwirllichung des Guten und die Empfäng­

lichkeit für das Schöne Eins. In ihm gedeihen keine irren, keine abergläubischen, keine lleinmüttgen Gedanken, keine jäm­ merlichen und verderbten Gelüste und die natürlichen Begier­ den werden von ihm in den Schranken gehalten, welche die Pflichten gegen den Nächsten ziehen.

In chm reifen die

Früchte des Geistes, welche der Apostel nennt: Liebe, Freude,

Frieden, Geduld, Mllde, Güte, Langmut, Sanftmut, Treue, Bescheidenheit, Mäßigkett, Keuschheit').

Wenn das Gehirn unentwickelt geblieben ist oder mißblldet wurde, weil eine frühe oder späte Krankheit es traf 6»

oder ein siecher Leib eS nicht zur vollen Entwickelung kommen

ließ, dann ist ein Mangel geistiger Begabung die Folge. Wenn es verletzt wird oder wenn ein Leiden anderer Körper­ teile sich chm mitteilt, dann geht ein Teil des Menschen als denkendes und verantwottliches Wesen verloren.

Vergeblich müht ihr euch ab, Menschen mit krankem Gehirn und elendem Körper den hohen Zielen der Mensch­

heit entgegenzuführen.

Im gesunden Leib mit gesundem Ge­

hirn und nur in ihm wohnt ein gesunder Geist und erst

wenn die Menschhett sich einmal zur leiblichen Gesundheit durchgerungen hat, dann wird die Erziehung erreichen, was sie will und soll, ohne sich in der Ausrottung von Hinder­

nissen, in der Überwindung von Widerständen, in der Er­

setzung von Mängeln zu erschöpfen, dann werden verschwunden

sein die krankhaften Stimmungen und Launen des Gemütes,

die Jrrsale und Mängel des Geistes, die Schwächen und Laster des Willens. Leibliche Erziehung ist es, was den Menschen vor Mem nottut.

Erzieht die Kinder zu leiblicher Vollwcrtigkeit, sorgt

dafür, daß im wohlgebildeten und starken Körper ein voll­ entwickeltes Gehirn ist, und alles Übrige werdet ihr ihnen mit Leichtigkeit hinzu geben.

Die Frage, wie die Grundlage für jene glückliche Ge­

sundheit zu legen sei, hat Erzieher und Ärzte schon ost be­ schäftigt.

Indem

wir

uns

nun ihrer Beantwortung zuwcnden

möchten, werden wir durch die Überlegung aufgehalten, daß

das Wort Gesundheit, welches wir bisher so ost gebraucht haben und immer wieder nennen werden, nicht von Men mit derjenigen Übereinstimmung verstanden und angewendet

wird, welche bei unseren weiteren Untersuchungen wünschenswert, ja unerläßlich erscheint.

Wenn der heidnische Philosoph Demokritus den Satz

ausspricht: „Wo Gesundheit ist, da wächst der Geist, Krank­ heit aber macht die Seele blind"2) und wenn der christliche

Lehrer Thomas von Kempen sagt:

„So lange du gesund

bist, kannst du vieles Gute tun; aber wieviel dir in kranken Tagen gelingt, weiß ich nicht"*), so verstehen sie unter Ge­ sundheit offenbar dasselbe, aber etwas durchaus Anderes als

der Mann, der gemeint hat: „Biele Kerngesunde leisten Nichts

und viele Schwache Großes"*).

Dieser nennt einen Menschen gesund, dessen äußere Er­ scheinung gute Eingeweide, Kraft der Glieder und Tüchtigkeit

der Sinne verspricht, vergißt aber, daß hiermit weniger ein

gesunder Mensch als das gesunde Tier im Menschen be­ schrieben wird.

Eigenschaften

Jene betrachten am Menschen zuvörderst die

und Leistungen, welche

ihn über

die

Tiere

stellen, und überlegen, wie sich das Höhere verhält, wenn das Medere unvollkommen ist. gründlicher untersuchen.

Doch wir müssen die Sache

Wir haben bisher von leiblicher, von geistiger und von sittlicher Gesundheit gesprochen.

Wir haben die Ausdrücke

gesunde Anlage, angeborene Gesundheit gebraucht.

Wir haben

zwischen

Schönheit,

den

Worten

Gesundheit,

Lebenskraft,

Tauglichkeit, Vollwertigkeit nicht strenge unterschieden. im Gegensatz

haben

zu Gesundheit

die Worte

Wir

Krankheit,

Schwäche, Verkrüppelung, Minderwertigkeit angewendet, von leiblichen Gebrechen, geistigen Mängeln, sittlichen Fehlern als

Zeichen der Ungesundheit geredet. Heißt das nicht, das Wott Gesundheit und seinen Gegen­

satz mißbrauchen?

Haben nicht die Motte Gesundheit und

Krankheit einen weit bestimmteren und engeren Sinn? Es scheint so, wenn inan den gemeinen Mann fragt,

was

er unter Gesundheit versteht.

Indem er sich gesund

nennt, meint er, daß sein Befinden von dem, welches er ge­

wöhnt ist, nicht wesentlich abweicht, daß er seine gewohnte

Arbeit verttchten kann, daß er sein gewohntes Denken nicht behindett fühlt, daß er seine gewohnte Stimmung, seine ge­

wohnten Launen und Neigungen, ja seine gewohnten Fehler

und Irrtümer hat, daß ihm das Essen und Trinken schmeckt

und wohl bekommt, daß er seine regelmäßigen Ausscheidungen hat, schlafen kann

und ausgeruht erwacht, daß er weder

Schmerzen noch Schwäche, weder Fieber noch Husten, weder

Atemnot noch Herzklopfen, weder Angst noch sonstige Stö­ rungen

seines Befindens oder seines Handelns wahrnimmt.

Er nennt sich oder fürchtet sich dagegen front, wenn daS

Gegenteil von dem einen oder anderen der genannten Dinge oder gar von ihnen allen eintritt. Tauschen sich nun aber die einzelnen Menschen chre

Ansprüche an das, was ein Jeder von ihnen Gesundheit

nennt, aus, so finden sie bald, daß der Gesundheitsbegriff

nach ihrem Sinne in weitesten Grenzen schwankt.

