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German Pages 238 [244] Year 1900
Gesundheit und Erziehung.
Gesundheit und Erziehung von
Georg Sticker Prof. Dr. mrd.
Ich weiß n>obl, daß man euch beklagen, euch trösten, euch auf» richten muß; aber vor Allem muß man die Vabrbeit sagen. Fenelon.
Gießen
I. Rickrr'sche Verlagsbuchhandlung «Alfred töpehnann) 1900.
v. Mänchow'sche §of= enb Unioersttätrdruckerei (Otto Rindt) Gießen.
Einführung. Wir kranken an vermeidbaren Übeln.
Was
Rousseau
Menschen gelehrt hat,
für
die
körperliche
Erziehung des
haben Andere vor ihm und nach
ihm gesagt, Einige besser, die Meisten schlechter, überzeugter
und eindringlicher Niemand als
Selbst den unab
er.
hängigsten Geistern, einem Basedow,
einem Kant,
einem
Pestalozzi, sogar einem Goethe und Jean Paul schien nichts
Wesentliches mehr zu sagen übrig, nachdem Rousseau ge sprochen hatte.')*)
Geringere Geister zeigen, auch wenn sie
sich frei geberden,
ihre Abhängigkeit von dem Gesetzgeber
aller zukünftigen Erzieher deutlich,
am
auffallendsten da,
wo sie die kleinen Irrthümer und Sonderbarkeiten des
Meisters ausbilden und übertreiben;
von denen nicht zu
reden, die in maßloser Nüchternheit einfache Auszüge aus
Emils Erziehungsgang oder Auszüge aus Auszügen für
ein eigenes Werk halten.
♦) Die Zahlen beziehen sich auf Anmerkungen am Schluffe des Buches. e tiefer, Gesundheit u. Erziehung.
1
2 Wer einmal das Naturgemäße entdeckt hat,
kann
nicht mehr übertroffen werden; jeder Versuch, seinen Ge setzen auszuweichen und besondere zu machen, erscheint nach ihm eitel.
Die Wahrheit selbst huldigt ihm. —
Rousseau kümmert sich, wie sein Vorgänger Locke"),
nur um die Erziehung des Gesundgeborenen;
lichen und schwächlichen Zögling weist er ab.
den kränk
Der Erzieher
sei kein Krankenwärter und dürfe seine Zeit nicht verlieren, ein unnützes Leben zu pflegen. Diese Worte erscheinen härter als sie sein sollen.
Rousteau selbst spricht es aus,
daß abgesehen von jeder
Leistung sür die Gesellschaft der Einzelne der Menschlich keit dadurch allein schon nützt,
Welt ist.
daß er überhaupt auf der
Und den scheinbaren Widerspruch begeht
er
absichtlich, um die in der Ausführung unerschöpfliche Aus
gabe der Erziehung für eine grundsätzliche Erörterung zu vereinfachen.
Ein Vater, sagt er, hat keine Wahl und darf keines seiner Kinder, die ihm Gott schenkt, auf Kosten der anderen
bevorzugen.
Ob sie verkrüppelt sind oder nicht, ob sie siech
sind oder kräftig, jedes ist ein anvertrautes Pfand.
Aber
der Erzieher, der sich seinen Zögling wählt, wird natürlich nur das Kind übernehmen, welches durch seine körperlichen
Anlagen eine gesunde Entwicklung des Geistes und der Sittlichkeit verspricht.
3
Kränkliche und
verkrüppelte Wesen geben diese Ge
Für sie gilt nicht einmal immer oder auch
währ nicht.
nur häufig das Wort Seneca's, welches Rousieau seinem Erziehungswerk vorsetzt: daß wir an heilbaren Übeln kranken.
Nur im gesunden Körper webt eine kraftvolle Seele. Ein siecher Leib schwächt auch den Geist. — Die Frage, was die Eltern thun können, um gesunde Kinder zu
erhalten,
Emils Nachkommen
liegt dem Zwecke Rouffeau'S ferne.
nicht anders als gesund zur
können
Welt kommen. Über die Ursachen und damit
über die Verhütung
der angeborenen Schwächlichkeit und Kränklichkeit des Leibes
und der Seele weiß Rousieau und wissen so viel ich sehr,
alle Nachfolger auf seinem Gebiet ebensowenig wie seine Vorgänger.
Sie
nehnien
die neugeborenen
Kinder,
je
nachdem sie sind, als ein gutes oder ein schlechtes Geschenk
der
launischen Natur und betrachten ihre unerfreulichen
wie
ihre erfreulichen Eigenschaften
als nothwendige Er
gebnisse endloser Anstrengungen der Natur, stets Anderes und Neues
hervorzubringen;
oder sie erklären, als Um
kehrer der Darwinschen Entwicklungslehre, die angeborenen
Mängel für Zeichen natürlicher Entartung; die Familien sollen wie die Einzelnen eine bestimmte Lebensdauer haben und nur noch lebensschwache Triebe hervorbringen können,
wenn mit zunehmendem Alter die vom Stammhalter über-
4 erbte Kraft zu verlöschen
beginnt.
Die meisten
fragen
überhaupt nicht nach natürlichen Ursachen der Erscheinungen, sondern begnügen sich damit,
ihren sittlichen Grund zu
suchen; sie sehen im Kranken und Schlechten
des Kindes
die Erbsünde des UrzeugerS oder im ganzen nengeboreneu
Leben die Schuld eines früheren Daseins, die von Mutterschooß zu Mutterschooß fliehen muß,
bis
sie endlich in
höchster Entsagung erlöschen darf?) — Für die Förderung schwächlicher und kränklicher Kinder
haben in neuerer Zeit Ärzte den Eltern und Lehrern werth
volle Rathschläge gegeben. thun können,
um
Aber die Frage, was die Eltern
keine kranken Kinder zu
bekoinnien,
werfen auch sie nicht auf oder beantworten sie mit der
empörenden Forderung, nur gesunde Eltern dürfen Kinder zeugen.
