Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Bildungserfolg: Die intergenerationale Transmission von Bildungschancen durch Gesundheit [1. Aufl.] 9783658314248, 9783658314255

Bildungschancen sind in allen westlichen Gesellschaften sozial ungleich verteilt, ebenso wie die Chancen auf ein gesunde

336 95 6MB

German Pages XIII, 288 [295] Year 2021

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Hintergrund und Zielsetzung (Julia Tuppat)....Pages 1-6
Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten (Julia Tuppat)....Pages 7-52
Forschungsstand (Julia Tuppat)....Pages 53-80
Gesundheit im Modell zur Genese von ungleichen Bildungschancen nach Boudon (Julia Tuppat)....Pages 81-111
Studie I – Bildungserfolg (Julia Tuppat)....Pages 113-197
Studie II – Bildungsbeteiligung (Julia Tuppat)....Pages 199-222
Bewertung der empirischen Befunde und Implikationen (Julia Tuppat)....Pages 223-228
Abschließende Bemerkungen (Julia Tuppat)....Pages 229-230
Erratum zu: Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Bildungserfolg (Julia Tuppat)....Pages E1-E1
Back Matter ....Pages 231-288
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Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Bildungserfolg: Die intergenerationale Transmission von Bildungschancen durch Gesundheit [1. Aufl.]
 9783658314248, 9783658314255

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Gesundheit und Gesellschaft

Julia Tuppat

Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Bildungserfolg Die intergenerationale Transmission von Bildungschancen durch Gesundheit

Gesundheit und Gesellschaft

Der Forschungsgegenstand Gesundheit ist trotz reichhaltiger Anknüpfungspunkte zu einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Forschungsfelder – z. B. Sozialstruktur­ analyse, Lebensverlaufsforschung, Alterssoziologie, Sozialisationsforschung, poli­ tische Soziologie, Kindheits- und Jugendforschung – in den Referenzprofessionen bisher kaum präsent. Komplementär dazu schöpfen die Gesundheitswissenschaf­ ten und Public Health, die eher anwendungsbezogen arbeiten, die verfügbare so­­ zialwissenschaftliche Expertise kaum ernsthaft ab. Die Reihe „Gesundheit und Gesellschaft“ setzt an diesem Vermittlungsdefizit an und systematisiert eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf Gesundheit. Die Beiträge der Buchreihe umfassen theoretische und empirische Zugänge, die sich in der Schnittmenge sozial- und gesundheitswissenschaftlicher Forschung befinden. Inhaltliche Schwerpunkte sind die detaillierte Analyse u. a. von Gesundheits­ konzepten, gesundheitlicher Ungleichheit und Gesundheitspolitik. Herausgegeben von Ullrich Bauer Universität Bielefeld Deutschland

Uwe H. Bittlingmayer PH Freiburg Deutschland

Matthias Richter Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Deutschland

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12229

Julia Tuppat

Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Bildungserfolg Die intergenerationale Transmission von Bildungschancen durch Gesundheit

Julia Tuppat Berlin, Deutschland Dissertation Goethe Universität Frankfurt am Main, 2018

ISSN 2626-6172 ISSN 2626-6180  (electronic) Gesundheit und Gesellschaft ISBN 978-3-658-31425-5  (eBook) ISBN 978-3-658-31424-8 https://doi.org/10.1007/978-3-658-31425-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis 1 Hintergrund und Zielsetzung ............................................................................. 1 2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten ................................................. 7 2.1 Soziale Herkunft .............................................................................................. 7 2.2 Bildungsungleichheit ....................................................................................... 9 2.3 Gesundheitliche Ungleichheit ........................................................................ 24 2.4 Soziale Herkunft, Gesundheit und Bildungserfolg ........................................ 41 3 Forschungsstand ................................................................................................ 53 3.1 Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg ............................................................................................... 53 3.2 Evidenz gegen einen Effekt von Gesundheit auf Bildungserfolg .................. 75 3.3 Forschungsdesiderate ..................................................................................... 77 4 Gesundheit im Modell zur Genese von ungleichen Bildungschancen nach Boudon .............................................................................................................. 81 4.1 Theoretische Annahmen zum primären Gesundheitseffekt ........................... 83 4.2 Theoretische Annahmen zum sekundären Gesundheitseffekt ..................... 104 4.3 Schematische Gesamtdarstellung des theoretischen Modells...................... 109 5 Studie I – Bildungserfolg ................................................................................. 113 5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen ......... 113 5.2 Teilstudie II zum primären Gesundheitseffekt: Längsschnittanalysen ........ 158 6 Studie II – Bildungsbeteiligung ...................................................................... 199 6.1 Daten: Beziehungs- und Familienpanel pairfam ......................................... 200 6.2 Operationalisierungen .................................................................................. 202 6.3 Analysestrategie ........................................................................................... 204 6.4 Ergebnisse .................................................................................................... 208 6.5 Diskussion der Bildungsbeteiligungsstudie ................................................. 216 7 Bewertung der empirischen Befunde und Implikationen ............................ 223 7.1 Synthese der Befunde .................................................................................. 223 7.2 Limitationen der empirischen Untersuchungen ........................................... 225 7.3 Wissenschaftlicher Beitrag der Untersuchungen ......................................... 226 7.4 Ausblick und zukünftige Forschungsdesiderate .......................................... 227 8 Abschließende Bemerkungen.......................................................................... 229 Anhang ................................................................................................................. 231 Literaturverzeichnis ........................................................................................... 249

Abkürzungsverzeichnis ADHS AGZ AME GG HBSC IGLU ISCED KHB KiGGS MCS MKVK NEPS NVQ OLS PIRLS PISA POLS SD S. E. SES TIMMS

Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung Allgemeiner Gesundheitszustand Durchschnittliche marginale Effekte (vom engl., Average Marginal Effects) Geburtsgewicht Health Behaviour in School aged Children Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung International Standard Classification of Education Dekompositionsmethode nach Kohler, Holms und Breen Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland Millennium Cohort Study Marburger Konzentrations-Untersuchungs-Verfahrens Nationales Bildungspanel (vom engl., National Educational Panel Study) National Vocational Qualification Ordinary Least Squares Progress in International Reading Literacy Study Programme for International Student Assessment Pooled Ordinary Least Square Standardabweichung (vom engl., Standard Deviation) Standardfehler (vom engl., Standard Error) Sozioökonomischer Status (vom engl., socioeconomic status) Trends in International Mathematics and Science Study

Tabellenverzeichnis Tabelle 1 Übersicht über Stärke der Wirkmechanismen für verschiedene gesundheitliche Beeinträchtigungen ......................................................... 98 Tabelle 2 Übersicht der Variablen der Bildungserfolgsstudie (Teilstudie I) .......... 131 Tabelle 3 Ergebnisse der T-Tests auf Mittelwertgleichheit in den Schulnoten in Deutsch und Mathematik (z-transformiert) zwischen gesunden Kindern und Kindern mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen ......................... 135 Tabelle 4 Lineare Regressionen zum Einfluss gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf Noten im Fach Deutsch .................................................................... 139 Tabelle 5 Lineare Regressionen zum Einfluss gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf Noten im Fach Mathematik .............................................................. 141 Tabelle 6 Ergebnisse der Mediationsanalysen (Sobeltests) für die Mediation verschiedener gesundheitlicher Beeinträchtigungen durch Konzentrationsschwierigkeiten, Fehlzeiten und Stigma ........................ 142 Tabelle 7 Regressionsmodelle zum Test auf Interaktionseffekte zwischen der sozialen Herkunft und gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf Schulnoten in Deutsch und Mathematik................................................. 148 Tabelle 8 Regressionsmodelle zur Überprüfung einer Mediation des sozialen Herkunftseffekts auf die Schulnoten durch physische und mentale gesundheitliche Beeinträchtigungen ....................................................... 154 Tabelle 9 Entwicklungsstand der Schulfähigkeit anhand des altersadjustierten Gesamtscores des Bracken School Readiness Composite ..................... 165 Tabelle 10 Übersicht der Variablen der Bildungserfolgsstudie (Teilstudie II) ........ 174 Tabelle 11 Ergebnisse der T-Tests auf Mittelwertdifferenzen in den Schulnoten in Deutsch und Mathematik zwischen gesunden Kindern und Kindern mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen ..................................................... 177 Tabelle 12 Ergebnisse gepoolter OLS-Regressionsmodelle zum Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen in Englisch und Mathematik ....................................................................... 179 Tabelle 13 Ergebnisse der Hybrid-Modelle zu inter- und intraindividuellen Effekten gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen in Englisch und Mathematik ....................................................................... 180 Tabelle 14 Between- und Within-Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen und ihre Wirkmechanismen im Fach Englisch; lineare Hybrid-Modelle...... 183 Tabelle 15 Between- und Within-Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen und ihre Wirkmechanismen im Fach Mathematik; lineare Hybrid-Modelle 185 Tabelle 16 Test der Kompensationshypothese durch die Integration von Interaktionseffekten in die Hybrid-Modelle .............................................................. 187

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Tabellenverzeichnis

Tabelle 17 Überprüfung einer Mediation des sozialen Herkunftseffekts auf die schulischen Leistungsbewertungen durch physische und mentale gesundheitliche Beeinträchtigungen, gepoolte OLS-Regressionen ....... 189 Tabelle 18 Übersicht der Modellvariablen der Bildungsbeteiligungsstudie ............ 209 Tabelle 19 Ergebnisse der T-Tests auf Mittelwertdifferenzen im Gymnasialbesuch und den realistischen Bildungsaspirationen zwischen Kindern mit und ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen .............................................. 210 Tabelle 20 Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf den Gymnasialübergang, logistische Regressionen ........................................................................ 211

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Der Bildungstrichter: Soziale Selektion im Bildungsverlauf .............. 14 Abbildung 2 Anteile der Schüler/innen in den Schulformen der Sekundarstufe I nach dem Bildungsabschluss der Eltern in Prozent ............................ 16 Abbildung 3 Vereinfachte Darstellung des Modells zur Genese ungleicher Bildungschancen nach Boudon (1974) ............................................... 18 Abbildung 4 Modell gesundheitlicher Ungleichheit nach Elkeles & Mielck (1997) 35 Abbildung 5 Generationale Strukturebenen sozialer Verursachung und gesundheitlicher Selektion .................................................................................... 46 Abbildung 6 Gesamtdarstellung des theoretischen Modells .................................. 110 Abbildung 7 Schematische Darstellung partieller und totaler Mediatoreffekte ..... 126 Abbildung 8 Schematische Darstellung eines Moderatoreffekts............................ 128 Abbildung 9 Prävalenz von gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei Grundschulkindern nach sozialer Herkunft, in Prozent (KiGGS-Studie) ........... 133 Abbildung 10 Durchschnittliche Notenwerte in den Fächern Deutsch und Mathematik (gespiegelt) nach sozialer Herkunft .............................. 134 Abbildung 11 Anteile der Mediatoren am totalen Effekt verschiedener gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die Deutschnote ............... 143 Abbildung 12 Anteile der Mediatoren am totalen Effekt verschiedener gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die Mathematiknote .................... 145 Abbildung 13 Vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten für einen Notendurchschnitt von besser als 2,5 in Deutsch und Mathematik von Kindern mit und ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen, nach sozialer Herkunft ........... 150 Abbildung 14 Prävalenz von gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei Grundschulkindern nach sozialer Herkunft, in Prozent, gepoolte Daten (Millennium Cohort Study) ............................................................... 176 Abbildung 15 Ergebnisse der Dekomposition des totalen Effekts der sozialen Herkunft auf schulische Leistungsbewertungen ............................... 190 Abbildung 16 Ergebnisse der Dekomposition des totalen Effekts von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs (Prozentwerte) .................................................... 213 Abbildung 17 Interaktionseffekt zwischen gesundheitlicher Beeinträchtigung und Akademikerfamilie ............................................................................ 215 Abbildung 18 Interaktionseffekt zwischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und dem Notendurchschnitt (gespiegelt).................................................. 222

1 Hintergrund und Zielsetzung Die soziale Herkunft von Kindern ist eng mit ihren Lebenschancen in verschiedenen Bereichen verbunden. Je höher der sozioökonomische Status der Eltern, desto besser stehen die Chancen auf eine erfolgreiche Bildungskarriere, einen guten Beruf, ein hohes Einkommen, gesellschaftliche Teilhabe, und gute Gesundheit. Ein intensiv erforschter Befund unter dem Schlagwort „Bildungsungleichheit“ ist die ungleiche Verteilung der Ressource Bildung und ihre intergenerationale Reproduktion. Für alle westlichen Gesellschaften lässt sich zeigen, dass die Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern eng an den sozioökonomischen Status ihrer Eltern gekoppelt sind: Kinder aus sozial besser gestellten Familien haben eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, gute schulische Leistungen zu erzielen und ihre Schullaufbahn mit einem hochqualifizierten Schulabschluss zu beenden als Kinder aus sozial schlechter gestellten Familien. Die theoretische Erklärung der engen Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungschancen sowie ihre empirische Überprüfung ist seit Jahrzehnten ein Kerngebiet der verschiedenen Disziplinen der ungleichheitsbezogenen Bildungsforschung, so auch der Bildungssoziologie. Zur Erklärung von Bildungsungleichheit wurden in den vergangenen Jahrzehnten verschiedene theoretische Ansätze entwickelt. Mittlerweile liegt eine Vielzahl an möglichen Erklärungsmechanismen für das Phänomen vor: Je höher die soziale Schicht, desto besser ist beispielsweise die Ausstattung der Eltern mit materiellen, kognitiven und kulturellen Ressourcen, desto höher ist der damit verbundene familiäre Anregungsgehalt, und desto stärker ist das Bildungsstreben der Eltern bezüglich der Bildungsverläufe ihrer Kinder ausgeprägt. Dennoch ist nach wie vor keines der theoretischen Modelle in der Lage, Bildungsungleichheit vollständig zu erklären. Die Frage nach den Mechanismen, die der intergenerationalen Transmission von Bildungschancen zugrunde liegen, ist noch nicht vollständig beantwortet. Die vorliegende Arbeit stellt die Annahme auf, dass ein Faktor hierbei von der ungleichheitsbezogenen Bildungsforschung bislang weitegehend vernachlässigt wurde: Die Gesundheit von Schülerinnen und Schülern. Ähnlich wie Bildungschancen sind auch die Chancen für ein gesundes Aufwachsen sozial ungleich verteilt. Für den Großteil aller bislang untersuchten Krankheiten im Kindes- und Jugendalter lässt sich ein Zusammenhang mit der sozialen Position der Eltern in Form eines sozialen Gradienten nachweisen: Mit steigendem sozialen Status von Eltern sinkt das Risiko für gesundheitliche Beeinträchtigungen und gesundheitsriskantes Verhalten ihrer Kinder.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 J. Tuppat, Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Bildungserfolg, Gesundheit und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31425-5_1

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1 Hintergrund und Zielsetzung

Davon ausgehend, dass Gesundheit eine zentrale Voraussetzung für erfolgreiches Lernen ist, wird in der vorliegenden Arbeit untersucht, ob gesundheitliche Ungleichheit bei Schülerinnen und Schülern einen Beitrag zur Erklärung der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen leisten kann. Charles E. Basch (2011) prägte die Aussage „Healthier students are better learners“ – Gesündere Schüler lernen besser. Nicht ohne Grund gilt ein Mindestmaß an körperlicher und mentaler Gesundheit als wichtige Voraussetzung für erfolgreiche schulische Teilhabe. In fast allen Bundesländern wird obligatorisch vor dem Schuleintritt eine schulärztliche Schuleingangsuntersuchung durchgeführt, in der neben der Feststellung der kognitiven, sozioemotionalen und sprachlichen Entwicklung auch eine umfassende körperliche Untersuchung wichtiger Organsysteme, des Haltungs- und Bewegungsapparats, der Haut, des Mund-Hals-Nase-Ohren-Bereichs, der inneren Organe und des Nervensystems erfolgt (z. B. LGL Bayern 2017). Der Fokus liegt auf jenen Bereichen, die für die Teilnahme am Unterricht und für den Schulerfolg als bedeutend erachtet werden: Sehen, Hören, mentale Gesundheit und Koordination (BZgA 2017). Die Annahme, dass Gesundheit eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen ist, spiegelt sich also auch in der bildungspolitischen Gesetzeslage wider. Umso erstaunlicher ist, dass die Bildungssoziologie den Faktor Gesundheit, insbesondere im Hinblick auf sein Potenzial, Ungleichheiten zu reproduzieren und zu vergrößern, bislang kaum bei der Analyse der Genese von Bildungsungleichheit berücksichtigt hat. Entsprechend begrenzt ist der Forschungsstand zum Zusammenhang von sozialer Herkunft, Gesundheit und Bildungserfolg, insbesondere im deutschsprachigen Raum (vgl. Dadaczynski 2012). In der vorliegenden Arbeit wird eine theoretische Einbettung des Faktors Gesundheit in eines der prominentesten theoretischen Erklärungsmodelle für Bildungsungleichheit vorgenommen: Das an die Humankapitaltheorie angelehnte Modell der Genese ungleicher Bildungschancen des französischen Soziologen Raymond Boudon (1974). Boudon führt die zentrale Unterscheidung zwischen primären und sekundären Effekten der sozialen Herkunft auf Bildungsbeteiligung ein. Mit primären Herkunftseffekten sind schichtspezifische Unterschiede in den schulischen Leistungen von Kindern angesprochen. Sekundäre Herkunftseffekte bezeichnen über die schulischen Leistungen hinausgehende Unterschiede in den Bildungsentscheidungen, die auf schichtspezifisch unterschiedlichen Bewertungen der Kosten, Nutzen und der wahrgenommenen Erfolgswahrscheinlichkeit beruhen, einen bestimmten Bildungsweg erfolgreich zu durchlaufen. Eine zentrale Aufgabe dieser Untersuchung ist die Verortung des Faktors Gesundheit in diesem Modell, wobei den Wechselwirkungen mit der sozialen Herkunft der Kinder

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explizit Rechnung getragen wird. In Anlehnung an Boudon wird einerseits ein primärer Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen und andererseits ein sekundärer Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf Bildungsentscheidungen postuliert, der auch unabhängig von, beziehungsweise zusätzlich zu Disparitäten in den schulischen Leistungen wirkt. Im zweiten Teil dieser Arbeit sollen die auf Grundlage der theoretischen Vorüberlegungen abgeleiteten Forschungsfragen empirisch überprüft werden. Die Arbeit verfolgt dabei einen quantitativ-empirischen Ansatz. Anhand quantitativer Sekundärdatenanalysen werden die folgenden Forschungsfragen untersucht: (1) Verringern gesundheitliche Beeinträchtigungen auch unter Kontrolle relevanter Drittvariablen wie der sozialen Herkunft die schulischen Leistungen von Schülerinnen und Schülern? (2) Verringern gesundheitliche Beeinträchtigungen unter Kontrolle relevanter Drittvariablen wie der sozialen Herkunft und der schulischen Leistungen die Wahrscheinlichkeit für Schülerinnen und Schüler, ein Gymnasium zu besuchen? Sowohl für den primären Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen als auch für den sekundären Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die Bildungsbeteiligung werden konkrete Wirkmechanismen gesundheitlicher Beeinträchtigungen untersucht. Hinsichtlich des primären Effekts werden drei Mechanismen, durch die gesundheitliche Beeinträchtigungen die schulische Leistungsfähigkeit vermindern könnten, theoretisch abgeleitet und empirisch überprüft: (i) Verringerte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit infolge gesundheitlicher Beschwerden (ii) schulische Abwesenheit und Versäumnis von Unterrichtsinhalten durch krankheitsbedingte Fehlzeiten und (iii) die Internalisierung von negativen leistungsrelevanten Zuschreibungen (Stigma) bei bestimmten gesundheitlichen Beeinträchtigungen, wie beispielsweise Übergewicht. (3) Werden die primären Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen partiell durch verminderte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, krankheitsbedingte Abwesenheit vom Unterricht und die Internalisierung negativer Zuschreibungen mediiert? Hinsichtlich des sekundären Effekts wird eine Verminderung der subjektiv wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit als Wirkmechanismus angenommen, , dass ein bestimmter Bildungsweg erfolgreich durchlaufen werden kann. Wenn Bildungsentscheidungen getroffen werden müssen, geschieht dies in Anlehnung an Boudon (1974) unter Abwägung verschiedener Faktoren: Welchen Nutzen verspricht ein bestimmter Bildungsgang? Welche Anstrengungen und Kosten sind mit einem bestimmten Bil-

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1 Hintergrund und Zielsetzung

dungsgang verbunden? Ist in Anbetracht der aktuellen schulischen Leistungen, der institutionellen Rahmenbedingungen, sowie weiterer prognostischer Parameter zu erwarten, dass ein bestimmter Bildungsgang erfolgreich durchlaufen und mit dem erhofften Schulabschluss beendet werden kann? An letztgenannten prognostischen Parametern setzt die vorliegende Arbeit an. Unter der Annahme, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen die Bewältigung schulischer Anforderungen erschweren, könnten sie die wahrgenommene Wahrscheinlichkeit reduzieren, einen anspruchsvollen Bildungsweg erfolgreich durchlaufen und abzuschließen zu können. In der vorliegenden Arbeit wird der Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe I analysiert. Es wird die Annahme untersucht, dass der sekundäre Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen durch eine verringerte Erfolgserwartung hinsichtlich der Bewältigung der schulischen Anforderungen am Gymnasium erklärt werden kann. (4) Wird der sekundäre Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen partiell durch eine verminderte subjektiv wahrgenommene Erfolgswahrscheinlichkeit hinsichtlich der Bewältigung der hohen schulischen Anforderungen am Gymnasium mediiert? Für den Test einer Mediatorwirkung der skizzierten Wirkmechanismen auf den primären und den sekundären Gesundheitseffekt ist die Berücksichtigung einer möglichen Konfundierung durch die soziale Herkunft zentral. Darüber hinaus wird untersucht, ob der sozialen Herkunft neben dem Status einer zentralen zu kontrollierenden Drittvariable auch eine moderierende Funktion zukommt: Variiert die Stärke der primären und sekundären Effekte der gesundheitlichen Beeinträchtigungen nach der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler? Konkret wird angenommen, dass in Familien mit hohem sozioökonomischem Status mehr Ressourcen zur Bewältigung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung vorliegen. Entsprechend wäre zu erwarten, dass ein hoher sozioökonomischer Status die negativen Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen und die Bildungsbeteiligung teilweise zu kompensieren vermag. (5) Können die negativen Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf Bildungserfolg und Bildungsbeteiligung durch einen hohen sozioökonomischen Status der Eltern zumindest teilweise kompensiert werden? Schließlich wird überprüft, ob schichtspezifische gesundheitliche Unterschiede einen Beitrag zur Erklärung der sozialen Ungleichheit von Bildungserfolg und Bildungsbeteiligung leisten können. Davon ausgehend, dass Kinder aus sozial schwachen Familien erstens überproportional häufig von gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen sind, und dass zweitens die Auswirkungen dieser Beeinträchtigung ebenjene Kinder besonders stark treffen, ist zu vermuten, dass gesundheitliche Ungleichheit im

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Kindesalter einer der vielen Wirkpfade ist, über den die soziale Herkunft die Bildungschancen von Kindern beeinflusst. Entsprechend könnte ein Teil des Effekts der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen durch schichtspezifische gesundheitliche Unterschiede mediiert sein. (6) Lässt sich eine partielle Mediation für den Effekt der sozialen Herkunft auf Bildungserfolg und Bildungsbeteiligung durch gesundheitliche Beeinträchtigungen zeigen? Die empirische Überprüfung der Fragen erfolgt mittels quantitativer Sekundärdatenanalysen. In den Analysen des primären Gesundheitseffekts besteht das Untersuchungssample aus Grundschulkindern. Es werden Effekte von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf schulische Leistungen (Schulnoten und Leistungsbewertungen durch Lehrkräfte) untersucht. Hierfür werden Daten der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) sowie der Millennium Cohort Study (MCS) aus Großbritannien ausgewertet. Letztere ermöglicht eine Überprüfung der Forschungshypothesen mit Längsschnittdaten. Die Analysen zum sekundären Effekt der Gesundheit auf die Bildungsbeteiligung erfolgen ebenfalls im Längsschnitt: Es wird der Übergang von der Grund- in die Sekundarstufe I untersucht. Hierfür werden Daten des Beziehungs- und Familienpanels (pairfam) aus Deutschland ausgewertet. Aufbau der Arbeit Zunächst werden in Kapitel 2 und 3 wichtige Grundlagen für die Arbeit gelegt. Kapitel 2 ist der Einführung zentraler Begriffe und Konzepte gewidmet, die der Arbeit zugrunde liegen: Zunächst wird das Konzept der sozialen Herkunft eingeführt, das untrennbar mit dem Begriff der sozialen Ungleichheit verbunden ist (Kapitel 2.1). Danach werden zwei Dimensionen von sozialer Ungleichheit bei Kindern beleuchtet: Bildungsungleichheit (Kapitel 2.2) und gesundheitliche Ungleichheit (Kapitel 2.3). Für beide Phänomene werden die zentralen theoretischen und empirischen Konzepte dargestellt, sowie aktuelle empirische Befunde umrissen. Es erfolgt jeweils auch eine kurze Einführung in theoretische Ansätze ihrer Erklärung. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf jenen Erklärungsansätzen, die der vorliegenden Arbeit als konzeptioneller Rahmen dienen. Kapitel 2.4 bringt die eingeführten Konzepte in einer Synthese zusammen und entwickelt die Fragestellung der vorliegenden Arbeit: Wie hängen soziale Herkunft, Gesundheit und Bildungserfolg miteinander zusammen? Wie lässt sich die Annahme eines Einflusses von Gesundheit auf die Bildungschancen von Kindern vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit ableiten?

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1 Hintergrund und Zielsetzung

In Kapitel 3 wird der Forschungsstand zum Einfluss von Gesundheit auf Bildungserfolg bei Kindern und Jugendlichen dargestellt. Hieraus werden die unterschiedlichen Forschungsdesiderate abgeleitet, die mit der vorliegenden Untersuchung bearbeitet werden sollen. Der zweite Teil der Arbeit ist der theoretischen Rahmung gewidmet. In Kapitel 4 erfolgt die Einbettung des Faktors Gesundheit in ein etabliertes bildungssoziologisches Erklärungsmodell von Bildungsungleichheit: Dem Modell der Genese schichtspezifischer Bildungschancen nach Raymond Boudon (1974). Es erfolgt eine theoretische Herleitung der Wirkmechanismen des primären und des sekundären Gesundheitseffekts, wiederum unter Bezugnahme auf empirische Befunde der einzelnen vermuteten Wirkpfade. Hieraus ergibt sich die Ableitung der Arbeitshypothesen (Kapitel 4.3). Der dritte Teil der Arbeit umfasst die empirische Prüfung der Hypothesen. In Kapitel 5 werden die Annahmen zum primären Herkunftseffekt untersucht. Die Teilstudie I analysiert mit Daten der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS-Studie) den Effekt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf Schulnoten im Querschnitt (Kapitel 5.1.). Die Teilstudie II fordert diese Befunde mithilfe einer Auswertung der Längsschnittdaten der Millennium Cohort Study aus Großbritannien heraus und erweitert sie um zentrale erklärende Variablen (Kapitel 5.2.). Hierbei werden Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf schulische Leistungsbewertungen von Lehrkräften untersucht. Kapitel 6 beschäftigt sich mit dem sekundären Gesundheitseffekt und untersucht den Einfluss gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf den Übergang nach der Grundschule. Kapitel 7 ist der Synthese der Ergebnisse der empirischen Untersuchung der drei Studien gewidmet. In Kapitel 8 wird ein Fazit mit einem Ausblick für weitere Forschungsdesiderate gezogen.

2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten Zwischen kindlichen Lebenswelten bestehen gravierende Unterschiede hinsichtlich der sozioökonomischen Verhältnisse ihrer Herkunftsfamilien. Dies gilt nicht nur im besonders evidenten globalen Vergleich, sondern auch innerhalb von Gesellschaften. Auch in der Bundesrepublik Deutschland sind tiefgreifende und persistente Unterschiede in Mustern von Kindheit entlang von Merkmalen der Stellung der Herkunftsfamilie im sozialen Gefüge auszumachen. Lebenschancen sind von Beginn an sozial ungleich verteilt: In Abhängigkeit davon, in welche soziale Lage ein Kind hineingeboren wird, genießt es mit hoher Wahrscheinlichkeit von Geburt an bestimmte Privilegien oder ist es systematischen Nachteilen ausgesetzt. Wie können Unterschiede in Lebenslagen von Kindern konzeptionell erfasst und empirisch untersucht werden? Hinsichtlich welcher Dimensionen bestehen soziale Ungleichheiten in dieser frühen Lebensphase? Wie lassen sich diese Ungleichheiten erklären? 2.1 Soziale Herkunft „Die ökonomische und soziale Welt – Positionen, die man einnehmen, Bildungswege, die man einschlagen, Güter, die man konsumieren, Besitztümer, die man kaufen, und Frauen, die man heiraten kann usw. – nimmt niemals […] die Gestalt eines Universums an Möglichkeiten an, die jedem beliebigen Subjekt gleichermaßen offenstehen.“ (Pierre Bourdieu 1981: 180) Der Begriff soziale Herkunft ist eng mit dem Konzept der sozialen Ungleichheit verbunden. Soziale Ungleichheit liegt nach Stefan Hradil (2001: 30) dann vor, wenn „Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den wertvollen und begehrten Gütern einer Gesellschaft (…) regelmäßig mehr als andere erhalten“. Mit bestimmten sozialen Positionen sind Vor- oder Nachteile in Bezug auf die Verfügbarkeit von Ressourcen verbunden, welche zur Erreichung bestimmter Lebensziele eingesetzt werden können. Es sind mit dem Begriff Ungleichheit demnach nicht bloße Unterschiede zwischen Menschen angesprochen, sondern systematische und dauerhafte Besser- beziehungsweise Schlechterstellungen. Sozial sind Ungleichheiten dann, wenn sie aus der gesellschaftlichen Struktur heraus entstehen und überindividuell sind, das heißt nicht nur einzelne Individuen, sondern systematisch ganze Gruppen von Menschen betreffen. Wie aber kann die Position einer Person in der sozialen Hierarchie ermittelt werden? Eine solche Bestimmung erfolgt stets vor dem Hintergrund einer bestimmten Vorstellung über die Art und Weise, wie eine Gesellschaft gegliedert ist. Seit den 1930er Jahren sind in der deutschsprachigen soziologischen Forschung Schichtungstheorien pro© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 J. Tuppat, Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Bildungserfolg, Gesundheit und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31425-5_2

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

minent. Diese lösten die in den vorigen Klassentheorien nach Marx (1818–1883) und Weber (1864–1920) etablierte Vorstellung einer dichotomen Gesellschaftsstruktur durch das Bild einer hierarchischen, in vertikal verlaufenden Schichten angeordneten Gesellschaft ab (Ditton & Maaz 2015: 229). Sinnbildlich wird bei sozialen Positionen von einem „höher“ und „tiefer“ ausgegangen, was hinsichtlich der Lebens- und Verwirklichungschancen mit einem „besser“ und „schlechter“ einhergeht. Den unterschiedlichen Schichtungstheorien ist gemeinsam, dass sie von vergleichbaren Lebensbedingungen und –erfahrungen der Mitglieder einer Schicht ausgehen. Daraus folgt, dass Modelle sozialer Schichtung, auch: sozialer Stratifikation, immer auch explizit schichtspezifisch unterschiedliche Lebenschancen und Verhaltensweisen miteinschließen (Ditton und Maaz 2015: 230). In einem Großteil der zeitgenössischen ungleichheitsbezogenen soziologischen Arbeiten wird soziale Schichtung entlang der drei Dimensionen (i) Bildung, (ii) berufliche Stellung und Erwerbstätigkeit sowie (iii) Einkommen und Vermögen konzipiert (Hradil 2013: 145). Von diesen drei Dimensionen wird gemeinhin angenommen, dass sich durch sie die Vielfalt sozialer Ungleichheit empirisch angemessen bündeln lasse: „Das Oben und Unten der beruflichen Stellung, der hierfür notwendigen Qualifikation und des hieraus resultierenden Einkommens gelten in modernen Gesellschaften als Kernstruktur des Gefüges sozialer Ungleichheit“ (Hradil 2013: 154 f.). Wird nicht nur eine einzelne dieser drei Dimensionen, sondern eine Bündelung dieser Merkmale betrachtet, ist die Bezeichnung sozioökonomischer Status (im Folgenden auch SES vom engl. socioeconomic status) geläufig (Ditton und Maaz 2015: 229). Dieser wird in der vorliegenden Arbeit synonym mit sozialer Position verwendet. Da Kinder noch keinen eigenen sozioökonomischen Status haben, wird ihre soziale Stellung in der Regel durch den sozioökonomischen Status ihrer Eltern1 operationalisiert. Hieraus leitet sich auch der Begriff soziale Herkunft ab. Unterschiede in den relativen Positionen von Familien im Gefüge der sozialen Ordnung gehen mit ungleichen Lebens- und Verwirklichungschancen der Kinder einher, die in sie hineingeboren werden und in ihnen aufwachsen. So berichten Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen beispielsweise im Rahmen der deutschen World Vision Kinderstudie aus dem Jahr 2010 ein geringeres Maß an elterlicher Zuwendung, geringere gesellschaftliche Teilhabe an Gruppenaktivitäten oder in Vereinen, und geringere Bildungsaspirationen als Kinder aus privilegierten sozialen Verhältnissen (Hurrelmann und Andresen 2010). Obwohl an dieser Stelle erwähnt werde sollte, dass 1

Mit Eltern sind im Folgenden biologische Eltern, Stiefeltern, Adoptiveltern und Pflegeeltern gemeint, bei denen ein Kind aufwächst.