Der Eine

ist schon mit ein paar Stunden Schlaf zufrieden und fühlt

sich nach kurzer Ruhe erquickt

und zu jeglicher Tätigkeit

tüchtig; der Andere klagt über Störung seiner Gesundheit, wenn er einmal den Schlaf nicht fand oder aber zwar die

ganze Nacht geschlafen hat, jedoch vor dem Einschlafen eine Stunde wach gelegen hat oder auch nur eine halbe Stunde

zu frühe erwacht ist.

Der Eine erachtet seine geringe Eßlust

nicht als krankhaft, weil er stets weniger als Andere gegeffen

hat; der Andere hält sich sofort für sterbenskrank, wenn er einmal nicht wie sonst für zwei essen kann.

die bei

der geringsten Verstimmung

ihres

Es gibt Leute, gewohnten Be­

findens sich gleich krank nennen und zu Bette legen; und hinwiederum gibt es Leute, die den Mut haben, sich sofort für gesund zu erklären, wenn sie inmitten eines langwierigen

Kranffeins einmal für ein paar Tage können.

das Bett

verlassen

Da ist ein Schwachkopf, den quält es nicht, wenn

er kaum begreifen kann, daß zwischen

zwei

und

drei

ein

bestimmter Unterschied ist, während ein Gelehrter, weil chm

augenblicklich

tiefere Denken schwerer fällt als

das

sich sagt: meine Gesundheit ist nicht

in Ordnung.

sonst,

Da ist

ein Verbrecher, der sich mit Entrüstung dagegen verwahrt, vom

Arzt

als krank

bezeichnet

zu werden,

weil er seine

Taten im Gegensatz zu den meisten Leuten für erlaubt, ja für gut hält; er pocht auf seinen gesunden Verstand: und umgekehrt

erkennt ein Mann, der früher nie aus den Geleisen des bürger­ lichen Lebens gewichen war, bei einem kleinen Verstoß, den er

gegen die gute Sitte gemacht hat, sich selbst nicht wieder und erklärt denselben

mit einer vorübergehenden leiblichen

oder

geistigen Krankheit. So hat ein Jeder gewissermaßen seine eigene Gesund­ heit, er mißt sic nach eigenem Gefühl und braucht als Maß­

stab seine

gewohnten leiblichen Verrichtungen und äußeren

Leistungen. Fällt ihm ein Hindernis für jene oder ein Mangel in diesen auf, so spricht er, falls sie ihm gering erscheinen, von

Übelbefinden, Unwohlsein, Versttmmung, Störung; treten be­ deutende Störungen in den Verrichtungen seiner Teile, in

seinem Denken, Fühlen, Handeln hervor, so gebraucht er das Wort Krankheit, beschräntt aber dieses gerne mit einer listigen Willkür auf die gröbsten Störungen seines leiblichen

oder

besser gesagt, tterischen Wesens und hört nicht gerne, daß

man von Krankheit seiner menschlichen Fähigkeiten,

seines

Geistes, seiner Sittlichkeit, seines Willens spricht. Immerhin stimmen Alle wenigstens darin überein, daß

Gesundheit für den Einzelnen zunächst das Freibleiben von Störungen und Verstimmungen aller Art bedeutet. Zweifellos wird aber für den Begriff Gesundheit noch

mehr

verlangt.

Sehr

viele Menschen machen mehr oder

weniger deutlich die Erfahrung, daß sie gegen besondere äußere Einflüsse eine geringe Widerstandskraft besitzen, daß sie leiden

und Störungen erfahren, sobald sie sich ihnen aussetzcn. Ver­ gleichen sie ihre Erfahrungen untereinander, so gewahren sic

bald,

daß

die

Widerstandsschwäche

störenden Einflüssen

schieden ist.

bei

den

gegenüber

verschiedenen

gesundheit­

Menschen

ver­

Der Eine setzt sich gerne und ungestraft dem

schärfften Zugwind aus, verträgt aber schlecht warme Lust.

Ein Zweiter wird vom leisesten Luftwechsel empfindlich be­ rührt

und vermeidet ängstlich rasche Übergänge

aus

dem

Warmen in das Kalte und aus dem Kalten in das Warme :

ein Luftzug ist sein Todfeind.

Ein Dritter erkrankt sofort

heftig, wenn er einmal kalte Füße bekommt.

Bei

einem

Vierten ist der Nacken oder der Kopf oder der Unterleib

empfindlich und er schützt seinen schwachen Tell ganz be­ sonders gegen Einflüsse des Wetterwechsels oder andere Ein­

wirkungen. — Einige sind gegen Lärm und Geräusch, einige gegen strahlendes Licht, einige gegen Gerüche so empfindlich,

daß sie Kopfschmerzen und Erbrechen bekommen und stunden­ lang

oder

tagelang zu jeder geringsten Tätigkeit unfähig

werden, wenn jene Reize auf sie eingewirkt haben. — Andere

büßen eine Überschreitung ihrer gewohnten Nahrungsmenge oder den Genuß ungewohnter Speisen und Getränke oder die

geringste Verderbnis eines Gerichtes mit schweren Störungen ihrer Eingeweide.

Manche dürfen nicht mit Menschen um­

gehen, die an Schnupfen

oder Husten oder irgend einem

Schleimfluß leiden, ohne Gefahr zu laufen, alsbald angesteckt

zu werden. Und so gibt es tausend Abarten in der Empfindlichkeit einzelner Körperteile und gegen verschiedene Einflüsse, und

je nach dieser Empfindlichkeit ist der Schritt von der Ge­

sundheit zu Krankheit bei den verschiedenen Menschen ver­ schieden groß.

Wie es sich mit der Widerstandskraft der niederen Teile und Verrichtungen unseres Leibes verhält, so ist es auch mit seinen höheren.

Das Maß der geistigen Arbeit, dem der

Einzelne sich gewachsen zeigt, die Macht der anstürmenden Gefühlsausdrücke, für die der Einzelne empfänglich und ge­

wappnet ist, die Größe der Entschlüsse und der sittlichen An­

forderungen, in denen der Einzelne seine Festigkeit und Be­ harrlichkeit zu zeigen vermag, die Weite der Nächstenliebe, in die der Einzelne aus seinem engen Ich hinausschreiten kann, dir Größe der Ehrfurcht und der Verantwortlichkeit gegenüber dem höchsten Wesen, welche der Einzelne seinem Sein und

Wirken zum Grunde legt, ist, wenn man die Menschen mit­

einander vergleicht, unendlich verschieden

und bei vielen so

gering, daß

schon unter den gewöhnlichsten Lebensver-

hältniffen eine krankhafte Schwäche ihrer Leistung hervortritt.