Hufeland betont den Werth einer guten Geburts
stunde für ein langes und gesundes Leben; Hartmann spricht in seiner „Glückseligkeitslehre für das Physische Leben
des Menschen" von der Vererbung der Krankheitsanlagen. Aber wie die neidische Fee unserer ersten Stunde zu ver söhnen,
wie der bösen Vererbung zu begegnen sei,
wollen wir wisien. die Fragen:
das
Brücke beantwortet mit großer Umsicht
„Wie behütet man das Leben und die Ge
sundheit seiner Kinder?"^)
Aber so sage uns doch auch,
wenn du kannst, wie verhütet man Schwäche und Kränk lichkeit der zukünftigen Kinder?
5 Wissen wir nichts von den Ursachen des angeborenen
Elends? Entziehen sich diese unserer Gegenwirkung?
Ist
eS wahr, was in Entsagung der Dichter sagt? „Wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen.
„So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und
lieben". Müßen
wirklich die Mütter in Demuth
Julie sprechen?
mit RousseauS
„Ich bin nur die Magd des Gärtners,
ich jäte den Garten und rotte daS Unkraut aus. guten Pflanzen muß er selbst pflegen". °)
Die
Gibt Gott und
seine Natnr den Eltern die Kinder mit allen Fehlern und
Schwächen wirklich ohne ihr eigenes Zuthun erbarmungs los nach unersorschlichem unabänderlichem Rathschluß oder
gar in spielender gedankenloser Laune?
Nimmer.
ES hängt von den Eltern ab, ob
ihre Kinder gesund und schön und weise und gut,
ob sie Blüthen der Menschheit oder ihr
Abschaum sein werden.
Der Mensch hat die Kinder,
welche er haben will; er erzeugt sich die Nachkommenschaft, welche er verdient. Doch nein.
Das wäre zu viel gesagt;
bessere Nachkommen als er verdient.
er hat stets
Die Menschheit wäre
längst nicht mehr, wenn ihre rastlose Selbstzerstörung den ganzen Erfolg hätte,
wirkte,
wenn nicht eine Heilkraft in ihr
die immer aufs Neue ihren Baum erstehen und
6 grünen und blühen machte. Mag dieser Baum zu stinkendem
Moder
zerfließen, aus dem letzten Rest der kleinsten Wurzel
erhebt sich nothwendig und herrlich ein neuer Stamm, an
dem Jahrtausende vergeblich ihre zerstörende Macht üben.
Das
ist die Sorge der
Natur
ohne
das
Zuthun
des
Menschen.
Was glaubt ihr aber, daß aus der Menschheit mürbe,
wenn
sie ihr uraltes Werk der Selbstzerstörnng einmal
aufgäbe; wenn sie
die Mittel und Wege der alles ver
mit Treue folgte;
jüngenden Natur erkannte und ihnen
wenn sie den Muth hätte, gesund zu werden und gesund zu bleiben;
wenn sie den Willen sände,
ebenso alle Ein
flüsterungen von ihrer unverbesierlichen Jämmerlichkeit wie die Hoffart ihrer siegreichen Entwicklung zu einer zukünftigen Gottgleichheit
als
betrügerisch
abzuweisen und
ihr Heil
einzig in entschlossenem Gehorsam gegen die deutlichen Vor schriften der Natur suchte? Was glaubt ihr, daß dann aus
der Menschheit würde? Zwei Geschlechter einsichtiger willensstarker, frei
Natur gehorchender Menschen:
und
die
Menschheit
der ist
gerettet aus dem wüsten Traum von Elend und Schwäche, Dummheit und Bosheit, in welchem sie ohne Aussicht aus
Erlösung herumirrt.
Bricht der große Tag endlich an? Wir dürfen es leise hoffen, nachdem bei vielen Menschen
7 ein ehrfürchtiges Fragen und Forschen nach dem Willen der Natur an die Stelle kecker Weisheit aus innerer An schauung und verzückter Offenbarung getreten ist. —
Ter größte Irrthum, den wir Rouffeau in der Em
pfehlung seiner Erziehungsweise vorwerfen können, ist wohl dieser, daß er voraussetzt, man würde in der ganzen Welt einen zweiten Mann von der
frühen Einsicht und Sitt
lichkeit des Erziehers seines Emil finden und diesen bereit,
der Erziehung eines anderen Menschen sein Leben ungetheilt zu widmen.
Vielleicht kann der Arzt keinen größeren
Irrthum begehen,
als sich einznbilden, irgendwo in der
Welt fände sich rin einziges Elternpaar, das schon vor der
Ehe die Weisheit besitzt,
welche dazu gehört, sich gesunder
Nachkommen würdig zu erhalten,
und das auch in der
Ehe selbst unermüdet dieses Ziel vor Augen hat. Wunsch mag bei Vielen
Einige.
sein;
Der
selbst die Einsicht haben
Aber der Wille ist schwach.
Wir erheben uns hundertmal am Tage
immer wieder.
und fallen
Der glühende Freund der Kinder,
ernste Erzieher einer besseren Menschheit,
der
Basedow, ver
kündet die Mäßigkeit als eine Angelegenheit der Gesund
heitspflege und der Religion und widerräth überzeugt und eindringlich die geistigen Getränke und den Tabak als rast lose Zerstörer der leiblichen und sittlichen Gesundheit. Gleich-
8 wohl pflegte er, wie uns Goethe erzählt,
ununterbrochen
schlechten Tabak zu rauchen und blieb bis zum Lebensende
ein starker Trinker, der behauptete, die Conclusion „Ergo bibamus“ passe zu allen Prämissen"). Niemand kennt die Widersprüche,
den Wankelmuth,
die sittliche Schwäche und Feigheit der Menschen bester als der Arzt.