2.2 Bildungsungleichheit

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die Kinder aller sozialer Schichten in dieser Studie insgesamt hohe Werte im subjektiven Wohlbefinden erzielen und sich selbst als glücklich bezeichnen (siehe auch Betz 2009: 466), so sind doch die Chancen auf das Erreichen als gesellschaftlich wertvoll geltender Güter in hohem Maße abhängig von der sozialen Herkunft. Um zwei zentrale sozial ungleich verteilte und zweifelsfrei als wertvoll geltende Güter soll es in der vorliegenden Arbeit gehen: Bildung und Gesundheit. In den folgenden Kapiteln werden die Konzepte Bildungsungleichheit und gesundheitliche Ungleichheit vorgestellt und zentrale Befunde aus der empirischen Forschung zusammengefasst. Am Ende der beiden Kapitel werden jeweils soziologische Erklärungsansätze für die Phänomene dargestellt. Weder die Darstellung der zentralen empirischen Befunde, noch der prominenten Erklärungsansätze kann den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ein Fokus liegt auf jenen Aspekten, auf die im Verlauf der weiteren Arbeit rekurriert wird. Auch der geographische Bezugsrahmen wird eingeengt: Die folgenden Darstellungen beziehen sich im Wesentlichen auf die westlichen Industrienationen mit einem Fokus auf Befunden aus der Bundesrepublik Deutschland. 2.2 Bildungsungleichheit Im Kontext der Bildungsforschung sind sozial ungleich verteilte wertvolle Güter beispielsweise erworbene Kompetenzen oder Bildungszertifikate (Gniewosz & Gräsel 2015: 198). Bildung gilt als „zentrale, individuelle und gesellschaftliche Ressource des 21. Jahrhunderts“ (Quenzel & Hurrelmann 2010: 11), sind mit ihr doch nicht nur beruflicher Erfolg, sondern auch soziale, kulturelle und politische Teilhabe, die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, kurz: individuelle Lebenschancen verbunden (Solga & Dombrowski 2009: 7). Der Begriff Bildungsungleichheit beschreibt den für alle Industrienationen gut belegten Befund, dass die Bildungschancen von Kindern an ihre soziale Herkunft gekoppelt sind. Die oft zitierte Definition von Müller und Haun (1994: 3) bezeichnet diese als „Unterschiede im Bildungsverhalten und in den erzielten Bildungsabschlüssen (beziehungsweise Bildungsgängen) von Kindern, die in unterschiedlichen sozialen Bedingungen und familiären Kontexten aufwachsen.“ Je höher der sozioökonomische Status der Eltern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder schulisch erfolgreich sind und ihrerseits einen hoch qualifizierenden Bildungsabschluss erzielen. Der so genannte „PISA-Schock“ im Jahr 2001 legte neben der Erkenntnis eines unterdurchschnittlichen Abschneidens der deutschen Schülerinnen und Schüler auch offen, dass Bildungschancen in Deutschland stärker als in vielen anderen Ländern an die soziale Herkunft gekoppelt sind (Baumert et al 2002; Hillmert 2016; Solga und Dombrowski 2009). Offensichtlich hatte die ab den 1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland einsetzende Bildungsexpansion zwar zu einer Höherqualifizierung

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

breiter Bevölkerungskreise geführt, die gravierenden sozialen Ungleichheiten in den Bildungschancen jedoch nicht beseitigt (Hadjar und Becker 2009). In der bildungssoziologischen Literatur hat sich eine analytische Trennung zwischen Ungleichheiten im Kompetenzerwerb auf der einen und Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung auf der anderen Seite durchgesetzt, wenngleich beide Dimensionen von Bildungsungleichheit in der Realität eng miteinander verbunden sind (Maaz et al. 2006). 2.2.1 Kompetenzerwerb und Bildungsbeteiligung Empirische Analysen von Ungleichheiten beim Kompetenzerwerb beziehen sich darauf, welche Kompetenzen erworben und welche schulischen Leistungen erzielt werden. Nicht immer erfolgt in der empirischen Praxis ein direkter Vergleich von schulischen Leistungsmessungen, sondern insbesondere in internationalen Vergleichsstudien finden auch außerschulische, standardisierte Leistungsmessungen Anwendung (siehe auch Kapitel 2.2.2). Die Erforschung von Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung zielt hingegen auf die Frage ab, welcher Bildungsweg bestritten wird. Die Bildungssoziologie brachte seit den 1960er Jahren vermehrt Analysen von Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung hervor, welche als Folge von schichtspezifischen Unterschieden im Entscheidungsverhalten an Bildungsübergängen interpretiert werden können. Die Studien hatten zunächst eine vornehmlich deskriptive Ausrichtung, da sie lediglich das Ergebnis der Übergangsentscheidungen, nämlich die ungleichen Beteiligungsquoten in den verschiedenen Bildungsgängen, in den Blick nahmen. Nachdem Raymond Boudon (1974) seinen mikrosoziologischen Ansatz zur Erklärung sozialer Bildungsungleichheit vorgestellt hatte, der insbesondere schichtspezifisches Wahlverhalten von Bildungswegen ins Zentrum des Interesses rückte, wurde die Bildungsentscheidung selbst zum vielfach untersuchten Forschungsgegenstand (vgl. Maaz et al 2006: 301). Entsprechend setzte die Forschung nun einen Fokus auf schulische Übergänge als zentrale Gelenkstellen im Bildungssystem. 2.2.2 Empirische Messung von Bildungsergebnissen Wie können Kompetenzunterschiede zwischen den Schüler/innen verschiedener Herkunftsgruppen miteinander verglichen werden? In der empirischen Praxis häufig verwendete Indikatoren für individuelle Kompetenzen von Schüler/innen sind zum einen Schulnoten (Blomeyer et al. 2008; Ditton et al. 2005; Oswald & Krappmann 2004; Röhr-Sendlmeier 2009), zum anderen standardisierte, insbesondere für internationale Vergleiche entwickelte, Kompetenzmessungen (Baumert und Schümer 2001; Baumert et al. 2006a), sowie Ergebnisse diagnostischer Tests, beispielsweise im Rahmen der Schuleingangsdiagnostik (Böhm & Kuhn 2000; Mengering 2005).

2.2 Bildungsungleichheit

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Wenngleich die Schulnote das Instrument ist, welches die erzielten Leistungen am unmittelbarsten auf den schulischen Kontext bezogen erfasst, ist sie gleichzeitig mit dem Problem der Subjektivität des Urteils der Lehrkraft behaftet und daher hinsichtlich ihrer Diagnose- und Aussagekraft über individuelle Kompetenzen durchaus umstritten (siehe auch Ingenkamp 1977; Lintorf 2012). Schulnoten sind dennoch ein wichtiger Analysegegenstand, da sie unumstritten für den weiteren Bildungsverlauf von großer Bedeutung sind: Ein unzureichender Notendurchschnitt kann Klassenwiederholungen nach sich ziehen, den Zugang zu höher qualifizierten Schulformen und zum Studium versperren und schließlich die Platzierungschancen auf dem Arbeitsmarkt entscheidend einschränken. Die prognostische Validität von Schulnoten im Hinblick auf zukünftige Schul- oder Studienerfolge ist daher insgesamt als hoch einzustufen (Lintorf 2012: 50). Insofern hat die Analyse von Schulnoten als gesellschaftlich legitimierte Bewertung der schulischen Leistung durchaus ihre Berechtigung. Objektive und in stärkerem Maße vergleichbare Messungen des Kompetenzerwerbs lassen sich über standardisierte Tests ermitteln. Mittlerweile liegen eine Reihe so genannter Bildungsvergleichsstudien vor, die mittels standardisierter Instrumente den Kompetenzstand von Schüler/innen unterschiedlicher Altersstufen erheben. Prominente Beispiele hierfür sind die groß angelegten internationalen und nationalen Schulleistungsstudien PISA (Programme for International Student Assessment, siehe Baumert et al. 2002; Klieme et al. 2010; Prenzel et al. 2003, 2013), TIMMS (Trends in International Mathematics and Science Study, siehe Bos et al. 2012) PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study, siehe Bos et al. 2007), NEPS (Nationales Bildungspanel, siehe Blossfeld et al. 2011), oder die KMK-Ländervergleiche der IQB.2 Das Konzept der Bildungsbeteiligung hingegen beschreibt beschrittene Bildungswege. Unterschiede in der Bildungsbeteiligung können beispielsweise durch die Beteiligungsquoten verschiedener sozialer Herkunftsgruppen an den unterschiedlichen Schulformen erfasst werden: Wie unterscheidet sich die soziale Komposition der Schüler/innenschaft an Gymnasien im Vergleich zu Haupt- und Realschulen? In Abhängig2

Weitere wichtige Studien seien an dieser Stelle kurz genannt: Der Bildungsmonitor ist eine jährliche Ländervergleichsstudie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln. Der „Chancenspiegel“ der Bertelsmann Stiftung und des IFS Dortmund untersucht bundesländerübergreifend den Zusammenhang von Herkunft und Bildungserfolg. Die bereits abgeschlossene Studie „Deutsch Englisch Schülerleistungen International“ (DESI) erfasste die Kompetenzen von Schüler/innen der 9. Klassen unterschiedlicher Schulformen mit dem Ziel, die schulischen Leistungen durch individuelle, unterrichtliche, schulische und familiäre Faktoren zu erklären. Das Projekt KESS ist eine Längsschnittuntersuchung zu den Lernständen in den Fächern Deutsch, Englisch, Mathematik und den Naturwissenschaften. Im Rahmen der Studie „Bildung auf einen Blick“ (Education at a Glance) stellt die OECD seit 1996 jährlich vergleichende Bildungsindikatoren zusammen. (vgl. Vielfalt Lernen 2011).

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

keit von der sozialen Herkunft sind verschiedene Bildungswege unterschiedlich wahrscheinlich. Da Bildungsbeteiligung immer das Ergebnis von Übergangsentscheidungen an verschiedenen Schnittstellen des Bildungssystems darstellen, sind auch die Übergangsprozesse selbst von großem Interesse. Die verschiedenen Disziplinen der ungleichheitsbezogenen Bildungsforschung beschäftigen sich daher seit den 1960er Jahren verstärkt mit der Frage, welche Entscheidungsparameter an den wichtigen Übergängen im Bildungsverlauf eine Rolle spielen, wobei insbesondere die Genese von familiären Bildungsentscheidungen (siehe Kapitel 2.2.4), aber auch die Formation von Übergangsempfehlungen durch Lehrkräfte Berücksichtigung erfahren. Der bestuntersuchte Übergang ist der Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe I. Diese Transition wird auch in der vorliegenden Arbeit untersucht. 2.2.3 Überblick über aktuelle Befunde zu Bildungsungleichheit Im folgenden Kapitel werden wichtige aktuelle Befunde zu Ungleichheiten beim Kompetenzerwerb und in der Bildungsbeteiligung skizziert. Der Fokus liegt auf Studien ab der Jahrtausendwende. Soziale Unterschiede im Kompetenzerwerb Kompetenzunterschiede nach sozialer Herkunft bestehen bereits früh in der Bildungskarriere. Bereits im Vorschulalter zeigen sich soziale Disparitäten im individuellen Entwicklungsstand zuungunsten der Kinder aus sozial schwachen Familien (Weinert et al. 2010). Beim Eintritt in die Grundschule weisen Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status Nachteile hinsichtlich der kognitiven Fähigkeiten, fächerspezifischer Vorläuferkompetenzen, aber beispielsweise auch hinsichtlich der motorischen Entwicklung auf (Janus & Duku 2007; Kotzerke et al. 2013; Mengering 2005; Magnuson et al. 2004; Schöler et al. 2002). Entsprechend werden diese Kinder in der obligatorischen Schuleingangsuntersuchung häufiger für (noch) nicht schulfähig befunden und im Ergebnis häufiger von der Einschulung zurückgestellt oder in Förderschulen eingeschult und seltener frühzeitig eingeschult3 als Kinder aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status (Baumert & Schümer 2002; Kratzmann & Schneider 2009). Im Laufe der Grundschulzeit scheinen sich anfängliche Leistungsunterschiede zwischen Kindern aus verschiedenen sozialen Schichten zu vergrößern. Wie Baumert et al. (2012) mit Daten aus Grundschulen in Berlin zeigen, weiten sich Unterschiede in der Mathematikleistung in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg leicht aus. Für die Lesekompetenzen zeigt sich diese Tendenz hingegen nicht. Mit Daten aus Sachsen und Bayern zeigen Ditton 3

Die an dieser Stelle genannten Disparitäten beim Übergang in die Primarstufe beschreiben bereits eine Form der ungleichen Bildungsbeteiligung.

2.2 Bildungsungleichheit

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und Krüsken (2009), dass sich die Leistungsschere im Verlauf der Grundschulzeit zwischen den sozialen Schichten vor allem im unteren und im oberen Leistungsbereich öffnet, wohingegen sich die Leistungen der Kinder im mittleren Leistungsbereich aus verschiedenen sozialen Herkunftsgruppen weitestgehend parallel entwickeln. Im Ergebnis lassen sich am Ende der Grundschulzeit deutlich ausgeprägte Ungleichheiten nachweisen. Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU, internationale Bezeichnung PIRLS), die erstmals im Jahr 2001 durchgeführt wurde, zeigt dies beispielsweise für die Lesekompetenzen von Viertklässler/innen: Teilt man die Kinder aufsteigend nach sozialer Herkunft in vier gleich große Gruppen ein (Quartile), weisen die Kinder in dem untersten, sozial schwächsten, Quartil einen Punkterückstand von etwa 60 Punkten in der Lesekompetenz gegenüber den Kindern im obersten Quartil auf (Bos et al. 2007). Diese Differenz entspricht etwa dem Leistungsunterschied von einem ganzen Schuljahr. Andere Schulleistungsstudien im Grundschulalter bestätigen die Befunde sozialer Disparitäten beim Kompetenzerwerb für die Bereiche Lesen, Mathematik, Naturwissenschaft und Orthografie (für die Studie KESS-4 siehe Bos & Pietsch 2004: 20 ff.; für die Studie ELEMENT siehe Lehman & Lenkeit 2008: 39 ff.). Die IGLU-Studie zeigt darüber hinaus, dass die Lesekompetenzen zum Ende der Grundschulzeit in Deutschland im internationalen Vergleich überdurchschnittlich stark mit der sozialen Herkunft zusammenhängen (Bos et al. 2007: 240). An der Stärke dieses Zusammenhangs im Primarbereich hat sich über den zehnjährigen Zeitraum zwischen der ersten Erhebung im Jahr 2001 bis zur letzten IGLU-Studie im Jahr 2011 kaum etwas geändert (Bos et al. 2012: 17). Weitere international vergleichende Schulleistungsstudien wie PISA oder TIMMS setzen an einem späteren Zeitpunkt der Bildungskarriere an. Die PISA-Studie der OECD untersucht seit dem Jahr 2000 im Abstand von drei Jahren schulbezogene, alltags- und berufsrelevante Kompetenzen von Fünfzehnjährigen im internationalen Vergleich. Befunde aus der PISA-Studie 2015 zeigen für den Schwerpunktbereich Naturwissenschaften beispielsweise, dass der durchschnittlich erzielte Punktwert von sozioökonomisch bessergestellte Schüler/innen mehr als 30 Punkte über dem durchschnittlichen Wert von sozioökonomisch benachteiligten Schüler/innen liegt; wie der Punkteunterschied in der IGLU-Studie zwischen der sozial schwächsten und der sozial stärksten Gruppe entspricht auch diese Differenz dem Kompetenzunterschied eines gesamten Schuljahres. Im OECD-Durchschnitt sind insgesamt etwa 13% der Varianz der Leistungen in Naturwissenschaften auf den sozioökonomischen Status zurückzuführen. In Deutschland liegt dieser Wert mit 16% Varianzaufklärung etwas darüber. Das bedeutet, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem Abschneiden im Bereich Naturwissenschaften in der PISA-Studie nach wie vor im internationalen Ver-

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

gleich überdurchschnittlich stark ist, auch wenn dieser Wert im Vergleich zu der Studie im Jahr 2006 leicht zurückgegangen ist (OECD 2016). Soziale Unterschiede in den Beteiligungsquoten an verschiedenen Bildungsgängen Eine der bekanntesten grafischen Darstellungen von ungleicher Bildungsbeteiligung ist der so genannte Bildungstrichter (Abbildung 1), der die soziale Selektion im Verlauf der Bildungslaufbahn durch die zunehmende Verengung eines Trichters versinnbildlicht. Statistisch betrachtet erlangen 81 von 100 Kindern aus Haushalten, in denen der Vater einen Hochschulabschluss erworben hat den Abschluss der Sekundarstufe II, die allgemeine Hochschulreife. Von 100 Kindern von Nichtakademiker/innen erreichen hingegen nur 45 Kinder diesen Abschluss. Diese erste Schwelle des Trichters stellt das Ergebnis sozialer Selektion im schulischen Kontext dar: Während ein Großteil der Kinder von Akademiker/innen die Sekundarstufe II erfolgreich beendet und der Trichter sich nur leicht verengt, läuft er bei Kindern von Nichtakademiker/innen bereits an dieser Schwelle deutlich enger zu. Nach dem schulischen Bildungserwerb nehmen die sozialen Disparitäten weiter zu: Von den 81 Kindern von Akademiker/innen, welche die allgemeine Hochschulreife erlangt haben, nehmen wiederum 88 Prozent ein Studium auf. Diese Quote liegt bei Kindern von Nichtakademiker/innen bei lediglich 53 Prozent. Die soziale Selektion an den verschiedenen Schwellen im Bildungsverlauf führt im Ergebnis dazu, dass 71 von 100 Kindern von Akademiker/innen ein Studium aufnehmen, verglichen mit lediglich 24 Kindern von Nichtakademiker/innen.

Abbildung 1 Der Bildungstrichter: Soziale Selektion im Bildungsverlauf Anmerkung: Ein Akademiker- bzw. Nichtakademikerstatus ergibt sich in dieser Analyse aus dem Bildungsabschluss des Vaters (Hochschulabschluss vs. niedrigerer Abschluss); Quelle: DIW/HIS 2010; eigene Darstellung in Anlehnung Hans-Böckler-Stiftung 2010

Die ungleiche Beteiligung an hoher Bildung erklärt sich zum einen aus den weiter oben dargestellten Ungleichheiten beim Kompetenzerwerb und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Grenzen des Eintritts in hochqualifizierte Bildungsgänge.

2.2 Bildungsungleichheit

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Soziale Disparitäten in den schulischen Leistungen sind aber nicht der einzige Mechanismus, der zu ungleicher Bildungsbeteiligung führt. Am Beispiel des Übergangs von der Grundschule in die Sekundarstufe I lässt sich dies verdeutlichen. Diese Transition ist die meistuntersuchte Schnittstelle im Bildungsverlauf, da sie die relevanteste Barriere im deutschen Bildungssystem darstellt: Ob ein Kind nach der vierten Klasse eine Hauptschule, Realschule oder ein Gymnasium besucht, ist für die weitere Bildungsbiografie von großer Bedeutung. Es zeigt sich an dieser entscheidenden Schnittstelle eine ausgeprägte Ungleichheit, die nicht ausschließlich auf Kompetenzunterschiede zurückzuführen ist: Die Wahrscheinlichkeit, dass Schüler/innen aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status nach der Grundschule ein Gymnasium besuchen, ist deutlich geringer als für Schüler/innen aus Familien mit einem hohen sozioökonomischen Status, selbst bei gleichen schulischen Leistungen. So zeigen beispielsweise Arnold et al. (2007) mit Daten der IGLU-Studie aus dem Jahr 2006, dass die relativen Chancen auf eine Gymnasialempfehlung durch die Grundschullehrkraft für Kinder aus der unteren Sozialschicht auch bei gleichen kognitiven Ausgangsfähigkeiten und Leseleistungen rund drei Mal höher sind als für Kinder aus der unteren Sozialschicht (Arnold et al. 2007: 287). Die sozialen Unterschiede in den elterlichen Präferenzen sind noch deutlicher ist ausgeprägt als die Unterschiede in der Empfehlung der Lehrkräfte: Unter Kontrolle der Lesekompetenzen und der kognitiven Grundfähigkeiten wünschen sich Eltern aus der höheren Dienstklasse für ihr Kind knapp viermal so häufig den Besuch eines Gymnasiums im Vergleich zu Facharbeiter/innen und knapp sechsmal so häufig im Vergleich zu un- und angelernten Arbeiter/innen (Arnold et al. 2007: 287). Kinder aus den unteren Sozialschichten weisen demnach nicht nur Nachteile beim Kompetenzerwerb auf, sondern können ihre Leistungen über die verschiedenen Transitionen im Bildungsverlauf hinweg auch weniger gut in äquivalente Bildungswege und Zertifikate umsetzen als Kinder aus den höheren Sozialschichten (Solga & Dombrowski 2009: 14). Im Ergebnis variiert die soziale Zusammensetzung der Schüler/innenschaft zwischen den verschiedenen Schulformen beträchtlich. Die grafische Darstellung der Befunde aus dem Bildungsbericht 2012 in Abbildung 2 verdeutlicht zusammenfassend die „soziale Vererbung“4 von Bildungschancen am Beispiel der Bildungsbeteiligung in der Sekundarstufe I. An den Hauptschulen kommt der größte Teil der Schüler/innen, näm4

Der Begriff der „sozialen Vererbung“ umfasst das gesamte Spektrum an Mechanismen, die zu sozialer Selektion führen: Hierbei spielen sowohl natürliche Unterschiede (in der Extremform also beispielsweise genetisch bedingte Unterschiede in der intelligenzbedingten schulischen Leistungsfähigkeit) eine Rolle, als auch durch die Sozialstruktur erzeugte Unterschiede (in der Extremform also beispielsweise Diskriminierung nach sozialer Schichtzugehörigkeit des Kindes bei der Übergangsempfehlung seitens der Lehrkraft).

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lich knapp über die Hälfte, aus Elternhäusern, in denen der höchste Bildungsabschluss ein Hauptschulabschluss ist. Gleichzeitig hat ein geringerer Teil der Schüler/innen Eltern mit mittlerer Reife (31%) und nur ein sehr kleiner Anteil der Schüler/innen an den Hauptschulen stammt aus Familien, in denen ein Elternteil (Fach-)Abitur gemacht hat (13%). Die letztgenannten beiden Gruppen, deren Eltern einen höheren Bildungsabschluss erlangt haben als die Kinder selbst (voraussichtlich) erlangen werden, sind von so genannter sozialer Abwärtsmobilität betroffen. An Realschulen kommen die meisten Schüler/innen aus Familien, in denen der höchste vorhandene Bildungsabschluss der Eltern die mittlere Reife ist (47%). Zugleich wird deutlich, dass die Zusammensetzung an den Realschulen heterogener ist als an der Hauptschule, da jeweils rund ein Viertel der Schüler/innen Eltern mit Hauptschulabschluss (Gruppe der aufwärts mobilen) und (Fach-)Abitur (Gruppe der abwärts mobilen) hat. An Gymnasien hat wiederum der bei Weitem größte Anteil der Schüler/innen Eltern, die selbst das Abitur erworben haben (61%). Nicht einmal ein Zehntel der Gymnasiast/innen kommt aus einem so genannten „bildungsfernen“ Elternhaus, in dem der höchste Abschluss maximal ein Hauptschulabschluss ist und nur ein knappes Drittel hat Eltern mit mittlerer Reife. Diese Kinder erfahren soziale Aufwärtsmobilität.

Hauptschule

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Realschule

Gymnasium

27

9

31

47

30

13

26

61

Höchster Bildungsabschluss der Eltern: Hauptschulabschluss Mittlere Reife (Fach-)Abitur Abbildung 2 Anteile der Schüler/innen in den Schulformen der Sekundarstufe I nach dem Bildungsabschluss der Eltern in Prozent Quelle: Bildungsbericht 2012: Tab. B4-9web, eigene Darstellung

Zusammenfassend zeigt sich aber, dass der jeweils größte Teil der Schüler/innenschaft an den verschiedenen Schulformen nicht sozial mobil ist, sondern dass in den meisten Fällen eine intergenerationale Reproduktion der Bildungsbeteiligung stattfindet, das heißt, dass sich die erworbenen Bildungsabschlüsse der Eltern in der nächsten Generation reproduzieren. Zwar gibt es Hinweise auf eine Abnahme schichtspezifischer Unterschiede in den Bildungschancen. So haben die Erhebungen der PISA-Studie im Jahr

2.2 Bildungsungleichheit

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2012 und 2015 eine Verringerung der Bildungsungleichheit in Deutschland im Verlauf der letzten Jahre angedeutet. Dennoch ist nach wie vor ein substanzieller Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen gegeben, der sich im internationalen Vergleich mittlerweile auf durchschnittlichem Niveau eingependelt hat (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 214 ff; Müller und Ehmke 2013). Eine weitere Verringerung der herkunftsbedingten Disparitäten bleibt eines der wichtigsten Ziele der deutschen Bildungspolitik (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 1 f.), da Bildungsungleichheit gemeinhin als unvereinbar mit dem meritokratischen Prinzip erachtet wird. Zwar steht dieses Prinzip einer Ungleichverteilung von Gütern grundsätzlich nicht entgegen; diese soll jedoch allein auf den Leistungen der Einzelnen beruhen und nicht an die soziale Herkunft gekoppelt sein: „Der Zugang zu den Belohnungen wird durch die eigene Leistung geregelt und nicht durch Glück, List oder Herkunft“ (Hondrich 1984: 275). 2.2.4 Theoretische Erklärungsansätze für Bildungsungleichheit Zur Erklärung des Phänomens Bildungsungleichheit hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von theoretischen Ansätzen etabliert. In der vorliegenden Arbeit wird einer der bekanntesten und empirisch am häufigsten verwendeten Ansätze zugrunde gelegt: Das Modell der Genese ungleicher Bildungschancen nach Boudon (1974). Der konzeptionelle Rahmen dieses Modells mit seiner analytischen Trennung von primären und sekundären Herkunftseffekten dient dem Theorieteil der vorliegenden Arbeit als Grundlage (Kapitel 2.2.4.1). In Kapitel 2.2.4.2 erfolgt eine kritische Würdigung der Arbeiten Boudons vor dem Hintergrund des kontrovers geführten soziologischen Diskurses über Rational Choice Theorien. 2.2.4.1 Modell zur Genese ungleicher Bildungschancen nach Boudon Der französische Soziologie Raymond Boudon hat im Jahr 1974 sein viel beachtetes Werk „Education, opportunity, and social inequality: Changing prospects in Western society“ veröffentlicht, das sich der Genese von ungleichen Bildungschancen und ihrer intergenerationalen Reproduktion in westlichen industrialisierten Gesellschaften widmet. Im ersten Teil des Buches entwirft Boudon ein Modell zur Erklärung der sozialen Ungleichheit der Bildungschancen. Das Modell stellt dar, über welche Mechanismen sich schichtspezifische Unterschiede in den Bildungschancen erklären lassen. Boudon argumentiert, dass sich die soziale Stratifizierung über zwei unterschiedliche Wirkpfade auf die Bildungschancen auswirkt und unterscheidet folglich zwischen primären und sekundären Effekten der sozialen Herkunft (siehe Abbildung 3). Mit den primären Effekten ist der Einfluss der sozialen Herkunft auf die schulischen Leistungen der Kinder angesprochen. Boudon führt diese auf Unterschiede in den Lebensbedingungen der Angehörigen der verschiedenen sozialen Schichten, kulturelle

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

Wissensbestände, Unterschiede in alltäglichen Interaktionen zwischen Eltern und Kindern, aber auch auf mögliche Unterschiede in genetischen Dispositionen zurück. Boudon fasst unter dem Begriff der bildungsrelevanten „Ressourcen“ in einem sehr breiten Sinn sämtliche Bedingungen, die für den Kompetenzerwerb und die schulischen Leistungen von Kindern relevant sind und die nach der sozialen Herkunft variieren. Je höher der sozioökonomische Status des Elternhauses, desto mehr bildungsrelevante materielle und immaterielle Ressourcen stehen zur Verfügung und desto günstiger die Bedingungen für den Kompetenzerwerb der Kinder. Entsprechend beginnen Kinder aus niedrigeren Sozialschichten die Schullaufbahn häufig bereits mit einem niedrigeren Vorwissen und damit mit schlechteren Voraussetzungen. Das familiäre Anregungs- und Unterstützungspotenzial ist in diesen Familien tendenziell geringer, so dass sich die Nachteile der Kinder aus den unteren Schichten über den Zeitverlauf kumulieren und insgesamt in schwächeren schulischen Leistungen resultieren.

Abbildung 3 Vereinfachte Darstellung des Modells zur Genese ungleicher Bildungschancen nach Boudon (1974) Quelle: Becker & Lauterbach 2007: 13, eigene modifizierte Darstellung

Sekundäre Effekte beschreiben schichtspezifische Unterschiede im Entscheidungsverhalten, die unabhängig von, beziehungsweise zusätzlich zu Disparitäten in den schulischen Leistungen wirken. Eine Bildungsentscheidung ist nach Boudon das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Abwägung verschiedener Handlungsalternativen durch rational handelnde Akteur/innen. Mit Kosten sind hierbei sowohl monetäre als auch soziale Kosten einer bestimmten Bildungsalternative angesprochen (Boudon 1974: 30). Objektiv gleiche monetäre Kosten einer Bildungsalternative fallen für einkommensschwache Familien relativ betrachtet stärker ins Gewicht als für einkommensstarke Familien. Zu den monetären Kosten zählen jedoch nicht nur direkte, sondern auch indirekte, so genannte Opportunitätskosten (Verzichtskosten): Diese bezeichnen beispielsweise „versäumtes“ Einkommen bei

2.2 Bildungsungleichheit

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Verbleib im Bildungssystem anstelle eines Eintritts in den Arbeitsmarkt. Für Familien mit knappem finanziellem Spielraum fallen auch diese Opportunitätskosten relativ betrachtet stärker ins Gewicht als für wohlhabende Familien. Mit sozialen Kosten sind demgegenüber etwaige Verluste von sozialen Netzwerken angesprochen, die durch einen „schichtuntypischen“ Bildungsverlauf entstehen können: Boudon argumentiert hier mit Kosten durch eine Trennung von der gleichaltrigen Bezugsgruppe, wenn Kinder andere Bildungsgänge wählen als der Großteil ihres Freundeskreises. Durch die sozial weitestgehend homogenen Bildungsverläufe sind soziale Kosten für Kinder aus den höheren Schichten bei Wahl eines (für ihre Bezugsgruppe untypischen) niedrig qualifizierenden Bildungsganges wahrscheinlich und für Kinder aus den unteren Schichten wiederum bei Wahl eines (für ihre Bezugsgruppe untypischen) höher qualifizierenden Bildungsganges. Boudon fasst unter soziale Kosten auch die familiäre Solidarität (ebd.: 30): Für Kinder aus den höheren Sozialschichten fördert die Wahl eines prestigeträchtigen Bildungsgangs die Familiensolidarität, weil bereits die Eltern einen solchen gewählt hatten; für Kinder aus den unteren Sozialschichten kann die Wahl eines prestigeträchtigen Bildungsgangs hingegen einen „Bruch“ mit dem familiären Bildungsstand bedeuten, welcher die familiäre Solidarität schwächt. Neben differenziellen Kostenerwägungen gibt es aber nach Boudon auch Unterschiede hinsichtlich der erwarteten Erträge von Bildungsinvestitionen: Die Erträge hoher Bildung fallen umso größer aus, je höher die soziale Position der Familie ist. Wie lassen sich diese Ertragsunterschiede erklären? Boudon bezieht sich hierbei maßgeblich auf die von Keller und Zavalloni entwickelte „Status Position Theory“ (1964). Genau wie Boudon versuchen auch Keller und Zavalloni (1964), Erklärungen für die persistenten Bildungsungleichheiten zu finden und betonen, dass ein angestrebter (oder erreichter) Bildungsabschluss immer in Relation zur sozialen Herkunft interpretiert werde müsse: Individuen aus verschiedenen Schichten streben nicht etwa aufgrund unterschiedlicher Werthaltungen verschiedene Bildungsziele an, sondern die soziale Distanz, die sie jeweils zur Erreichung eines bestimmten Bildungsabschlusses überwinden müssen, ist unterschiedlich groß. Das jeweilige Anspruchsniveau der Akteur/innen solle somit nicht als absoluter Standard interpretiert werden, sondern stets relativ zur Statusposition. Hieran anschließend erklärt Boudon Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung über schichtspezifische Unterschiede in den antizipierten Kosten und Erträgen von Bildungswegen, welche in Abhängigkeit von der Position im Statussystem variieren. In der Folge führen diese Abwägungen zu schichtspezifischen Unterschieden in der Bewertung des Gesamtnutzens einer bestimmten Alternative.

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

Boudon löst die Forderung Kellers und Zavallonis (1964) nach der Berücksichtigung relativer Statuspositionen ein, indem er das Prinzip des Statuserhalts in seine Theorie einführt: Boudon nimmt an, dass Akteur/innen intergenerationalen Statusverlust, das heißt: sozialen Abstieg, vermeiden wollen. Je höher der Bildungsstand der Eltern, desto höher muss auch der Bildungsabschluss des Kindes ausfallen, um den Status in der intergenerationalen Folge erhalten und einen sozialen Abstieg vermeiden zu können. Für Kinder aus den unteren sozialen Schichten genügen vergleichsweise geringe Bildungsabschlüsse, um den Statuserhalt zu sichern. Daraus folgt, dass nicht nur die Kosten, sondern auch die Erträge eines bestimmten Bildungsgangs nach sozialer Schicht variieren. Der Gesamtnutzen einer Bildungsalternative ergibt sich nun aus den Kosten und Erträgen, weshalb im Ergebnis selbst bei gleicher schulischer Leistung Angehörige der oberen Sozialschichten mit einer höheren Wahrscheinlichkeit hochqualifizierende Bildungswege wie das Gymnasium wählen als Angehörige der unteren Sozialschichten. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Aus der Perspektive Boudons ist das Phänomen Bildungsungleichheit neben Unterschieden in der Verfügbarkeit von bildungsrelevanten Ressourcen und daraus resultierenden Kompetenzunterschieden5 (primärer Effekt), immer auch auf schichtspezifisch differierende Bildungsentscheidungen zurückzuführen (sekundärer Effekt). Diese basieren auf einer Abwägung der Kosten und Nutzen der verschiedenen Wahlmöglichkeiten, die vor dem Hintergrund der individuellen schulischen Leistung des Kindes und „in einem bestimmten institutionellen Kontext des Bildungssystems“ getroffen werden (Maaz et al 2006: 301 f.). Boudon unterscheidet in seinem Modell nicht explizit zwischen elterlichen und kindlichen Kosten-Nutzen-Kalkulation. Boudon argumentiert zunächst auf Ebene des Kindes, das bereits schichtspezifisch differenzielles Entscheidungsverhalten zeigt; diese Tendenz wird durch Eltern, beziehungsweise die Familie noch verstärkt: „This effect will probably be reinforced if not only the youngsters but also the family take part in the decision process. The expected benefit which is perceived as attached to a given course will probably be differently evaluated by the families, exactly as the issue is likely to be differently evaluated by the youngsters“ (Boudon 1974: 29). 5

An dieser Stelle sei jedoch auf eine konzeptionelle Unschärfe in der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Herkunftseffekten verwiesen: In der Realität lassen sich primäre und sekundäre Herkunftseffekte nicht als voneinander losgelöst betrachten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Eltern mit hohem Bildungsstreben ihre Kinder entsprechend der gewünschten schulischen Laufbahn fördern. Der primäre Herkunftseffekt wird dann auch von der durch die Eltern angestrebten schulischen Laufbahn für das Kind beeinflusst. Die analytische Zuordnung der schulischen Leistung zum primären Effekt ist daher eine zwar sehr geläufige, aber nicht gänzlich unumstrittene Praxis (siehe Erikson et al. 2005; Jackson et al. 2016).

2.2 Bildungsungleichheit

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Implizit wird also angenommen, dass Kinder bei ihrer Kosten-Nutzen-Kalkulation zu einem ähnlichen Ergebnis kommen wie ihre Eltern, beziehungsweise Familien. Boudon arbeitet wie in Kapitel 2.2.4.1 dargestellt für beide Akteursgruppen jeweils spezifische Entscheidungsmotive heraus: Für das betroffene Kind werden die sozialen Kosten in Form des drohenden Verlusts von Freundesnetzwerken möglicherweise entscheidender sein als für die Eltern, beziehungsweise die Familie. Diese wiederum werden möglicherweise den Statuserhalt stärker forcieren als die Kinder.6 Weiterentwicklungen des Modells von Boudon Das Grundmodell von Boudon wurde in Nachfolge-Modellen stärker formalisiert und weiterentwickelt. Wichtige Beiträge wurden von Robert Erikson und Jan O. Jonsson (1996), Richard Breen und John H. Goldthorpe (1997) sowie für den deutschsprachigen Raum mit der Wert-Erwartungs-Theorie von Hartmut Esser (1999) vorgelegt. Eriksson und Johnson (1996) betonen neben monetären und nicht-monetären Ressourcen der Familien (beispielsweise Kenntnisse über das Bildungssystem, Unterstützungsmöglichkeit bei schulischen Anforderungen) insbesondere die so genannte Erfolgserwartung, das heißt die eingeschätzte Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter Bildungsgang erfolgreich durchlaufen wird. Auch Breen und Goldthorpe (1997) betonen die Rolle der Erfolgserwartung bei verschiedenen Schullaufbahnen als relevanten Entscheidungsparameter, indem sie in ihrem Modell annehmen, dass das Risiko des Scheiterns in die Kalkulation des Gesamtnutzens einer bestimmten Wahlmöglichkeit explizit mit einbezogen wird. Die Wahrscheinlichkeit, einen bestimmten Bildungsweg erfolgreich abzuschließen, ist unter anderem abhängig von den aktuellen schulischen Leistungen des Kindes. Wie oben beschrieben wird hierbei ein positiver Zusammenhang zwischen Sozialschicht und schulischen Leistungen unterstellt. Darüber hinaus stehen in den höheren Schichten mehr unterstützende Ressourcen zur Verfügung, um etwaige schulische Probleme kompensieren und den schulischen Erfolg sicherstellen zu können. Daraus ergibt sich, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit in den höheren Sozialschichten durchschnittlich größer ist als in den unteren Schichten. Trotz teils unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunktsetzungen sagen die verschiedenen Modelle übereinstimmend vorher, dass Eltern aus niedrigeren Schichten für ihre Kinder selbst bei gleichen schulischen Leistungen mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit einen hoch qualifizierenden Bildungsweg wählen, da die Kosten relativ gesehen höher, die Erfolgswahrscheinlichkeiten niedriger und die Erträge geringer ausfallen als für Familien aus den oberen sozialen Schichten. 6

Boudon trifft diese Unterscheidung nicht explizit; in seiner argumentativen Ausführung bezieht er sich aber in den genannten Punkten jeweils stärker auf entweder die Gruppe der Heranwachsenden, oder auf die Eltern, bzw. Familien.