Während nun der Sprachgebrauch eine auffallende Wider­ standslosigkeit der Haut, des Magens, der Lungen und so

weiter als Kränklichkeit bezeichnet, umgeht er diesen Ausdruck gerne wieder dann, wenn die Sinne, die Nerven, das Gehirn,

der Verstand, der Wille, das Gemüt sich ungenügend erweisen und wendet lieber das Wort Schwäche statt Kränklichkeit an,

wie auch im Gegensatz dazu das Wort Kraft statt Gesundheit.

Indessen sieht gemäß dem, was wir früher über die Abhängig­ kett der höheren Kräfte des Menschen von bestimmten Teilen seines Leibes dargelegt haben, wohl ein Jeder ein, daß der Arzt keinen Fehler begeht, wenn er auch in ihrem Bereich

ebenso von dem Wott Kränklichkeit wie von dem Wort Krank­ heit Gebrauch macht und sogar die Ausdrücke Sünde und

Sündhaftigkeit, welche der Priester vom Standpunkt der Re­

ligion aus gebrauchen muß, und die Ausdrücke Verbrecher und Verbrechernatur, welche der Sttafrichter als Verweser der Staatsgewalt anwcndet, in die auf dem Standpunkt der Heilkunde allein verständlichen Ausdrücke Krankheit und Kränk­

lichkeit übersetzt ^).

Daß nun eine einigermaßen große Widerstandskraft gegen äußere Einflüsse und innere Vorgänge aller Art zu den

Zeichen der Gesundheit gehört, bezweifelt Niemand.

Daß

Schwäche und Kränllichkeit dem Kranksein verwandt, ja bei-

nahe Krankheit selbst ist,

hat der Meister der Heilkunde,

Hippokrates, ausdrücklich bemerkt").

Daß es zwischen Gesund­

heit und Kränklichkeit keine bestimmte Grenze gibt, daß der

Übergang von der einen zur anderen fließend ist, gesteht wieder unsere Sprache ein, indem sie zwischen Empfindlichkeit, Ermüdbarkeit, Widerstandslosigkeit, Kränklichkeit, Schwäche

nicht strenge unterscheidet.

Noch etwas Anderes trägt dazu

bei, die Unterschiede

zwischen Gesundheit und Krankheit und Kränklichkeit und ihren verschiedenen Graden zu verwischen: das ist eine Art unschul­

digen, ja heiligen Selbstbetrugs, mit dem wir uns das Gefühl der Gesundheit einbilden, wo diese fehlt, mit Hülfe dessen wir

zahllose keine und große Gebrechen und Beschwerden über­ setzen, die uns am Leben und Handeln hindern möchten, und

durch den wir Mut gewinnen, auch in kümmerlichen Verhält­ nissen das Dasein zu ertragen und in dem uns bestimmten

Kreise ungehindert und unerschrocken weiter zu wirken. eine spartanische Erziehung

Wo

oder eine preußische Selbstzucht

jene königliche Tugend, gesund sein zu wollen, verliehen hat, da ist die Hälfte aller Schwächen und Krankheiten getilgt.

Freilich hält die schöne Täuschung nicht allzeit stand.

In

Augenblicken unerbittlichen Selbstgerichtes überkommt auch den Willensstärksten die lähmende Erkenntnis, daß all sein Streben

und Arbeiten doch nur ein ohnmächtiges Ringen in Fesseln bedeutet, welche allein das verlorene Zauberwort Gesundheit

sprengen könnte.

Und so gleichen unzählige Menschen, wenn­

gleich sie durch ihre Tätigkeit und ihre Leistungen Jedem Be­

wunderung und Anerkennung abzwingen, dennoch im Grunde allzusehr dem Knaben, der seine Rolle unter den luftigen Musikanten spielt:

„Ich habe früh das Bein gebrochen,

Die Schwester trägt mich auf dem Arm, Aufs Tamburin muß rasch ich pochen, —

Sind wir nicht froh? — daß Gott erbarm!"')

Wer es auch immer sei, der für sich selbst einen beschei­ denen Begriff von Gesundheit voll Geduld und Entsagung

sich geblldet und durch ihn mit dem elendesten Dasein sich

ausgesöhnt hat, er möchte jenen

Begriff in

alle

Weiten

dehnen, sobald er als Vater oder als Lehrer die Kräfte eines

lieben Kindes oder Zöglings zu üben sich vomimmt.

Jetzt

genügt ihm nicht mehr jene erbärmliche Mißgestalt von Ge­

sundheit, wie sie dem spießbürgerlichen Begriff entspricht.

Er

sucht einen höheren Begriff, und kein Borblld dünkt ihm zu hoch und unerreichbar.

Auch wir können uns der Empfindung nicht erwehren, daß, nachdem wir gemäß dem Bisherigen als Gesundheit des

Einzelnen das Freisein von Krankheiten und die Widerstands­ kraft gegen Schädlichkeiten

unter den gewöhnlichen Bedin­

gungen unseres Lebens bezeichnet haben, ein allzu bescheidener

Begriff von Gesundheit zustande gekommen ist, der überdies

noch dadurch wenig befriedigt, daß er einem jeden Menschen

seine eigene Gesundheit zuspricht.

Wenn es kleine und große, kurze und lange, überhaupt viele und sehr verschiedene Gesundheiten gibt, dann dürfen

wir doch das Wort nicht in einem allgemeinen Sinne gc brauchen, sondern sollten, sobald wir von Gesundheit sprechen,

jedesmal hinzufügen, welche Gesundheit wir meinen.