Niemand erfährt sicherer,
wider wenig oder gar nichts hilft sehen und schweigen,
daß Predigen da Soll er darum Zu
wenn er die Menschen
gegenüber den Ursachen ihrer Gebrechen
blind findet
und Laster? —
Ja, wofern er etwa predigen will7). Wenn er aber belehren kann, wenn er die Wurzeln
eines Übels erkannt zu haben glaubt,
so muß er reden,
selbst auf die Gefahr hin, erschreckende Wahrheiten zu sagen. Nur wo Einsicht ist, beginnt die bleibende Besterung.
Gesundheit ist eine Tugend, die jeden Augenblick mit aller Willensanstrengung erkauft werden muß.
Vollendete
Tugend ist nur da, wo vollendete Einsicht besteht.
Die Heilkunde stellt wie die Religion an den Menschen
die höchsten Anforderungen, damit sich zunächst wenigstens der Wille Einzelner dem nähere, was die Meisten
erreichen.
nicht
Sind aber einmal Wenige von den angeborenen
Übeln der Menschheit erlöst und zu ihrer eingeborenen
Vortrefflichkeit gelangt,
nicht durch Zufall, sondern weil
die Erzeuger den Weg gesehen und das Ziel innig begehrt
-
9
—
habk», dann werden immer Mehrere nachfolgen. Und was die Menschheit in natürlichen Dingen erkennt und will, das wird ihr in der Fülle der Zeiten mit Natur notwendigkeit zu Theil.
1. Wir besonnen uns ,u Dem WeirfHeefit, das aus dem Tnnkolu in'? Helle strebt. Wort h e.
Es sollte Niemand über Erziehung reden, der nicht
selbst Kinder geboren und erzogen hat!
Die Worte
hat
eine
kummervolle Mutter
ausge
sprochen, als ein eheloser Prediger ihr unbernfen die Früchte
ihrer Erziehung vorhielt.
Wenn von dieser gerechten Ver
wahrung Jemand sich ausnehmen darf, so ist es der Arzt, der Jahre lang mit vielen Eltern die Sorgen und Räthsel der Kinderentwicklung getheilt und den Gründen des Fa
milienelendes nachgedacht hat.
Ihm wird es sogar zur
Pflicht, wichtige Punkte der Kinderpflege öffentlich zur Sprache zu bringen, die im Verkehr mit den Familien
aus verschiedenen Gründen
unberührt
einzelnen bleiben
müssen.
Im Zwiegespräch mit der bekümmerten Mutter oder dem verstimmten Vater hemmen ihn enge Schranken mit leidiger Verschwiegenheit, welche er nicht verlassen kann,
11 ohne zu den vorhandenen Sorgen der Eltern traurige Selbstvorwürfe zu errege» und ohne neuen Kummer und
Rathlofigkeit anstatt der erbetenen Hülfe und des erhofften Trostes zu bringen.
Wie oft nennt er, nach den Ursachen der Leiden, der Schwächen, der Fehler ihrer Kinder gefragt, den Eltern die nächsten Veranlassungen und verschweigt die tieferen
Ursachen, redet diese sogar den Eltern ans, wenn sie in selbstquälerischer Ahnung darauf deuten.
Kann der Arzt, ohne sich den Vorwurf entsetzlicher
Rohheit zu machen, einer Mutter, die mit bestem Wollen, verleitet vom Rath einer weisheitsvollen Hebamme oder einer im Geruch der Erfahrung stehenden Freundin oder eines Zeitungsschreiers eine fehlerhafte Ernährung ihres
Lieblings durchgeführt hat, kann er, darf er am Sterbe lager des Kindes sagen, warum das Kind zu Grunde
gehl?
Das würde dem Kinde nichts mehr nützen, die
Mutter vielleicht in Wahnsinn führen. Wie oft ist es dem Arzt unmöglich, dem Vater offen
und klar darzulegen, warum sein Sohn, den er sich stets als Stolz und Stütze für die Tage des Alters vorgestellt hat, von dem er so oft gedacht und gesagt hat: der Junge
soll bester und tüchtiger werden als sein Vater, — warum
der Sohn alle diese Erwartungen enttäuscht, warum sich bei ihm wieder
die Fehler der Eltern und neben den
12 gewohnten Familienübeln neue zeigen, warum er körper
lich siecht, geistig zurückbleibt,
sittlich
verdirbt.
Um die
Ursachen zu zeigen, warum so vieles anders geworden ist, als der Vater hoffte, warum das nicht anders
werden
konnte, müßte der Arzt erbarmungslos in Vergangenheiten
forschen und aus Geschehnisse deuten, welche längst ost gerne und
und
auch mit Recht begraben sind, weil Blick
und Muth sich in die Zukunft richten sollen. Der Arzt kann also den Eltern nicht jedesmal die
nackte und volle Wahrheit über die Gebrechen ihrer Kinder sagen,
weil in den meisten Fällen die Einsicht eben zu
spät käme und weil der Verstand der Eltern selten kühl
und stark genug ist, unnütz gewordene Regungen des Ge müthes zu beherrschen und ohne den Zusammenbruch ihres
ganzen Seins bewußt die furchtbare Verantwortung aller Folgen zu tragen, welche sich mit der Zeugung einer Nach kommenschaft verknüpfen.
Das Vergangene ist unabänderlich.
damit quälen ist fruchtlos.
Sich oder Andere
Kaum dann
muß der Arzt
es schonungslos aufdecken, wenn er sieht, wie in Leichtsinn
oder Ruchlosigkeit die Wiederholung schon begangener Fehler neues Elend vorbereitet.