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

2.2.4.2 Kritische Würdigung des Modells Die Entwicklung der dargestellten Modelle ist in den wissenschaftshistorischen Kontext eines zunehmenden Bezugs der Soziologie auf ökonomische Theorien seit den 1960er Jahren einzuordnen. Im Zuge dessen wurde die Humankapitaltheorie (Becker 1964 [2009]; Mincer 1962) entwickelt, welche die Grundlage für sämtliche Modelle in der Tradition der so genannten Rational Choice Ansätze bildet (vgl. Maaz et al. 2006: 301). Grundannahme der Humankapitaltheorie sind rational handelnde Individuen, die dann in Bildung investieren, wenn es sich unter Berücksichtigung der anfallenden Kosten lohnt, beispielsweise, wenn dadurch langfristig eine Steigerung der Chancen am Arbeitsmarkt zu erwarten ist. Die Rational-Choice Theorien gelten derzeit in der Bildungssoziologie als der dominante Erklärungsansatz für Bildungsungleichheit (Stocké 2012: 423). Das ihnen zugrundeliegende individualistische Handlungsparadigma sieht sich aber seit den 1990er Jahren auch vermehrt Kritik ausgesetzt und wird in den Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert (Ditton 2007; Lindenberg 1996). Kritisiert wurde und wird, dass es die analytische Perspektive auf die handelnden Subjekte lenkt (Agency-Perspektive) und hierbei die Auswirkungen gesellschaftlicher Makrostrukturen auf die Möglichkeiten und Grenzen individuellen Handelns vernachlässigt (Structure-Perspektive).7 Auch Boudon selbst hat in einigen Aufsätzen die Grenzen der Rational Choice Theorie, sowie des zugrundeliegenden Rationalitätsbegriffs offen diskutiert (z. B. Boudon 1998; 2003). Als wichtiger Kritiker der Rational Choice Theorien im Kontext von Bildungsungleichheit ist der französische Soziologe Pierre Bourdieu zu nennen, dessen Werk sich mit schichtspezifischen Unterschieden in Lebensbedingungen und Lebensstilen beschäftigt, die er auch auf das schulische Feld anwendet. In dem gemeinsam mit JeanClaude Passeron veröffentlichten Werk „Die Illusion der Chancengleichheit“ (1971) setzen sich die Autoren dezidiert mit den Mechanismen auseinander, die Ungleichheit im Bildungssystem generieren oder verstärken und somit soziale Ungleichheiten reproduzieren. Bourdieu lehnt die Vorstellung von menschlichem Handeln als Ergebnis von Nutzenmaximierung ab. Er geht von einer Vorstellung sozialen Handelns aus, das „eine Art objektive Zweckbestimmtheit enthält, ohne daß es bewußt auf einen explizit formulierten Zweck bezogen wäre (…[,]) das verständlich und schlüssig ist, ohne einem festen Vorsatz und einem klaren Entschluß entsprungen zu sein

7

Für eine vertiefende Auseinandersetzung zur Agency- und Structure-Perspektive siehe Sewell (1992).

2.2 Bildungsungleichheit

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(…[,]) das auf die Zukunft ausgerichtet ist, ohne doch Resultat eines Entwurfs oder Plans zu sein“ (Bourdieu 1981: 169, in Gebauer & Krais 2002: 79). So schreibt Bourdieu (1983: 185) über die Humankapital-Schule: „Außerdem können sie [die Vertreter/innen der Humankapitaltheorie] die relative Bedeutung nicht verständlich machen, die die unterschiedlichen Aktoren und Klassen der ökonomischen und der kulturellen Investitionen jeweils beimessen“ (Bourdieu 1983: 185; [Ergänzung d. Verfasserin]) und weiter: „Daraus ergibt sich das unausweichliche Paradoxon, daß die HumankapitalTheoretiker sich selbst dazu verdammen, die am besten verborgene und sozial wirksamste Erziehungsinvestition unberücksichtigt zu lassen, nämlich die Transmission kulturellen Kapitals8 in der Familie“ (ebd.: 186). Bourdieus Theorie beruht im Gegensatz zu der Boudons nicht auf einem individualistischen Handlungsparadigma, sondern schlägt mit dem Konzept des Habitus eine Brücke zwischen strukturellen Voraussetzungen auf der einen und individuellen Handlungsdispositionen auf der anderen Seite. Habitus meint dabei die „Gesamtheit der Denk-, Auffassungs-, Beurteilungs- und Handlungsschemata“ (Bourdieu & Passeron 171: 143). Der Habitus stellt die inkorporierte soziale Position einer Person dar, das heißt, die verinnerlichten Möglichkeiten und Grenzen des Denkens und Handelns, die mit einer bestimmten sozialen Position verbunden sind. Folglich ist Bildungsungleichheit für Bourdieu weder primär das Resultat von (auf natürlichen Fähigkeiten begründetem) schulischem Erfolg oder Misserfolg, noch das Ergebnis von präferenzbasierten Kosten-Nutzen-Kalkulationen rational handelnder Individuen. Bildungsungleichheit ist für Bourdieu vielmehr das Ergebnis einer fehlenden Passung zwischen den Anforderungen seitens der Institution Schule und dem Habitus der Kinder aus den unteren Sozialschichten.9 Diese weisen eine größere Fremdheit und Distanz zur Schule auf; die „Spielregeln“ für eine erfolgreiche Bildungskarriere sind ihnen weniger gut vertraut und ihr Habitus steht einem erfolgreichen Durchlaufen hochqualifizierender Bildungswege eher im Weg: „In der Regel fehlen denen, die über Bildungskapital in nennenswertem Umfang nicht verfügen, die ›richtigen Informationen‹ für eine in die höchsten Positionen führende Bildungsinvestition, es fehlt ihnen die Vertrautheit mit den Strukturen und Werten der Schule, und wo diese nicht fehlt, […], da fehlen ihnen die mate8 9

Zu Bourdieus Kapitalbegriff, einem der Kernkonzepte seines Werks, siehe Bourdieu (1983). Bourdieu spricht in seinem Werk von sozialen Klassen. Sein Konzept von Klasse entspricht allerdings weitgehend dem eingangs definierten Konzept der sozialen Schicht, weshalb der Konsistenz halber im Zuge dieser Arbeit der Begriff „soziale Schicht“ verwendet wird.

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

rielle Sicherheit und auch die Sicherheit des Habitus, die jene riskanten Bildungswege ermöglichen würden, die den höchsten Gewinn versprechen“ (Gebauer & Krais 2002: 42). Mit dem Verweis auf „riskante[ ] Bildungswege“ und einem „Versprechen“ auf „Gewinne“ räumt aber auch Bourdieu ein, dass Bildungsentscheidungen, neben weiteren Einflussfaktoren, auch eine Abwägung von möglichen Nutzen und Kosten, sowie einer subjektiv eingeschätzten Wahrscheinlichkeit des „Gewinnens“ oder „Verlierens“ zugrunde liegen. Auch ohne mit den zentralen Annahmen der Rational Choice Theorie übereinzustimmen, lassen sich Bildungsentscheidungen aus einer stärker strukturtheoretisch orientierten Perspektive bis zu einem gewissen Grad als bewusste Entscheidungen verstehen, die vor dem Hintergrund der individuellen, aber auch strukturell bedingten Möglichkeiten und Grenzen getroffen werden müssen. Die Annahme, dass die Akteur/innen hierbei auch die Wahrscheinlichkeit abwägen, dass ein bestimmter Bildungsweg erfolgreich durchlaufen werden kann oder aber ein (zu) hohes Risiko bedeutet, lässt sich also nicht nur mit Verweis auf die Rational Choice Theorie begründen. Trotz aller berechtigter Kritik an den Grundannahmen der Rational Choice Theorie kommt Boudon das große Verdienst zu, mit seinem Modell zur Genese von Bildungsungleichheit die Bildungssoziologie zu weiteren, intensiven Forschungsbemühungen auf diesem Gebiet inspiriert zu haben. Die auf ihn begründete analytische Trennung von primären und sekundären Effekten ist mittlerweile in der Bildungssoziologie fest etabliert. Seine Arbeit hat zu zahlreichen Veröffentlichungen geführt, die sich diesen beiden Mechanismen von Bildungsungleichheit und der Umsetzung ihrer empirischen Analyse gewidmet und dadurch zu einem tiefergreifenden Verständnis des Phänomens Bildungsungleichheit beigetragen haben. 2.3 Gesundheitliche Ungleichheit Als ein weiteres sozial ungleich verteiltes, wertvolles Gut kann Gesundheit angesehen werden. Die Chancen auf ein gesundes, langes Leben sind auch in einem traditionell egalitär-etatistisch ausgerichteten System wie der Bundesrepublik Deutschland ungleich verteilt (Bauer 2009: 389). Der Begriff Gesundheitliche Ungleichheit beschreibt zusammenfassend soziale Unterschiede im Gesundheitszustand, im Gesundheitsverhalten sowie im Zugang zu gesundheitlicher Versorgung (Lampert et al. 2016: 302).10

10

Die Gründe für fehlenden Zugang sind hierbei zunächst nicht näher definiert; Versorgungsunterschiede schließen daher auch Unterschiede in der Inanspruchnahme mit ein, unabhängig davon, ob diese auf fehlenden Möglichkeiten des Zugangs, oder auf Unterschiedene in individuellen Präferenzen beruhen.

2.3 Gesundheitliche Ungleichheit

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Für die erwachsene Bevölkerung ist das Phänomen der gesundheitlichen Ungleichheit bereits gut untersucht und durch verschiedene empirische Datenquellen untermauert. Gesundheitliche Ungleichheit zeigt sich beispielsweise in Unterschieden in der Lebenserwartung: Lars Kroll und Thomas Lampert (2008) zeigen mit den Daten des Sozioökonomischen Panels und amtlicher Sterbetafeln gravierende Unterschiede in der Mortalität in Abhängigkeit des Einkommens: Werden die Erwerbstätigen der Bundesrepublik Deutschland nach der Höhe ihres Einkommens in fünf Gruppen eingeteilt, leben die männlichen Angehörigen der höchsten Einkommensgruppe, die mehr als das 1,5-fache des Medianeinkommens erzielen, statistisch betrachtet rund elf Jahre länger als Männer aus der untersten Einkommensgruppe, denen weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung stehen. Bei den Frauen beträgt der entsprechende Unterschied zwischen der höchsten und der niedrigsten Einkommensgruppe 8,4 Jahre (Kroll & Lampert 2008: 24; vgl. auch Deaton 2002). Ähnliche Unterschiede lassen sich auch für andere Merkmale der sozialen Position, beispielsweise für verschiedene Bildungs- (Braveman et al. 2010; Conti et al. 2010; Eide & Showalter 2011; Winkleby et al. 1992) und Berufsgruppen (McLeod et al. 2012; Schrijverset al. 1998; Siegrist & Dragano 2016; Winkleby et al. 1992) zeigen. Es bestehen hierbei nicht nur zwischen den „Extremgruppen“ mit dem jeweils niedrigsten und höchsten Rang Unterschiede: Die Chancen auf ein gesundes und langes Leben steigen vielmehr stufenweise über alle Gruppen hinweg mit steigendem sozioökonomischem Status an. Dieses Phänomen wird als sozialer Gradient der Gesundheit bezeichnet (Adler et al. 1994; Babitsch et al. 2009; Conti et al. 2010; Marmot et al. 1997). Ein sozialer Gradient zeigt sich auch hinsichtlich der Morbidität für einen Großteil der bislang untersuchten Krankheiten;11 Für nahezu alle Krankheiten ist ein Anstieg der Morbiditätsraten in der Bevölkerung mit abnehmendem sozioökonomischem Status assoziiert (Banks et al. 2006; Erikson & Torssander 2008; Lampert 2016: 124; Link & Phelan 1995). Die Verteilung von Mortalität und Morbidität folgt einem klar ausgeprägten sozialen Muster zuungunsten der sozial unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen. Dieser Befund kann für alle Länder gezeigt werden, aus denen empirische Befunde vorliegen (Richter & Hurrelmann 2009: 13), allerdings in unterschiedlich starkem Ausmaß (Cavelaars et al. 1998; Hurrelmann et al. 2011; Mackenbach et al. 1997; Richter et al. 2012). Die Kopplung von sozioökonomischem Status und Gesundheit zeigt sich bereits im Kindes- und Jugendalter: Auch für diese jungen Altersgruppen findet sich ein gesundheitlicher sozialer Gradient mit dem sozioökonomischen Status ihrer Eltern (Aber et 11

Lediglich für wenige Ausnahmen, beispielsweise für Brustkrebs und für einige allergische Erkrankungen, deutet sich kein Zusammenhang mit der sozioökonomischen Position oder gar ein umgekehrter sozialer Gradient an (für Brustkrebs vgl. Braaten et al. 2004; Danø et al. 2002; Geyer 2008; Klassen & Smith 2011; Strand et al. 2007; für Allergien vgl. Chen et al. 2002; Hermann-Kunz & Thierfelder 2001; Schneider et al. 2006; Wolkewitz et al. 2006).

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

al. 1997; Currie et al. 2007; Goodman 1999; Lampert & Richter 2009; Khanam et al. 2009; Propper et al. 2007; Spencer 2003). Kindheit galt lange Zeit als eine von Gesundheit geprägte Lebensphase, in der Krankheit lediglich eine marginale Rolle spielt. Gesundheitliche Beeinträchtigungen wurden daher in dieser jungen Altersgruppe lange Zeit kaum untersucht.12 Entsprechend sind gesundheitliche Unterschiede zwischen Kindern in Abhängigkeit von ihrer sozialen Herkunft in Deutschland erst vergleichsweise spät in das Blickfeld von Politik und Wissenschaft gelangt (Lampert & Richter 2009). Die empirische Befundlage zeigt zusammenfassend deutlich erhöhte Risiken für nahezu alle untersuchten Formen gesundheitlicher Beeinträchtigungen und für den Großteil gesundheitsschädigender Verhaltensweisen für Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch schlechter gestellten Familien (Bauman et al. 2006; Currie et al. 2007; Lampert & Kurth 2007; Lampert & Richter 2009; Reinhold & Jürges 2012; Richter 2005; Spencer 2003; Victorino & Gauthier 2009). Auch in Kindheit und Jugend zeigt sich für die meisten untersuchten Krankheiten ein sozialer Gradient, auch wenn dieser in den meisten Studien weniger stark ausgeprägt ist als in der Lebensphase der Erwerbstätigkeit13 (zur Annahme eines kumulativen Effekte früher gesundheitlicher Beeinträchtigungen über den Lebensverlauf siehe Alwin & Wray 2005; Ford et al. 1994; O’Rand 1996; für Befunde zu einem gleich bleibenden sozialen Gradienten bis ins Erwachsenenalter siehe Martinson et al. 2011). Im Folgenden sollen zunächst die Konzepte Gesundheit und Krankheit aus soziologischer Perspektive, sowie mögliche empirische Operationalisierungen für gesundheitliche Beeinträchtigungen dargestellt werden. Auch wenn die meisten Menschen eine intuitive Vorstellung davon haben, was unter Gesundheit zu verstehen ist, gestaltet sich eine wissenschaftliche Definition dieses Konstrukts als Herausforderung. Wie zu zeigen sein wird, sind Definitionen von Gesundheit beziehungsweise Krankheit immer von der Perspektive eines spezifischen Bezugssystems abhängig: Im Folgenden werden Konzeptionen von Gesundheit und Krankheit aus den Bezugsrahmen Medizin, Gesellschaft und Individuum dargestellt. Kapitel 2.3.3 gibt einen Überblick über den empirischen Forschungsstand zu gesundheitlicher Ungleichheit im Kindes- und Jugendalter. Ein Fokus wird hierbei auf empirischen Befunden aus der Bundesrepublik Deutschland liegen. In Kapitel 2.3.4 werden schließlich theoretische Erklärungsansät12

13

Ausnahmen stellen frühzeitige Entwicklungsrisiken und Mortalität im jungen Kindesalter dar, die als Indikator für den Entwicklungsstand von Gesundheitssystemen, insbesondere im internationalen Vergleich, bereits eine längere Tradition haben (für Kinder- und Säuglingssterblichkeit vgl. Antonovsky & Bernstein 1967; Brenner 1973; Chase 1967; Knodel 1968; Robinson 1951; Shapiro et al. 1968; Stockwell 1962; für Frühgeburt und niedriges Geburtsgewicht vgl. Caputo & Mandell 1970; Douglas & Mogford 1953; Drillien 1957; Eastman & Jackson 1968; Geijerstam 1969; Lubchenco et al. 1963). Nach dem Renteneintritt scheint sich der soziale Gradient in der Gesundheit tendenziell abzuschwächen (House et al. 1994; Marmot & Shipley 1996).

2.3 Gesundheitliche Ungleichheit

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ze für die ungleich verteilten Gesundheitschancen von Kindern und Jugendlichen thematisiert. Obschon eine genuin kindheitsbezogene Theorie zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit noch aussteht, liegen hierzu einige Ansätze vor, die zum Teil bereits durch empirische Befunde untermauert sind. Es wird zu zeigen sein, dass sich hierbei eine ähnliche Argumentation wie für Bildungsungleichheiten findet, die sowohl auf die Verfügbarkeit gesundheitsrelevanter Ressourcen, als auch auf lebensstilbezogene einstellungs-, präferenz- und verhaltensbasierte Faktoren abstellt. Sozioökonomisch starke Familien verfügen insgesamt über mehr materielle und immaterielle Ressourcen, die in die Gesundheit ihrer Mitglieder investiert werden können. Es gibt darüber hinaus Hinweise darauf, dass sozial besser gestellte Eltern ihren Kindern auch häufiger einen gesundheitsbewussten Lebensstil vorleben, beispielsweise im Hinblick auf körperlich-sportliche Aktivität oder das Ernährungsverhalten. 2.3.1 Konzepte von Gesundheit und Krankheit Die weltweit wohl bekannteste Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO, für engl. World Health Organization) beschreibt Gesundheit als „a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“ (WHO 1948). Die Abwesenheit körperlicher Beschwerden gilt hier als notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium für Gesundheit. Zusätzlich wird auch auf eine nicht physische Dimension von Gesundheit verwiesen, indem vollständiges mentales und soziales Wohlbefinden als Kriterium für Gesundheit formuliert wird. Die Gesundheitsdefinition der WHO steht zum einen als „utopisches“ und zum anderen als empirisch nicht zu haltendes Idealin der Kritik (vgl. Faller 2016: 4; Franzkowiak 1992: 133; Schübel 2016: 39). Damit ist gemeint, dass kaum ein Mensch sich jemals in allen angesprochenen Bereichen vollständig wohl fühlt, sich dabei aber trotzdem insgesamt gesund fühlen kann.14 Definitionen von Gesundheit sind nach Faller (2016: 4) stets abhängig vom jeweiligen Bezugssystem. Ein naturwissenschaftlich-medizinischer Blick auf Gesundheit durch medizinisches Fachpersonal entstammt einer anderen Perspektive als ein „sozialer“ Blick auf Gesundheit durch die Gesellschaft. Das betroffene Individuum wird der subjektiven Einschätzung seines Gesundheitszustandes möglicherweise wiederum andere Maßstäbe zugrunde legen als medizinisches Fachpersonal oder die Gesellschaft. Das Bezugssystem Medizin definiert Gesundheit aus einer naturwissenschaftlichbiologisch orientierten Perspektive in einem dichotomen Modell in Abgrenzung zu 14

Faller (2016: 4) argumentiert beispielsweise, dass körperliche Beschwerden auch bei gesunden Personen häufig auftreten und verweist hierzu auf eine Reihe empirischer Untersuchungen, die übereinstimmend gezeigt haben, dass der Großteil der gesunden Allgemeinbevölkerung in Umfragen angibt, in der vorausgegangenen Woche mindestens ein belastendes körperliches Symptom verspürt zu haben, beispielweise Rückenschmerzen oder Kopfschmerzen.

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

Krankheit: Ob eine Person aus medizinischer Sicht als gesund gilt, hängt davon ab, ob eine Krankheit vorliegt oder nicht. Zugrundeliegend ist hierbei die Identifikation eines pathoanatomischen, histologischen oder pathophysiologischen Geschehens, das von einer definierten Norm abweicht. Auch für die mentale Gesundheit gilt die Abweichung vom Norm- und Normalitätszustand als krank. Gesundheit bezeichnet in dieser Perspektive also das „Fehlen von (biologischen [oder psychologischen]) Normabweichungen“ (Erhart et al. 2009: 336, [Ergänzung der Verfasserin]). Es ist an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass Normalität im Sinne des „Neutralen“, durchschnittlich „Normalen“, nicht als unabänderlich zu betrachten ist, sondern stark zeit- und kulturabhängig ist (Schlipfenbacher & Jacobi 2014). Dennoch kann festgehalten werden, dass es in einem gegebenen historischen und kulturellen Rahmen fest definierte Kriterien gibt, anhand derer Normalität und in diesem Sinne auch Krankheit als Normabweichung objektiv und dichotom bestimmbar ist. Die Dichotomie des Bezugssystems Medizin muss jedoch nicht immer dem subjektiven Empfinden der betroffenen Person entsprechen. Eine aus medizinischer Sicht gesunde Person kann sich krank fühlen; umgekehrt kann sich eine als krank diagnostizierte Person gesund fühlen. Das Individuum erlebt Gesundheit und Krankheit weniger als Dichotomie, sondern als Kontinuum. Es nimmt den eigenen Zustand als Oszillieren zwischen geringerem und stärkerem Wohlbefinden, beziehungsweise leichterem und schwererem Krankheitsgefühl wahr. Gesundheit steht hier in engem Zusammenhang mit „subjektivem Wohlbefinden, Handlungsvermögen, Funktionsfähigkeit im Alltag, Lebensqualität“ (Faller 2016: 4). Ob Personen sich selbst als gesund oder als krank erleben, hängt neben dem physischen und psychischen Erleben auch von individuellen Gesundheitsvorstellungen, sowie Überzeugungen und Annahmen über Ursachen und Folgen von Krankheiten ab (Erhart et al. 2009: 336). Im Bezugssystem Gesellschaft bezieht sich die Konzeption von Gesundheit auf die Fähigkeit ihrer Mitglieder, soziale Normen, Rollen und Funktionen erfüllen zu können. Dem Verständnis Talcott Parsons (1968: 344) nach ist Gesundheit „ein Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben für die es sozialisiert worden ist.“ Aus der Perspektive der Gesellschaft wird das Fehlen von Gesundheit dann relevant, wenn ihre Mitglieder die ihnen zugewiesenen sozialen Funktionen nicht mehr erfüllen können und gegebenenfalls solidarisch organisierte Unterstützungsleistungen zur Kompensation in Anspruch nehmen müssen.15 Zum gesellschaftlichen Bezugsrahmen 15

Siehe beispielhaft die Definition der Pflegbedürftigkeit im deutschen Sozialgesetzbuch SGB §14 (1) Erster Satz: „Pflegebedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen.“

2.3 Gesundheitliche Ungleichheit

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zählt auch das Rechtssystem. Die juristische Beschreibung von Erkrankungen ist „ein von den Normen abweichender Zustand des Körpers, des Geistes oder der Seele (…), der eine Heilbehandlung erforderlich macht“ (Erhart et al. 2009: 336). Keines der genannten Bezugssysteme kommt bei der Definition von Gesundheit ohne ihre Negation in Form von Krankheit, beziehungsweise ohne ihr Fehlen aus. Ebenso sieht sich die sozialwissenschaftliche Forschung bei der Analyse gesundheitsbezogener Sachverhalte mit der Herausforderung der Detektion von Gesundheit als solcher konfrontiert: Wie zeigt sich Gesundheit, was sind ihre erkennbaren Merkmale und Anzeichen, ihre Symptome? In einer Arbeit zum Wandel des Gesundheitsbegriffs in der deutschsprachigen Literatur greift auch Franck (2007) diese Problematik auf und zeigt mit einem Rekurs auf Canguilhem (1978 in: Franck 2007: 12), dass sich eine Definition von Gesundheit stets erst aus der Perspektive ihrer Abwesenheit ergeben kann: „If health is life in the silence of the organs, there is no science of health per se. Health is organic innocence. And it must be lost, like all innocence, in order for knowledge to become possible.” Entsprechend beschäftigen sich die ungleichheitsbezogenen Sozialwissenschaften in erster Linie nicht mit Gesundheit an sich, sondern mit ihrer Negation, entweder in Form von medizinisch diagnostizierten Krankheiten oder in Form von subjektiv empfunden Beschwerden und Beeinträchtigungen. Diese Perspektive wird auch in der vorliegenden Arbeit eingenommen, indem nicht Gesundheit als positive Ressource, sondern gesundheitliche Beeinträchtigungen als potenzielle Einschränkung betrachtet werden. 2.3.2 Empirische Messung von Gesundheit und Krankheit In der empirischen Praxis finden sich hinsichtlich der Erfassung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen verschiedene Konzepte. In hohem Maße objektiv ist die Analyse von klinischen Daten, Laborwerten, diagnostischen Funktionstests, sowie amtlichen Daten zu Morbidität und Mortalität. Als quantitativ messbare Kriterien einer objektiven Perspektive auf Gesundheit können aber auch explizit diagnostizierte Krankheiten in Selbstauskunft abgefragt werden. Informationen zu diagnostizierten Erkrankungen sind allerdings insofern problematisch, als sie die Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen voraussetzen. Um beispielsweise im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung überhaupt eine Krankheit berichten zu können, muss eine Diagnose gestellt worden und der befragten Person bekannt sein. Personen, die möglicherweise erkrankt sind und sich auch subjektiv krank fühlen, aber (noch) keine manifeste medizinische Diagnose haben, werden diesem Kriterium entsprechend nicht als krank erfasst. Problematisch im Kontext der Analyse gesundheitlicher Ungleichheit ist dies insbesondere, wenn es durch systematische Unterschiede zu Verzerrungen

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

kommt, beispielsweise durch den empirisch gut belegten Befund schichtspezifischer Ungleichheit in der Inanspruchnahme von Angeboten der medizinischen Früherkennung (Goddard & Smith 2001; Hofreuter-Gätgens et al. 2016; RKI 2017; Richter et al. 2002; Waller et al. 1990). Dieses Problem zeigt sich auch für das häufig verwendete Kriterium „Anzahl der Arztbesuche oder Krankenhausaufenthalte“ in einem bestimmten Zeitraum in der näheren Vergangenheit. Auch hierbei gilt, dass es in der Regel schwierig ist, die Inanspruchnahme von akut notwendigen, kurativen Versorgungsleistungen von präventiven Versorgungsleistungen trennscharf zu unterscheiden. Das Problem einer möglichen Verzerrung durch systematische Unterschiede in der Inanspruchnahme in verschiedenen Gruppen kann umgangen werden, indem standardisiert erfasste, konkrete körperliche Beschwerden in Selbstauskunft erfragt werden. Zwar entzieht sich diese subjektive Perspektive einer objektiven und damit unmittelbar interpersonell vergleichbaren Erfassung von Gesundheit und Krankheit. Ebenso lässt sich die subjektive Einschätzung von Gesundheit aufgrund ihrer Sensitivität für andere Lebensbereiche nur schwer von anderen, nicht zwingend gesundheitsbezogenen Dimensionen des Wohlbefindens trennen. Dennoch werden dem Konstrukt der subjektiven Gesundheit wichtige Vorteile zugeschrieben, beispielsweise die Möglichkeit, auch nicht ärztlich diagnostizierte Morbidität erfassen zu können. Als Prädiktor für objektive Kriterien wie Mortalität hat sich die subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes außerdem als in hohem Maße geeignet erwiesen (Idler & Benyamini 1997). Entsprechend wird dieser Perspektive zunehmend Beachtung zuteil und die empirische Erfassung subjektiven gesundheitlichen Erlebens erfährt in den letzten Jahren vermehrt Berücksichtigung (Erhart et al. 2009: 336 f.). So wurden in den vergangenen Jahrzehnten umfassende Konstrukte zur standardisierten und damit quantifizierbaren Messung der subjektiven Gesundheit entwickelt. Häufig verwendete standardisierte Fragebogeninstrumente sind beispielsweise die Short Form Health State Classification (SF36), welche aus 36 Items besteht und acht gesundheitliche Bereiche abdeckt, oder eine von der WHO im Rahmen des Projekts World Health Organization Quality of Life entwickelte Testbatterie, die in 100 Items insgesamt 24 Facetten der subjektiven Gesundheit in sechs Domänen erfasst (Erhart et al. 2009: 342 f.). Häufig kommt für die Erhebung des subjektiv empfundenen allgemeinen Gesundheitszustandes auch die Frage zum Einsatz, wie die Befragten ihren Gesundheitszustand im Allgemeinen beschreiben, wobei in der Regel eine fünfstufige Antwort-Skala von „sehr gut“ bis „sehr schlecht“ gegeben ist. Bei der Erhebung gesundheitsbezogener Informationen über Kinder wird, sofern diese altersbedingt noch nicht selbst Auskunft erteilen können oder aus anderen Gründen von der Befragung ausgeschlossen sind, häufig auf Angaben Dritter zurückgegriffen (so genannte Proxy-Angaben), in der Regel auf Angaben der Eltern (Theunissen et al. 1998). Dieses Vorgehen birgt einige Schwierigkeiten: Nicht nur die Vergleichbarkeit

2.3 Gesundheitliche Ungleichheit

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zwischen Kinder- und Elterneinschätzung erweist sich als potenzielles Problem. Proxy-Angaben durch Eltern werden insbesondere auch mit Blick auf schichtspezifische Unterschiede in der subjektiv empfundenen Relevanz gesundheitlicher Beeinträchtigungen, aber auch hinsichtlich schichtspezifischer Unterschiede in der Auskunftsneigung kontrovers diskutiert (Currie 2009: 94 f.). Wenn beispielsweise die Prävalenz einer Krankheit in bestimmten sozialen Gruppen besonders hoch ist, könnten Eltern aus dieser Gruppe das Auftreten jener Krankheit bei ihrem Kind als weniger ungewöhnlich wahrnehmen und dadurch die Krankheit als weniger stark bedrohlich oder einschränkend empfinden. Entsprechend könnte dadurch auch die Art und Weise beeinflusst sein, wie Eltern in einer Befragung über diese Krankheit berichten. Currie (2009: 94) argumentiert, dass im Fall einer solchen Verzerrung soziale Ungleichheiten wenn dann unterschätzt würden. Zudem sei an dieser Stelle auf die hohe Übereinstimmung von Elternangaben und ärztlichen Angaben zur Gesundheit von Kindern im US-amerikanischen National Health and Nutrition Examination Survey verwiesen, der als eine der wenigen Gesundheitsstudien sowohl Laien- als auch Experteneinschätzungen enthält (Case et al. 2002). Insgesamt sind Proxy-Angaben von Eltern zum Gesundheitszustand ihrer Kinder für die Erhebung von gesundheitsbezogenen Indikatoren bei Kindern daher hinreichend geeignet. 2.3.3 Überblick über aktuelle Befunde zu gesundheitlicher Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen Trotz einer stetigen Verbesserung der Gesundheit in der Gesamtbevölkerung im Laufe der Zeit bestehen persistente gesundheitliche Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Die positive gesundheitliche Entwicklung vollzieht sich in den niedrigeren sozialen Schichten am langsamsten (Richter und Hurrelmann 2009: 13), so dass ein ausgeprägter und überaus beständiger sozialer Gradient in der Gesundheit auszumachen ist, der sich im Zeitverlauf eher zu verschärfen als zu verringern scheint. Je höher die sozioökonomische Position, desto größer sind die Chancen auf gute Gesundheit. Umgekehrt steigt mit abnehmendem sozioökonomischem Status das Risiko für gesundheitliche Beeinträchtigungen und vorzeitige Mortalität, und zwar in allen Phasen des Lebens (RKI 2017). Gesundheitliche Ungleichheit beginnt bereits in der pränatalen Phase im Mutterleib (Bradley & Corwyn 2002: 374). Kinder von Müttern mit niedrigem sozioökonomischem Status haben ein erhöhtes Risiko für intrauterine Entwicklungs- und Wachstumsstörungen (DiPietro et al. 1999; Steward & Moser 2004), Frühgeburt und geringes Geburtsgewicht (Kim et al. 2013; Kramer et al. 2000; Parker et al. 1994; Smith et al. 2007; Stolberg & Becker 2015), Geburtsfehler, sowie angeborene Behinderungen und chronische Erkrankungen (Smith et al. 2011; Wasserman et al. 1998, Vrijheid et al. 2000, Yang et al. 2008).