Falls

es aber eine höchste und vollkommene Gesundheit gibt, dann

wäre diese dem allgemeinen Begriff zu Grunde zu legen. Indem wir nun die größte und andauerndste Gesundheit

als vorbildliche suchen, erscheinen vor unserem Geist Menschen,

denen man in Wahrheit eine fast unbedingte und unbeschränkte

Gesundheit in dem Sinne zugestehen muß, daß sie unter den außerordentlichsten Bedingungen, die über jegliche Gewöhn­ lichkeit weit hinausliegen, von Zeichen der Kränklichkeit und Schwäche, von Krankheit und Gebrechen frei waren, daß sie

in kaum verminderter Jugend des Lebens und des Geistes die Zahl der menschlichen Jahre erfüllt und es kaum an

sich erfahren haben, daß es Grenzen für das menschliche

Wollen und Wirken innerhalb des Natürlichen gibt. Keineswegs denken wir hier an den unverwundbaren

Leib des gewaltigen Achilles oder des hörnernen Siegfried, an dem nur eine schwache Stelle war, oder an den unbezwing­

lichen Geist des Übermenschen8), der mit dem Schrecken der Walpurgisnacht und mit dem Graus der thessalischen Felder

und sogar mit den Müttern ungestraft verkehrte, oder an die

ftagwürdige Sittenstärke des Herrenmenschen"), der die Welt

jenseits von Gut und Böse erobert hat. auch nicht

jene

Wir meinen aber

für uns unerreichbare Tugend, die

schon

im Diesseits die Welt des Vergänglichen und das eigene Ich überwunden hat, die den Leib und den Geist und den Willen,

das ganze Selbst, soweit besiegt hat, daß sie, auf Sinnesgenuß

und Wisien, auf Freiheit und' Ehre verzichtend, dem Leib kaum das Unentbehrlichste gestattet"), in grenzenloser Geduld dem Nächsten dient, den Haß der Menschheit fteudig trägt

und Liebe ohne Maß gibt.

Diese Heiligkeit können wir,

deren Boden die Erde und die ganze sinnenfällige Welt ist,

nicht meinen; sie ist Allem, worin wir bestehen und des Lebens Inhalt sehen, abgestorben; sic trägt nur die Scheingestalt des

Menschen. Woran wir denken, das sind die wirklichen Gestalten jener Helden der Vorzeit und der Gegenwart, auf die der Vater und der Erzieher den Zögling hinweist, wenn er ihm ragende Vorbilder für sein Leben und Streben zeigen will.

Wir sehen vor uns Cäsar, der von Jugend auf in allen

Leibesübungen

gestählt, auf

beschwerlichen Heerfahrten die

streitbaren Völker Galliens und Spaniens und Nordafrikas unterwirft, seine Legionen durch das unwirtliche Germanien und Britannien siegreich führt; der seine Soldaten alle bei Namen nennt und jedem von ihnen Herr und Freund zu-

gleich ist; der als Meister der Rede von Cicero selbst beneidet wird', auf rastlosen Zügen seine unsterblichen Tagebücher und

Werke der Gelehrsamkeit schreibt und zu gleicher Zeit liest

und diktirt; der alle Herzen durch Mllde und Güte gewinnt, keine Wohltat vergißt, aber das Böse in seinem Gedächtnis

auslöscht und, unter den Dolchen seiner Freunde verblutend, kaum an die Verräterei des Besten unter

ihnen glauben

möchte. — Wir sehen Alexander von Humboldt; als Mann

von dreiunddreißig Jahren ersteigt er eine Höhe der Erde,

auf der kein Mensch vor ihm gestanden war; wie er mit

leiblichem Auge die Gebirgsketten der Cordilleren überschaut, so umfaßt er mit dem geistigen Auge das ganze ungeheure Gebiet des Naturwissens und der Menschenkunde; im Alter

von fünfundsiebzig Jahren beginnt er, die Welt der sichtbaren Dinge in einem Buch zu beschreiben, das er ein halbes Jahr­

hundert lang in der Seele

getragen hatte,

und

erst im

neunzigsten Lebensjahre legt er die Feder aus der Hand. —

Wir sehen Sopholles in der ersten Blüte seiner Jugend das Siegesfest der Athener durch die Schönheit seiner Gestalt und die Gewandtheit seiner Glieder verherrlichen, als junger Mann

trägt er zum ersten Male und später noch viele Male den

Preis als Dichter vor den größten Dichtern seiner Zeit und

vielleicht aller Zeiten davon; als reifer Mann führt er ein Heer der Griechen ins Feld und als Greis dichtet er das letzte seiner unvergänglichen Werke, um im neunzigsten Jahre,

daS Kunstwerk eines Nebenbuhlers neidlos genießend, freund­ lich, wie er gelebt, zu sterben. — Wir sehen Leonardo da

Vinci; in einem langen rastlosen Leben fehlt ihm nie die

Rüstigkeit des Körpers, mit welcher er die wunderbarste Viel­

seitigkeit eines nie versagenden Geistes verbindet; es war ihm ein Leichtes, eine dicke Eisenstange

mit

den Händen

zur

Schraube zu drehen und eine Glocke, die sonst vier Männer bewegen mußten, allein zu läuten; er hat musikalische In­

strumente erfunden und Festungen gebaut, die wunderbarste Reiterstatue gebildet und das Abendmahl gemalt; unersättlich

nach dem Höchsten in Wissen und Kunst und Genuß und

Ehren sttebend wird er tausendfach enttäuscht, aber nie ver­

zagt er und in den Tiefen und auf den Höhen des Lebens

stellt er so sehr den vollwerttgsten Menschen dar, daß die Sage einen großen König zu ehren glaubt, indem sie Leo­

nardo in seinen Armen sterben läßt. — Wir sehen Sokrates, waffentüchtig, kunstbegabt, an Wißbegierde keinem weichend, an

Kraft und Schönheit der Rede unübertroffen, als Weisester der Menschen vom Gott der Weisheit selbst bezeichnet; in den

Widerwärttgkeiten häuslichen Unfriedens, in den Beschwerlich­

keiten der Feldzüge, in den Unbilden der Jahreszeiten zeigt er unbegrenzte Geduld und Ausdauer;

in den Schlachten

schützt er seine Freunde mit eigenem Leibe, auf der Flucht ist er der letzte; über sich selbst hat er unbedingte Herrschaft.

Sange schwankt er als Jüngling, was sein Lebensberuf sei; Sticker, Gesundheit u. Erziehung.

2. Anst.

7

soll er

der

Schönheit

die Wahrheit suchen

dienen

in

mit

bildender

allen Verhältnissen

Kunst

oder

des Lebens?

Schließlich entscheidet er, in einer Zeit, in welcher man an­ fing, jener auf Kosten der anderen zu opfern, sich der ver­

nachlässigten

zu

widmen.