Denn auch hier nützen seine
Worte selten etwas; meistens gewinnt er damit statt dank barer Folgsamkeit die alte Erfahrung,
und Rathschläge,
daß Aufklärungen
die er in der besten Absicht gibt,
als
13 Borwürfe, ja als Beleidigungen ausgesaßt werden. viele Menschen bedenken denn,
Wie
daß der Arzt keine Vor
würfe macht und nicht einmal wünscht, daß Selbstvorwürfe entstehen oder sogar heftig werden').
Bleibt also Mund und Wissen des Arztes verschlossen, wenn er vor vollendeten Thatsachen steht, so darf er, soll
er um st> freier reden, wenn sein Wort sich nicht mehr
an den Einzelnen wendet, der geschehenen Schaden zu be klagen hat,
sondern zur Menschheit spricht,
welche gerne
belehrt sein will, wie Schäden an Leib und Geist ihrer
zukünftigen Glieder verhütet werden können. Wäre die Heilkunst allmächtig,
könnte sie alle Ge
brechen und Leiden beseitigen, könnte sie verlorene Gesund heit in jedem Falle wiedrrgeben, Belehrung nicht, werden.
wie Schwäche
dann bedürfte es der und Krankheit verhütet
Aker die Grenzen der ärztlichen Kunst sind sehr-
enge, die Wirkungen ihrer Mittel unvollständig und kurz
lebig,
und so war immer und wird immer die höchste
Lehre des Arztes bleiben: Verhütet die Krankheiten,
er
haltet die Gesundheit! Über die Bedingungen für die Begründung und Er
haltung der Gesundheit besteht unter den Eltern,
unter
den gebildeten wie unter den ungebildeten, eine merkwürdige
Unkenntniß,
welche dem Arzt jedesmal ein trauriges Er
staunen bereitet,
wenn er die Wichtigkeit der Sache im
14 Auge hat, und welche ihn doch auch wieder nicht wundern kann, sobald er bedenkt, daß ja immer noch, wie auf eine heimliche Verabredung hin, in Familie und Schule dem
Heranwachsenden Menschen
die wichtigsten und nächsten
Kenntnisse, die Kenntnisse von den Bedingungen des Da
seins und der Wohlfahrt des Einzelnen und der Gesell schaft, vorenthalten, ja zum Theil im Namen der Sitt
lichkeit verboten werden,
damit er um so gründlicher die
zwölf Stämme Israels und die zwölf Arbeiten des Hercules und die unmöglichste Quadratur des Kreises und die an
geblichen Gewichte
der Fixsterne erlernen könne.
Vom
Leben der gesammten Menschheit, von der Gesellschaft, vom Wesen des Staates, vom eigenen Körper, von den natür
lichen Verrichtungen
desselben,
von der Ehe, von der
Kinderpflege, von allen den Voraussetzlingen, unter denen
wir entstehen und vergehen, arbeiten und denken, sittlich sind und dem Ziel vollendeter Menschheit zustreben, erfährt
der junge Mensch nichts. würdig und später
Das alles soll nicht der Rede
sehr selbstverständlich sein.
Besser
werden ihm Märchen erzählt, Hirngespinnste eitler Träumer
entwirrt und die Spielzeuge bequemer Müßiggänger zum Erstaunen vorgelegt, damit er nur nicht nach dem Leben,
wie es ist und was es fordert, frage und die Erwachsenen
in Verlegenheit setze.
Denn
wahrlich
in Verlegenheit
würden wir gerathen, wenn das Kind die Dinge lernte,
15 in denen unsere Fehler und Verirrungen und Frevel liegen;
wenn es sähe, wie wir die natürlichen Pflichten verrathen
und entwürdigen.
Darum thun wir, als sei es überflüssig,
von dem Wichtigsten zu reden oder lügen gar, eS sei un schicklich.
Lieber überlasten wir der stets regen Neugier
des Kindes, aus Ahnungen
und ans leichtsinnigen oder
frechen Andeutungen seiner Umgebung sich verbotene Vor stellungen zu schaffen.
Anstatt ihm zu sage»,
daß
die
Mutter unter Schmerzen das Kind zur Welt bringt wie das Huhn sein Ei,
daß das Ungeborene sich im Mutter
leibe entwickelt wie das Würmchen in der Haselnuß?); anstatt ihm zu sagen,
daß die Körperstellen,
an welchen
Koth und Harn als Auswürflinge unserer Nahrung ab
geschieden werden,
ebenso wichtige und nothwendige Orte
sind, wie der Mund, der die Nahrung aufnimmt, machen wir alberne Redensarten oder schamlose Lügen oder eine
grinsende Miene, wenn das Kind nach den natürlichsten Dingen fragt. Den jungen Menschen gewöhnen wir an eine nrtheil-
lose Bewunderung oder Verwerfung der Volksschichten und verwirren damit fortwährend sein gesundes Urtheil, das in allen Ständen ebenso Männer,
die seine Hochachtung,
wie Leute, die seine Verachtung verdienen, findet.
Anstatt
ihm seinen heiligen Eifer zu erhalten, indem wir ihm offen jagen, du bist berufen nach deiner eigenen Einsicht Staat
16 und Gesellschaft zu verbessern, wenn du dich selbst einmal znm guten und tüchtigen Manne herangebildet hast, machen
wir ihn möglichst früh zum Anhänger unserer vorurtheil-
vollen und selbstsüchtigen Genossenschaften oder thun,
als
ob Alles wunderschön und die Zufriedenheit mit deni Be stehenden die natürlichste Pflicht und die allgemeine Stim
mung sei. So Verkehren wir in jeglichen Dingen das Natürliche, verbergen das Wirkliche und erheucheln den Bestand vor
übergehender Meinungen.
Wir nennen dies
eine ideale
Erziehung in glücklicher Unwissenheit und vergessen, daß das Kind früher oder später unsere Heuchelei erbarmungs los durchschauen wird und unter der Enttäuschung völlig
verdirbt oder lebenslang leidet.