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen ist ein relativ junges Themenfeld der Sozialepidemiologie und der soziologischen Ungleichheitsforschung im deutschsprachigen Raum. Entsprechend ist eine differenzierte Betrachtung der Lebensspanne der Kindheit und Jugend aus der Perspektive gesundheitlicher Ungleichheit eine relativ neue Entwicklung. Lampert und Richter (2009: 209) zufolge leisteten den entscheidenden Anschub in Deutschland mehrere Sozial- und Armutsberichte der vergangenen Jahrzehnte, die eine wachsende Ungleichheit der Lebensverhältnisse aufgezeigt und als deren Hauptleidtragende Kinder und Jugendliche identifiziert hatten (AWO 2000, BMFSFJ 2005, BMGS 2005, zitiert nach Lampert und Richter 2009: 209). Erst im Jahr 2003 erfolgte im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit mit der so genannten KiGGS-Studie die erste bundesweit repräsentative Erhebung zur Gesundheit der heranwachsenden Generation. Die Befundlage über das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheit in den Lebensphasen Kindheit und Jugend in der Bundesrepublik Deutschland ist folglich relativ neu. Lampert und Richter (2009: 212 ff.) tragen in einer Übersicht wichtige Befunde für die Bundesrepublik Deutschland aus den letzten Jahrzehnten zusammen und identifizieren sozioökonomische Unterschiede im Hinblick auf Säuglingssterblichkeit, medizinisch relevante Entwicklungsstörungen und chronische Krankheiten von Kindern zum Zeitpunkt der Einschulung (für einen weiteren aktuellen Überblick siehe Schübel & Seebass 2016). Auch psychosoziale Beeinträchtigungen wie etwa psychosomatische Beschwerden oder Störungen der mentalen Gesundheit kommen bei Kindern aus den unteren Sozialstatusgruppen überproportional häufig vor. Ebenso steigt die Prävalenz von Unfällen und Verletzungen mit abnehmendem sozioökonomischem Status. Beispielsweise ereignen sich Unfälle, die einen Krankenhausaufenthalt erforderlich machen, in der Gruppe der Kinder von ungelernten Arbeitskräften 1,4 mal so häufig wie in der Gruppe der Kinder von Eltern in angestellten Arbeitsverhältnissen und Führungspositionen (Geyer und Peter 1998, zitiert nach Lampert und Richter 2009: 216). Ein ausgeprägter sozialer Gradient zeigt sich auch für kindliches Übergewicht und das Ernährungs- und Bewegungsverhalten. Kinder aus sozial schlechter gestellten Familien haben ein erhöhtes Risiko für Übergewicht und Adipositas und übergewichtsfördernde Verhaltensweisen. Eine Besonderheit stellt der gut belegte Befund dar, dass das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheit im Jugendalter teilweile abnimmt (Chen et al. 2006; Richter & Mielck 2006; Starfield et al. 2002; West 1997). Erklärt wird dies beispielsweise mit dem „childhood limited model“, das annimmt, dass in der Jugendphase andere gesundheitlich relevante Faktoren und Akteursgruppen, beispielsweise die gleichaltrige Bezugsgruppe, gegenüber der sozialen Herkunft an Bedeutung gewinnen (Richter & Mielck 2006: 249). Matthias Richter und Andreas Mielck konstatieren in dieser Frage eine Heterogenität der Befundlage: Während für einige gesundheitliche Beeinträchtigungen der Zusammenhang mit der sozialen Herkunft in der Adoleszenz

2.3 Gesundheitliche Ungleichheit

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abnimmt (beispielsweise psychosomatische Beschwerden oder leichte Verletzungen), zeigt sich für andere Beeinträchtigungen ein stabiler Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds (beispielsweise für schwere chronische Erkrankungen oder die selbst eingeschätzte Gesundheit). Die Autoren identifizieren hierbei in Übereinstimmung mit Chen et al. (2006), sowie West und Sweeting (2004) das Muster, dass es sich in der ersten Gruppe vornehmlich um in der Adoleszenz neu auftretende gesundheitliche Beeinträchtigungen handelt, während die zweite Gruppe vorwiegend seit längerem bestehende Beeinträchtigungen darstellt, die möglicherweise als das Resultat sozialer Deprivation in der Phase der Kindheit interpretiert werden können (Richter & Mielck 2006: 239). Außerdem verweisen die Autoren auf geschlechtsspezifische Unterschiede im Ausmaß der sozialen Ungleichheit der Gesundheit in der Adoleszenz. Zusammenfassend steigt im Kindes- und Jugendalter, mit Ausnahme von atopischen und allergischen Erkrankungen (Forastiere et al. 1997; Galobardes et al. 2015; Lampert & Richter 2009: 215), das Risiko für den Großteil der bislang untersuchten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit abfallendem sozioökonomischen Status der Eltern nahezu linear an, so dass bereits in dieser frühen Lebensphase ein ausgeprägtes soziales Gefälle in der Gesundheit auszumachen ist. 2.3.4 Erklärungsansätze für gesundheitliche Ungleichheit im Kindes- und Jugendalter „Die Erklärung der Zusammenhänge zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen muss an verschiedenen Stellen ansetzen, u.a. an der Einkommenssituation des Haushaltes, dem elterlichen Erziehungsstil, den Erfahrungen in der Gleichaltrigengruppe, den sozialen und personalen Ressourcen der Heranwachsenden und nicht zuletzt an ihren Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Deutungsschemata“ (Lampert & Richter 2009: 218). Das Zitat von Thomas Lampert und Matthias Richter (2009) verweist auf unterschiedliche Einflussfaktoren auf die Gesundheit der heranwachsenden Generation durch die sozioökonomische Stellung ihrer Herkunftsfamilien. Neben materiellen Ressourcen, die maßgeblich von der Einkommenssituation des Haushalts geprägt sind, werden auch immaterielle Ressourcen wie beispielsweise die Einbindung in soziale Netzwerke genannt, die einen gesundheitsrelevanten Einfluss auf Kinder und Jugendliche ausüben können. Darüber hinaus ist mit dem Verweis auf „Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Denkschemata“ (ebd.: 218) in Anlehnung an Bourdieu (1982) die Vorstellung eines gesundheitsbezogenen Habitus‘ angesprochen, der sich auf schichtspezifische Unterschiede in gesundheitsrelevanten habituellen, perzeptiven und interpretativen Dispositionen bezieht. Im Gegensatz zu ressourcentheoretischen Argumenten bezieht sich dieser Erklärungsansatz in erster Linie auf schichtspezifische Präferenzen, die in sozial

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

differenzierte Lebensstile münden.16 Die Erklärung durch Lebensstile eignet sich vornehmlich zur Erklärung sozialer Differenzierungen des Gesundheitsverhaltens. Die Entwicklung eines genuin kindheitstheoretischen Erklärungsmodells für gesundheitliche Ungleichheit steht derzeit noch aus.17 Die Erklärungsansätze zu gesundheitlicher Ungleichheit in frühen Lebensphasen sind bislang stark an Erklärungsmodelle zu gesundheitlicher Ungleichheit bei Erwachsenen angelehnt. Für Erwachsene gilt, dass soziale Ungleichheit mit Unterschieden in der Verfügbarkeit von materiellen Ressourcen, psychosozialen Belastungen und Bewältigungsressourcen sowie Unterschieden im Zugang zu Versorgungsleistungen verbunden ist. Diese Mechanismen, sowie durch an die soziale Position gekoppelte Wissensbestände, beeinflussen wiederum das Gesundheitsverhalten. Die empirische Studienlage verweist allerdings darauf, dass den Lebensbedingungen insgesamt die größere Bedeutung zukommt als Unterschieden im Gesundheitsverhalten (Mielck 2005). Das in Abbildung 4 dargestellte Modell von Elkeles und Mielck (1997) veranschaulicht die zentralen Wirkpfade zwischen sozialer Position und Gesundheit.18 Richter und Mielck (2006: 251) argumentieren, dass die in dem Modell dargestellten Grundannahmen auch auf frühere Lebensphasen übertragbar sind. Sicherlich lassen sich zwar nicht alle Mechanismen direkt auf die Phase der Kindheit übertragen; von einem Großteil der oben dargestellten Wirkmechanismen ist aber anzunehmen, dass sie alle Familienmitglieder betreffen, also auch Kinder. Das Modell soll daher den folgenden Ausführungen zur Grundlage dienen (vgl. Lampert & Richter 2009).

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Hierbei verweist Bourdieu aber darauf, dass Präferenzen und Handlungsdispositionen innerhalb der durch die Position im sozialen Raum festgelegten Möglichkeiten und Grenzen verlaufen. Insofern ist das Habituskonzept streng genommen nicht den ressourcentheoretischen Ansätzen entgegenzustellen. Die analytische Trennung ist dennoch dadurch gerechtfertigt, dass beide Ansätze bei der Konzeptualisierung der konkreten Wirkmechanismen von sozialer Position auf Gesundheit eine stark differierende Schwerpunktsetzung vornehmen. Ressourcentheoretische Ansätze postulieren darüber hinaus eine eindeutige Wirkrichtung von der Verfügbarkeit von Ressourcen auf die Gesundheit und das gesundheitsbezogene Verhalten, während das Habituskonzept explizit eine Wechselwirkung annimmt und berücksichtigt, dass in menschlichem Handeln materialisierte Präferenzen ihrerseits soziale Differenzierungen reproduzieren (Habitus als „strukturierende Struktur“ [Bourdieu 1982: 279]). Eine aktuelle Dissertationsarbeit von Irene Moor (2016) ist dem Thema „Trends und Mechanismen gesundheitlicher Ungleichheit im Kindes- und Jugendalter“ gewidmet. Jener Teil der publikationsbasierten Dissertation, welcher die Erklärungsansätze von gesundheitlicher Ungleichheit bearbeitet, fokussiert jedoch die Adoleszenz. Diese spezifische Lebensphase ist insbesondere mit Blick auf die lebensstil- und präferenzbegründeten Erklärungsmechanismen gesundheitlicher Ungleichheit nicht unmittelbar auf die Phase der Kindheit übertragbar. Auf den Wirkpfad, der von gesundheitlicher Ungleichheit zurück zu sozialer Ungleichheit verläuft, wird an anderer Stelle noch detaillierter eingegangen (Kapitel 2.4.1).

2.3 Gesundheitliche Ungleichheit

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Abbildung 4 Modell gesundheitlicher Ungleichheit nach Elkeles & Mielck (1997) In enger Anlehnung an Elkeles & Mielck (1997: 32); eigene leicht modifizierte Darstellung

Materielle Ressourcen. Eine entscheidende Determinante der Verfügbarkeit materieller Ressourcen ist das Haushaltseinkommen und -vermögen und damit der finanzielle Spielraum einer Familie. Eine materiell benachteiligte Lebenslage birgt das Risiko für einen Mangel an grundlegenden Gütern wie wetterfester Kleidung oder hochwertigen Nahrungsmitteln. Hierbei lässt sich ein unmittelbarer Bezug zu Gesundheit herstellen. Aber auch indirekte Effekte materieller Deprivation, beispielsweise hinsichtlich eines allgemeinen Erholungspotenzials durch regelmäßige Urlaubsreisen oder durch die Rückzugsmöglichkeit in ein eigenes Zimmer können gesundheitlich relevant sein. Mit Blick auf die Wohnsituation bilden nicht nur die Größe der Wohnung und die Zimmerzahl, sondern auch die Wohnumgebung potenzielle Einflussgrößen auf die Gesundheit: Liegt eine Belastung durch Zugluft, feuchte Wände, Schadstoffe oder Umweltbelastungen wie Abgasen vor? Gewährt die nähere Wohnumgebung Zugang zu Möglichkeiten zum Spielen und zu körperlicher Bewegung, beispielsweise Spielplätze, Bolzplätze oder Schwimmbäder (vgl. Holz 2005; Lampert & Richter 2009: 220 f.)? Neben der unmittelbar lebenspraktischen Relevanz der materiellen Situation argumentieren Lampert und Richter darüber hinaus auch mit dem „symbolische[n] Wert der

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

Teilhabechancen“ (Lampert & Richter 2009: 220). Kinder und Jugendliche erleben materielle Deprivation häufig als soziale Ausgrenzung, Zurücksetzung und Ungleichbehandlung, welche sich als psychosoziale Belastung auch in der mentalen und körperlichen Gesundheit niederschlagen können. Immaterielle Ressourcen. Inwieweit Differenzen in der materiellen Versorgung von Familien sich tatsächlich in den gesundheitsrelevanten Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern niederschlagen, hängt auch von der Verfügbarkeit immaterieller Ressourcen ab: So können beispielsweise Bildung und damit einhergehende Wissensbestände, kognitive Bewältigungsressourcen, unterstützende soziale Netzwerke und emotionale Stabilität mitunter knappe materielle Ressourcen kompensieren. Auch bei nicht vorhandener materieller Deprivation ist ein unabhängiger Einfluss immaterieller Ressourcen auf die Gesundheit empirisch gut belegt. So werden beispielsweise unter dem Begriff der „Health Literacy“ oder „Gesundheitskompetenz“ gesundheitlich relevante Wissensbestände zusammengefasst (vgl. Abel & Sommerhalder 2015). Health Literacy meint die Fähigkeit, gesundheitsrelevante Informationen zu erfassen, gesundheitsrelevantes Wissen zu erwerben, um auf dieser Basis letztlich das Gesundheitsverhalten steuern zu können. Health Literacy ist dabei nicht mit Gesundheitsverhalten an sich gleichzusetzen, wird aber als wichtige Voraussetzung hierfür angesehen. Es können die funktionale, die interaktionale und die kritische Form von Gesundheitskompetenz unterschieden werden (ebd. 923 f.). Funktionale Gesundheitskompetenz zielt auf die Fähigkeit ab, gesundheitsrelevante Informationen zu finden und ihre Inhalte so zu verstehen, wie aus Sicht von Expert/innen als medizinisch sinnvoll definiert. Mit interaktionaler Gesundheitskompetenz sind Fähigkeiten zum Austausch von Gesundheitswissensbeständen mit anderen Personen, beispielsweise innerhalb der Familie angesprochen. Für die Fragestellung innerhalb dieses Kapitels der vorliegenden Arbeit ist diese Form der Gesundheitskompetenz besonders relevant: Einerseits verweist sie auf die Relevanz der Wissensbestände der Eltern für auf ihre Kinder bezogene gesundheitsbezogene Verhaltensweisen (beispielsweise hinsichtlich gesundheitsriskanter Verhaltensweisen während der Schwangerschaft), andererseits impliziert sie aber auch eine intergenerationale Transmission von Gesundheitswissensbeständen, das heißt eine Weitergabe von gesundheitsrelevantem Wissen an die Kinder. Kritische Gesundheitskompetenz umfasst schließlich einen aufgeklärten und reflektierten Umgang mit Gesundheit.19 Die positiven Effekte von Gesundheitskompetenz konnten beispielsweise mit Blick auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten 19

Dass sich ein hohes Maß an kritischer Gesundheitskompetenz bei Eltern nicht zwingend als förderlich für die Gesundheit von Kindern erweisen muss, zeigt sich an der aktuellen „Impfdebatte“. Hierbei scheinen insbesondere hochgebildete Eltern die wissenschaftlich gut belegten gesundheitsförderlichen Auswirkungen von Standardimpfungen bei Kindern infrage zu stellen (Kriwy 2007).

2.3 Gesundheitliche Ungleichheit

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oder die Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen nachgewiesen werden (von Wagner et al. 2009; Zscheppang 2016: 63). Die empirische Befundlage zeigt übereinstimmend, dass Bildung ein zentraler Prädiktor für Gesundheitskompetenz ist und ein geringer formaler Bildungsabschluss tendenziell mit niedriger Gesundheitskompetenz einhergeht (Paasche-Orlow et al. 2005; van der Heide et al. 2013). Einerseits ist die Gesundheitskompetenz von Eltern für die Gesundheit ihrer Nachkommen relevant (DeWalt & Hink 2009; DeWalt et al. 2007; Sharif & Blank 2010; Vann et al. 2010). Andererseits liegen mittlerweile auch zur Gesundheitskompetenz von Kindern selbst Befunde vor (Okan et al. 2015). Hierbei zeigt sich eine intergenerationale Transmission von Gesundheitskompetenz, das heißt Eltern geben ihre Gesundheitskompetenz tendenziell an ihre Kinder weiter (Abrams et al. 2009). Zudem ist auch die Gesundheitskompetenz der Kinder selbst für ihren Gesundheitszustand, Gesundheitsverhalten und ihre Inanspruchnahme von Gesundheitsversorgung maßgeblich (DeWalt & Hink 2009). Schichtspezifische Unterschiede in der Gesundheitskompetenz von Eltern sowie von Kindern und Jugendlichen selbst könnten also einen Teil der gesundheitlichen Unterschiede in Kindheit und Adoleszenz erklären. Soziale Netzwerke innerhalb und außerhalb der Familie. Familiäre Netzwerke werden gemeinhin als Produzenten von Gesundheit verstanden (Brockmann 2013: 695). Intakte Familienstrukturen, die von unterstützenden Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern gekennzeichnet sind, sowie ein gutes Familienklima werden als förderlich für die mentale und körperliche Gesundheit der Familienmitglieder erachtet (Rattay et al. 2014a). Ein solcher Zusammenhang wäre insofern geeignet, die schichtspezifischen Unterschiede in den Gesundheitschancen (mit) zu erklären, als sich empirisch eine soziale Differenzierung der Familienformen beobachten lässt: So ist beispielsweise das Risiko für Kinder und Jugendlichen, mit einem alleinerziehenden Elternteil aufzuwachsen, in den unteren Sozialstatusgruppen deutlich höher als für Kinder aus Familien mit hohem sozioökonomischen Status; negative Zusammenhänge zwischen Einelternschaft und kindlicher Gesundheit zeigen beispielsweise Amato (2000; 2010) und Brockmann (2013). Auch belastende familiäre Konflikte, psychische und physische Gewaltanwendung und Misshandlung treten in den unteren Statusgruppen häufiger auf (Fergusson & Lynskey 1997; Eckenrode et al. 2014; Hussey et al. 2006; Whipple & WebsterStratton 1991) und befördern ihrerseits auch unabhängig von sozialen Herkunftseffekten gesundheitliche Beeinträchtigungen (Hussey et al. 2006; Romens et al. 2015). Sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene können soziale Netzwerke eine wichtige individuelle Ressource für Gesundheit darstellen. Der Einfluss individueller sozialer Netzwerke auf die Gesundheit findet in der soziologischen For-

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

schung unter dem Begriff des Sozialkapitals, und hierbei vor allem in der Auslegung als individuelle Ressource im Sinne Bourdieus (1983: 191 ff.), Beachtung (vgl. Siegrist et al. 2009). Susanne Hartung (2014) hat in ihrer Monografie zum Thema Sozialkapital und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen dargelegt, dass Sozialkapital gesundheitsrelevantes Ressourcengenerierungspotenzial birgt und dass sich Sozialkapitalprofile von Eltern nach sozioökonomischen Merkmalen unterscheiden. Die Ausstattung mit sozialem Kapital steigt tendenziell mit dem kulturellem, das heißt bildungsbezogenen, sowie ökonomischen Kapital. Matthias Richter (2005) hat das Gesundheitsverhalten von Jugendlichen untersucht und kommt zu dem Schluss, dass Gleichaltrigengruppen einen starken Einfluss auf gesundheitsförderliche aber auch riskante Verhaltensweisen ausüben. Insofern kann die soziale Differenzierung hinsichtlich familiärer und außerfamiliärer sozialer Netzwerke einen Beitrag zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit in Kindheit und Jugend leisten. Gesundheitsversorgung. Ein weiterer Erklärungsfaktor könnten schichtspezifische Unterschiede in der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen sein. Eltern aus höheren Sozialschichten nehmen für ihre Kinder beispielsweise häufiger Angebote der medizinischen Früherkennung in Anspruch (Langness 2007; Rattay et al. 2014b; Stich et al. 2009). Hinsichtlich der Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U920 lässt sich zeigen, dass Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus am häufigsten Lücken in der Inanspruchnahme der Untersuchungen aufweisen, wohingegen Kinder aus Familien mit hohem Sozialstatus die höchsten Raten einer vollständigen Inanspruchnahme aufweisen. Auch wenn die sozialen Unterschiede in der Inanspruchnahme insbesondere bei den späten U-Untersuchungen im Zeitverlauf etwas abgenommen haben (Rattay et al. 2014b: 889), bestehen weiterhin gravierende Disparitäten zuungunsten sozial schwächer gestellter Kinder. Medizinische Früherkennung ist keine Vorsorge in dem Sinne, dass die Entstehung von Krankheiten durch diese Untersuchungen verhindert werden können. Es aber können aber im Zuge dieser Untersuchungen etwaige Erkrankungen und Defekte frühzeitig erkannt werden, was mitunter zu besseren Behandlungsmöglichkeiten führt. Inwieweit soziale Unterschiede in medizinischen Früherkennungsleistungen eine Erklärung für soziale Ungleichheiten im Gesundheitszustand von Kindern und Jugendalter leisten, ist noch nicht explizit empirisch überprüft worden. Sie sollen an dieser Stelle trotzdem als mögliche Erklärung angeführt werden.

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Bei den so genannten U-Untersuchungen U1 bis U9 handelt es sich um Kinderfrüherkennungsuntersuchungen (§ 26 SGB V), im Rahmen derer sichergestellt werden soll, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen von Neugeborenen, Kleinkindern und Kindern möglichst frühzeitig erkannt werden. In den Bundesländern Brandenburg, Bremen, Hessen, RheinlandPfalz, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen gilt ein verbindliches Einlade- und Meldewesen zur Vorstellung zu den UUntersuchungen.

2.3 Gesundheitliche Ungleichheit

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Gesundheitsrelevante Lebensstile und gesundheitlicher Habitus. Auch soziologische Lebensstiltheorien können im Hinblick auf gesundheitsrelevante Lebensstile einen Beitrag zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit leisten. Durch seine Berücksichtigung einschränkender oder ermöglichender struktureller Faktoren auf der einen und „gestalterischen Leistungen der Individuen“ (Abel 1999: 48) auf der anderen Seite schlägt das Lebensstilkonzept eine Brücke zwischen soziologischen Struktur- und Handlungstheorien. Bereits Max Weber (1988 [1904]: 153) sieht in Lebensstilen als kollektive Phänomene einen zentralen Aspekt sozialer Differenzierung. Weber konzeptualisiert den Überbegriff Lebensstil im Hinblick auf die zwei Kerndimensionen Lebensführung (das handlungstheoretische Konstrukt individueller Orientierungen, Einstellungen und Verhaltensweisen) und Lebenschancen (das strukturtheoretische Konstrukt ermöglichender oder begrenzender Ressourcen). Ebenso verwendet Bourdieu (1982) das Konzept des Lebensstils mit Verweis auf die determinierenden sozialstrukturellen Einflüsse auf die Verhaltensweisen von Individuen, welche wiederum zur Reproduktion ebendieser Strukturen führen. In Bezug auf schichtspezifische Unterschiede in bildungsbezogenen Dispositionen wurde das Habituskonzept Bourdieus bereits eingeführt. In seiner Theorie der sozialen Praxis zeigt Bourdieu auf, dass Geschmäcker und Lebensstile eng an soziale Lagen gekoppelte Unterscheidungslinien hervorbringen. Bourdieu konzipiert damit den Zusammenhang zwischen der sozialen Position, den mit der sozialen Position verbundenen Lebenschancen und der Art und Weise von Individuen, die Welt wahrzunehmen und zu handeln. Das Konzept des Habitus stellt bei Bourdieu eine Verbindung zwischen Klassenstrukturen21 und Lebensstil her. Mit dem Habitus als Gesamtheit der „Wahrnehmungs, Denk- und Handlungsschemata“ (1982: 101) bezieht sich Bourdieu auf die unbewusste Verinnerlichung strukturell vorgegebener klassenspezifischer Grenzen, die sämtliche Praxis strukturiert. Der klassenspezifische Habitus findet seinen Ausdruck daher in klassenspezifischen Lebensstilen (Abel 1999: 47). Soziologische Theorien im Spannungsfeld von Struktur- und Handlungstheorie wurden in den letzten Jahrzehnten vermehrt von der Medizin- und Gesundheitssoziologie aufgegriffen, um der themenspezifischen Frage nach gesundheitsrelevanten Lebenssti21

Bourdieu konzipiert Klassen analog zu den in Kapitel 2.1 skizzierten Schichtmodellen und nicht in einer marxistischen Lesart. Seine Klassentheorie hat ihre Basis in seinem erweiterten Kapitalbegriff: Bourdieu unterscheidet ökonomisches, kulturelles, soziales (und symbolisches) Kapital, um die Stellung von Personen in der Gesellschaft zu bestimmen (Bourdieu 1983). Bourdieu nimmt einen Zusammenhang zwischen durch die unterschiedliche Verfügbarkeit dieser drei Kapitalien bedingten „äußeren“ Lebensbedingungen und „inneren“ Persönlichkeitsmerkmalen an.

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

len nachzugehen. Unter Bezugnahme auf Bourdieu wird in einigen neueren gesundheitssoziologischen Forschungsarbeiten das Konzept eines gesundheitsbezogenen Habitus diskutiert (Abel 1999; Angus et al. 2007; Gerhards & Rössel 2003; SinghManoux & Marmot 2005; Vester 2009). In seinem Werk Die feinen Unterschiede nimmt Bourdieu (1982) explizit Bezug auf eine Form des sozial differenzierten gesundheitsbezogenen Verhaltens, das Essen, und untersucht Einstellungen und Präferenzen, die Menschen gegenüber dem Essen einnehmen. Bourdieu unterscheidet zwischen einem Notwendigkeitsgeschmack („goût de nécessité“) und einem Luxusgeschmack („goût de luxe“), womit jeweils unterschiedliche Präferenzen für bestimmte Arten von Nahrungsmitteln, ihrer Zubereitung und Präsentation, sowie der Form ihrer Einnahme angesprochen sind (vgl. Gerhards & Rössel 2003: 18 f.). Während die Lebensführung der proletarischen und bäuerlichen Schichten eine Notwendigkeitsorientierung aufweist, ist der Geschmack der herrschenden Klassen durch eine Luxusorientierung geprägt (vgl. Krais & Gebauer 2002: 37). Der Notwendigkeitsorientierung entspricht, auch durch vermehrt schwere körperliche Arbeit bedingt, eine Präferenz für schwere, fettreiche Kost und eine höhere Relevanz der Quantität gegenüber der Qualität der Nahrungsmittel. Die Substanz des Essens selbst ist bedeutsamer als die Form des Essens, beispielsweise im Hinblick auf Geselligkeit, Arrangement der Mahlzeit oder Tischdekoration (Gerhards & Rössel 2003: 18 f.). Im Gegensatz dazu bevorzugt die Luxusorientierung leichte und feine Nahrungsmittel. Die Qualität des Essens selbst ist ebenso bedeutsam wie die Form des Essens, seine Zubereitung und das Arrangement der Mahlzeit (ebd.). So unterscheiden sich beide Orientierungen auch darin, wie gesundheitsförderlich der bevorzugte Ernährungsstil ist; die unterschiedlichen Präferenzen führen somit zu einer sozialen Differenzierung gesundheitsrelevanten Verhaltens. Bourdieus empirische Prüfung seiner Theorie der sozialen Praxis war an den kleinbürgerlichen und bürgerlichen Milieus der 1960er Jahre ausgerichtet. Aber auch neuere Arbeiten finden Hinweise auf schichtspezifische Präferenzen in gesundheitsbezogenen Einstellungen und Verhaltensweisen (Case & Paxson 2002). Zusammenfassend ist anzunehmen, dass gesundheitliche Ungleichheit von Kindern mit Unterschieden in der Verfügbarkeit materieller und immaterieller Ressourcen, psychosozialen Belastungen und Bewältigungsstrategien, im Zugang zu medizinischer Versorgung, sowie in gesundheitsbezogenen Verhaltensgewohnheiten und Lebensstile erklärt werden kann.22

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Damit geht ausdrücklich nicht die Annahme einher, dass sämtliche für die Entstehung von Gesundheit und Krankheit relevante Aspekte in sozialer Ungleichheit begründet liegen. Für die Entstehung vieler Erkrankungen gibt es auch rein biomedizinische Gründe, beispielsweise genetische Dispositionen, die nicht aus sozialen Strukturen heraus entstehen. Gesundheitliche

2.4 Soziale Herkunft, Gesundheit und Bildungserfolg

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An dieser Stelle muss jedoch auch kritisch angemerkt werden, dass die meisten dieser potenziellen Erklärungsmechanismen an Modelle zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit bei Erwachsenen entlehnt sind (beispielsweise nach Elkeles & Mileck 1997; Cockerham et al. 2006). Für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit im Kindesund Jugendalter fehlt es nach wie vor an genuin an der spezifischen Phase der Kindheit und Adoleszenz ausgerichteten theoretischen Ansätzen. Die meisten der angeführten Wirkpfade werden für Kinder und Erwachsene gleichermaßen postuliert, wobei einerseits eine unmittelbare Übertragbarkeit der durch die Lebensbedingungen vermittelten gesundheitlichen Vor- und Nachteile von Erwachsenen auf Kinder und Jugendliche, sowie andererseits eine sozialisationsbedingte Weitergabe von Ressourcen, Wissensbeständen und Handlungsmustern von einer Generation an die nächste unterstellt wird. Diese Annahme ist letztlich eine empirisch zu klärende Frage, die im Rahmen dieser Arbeit nicht beantwortet werden kann. 2.4 Soziale Herkunft, Gesundheit und Bildungserfolg Die vorausgegangenen Kapitel haben gezeigt, dass die Phase der Kindheit durch zwei zentrale Dimensionen von Ungleichheit geprägt ist: Kinder unterscheiden sich in Abhängigkeit von ihrer sozialen Herkunft in ihren Chancen auf eine erfolgreiche Bildungslaufbahn sowie auf ein Aufwachsen in guter Gesundheit. Diese beiden Dimensionen früher sozialer Ungleichheit wurden in der ungleichheitsbezogenen soziologischen Forschung bislang weitestgehend getrennt voneinander betrachtet. Dabei ist die Frage, ob und auf welche Weise Gesundheit und Bildungserfolg miteinander zusammenhängen, angesichts der sehr ähnlichen Muster ihrer sozialen Strukturiertheit durchaus naheliegend. Die soziologische Bildungsforschung hat bislang kaum auf Gesundheit als mögliche bildungsrelevante Ressource verwiesen; das Potenzial gesundheitlicher Ungleichheit, die empirisch gut belegten sozialen Herkunftseffekte zum Teil zu vermitteln oder sogar noch zu verstärken, wurde bislang nicht systematisch untersucht. Die Medizin- und Gesundheitssoziologie hat die Institution Schule zwar als einen für die Produktion und Erhaltung von Gesundheit relevanten Lebensbereich erkannt. Empirische Studien in diesem Feld haben bislang aber hauptsächlich Effekte verschiedener Schulumwelten oder schulbezogenen Wohlbefindens auf die Gesundheit untersucht. Gesundheitliche Selektionsmechanismen im Bildungsverlauf als Determinante sozialer Mobilitätschancen, und damit als möglicher Erklärungsfaktor für gesundheitliche Ungleichheit in späteren Lebensphasen, wurde hingegen bislang kaum systematisch analysiert. Ungleichheit bezieht sich auf systematische, regelmäßige und überindividuelle gesundheitliche Unterschiede zwischen sozialen Gruppen.

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

Beides mag darin begründet liegen, dass lange Zeit keine geeigneten Daten vorlagen, mit denen sowohl bildungs- als auch gesundheitsbezogene Indikatoren angemessen berücksichtigt werden konnten. Mit der Zunahme an, auch längsschnittlich angelegten, Studien in der Bildungsforschung und in der Sozialberichterstattung in den letzten Jahren haben sich die Bedingungen für die wissenschaftliche Auswertung von bildungsund gesundheitsbezogenen Fragestellungen bei Kindern und Jugendlichen jedoch entscheidend verbessert. Hinsichtlich der engen Kopplung von Gesundheit und Bildungserfolg mit der sozialen Herkunft erscheint eine integrative Perspektive durchaus vielversprechend für beide Disziplinen: Für die Bildungsforschung stellt sie neue Erkenntnisse über einen weiteren möglichen Wirkpfad in Aussicht, durch den die sozioökonomische Stellung der Eltern die Bildungschancen von Schüler/innen beeinflusst. Auch für die Gesundheitsund Medizinsoziologie ist die Frage nach bildungsrelevanten gesundheitlichen Ungleichheiten relevant, kommt sie doch der Forderung nach, das Zusammenspiel von sozialer Verursachung und gesundheitlicher Selektion für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit zu berücksichtigen. Im folgenden Abschnitt soll die Debatte um soziale Verursachung und gesundheitliche Selektion kurz aufgegriffen werden. Hierbei wird die Notwendigkeit der Differenzierung der generationalen Strukturebenen von sozialer Verursachung und gesundheitlicher Selektion herausgearbeitet, die ein erstes wichtiges Element der theoretischen Rahmung der vorliegenden Arbeit darstellt. 2.4.1 Annahmen zum Zusammenhang zwischen sozialer Position und Gesundheit bei Erwachsenen Der wissenschaftliche Diskurs über mögliche Erklärungsansätze zum Zusammenhang von Bildung und Gesundheit hat sich lange Zeit auf das Erwachsenenalter beschränkt. Mit dem Modell nach Elkeles und Mielck (1997), das Bildung in Form von Wissensbeständen als erklärende Variable für Gesundheit enthält, wurde in Kapitel 2.3.4 bereits ein Erklärungsmodell dargestellt (siehe Seite 34). Bereits in dem viel beachteten Black Report aus Großbritannien in den 1980er Jahren (Black 1980), welcher für die britische Gesellschaft gravierende gesundheitliche Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen23 feststellte, wurden drei24 mögliche Erklärungsansätze für die gefundenen Ungleichheiten herausgearbeitet. Diese Ansätze sind immer noch aktuell, was sich daran zeigt, dass auch in aktuellen Publika23 24

Hierzu wurden allerdings nicht Bildungs- sondern Berufsgruppen miteinander verglichen. Daneben wurde als vierte mögliche Erklärung auch ein potenzielles statistisches Artefakt diskutiert, was die Autoren allerdings weitestgehend ausschließen konnten, da die Zusammenhänge zu deutlich und dabei nicht auf Messfehler zurückführbar waren (Blane 1985: 425).

2.4 Soziale Herkunft, Gesundheit und Bildungserfolg

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tionen zu gesundheitlicher Ungleichheit nach wie vor auf sie rekurriert wird (Helmert & Schorb 2009; Marmot 2017; Mielck 1993; Richter & Hurrelmann 2009). Bildung gilt hierbei als wichtiges Bestimmungsmaß für die soziale Position von Individuen. Auch wenn der Black Report Unterschiede zwischen verschiedenen Arbeiterklassen herausgearbeitet hat, finden die folgenden Hypothesen auf alle Komponenten des sozioökonomischen Status Anwendung (neben dem Berufsstatus also auch auf Einkommen und Bildung): (1) Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozioökonomischer Lage könnte erstens durch eine oder mehrere unbeobachtete Drittvariablen verursacht sein. Demzufolge wäre der Zusammenhang zwischen der sozialen Position und dem Gesundheitszustand keiner kausaler Zusammenhang, sondern es läge eine so genannte Scheinkorrelation vor. (2) Die Hypothese der sozialen Verursachung postuliert hingegen einen kausalen Zusammenhang zwischen sozialer Position und Gesundheit. Sie geht davon aus, dass der sozioökonomische Status, im weitesten Sinne vermittelt über Unterschiede in der Verfügbarkeit materieller und immaterieller Ressourcen sowie unterschiedliche Belastungen (beispielsweise im Erwerbsleben), den Gesundheitszustand beeinflusst. (3) Auch die Hypothese gesundheitlicher Selektion geht von einem kausalen Zusammenhang aus, allerdings in umgekehrter Wirkrichtung: Hierbei wird angenommen, dass sich gesunde Personen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit in hohe soziale Positionen selektieren können als kranke Personen. Gesundheit stellt in diesem Ansatz eine Ressource für soziale Mobilität dar. Krankheit hingegen ist bei der strukturellen Platzierung hinderlich und kann auch nachträglich zu sozialem Abstieg führen (beispielsweise im Fall von Arbeitsunfähigkeit). Douglas Black kam damals zu dem Schluss, dass für die Erklärung des engen Zusammenhangs zwischen Erwerbsklasse und Morbidität sowie Mortalität dem Prinzip der sozialen Verursachung eine weitaus größere Bedeutung zukommt als gesundheitlichen Selektionsprozessen; diese Annahme wurde durch weitere Studien untermauert (Deaton 2002; Power & Matthews 1997; Smith et al. 1998). In einem wissenschaftlichen Kommentar zum Black Report aus dem Jahr 1985 kommt auch David Blane zu diesem Fazit. Blane begründet die Dominanz der These der sozialen Verursachung damit, dass in gesamtgesellschaftlicher Betrachtung gesundheitliche Beeinträchtigungen erst in späteren Lebensphasen gehäuft aufträten. Zu diesem Zeitpunkt sei der Prozess der sozialen Platzierung bereits abgeschlossen, so dass gesundheitliche Selektion insgesamt keine großen Auswirkungen auf soziale Mobilitätsprozesse habe könne (Blane 1985: 426 ff.). Blane nennt allerdings auch explizit Ausnahmen, die er mit em-

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

pirischen Befunden aus anderen Studien untermauert. Er identifiziert zwei Zeitabschnitte im Lebensverlauf, die Raum für gesundheitliche Selektion eröffnen: Zum einen nennt Blane die spätere Erwerbsphase, in der Personen aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen zu einem beruflichen Abstieg gezwungen werden oder ihren Arbeitsplatz ganz verlieren können. Zweitens nennt Blane die Möglichkeit gesundheitlicher Selektion in der Lebensphase der Kindheit (Blane 1985: 429). Er stellt die Hypothese auf, dass sich gesundheitliche Beeinträchtigungen negativ auf die Bildungsverläufe von Kindern auswirken könnten. Die Hauptfrage der vorliegenden Untersuchung wurde also bereits im Anschluss an den Black Report Mitte der 1980er Jahre aufgeworfen. Warum wurde sie damals nicht weiterverfolgt? Das Verständnis von gesundheitlicher Ungleichheit als das Ergebnis sozialer Verursachung hat sich seit Veröffentlichung des Black Reports in einer gewissen Einseitigkeit in der gesundheitssoziologischen Forschung etabliert. Die große Mehrheit der Studien zu dem Thema geht nach wie vor von einer mehr oder weniger einseitigen Kausalrichtung aus, indem sie einen Effekt der sozialen Position auf den Gesundheitszustand, das Gesundheitsverhalten und die Inanspruchnahme gesundheitlicher Versorgungsangebote postuliert. Die Selektionshypothese wurde und wird in der Debatte häufig nur als alternative Erklärung thematisiert und insbesondere in den statistischen Analysen kaum berücksichtigt. Studien aus Perspektive der gesundheitlichen Selektionshypothese sind vergleichsweise selten, betonen aber übereinstimmend die Relevanz der Selektionshypothese für die Erklärung des Phänomens der gesundheitlichen Ungleichheit (vgl. Chandola et al. 2003, 2006; Joung et al. 2003; Lundberg 1991; Mastekaasa 1996; Stern 1983; West 1991). Die relativ junge Forderung nach einer Lebenslaufperspektive auf gesundheitliche Ungleichheit nimmt das Potenzial gesundheitlicher Selektion für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit wieder stärker in den Blick (Dragano & Siegrist 2009). Die Vertreter/innen dieses Ansatzes fordern ein lebenslaufbezogenes Verständnis des Phänomens der gesundheitlichen Ungleichheit, das auch die wechselseitige Beeinflussung von sozialer Position und Gesundheit in den verschiedenen Lebensphasen berücksichtigt. So können Prozesse sozialer Verursachung und gesundheitlicher Selektion im Lebenslauf verzahnt auftreten und sich über die Biographie hinweg gegenseitig verstärken.25 Diese inhaltlich gut begründete Forderung geht allerdings mit einer hohen Komplexität ihrer empirischen Überprüfung einher, die bislang noch aussteht.