Nun

bleibt

sein

ungebeugtes

Trachten, überall das Wahre zu erkennen und es im eigenen Leben, im Leben der Mitbürger, im Leben des Staates es

geltend zu machen.

Er belehrt Gleichgesinnte und Wider­

sacher; er zeigt Jedem, was seines Standes und Berufes sei; er widersteht der Gewaltherrschaft und bekämpft die schamlose

Volksgewalt; der bestehenden Ordnung

aber unterwirft er

sich und fügt sich ihretwillen auch dem mißbrauchten Gesetz; so nimmt er als Greis, seinem Gotte getreu, aus der Hand verderbter Richter heiter den tödlichen Giftbecher. — Wir sehen

Goethe und wir wissen nicht, was wir mehr an ihm bewun­ dern und beneiden sollen, die edle Gestalt, den Zauber des Geistes, die Milde des Herzens? Wie vereinigt er in schönstem

Gleichgewicht Ausdauer seines Leibes mit Genußfähigkeit und Bedürfnislosigkeit, Vielseitigkeit des Verstandes mit Tiefe und

Unermüdlichkeit, Reinheit des Wollens mit Feuer und Geduld! Alle leiblichen und geistigen Fähigkeiten zu entwickeln und zu üben, das Edelste zu genießen, von Tag zu Tag über sich selbst die Herrschaft zu befestigen, unaufhörlich in Wissen und

Wirken zu wachen, Güte und Hülfe und Treue zu spenden,

Freundschaft und Liebe zu gewinnen und zu verdienen, Ord-

SS nung im Kleinsten und Größten zu stiften, das Zugängliche

zu ergründen und das Unerforschliche unberührt zu verehren, die eigene Würde zu erhalten und sich einer göttlichen Vor­ sehung getrost anheimzugeben, das war sein Leben, sein leuch­

tendes

und

erwärmendes

das

Beispiel,

noch

im Uralter

und im Tode aus der unversehrten Gestalt und Schönheit

seiner Erdenhülle dem staunenden Schüler entgegentritt. Wir sehen Athanasius und Augustinus, Columbus und

Franklin, Boerhave nnd Haller, Washington und den großen

Friedrich und alle die außerordentlichen Menschen und müssen uns sagen: Vielleicht gibt es Höheres als Mensch zu sein;

aber wer berufen ist, in unserer Gestalt auf der Erde zu leben, der müßte ausgewählt sein wie jene. —

Wer aus der Ferne die Alpen erblickt,

der sieht chre

höchsten Berge als reine Spitzen, an denen kein Fehl ist,

in den Himmel ragen; wer aber ihre Nähe ausgesucht hat,

der weiß, daß auch die glänzendsten ihrer Gipfel tiefe Risse und dunkle Schluchten haben, wenngleich die Ferne nichts davon verrät.

So ist auch das Leben der herrlichsten Menschen nicht makellos.

Keinen gibt es unter ihnen, den nicht zeitweise

Krankheiten heimgesucht, Schwächen des Geistes vermindert,

Mängel der Sitte entstellt hätten.

Je genauer der Lebens­

lauf des scheinbar Unversehrtesten unter ihnen durchforscht

wird,

um

so

größer,

schier

endlos,

wird

die Zahl

7*

der

Stunden und Tage, wo er krank darniedcrlag, wo er geirrt

und gefehlt hat.

Man würde der Wahrheit Gewalt antun, wollte man diese Mängel nicht sehen und anerkennen;

aber man ver­

unglimpft die Menschheit und ihren Schöpfer, wenn man sich das grausame Spiel erlaubt, alle die Mängel, die im Leben

eines Großen unter uns hervorgetreten sind, zu einem Ge­ samtbild zu vereinigen und, absichtlich die gesunde Grundlage,

an der sie hervortraten, auslöschend,

ein Ungeheuer von

Fehlern, Schwächen und Lastern als angeblich wahres Bild dessen zusammenzusetzen, den das einfältige Auge als einen

Gottgeliebten anstaunt.

Es werden uns solche verzerrten und verkleinerten Bilder

immer und immer wieder vorgehalten").

Sie lehren uns

nur Eines, was ohnehin jeder besonnene Mensch sieht, daß auch

der Vollkommenere

sich

nicht

dem

Geständnis

ent­

ziehen darf: „Uns bleibt ein Erdenrest, Zu tragen peinlich,

Und wär' er von Asbest,

Er ist nicht reinlich"12).

So wäre es also mit jenem höchsten Begriff von Ge­ sundheit des Leibes und des Geistes nichts!

Wenn die Vor­

bilder der Menschheit von allem Elend, welches wir selbst tragen, berührt werden können, wo bleibt da der Unterschied?

Er ist vorhanden und nicht zu verkennen.

Was jene

Großen von uns unterscheidet und uns von ihnen ist dieses:

Sie werden von Krankheiten befallen, aber sie genesen davon

und genesen immer wieder davon so

vollständig,

daß sie

nachher sind, was sie zuvor waren, und auch im höchsten Alter nichts oder wenig von dem Siechtum und Greisentum

erspart

zeigen,

welches

bleibt.

Sie irren oft und irren mitunter schwer, aber sie

uns

gewöhnlichen Menschen

nicht

kommen von ihren Irrtümern zurück und lernen davon, sodaß ihr Geist nachher klarer und weiter und beweglicher ist als

zuvor, während wir allmählich oder bald unsere Irrtümer

lieb gewinnen und darin erstarren.

Sie fallen siebenmal am

Tage und fallen oft tiefer als der Alltagsmensch; aber sie stehen auf und, wenn sie sich erhoben haben, so gewinnen sie eine höhere Stufe der Sittlichkeit, durchaus unfähig, sich in die Selbstzufriedenheit bürgerlicher Tugend einzuschläfern

oder in

bequemen

Gewohnheiten

und

kleinen Lastern zu

versumpfen.

Gesundheit kann also unmöglich das Freibleiben von Krankheiten des Leibes und des Geistes bedeuten, ebensowenig

wie die Notwendigkeit zu sterben den Begriff des Lebens auslüscht

oder die Möglichkeit zu fallen die Fähigkeit zu

stehen aufhebt.

Krankwerden, sich irren, sittlich fallen ist so

allgemein menschlich, daß es zum Begriff des Menschen ge­ hört.