Wir vergesse», was schlim
mer ist, daß der kindliche Scharfsinn die vordringlichen
Lügen der Gesellschaft und die lüsternen Geheimnisse des Privatlebens weit früher erspäht, ehe er sich einen Begriff bilden konnte von dem Wahren und Guten und Schönen,
welches den Gründ auch der verderbtesten Lebensverhält
nisse bildet.
Seine Vorstellungen sind vergiftet, ehe die
reine schlichte Wahrheit aller Dinge sie erfüllt hat.
muß seine eigene Seele, seine» Gegenstand des Ekels und als betrachten,
Es
eigenen Körper als einen eine Quelle der Sünde
ohne den Trost zu habe«,
daß Sünde und
Krankheit in Wirklichkeit fremde Eindringlinge sind, die
17
von selbst ausbleiben, wo Gesundheitspflege und Sitte die gemeinsame Grundlage der Erziehung bilden, die aber nie ausbleiben werden, solange man glaubt, mit Glaubens lehren und Sittenlehren allein die Menschheit zu verbeffern. Es ist nicht anders. Je weiter unsere Erfahrung dringt, je mehr wir den Zusammenhang der sittlichen und körperlichen Welt begreifen, desto mehr wird uns zur Ge wißheit, das Glück der Veredelung werde den Menschen nicht eher blühen, als bis sie sich gewöhnen, in allen LebenSverhältniflen auszugehen von der Überzeugung, daß vergeblich bleibt daS Mühen um die höheren Güter der Menschheit, wo Grund und Boden unseres Daseins mißachtet oder gar verabscheut wird, daß die Sorge um daS körperliche Wohlergehen da« erste Recht und die eigenste Pflicht eines Jeden ist, in welcher er sich durch Niemanden darf bevor munden lasten als durch die Gesetze der Natur. Damit diese Pflicht erfüllt werde, ist aber vor Allem nöthig, daß die Bedingungen unseres Daseins, Geburt, Wachsthum, Ernährung, Körperpflege, Zeugung, nicht länger Fachgeheimniste des Arztes und der Gegenstand lüsterner Neugierde der anderen Leute bleiben, sondern die wichtigsten, die heiligsten Lehrgegenstände werden für Jüng linge und Jungfrauen, welche sich zu ihrem Lebenslauf vorbereiten. Dürfen wir die Hoffnung hegen, daß Familie Ctictcr, Gesundheit u. Erziehung.
2
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und Gesellschaft sich dieser Nothwendigkeit nicht immer verschließen werden? — WaS inzwischen der Arzt thun kann und was wir versuchen wollen zu thun, das ist, zu zeigen, wie die Grund lage für körperliche Gesundheit gelegt wird, von welchen Voraussetzungen sie abhängt und welchen Sinn eine körper liche Erziehung deS Menschen hat. Vorher wollen wir aber die Erziehungsfrüchte be trachten, welche unter Vernachlässigung oder bei unzu reichender Rücksicht auf die körperliche Pflege reifen.
2. Tie innere Entwickelung unserer Fähig keiten und der dazu erforderlichen Werkzeuge besorgt die Erziehung der Natur; die Er ziehung der Menschen lehrt uns von jener Etttwickelung Gebrauch zu machen. Rousseau.
Der Mensch, sagen die Erzieher, ist Nicht- als was
Erziehung aus ihm macht'). So viel ist sicher.
Im rohesten Naturzustande erhebt
sich der Mensch wenig über das Thier.
Ein bedeutender
Fortschritt ist da, sobald der Vater den Sohn unterweist, den Speer zu werfen und die Götter zu ehren.
Da be
ginnt die Macht des Menschen über die Erde und die
'Bildung zu den höchsten Gütern der Menschheit.
Mit
dem weiteren Fortschreiten der Cultur steigern sich die An
strengungen
der Erzieher und die Leiden der Erzogenen.
Erziehung üben wird immer mehr zur Last ; erzogen werden
immer mehr zur Oual"). Ehe der junge Mensch unserer Tage und in unseren Ländern zu seiner Großjährigkeit kommt und von der Ge
sellschaft als würdiges Mitglied anerkannt wird, soll er
20 drei Stufen der Erziehung überschritten haben, die Er
ziehung durch die Familie, das Heer.
durch die Schule und durch
Die Gesellschaft setzt voraus,
daß am Ende
dieser dreifachen Erziehung zunächst das gethan ist, was
den Menschen zum Culturmeuschen bürger befähigt.
macht, zum Staats
Manche begnügen sich in Forderung lind
Ausführung mit den beiden ersten Stufen; die dritte halten
sie für überflüssig. Der den höheren Zielen der Menschheit zustrebende
Erzieher verlangt mehr als die selbstgefällige Gesellschaft3). Während diese sich mit dem Wort Familie und mit leid
lichen Schulzeugnisien wohlzufrieden erklärt und mit Rück sicht auf den häufigen Widerwillen gegen die Dienstleistungen
im Heere irgend einen militärischen Grad
besondere
Empfehlung
erachtet,
will
der
für eine ganz
Freund
einer
besseren Menschheit die wirklichen Früchte einer dreifachen Erziehung; er will körperliche,
geistige und sittliche Aus
bildung in ihrer Vollendung sehen.
Er verlangt am Er
zogenen : Wohlgestalt und Kraft, vernünftiges Denken und
Handeln, feste Sittlichkeit in allen Lagen des Lebens. In unserer Zeit sind wir von den Früchten vollendeter
Erziehung so weit entfernt wie zu irgend einer Zeit der
Geschichte
der Menschheit.