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An einem Beispiel soll diese Verzahnung skizziert werden: Eine werdende Mutter aus sozial schwachen Verhältnissen hat während ihrer Schwangerschaft nicht ausreichend Zugang zu vitaminreicher Nahrung. Der Fötus erleidet in einem kritischen Zeitfenster seiner Entwicklung durch diese Unterversorgung einen Mangel an wichtigen Nährstoffen. Der Säugling ist nach der Geburt körperlich geschwächt und hat über die gesamte Kindheit hinweg mit einem

2.4 Soziale Herkunft, Gesundheit und Bildungserfolg

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Die vorliegende Arbeit soll auch im Sinne dieser Perspektive einen Beitrag leisten, indem sie gesundheitliche Ungleichheit sowohl hinsichtlich ihrer sozialen Verursachung, als auch mit Blick auf ihre Folgen in Form von gesundheitlicher Selektion für Prozesse sozialer Mobilität begreift und beide Mechanismen an einer frühen Schnittstelle im Prozess der strukturellen Platzierung, nämlich beim Bildungserwerb von Grundschulkindern, untersucht. 2.4.2 Strukturebenen sozialer Verursachung und gesundheitlicher Selektion Bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft, Gesundheit und Bildungserfolg bei Kindern ist es notwendig, die verschiedenen Strukturebenen zu differenzieren, auf denen sich Prozesse von sozialer Verursachung und gesundheitlicher Selektion abspielen können. Es ist hierfür auf der einen Seite die intergenerationale Strukturebene zwischen Eltern und Kindern relevant, sowie auf der anderen Seite die Ebene des Kindes selbst (siehe Abbildung 5). Für die Erwachsenpopulation wird ein Einfluss von Bildung auf Gesundheit hauptsächlich auf die unterschiedliche Verfügbarkeit von materiellen und immateriellen Ressourcen zurückgeführt, welche mit unterschiedlichen formalen Bildungsabschlüssen in Zusammenhang stehen und die Gesundheitschancen grundlegend beeinflussen: Unterschiede in Wissensbeständen, beruflichen Belastungen und Gratifikationen, Einkommen und Vermögen oder sozialen Netzwerkressourcen, sind dabei beispielhaft als wichtige Ressourcen zu nennen. Bildung beeinflusst die Lebensbedingungen im Sinne einer Besser- oder Schlechterstellung auch hinsichtlich gesundheitlich relevanter Aspekte. Entsprechend plausibel ist die Annahme eines kausalen Effekts des Bildungsniveaus auf die Gesundheit bei Erwachsenen. In der frühen Lebensphase von Kindheit und Jugend ist hingegen zu beachten, dass Kinder im Gegensatz zu Erwachsenen noch keine eigene abgeschlossene Bildungslaufbahn haben, sondern gerade erst dabei sind ihre eigene Bildungskarriere, und damit ihren zukünftigen sozialen Status, aufzubauen. Mit Bildungserfolg oder misserfolg in Kindheit und Jugend sind entsprechend noch nicht in dem Maße Lebenschancen in ebendieser Lebensphase verbunden – zumindest nicht über den sozialen Herkunftseffekt hinaus. Auf Ebene des Kindes sind für die Frage nach einem Effekt schwachen Immunsystem zu kämpfen, was immer wieder zu längeren Krankheitsphasen führt, die für das Zurechtkommen mit den schulischen Anforderungen hinderlich sind. Im Ergebnis erzielt das Kind einen vergleichsweise niedrigen Bildungsabschluss und ergreift einen manuellen Beruf, in dem hohe körperliche Belastungen einer geringen Entlohnung gegenüberstehen. Unter den hohen physischen Anforderungen und der psychosozialen Belastung durch finanzielle Sorgen leidet der Gesundheitszustand der mittlerweile erwachsenen Person in der mittleren Lebensphase. Einer solch wechselseitigen Beeinflussung von sozialer Verursachungs- und gesundheitlichen Selektionsprozessen soll in der Lebenslaufperspektive Rechnung getragen werden, um ein tieferes Verständnis von den gesellschaftlichen und individuellen Entstehungsmechanismen gesundheitlicher Ungleichheit zu erlangen.

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

von Bildung auf Gesundheit nur jene bildungsbedingten Faktoren relevant, die während des Prozesses des Bildungserwerbs potenziell einen Einfluss auf den Gesundheitszustand oder das Gesundheitsverhalten von Schüler/innen ausüben können. Entsprechend muss zwischen intergenerationalen Prozessen und solchen, die sich auf der Ebene einer einzigen Generation abspielen, differenziert werden.

Abbildung 5 Generationale Strukturebenen sozialer Verursachung und gesundheit-licher Selektion Quelle: Eigene Darstellung

In der vorliegenden Arbeit wird die These der sozialen Verursachung in intergenerationaler Perspektive vertreten: Die Bedeutung der sozialen Position der Eltern für die Produktion der Gesundheit ihrer Nachkommen wird explizit berücksichtigt und theoretisch modelliert. Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen dürfte, neben Unterschieden in genetischen Dispositionen, vor allem das Ergebnis intergenerationaler sozialer Verursachungsprozesse sein; verschiedene Mechanismen zur theoretischen Erklärung dieser Zusammenhänge, die für Erwachsene wie für ihre Kinder gleichermaßen relevant sein sollten, wurden in Kapitel 2.3.3 bereits diskutiert. Eltern mit einem hohen sozioökonomischen Status verfügen tendenziell über mehr materielle und immaterielle Ressourcen, die in die Gesundheit der Familienmitglieder investiert werden können. Sie bewohnen mit ihren Familien gesundheitsförderlichere Wohnquartiere und leben ihren Kindern häufig einen gesünderen Lebensstil vor als Eltern mit einem niedrigen sozioökonomischen Status.26

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Sicherlich ist bei der Erklärung des Zusammenhangs zwischen elterlichem SES und kindlicher Gesundheit zu einem gewissen Teil auch von gesundheitlicher Selektion auszugehen. Wenn Eltern beispielsweise bewusst beruflich zurücktreten um ein chronisch krankes Kind zu versorgen und damit einen „sozialen Abstieg“ in Kauf nehmen, wäre die chronische Krankheit nicht sozial verursacht, sondern der soziale Abstieg krankheitsbedingt. In der vorliegenden Arbeit wird allerdings die These vertreten, dass intergenerationale soziale Verursachungsprozesse für diesen Zusammenhang insgesamt die größere Rolle spielen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich gesundheitsbezogene Chancen und Risiken von Kindern und Jugendli-

2.4 Soziale Herkunft, Gesundheit und Bildungserfolg

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Die vorliegende Arbeit nimmt aber auch explizit die Frage nach gesundheitlicher Selektion in den Blick, indem sie nach bildungsrelevanten Auswirkungen von gesundheitlichen Unterschieden im Prozess der sozialen Platzierung fragt. Dieser Zusammenhang findet auf der Ebene des Kindes statt, wobei zunächst die Frage zu klären ist, ob ein solcher Effekt unter Kontrolle der sozialen Herkunft überhaupt nachweisbar ist. Theoretisch begründet wird die Annahme gesundheitlicher Selektionsprozesse auf Ebene des Kindes damit, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen die Chancen auf einen erfolgreichen Bildungsverlauf vermindern können und dass Gesundheit damit eine Ressource für sozialen Statuserhalt und für soziale Aufwärtsmobilität darstellt. Da der Bildungserwerb als zentraler Faktor im Prozess der strukturellen Platzierung gilt (Solga & Dombrowski 2009: 7), ist diese Frage für die zuvor angesprochene Lebenslaufperspektive von gesundheitlicher Ungleichheit von hoher Relevanz. 2.4.3 Theoretische Annahmen zum Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg bei Kindern Analog zur Erwachsenenpopulation kann auf der Ebene des Kindes der Zusammenhang von Gesundheit und Bildungserfolg grundsätzlich über drei Wirkrichtungen erklärt werden (vgl. Dadaczynski 2012): (1) Eine oder mehrere Drittvariablen beeinflussen Gesundheit und Bildungserfolg simultan, so dass sich der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg beziehungsweise -misserfolg als Scheinkorrelation darstellt. (2) Bildungserfolg beziehungsweise -misserfolg beeinflussen den Gesundheitszustand (bildungsbedingte Verursachung).27 (3) Der Gesundheitszustand beeinflusst Bildungserfolg beziehungsweise misserfolg (gesundheitliche Selektion). 2.4.3.1 Einfluss von Drittvariablen Die erste Hypothese postuliert, dass der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg eine Scheinkorrelation ist, die durch die simultane Beeinflussung durch eine oder mehrere Drittvariablen verursacht wird. Beispielsweise könnte dies die sozi-

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chen auch entlang zeitstabiler Indikatoren der sozialen Position, wie beispielsweise der elterlichen Bildung differenzieren. Da sich ein einmal erreichter formaler elterlicher Bildungsgrad nicht „nachträglich“ durch eine Erkrankung eines Kindes verändert, kann davon ausgegangen werden, dass die Kausalität hierbei in erster Linie von elterlicher sozioökonomischer Position zu kindlicher Gesundheit hin verläuft und nicht umgekehrt. Im Folgenden werden Prozesse der intergenerationalen sozialen Verursachung (das heißt Effekte der sozialen Position der Eltern auf die Gesundheitschancen ihrer Kinder) konzeptionell von möglichen intrapersonellen Effekten von Bildungserfolg und -misserfolg auf die Gesundheit auf der Ebene der Kinder selbst differenziert. Letztere sind im Folgenden mit bildungsbedingter Verursachung angesprochen. Bildungsbedingte Verursachungsprozesse beziehen sich auf von sozialen Herkunftseffekten unabhängige, beziehungsweise bereinigte Effekte des Bildungserfolgs und -misserfolgs eines Kindes auf seinen Gesundheitszustand.

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

ale Herkunft sein, die weiter oben bereits in Bezug auf die intergenerationale soziale Verursachung von Ungleichheiten in Gesundheits- und Bildungschancen thematisiert wurde. Aufgrund dieses bereits hinreichend etablierten Wirkmechanismus‘ nimmt die soziale Herkunft für die Analyse des Zusammenhangs zwischen Bildung und Gesundheit auf Ebene des Kindes den Stellenwert einer möglichen konfundierenden Variable ein, die es daher zu kontrollieren gilt: Für den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg auf Ebene des Kindes interessiert im Folgenden zunächst der Nettozusammenhang, das heißt, der um den sozialen Herkunftseffekt bereinigte Zusammenhang.28 2.4.3.2 Die Hypothese bildungsbedingter Verursachung gesundheitlicher Unterschiede Die Hypothese bildungsbedingten Verursachung nimmt hingegen einen kausalen Zusammenhang an und postuliert einen Effekt von Bildung auf Gesundheit. Hierfür gibt es im Wesentlichen zwei Erklärungslinien: (i) Effekte von schulischem Erfolgs- und Misserfolgserlebnissen auf Gesundheit, sowie (ii) indirekte Effekte der Schulform auf die Gesundheitsverhalten. Im Folgenden werden die hierbei angenommenen Mechanismen kurz dargestellt. Es wird jedoch zu zeigen sein, dass im Gegensatz zur Erwachsenenpopulation kaum von einer mehr oder weniger einseitig bildungsbedingten Verursachungshypothese ausgegangen werden kann, sondern dass in dieser frühen Lebensphase die Hypothese gesundheitlicher Selektion mindestens ebenso plausibel ist. Bildungsmisserfolg als psychosoziale Belastung Das erste Argument bezieht sich auf einen direkten Effekt von schulischem Misserfolg auf die Gesundheit der Schüler/innen. Psychische Belastungen im Falle von schulischen Problemen könnten sich beispielsweise negativ auf das Wohlbefinden auswirken und körperliche Beschwerden hervorrufen. Roeser et al. (1998) argumentieren, dass Bildungsmisserfolg mit negativen Gefühlszuständen einhergehen kann, beispielsweise mit Angst, Hoffnungslosigkeit und Frustration, was den Autoren zufolge die Genese psychischer Probleme begünstigt. Doch auch die physische Gesundheit könnte unter schulischen Problemen leiden. In seiner Monografie „Wenn Schule krank macht“ zeigt der Psychoanalytiker Kurt Singer (2000) anhand von Einzelfallstudien auf, wie sich belastende Erfahrungen im Kontext Schule im körperlichen Wohlbefinden von Kindern niederschlagen. Singer berichtet unter anderem von abdominalen Schmerzen, Magenschleimhautentzündungen, Kopfschmerzen und Schlafstörungen als Folge von Stresserleben durch schulische An- beziehungsweise Überforderungen.

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Weitere konfundierenden Drittvariablen, die in der Literatur diskutiert werden sind beispielsweise genetische Dispositionen, die sowohl Gesundheit als auch Bildung negativ beeinflussen können. Diesen wird implizit durch die Paneldaten-Modellierung in Kapitel 5.2 Rechnung getragen.

2.4 Soziale Herkunft, Gesundheit und Bildungserfolg

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Unter der Annahme, dass schulischer Misserfolg Distress, also negativen Stress, auslösen kann, sind im Sinne der Verursachungshypothese auch Befunde aus der Stressforschung relevant. Die gesundheitsschädigende Wirkung insbesondere von andauerndem Distress gilt zumindest für Erwachsene als gesichert (für berufliche Belastungen siehe Karasek & Theorell 1999; Siegrist 1996). Auch im Kontext Schule finden sich Hinweise für einen beeinträchtigenden Effekt von Stress auf die Gesundheit (zusammenfassend Bilz 2008; Buddeberg-Fischer et al. 1997; Dür 2008; Nordlohe et al. 1989; Seiffge-Krenke 2006, S. 80 ff.). Lohaus et al. (2004) zeigen beispielsweise in einer Untersuchung mit knapp 1.700 Kindern und Jugendlichen der Klassenstufen 5 bis 10, dass positive Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß des Stresserlebens und selbst berichteten physischen und psychischen Beschwerden bestehen, die mit steigendem Alter zunehmen. Für schwedische Jugendliche zwischen zehn und 18 Jahren berichten Hjern et al. (2008), dass schulbezogene Stressoren wie Druck durch Hausaufgaben oder Schikane durch Mitschüler/innen und Lehrkräfte mit psychosomatischen Beschwerden einhergehen. Vergleichbare Befunde liegen aus Skandinavien vor (Murberg & Bru 2004; Torsheim und Wold 2001a, 2001b; Torsheim et al. 2003). Låftman und Modin (2012) untersuchen schulbezogenes Stresserleben und gesundheitliche Beschwerden bei schwedischen Jugendlichen der Jahrgangsstufe 9 und finden einen etwas stärkeren Zusammenhang für Mädchen. Auch in der medizinischen Praxis wird eine Zunahme körperlicher Beschwerden durch schulische Belastungen thematisiert (Schmid 2014). Die dargelegten Annahmen und Befunde könnten als Hinweise auf einen Effekt des Bildungs(miss)erfolgs auf den Gesundheitszustand von Schüler/innen interpretiert werden, der über psychosoziale Belastungen durch schulischen Misserfolg vermittelt wird. Zu beachten ist hierbei allerdings, dass die berichteten Ergebnisse lediglich Korrelationen darstellen, welche seitens der Autor/innen im Sinne der bildungsbedingten Verursachungshypothese interpretiert werden. Die Befunde wären auch im Sinne der gesundheitlichen Selektionshypothese interpretierbar, wenn man davon ausgeht, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen die schulische Leistungsfähigkeit vermindern und der daraus resultierende schulische Misserfolg schulbezogenen Distress begünstigt. Zweifel an der These der einseitigen bildungsbedingten Verursachung wirft zudem die Frage auf, ob es wirklich plausibel ist anzunehmen, dass sich psychische Belastungen derart schnell in manifeste gesundheitliche Beeinträchtigungen übersetzen. Für ältere Schüler/innen, die bereits über einen längeren Zeitraum schulischem Stress ausgesetzt sind, ist die Annahme gesundheitlicher Beeinträchtigungen als Folge von psychosozialen Belastungen, die mit einer gewissen Chronizität über den Verlauf der Bildungskarriere präsent waren, plausibel. Für die in der vorliegenden Arbeit untersuchte Popula-

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

tion der Grundschulkinder, die schulischem Stress erst wenige Jahre ausgesetzt gewesen sein konnten, muss jedoch kritisch hinterfragt werden, ob die Annahme eines kausalen Effekts von schulischen Belastungen auf die Gesundheit plausibel ist. Es liegen darüber hinaus empirische Befunde vor, die einen direkten Effekt von schulischem Stress auf die Gesundheit auch für Jugendliche infrage stellen: So zeigen Rathmann et al. (2016) mit Daten der HBSC-Studie, dass die durchschnittliche subjektiv empfundene schulische Belastung systematisch nach Schulform variiert: Schüler/innen an Gymnasien und an Hauptschulen fühlen sich insgesamt am häufigsten durch schulische Anforderungen belastet. Die Tatsache, dass Gymnasiast/innen in Bezug auf schulischen Stress zur negativen „Spitzengruppe“ gehören, gleichzeitig aber die gesündeste Gruppe darstellen (Bohn et al. 2010; Heilmann et al. 2017), wirft die Frage auf, inwieweit schulischer Stress tatsächlich einen direkten negativen Einfluss auf die Gesundheit haben. Gesundheitsrelevante Effekte differenzieller Schulumwelten an unterschiedlichen Schulformen Als weiterer, indirekter Wirkmechanismus im Sinne der bildungsbedingten Verursachungshypothese können Peergruppeneffekte an unterschiedlichen Schulformen angeführt werden. Soziale Netzwerke, beispielsweise in Form von Mitschüler/innen, haben einen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten von jungen Menschen (Bohn & Richter 2012; Klocke 2004). Bekannt ist weiterhin, dass Kinder und Jugendliche aus den oberen Sozialschichten insgesamt weniger gesundheitsriskante Verhaltensweise an den Tag legen und sich insgesamt in stärkerem Maße gesundheitsbewusst verhalten als Kinder der unteren Sozialschichten29 (Kuntz & Lampert 2013). Die leistungsbezogene Selektion im Bildungssystem bringt durch die Korrelation von Leistung und sozialer Herkunft immer auch eine soziale Selektion an den unterschiedlichen Schulformen mit sich (Baumert et al. 2006: 95). Während die soziale Komposition an Hauptschulen von einer hohen Konzentration von Schüler/innen aus den unteren Sozialschichten gekennzeichnet ist, finden sich an Gymnasien überproportional viele Schüler/innen aus den höheren Sozialschichten (siehe Kapitel 2.2.3). Benjamin Kuntz (2011) sieht in diesem Zusammenhang auch eine Relevanz für die Gesundheit der Schüler/innen. Er argumentiert, dass die soziale Selektion auf verschiedene Schulformen mit einer Zusammensetzung der Schulmilieus und Peergruppen einhergeht, die unterschiedlich gesundheitsförderlich oder gesundheitsriskant agieren. Die verschiedenen Schulformen liefern damit systematisch unterschiedliche gesundheitsrelevante Erfahrungsräume für Schüler/innen. Kinder, die aufgrund guter schulischer Leistungen ein Gymnasium besuchen, treffen an dieser Schule auf eine überdurchschnittlich günstig sozial selektierte 29

Eine Ausnahme ist der Alkoholkonsum, der einen inversen sozialen Gradienten aufweist, das heißt, bei Jugendlichen aus den oberen Sozialschichten häufiger vorkommt (Richter 2005: 95).

2.4 Soziale Herkunft, Gesundheit und Bildungserfolg

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Mitschüler/innenschaft, die sich in stärkerem Maße gesundheitsbewusst verhält als die entsprechende Peergroup an einer Hauptschule. Kuntz (2011) findet Effekte der Schulform auf das Gesundheitsverhalten: Er zeigt, dass die Schulform einen eigenständigen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten von Jugendlichen hat, der den Effekt der sozialen Herkunft auf das Gesundheitsverhalten überlagert: Kinder aus sozial schwachen Familien, die ein Gymnasium besuchen, weisen ein positiveres Gesundheitsverhalten auf als Kinder vergleichbarer Herkunft an anderen Schulformen. Kuntz (2011) kommt zu dem Fazit „Bildung schlägt soziale Herkunft“: Eine erfolgreiche individuelle Bildungsbeteiligung von Jugendlichen kann den Effekt vergleichsweise ungünstiger Bedingungen der sozialen Herkunft auf das Gesundheitsverhalten kompensieren. Dieser Befund könnte als ein Indiz dafür gewertet werden, dass Bildungserfolg die Gesundheit von Schüler/innen positiv beeinflusst. An dieser Interpretation der Befunde lassen sich zwei Einwände anbringen: Da es sich erstens um eine Querschnittsuntersuchung handelt, kann Endogeneität nicht ausgeschlossen werden. Unbeobachtete Faktoren, die einen simultanen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten und die Bildungsbeteiligung ausüben (beispielsweise eine hohe Motivation oder Aspiration der Jugendlichen), können somit nicht kontrolliert werden, so dass offenbleibt, ob es tatsächlich einen kausalen Effekt der Schulform auf das Gesundheitsverhalten gibt. Möglicherweise unterscheiden sich beispielsweise die Kinder (und auch ihre Familien), die trotz – objektiv ungünstigerer sozioökonomischer Ausgangsvoraussetzungen – ein Gymnasium besuchen, systematisch von den Kindern mit demselben sozioökonomischen Hintergrund an Hauptschulen. Zweitens lässt sich gesundheitsbezogenes Verhalten nicht mit dem Gesundheitszustand gleichsetzen. Selbst wenn der Besuch eines Gymnasiums zu einem gesundheitsförderlicheren Lebensstil führen sollte als der Besuch einer Hauptschule, lässt dies nicht den Schluss zu, dass sich dies unmittelbar auf den Gesundheitszustand auswirken muss. Es wurden nun zwei mögliche Wirkmechanismen für bildungsbezogene Verursachung von Gesundheit dargestellt. Es ist jedoch fraglich, ob eine einseitige Interpretation der dargestellten Befunde im Sinne der bildungsbedingten Verursachungshypothese zu rechtfertigen ist. Ein zentraler Einwand ist die unterstellte zeitliche Unmittelbarkeit. Es scheint nicht vollständig plausibel, dass Misserfolgserfahrungen in der Schule sich unmittelbar in Form von manifesten Erkrankungen niederschlagen. 2.4.3.3 Die Hypothese gesundheitlicher Selektion Die Hypothese gesundheitlicher Selektion geht umgekehrt davon aus, dass Gesundheit eine Ressource für Bildungserfolg darstellt und gesundheitliche Beeinträchtigungen das Potenzial haben, den Bildungserfolg zu vermindern. In der Literatur werden als mögliche Wirkmechanismen dieses Effekts unter anderem negative Einflüsse von ge-

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2 Begriffe und Konzepte: Ungleiche Kindheiten

sundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten, das Selbstbewusstsein, sowie die physische und kognitive Leistungsfähigkeit im unmittelbaren Schulkontext diskutiert (Suhrcke und de Paz Nieves 2010: 7). Als weiterer möglicher Mediator wird diskriminierendes Verhalten von Mitschüler/innen und Lehrkräften thematisiert (Bozoyan 2014; Suhrcke und de Paz Nieves 2010: 7). Die vorliegende Arbeit knüpft an diese Argumentation an und stellt die Frage nach bildungsrelevanten Auswirkungen von gesundheitlicher Ungleichheit bei Kindern. Die zugrundeliegende Annahme ist, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen eine erfolgreiche Bewältigung schulischer Anforderungen erschweren (Roeser et al. 1998). In Kapitel 4 wird ein theoretisches Modell entwickelt, das mögliche Wirkmechanismen des Effekts von Gesundheit auf die Bildungschancen von Kindern ausführlich theoretisch herleitet und anhand bereits bestehender empirischer Befunde begründet. Im folgenden Kapitel wird zunächst der Forschungsstand zum Einfluss von Gesundheit auf Bildungserfolg bei Kindern dargestellt. Es liegen bereits viele Untersuchungen vor, die auf Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf Bildungsergebnisse hinweisen. Der Forschungsstand lässt allerdings einige Forschungsdesiderate offen (Kapitel 3.3), die im Rahmen der vorliegenden Arbeit beantwortet werden sollen.

3 Forschungsstand Im Folgenden wird der Forschungsstand zum Zusammenhang von Bildung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen dargestellt. Hierbei werden zum einen Studien dargestellt, die Effekte von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf Bildungsergebnisse nachweisen können (Kapitel 3.1). Zum anderen wird auch auf Studien verwiesen, die keine Effekte finden (Kapitel 3.2). Das vorliegende Kapitel ist wie folgt gegliedert: Zunächst werden jene Studien berichtet, deren Ergebnisse auf Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Bildungserfolg verweisen (Kapitel 3.1). Der umfangreichere erste Teil dieses Kapitels stellt den Forschungsstand mit Individualdaten dar. Die Darstellung zum Forschungsstand mit Individualdaten ist weiter unterteilt nach verschiedenen Gesundheitsindikatoren. Es werden für diese Darstellung ausschließlich Studien verwendet, welche die soziale Herkunft der Kinder durch mindestens einen der drei Faktoren bzw. entsprechende ProxyVariablen als Kontrollvariable berücksichtigen: (i) elterliche Bildung, (ii) elterliches Einkommen und (iii) elterlicher Berufsstatus. Weitere Kriterien für die Studienauswahl sind das Alter der Schüler/innen (maximal 18 Jahre), bei quantitativen Analysen die Fallzahl (mindestens 100 Fälle), sowie der Zeitpunkt (ab 1980) und der Ort Untersuchung (Industrienationen30). Der Großteil der empirischen Evidenz zu dem Thema stammt aus dem US-amerikanischen Raum. Sofern nicht anders gekennzeichnet beruhen die im Folgenden dargestellten Studienergebnisse auf US-amerikanischen Daten. Im zweiten Teil dieses Unterkapitels werden einige ausgewählte zu Studien zu Effekten schulischer Gesundheitsförderung auf schulische Leistungen dargestellt (Kapitel 3.1.2), die indirekt auf einen Zusammenhang von Gesundheit und Bildungsergebnissen hinweisen. In Kapitel 3.2 werden Studien vorgestellt, die keine Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Bildungserfolg finden. Wie zu zeigen sein wird, fällt dieser Überblick sehr knapp aus; in diesem Zusammenhang wird die Problematik des sogenannten Publication Bias in Kapitel 3.2 kurz diskutiert. Abschließend erfolgt in 3.3 eine Synthese der dargestellten Befunde und eine Darstellung der Forschungsdesiderate, die sich aus der Studienlage ergeben. 3.1 Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg Der Großteil der im Folgenden dargestellten Untersuchungen kommt zu dem Ergebnis, dass es einen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg bei Kindern 30

Studien aus Entwicklungsländern finden aufgrund differierender theoretischer Annahmen keine Berücksichtigung.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 J. Tuppat, Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Bildungserfolg, Gesundheit und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31425-5_3

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3 Forschungsstand

und Jugendlichen gibt. Kapitel 3.1.1 stellt Befunde aus Individualdatenanalysen dar. Diese Studien befassen sich alle mit der individuellen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und etwaigen Einflüssen auf deren schulische Leistungen. Ein kurzer Überblick über wichtige Merkmale der Forschungsdesigns, die in den im Folgenden dargestellten Studien mit Individualdaten zur Anwendung kamen, soll dazu beitragen, die Güte der Studien mit Blick auf die Fragestellung der Arbeit besser einordnen zu können. Danach folgt der Studienüberblick, der nach verschiedenen Formen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen gegliedert ist. In Kapitel 3.1.2 werden Studien vorgestellt, , die schulbasierte Programme der Gesundheitsförderung auf ihre Auswirkungen auf Bildungsergebnisse hin untersuchen. In diesen Studien liegt der Fokus nicht auf dem individuellen Gesundheitszustand einzelner Schüler/innen, sondern auf der Frage, ob Programme der schulischen Gesundheitsförderung insgesamt mit schulischen Leistungssteigerungen assoziiert sind – häufig gemessen als aggregierte Leistungsindikatoren ganzer von den Maßnahmen betroffener Schulklassen oder Schulen. Eine mögliche Schlussfolgerung von positiven Effekten solcher Programme auf die schulischen Leistungen ist, dass die infolge der Maßnahme verbesserte Gesundheit der teilnehmenden Schüler/innen auch mit einer Steigerung der schulischen Leistungen einhergeht. Dies lässt sich indirekt als Hinweis auf einen Effekt von Gesundheit auf Bildung interpretieren. 3.1.1 Studien mit Individualdaten Studien mit Individualdaten untersuchen den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg an individuellen Personen. Es wird der Gesundheitszustand einer Person mit ihren Bildungsergebnissen in Bezug gesetzt und untersucht, inwieweit ein Zusammenhang zwischen den beiden Größen besteht. Diese Studien können im Querschnitt, retrospektiv, oder prospektiv erhoben werden. Querschnittsstudien analysieren den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungsergebnissen zu einem einzigen Messzeitpunkt. Mit ihrer Hilfe können Zusammenhänge zwischen Variablen zu ein und demselben Zeitpunkt untersucht werden, nicht aber deren zeitliche Entwicklung. Dies stellt oftmals eine Einschränkung dar, da es aus analytischer Sicht in der Regel nicht möglich ist, auf Basis von Querschnittsdaten kausale Aussagen zum Zusammenhang zwischen Variablen zu machen. Retrospektive Studien versuchen dieses Problem zu mildern, indem sie Informationen aus der gegenwärtigen Lebensphase mit Informationen aus einer vergangenen Lebensphase in Bezug setzen. Letztere werden retrospektiv, das heißt zum gegenwärtigen Zeitpunkt rückblickend erhoben. Ausgehend von der Gegenwart werden in retrospektiven Studien also Teile der Vergangenheit rekonstruiert. Beispielsweise untersuchen einige der im Folgenden vorgestellten Studien, ob der Gesundheitszustand in Kindheit

3.1 Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg

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oder Jugend, welcher von der befragten Person im Erwachsenenalter rückblickend bewertet wird, mit deren Bildungsabschluss im Erwachsenenalter in Zusammenhang steht. Zwar sind diese Studien mit dem Problem der Reliabilität behaftet: Zurückliegende Ereignisse können teilweise oder vollständig vergessen werden, der Zeitpunkt eines Ereignisses kann fehlerhaft oder gar nicht erinnert werden, oder die Häufigkeit bestimmter Ereignisse kann falsch erinnert werden. Insbesondere im Fall unangenehmer Vorkommnisse im Lebensverlauf, zu denen Krankheit zweifelsohne gehören kann, besteht die Schwierigkeit, dass diese verdrängt oder rückwirkend verharmlost, beziehungsweise geschönt erinnert werden (Höpflinger 2006). Diese Vorbehalte konnten in einigen Beiträgen zur Qualität von retrospektiv erhobenen Daten allerdings etwas abgemildert werden (vgl. Klein & Fischer-Kerli 2000: 294). Der Vorteil retrospektiver Daten gegenüber klassischen Querschnittsdaten besteht darin, mit vergleichbarem Aufwand eine Art Längsschnittstruktur der Daten zu erzielen, mit denen die explizite Berücksichtigung der zeitlichen Reihenfolge zwischen Lebensereignissen möglich ist. Zum Ziel der Hypothesenprüfung ist die zeitliche Reihenfolge von Ereignissen relevant, da eine notwendige Bedingung für das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs ist, dass das Auftreten einer unabhängigen Variable dem Auftreten der abhängigen Variable zeitlich vorausgeht (Pforr & Schröder 2015: 1).31 In Studien mit prospektiven Designs werden Daten zu mehreren, mindestens aber zu zwei verschiedenen Zeitpunkten von denselben Personen erhoben. Diese Art der Datenerhebung erfordert einen hohen finanziellen und zeitlichen Aufwand; demgegenüber erlauben Paneldaten komplexere Analyseverfahren, welche die Berücksichtigung der zeitlichen Reihenfolge von Lebensereignissen zulassen und gleichzeitig nicht von Einschränkungen in Form von Erinnerungslücken betroffen sind. Mit prospektiv erhobenen Daten können intraindividuelle Veränderungen über die Zeit analysiert werden, weshalb diese innerhalb der nicht-experimentellen Forschungsdesigns zu den wertvollsten Datenerhebungsverfahren für Kausalanalysen zählen (Brüderl 2010; Pforr & Schröder 2015). Im methodischen Teil der Arbeit werden ausgewählte Analyseverfahren für Paneldaten detailliert beschrieben (Kapitel 5.2.3.3). Die Güte der Untersuchungen kann in dieser Anordnung als „aufsteigend“ betrachtet werden, wobei die Ergebnisse aus Querschnittsbefragungen tendenziell den geringsten Informationsgehalt für die vorliegende Fragestellung liefern und die Ergebnisse der prospektiven Studien den größten Informationsgehalt. Wie zu zeigen sein wird, haben nur wenige Studien bislang den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg im Längsschnitt untersucht. 31

Diese Forderung gilt für Faktoren, die prinzipiell zeitveränderlich sind. Für Variablen, die ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr veränderlich sind, beispielsweise die Körpergröße, das Geburtsgewicht, oder das Geschlecht, gilt diese Forderung nicht, da sie keine Zeitlichkeit im engeren Sinne besitzen.

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3 Forschungsstand

3.1.1.1 Zentrale Übersichtsarbeiten Zur Einführung in den Forschungsstand mit Individualdaten sind zunächst einige zentrale Übersichtsarbeiten zu nennen. Diese fassen den Forschungsstand aus einem bestimmten Zeitraum, in der Regel bezogen auf eine bestimmte Region der Welt, zusammen. Sie berücksichtigen mitunter ein breites Spektrum an gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Die im Folgenden zitierten Überblicksartikel stützen sich überwiegend auf quantitativ-empirische Arbeiten. Howard Taras und William Potts-Datema veröffentlichten im Jahr 2005 insgesamt vier Reviews zu dem Thema im Journal of School Health (Taras & Potts-Datema 2005a; 2005b; 2005c). In dem ersten Bericht untersuchen sie den Zusammenhang von verschiedenen chronischen Erkrankungen und Bildungsergebnissen in Form von Schulanwesenheit, kognitiven Fähigkeiten und schulischen Leistungen (2005a). An dieser Stelle ist anzumerken, dass hierbei auch Studien berücksichtigt wurden, in denen die soziale Herkunft der Kinder nicht kontrolliert wurde. Ferner liegt die Fallzahl in einigen der Untersuchungen unter 100. Aufgrund der zentralen Bedeutung dieses Reviews für die weiteren Forschungsbemühungen auf diesem Feld soll es hier dennoch Erwähnung finden. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass auf Grundlage der 30 untersuchten Studien von negativen Effekten von Diabetes (15 Studien), Sichelzellanämie (8 Studien) und Epilepsie (7 Studien) auf Bildungsergebnisse auszugehen sei. Auf Grundlage der zitierten Studien muss dieser Schluss jedoch als verfrüht gelten, da in einigen Studien wichtige Hintergrundmerkmale der Kinder nicht kontrolliert wurden. Der Schluss liegt nahe, dass sich Kinder mit den untersuchten chronischen Erkrankungen systematisch von den gesunden Kindern in den jeweiligen Kontrollgruppen unterscheiden und die Unterschiede in den Bildungsergebnissen auch auf unbeobachtete Drittvariablen zurückzuführen sein könnten. Einige der Studien, die solche Informationsdefizite in ihrem Design zu berücksichtigen versuchen, beispielsweise durch Matching-Verfahren, haben zum Teil sehr geringe Fallzahlen. Eine Geschwisterstudie, in der familiäre Hintergrundmerkmale konstant gehalten werden können, kann die Effekte zwischen chronischen Erkrankungen und Bildungsergebnissen nur für jenen Teil des Samples zeigen, der im Alter von fünf Jahren oder jünger erkrankt ist (vgl. Rovet & Alverez 1997 für Diabetes). Dies ist ein zusätzlicher Befund in einigen Studien, der in dem Review jedoch keine zentrale Rolle spielt: Die Erkrankungen haben insbesondere dann starke Effekte auf die schulischen Leistungen, wenn sie in einem jungen Alter auftreten (unter 6 Jahren). Die Autoren bewerten die empirische Befundlage zusammenfassend als unzureichend und betonen die Notwendigkeit weiterer Forschung auf dem Gebiet. In den weiteren Reviews untersuchen Taras und Potts-Datema (2005b) Zusammenhänge zwischen Asthma (siehe Kapitel 3.1.1.2), Adipositas (siehe Kapitel 3.1.1.3) und Schlafstörungen (siehe Kapitel 3.1.1.4) mit Bildungsergebnissen.