Aber nicht allgemein, außerordentlich und mit allen

Wünschen des Herzens erstrebenswert ist, von Krankheiten und Irrtümern und Fehltritten wieder aufzuerstehen und so

vollständig zu genesen, daß keine Kränklichkeit, kein Rest des Übels, keine Verkrüppelung zurückbleibt, vielmehr jene Steige­ rung der Kraft einttitt, die eine alte Sage den Riesen An-

taeus von jedem Sturz auf die Erde gewinnen läßt.

Jeder Mensch hat einmal in seinem Leben den Keim der Schwindsucht ausgenommen, aber nicht alle find davon

schwindsüchttg geworden; der Eine hat ihn leicht, der Andere

schwer, der dritte nie überwunden.

Jenen nennen wir gesund

und stark, diesen schwach und kränklich.

Was die großen

Gesunden in der Geschichte der Menschheit von den kümmer­ lich Gesunden des Alltagslebens unterscheidet, das ist neben

der größeren Widerstandskraft gegenüber gewöhnlichen und sogar gegenüber außerordentlichen Krankheitsursachen zugleich die Genesungsfähigkeit von unvermeidlich gewordenen Krankhetten.

Jetzt wissen wir, glaube ich, was jene größte und aus­ dauerndste Gesundheit ist, die wir suchten.

Sie ist nichts

Anderes als Lebenskraft im höchsten Maße, sie ist die Leibes­ beschaffenheit voll lebendiger Kraft, die zu jeglicher Tüchtig­

keit bereit macht; sie ist die Schwungkraft in den Gliedern,

im Geist, im Gemüte, die den Auserwählten über das all­

gemeine Elend hebt, die ihn vor Sttllstand und vor Rückschritt bewahrt, die ihn zu rastloser Übung

und Vervoll-

kommnung aller menschlichen Anlagen treibt und bis zum Tode fortschreiten läßt.

Sie ist die Genesungsfähigkeit, ver­

möge deren der Gottbegnadete aus allen Einflüssen,

denen

Leib und Geist und Sitte der meisten unterliegen, als Sieger hervorgeht. Wo Ungesundheit ist, da bleibt die Krankheit Siegerin, wo Gesundheit ist, da wird sie besiegt.

Eine Krankheit, die

völlig überwunden wurde, nahm nur so viele Tage aus dem Leben des Befallenen, als sie dauerte, und danach ist der

Mensch wie zuvor, oder in vielen Fällen widerständiger als

zuvor.

Eine Krankheit, die nicht zur völligen Heilung geriet,

die im Körper fortschleicht oder Verstümmelungen hinterlassen

hat, vermindert den Menschen um so viel, als sie Teile

seines Körpers besetzt hält oder vernichtet hat.

Sie ver­

mindert ihn um so mehr, je edler der angegriffene Teil und

je wichtiger er für den Einzelnen ist.

Der Verlust des Ge­

hirnes macht den Menschen minderwertiger als der Verlust aller Glieder; denn er setzt ihn auf die Stufe des Tieres

hinab.

Der Verlust eines Fingers ist für den Lastträger zu

verschmerzen, für den Handarbeiter schwerer zu ertragen, für

den, dem jeder einzelne Finger ein wichtiges Werkzeug ist, wie dem Geiger, dem Flötenbläser und so weiter kaum er­ setzlich; aber gänzlich unersetzlich erscheint er uns, wenn wir

nicht ein mehr oder minder brauchbares Stück der Gesellschaft

sehen wollen, sondern den ganzen, den vollkommenen Menschen.

Durch den Verlust oder die Schwäche eines Körperteils

wird ein Kind von vornherein von all den Bestimmungen und Tätigkeiten des bürgerlichen Lebens ausgeschieden, die

von der Unversehrtheit des betreffenden Teiles abhängen; da­ bei kann es immerhin noch ein nützliches Glied der Gesell­

schaft bleiben, wenn der Fehler nicht übermäßig ist. Von dem höchsten Begriff des Menschen ist es durch den kleinsten Schaden ausgeschieden.

Wie wäre aber die Grundlage zu legen für jene glück­ liche Gesundheit des Kindes, die mit leiblicher Vollwertigkeit gleichbedeutend ist?

7. Wie du anfingst, wirst du bleiben,

So viel auch wirket die Not Und die Zucht, da- Meiste nämlich

vermag die Geburt. Hölderlin.

Wovon also hängt die Vollwertigkeit des Kindes, des

zukünftigen Menschen ab? Die Antwort auf diese Frage, mit welcher sich Unzählige beschäftigt haben, ist sehr verschieden ausgefallen, je nachdem man die Ursache der körperlichen und geistigen Schäden in

einer erblichen Anlage oder in äußeren Schädlichkeiten, unter

welchen der junge Mensch sich entwickelt, gesucht und zu finden geglaubt hat.

Die Einen sagen: Pflegt eure Kinder von Geburt an richtig und es wird nicht fehlen, daß sich Leib und Geist

trefflich entwickeln. Kinder sind zarte Pflanzen, die man vor

den Unbilden des Wetters und der Umgebung hüten, gegen Sonnenbrand und Winterftost schützen muß, damit sie zu

starten fruchtbringenden Bäumen erwachsen. — Aber warum

mißraten denn so viele Kinder trotz der sorglichsten Pflege

und Hütung, und warum gedeihen so viele andere trefflich,

die von der Stunde der Geburt ab beinahe schutzlos auf­ wachsen müssen und weiter nichts haben als die kümmerlichste

Notdurft des Leibes? Ihr nährt die Kinder zu schlecht, rufen Andere.

Gebt

ihnen möglichst früh Fleisch und Eier und stärkende Getränke

und ihr erzieht Mustermenschen.

Der Rindsbraten macht

den Engländer. — Als ob es in England keine elenden und

schwächlichen Leute trotz reichlichster Ernährung gäbe und als ob nicht in Südtirol, wo die Menschen buchstäblich zeitlebens nur von Milch und Wasser, von Brot und Maispolenta leben, der gesundeste, stärkste und schönste Volksschlag sich fortpflanze!