Der
Weltverbesserers will sogar finden, schritt
der
gesellschaftlichen
scharfsichtige Blick
des
daß hinter dem Fort
äußeren
Bildung
die
Er-
21 ziehung des Einzelnen weiter als je zurückgeblieben und es sollen Rousseau und
ist,
sein Schülers Kant Recht
behalten mit ihrer Versicherung,
daß die Erhöhung des
StaatSlebenS unvermeidlich mit einer Werthverminderung
des Einzelnen in jeder Hinsicht einhergehe. Wir dürfen diese schwarzen Grillen des Menschen
kenners,
der in trüben Stunden nur das Kranke an der
Oberfläche des Menschengeschlechtes sieht und die unendliche
rastlose Vermehrung
innerer Kraft und Schönheit und
Güte eine Weile vergißt, geben.
leider nicht dem Winde über
Wir müssen uns vorzüglich,
ja ausschließlich mit
dem kranken Theil der Menschlichkeit beschäftigen, wenn
wir Ziel
und Zweck der Erziehung
vor Augen
haben.
Aber der wahre Erzieher wird keinen Augenblick vergeflrn,
daß gerade und nur der gesunde Kern im Menschen eS ist, der die Betrachtung der ihn entstellenden Fehler und
Schwächen erträglich und Pläne der Befferung überhaupt der Mühe werth macht.
Was ist Schuld, daß die Früchte der Erziehung nicht
den Erwartungen entsprechen? Liegt das an den Erziehungs wegen oder im Gegenstand der Erziehung?
Die Wege der Erziehung hat man wohl meistens im Verdacht.
Das beweisen zahllose Versuche, sie zu verbessern
und der häufige Wechsel ihrer Richtung. bedürftigen hat man bisher,
Den Erziehungs
so viel ich sehe, stets für
22 einen nothwendig gegebenen gehalten und nie die Hoffnung
anders als eben durch die Erziehung au
ausgesprochen,
ihm etwas zu ändern. Manche sagen,
kommen in Betracht.
weder Erziehungsweise noch Zögling Eure Erwartungen sind falsch.
Sie
leugnen jeden Einfluß der Erziehung überhaupt ebensowohl
auf die körperlichen wie auf die geistigen und die sittlichen Der Mensch, sagen sie, ist von Natur aus
Eigenschaften.
stark oder schwach, geistig begabt oder unbegabt, böse oder
gut, und der Erzieher kann nichts thun, als den guten Fähigkeiten Gelegenheit zur Ausbildung und Wirksamkeit geben und den schlechten Nahrung und Gelegenheit entziehen. Was die Verschiedenheit der Wege bei denen,
welche
eine Erziehung mit bewußten Zielen für möglich und wirk lich halten, angeht, so wird ein dreifacher Weg zugegeben
und benutzt.
Man erzieht entweder durch Predigen und
Strafen oder durch Belehren oder durch das Beispiel. Das Kind soll in der Schule gerade sitzen; der Lehrer
sagt: setze dich gerade oder du bekommst Schläge; oder er sagt:
setze dich gerade,
sonst wird dein Rücken krumm;
oder er setzt sich selbst gerade und hofft,
es nachmachen.
daß alle Kinder
Welchen Weg er nun auch vorziehen wird,
immer wird er am Ende lernen, wofern er es nicht vorher
gewußt hat, daß es auch Kinder gibt, die gar nicht gerade sitzen können,
weil ihr Rücken schwach oder schon krumm
23 ist.
Diese Erfahrung, so einfach sie zu sein scheint, haben
die Erzieher auffallend spät gemacht, wenigstens im Geistigen und Sittlichen.
Die drei Erziehungswege werden von den Berufs erziehern gesondert oder vereinigt benutzt.
Die Wahl hängt
keineswegs von der Austastung der Natur des Zöglings ab, in welcher die Erzieher weit auseinander gehen.
Biele sagen, der Mensch sei von Natur aus böse und seine Erziehung könne deßhalb nur eine abschreckende sein
und
müsse
durch Strafen
wirksam
unterstützt
werden.
Andere, so der Prediger Salomon und der Magister Kant, vereinigen sich in dem Satz,
der Mensch habe nur gute
Anlagen, welche durch Erziehung entwickelt werden müßten.
Aber sie entzweien sich über die Wahl der Mittel.
„Und meine Seele suchet noch und hat es nicht ge funden.
Unter tausend habe ich einen vollkommenen Mann
gesunden, aber kein Weib unter Allen.
Nur das hab ich
gefunden, daß Gott den Menschen recht gemacht hat.--------Ruthe und Strafe gibt Weisheit. Sohn und er wird dich ergötzen".
Darum züchtige deinen So der Ecclesiast.
Und der Weise von Königsberg: „Gehe in die Welt", — läßt er den Schöpfer zum Menschen reden, — „gehe in die
Welt!
Ich habe dich ausgerüstet mit allen Anlagen zum
Guten.
Dir kömmt es zu, sie zu entwickeln und so hängt
Dein eigenes Glück und Unglück von Dir selbst ab". —
24 Die Ursachen zum Bösen findet Kant nicht in der Natur
anlage deS Menschen: »das nur ist die Ursache deS Bösen", sagt et, wird.
„daß die Menschheit nicht unter Regeln gebracht
Gute Erziehung gerade ist das, woraus alles Gute
in der Welt entspringt; — die moralische Cultur muß
sich also gründen auf Maximen, nicht auf Disciplin; —
durch Disciplin bleibt nur eine Angewohnheit übrig, die doch auch mit den Jahren verlöscht")". Was haben die entgegengesetzten Empfehlungen erreicht?
Die Kinder Israels und ihre Leidensgenosien in der Straf erziehung sind durch die Schläge nicht besser geworden und
wir Kinder Deutschlands nicht durch die Regeln.
Und wie
im Sittlichen so ist im Geistigen und Körperlichen nicht so viel Unterschied zwischen heute und Salomons Zeit vor
dreitausend Jahren, daß die Erzichungslehrer sich dessen rühmen könnten.