3.1 Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg

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Einen weiteren wichtigen Überblicksartikel legt die Ökonomin Janet Currie im Jahr 2009 vor. Ihre Fragestellung ist zweigeteilt: Sie untersucht erstens den Zusammenhang zwischen elterlichem SES und der Gesundheit von Kindern (welcher mittlerweile, so auch in der vorliegenden Arbeit, als gesichert angesehen werden kann) und zweitens den Zusammenhang zwischen der Gesundheit im Kindesalter und Bildungsergebnissen sowie dem Einkommen im Erwachsenenalter. Currie zeigt anhand von über 50 Studien, dass beide Zusammenhänge bestehen und wirft die Frage nach deren Bedeutung für die intergenerationale Transmission von sozioökonomischem Status auf, welche auch die vorliegende Untersuchung aufgreift. Currie zitiert Studien, die Langzeiteffekte von folgenden Gesundheitsvariablen auf spätere Bildungs- und Arbeitsmarktoutcomes analysieren: Niedriges Geburtsgewicht (13 Studien), allgemeiner Gesundheitszustand (1 Studie), Mangel- und Überernährung (8 Studien), mentale Gesundheit (16 Studien), Asthma (7 Studien), akute Infektionen (1 Studie), Beeinträchtigungen durch Luftverschmutzung und Vergiftungen (8 Studien). Obwohl auf einige Artikel in dieser Übersichtsarbeit nicht alle oben genannten Kriterien zutreffen (so stützen sich einige Artikel beispielsweise auf Daten aus Entwicklungsländern), weisen alle Studien methodisch anspruchsvolle Designs auf, die einen adäquaten Umgang mit Drittvariablenproblemen anstreben. Die Frage, ob von einem Langzeiteffekt gesundheitlicher Ungleichheit im Kindesalter auszugehen ist, beantwortet Currie (2009: 52) wie folgt: „The answer […] is ‘yes’, though it is too early to tell how important these feedbacks Between health and more conventional measures of human capital may be“. Currie konstatiert weiteren Forschungsbedarf auf diesem Gebiet. In einer Übersichtsarbeit zu Effekten von Gesundheit und gesundheitsbezogenem Verhalten auf Bildungsergebnisse aus dem Jahr 2011 setzen Marc Suhrcke und Carmen de Paz Nieves die Arbeit des Reviews von Taras und Potts-Datema und Currie fort. Sie beziehen sich ausschließlich auf Studien, die nach den vorausgegangenen Reviews erschienen sind, beziehungsweise in diesen noch nicht erwähnt wurden. In die Übersichtsarbeit gehen ausschließlich Studien aus OECD-Ländern ein, hauptsächlich aus dem US-amerikanischen Raum (75%). Es werden die Effekte von Beeinträchtigungen in folgenden Bereichen32 untersucht: Schlafstörungen (5 Studien), Atemwegserkrankungen (4 Studien), allgemeine Gesundheitszustand (8 Studien) und mentale Gesundheit (6 Studien). Studien zu gesundheitsriskanten Verhaltensweisen beziehen sich auf riskanten Alkoholkonsum (9 Studien), Marihuanakonsum (7 Studien), Tabakkonsum (4 Studien), Unterernährung und Adipositas (6 Studien), sowie Bewegungsmangel (4 Studien). Suhrcke und de Paz-Nieves identifizieren unter den 53 berücksichtigten Arbeiten lediglich vier Studien (ebd. 16 f.), die keinen signifikanten Effekt von gesund32

Einige Studien untersuchen mehrere Gesundheitsvariablen und tauchen in der nachfolgenden Auflistung entsprechend mehrfach auf.

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3 Forschungsstand

heitlichen Beeinträchtigungen auf Bildungsergebnisse finden (siehe Kapitel 3.2). Die Autor/innen konstatieren, dass in der Mehrheit der gesichteten Studien signifikante Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf Bildungsergebnisse gezeigt werden können (Suhrcke & de Paz Nieves 2011: 16 f.). In der ersten und bislang einzigen deutschsprachigen Übersichtsarbeit fasst Kevin Dadaczynski (2012) die internationale Befundlage zum Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg zusammen. Dadaczynski fokussiert drei gesundheitsbezogene Indikatoren: Übergewicht, körperliche Aktivität und psychische Gesundheit. Es werden in diesem Review ausschließlich quantitative Längsschnittstudien mit Daten aus Industrienationen berücksichtigt, die zwischen 2000 und 2011 in deutscher oder englischer Sprache in einem Peer Review-Verfahren veröffentlicht wurden. Ein weiteres Kriterium ist, dass die Studienteilnehmer/innen zu mindestens einem Messzeitpunkt schulpflichtig sind, was in einer Altersspanne von sieben bis 18 Jahren resultiert. Dadaczynski identifiziert 39 Studien, die diese Kriterien erfüllen. Die Befundlage zu Übergewicht und Adipositas ist als uneinheitlich zu werten: Während einige Studien einen negativen Einfluss auf die Schulnoten und die Bildungsbeteiligung zeigen, lässt sich in anderen Studien der Effekt unter Berücksichtigung der sozialen Herkunft nicht mehr zeigen. Genau wie die soziale Herkunft bewertet Dadaczynski Faktoren wie Stigmatisierung und psychische Probleme als konfundierende Drittvariablen. Diese können jedoch ebenso als Mediatoren von Übergewicht und Adipositas erachtet werden, wie auch in der vorliegenden Arbeit (siehe Kapitel 4.1.1.3).33 Ein zentraler Befund sind weiterhin Geschlechtereffekte: Die schulischen Leistungen von Mädchen scheinen in stärkerem Maße von Übergewicht und Adipositas beeinflusst zu sein als die der Jungen. Dadaczynski begründet dies damit, dass Mädchen möglicherweise stärker durch gesellschaftliche Gewichtsnormen beeinflusst seien und somit auch stärker von gewichtsbezogenem Stigma sowie psychischen Problemen beeinflusst sein könnten (Dadaczynski. 2012: 149). Außerdem lassen sich Alterseffekte zeigen: Übergewicht und Adipositas scheinen mit zunehmendem Alter stärkere Effekte auf die schulischen Leistungen auszuüben. Hinsichtlich der körperlichen Aktivität kommt der Review zu dem Schluss, dass diese in positivem Zusammenhang mit Bildungsergebnissen steht, wobei Freizeitsport einen stärker positiven Effekt hat als Schulsport (ebd.: 149). Auch in diesem Punkt lassen sich Geschlechterunterschiede aufzeigen, wobei 33

Sicherlich bleibt die Frage offen, ob die von Übergewicht betroffenen Kinder und Jugendlichen aufgrund von psychischen Problemen übergewichtig geworden sind oder ob die bereits bestehenden Probleme in einem unausgewogenen Ernährungsverhalten resultieren und so zu Übergewicht führen. Insbesondere im Hinblick auf gewichtsbezogenes Stigma ist ein kausaler Effekt auf Stigma wahrscheinlich und eine Mediation des Gewichtseffekts durch Stigma entsprechend plausibel, wie in Kapitel 4.1.1.3 zu zeigen sein wird. Es spricht viel dafür, dass Stigma keine konfundierende Drittvariable ist, sondern ein Mediator, der den kausalen Effekt von Übergewicht auf Schulleistungen erklärt.

3.1 Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg

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Jungen tendenziell stärker von körperlicher Aktivität profitieren. Im Bereich der mentalen Gesundheit lassen sich insbesondere für Depression, Verhaltensprobleme und ADHS negative Effekte auf Bildungsergebnisse zeigen, die unter Kontrolle relevanter Drittvariablen zwar stark abnehmen, aber auf statistisch signifikantem Niveau bestehen bleiben. 3.1.1.2 Allgemeine gesundheitliche Beeinträchtigungen und chronische Erkrankungen An einem Sample von 22.730 Kindern und Jugendlichen der Klassenstufen 2 – 11 zeigen Crump et al. (2013) negative Effekte verschiedener chronischer Krankheiten auf die schulischen Leistungen: Chronische Krankheiten sind unabhängig von sozialer Herkunft, Migrationshintergrund und Klassenstufe mit geringeren Leistungen in den Fächern Englisch und Mathematik assoziiert. Die Odds Ratios für unterdurchschnittliche Leistungen betragen je nach Art der Erkrankung zwischen OR=1,16–1,36 im Fach Englisch und OR=1,18–1,38 im Fach Mathematik im Verglich zu gesunden Kindern, wobei sich die stärksten Effekte für ADHS, Autismus und Epilepsie zeigen. Der negative Effekt von Asthma kann in der Studie vollständig durch vermehrte Fehlzeiten vom Unterricht erklärt werden. Kinder mit Diabetes und kardiovaskulären Störungen weisen hingegen gegenüber gesunden Kindern keine Nachteile in den schulischen Leistungen auf. Ickovics et al. (2014) untersuchen den Zusammenhang zwischen dem Gesundheitszustand und den Ergebnissen in standardisierten Kompetenztests an 940 Schüler/innen der fünften und sechsten Jahrgangsstufe. Die Informationen zum Gesundheitszustand wurden in körperlichen Untersuchungen, Fitnesstests, und Fragebögen erhoben. Zwischen drei und sechs Monaten später absolvierten die Jugendlichen standardisierte Kompetenztests in den Bereichen Lesen, Schreiben und Mathematik. Die Schüler/innen unterschieden sich in ihren Leistungen stark nach Gesundheitszustand, wobei die Kinder mit gutem Gesundheitszustand eine mehr als doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit hatten, den Test zu bestehen als gesundheitlich beeinträchtigte Kinder. Die soziale Herkunft wurde in dieser Studie allerdings nur sehr grob erfasst: Eine soziale Risikolage wurde dann zugeschrieben, wenn die Schüler/innen Anspruch auf kostenloses Mittagessen in der Schule hatten. Blumeshine et al. (2008) untersuchen den Effekt von allgemeinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beeinträchtigungen der Zahngesundheit auf die schulischen Leistungen von 2.638 Schulkindern unter 18 Jahren. Die schulischen Leistungen wurden hierbei mittels Selbstauskunft der Eltern erfragt, wobei nur zwischen mindestens durchschnittlichen und unterdurchschnittlichen Leistungen unterschieden wird. Verglichen mit Kindern ohne Beeinträchtigungen der allgemeinen und der Zahngesundheit betragen die Odds Ratios für unterdurchschnittliche schulische Leistungen für

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3 Forschungsstand

Kinder, die sowohl an Beeinträchtigungen der allgemeinen Gesundheit als auch der Zahngesundheit leiden, OR=2,44. Diese Kinder haben demnach auch unter Kontrolle relevanter Drittvariablen ein knapp zweieinhalbfaches Risiko für unterdurchschnittliche schulische Leistungen. Liegt hingegen nur eine der beiden Beeinträchtigungen vor, sind die Odds Ratios für unterdurchschnittliche schulische Leistungen zwar auch erhöht, jedoch nicht statistisch signifikant. Eide et al. (2010) untersuchen mit Daten einer Erweiterung der national repräsentativen Panel Study of Income Dynamics in einem Querschnittsdesign Effekte verschiedener gesundheitlicher Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen fünf und 18 Jahren auf standardisiert erhobene Lese- und Mathematikleistungen. Ihre Befunde sind heterogen: Während ADHS und Sprachstörungen signifikante negative Effekte auf die Leistungen haben, bestehen umgekehrt für Asthma und Übergewicht positive Zusammenhänge mit den Leistungen. Die Autor/innen mutmaßen, dass dieser unerwartete Befund möglicherweise mit einem Mangel an außerhäuslichen Freizeitaktivitäten mit körperlicher Bewegung erklärt werden könnte, der einerseits das Risiko für Übergewicht und Asthma erhöht, und gleichzeitig bedeuten könnte, dass diese Zeit stattdessen in Schularbeit investiert wird. Moore et al. (2014) befragen ein vergleichsweise kleines Sample von 214 Lehrkräften der Primar- und Mittelstufe zum Zusammenhang von gesundheitlichen Beeinträchtigungen und akademischer Performanz ihrer Schülerinnen und Schüler. Je nach Schulform gibt nur etwa ein Fünftel der Lehrkräfte an, dass gesundheitliche Probleme die schulischen Leistungen verminderten. Einen innovativen methodischen Ansatz wählen Ding et al. (2009), die genetische Marker als Instrumentalvariable für verschiedene Gesundheitsoutcomes benutzen, um dem Problem der Endogenität bei der Schätzung des Effekts auf den Bildungserfolg angemessen zu begegnen. Die zugrundeliegende Idee ist, die eigentlichen erklärenden Variablen (Gesundheitsindikatoren) durch Variablen zu ersetzen, die zwar hoch mit den Gesundheitsindikatoren korreliert sind, aber nicht gleichzeitig mit dem Fehlerterm korrelieren oder eine Linearkombination anderer erklärender Variablen darstellen. Ding et al. (2009) finden Hinweise auf ausgeprägte negative Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf den Notendurchschnitt von Jugendlichen, insbesondere für Mädchen. Champaloux und Young (2015) untersuchen in einer retrospektiv angelegten Studie mit 6.795 Teilnehmer/innen, ob Personen, die in ihrer Kindheit oder Jugend an einer chronischen Erkrankung gelitten hatten, im Alter von 21 Jahren Nachteile in der Bildungsbeteiligung aufweisen. Verglichen mit Personen die Kindheit und Jugend in Gesundheit verbracht haben, ist das Risiko für einen niedrig qualifizierenden Schulab-

3.1 Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg

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schluss deutlich erhöht für Personen, die angaben, in ihrer Kindheit oder Jugend an Asthma gelitten zu haben (OR=1,63), und beinahe doppelt so hoch für Personen mit einer Krebserkrankung, Diabetes oder Epilepsie in Kindheit oder Jugend (OR=1,96). Einen ähnlichen Ansatz verfolgen Haas et al. (2011). Sie setzen Gesundheit im Kindesalter zu Einkommensverläufen im Alter zwischen 25 und 50 Jahren in Bezug (N=6991). Die erwachsenen Befragten sollten angeben, wie ihr allgemeiner Gesundheitszustand während ihrer Kindheit bis zum Alter von 16 Jahren war. Die Autoren zeigen, dass Erwachsene, die einen mittelmäßigen oder schlechten Gesundheitszustand währen ihrer Kindheit berichten, signifikant geringere Einkommen aufwiesen als Erwachsene, die ihre Gesundheit im Kindesalter für mindestens gut befunden hatten. Der Zusammenhang besteht auch unter Kontrolle der sozialen Herkunft und lässt sich teilweise über die geringere Bildungsbeteiligung der betroffenen Personen erklären. Maslow et al. (2011) untersuchen, ob chronische Erkrankungen im Jugendalter mit dem erfolgreichen Absolvieren der High-School in Verbindung stehen. Beide Angaben werden retrospektiv von 13.236 jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 28 Jahren erhoben. Die Befunde zeigen, dass Personen, die in ihrer Jugend an einer Krebserkrankung, an Diabetes oder an Epilepsie gelitten hatten, signifikant seltener einen High School-Abschluss erworben hatten als Teilnehmende der Vergleichsgruppe, die in ihrer Jugend weitestgehend gesund waren. Auch im Vergleich zu Personen die in ihrer Jugend an einer asthmatischen chronischen Erkrankung gelitten hatten, wiesen die in ihrer Jugend an Krebs, Diabetes oder Epilepsie erkrankten Teilnehmer/innen Nachteile beim Erreichen des High School-Abschlusses auf. An einem Sample von 14.326 Personen analysieren Case et al. (2005) einem Lebenslaufansatz folgend Langzeiteffekte verschiedener chronischer Erkrankungen und gesundheitlicher Beeinträchtigung in der Kindheit, sowie pränataler Risikofaktoren auf verschiedene Outcomes in späteren Lebensphasen. Datengrundlage ist die 1958 National Child Development Study aus Großbritannien. Unter anderem werden Zusammenhänge mit der Performanz in den Schulabschlussprüfungen im Alter von 16 Jahren untersucht. Als Indikatoren für prä- und postnatale Gesundheit werden Rauchen der Mutter während der Schwangerschaft, niedriges Geburtsgewicht, sowie die Anzahl attestierter chronischer Erkrankungen im Alter bis sieben Jahren berücksichtigt. Die Autor/innen finden signifikante Effekte aller untersuchten Beeinträchtigungen auf die Leistungen in den Abschlussprüfungen. Die Studie untersucht darüber hinaus auch Effekte früher gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf den Erwerbsstatus im Alter von 42 Jahren und findet deutliche Hinweise auf gesundheitliche Selektion in der sozialen Mobilität.

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3 Forschungsstand

Forrest et al. (2013) zeigen an einer eigens erhobenen Stichprobe von 1.479 Schülerinnen und Schülern, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen, welche mit Funktionseinschränkungen einhergehen, negativ mit dem Notendurchschnitt assoziiert sind. Die Autor/innen interpretieren den Faktor Gesundheit jedoch vornehmlich als Moderator: Sie finden in den Daten über das gesamte Sample hinweg einen Abfall der schulischen Leistungen mit Eintritt in die Mittelstufe und mit Beginn der Pubertät. Den Effekt von Gesundheit interpretieren sie dahingehend, dass gute Gesundheit den beschriebenen Abfall der schulischen Leistungen abmildere, wohingegen gesundheitliche Beeinträchtigungen diesen natürlichen Leistungsabfall noch zusätzlich verstärkten. An einem Sample von 31.897 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen sechs und 17 Jahren untersuchen Pastor et al. (2015) Effekte von Epilepsie auf schulische Outcomes. Die Autor/innen finden Hinweise auf Einschränkungen in der Kommunikation und eine signifikant höhere Anzahl an Fehltagen bei Kindern, die an Epilepsie leiden. Völkl-Kernstock et al. (2009) zeigen mit Daten einer Befragung österreichischer Lehrkräfte, dass diese überproportional häufig von leistungsbezogenen Defiziten und unterrichtsstörenden Verhaltensweisen bei an Epilepsie erkrankten Schülerinnen und Schüler berichten. Die wichtigste Studie für die vorliegende Arbeit im Bereich der allgemeinen Gesundheit stammt von Margot Jackson (2009). Mit Daten des National Longitudinal Survey of Youth 1997 untersucht sie, das Zusammenspiel der Gesundheit von Jugendlichen mit ihrer sozialen Herkunft für die Genese von Bildungsungleichheit. Sie untersucht Bildungsbeteiligung in Form von absolvierten Bildungsjahren. Es zeigen sich auch unter Kontrolle beobachteter und unbeobachteter zeitstabiler Drittvariable signifikante negative Effekte von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Anzahl der absolvierten Bildungsjahre. Der Annahme einer kumulativen Benachteiligung folgend analysiert Jackson weiterhin, ob gesundheitliche Beeinträchtigungen für unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen besonders schwer wiegen, wobei ethnische Gruppen verglichen werden. Jackson findet überraschend die stärksten Effekte für die Gruppe der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund; die Annahme einer Kumulation von Nachteilen bei Jugendlichen aus sozial schwachen Gruppen bestätigt sich nicht. 3.1.1.3 Übergewicht und Adipositas Zum Effekt von Übergewicht und Adipositas auf Bildungsergebnisse liegt eine Vielzahl an Studien vor, die zum großen Teil zu dem übereinstimmenden Ergebnis kommen, dass auch unter Kontrolle zentraler Drittvariablen wie der sozialen Herkunft und relevanter Persönlichkeitsmerkmale ein negativer Zusammenhang zwischen Körpermasse und Bildungsergebnissen besteht (für eine Übersicht siehe Potts-Datema 2005c:

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292 und Suhrcke und De Paz Nieves 2011: 19). Besonders deutliche Zusammenhänge zeigen sich erwartungsgemäß für Adipositas. Falkner et al. (2001) zeigen in einer Querschnittsbefragung von etwa 10.000 Jugendlichen der siebten, neunten und elften Jahrgangsstufe, dass Adipositas mit einem deutlich erhöhten Risiko einer negativen Selbsteinschätzung hinsichtlich der schulischen Leistung einhergeht. Adipöse Mädchen haben zudem ein höheres Risiko für Klassenwiederholungen. Auch aus dem deutschsprachigen Raum liegen Befunde zum Effekt von Übergewicht auf Bildungsergebnisse vor. Shore et al. (2008) zeigen an einem Sample von 572 Schüler/innen der 6. und 7. Jahrgangsstufe, dass übergewichtige Jugendliche (N=58) auch unter Kontrolle der sozialen Herkunft signifikant schlechtere schulische Leistungen aufweisen als ihre normalgewichtigen Peers. Darüber hinaus finden sich auch positive Zusammenhänge von Übergewicht mit Nachsitzen und Unterrichtsabwesenheit. Helbig und Jähnen (2013) zeigen mit Daten der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sowie des Mikrozensus, dass adipöse Jungen und Mädchen im Alter zwischen elf und 13 Jahren schlechtere Noten in Mathematik aufweisen und seltener das Gymnasium besuchen als normalgewichtige Gleichaltrige. Für Jungen zeigen sich im Vergleich mit normalgewichtigen Gleichaltrigen geringere Chancen auf einen Gymnasialübergang nicht nur im Fall von Adipositas, sondern bereits bei Übergewicht. Helbig und Jähnen (2013) argumentieren, dass die schlechteren Mathematiknoten zum Teil durch Hänseleien vonseiten der Mitschüler/innen erklärt werden könnten, die internalisiert werden und zu einem geringeren Selbstwertgefühl führen. Bozoyan (2014) untersucht mit Daten der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sowie des Sozioökonomischen Panels den Einfluss von Übergewicht und Adipositas auf Schulnoten und die besuchte Schulart der Sekundarstufe I vor dem theoretischen Hintergrund von Diskriminierung. Innovativ an der Arbeit ist die Berücksichtigung der Körperfettmasse, die gegenüber dem üblicherweise verwendeten Body Mass Index den Vorteil aufweist, dass sie zwischen Fettmasse und fettfreier Masse (Muskelmasse, Knochenmasse, Wassergehalt) differenzieren kann (Bozoyan 2014: 18). Bozoyan zeigt, dass ein höherer Körperfettanteil unter Kontrolle relevanter Drittvariablen tendenziell mit schlechteren Schulnoten einhergeht, wobei der Effekt nur für die Deutschnote statistisch signifikant ist. Weiterhin begünstigt ein niedrigerer Körperfettanteil den Besuch eines Gymnasiums, wohingegen Kinder mit hohem Fettanteil ein höheres Risiko für den Besuch niedriger qualifizierender Schulformen haben.

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Clark et al. (2009) untersuchen den Zusammenhang von Adipositas, Übergewicht, Normalgewicht und Untergewicht auf schulische Leistungen sowie auf Ergebnisse aus standardisierten Kompetenztests an einem Sample von 9.471 Grundschulkindern. Die Ergebnisse zeigen, dass die Gruppe der Kinder, die an Adipositas leiden, insgesamt die schwächsten schulischen Leistungen in allen untersuchten Unterrichtsfächern sowie in den standardisierten Kompetenztests aufweisen. Die Autor/innen können zwischen zwei Messzeitpunkten auch den Trend feststellen, dass mit einem Wechsel in die nächsthöhere Gewichtskategorie ein Abfall der schulischen Leistungen einhergeht. Schwimmer et al. (2003) untersuchen die Lebensqualität von adipösen Kindern im Alter zwischen fünf und 18 Jahren in den USA und finden unter anderem einen negativen Effekt von Adipositas auf Bildungserfolg, den sie auf häufigere Fehlzeiten vom Unterricht zurückführen. Datar und Sturm (2006) finden in einem Sample von rund 7.000 US-amerikanischen Grundschulkindern vor allem für Mädchen signifikante Zusammenhänge von Körpermasse und kognitiven Leistungen. Insgesamt zeigt sich zwar in dem gesamten Sample ein negativer Zusammenhang von Übergewicht mit den Leistungen in standardisierten Lese- und Rechentests. Ein Wechsel von Normal- zu Übergewicht zwischen dem Kindergarten und der dritten Klasse ist jedoch nur bei Mädchen mit abfallenden Leistungen assoziiert. Für Jungen ist dieser Effekt nicht statistisch signifikant. Im Gegensatz dazu zeigen Cawley und Spieß (2008) mit Daten der Mutter-Kind Befragung des Sozioökonomischen Panels aus Deutschland an einem Sample von 451 zwei- bis vierjährigen Kindern einen negativen Zusammenhang von Körpermasse und der kognitiven Entwicklung vor allem für Jungen. Die Autor/innen untersuchen Zusammenhänge mit verbalen, sozialen und motorischen Fähigkeiten. Adipöse Jungen weisen in allen drei Bereichen gravierende Nachteile gegenüber normalgewichtigen Jungen auf. Bei Mädchen findet sich hingegen nur für die Entwicklung der verbalen Kompetenz ein negativer Zusammenhang mit der Körpermasse. Nicht nur Übergewicht, sondern auch Untergewicht infolge einer Unterversorgung kann schulische Leistungen negativ beeinflussen. Alaimo et al. (2001) untersuchen die Folgen von Unterernährung an einem Sample von über 3.000 Kindern im Alter von sechs bis elf Jahren. Unterernährung wird über die Angabe eines Familienangehörigen operationalisiert, dass das Kind manchmal oder häufig nicht genügend zu essen erhalte. Die Autor/innen zeigen, dass die von Unterernährung betroffenen Kinder signifikant geringere Mittelwerte in den schulischen Leistungen aufweisen und einem höheren Risiko für Klassenwiederholungen ausgesetzt sind als Kinder, die ausgewogen ernährt werden. Eine Interaktion mit sozialen Risikofaktoren zeigt überraschend, dass insbesondere Kinder, die wenigen sozialen Risiken ausgesetzt sind, schulische Nachteile durch Unterernährung aufweisen; bei Kindern, die vielen sozialen Risiken ausge-

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setzt sind, ist der negative Effekt von Mangelernährung hingegen weniger stark ausgeprägt. In einer Übersichtsarbeit stellen Michael et al. (2015) metaanalytische Studien und Übersichtsarbeiten aus dem US-amerikanischen Raum zusammen, die sich mit Effekten von Ernährung auf Bildungsergebnisse beschäftigt haben. Die zitierten Studien zeigen zusammenfassend größtenteils positive Effekte von hochwertiger Ernährung auf schulische Leistungen, die hauptsächlich durch positive Effekte auf das Leistungspotenzial (Konzentrationsfähigkeit, Gedächtnisleistung) erklärt werden. 3.1.1.4 Schlafstörungen Die Befundlage zu den Auswirkungen von Schlafstörungen auf die schulischen Leistungen ist uneinheitlich. Nur wenige Studien finden signifikante Effekte, wobei diese häufig mit drei Problemen behaftet sind (vgl. Suhrcke & De Paz Nieves 2011: 37): Zum einen beruht eine Abfrage der Schlafgewohnheiten in der Regel auf subjektiven Einschätzungen durch die Kinder selbst oder deren Eltern, wobei sich die Frage nach der Reliabilität dieser Angaben stellt. Weiterhin wird kontrovers diskutiert, was „guten“ und „schlechten“ Schlaf überhaupt auszeichnet. Gibson (2006) argumentiert, dass über die reine Quantität nicht unmittelbar auf die Qualität des Schlafes geschlossen werden könne. Ein weiteres Problem ist Endogenität. Dieser kann im Fall von Schlafstörungen lediglich mit experimentellen Forschungsdesigns angemessen begegnet werden; die Umsetzung selbiger ist jedoch komplex, so dass sich die aktuelle Befundlage hauptsächlich auf kleine Experimente im Kontext einzelner Schulen stützt, bei denen häufig eine vollständige Randomisierung nicht gewährleistet werden kann (Suhrcke & De Paz Nieves 2011: 37). Als Proxy für schlechten Schlaf wird daher häufig Schläfrigkeit am Tag herangezogen. Drake et al. (2003) zeigen einen positiven Zusammenhang von Schläfrigkeit mit schulischen Problemen, Fehlzeiten und gesundheitlichen Beschwerden und negative Zusammenhänge mit Freude an der Schule und nächtlicher Schlafquantität. Inhaltlich argumentieren die Autor/innen allerdings, dass Schläfrigkeit die Folge, und nicht die Ursache von schulischen Problemen seien. Gibson et al. (2006) zeigen vergleichbare Zusammenhänge von Schläfrigkeit und niedriger Schlafquantität mit den schulischen Leistungen und extracurricularen Aktivitäten bei rund 3.000 Schülerinnen und Schülern an kanadischen Highschools. Touchette et al. (2007), die darauf verweisen, dass sich Schlafgewohnheiten durch die frühe Kindheit hinweg als bemerkenswert konstant erweisen, können zeigen, dass Schlafstörungen in der frühen Kindheit mit schwächeren Leistungen in standarisierten Tests der neuronalen Entwicklung zum Zeitpunkt der Einschulung im Alter von fünf bis sechs Jahren assoziiert sind. Verglichen mit der Referenzempfehlung von zehn

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3 Forschungsstand

Stunden Schlaf hat bereits eine Reduktion von einer Stunde einen nachweisbaren negativen Effekt auf die kognitive Entwicklung, der auch unter Kontrolle zahlreicher relevanter individueller und familiärer Drittvariablen besteht (Touchette et al. 2007: 1217). Ein weiterer Indikator für geringe Schlafqualität ist Rhonchopathie („Schnarchen“). Urschitz et al. (2003) untersuchen rund 1.000 Kinder an Grundschulen in Hannover und finden einen deutlichen negativen Zusammenhang von regelmäßiger Rhonchopathie mit schulischen Leistungen, der mit steigender Häufigkeit und Intensität des Schnarchens zunimmt. In der Studie wird allerdings dem Problem konfundierender Drittvariablen und umgekehrter Kausalität nicht begegnet. 3.1.1.5 Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit Zusammenhänge zwischen mentalen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Bildungsergebnissen sind gut belegt (für eine Übersicht siehe Dadaczynski 2012: 148 f.). Insbesondere im Hinblick auf diagnostizierte Lernstörungen ist dieser Befund wenig überraschend. Frazier et al. (2007) zeigen mit metaanalytischen Techniken auf Grundlage von 72 Studien aus den Jahren 1990 – 2004 einen mittleren bis starken negativen Zusammenhang zwischen ADHS und schulischer Leistung, der allerdings mit zunehmendem Alter abnimmt (D=0,75 für Kinder; D=0,6 für Jugendliche). Offenbar sind Kinder hinsichtlich ihrer schulischen Leistungsfähigkeit insbesondere in frühen Phasen der akademischen Laufbahn vulnerabel gegenüber den negativen Auswirkungen von ADHS. Einschränkend muss erwähnt werden, dass diese Übersichtsarbeit keine Angaben darüber enthält, in welchen der einbezogenen Studien die soziale Herkunft der Kinder und Jugendlichen kontrolliert wurde. Biederman et al. (2009) untersuchen Zusammenhänge zwischen ADHS und kognitiven Fähigkeiten an einem Sample von 247 männlichen Teilnehmern im Alter zwischen 15 und 31 Jahren über einen Zeitraum von 10 Jahren. Es zeigen sich starke negative Zusammenhänge zwischen langanhaltender ADHS und den kognitiven Fähigkeiten. Massetti et al. (2008) zeigen im Längsschnitt, dass durch die Eltern eingeschätzte ADHS signifikant mit Bildungsoutcomes assoziiert ist: Selbst unter Kontrolle von sozialer Herkunft und Intelligenz zeigen sich bei Kindern mit Aufmerksamkeitsproblemen im Alter zwischen vier und sechs Jahren gegenüber der gesunden Kontrollgruppe deutliche negative Zusammenhänge mit Bildungsoutcomes in einem Zeitverlauf von acht Jahren. Für Hyperaktivität zeigen sich hingegen keine Unterschiede mit der gesunden Kontrollgruppe.

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Auch Polderman et al. (2010) weisen auf die Abhängigkeit des betroffenen Störungsbereichs hin: In einer Übersichtsarbeit zu insgesamt 16 Studien zeigen die Autor/innen, dass Aufmerksamkeitsprobleme ein starker Prädiktor für die schulische Leistung sind, während sie Hyperaktivitätsprobleme als eher moderaten Prädiktor der schulischen Leistung einstufen. Ek et al. (2010) untersuchen die Auswirkungen von ADHS anhand eines Vergleichs der Entwicklung von Kindern, die im Alter von neun bis zehn Jahren mit ADHS diagnostiziert worden waren (N=39), Kindern mit anderen psychischen Auffälligkeiten (N=80) und Kindern ohne Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit (N=417). Sie finden auch unter Kontrolle der Intelligenz negative Effekte von ADHS auf die schulische Performanz, sowie die Bildungsbeteiligung an höheren Bildungswegen im Alter von 16 Jahren und schlussfolgern, dass Schüler/innen mit ADHS hinter ihren kognitiven Kapazitäten zurückbleiben. Taanila et al. (2014) zeigen an einem finnischen Sample von 9.146 Jugendlichen, dass Lernstörungen im Alter von sieben bis acht Jahren und ADHS im Alter von 15-16 Jahren unabhängig voneinander negative Effekte auf die Schulnoten haben, und mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für Klassenwiederholungen und geringeren Bildungsaspirationen assoziiert sind. Verglichen mit den Kindern, die weder Lernstörungen in der Kindheit, noch Symptome für ADHS im Jugendalter zeigt, weist die Gruppe, die zu beiden Zeitpunkten Auffälligkeiten zeigt, die größten Nachteile auf. Auch unabhängig von Lernstörungen in der Kindheit ist ADHS im Jugendalter mit bildungsbezogenen Nachteilen assoziiert. Mannuza und Klein (2000) zeigen, dass es in Kindheit und Jugend deutliche Zusammenhänge zwischen ADHS mit schlechteren Schulnoten, Klassenwiederholungen und schlechteren Leistungen in standardisierten Tests gibt, die sich jedoch über die Zeit abmildern und nicht bis in das Erwachsenenalter fortwirken. Galéra et al. (2007) zeigen mit Daten einer französischen Längsschnittuntersuchung an einem Sample von 1.264 Kindern, dass Personen, die in ihrer Kindheit Symptome von ADHS aufgezeigt hatten, acht Jahre später signifikant schlechtere Bildungsergebnisse vorweisen. Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität im Kindesalter wurden von den Eltern mit Hilfe einer Subskala der Child Behavior Checklist (Achenbach 1991) erhoben. Bei einem Vergleich der Lebensverläufe zwischen auffälligen und unauffälligen Kindern acht Jahre später zeigen sich substanzielle Unterschiede zuungunsten der auffälligen Kinder hinsichtlich der schulischen Leistungen, der Wahrscheinlichkeit von Klassenwiederholungen, und des erreichten Schulabschlusses.