In Indien bilden, nachdem das Kind von der

Mutter möglichst spät entwöhnt worden ist, Reis und Wasser und höchstens gedörrte Fische mit wenig Milch die ausschließ­

liche Nahrung, und davon erhält sich selbst int entnervenden

Tropenklima

ein schönes ausdauerndes Geschlecht, welches

eine große Anzahl unserer Kinderkrankheiten nicht kennt und

angeborene Mißbildungen des Leibes und des Geistes nur

fetten sieht'). Die grönländischen Eskimos nähren ihre Kinder

mit der Milch der Mutter oder des Renntiers; später bildet das Fleisch der Meertiere, der Seehundspeck und, wenn es

hochkommt, der Inhalt des Renntiermagens die Nahrung. Auch bei ihnen gibt es nicht mehr Schwächlinge und Kränk-

finge als bei uns.

So ist unter allen Himmelsstrichen die

erste Nahrung des jungen Menschen Milch, die nur zu seinem

Schaden durch andere Speisen ersetzt wird;

später wechselt

unter dem Einfluß der verschiedenen Himmelsstriche Nahrungs­

gelegenheit und Nahrungsbedürfnis.

Wie aber auch die Er­

nährung sei, immer und überall sehen wir unabhängig von ihr vollwertige

wie

minderwertige

Menschen heranwachfen

und des Lebens äußerste Grenze erreichens.

Härtet die Kinder früh ab, fordern wieder Andere, und ihr erzieht eine leiblich gesunde und geistig frische Nachkom­

menschaft.

Wollt ihr den Geist des Kindes kräftigen, so übt

die Muskeln, ruft schon Montaigne seinen Zeitgenossen ju3).

Kaltes Wasser und Turnen! lautet ein immer wiederkehrendes Schlagwort unseres Tages. — So einfach ist die Lösung unserer Frage nun auch nicht; es gibt zahllose Kinder, welche

zu keiner Zeit ihres Lebens die vorgeschlagenen Abhärtungs­

maßregeln vertragen und zu den geforderten Muskelübungen gar nicht die Kraft haben.

Beide Maßnahmen sind vorzüg­

lich und notwendig, um eine kräftige Natur zu erhalten, auch

wohl geeignet, die wankende Gesundheit wieder herzustellen

und neu zu befestigen;

aus

aber sie sind durchaus unvermögend,

einem schwächlichen Körper einen starken zu machen.

Vielmehr können sie den schwächlichen Körper gänzlich zer­

rütten.

Man rühmt von den alten Deutschen, daß sie die

Neugeborenen während des Winters in das Wasser der zu-

gefrorenen Flüsse und Seen tauchten. Das war offenbar das

beste Mittel, sich der schwächlichen Kinder zu entledigen, und nicht schonender als die Gepflogenheit der Spartaner, ihre Schwächlinge und Krüppel in das wilde Gebirge auszusetzen.

Abhärtung um jeden Preis ist ein Unternehmen der Unver­

nunft.

Das eine Kind verträgt die schlimmsten Roheiten

rücksichtsloser Abhärtung, das

Versuch.

andere

nicht den mildesten

Je jünger ein Kind, um so empfindlicher ist es

gegen Überansttengung seiner Glieder und gegen die Wir­

kungen der Kälte.

Eine einzige Übermüdung, ein einziges

Flußbad verdirbt in der ersten Kindheit oft mehr als monate­ lange Abhärtung nutzt. Die Kindersterblichkeit ist im Sommer

bei den Armen am größten infolge der Durchfälle durch ver­

dorbene Milch, im Winter bei den Reichen infolge der Katarrhe

durch unvernünftige Wasseranwendungen.

Nicht durch ver-

ftühte Übungen wird Leibeskraft erworben, sondern durch die

natürliche Entwickelung und Erstarkung der Körperteile bei angemessenem Gebrauch.

Wie die Bewahrung des kindlichen

Verstandes vor dem Irrtum und der kindlichen Erfahrung vor dem Laster alle frühen Belehrungen über Wahrheit und Tugend an Nutzen weit übertrifft, so ist auch die Abwehr

von Krankheiten, Unbilden und Überansttengungen für den zarten unentwickelten Körper der ersten Kindheit wichttger

als aller Turnunterricht und alle Wasserkünste.

Die vor-

sichttgeren Ärzte raten also entschieden und immer mehr von

erzwungenen Übungen während der ersten sechs oder sieben Lebensjahre ab, um desto stärker die Notwendigkeit zu be­ tonen, daß dem Kinde die Gelegenheit gegeben werde, seinen

Körper nach eigenem Drang im Spiel der Glieder auszu­ bilden, weniger in der Absicht, nicht vorhandene Kräfte zu

entwickeln als schlummernde nicht in Untätigkeit ersticken zu lassen.

Daß sie damit keine Verweichlichung der Jugend

empfehlen wollen und daß sie sich nicht widersprechen, wenn sie während der zweiten Kindheit, nach dem sechsten oder siebenten Jahre durch Leibesübungen, Schulturnen, Singen,

Schwimmen und so weiter wirkliche Anstrengungen von der Jugend verlangen, bedarf wohl keines Erweises *).

Schonung und Übung, sagt der Vierte, möget ihr noch so umsichtig verteilen, ihr werdet damit vielleicht ein schwaches

Leben,

schwachen Verstand,

einen

einen schwachen Willen

unterstützen, aber nie einem Schwächling die Kraft geben, welche sich selbst Hilst, welche allen äußeren Übeln zum Trotz durchdringt.

Die leiblichen und geistigen Fähigkeiten werden

nicht erworben;

es sind natürliche Anlagen, von der Natur

der Erzeuger abhängig. zeugen

gesunde

schwächlichen

und

Nur gesunde und starke Eltern er­

starke

Kinder;

von

kränklichen

und

Eltern werden minderwertige Kinder geboren.

Daß es endlich nur vollwertige Menschen gebe, dafür bleibt einzig dieser Rat: die Gesunden allein sollen heiraten. —

Die Erklärung des Übels, welche wir vernehmen, scheint der

Prüfung sehr wert. ist empörend.

Aber die Abhülfe, welche empfohlen wird,

Das Volk würde sich mit Recht um solche

spartanische Maßregeln der Gelehrten nie kümmern und der

letzte Rest eines gesunden Instinktes müßte Alle zum heftigen

Widerspruch entflammen, wenn der Vorschlag jener Weisen nach ihrem Wunsche zum Gesetz erhoben würde.