Es konnte daS auch kaum anders sein, solange eine ganz falsche Naturansicht oder vielmehr gar keine die Grund
lage der Erziehung bildete, so lange die Einen als ersten Satz ihrer Erziehungslehre
ausstellten:
„Im
Menschen
liegen nur Keime des Guten""), und die Anderen mit
dem Satz anhuben: „Im Menschen liegen nur Keime des Bösen," ’) und Viele gar behaupteten, die Seele des Kindes
sei eine wehrlose unbeschriebene Tafel, aus welche der Er
zieher schreiben könne, was ihm beliebe").
25 Daß die Kinder sehr verschieden zur Welt kommen,
daß Beides, Gutes und BöseS, welches der Erzieher bei ihnen zu entwickeln oder zu unterdrücken sucht, in der
Anlage sowohl vorhanden sein wie fehlen kann, daß eS also mindestens zwei Arten von Zöglingen in tausend fältiger Abstufung gibt, das konnten nur die übersehen,
welche in überlegener Weltweisheit sich die Zöglinge dachten, anstatt sie zu sehen.
Laßt euch doch, die ihr den Über-
muth der unbeschränkten Schönseherei habt, einmal in eine Verwahranstalt für blödsinnige Kinder führen! Dort ver
geht euch, denke ich, der unwahre Optimismus und die Kühnheit, die Menschen ohne Wahl mit Maximen zu er
ziehen.
Dort werdet ihr aus Optimisten zu Pessimisten
oder im besten Falle schränkt ihr euren Satz soweit ein,
wie eS Rousseau thut: »Im gesunden Menschen liegen nur Keime des Guten", und wenn ihr dann noch weiter
hofft, so stellt ihr euch die Frage: Gibt es kein Mittel in der Welt, wodurch es zu erreichen wäre, daß bei der Ge burt nur Keime des Guten im Menschen liegen?
Wir haben noch einen Blick auf den dritten Erzieh ungsweg zu werfen, auf die Erziehung durch das Beispiel. Jüngere Weltweise erwarten viel davon und es kann wohl
nicht geleugnet werden, daß mehr als Ermahnung und
Belehrung und Strafe im Großen und Ganzen das Bei spiel wirkt.
Kinder und Erwachsene ahmen nach und halten
26 am Nachgeahmten fest, bis sie an ihrem Vorbild Wider
sprüche und Fehler gefunden haben und ein anderes Bei» spiel das Übergewicht erlangt,
oder bis die Vernunft da
ist und daS bisher Gewohnte gutheißt oder verwirft. — In einer guten Umgebung ist es für ein gewöhnliches
Kind fast ebenso unmöglich,
schlecht zu werden, wie in
einer schlechten Umgebung, gut zu sein.
Im Allgemeinen
werden schlechte Vorbilder als die auffälligeren leichter und
deßhalb lieber nachgeahmt als gute, und auch schlechte Angewohuheiten werden schwerer und widerwilliger von der
Vernunft ausgerottet als gute. Für schlechte Sitten genügt
ein Sichgehenlasseu, für die guten bedarf es täglicher und stündlicher Selbstbeherrschung.
In Krankheiten, bei Er
müdung erlahmt die Kraft dazu; darum schicken vernünftige Eltern das wider seine Gewohnheit unartige Kind ins Bett, weniger vernünftige stellen es in die Ecke, unver nünftige züchtigen es.
Was ist denn schließlich die Frucht einer Erziehung
durch Beispiel? Doch nichts Anderes als eine mehr oder minder stark befestigte Angewöhnung, die keinen Anspruch
auf die Bezeichnung einer sittlichen hat.
Wir sind nicht
sittlich, wenn wir mit unserer Umgebung gut und hülfreich und edel sind, sondern nur, so weit wir es trotz ihr sind,
so weit wir in uns
den unverbrüchlichen eingefleischten
Willen haben,
dann das Gute und Wahre und
selbst
27 Schöne zu verfolgen, wenn es uns auch in einer argen
Umgebung nie verwirklicht erscheint. Bringt
doch eure vom Beispiel der Familie und
Gesellschaft erzogenen Kinder in jungen oder alten Jahren
einmal in längere Berührung mit dem Laster und sehet
zu,
wie viele von ihnen wahrhaft gut erzogen sind, wie
vielen euer Unterschied zwischen Gut und Bös so einge
wurzelt ist, daß sie sich nicht von ihrer neuen Umgebung allmählich oder rasch herabzichen lasten, anstatt diese zu sich hinaus zu ziehen.
Zwei oder drei werden die Probe
bestehen und sich ihr eigenes Selbst in allem Wechsel der äußeren Einflüße erhalten, weil ihre Natur und das Sitt
liche Eines sind; die tausend anderen werden wie dressirte Hunde, die unter dem wachenden Auge des Herrn das
verbotene Wild unberührt lasten und vielleicht nicht einmal mit Begehrlichkeit anschauen, schamlos sich auf die Beute
stürzen, sobald sie gewahren, daß der Herr sich nicht mehr um sie kümmert. Nehmen wir es aber einen Augenblick für ausgemacht an, der richtige und ausreichende Erziehungsgrund liege
im guten Beispiel.
es denn verkörpert?
Wo findet die Heranwachsende Jugend
Zweifellos in vielen, in sehr vielen
Fällen bei ihren Eltern, ihren Lehrern und anderen Vor gesetzten.
Aber wie zahlreich sind doch die Fälle, wo das,
was Eltern und Lehrer gut machen, von anderen Menschen
28 verdorben wird, wie zahlreich die Fälle, in denen über
haupt jedes gute Beispiel fehlt. Gerade da, wo Wohlwollen, Redlichkeit, HerzenSreinheit, überhaupt Sittlichkeit unentbehrlich Familie, wird sie allzuhäufig vermißt.
ist oft nichts Anderes als
erscheint, in der
Familienerziehung
eine Dressur des Kindes, die
Unarten und Launen der Erwachsenen zu sehen, zu ertragen
und nicht nachzuahmen.