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Kessler et al. (1995) untersuchen Langzeiteffekte von psychiatrischen Störungen, unter anderem im Hinblick auf Bildungsergebnisse. Sie analysieren hierbei Angststörungen, Substanzmissbrauch, Depression und Verhaltensstörungen. Die Befunde zeigen, dass innerhalb der Gruppe der Personen, die während ihrer Kindheit unter psychiatrischen Störungen gelitten hatten, fast dreimal so viele die High-School nicht beendeten (14,2%) wie in der Gruppe der Personen ohne psychiatrische Störungen (4,7%). Zwar sind direkte Effekte auf schulische Performanz nicht untersucht, Schulabbrüche können aber als Hinweis auf unzureichende schulische Leistungen gedeutet werden. McLeod und Kaiser (2004) untersuchen in einer Längsschnittuntersuchung mit 424 Kindern Langzeitauswirkungen von Verhaltensauffälligkeiten im Alter von sechs bis acht Jahren. Die Befunde verweisen auf negative Langzeiteffekte auf die Wahrscheinlichkeit, einen High School Abschluss zu erreichen, die aus geringeren schulischen Leistungen während der Mittelstufe resultieren. Mit Daten einer neuseeländischen Längsschnittstudie untersuchen Miech et al. (1999) die mittelfristigen Auswirkungen von vier Formen beeinträchtigter mentaler Gesundheit im Alter von 15 Jahren: Angststörungen, Depression, gestörtes Sozialverhalten und Aufmerksamkeitsdefizit. Abhängige Variable sind Bildungsergebnisse an verschiedenen Schwellen des Bildungssystems, die im Alter von 21 Jahren erhoben wurden: Das Erreichen eines grundständigen Schulabschlusses, das Erreichen eines weiterführenden Schulabschlusses und die Aufnahme eines Studiums. Gestörtes Sozialverhalten und Aufmerksamkeitsdefizit sind selbst unter Kontrolle des Intelligenzquotienten im Alter von 15 Jahren signifikant negativ mit allen drei Formen von Bildungsergebnissen assoziiert. Dadaczynski (2012: 149) kommt in seinem Review zu folgendem Schluss: „Während die genannten Studien Auskunft darüber geben, dass ADHS einen Einfluss auf Bildungsoutcomes hat, existieren bislang kaum Erkenntnisse hinsichtlich der Frage, wie ADHS Einfluss auf Bildung nimmt“. 3.1.1.6 Frühgeburt und niedriges Geburtsgewicht Einen Sonderfall retrospektiver Analysen stellen Untersuchungen zu Geburtszeitpunkt und Geburtsgewicht dar. Frühgeburt und niedriges Geburtsgewicht sind gute Prädiktoren für den Gesundheitszustand in späteren Lebensphasen. Gleichzeitig weisen sie den Vorteil auf, dass das Problem der Endogenität durch umgekehrte Kausalität ausgeschlossen werden kann: Befunde zu Effekten sehr früher gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf spätere Bildungsergebnisse sind daher für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse. Frühgeborene weisen mittel- und langfristig häufiger gesundheitliche Beeinträchtigungen als regulär geborene Kinder auf, wobei selbst gesunde frühgeborene Kinder langfristig eine ungünstigere gesundheitliche Entwicklung

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aufweisen als regulär geborene (Boyle et al. 2002; 2013). Unterschiede zeigen sich bis in das Erwachsenenalter. Auch in Bezug auf die kognitive Entwicklung und den Bildungserfolg scheinen frühgeborene Kinder mittel- und langfristige Nachteile zu haben. Dies gilt nicht nur für sehr frühgeborene (Wolke & Meyer 1999), sondern auch für moderat und spät frühgeborene Kinder, die ab der vollendeten 34. Schwangerschaftswoche zu Welt kommen (Bhutta et al. 2002; Chyi et al. 2008; Huddy et al. 2001; Quigley et al. 2012; zusammenfassend Boyle & Boyle 2013). In einer Übersichtsarbeit verweisen de Jong et al. (2012) auf Nachteile frühgeborener Kinder in den Bereichen kognitive Fähigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten, psychiatrische Störungen und schulischer Probleme, welche auch unter Kontrolle relevanter individueller und familiärer Merkmale bestehen. MacKay et al. (2010) finden höhere Risiken für sonderpädagogischen Förderbedarf bei Frühgeborenen. Morse et al. (2009) vergleichen frühgeborene Kinder, die zwischen der 34. und 36. vollendeten Schwangerschaftswoche gesund zur Welt kamen mit Kindern, die ab der 37. Schwangerschaftswochenende gesund zur Welt kamen und finden bei den Frühgeborenen ein um 36% höheres Risiko für Entwicklungsverzögerungen oder Behinderungen im Alter von fünf Jahren. In engem Zusammenhang mit dem Risikofaktor Frühgeburt steht ein zu niedriges Geburtsgewicht. Bettge et al. (2014) zeigen ein erhöhtes Risiko für sonderpädagogischen Förderbedarf bei zu leicht geborenen Kindern, das graduell mit sinkendem Geburtsgewicht ansteigt. Im Gegensatz zum Zeitpunkt der Geburt bietet das Geburtsgewicht die Möglichkeit von Vergleichen bei Mehrlingsgeburten. Behrman und Rosenzweig (2004) zeigen mit Daten des Minnesota Twin Registry beispielsweise, dass der jeweils bei Geburt schwerere Zwilling eine größere Körpergröße erzielt, aber auch mehr Bildungsjahre absolviert: Ein Anstieg um 500 Gramm im Geburtsgewicht ist in ihrem Modell mit einem Drittel Jahr zusätzlicher schulischer Bildung assoziiert. Aufgrund der Größe des Samples (N=804 Zwillingspaare) und der methodischen Vorgehensweise liefert die Studie deutliche Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Geburtsgewicht und Bildungsergebnissen. Da bei Zwillingen zentrale Kontextvariablen identisch sind, wie beispielsweise der familiäre Hintergrund, der Zeitpunkt der Geburt, aber auch intrauterine Faktoren durch äußere Einflüsse oder das Verhalten der Mutter während der Schwangerschaft, können sehr viele potenziell relevante Einflussfaktoren in diesem Design konstant gehalten werden. Sehr ähnliche Befunde aus Studien mit einem vergleichbaren Vorgehen liegen für Kanada (Oreopolous et al. 2008), Norwegen (Black et al. 2007) und Schottland (Lawlor et al. 2006) vor. Boardman et al. (2002) zeigen mit Längsschnittsdaten, dass die kognitive Entwicklung zu leicht geborener Kinder im Alter zwischen sechs und 14 Jahren auch unter Kontrolle relevanter

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Drittvariablen wie der sozialen Herkunft nachteilig verläuft. Insbesondere starkes Untergewicht bei Geburt ist mit Nachteilen bei der Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten assoziiert. Theoretisch einzuwenden wäre an dieser Stelle, dass niedriges Geburtsgewicht und Frühgeburt möglicherweise nicht in erster Linie deshalb mit niedrigeren Bildungsergebnissen assoziiert sind, weil sie ein guter Prädiktor für den späteren Gesundheitszustand sind, sondern weil sie direkt auf die kognitive Entwicklung wirken, die zweifelsohne einen starken Einfluss auf die schulischen Leistungen hat. Andererseits können Zeitpunkt und Konstitution bei Geburt auch ohne die Mediation über die weitere gesundheitliche Entwicklung als gesundheitsbezogene Faktoren erachtet werden, die sozial ungleich verteilt sind und einen Einfluss auf Bildungsergebnissen haben. Unabhängig davon, ob sie auf direktem Weg durch einen Einfluss auf die kognitive Entwicklung auf die Schulleistungen wirken, oder indirekt über die Entwicklung der (physischen) Gesundheit in späteren Lebensphasen, bedeuten sie einen potenziell bildungsrelevanten gesundheitlichen Nachteil. Frühgeburt und niedriges Geburtsgewicht sind also nicht nur im Sinne eines Proxys für den Gesundheitszustand in Kindheit und Jugend relevant, sondern stellen möglicherweise auch ohne diese Mediation selbst unmittelbare Einflussgrößen auf den Bildungserfolg dar. 3.1.2 Studien zu Effekten schulischer Gesundheitsförderung auf schulische Leistungen Zur Darstellung des Forschungsstandes können auch Studien herangezogen werden, die nicht die individuelle Gesundheit von Schüler/innen selbst in den Blick nehmen (Mikroebene), sondern auf der Ebene von Schulen oder Schulklassen (Mesoebene) den Einfluss von Maßnahmen der schulischen Gesundheitsförderung auf Leistungsergebnisse untersuchen – unabhängig vom individuellen Gesundheitszustand der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen. Diese Forschungsergebnisse sind häufig Produkte wissenschaftlicher Evaluationen von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung. Hierbei kann zumindest ein indirekter Nachweis eines Zusammenhangs zwischen Gesundheit und Bildungserfolg erfolgen: Wenn Maßnahmen der Gesundheitsförderung neben positiven Effekten auf die Gesundheit gleichzeitig auch positive Effekte auf die akademische Performanz haben, kann dies als Hinweis darauf interpretiert werden, dass ein durch die Maßnahme verbesserter Gesundheitszustand der Schüler/innen zu einer entsprechenden schulischen Leistungssteigerung führt. Dieser Schluss ist allerdings ausdrücklich als Hinweis, nicht aber als Nachweis eines Effekts von Gesundheit auf Bildungserfolg zu sehen: Für eine Leistungssteigerung im Zuge von Maßnahmen der Gesundheitsförderung auf Schul- oder Schulklassenebene gibt es auch andere plausible Erklärungen, beispielsweise eine generelle Motivationssteigerung durch die erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Untersucher/innen (Verzer-

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rung durch Reaktivität, siehe Behrens 2015, Diekmann 2007: 309). Unter dem Hawthorne-Effekt versteht man beispielsweise eine Verhaltensänderung von Studienteilnehmer/innen aufgrund ihres Wissens, dass sie an einer Studie teilnehmen und beobachtet werden. Der Hawthorne-Effekt führt dazu, dass zwar Effekte gemessen werden können, die in die erwartete Richtung weisen. beispielsweise eine Verbesserung des Gesundheitszustandes und eine Steigerung der schulischen Leistung. Diese beruhen jedoch nicht oder nicht ausschließlich auf der Interventionsmaßnahme selbst, sondern daneben auch auf der Art der Durchführung, beispielsweise auf der scheinbaren Fürsorge seitens der Schule und auf einem erhöhten Maß an positiver Aufmerksamkeit seitens der Forscher/innen (Hesse 1993: 104 f.). Die Effekte auf die schulischen Leistungen würden dann durch den Kontext der Intervention künstlich (mit)erzeugt; der gemessene Effekt der Maßnahme selbst wäre überschätzt, wenn nicht sogar ein durch den Kontext der Intervention erzeugtes Artefakt. Ein möglicher Einfluss auf die schulischen Leistungen könnte als Effekt „zweiter Ordnung“ betrachtet werden, da die Interventionen in erster Linie auf eine Verbesserung der Gesundheit oder des gesundheitsbezogenen Verhaltens abzielen. Entsprechend könnte argumentiert werden, dass Verhaltensänderungen seitens der teilnehmenden Schüler/innen in erster Linie ihre Gesundheit, nicht aber ihre schulischen Leistungen betreffen sollten. Insofern könnte eine Auswertung von Maßnahmen der schulischen Gesundheitsförderung mit Blick auf die schulischen Leistungen für die vorliegende Fragestellung durchaus aufschlussreich sein. Im ersten Teil dieses Kapitels werden Ergebnisse aus experimentell angelegten Interventionsstudien berichtet. Diese zeichnen sich durch das Vorhandensein mindestens einer Kontrollgruppe sowie der randomisierten Zuteilung von Gruppen (Schulen, Schulklassen oder Gruppen von Schüler/innen in Schulklassen) aus. Methodisch weniger komplex und in ihren Implikationen deutlich begrenzter sind Studien, welche die Leistungen von Schüler/innen an Schulen mit einem bestimmten Gesundheitsförderungsprogramm mit den Leistungen von Schüler/innen an Schulen ohne ein solches Programm vergleichen. Die fehlende Randomisierung bewirkt eine deutlich verringerte Aussagekraft dieser Studien: Selbst, wenn hierbei Unterschiede zwischen den Gruppen gefunden werden, kann dies noch nicht als Nachweis gesundheitlicher Effekte auf Bildungsergebnisse gedeutet werden. Alternativ könnten hierbei auch nicht beobachtete Faktoren auf Schulebene oder auch Selektion der Schülerschaft in bestimmte Schulen zugrunde liegen, welche die Bildungsergebnisse zwischen den Institutionen erklären könnten. Trotz der methodischen Herausforderungen liefern diese Studien vielversprechende Hinweise auf positive Effekte von Interventionsmaßnahmen der Gesundheitsförderung auf schulische Ergebnisse (Murray et al. 2007). Für die Fragestellung der vorliegenden

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3 Forschungsstand

Arbeit ist an dieser Stelle dennoch wichtig zu erwähnen, dass Gesundheitsförderung nicht mit einer tatsächlichen Verbesserung von Gesundheit gleichzusetzen ist. Die im Folgenden angeführten Studien beziehen sich entweder auf die Bewältigung bestehender Krankheiten oder auf eine Intensivierung gesundheitsförderlichen Verhaltens, beispielsweise hinsichtlich körperlicher Aktivität oder Ernährung. Weder körperliche Fitness, noch ausgewogene Ernährung kann jedoch mit Gesundheit gleichgesetzt werden, insbesondere mit Blick auf den begrenzten zeitlichen Rahmen der meisten dieser Studien. Auch verbesserte Bewältigungsstrategien im Umgang mit einer bestehenden Krankheit bedeuten nicht, dass die Krankheit überwunden ist. Dennoch können Interventionsstudien Hinweise darauf liefern, dass eine Investition in Gesundheit und die Stärkung der Bewältigungsressourcen im Umgang mit Krankheit positive Effekte auf Bildungsergebnisse haben kann. Es lässt sich daraus zumindest die Hypothese stärken, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen und gesundheitsriskantes Verhalten negative Folgen für Bildungsergebnisse nach sich ziehen können. 3.1.2.1 Experimentelle Studien Die folgenden experimentellen Studien zeichnen sich alle durch das Vorhandensein einer Kontrollgruppe aus. So wird ein Vergleich der Leistungsentwicklung von Kindern, die eine Intervention erfahren haben (Versuchsgruppe) mit Kindern, die keine Intervention erfahren haben (Kontrollgruppe) möglich. Außerdem wurden die Schulen oder Schulklassen zufällig zu Versuchs- und Kontrollgruppe zugeteilt. Dieses als „Randomisierung“ bekannte Verfahren ist ein wichtiges Kriterium für die Güte von Experimenten (Diekmann 2007: 297 f.). Evans et al. (1987) untersuchen an einem US-amerikanischen Sample von 239 an Asthma erkrankten Dritt- bis Fünftklässler/innen aus sozial benachteiligten Familien Effekte einer dreiwöchigen schulischen Intervention, die auf eine Verbesserung des Selbstmanagements im Umgang mit Asthma abzielt. Ein Vergleich mit der Kontrollgruppe zeigt eine signifikante Verbesserung der Schulnoten für die Versuchsgruppe. Es finden sich hingegen gegenüber der Kontrollgruppe keine Vorteile hinsichtlich standardisierter Tests für Lesen und Mathematik und auch keine Unterschiede in den schulischen Fehlzeiten. Clark et al. (2004) untersuchen ebenfalls Effekte einer schulischen Intervention bei an Asthma leidenden Kinder der Klassenstufen 2 bis 5. Das Sample (N=835) besteht hauptsächlich aus Kindern afro-amerikanischer Herkunft. Die schulbasierten Interventionen richten sich nicht nur auf das Selbstmanagement der betroffenen Kinder, sondern darüber hinaus auch an die Mitschüler/innen, Lehrkräfte und Schulleiter/innen. Sowohl in der Versuchs- als auch in der Kontrollgruppe fallen die Schulnoten im Untersuchungszeitraum von zwei Jahren ab, in der Versuchsgruppe ist die Verschlechte-

3.1 Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg

73

rung zumindest in den Naturwissenschaften jedoch signifikant weniger stark als in der Kontrollgruppe. Für Mathematik und Lesen zeigen sich hingegen keine Gruppenunterschiede. Durch die Eltern berichtete asthmabedingte Fehlzeiten fallen in der Versuchsgruppe geringer aus als in der Kontrollgruppe. Dieser Unterschied zeigt sich allerdings nicht hinsichtlich der offiziellen durch die Schule erfassten Fehlzeiten. Sallis et al. (1999) untersuchen die Effekte von unterschiedlichen schulbasierten Fitnessaktivitäten an sieben US-amerikanischen Grundschulen (N=759). In zufällig ausgewählten Klassen führten in einer ersten Versuchsgruppe Expert/innen ein Programm zu Sport, Spiel und „aktiver Erholung“ durch, in der zweiten Versuchsgruppe wurde dasselbe Programm von Lehrkräften durchgeführt. Die Kinder in Klassen der Kontrollgruppe erfuhren keine Intervention. Ähnlich wie in der oben erwähnten Studie von Clark et al. (2004) können die Autoren zeigen, dass die beiden Interventionen zu körperbasierten Fitnessaktivitäten zwar nicht mit einer Verbesserung, aber gegenüber der Kontrollgruppe mit einer geringeren Verschlechterung der schulischen Leistungen in einem Zeitraum von zwei Jahren einhergehen. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Versuchsgruppen doppelt so viel Unterrichtszeit mit sportlicher Aktivität verbrachten als die Kontrollgruppe: Die Interventionen fanden über 36 Wochen an drei Tagen der Woche mit je 30 Minuten in der regulären Unterrichtszeit statt. Die Autoren schlussfolgern, dass körperlich aktive Kinder die „besseren Lerner“ seien (Sallis et al. 1999: 132). 3.1.2.2 Quasi-experimentelle Studien Die im Folgenden berichteten quasi-experimentelle Studien weisen im Unterschied zu den „echten“ experimentellen Studien keine Kontrollgruppe ohne Intervention auf, oder bei Vorhandensein einer Kontrollgruppe erfolgt keine Randomisierung. Meyers et al. (1989) untersuchen Effekte von Frühstücksprogrammen auf Bildungsergebnisse an einem US-amerikanischen Sample von 1.023 Grundschüler/innen aus sozial benachteiligten Familien. Der Effekt des Frühstücksprogramms wird durch einen Vergleich von standardisierten Leistungsmessungen vor Beginn des Programms und nach einem Schuljahr untersucht. Die Kontrollgruppe bilden jene Schüler/innen, die nicht für das Frühstücksprogramm qualifiziert waren, und damit nicht (in vergleichbarem Maße) sozial benachteiligt sind. Es zeigt sich gegenüber der Kontrollgruppe ein höherer Anstieg in den Mathematik- und Leseleistungen für die Versuchsgruppe. Unpünktlichkeit zu Unterrichtsbeginn nahm in der Versuchsgruppe ab, in der Kontrollgruppe hingegen zu. In einem ähnlich angelegten Studiendesign untersuchen auch Murphy et al. (1998) Effekte von Frühstücksprogrammen auf Bildungsergebnisse an 1.627 US-amerikanischen Grundschüler/innen. Die zu vergleichenden Gruppen wurden anhand der Häufigkeit, mit der Schüler/innen an dem Frühstücksprogramm teil-

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3 Forschungsstand

nehmen, gebildet: Oft, manchmal, selten, nie. Es zeigt sich in einem Vergleich vor Beginn und nach vier Monaten Laufzeit der Intervention, dass die Teilnahme an dem Frühstücksprogramm in einem positiven Zusammenhang mit Bildungsergebnissen steht. Es zeigen sich Effekte in Form von verbesserten Mathematikleistungen, geringerem psychosozialem Problemverhalten, geringerer Hyperaktivität, häufigerer Unterrichtsanwesenheit und Pünktlichkeit. Keehner Engelke et al. (2008) untersuchen den Einfluss von Schulkrankenschwestern an einem Sample von 114 chronisch kranken Schüler/innen im Alter zwischen fünf und 19 Jahren in fünf US-amerikanischen Schulbezirken. Ihr Interesse gilt unter anderem den Auswirkungen der Schulkrankenschwestern auf die schulischen Leistungen der chronisch kranken Schüler/innen. Die Studie beinhaltet auch eine Befragung der jeweils zuständigen Schulkrankenschwestern zu den Zielen ihrer Intervention im Hinblick auf einzelne Schüler/innen. Die Schulkrankenschwestern gaben für rund die Hälfte der Schüler/innen eine Verbesserung der schulischen Leistungen als wichtiges Ziel der medizinischen Betreuung an, was in zwei Drittel dieser Fälle auch nachweislich gelang (ebd.: 210). Sind die Leistungszuwächse tatsächlich Folge der verbesserten gesundheitlichen Situation der Schüler/innen, lässt sich dieser Befund als Hinweis auf einen Effekt von Gesundheit auf Bildungsergebnisse interpretieren. Durch das Fehlen einer Kontrollgruppe in dieser Studie lässt sich dieser Schluss jedoch nicht mit Gewissheit ziehen. Peter Paulus (2010) widmet dem Thema „Bildungsförderung durch Gesundheit“ einen gesamten gleichnamigen Sammelband, in dem der Forschungsstand für den deutschsprachigen und internationalen Raum dargestellt wird. In diesem berichten Paulus und Gediga (2010) über Ergebnisse aus dem Programm „Anschub.de“ („Allianz für nachhaltige Schulgesundheit und Bildung in Deutschland“) zur Förderung der guten gesunden Schule. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Maßnahmen der schulischen Gesundheitsförderung positive Effekte auch auf den Bereich Lernen und Lehren haben, und zwar aus Sicht der Schüler/innen, Eltern, wie auch der Lehrkräfte. Die Maßnahmen der guten gesunden Schule zielen nicht nur auf die Förderung der Gesundheit der Schüler/innen, sondern auch auf die der Lehrkräfte ab, weshalb diese Ergebnisse für die vorliegende Arbeit nur eingeschränkt relevant sind. In einer Übersichtsarbeit zu Interventionen zur Förderung der mentalen Gesundheit finden Hoagwood et al. (2007) nur wenige Studien, die explizit Bildungsergebnisse berücksichtigen. Diese weisen zwar teilweise auf positive Effekte auf schulische Ergebnisse hin, allerdings bestehen diese Effekte nur kurzfristig (Hoagwood et al. 2007: 87). Dies könnte zum einen darauf zurückzuführen sein, dass die förderlichen Effekte der Intervention auf die mentale Gesundheit nicht nachhaltig sind. Zum anderen könnte dies aber auch bedeuten, dass die kurzfristige Leistungssteigerung eine unerwartete

3.2 Evidenz gegen einen Effekt von Gesundheit auf Bildungserfolg

75

direkte Folge der Intervention war, welche nicht ursächlich der mentale Gesundheitszustand zugrunde lag (siehe Hawthorne-Effekt, Seite 71). 3.1.2.3 Sonstige Studien Dix et al. (2012) untersuchen die Auswirkungen von schulweiten Programmen zur Förderung der mentalen Gesundheit auf die schulischen Leistungen der Schüler/innen an 94 Grundschulen in Australien. Das Konzept der Intervention KidsMatter (siehe Slee et al. 2009) sah Unterstützung aller Mitglieder der Schulgemeinschaft vor: Schulleitung, Lehrkräfte, Schüler/innen und ihre Eltern. Ziele waren eine Verbesserung der mentalen Gesundheit und des allgemeinen Wohlbefindens der Schüler/innen durch ein positives Schulklima, durch soziales und emotionales Lernen, durch Unterstützung der Eltern und durch frühe Hilfen für Kinder mit beeinträchtigter mentaler Gesundheit. Anstelle eines Prä-Post-Tests werden in der Studie von Dix et al. (2012) lediglich während der zweijährigen Interventionsphase in regelmäßigen Abständen die Lehrkräfte dazu befragt, ob sich für eine/n betreffende/n Schüler/in die schulischen Leistungen aufgrund der Intervention verbessert hätten („KidsMatter has led to improvements in this student schoolwork.“). Dieses Item wurde mit Blick auf seine Veränderung über die Zeit ausgewertet, wobei sich zeigt, dass die Lehrkräfte im Verlauf der Maßnahme eine zunehmende Verbesserung der schulischen Leistungen der Schüler/innen konstatieren, welche sie kausal auf die Fördermaßnahme der mentalen Gesundheit zurückführen. Die Zahl der Lehrkräfte, die eine solche Verbesserung ausmacht, steigt zwischen der ersten Evaluation ein halbes Jahr nach Beginn der Intervention bis zu ihrem Ende nach zwei Jahren um 14 Prozent. Ein weiteres Maß der schulischen Performanz ist der Leistungsdurchschnitt auf Schulebene in den Bereichen Lesen, Freies Schreiben, Rechtschreiben, Grammatik und Mathematik. Die Werte werden hinsichtlich ihres Zuwachses im Laufe der Maßnahme zwischen Schulen verglichen, welche die Maßnahmen in unterschiedlich starkem Ausmaß durchführen, wobei für den durchschnittlichen sozioökonomischen Status der Schüler/innenschaft kontrolliert wird. Es zeigt sich, dass die Leistungssteigerung in Schulen am höchsten ausfällt, welche die Maßnahme mit hoher Intensität umsetzen (Dix et al. 2012: 49). Da es sich um eine Studie ohne Kontrollgruppe handelt, können die zu Beginn des Kapitels beschriebenen Verzerrungen im Sinne von Placeboeffekten nicht ausgeschlossen werden. Dadurch, dass die Studie aber explizit unterschiedliche Qualitätsstufen der Maßnahme in den Blick nimmt, können die Ergebnisse einige wertvolle Indizien dafür liefern, dass eine Förderung der mentalen Gesundheit auch mit Blick auf die schulische Performanz aussichtsreich scheint. 3.2 Evidenz gegen einen Effekt von Gesundheit auf Bildungserfolg Ein grundsätzliches Problem bei der Identifikation von Forschungsergebnissen, welche die These bildungsrelevanter Gesundheitsunterschiede nicht stützen, besteht im so ge-

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3 Forschungsstand

nannten Publikationsbias. Dieses Phänomen geht auf Theodore D. Sterling (1959) zurück und beschreibt eine Verzerrung der Studienlage zugunsten von Studien, die positive beziehungsweise signifikante Effekte zeigen, da diese in wissenschaftlichen Fachzeitschriften bevorzugt publiziert werden (Fanelli 2012; Sterling 1959). Studien, die ihre Forschungshypothesen hingegen nicht bestätigen können oder keine Effekte finden, werden seltener publiziert. Somit wird ein Teil der Studien, die bereits zu einem Thema durchgeführt wurden, aber keine signifikanten Ergebnisse lieferten, für die wissenschaftliche Community nicht sichtbar. Trotzdem sind einige Studien bekannt, die einen Einfluss von Gesundheit auf Bildungsergebnisse untersucht haben und nicht bestätigen konnten. An einem Sample von 380 Studierenden einer britischen Universität finden El Ansari und Stock (2010) keine gesundheitsbezogenen Unterschiede in den akademischen Leistungen. Zu beachten ist hierbei allerdings, dass Studierende an sich bereits eine stark selektierte Gruppe darstellen und dass denkbar wäre, dass gesundheitliche Selektion bereits zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat. Die davon betroffenen Personen hätten somit bereits eine geringere Wahrscheinlichkeit gehabt, überhaupt ein Studium an einer Universität aufzunehmen und in das Untersuchungssample zu gelangen. Moonie et al. (2008) untersuchen an einem Sample von 3.812 Schüler/innen im Alter von acht bis 17 Jahren Effekte von Asthma auf die Leistungen in einem standardisierten Test. Die Autor/innen bestätigen zwar die Befunde anderer Studien, nach denen Asthma mit erhöhter Schulabwesenheit einhergeht. Auch finden sie einen negativen Zusammenhang zwischen Schulabwesenheit und Testleistungen. Ein Zusammenhang zwischen Asthma und Testleistungen lässt sich hingegen nicht zeigen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Silverstein et al. (2001), die mittels Matching-Verfahren die Entwicklung von 92 an Asthma erkrankten Schüler/innen mit der Entwicklung gesunder Schüler/innen im Längsschnitt vergleichen. Sie finden keine Effekte von Asthma auf Bildungsergebnisse, weder hinsichtlich standardisierter Testleistungen, noch in Bezug auf schulische Leistungen. Pearce et al. (2016) finden bei vier- bis sechsjährigen australischen Kindern zwar Effekte von Adipositas auf das Wohlbefinden, nicht aber auf die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten. Kaestner und Grossmann (2009) untersuchen Zusammenhänge zwischen Übergewicht und Adipositas und schulischen Leistungen mit Daten der Geburtskohorte von 1979 des National Longitudinal Survey of Youth. Ihre Analysen zeigen, dass sich die Entwicklungen der schulischen Leistungen übergewichtiger und adipöser Kinder zwischen dem fünften und dem zwölften Lebensjahr nicht signifikant von der Leistungsentwicklung normalgewichtiger Kinder unterscheiden. Es ist allerdings zu beachten, dass die Koeffizienten für Adipositas zwar nicht signifikant, in ih-

3.3 Forschungsdesiderate

77

rer Größe und Richtung zum Teil aber substanziell sind34 (Kaestner & Grossmann 2009: 696 ff.). In einer qualitativ angelegten Befragung untersuchen McEwan et al. (2004a) die Lebensqualität von an Epilepsie erkrankten Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren. Die untersuchten Bereiche umfassen unter anderem schulbezogene Probleme wie Hänseleien unter Mitschülerinnen und Mitschülern oder unangemessene Reaktionen und Handlungen durch Lehrkräfte sowie die Identitätspolitik der Jugendlichen. In diesen beiden Bereichen berichten die Befragten von Problemen, die sie in direktem Zusammenhang mit ihrer Erkrankung sehen. Sie maßen diesen allerdings keine direkten negativen Folgen auf ihre schulischen Leistungen bei. 3.3 Forschungsdesiderate Insgesamt deutet sich anhand der internationalen Befundlage an, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen die schulische Leistungsfähigkeit auch unter Kontrolle relevanter Drittvariablen negativ beeinflussen können. Aus der erfolgten Darstellung des Forschungsstandes ergeben sich die folgenden Forschungsdesiderate: Zum einen sind bislang nur wenige Studien aus dem deutschsprachigen Raum vorhanden. Es ist unklar, inwieweit die internationale Befundlage auf den deutschen Kontext übertragbar ist. Besonders deutlich wird dies beispielsweise mit Blick auf Studien aus dem US-amerikanischen Raum: Da das US-amerikanische Gesundheitssystem deutlich marktliberaler organisiert ist als das klassischerweise etatistisch-egalitär ausgerichtete deutsche Gesundheitssystem, dürften bereits mit Blick auf die soziale Verursachung von Gesundheit und Krankheit deutliche Unterschiede vorhanden sein. Die empirische Befundlage weist auch eindeutig darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Position und Gesundheit bei Erwachsenen in den Vereinigten Staaten von Amerika deutlich stärker ausgeprägt ist als in der Bundesrepublik Deutschland (zum Zusammenhang zwischen Einkommen und Gesundheit in verschiedenen Ländern siehe Semyonov et al. 2013: 12; van Doorslaer et al. 1997: 102). Auch das Bildungssystem ist in beiden Staaten sehr unterschiedlich strukturiert: Der Bundesrepublik Deutschland kommt mit ihrer frühen Selektion in die Sekundarstufe I gemeinsam mit Österreich im internationalen Vergleich eine Sonderrolle zu. Es ist ein gut belegter Befund, dass gegliederte Bildungssysteme, insbesondere jene mit früher Selektion, mit einer stärkeren sozialen Stratifizierung im Bildungsverlauf verbunden sind (Shavit & Müller 2006; Baumert et al. 2012). Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass bereits beim Zugang in die verschiedenen Bildungswege soziale Selektion vonstatten-

34

Die genauen p-Werte der einzelnen Koeffizienten sind in der Veröffentlichung nicht ausgewiesen.

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3 Forschungsstand

geht. Zum anderen stellen verschiedene Schultypen differenzielle Lernumgebungen dar, die zu einer Ausweitung anfänglicher Kompetenzunterschiede beitragen. Auch mit Blick auf das mögliche Ausmaß, mit dem Gesundheit auf die Bildungschancen wirkt, kann die Gliederung des Bildungssystem ein relevanter Moderator sein: Betrachtet man schulische Übergänge als Transitionen, an denen gesundheitliche Beeinträchtigungen potenziell einen Einfluss auf den weiteren Bildungsverlauf ausüben können, liegt die Vermutung nahe, dass in stark gegliederten Bildungssystemen der Gesundheitszustand von Schüler/innen einen stärkeren Einfluss auf die Bildungsbeteiligung und den Bildungserfolg hat als in Systemen mit vergleichsweise weniger Transitionen. Das hieße, dass im deutschsprachigen Raum Gesundheit eine besonders große Rolle für den Bildungsverlauf spielen könnte. Andererseits stellen im USamerikanischen System beispielsweise Stipendien für herausragende sportliche Leistungen einen typischen Zugangsweg zu höherer Bildung dar (Friehs 2010: 70 f.); hierbei könnten gesundheitliche Beeinträchtigungen einen direkten Nachteil bedeuten. Diesen Selektionsmechanismus gibt es wieder im deutschen Bildungssystem nicht. Insofern ist völlig offen, ob die Auswirkungen von Gesundheit auf die Bildungschancen ja nach Kontext variieren und die Ergebnisse aus dem US-amerikanischen Raum auf die hiesigen Verhältnisse übertragen werden können. Die vorliegende Arbeit leistet für diese Frage einen Beitrag, indem sie die empirische Befundlage durch Studien aus dem deutschsprachigen und europäischen Raum (UK) erweitert. In den dargestellten Studien werden darüber hinaus häufig wichtige Kontrollvariablen nicht berücksichtigt und insbesondere der Tatsache der sozialen Verursachung von Gesundheit und Krankheit nicht ausreichend Rechnung getragen. Ein theoretisches Modell zum Effekt von Gesundheit auf Bildungserfolg muss die enge Kopplung sowohl der Bildungschancen, als auch der gesundheitlichen Chancen von Kindern mit ihrer sozialen Herkunft explizit berücksichtigen. Diesem Desiderat wird die vorliegende Arbeit nachkommen. Mit der Integration des Faktors Gesundheit in das Modell der Genese von Bildungsungleichheit nach Boudon (1974) ist eine genuin bildungssoziologische theoretische Rahmung vorgesehen, wobei der jeweilige Kontext der sozialen Herkunftsunterschiede eine zentrale Stellung einnimmt. Es wird die analytische Trennung von primären und sekundären Effekten aus dem Modell Boudons‘ herangezogen und Annahmen über die Bedeutung der Gesundheit von Schüler/innen für ihre schulischen Leistungen (primärer Gesundheitseffekt), sowie für ihre Bildungsbeteiligung beim Übergang in die Sekundarstufe I (sekundärer Gesundheitseffekt) abgeleitet. Sowohl für die schulischen Leistungen, als auch für den Gymnasialübergang erfolgt eine Überprüfung konkreter theoretisch hergeleiteter Wirkmechanismen. Es ist noch zu wenig darüber bekannt, wie sich gesundheitliche Ungleichheiten in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft auf Bildungsergebnisse auswirken: Unterschei-

3.3 Forschungsdesiderate

79

den sich Kinder nach ihrer sozialen Herkunft möglicherweise nicht nur in der Wahrscheinlichkeit, unter bestimmten gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu leiden, sondern auch hinsichtlich des dem Ausmaßes, in dem diese Beeinträchtigungen auf den Bildungserfolg wirken? Mit anderen Worten, übt die soziale Herkunft einen Moderatoreffekt zwischen Gesundheit und Bildungserfolg aus? Bislang besteht außerdem kaum Wissen darüber, ob die postulierten Effekte von Gesundheit auf Bildungsergebnisse einen Anteil am Effekt der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen von Kindern haben. Möglichweise ist Gesundheit einer der vielen Wirkpfade, über den die soziale Herkunft die Bildungschancen von Kindern beeinflusst. Kann gesundheitliche Ungleichheit im Kindesalter soziale Bildungsungleichheit teilweise erklären, das heißt: Ist Gesundheit ein Mediator des sozialen Herkunftseffekts auf Bildungsergebnisse? Auch die Beantwortung dieser Frage hat die vorliegende Untersuchung zum Ziel. Es ist zu prüfen, ob der Einfluss der sozialen Herkunft auf Bildungsergebnisse durch gesundheitliche Beeinträchtigungen mediiert wird. Weiterhin wurden in den soziologischen Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet bislang häufig Analysemethoden angewendet, mit denen der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg nur korrelativ getestet werden konnte. Die Hypothesentests in der vorliegenden Arbeit erfolgen quantitativ-empirisch mit Hilfe von Sekundärdatenanalysen. Hierbei werden die Daten verschiedener Studien genutzt, die umfangreiche Gesundheitsinformationen enthalten, welche teilweise auch objektiv durch medizinisches Fachpersonal erhoben wurden. Darüber hinaus wird erstmals im deutschsprachigen Raum mit Hilfe von Längsschnittdaten untersucht, ob eine Veränderung im Gesundheitszustand mit entsprechenden Änderungen in den schulischen Leistungen, beziehungsweise mit der Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs nach der Grundschule, korrespondieren. Ein weiteres Forschungsdesiderat lässt aus den sozialwissenschaftlichen Disziplinen ableiten, die sich bisher mit dem Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungserfolg beschäftigt haben: Bislang gab es solche Studien, wenn überhaupt, im Bereich der Forschung zu Diskriminierung. Die Bildungssoziologie und die genuin soziologische Ungleichheitsforschung hingegen haben Gesundheit noch nicht als potenziell relevanten Mechanismus für die Reproduktion sozialer Ungleichheit für sich entdeckt. Entsprechend fehlt bislang eine genuin soziologische theoretische Rahmung mit einem Fokus auf Ungleichheit reproduzierende Mechanismen. Auf der anderen Seite beschäftigen sich die Sozialepidemiologie, sowie die Medizin- und Gesundheitssoziologie zwar seit einiger Zeit auch explizit mit Ungleichheiten in der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Mit der Studie Health Behaviour in School-aged Children untersucht die Weltgesundheitsorganisation beispielsweise bereits seit über

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3 Forschungsstand

30 Jahren die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im konkreten Kontext Schule. In der zeitgenössischen gesundheitssoziologischen Forschung wird aber hinsichtlich der Erklärungsansätze zu gesundheitlicher Ungleichheit nach wie vor überwiegend die These sozialer Verursachung vertreten, welche postuliert, dass die Position in der gesellschaftlichen Hierarchie die Gesundheit von Individuen beeinflusst. Dieser These wird in der vorliegenden Arbeit insofern Rechnung getragen, als der sozialen Herkunft als wichtige Determinante gesundheitlicher Beeinträchtigungen in der Kindheit sowohl im theoretischen, als auch im empirischen Teil der Arbeit eine zentrale Rolle zukommt. Darüber hinaus nimmt dieses Buch aber auch konkret Bezug auf die These der gesundheitlichen Selektion, welche umgekehrt Gesundheit als Ressource für den Erwerb und den Erhalt sozialer Positionen erachtet und entsprechend Effekte von Gesundheit auf die Position in der gesellschaftlichen Hierarchie postuliert. Diese Wirkrichtung fand in den vergangenen Jahrzehnten in der Gesundheits- und Medizinsoziologie kaum Beachtung, was theoretisch nicht nur aufgrund der Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt (gestiegene Anzahl an Transitionen durch höhere Flexibilisierung) begründungswürdig ist. Auch hinsichtlich des Bildungserwerbs sind gesundheitliche Selektionseffekte durchaus plausibel. Der Bildungserwerb gilt gemeinhin als die zentrale Weichenstellung beim Statuserwerb. Insofern kommt die Untersuchung auch den jüngsten Forderungen einer stärker lebenslaufbezogenen Perspektive auf gesundheitliche Ungleichheit nach, welche die Berücksichtigung der Verzahnung und gegenseitigen Wechselwirkung zwischen sozialer Position und Gesundheit einfordert.