Ein krankes

Kind, ein einfältiges, selbst ein schlechtes Kind ist immer noch besser als gar keines!

ruft die trostlose Mutter am Sarge

des elendesten der Wesen, das sie geboren hat.

Ein Vater

kann seinen Sohn verstoßen, seine Tochter verfluchen, aber er wünscht sich nicht, daß sie nie geboren wären.

Und wenn

Eltern alles erdenkliche Unglück in einer Reihe mißratener

Kinder erlebt haben, immer wieder erhoffen sie von einem

neuen Sprößling, daß endlich in ihm wahres Elternglück chnen zuteil werde.

Wo die Menschen anfangen, die Zeugung

der Kinder willkürlich zu betreiben und nach ihrem kurzen

Verstände künstlich zu beschränken, da beginnt ein rascher

Verfall der Familien und Völker und ihre Rolle in der Geschichte der Menschheit ist schnell ausgespielt.

Wenn

also die Zuchtwahl nicht ausführbar

und die

körperliche Pflege nicht ausreichend ist, ein vollwertiges Ge­

schlecht hervorzubringen, gibt es dann gar keinen Ausweg aus dem Jrrsal von Schwäche und Kränklichkeit, welches das

Menschengeschlecht gefangen hält?

Vielleicht findet er sich, wenn wir weiter und gründlicher

die Untersuchung verfolgen, wie es kommt, daß die Menschen

nur zum Teil gesund sind, woher die Minderwertigkeit der Meisten? Fragen wir einmal die kränklichen Menschen selbst oder

ihre Angehörigen, was ihre kleineren und größeren Gebrechen

verursacht hat. Krankheiten

Die meisten werden sagen, daß überstandene

oder eine falsche Erziehung oder der schädliche

Einfluß der Schule, des Militärdienstes, des Gewerbes, die

Schuld tragen.

Wir müssen die Anklagen prüfen.

Was zunächst die Krankheiten angeht, welche von außen an den

Menschen

herantreten,

so

sind sie

es im aller­

seltensten Falle, die ihn für sein Leben minderwertig machen. Der von Geburt an kräftige Mensch wird überhaupt nicht

leicht krank; nur besonders heftigen Einflüssen unterliegt er

und wenn er durch sie in eine Krankheit gefallen ist, so stirbt er daran, oder er wird bei richtiger Pflege und mit­

unter sogar trotz einer unrichtigen wieder gesund und rüstig.

Anders der schwächliche Mensch; der leidet schon von gering» fügigen Einflüssen, schleppt sich mit den Resten des Leidens

ost zeitlebens umher und wird von

den Beschwerden trotz

aller Fürsorge nicht frei; er erleidet Krankheit um Krankheit,

Rückfall

um Rückfall,

von

jeder neuen Erkrankung wird

mehr und mehr seine Kraft verzehrt und sein Widerstand

vermindert gegen das Andringen der Krankheitserreger, die uns beständig umgeben.

Freilich kann am Ende auch der kräftigste Mensch sogar

von kleinen Schädlichkeiten mürbe gemacht und aufgerieben werden.

Das lehren die Erfahrungen über die Gewerbe­

krankheiten, welche in bestimmten Arbeitszweigen durch die

stete Wiederkehr geringfügiger Nachteile für die Gesundheit, durch Staub, kleine Giftmengen, Nervenermüdungen, usw. entstehen und schließlich die beste Kraft untergraben.

Aber

es bedarf des unausgesetzten Andringens solcher Krankheits­

ursachen durch Jahre und Jahrzehnte, wenn die schlimme

Wirkung sich zeigen und unheilbar werden soll, und es be­

darf sehr häufig der Beihülfe anderer verderblicher Gewohn­ heiten,

des Übergenusses

von schädlichen Reizmitteln und

Genußmitteln, von geistigen Getränken, Tabak, geschlechtlichen Ausschweifungen, damit die sogenannten Gewerbekrankheiten

den Widerstand des gesunden Körpers brechen.

Bedenken

wir überdies, daß auch in ganz unschädlichen und leichten Gewerben stets eine Zahl von Schwachen und Kranken sich

findet, die ihre Tätigkeit als gesundheitswidrig und lebens­ verkürzend beschuldigen, so kann kein Zweifel daran sein, daß

in sehr vielen Fällen ganz andere Ursachen für die Schwäche

und Kränklichkeit als die vermeinten gewirkt haben. Wie groß ist denn überhaupt die Zahl derer, welche

gesund und stark in ihren Lebensberuf eintreten? Wir haben früher festgestellt, daß nur ein Viertel aller

männlichen Kinder den Grad körperlicher Entwickelung erreichen,

der sie zum Heeresdienst tauglich erscheinen läßt. Wir müssen

jetzt hinzufügen, daß auch von diesem Mertel noch eine nicht Leine Zahl solcher, die anfänglich zum Heer zugelaffen waren,

nachträglich ausgeschlossen werden muß, weil sich über kurz oder lang körperliche Mängel zeigen, die anfänglich übersehen

worden sind oder erst im Dienst sich entwickelt haben. Fragen wir diese nachträglichen Invaliden nach der

Ursache ihrer Entwertung, so hat den meisten von ihnen, nach ihrer Meinung, der Dienst geschadet. Die anderen aber,

welche von vornherein zum Waffendienst nicht zugelaffen

waren, schieben mit seltener Einmütigkeit ihre körperliche Schwäche auf die Schule, und Familie und Militärbehörden

stimmen der Anllage bei.

Die Lehrer laffen auf ihren

Schulen den Vorwurf nicht sitzen, sondern berufen sich auf die Tatsache, daß schon zu den Schulbänken eine große Zahl

der Kinder schwach und kränklich gelangt und viele andere wegen verschiedener Fehler gar nicht zugelaffen worden sind.

Sie schieben also die Schuld mit anscheinender Gerechtigkeit weiter auf die Eltern, und die Eltern — sie Lagen, falls

sie überhaupt zugeben, daß ihr Junge immer ein Sorgenkind

von früh auf gewesen ist, in ihrer Ratlosigkeit den lieben Gott oder den tückischen Zufall oder schwere Zahnung ober

den Hausarzt oder das Kindermädchen oder sonst wen an. So schiebt Einer die Schuld auf den Andern und keiner will sie behalten. 6ti