Und der kluge und artige Welt
ton, in dem das Kind der sogenannten feinen Familien auswächst, ist nicht selten ausgemachte Heuchelei; für wahr
haft sittliche Reden und Handlungen des treuherzigen Kindes besteht, sobald sie von der Tagesmode abweichen, ein so
geringer Begriff, daß man den kleinen lästigen Mahner als schreckliches Kind bezeichnet. Mit dem Beispiel für die Jngend auf dem Gebiete
des Verstandes ist es nicht anders.
Die geistige Durch
bildung deS Volkes oder auch der Gebildeten im engeren
Sinne ist nicht einmal so groß, daß wahre Leistungen in
Handwerken, in Künsten und in Wissenschaften vor den Scheinwerken des Strebers und Machers den Vorzug haben, und der junge Mensch merkt es sich nur zu bald, daß er durch vieles Andere es weiter vor der Gesellschaft bringt als durch eine ehrliche Anwendung seiner geistigen Fähigkeiten. Was die Erziehung zur körperlichen Vollkommenheit
durch das Beispiel angeht, so ist der Heranwachsende Mensch
29 kaum
daran gewöhnt, auf Gesundheit und Kraft Werth
zu legen.
DaS lernt er erst spät, zu spät.
Menschen,
siechen.
die
an
Er lebt unter
tausend Schwächen und Krankheiten
Er sieht es fast nie, daß Leiden und Krankheiten
für etwas Schimpfliches gelten, dessen der Mensch sich zu schämen hätte, was er mit aller Kraft abweisen sollte. —
Im Gegentheil, er hört es immer, daß der Arzt, daß der Apotheker,
daß tausend Krankenhäuser und Bäder und
Heilanstalten dafür da sind, alle erdenklichen Krankheiten zu heilen, und Niemand sagt ihm, daß der Arzt mit allen
seinen Hülfskräften doch eigentlich recht wenig von der All
macht besitzt, die man ihm wider seinen Willen zuschreibt. Wie soll aber ein Kind Scheu vor körperlichen Übeln be kommen, wenn Krankheiten und Kuren zum wohlanständigsten
Gespräch in der gesellschaftlichen Unterhaltung
gehören?
Dazu kommt, daß auf körperliche Fähigkeiten und Übungen,
so viel man auch die Jugend neuerdings dazu anhält, von
den
Erwachsenen
im Allgemeinen wenig Gewicht gelegt
wird, also auch hier das Beispiel fehlt").
Nach alledem könnte es scheinen, als ob diejenigen Er zieher, welche vom Beispiel das Heil für die Jugend erwarten,
im Rechte wären, wenn sie behaupten, die Fehler der Er zieher, nicht die Natur der Zöglinge trügen die Schuld, daß
wir im Körperlichen, Geistigen und Sittlichen weit hinter dem erwünschten und erstrebten Ziel zurück sind, und als
30 ob das Wort Kant's Sinn hätte, daß „wenn einmal ein Wese» höherer Art sich unserer Erziehung annähme, dann
man doch sehen würde, was aus dem Menschen werden könne".
Wollten wir nun aber
den Borwurf des schlechten
Beispiels wirklich erheben, so würden die Erzieher einmüthig schnell ein wirksames Mittel zur Hand haben, sich von
aller Schuld zu reinigen, indem sie sagten: wie könnt ihr
von uns verlangen,
daß wir Musterbeispiele seien!
thun was wir können. erzogen worden.
Wir
Wir selbst sind nicht von Mustern
Und so würde ein Jeder den Vorwurf
rückwärts weiter geben. In der That ist, wenn wir der Sache auf den Grund
gehen,
nichts unnützer als jener Vorwurf.
Könnten wir
die Herzen erforschen, so würde sich zeigen, daß die aller meisten Menschen den guten Willen haben,
sich selbst zu
vervollkommnen und durch das beste Beispiel erzieherisch
zu wirken, fehlt.
daß es nicht am Willen aber an der Kraft
Wir Alle haben diesen Willen oder haben ihn ge
habt bis zu einer Zeit,
die bei dem Einen früher, beim
Anderen später sich einstellt, wo wir denn endlich erfahren müssen,
daß wir schwächer sind, als wir selbst geglaubt
haben, wo in wiederholtem Unterliegen der Jugendtraum einer unverwüstlichen körperlichen, geistigen und sittlichen Frische verblaßt und eine feige schlaffe Entsagung über
uns kommt, in der wir zu uns selbst sprechen: Das Leben
31 bringt ja nothwendig Krankheit, Dummheit, Laster hervor itiib des Lebens höchste Weisheit bleibt zum Schluß: Sich
selbst ertragen! Sich selbst ertragen!
Es ist noch ein Gewinn, wenn
wir in der sittlichen Wechselzeit, die uns unsere Minder-
wcrthigkcit zum Bewußtsein bringt, zu diesem kommen.
Verzicht
Wir hören dann wenigstens aus, uns selbst nutz
los zu quälen und Andere ungerecht zu beschuldigen. Aber die Jugend soll und will diesen Verzicht nicht
üben.
Sie fühlt den Muth zur Vollwerthigkeit und hat
die Mittel, sich über eigene wie fremde Schwächen zu er
heben und je länger sie es thut, desto später ist sie alt. Was ist der Grund
„von jenem Muth, der früher oder später Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt,
Von jenem Glauben, der sich stets erhöhter,
Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt, Damit das Gute wirke, wachse, fromme, Damit der Tag dem Edlen endlich komme?""')
Woher nimmt die Jugend den Glauben an sich und