4 Gesundheit im Modell zur Genese von ungleichen Bildungschancen nach Boudon Das folgende Kapitel ist einem theoretischen Erklärungsansatz für einen Effekt von Gesundheit auf Bildungserfolg und der Herleitung der Arbeitshypothesen gewidmet. Zwei zentrale Fragen sollen im vorliegenden Kapitel aus theoretischer Sicht beantwortet werden: (1) Über welche Mechanismen können gesundheitliche Beeinträchtigungen den Kompetenzerwerb beeinflussen (Kapitel 4.1)? (2) Über welche Mechanismen können gesundheitliche Beeinträchtigungen die Bildungsbeteiligung beeinflussen (Kapitel 4.2)? Der theoretische Rahmen für die vorliegende Untersuchung baut auf dem Modell Boudons (1974) zur Genese ungleicher Bildungschancen auf. Aus dem Modell wird insbesondere die konzeptionelle Unterscheidung zwischen primären (die schulischen Leistungen betreffende) und sekundären Effekten (die Bildungsentscheidungen betreffende) übernommen. Wie in Kapitel 2.2.4.1 dargelegt, geht Boudon davon aus, dass die soziale Herkunft einen direkten Einfluss auf die schulischen Leistungen hat. Mit den verschiedenen sozialen Positionen der Familien gehen Unterschiede in den Lebensbedingungen, in kulturellen Wissensbeständen, im Anregungsgehalt, in alltäglichen Interaktionen zwischen Eltern und Kindern, und möglicherweise auch Unterschiede in genetischen Dispositionen einher, die systematisch unterschiedliche Bedingungen für den Kompetenzerwerb der Kinder bedeuten. Je höher der sozioökonomische Status des Elternhauses, desto mehr bildungsrelevante materielle und immaterielle Ressourcen stehen zur Verfügung und desto günstiger sind die Bedingungen für den Kompetenzerwerb der Kinder. Boudon fasst diese Mechanismen unter dem primären Effekt der sozialen Herkunft zusammen. Ein erstes zentrales Argument der vorliegenden Arbeit ist, dass auch der Faktor Gesundheit für diesen Zusammenhang eine Rolle spielen könnte: Die Chance auf ein gesundes Aufwachsen, beziehungsweise das Risiko an einer gesundheitlichen Beeinträchtigung zu leiden, ist zwischen Kindern aus unterschiedlichen sozialen Herkunftsgruppen ungleich verteilt: Je höher der sozioökonomische Status der Eltern, desto besser sind die Bedingungen für ein gesundes Aufwachsen. In Kapitel 4.1. wird dargelegt, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen beim Kompetenzerwerb hinderlich sind, da sie das Zurechtkommen mit den schulischen Anforderungen auf verschiedenen Wegen erschweren. In Anlehnung an die konzeptionelle Unterscheidung Boudons wird diese Annahme im Folgenden als primärer Gesundheitseffekt bezeichnet. Zusätzlich ist da© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 J. Tuppat, Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Bildungserfolg, Gesundheit und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31425-5_4

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4 Gesundheit im Modell zur Genese von ungleichen Bildungschancen nach Boudon

von auszugehen, dass Eltern mit einem hohen sozioökonomischen Status über mehr materielle und immaterielle Ressourcen verfügen, um die negativen Auswirkungen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung zu kompensieren als Eltern mit niedrigem sozioökonomischem Status. Entsprechend könnten gesundheitliche Unterschiede für die Erklärung des primären Effekts der sozialen Herkunft auf den Kompetenzerwerb einen wichtigen Beitrag leisten. Unter dem sekundären Effekt der sozialen Herkunft versteht Boudon schichtspezifische Unterschiede im Entscheidungsverhalten, die unabhängig von, beziehungsweise zusätzlich zu Unterschieden in den schulischen Leistungen wirken. Entsprechend wird ein primärer und ein sekundärer Gesundheitseffekt angenommen. Primäre Gesundheitseffekte beziehen sich auf den Einfluss gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf den schulischen Kompetenzerwerb. Mit sekundären Gesundheitseffekten sind im Folgenden hingegen Einflüsse gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die Bildungsbeteiligung angesprochen. Der Zusammenhang von Gesundheits- und Bildungschancen wird dabei explizit vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit modelliert. Das Prinzip der intergenerationalen sozialen Verursachung betrifft sowohl den Gesundheitszustand von Kindern als auch die Bildungschancen: Beide stehen nachweislich mit der sozialen Herkunft in einem engen Zusammenhang. Wie aber lässt sich unabhängig von, beziehungsweise zusätzlich zu sozialen Unterschieden ein Effekt von Gesundheit auf den Bildungserfolg von Kindern theoretisch begründen? Zunächst werden in Kapitel 4.1 zum primären Gesundheitseffekt drei Wirkmechanismen vorgestellt, die einen negativen Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen erklären sollen: (i) Verminderte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, (ii) Abwesenheit vom Unterricht, sowie (iii) verminderte akademische Selbstwirksamkeit durch die Internalisierung negativer Stereotype. Es werden Hypothesen zu den Haupteffekten verschiedener gesundheitlicher Beeinträchtigungen und ihrer Mediation durch diese drei Wirkmechanismen aufgestellt. Eine weitere Arbeitshypothese richtet sich auf eine mögliche Interaktion von gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit der sozialen Herkunft. Hierbei wird ein moderierender Effekt eines hohen sozioökonomischen Status erwartet, der etwaige negative Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen kompensieren kann. Der letzte Hypothesenblock bezieht sich auf den möglichen Beitrag, den die Berücksichtigung gesundheitlicher Beeinträchtigungen bei der Erklärung des Effekts der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg von Kindern leisten kann. Im zweiten Teil geht es um den sekundären Gesundheitseffekt (Kapitel 4.2.). Es wird theoretisch begründet, über welche Wirkpfade gesundheitliche Beeinträchtigungen

4.1 Theoretische Annahmen zum primären Gesundheitseffekt

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einen Effekt auf den Übergang vom Primar- in den Sekundarschulbereich ausüben können. Hierbei wird angenommen, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen auch unabhängig von der schulischen Leistung eines Kindes die Wahrscheinlichkeit verringern, nach der Grundschule auf ein Gymnasium zu wechseln. Es wird ein negativer Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die subjektiv eingeschätzte Erwartung der Eltern postuliert, dass das Kind das Gymnasium erfolgreich durchlaufen und mit dem Abitur abschließen wird, woraus sich in der Konsequenz eine geringere realistische Bildungsaspiration ergibt. Auch hinsichtlich des sekundären Gesundheitseffekts werden Moderationsprozesse mit der sozialen Herkunft sowie eine Mediation des Herkunftseffekts durch gesundheitliche Beeinträchtigungen theoretisch begründet und entsprechende Hypothesen abgeleitet. 4.1 Theoretische Annahmen zum primären Gesundheitseffekt Der primäre Gesundheitseffekt wird auf die drei Wirkmechanismen (i) verminderte Leistungsfähigkeit durch eingeschränkte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, (ii) Fehlzeiten, und (iii) Stigma im Sinne einer Internalisierung negativer Zuschreibungen zurückgeführt (Kapitel 4.1.1). Daran anschließend wird die Auswirkung gesundheitlicher Beeinträchtigungen mit der sozialen Herkunft in Verbindung gesetzt, wobei zum einen die theoretische Annahme einer Kompensation durch einen hohen sozioökonomischen Status (Kapitel 4.1.2), und zum anderen eine Mediation des sozialen Herkunftseffekts auf die schulischen Leistungen durch Gesundheit (Kapitel 4.1.2) hergeleitet wird. 4.1.1 Wirkmechanismen des primären Gesundheitseffekts Im Folgenden werden drei Wirkpfade skizziert, über welche sich gesundheitliche Beeinträchtigen auf die schulischen Leistungen auswirken könnten. Erstens wird argumentiert, dass bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigungen ganz allgemein mit einer Minderung der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit einhergehen. Zweitens stehen gesundheitliche Beeinträchtigungen mit einem erhöhten Risiko für Fehlzeiten vom Unterricht in Verbindung. Drittens könnten negative leistungsbezogene Stereotype über bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigungen internalisiert werden und zu einem verminderten Selbstvertrauen führen, was die schulische Leistungsfähigkeit im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung35 (Merton 1948) einschränken könnte. Viertens wird auch die Möglichkeit von gesundheitlicher Diskriminierung kurz diskutiert, obschon diese im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht explizit überprüft werden kann. 35

Eine selbsterfüllende Prophezeiung bezeichnet eine (zunächst falsche) Vorhersage, die ihre Erfüllung selbst bewirkt. Grundannahme ist die Rückkopplung zwischen Erwartungen und Verhalten: Diejenigen Personen, welche an die (falsche) Vorhersage glauben, verhalten sich so, dass sich die Vorhersage schließlich doch („von selbst“) erfüllt (Merton 1948).

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4 Gesundheit im Modell zur Genese von ungleichen Bildungschancen nach Boudon

Um den Kriterien einer Mediatorvariable zu entsprechen, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein (siehe auch Kapitel 5.1.3): Erstens muss der jeweilige Wirkmechanismus einen Effekt auf die schulischen Leistungen haben. Zweitens müssen (bestimmte) gesundheitliche Beeinträchtigungen tatsächlich auch mit dem Mediator in Verbindung stehen, das heißt es muss nachzuweisen sein, dass eine gesundheitliche Beeinträchtigung tatsächlich die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit vermindert, zu schulischen Fehlzeiten führt und mit einem Stigma behaftet ist, das von betroffenen Schüler/innen internalisiert wird. Entsprechend dieser Anforderungen sind auch die folgenden Unterkapitel zu den einzelnen Wirkmechanismen zweiteilig aufgebaut: Zum einen ist theoretisch zu begründen, und, sofern vorhanden, anhand empirischer Befunde darzustellen, wie sich die Annahme eines Effekts einer gesundheitlichen Beeinträchtigung auf den jeweiligen Wirkmechanismus begründen lässt: Warum und auf welche Weise sollten beispielsweise regelmäßige Schmerzen mit einer ursächlichen Verminderung der Konzentrationsfähigkeit einhergehen? Zweitens ist darzustellen, auf welchem Weg der jeweilige Wirkmechanismus die schulischen Leistungen beeinflussen sollte; auch hier wird, sofern vorhanden, auf einschlägige empirische Befunde verwiesen. 4.1.1.1 Verminderung der Leistungsfähigkeit Der erste Wirkmechanismus bezieht sich auf die Annahme, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen die schulische Leistungsfähigkeit vermindern, indem sie Aufmerksamkeit und Konzentration binden, die dann für Lernprozesse in der Schule oder bei der Erledigung schulischer Aufgaben im außerschulischen Umfeld (beispielsweise beim Erledigen der Hausaufgaben) nicht mehr zur Verfügung stehen. Dies gilt insbesondere für jene gesundheitlichen körperlichen Beeinträchtigungen, die mit somatischen Beschwerden einhergehen, beispielsweise mit Schmerzen, Übelkeit oder anderen Formen physischen Missempfindens. Im Bereich der mentalen Gesundheit sind Beschwerden bekannt, welche sich unmittelbar auf die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit auswirken, beispielsweise das AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätssyndrom. Knopf (1991) weist auf die enge Verbindung von Aufmerksamkeits- und Lernprozessen hin und konstatiert: „Die gute geistige Leistung resultiert aus den antizipativen Akten bei Informationsaufnahme und –verarbeitung“ (ebd.: 179). Aufmerksamkeit und Konzentration werden in der Psychologie als voneinander untrennbare Größen angesehen, die teilweise auch synonym verwendet werden (vgl. Berg 1991: 39; Cammann und Spiel 1991; Goldhammer und Moosbrugger 2006: 29 ff.; Knopf 1991; zur Kritik siehe Schmidt-Atzert et al. 2004: 4 f.). Westhoff (1991) weist in Anlehnung an Freyberg (1989) auf die etymologische Unterscheidung hin, nach welcher Aufmerksamkeit sich auf Prozesse des Wahrnehmens bezieht und Konzentration auf Prozesse des Ar-

4.1 Theoretische Annahmen zum primären Gesundheitseffekt

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beitens (Westhoff 1991: 47). Diese stützt die Vermutung, dass Beeinträchtigungen des Aufmerksamkeitskontrollsystems sowohl bei Lernprozessen im tagtäglichen Unterricht, als auch in Prüfungssituationen eine Rolle spielen sollten, indem sie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit einschränken. In der epidemiologischen Praxis stehen im Hinblick auf Kinder und Jugendliche vor allem Konzentrationsschwierigkeiten im Zentrum des Erkenntnisinteresses (vgl. Berg 1991: 39), wobei davon ausgegangen wird, dass diese mit Schwierigkeiten in der Aufmerksamkeitssteuerung identisch sind. Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit Zusammenhänge mit Konzentrationsstörungen sind bisher insbesondere für mentale gesundheitliche Beeinträchtigungen nachgewiesen worden (Patel et al. 2007). Effekte physischer gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die Konzentrationsfähigkeit von Kindern sind hingegen bislang nur selten systematisch untersucht worden. Für physische Schmerzen ist auf neuronaler Ebene beispielsweise belegt, dass die mediale Schmerzbahn diejenigen Hirnareale rekrutiert, welche auch für die Aufmerksamkeitskontrolle und das Arbeitsgedächtnis zuständig sind (Lorenz und Bingel 2008: 32). Die Beeinträchtigung trifft damit das so genannte kapazitätslimitierte Aufmerksamkeitskontrollsystem, dessen Beanspruchung durch Schmerz damit einhergeht, dass weniger Kapazitäten für andere kognitive Aufgaben und Handlungsziele verbleiben (ebd.). In einer Übersichtsarbeit finden Gauntlett-Gilbert und Eccleston (2007) Hinweise darauf, dass Schmerzen die Aufmerksamkeitsfähigkeit für andere Tätigkeiten ernsthaft beeinträchtigen können, unter anderem im Kontext Schule. Vergleichbare Befunde liegen auch für Deutschland vor: Hübner et al. (2009) untersuchten durch chronische Schmerzen verursachte Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen bei rund 300 Jugendlichen im Alter von 11 bis 18 Jahren. Hierbei wurden unter anderem die Auswirkungen von chronischen Schmerzen im schulischen Alltag untersucht. Die Befragten sollten auf einer Skala von 1 („niemals“) bis 5 („immer“) folgende Frage beantworten: „Wenn du Schmerzen hast, wie oft stören sie dich bei den folgenden Beschäftigungen?“ Die Bereiche Schulbesuch (M=3,69) und Hausaufgaben (M=3,88) weisen neben Sport (M=3,92) die höchsten Mittelwerte aus allen Bereichen auf (Hübner et al. 2008: 26). Knapp ein Viertel der Befragten konstatiert darüber hinaus „Schulunlust“ als Folge der Schmerzen. Anhand des Marburger Konzentrations-Untersuchungs-Verfahrens für Vorschulkinder (MKVK, siehe Berger et al. 2011) untersuchte Blechschmidt (2003) Unterschiede in der Konzentrationsfähigkeit zwischen gesunden Vorschulkindern und Kindern mit auditiven Wahrnehmungsstörungen. Obwohl das MKVK als Karten-Sortier-Verfahren

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nicht an das Hörvermögen gekoppelt ist, schnitten die gesundheitlich beeinträchtigten Kinder im Mittel signifikant schlechter ab als die gesunden Kinder. Sie benötigten länger für die ihnen gestellte Aufgabe und machten mehr Fehler. An einer Stichprobe von rund 800 Kindern und Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahren untersuchen Ravens-Sieberer et al. (2003) Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die Lebensqualität. Es zeigt sich ein deutlich niedrigerer Wert in der schulbezogenen Lebensqualität für Befragte mit chronischen Beschwerden (Asthma, Neurodermitis, Schmerzen, u.a.) im Vergleich zu gesunden Befragten. Zwar ist dieser Befund nicht mit einem negativen Effekt auf die Leistungsfähigkeit gleichzusetzen; es könnte sich aber um einen Hinweis darauf handeln, dass durch die untersuchten Beschwerden die schulische Leistungsfähigkeit als eingeschränkt erlebt wird. Bedeutung der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit für die schulischen Leistungen Duncan et al. (2007) kommen in einer Metaanalyse aus sechs Längsschnittstudien aus den USA, Großbritannien und Kanada zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass die Fähigkeit zu Aufmerksamkeit im Vorschulalter der wichtigste Prädiktor für spätere schulische Leistungen ist, auch unabhängig von der sozialen Herkunft und dem Vorliegen weiterer sozioemotionaler und verhaltensbezogener Probleme im Vorschulalter. Auch für Grundschulkinder ist ein positiver Zusammenhang von Aufmerksamkeitsund Konzentrationsfähigkeit mit Leistungstests und Schulnoten gezeigt worden (Alexander et al. 1993; Raver al. 2011). Duncan et al. (2007: 1443) verweisen auf weitere Studien, die zeigen, dass sich die Fähigkeit von Schüler/innen Aufmerksamkeit zu steuern und aktiv zu regulieren, von anderen interpersonellen Fähigkeiten unterscheidet und ein eigenständiger Prädiktor für spätere schulische Leistungen ist, und zwar unabhängig von der kognitiven Leistungsfähigkeit (McClelland et al. 2000; Yen et al. 2004) sowie von sprachlichen Kompetenzen (Howse et al. 2003). Es ist daher zusammenfassend davon auszugehen, dass eine Verminderung der Leistungsfähigkeit durch eine beeinträchtigte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit ein Mediator für den Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen ist. 4.1.1.2 Schulische Fehlzeiten Ein weiterer Wirkmechanismus, über den gesundheitliche Beeinträchtigungen auf den Kompetenzerwerb wirken sollten, sind schulische Fehlzeiten. Gesundheitliche Beeinträchtigungen erhöhen insgesamt das Risiko von Unterrichtsabwesenheit. Ein Fernbleiben vom Unterricht kann beispielsweise bei stärkeren oder anhaltenden Beschwerden, erforderlichen Arztbesuchen, beziehungsweise Krankenhausaufenthalten oder der Gefahr einer Ansteckung anderer Personen erforderlich werden. Schulabwesenheit geht mit einer Versäumnis von Unterrichtsinhalten einher, die anderweitig nachgeholt

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werden müssen. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass insbesondere regelmäßige Schulabwesenheit mit negativen Effekten auf die schulischen Leistungen einhergeht. Gesundheitliche Beeinträchtigungen erhöhen das Risiko für Schulabwesenheit Dass gesundheitliche Beeinträchtigungen mit einem erhöhten Risiko für Schulabwesenheit assoziiert sind, kann als empirisch gesichert angesehen werden. In einer aktuellen Übersichtsarbeit internationaler Studien zum Thema Schulabsentismus identifizieren Lenzen et al. (2016: 104) die Gesundheit von Schülerinnen und Schülern als wichtige Erklärungsvariable für Schulabwesenheit. McShane et al. (2001) zeigen in einer neuseeländischen Studie, dass bei etwa einem Fünftel der betroffenen Schülerinnen und Schüler dem Schulabsentismus eine körperliche Erkrankung vorausgeht. Für die Niederlande identifizieren Vanneste et al. (2015) körperliche Krankheiten als den weitaus wichtigsten Grund für Schulabsentismus. Empirisch gesichert sind Assoziationen mit langfristigen Erkrankungen wie Asthma, Diabetes oder Allergien (vgl. auch die Übersichtsarbeit von Kearney, 2008). Zusammenhänge lassen sich darüber hinaus zwischen Absentismus und Schlafstörungen zeigen (vgl. Hochadel et al. 2014). Des Weiteren verweisen auch Studien, welche die Konsequenzen gesundheitlicher Beeinträchtigungen für unterschiedliche Lebensbereiche untersuchen, immer wieder auf Schulabwesenheiten als Folge gesundheitlicher Beschwerden. Studien aus Kanada belegen eine erhöhte Anzahl an Fehltagen für Schulkinder mit Diabetes Mellitus vom Typ 1 (Glaab et al. 2005; Vetiska et al. 2000). Durch Luftverschmutzung entstehende Atemwegserkrankungen und deren Auswirkungen untersuchen Romieu et al. (1992) in den 1980er und -90er Jahren längsschnittlich bei über 100 Kindern in Mexiko Stadt. Die Forschergruppe kann zeigen, dass Atemwegserkrankungen bei Schulkindern unter anderem mit einer erhöhten Anzahl an Fehltagen assoziiert sind. Diette et al. (2000) zeigen Zusammenhänge zwischen Schulabwesenheit und regelmäßigen nächtlichen Asthmaanfällen. Je schwerer die Symptomatik der Erkrankung, desto häufiger nächtliches Erwachen und desto höher die schulischen Fehlzeiten. Fowler et al. (1985) zeigen für die USA, dass Kinder mit chronischen Erkrankungen (N=270) häufiger dem Unterricht fernbleiben als Kinder ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen. Obwohl die Studie schon mehr als 30 Jahre zurückliegt, ist sie für die vorliegende Fragestellung interessant, da sie mehrere Erkrankungsformen mit einbezieht. Insgesamt verweist die Studie eine große Heterogenität in der Anzahl der assoziierten Fehltage mit den einzelnen Erkrankungen. Es zeichnet sich darüber hinaus auch ein uneinheitliches Bild der Konsequenzen von Schulabwesenheit ab: Während beispielsweise Jungen, die an Hämophilie leiden, zwar durchschnittlich rund drei Mal so

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viele Fehltage aufweisen wie gesunde Kinder, liegen ihre Leistungen in einem nationalen Leistungstest signifikant höher als die der gesunden Kinder. Kinder mit Epilepsie hingegen, die „nur“ knapp zweimal so häufig fehlen wie gesunde Kinder, weisen in diesem Test signifikant schlechtere Ergebnisse auf als die gesunde Vergleichsgruppe. Die Autoren folgern, dass zwar nahezu alle chronischen Erkrankungen mit einer höheren Anzahl an Fehltagen assoziiert sind, diese sich jedoch nicht zwingend auch in schwächeren schulischen Leistungen niederschlagen. Ein Grund für die unterschiedlichen Effekte auf die Leistungsfähigkeit könnte in der Korrelation bestimmter Krankheiten mit leistungsrelevanten Drittvariablen liegen, was hier allerdings nicht untersucht wurde. Hübner et al. (2009) finden bei einer Untersuchung an elf bis 18 Jahre alten, an chronischen Schmerzen leidenden Jugendlichen einen Zusammenhang mit Fehltagen: Je höher die schmerzbezogene Beeinträchtigung, desto höher die Anzahl der Schulfehltage. Die Autoren weisen auf die Übereinstimmung ihrer Befunde mit Ergebnissen von Gauntlett-Gilbert und Eccleston (2007) hin, die ebenso einen signifikanten Zusammenhang zwischen eingeschränkter schmerzbedingter Funktionsfähigkeit und Schulfehltagen in einer Stichprobe von 110 britischen Jugendlichen aufzeigen konnten. Krankheitsbedingte Fehlzeiten sind im Fall von schweren chronischen Erkrankungen wenig überraschend; doch auch für kurzfristige Erkrankungen sowie für körperliche Beschwerden ohne spezifische Diagnose lassen sich Assoziationen mit Schulabwesenheit zeigen. Saps et al. (2009) zeigen an einer Untersuchung von knapp 250 USamerikanischen Schülerinnen und Schülern zwischen der dritten und achten Jahrgangsstufe ein erhöhtes Risiko für Schulabwesenheit bei abdominalen Beschwerden ohne spezifische Diagnose, wobei die Anzahl der durchschnittlichen Fehltage mit der Stärke der Schmerzen zunimmt. Auch Kearney (2008) zeigt in seiner Übersichtsarbeit, dass Schulabwesenheit nicht nur mit chronischen gesundheitlichen Belastungen, sondern auch mit kurzfristigen Erkrankungen und Beschwerden wie Grippe, Bauch- oder Kopfschmerzen assoziiert ist. Schwimmer et al. (2003) zeigen an einer Studie mit über 500 Kindern und Jugendlichen im Alter von fünf bis 18 Jahren in den USA, dass übergewichtige Kinder deutlich mehr Fehltage aufweisen als normalgewichtige Kinder. Gemessen wurde die durchschnittliche Anzahl an Fehltagen im Monat vor der Befragung, wobei übergewichtige Kinder und Jugendliche mit 4,2 Fehltagen sechsmal so häufig fehlten wie ihre normalgewichtigen Peers mit 0,7 Fehltagen im Durchschnitt (siehe auch Crosnoe 2007 für Mädchen). Bedeutung von Schulabwesenheit für die schulischen Leistungen Schulabwesenheit sollte erwartungsgemäß durch Versäumnis von Unterrichtsstoff mit schlechteren schulischen Leistungen einhergehen. Viele Forschungen zu dem Thema zeigen übereinstimmend negative Effekte von Fehlzeiten auf die schulischen Leistun-

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gen (Diette et al. 2000; Easton & Engelhard 2014; Fowler et al. 1985; Ohlund & Erricson 1994). Regelmäßige Fehlzeiten sind mit schwächeren schulischen Leistungen assoziiert, auch wenn die Wirkrichtung hierbei nicht eindeutig ist. Schließlich könnten schlechte schulische Leistungen umgekehrt auch zu Schulangst, Schulvermeidung und exzessivem „Schuleschwänzen“ führen (Steins et al. 2014). Es gibt darüber hinaus auch Studien, die keinen Zusammenhang zwischen Fehzeiten und schulischen Leistungen finden (Crump et al. 2013; Silverstein et al. 2001; Taras & Potts-Datema 2005b). Jackson et al. (2011) untersuchen die Effekte von Zahnerkrankungen und finden negative Effekte für schmerzbedingte Schulabwesenheit auf die Leistungen, nicht aber für Abwesenheit aufgrund von zahnärztlichen Kontrolluntersuchungen. Die meisten Studien verweisen allerdings auf einen signifikanten Zusammenhang, der auch in der vorliegenden Arbeit als Annahme formuliert wird. Es wird erwartet, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen das Risiko für schulische Fehlzeiten erhöhen und sich somit negativ auf die schulischen Leistungen auswirken. 4.1.1.3 Internalisierung negativer Zuschreibungen Der dritte zu testende Wirkmechanismus beschreibt mit der Internalisierung negativer Zuschreibungen eine sozialpsychologische Facette gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Die Annahme ist, dass bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigungen mit negativen Zuschreibungen behaftet sind. Schließen diese negativen Bewertungen auch leistungsrelevante Aspekte mit ein, könnte sich dies im leistungsbezogenen Selbstkonzept betroffener Schüler/innen niederschlagen. In der Folge könnten betroffene Schüler/innen im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung (siehe Seite 83) tatsächlich schwächere schulische Leistungen zeigen als ihre nicht betroffenen Klassenkamerad/innen. Die Annahme einer Internalisierung negativer Zuschreibungen ist eng mit dem Stigmabegriff verbunden. Als ein Grundbegriff der Soziologie wird Stigma definiert als „ein physisches, psychisches oder soziales Merkmal, durch das eine Person sich von den übrigen Mitgliedern einer Gesellschaft oder Gruppe, der sie angehört, negativ unterscheidet und das sie von vollständiger sozialer Anerkennung ausschließt.“ (Peuckert 1992: 333). Das Merkmal als solches wird erst dann zum Stigma, wenn es von anderen Personen als eine negativ bewertete Normabweichung gedeutet wird. Stigmata können darüber hinaus Generalisierungseffekte hervorrufen, das heißt, dass den Merkmalsträger/innen negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die zu dem Merkmal selbst oder dem Verhalten seiner Träger/innen keinen oder einen nur geringen Bezug haben. Im Jahr 1963 veröffentlichte der US-amerikanische Soziologe Erving Goffman seine Monographie „Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity“ (Goffman 1963). Dieses Werk sollte den Beginn der sozialwissenschaftlichen Stigmaforschung

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markieren (Piontek 2009: 10 f.). Goffman versteht unter einem Stigma ein individuelles Merkmal, das mit einer sozialen Norm bricht und von anderen Personen auf der Grundlage vorurteilsbehafteter Zuschreibungen negativ bewertet wird. Nach Goffman kann die Identität von Individuen durch ein Stigma beschädigt werden: Dem zugrunde liegt die Idee einer sozialen Identität, welche sowohl persönliche als auch strukturelle Merkmale beinhaltet. Goffman (1963: 3 f.) unterscheidet eine virtuale Komponente der sozialen Identität, welche Vorstellungen und Erwartungen anspricht, mittels derer eine Person bestimmten Kategorien zugeordnet werden kann, von einer aktualen Komponente der sozialen Identität, das heißt von Merkmalen und Attributen, über welche die Person tatsächlich verfügt (Piontek 2009: 11 f.). Zwischen virtualer und aktualer Identität gibt es Differenzen, da Vorstellungen und Erwartungen an Personen oftmals von Wirklichkeiten in sozialen Interaktionsprozessen abweichen. Diese Diskrepanzen können dazu führen, dass Personen Attribute zugeschrieben werden, durch die sie als abweichend gekennzeichnet und herabgestuft werden. Attribute dieser Art bezeichnet Goffman als Stigmata, wobei er zwischen drei Kategorien unterscheidet (vgl. Piontek 2009: 12): (1) Physische Deformationen wie beispielsweise körperliche Behinderungen, (2) individuelle Charakterfehler wie etwa mentale Verwirrung oder Sucht und des Weiteren (3) phylogenetische Stigmata, die beispielsweise auf Rasse, Nation oder Religionszugehörigkeit beruhen. Goffman legt in seinem Werk den Fokus auf Prozesse der Interaktion zwischen Betroffenen (Stigmatisierten) und „Normalen“ (Nicht-Stigmatisierten). Nicht das Merkmal selbst steht im Mittelpunkt, sondern seine negative Definition. Goffman beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie Merkmalsträger/innen mit dem Stigma umgehen („Stigma Management“). Barlösius und Phillips (2015) plädieren dafür, in Anlehnung an Norbert Elias‘ Figurationstheorie (Elias 1994) zwischen Stigma und Stigmatisierung zu unterschieden. Stigmatisierung beschreibt konkrete soziale Interaktionen in denen einem Individuum oder einer Gruppe durch andere Personen explizit eine Minderwertigkeit oder Unterlegenheit zugeschrieben wird. Stigma hingegen beschreibt die Objektivierung solch interaktiver Prozesse zu einem kollektiven, allgemeingültigen Tatbestand. Ein Stigma wird somit zu einem objektivierten Bezugsrahmen, der allgegenwärtig auch dann Gültigkeit besitzt, wenn augenblicklich keine Stigmatisierung vonstattengeht. Durch diese allgemeingültigen Klassifikationen können sich Personen auch in sozialen Interaktionen stigmatisiert fühlen, in denen keinerlei Stigmatisierung stattfindet (Barlösius & Philips 2015: 9). Es kommt so zu einer generalisierten Internalisierung, die in allen Interaktionen präsent ist, unabhängig davon, ob das Gegenüber das Stigma kennt oder nicht. Für dieses „gefühlte Stigma“ (felt stigma) ist keine Aktivierung durch Stigmatisierung notwendig.

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Gesundheitlichen Beeinträchtigungen kann im Sinne einer Abweichung von der idealen, funktionalen oder pathologischen Norm (vgl. Faller 2016: 4) ein Stigma anhaften, insbesondere, wenn diese gut sichtbar ist. Eliot Freidson (1979) beschäftigte sich in den 1970er Jahren intensiv mit der sozialen Legitimität von Krankheit und den Umständen, unter denen Krankheit als „deviant“ erachtet wird. Eine wichtige Rolle spielen hierbei kulturspezifische moralistische Ursachenzuschreibungen: Krankheiten, deren Entstehungsursache als vornehmlich biophysisch wahrgenommen werden, wird eine höhere Legitimität zuteil als solchen Krankheiten, für deren Entstehen die erkrankte Person (mit)verantwortlich gemacht wird. Der Aspekt der Verantwortlichkeit wurde einige Jahre später auch in der Attributionstheorie aufgegriffen (Weiner et al. 1988), der zufolge die Reaktionen auf eine Normabweichung umso stärker ausfallen, je mehr diese auf internale und kontrollierbare Ursachen zurückgeführt wird. Gesundheitsbezogene Stigmata Im schulischen Kontext werden Stigmata insbesondere hinsichtlich leistungsbezogener negativer Zuschreibungen relevant. Ein gesundheitliches Stigma lässt ein Individuum für andere erkennbar als „abweichend, auffällig oder beeinträchtigt“ erscheinen (Hilbert 2012: 420). Die Forschung zeigt, dass unter den zu untersuchenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen insbesondere Übergewicht und Adipositas und das Aufmerksamkeitsdefizitund Hyperaktivitätssyndrom mit einem negativen Stigma assoziiert sind. Von Übergewicht oder Adipositas sowie von dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom betroffenen Personen werden negative leistungsbezogene Merkmale zugeschrieben. Im Folgenden werden mögliche Internalisierungen negativer Stigmata zu beiden Formen gesundheitlicher Beeinträchtigungen dargestellt. Negative Zuschreibungen bei Übergewicht und Adipositas Seit einiger Zeit werden die sozialen Folgen von Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit) intensiv diskutiert (Barlösius & Philipps 2011; 2015; Bozoyan 2014; Deuschle & Sonnberger 2011; Giel et al. 2012; Helbig & Jähnen 2013; Kräling et al. 2010; Vartanian & Shaprow 2008). Übergewicht und Adipositas brechen mit der sozialen Norm des Schlank-Seins. Diese Normabweichung gilt als in hohem Maße durch das betroffene Individuum selbst verschuldet (Crandall et al. 2001; Puhl und Brownell 2001). Barlösius und Philipps (2015: 9) verweisen in diesem Zusammenhang auf Arbeiten von Abigail Saguy (2013), die für die zeitgenössische US-amerikanische Gesellschaft einen sozial anerkannten „blame frame“ für Übergewicht und Adipositas konstatiert, das heißt einen Bezugsrahmen der Selbstverantwortung und des Eigenverschuldens. Demgegenüber spielten soziokulturelle Bezugsrahmen, beispielsweise mit Verweis auf die Konsumgesellschaft, oder ein biologischer Bezugsrahmen, der die

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Relevanz genetischer Dispositionen in den Fokus rückt, bei der kollektiven Deutung von Adipositas kaum eine Rolle (Barlösius & Philipps 2015: 9). Durch den Bezugsrahmen der Selbstverursachung kann es Barlösius und Philipps zufolge zu einer Verletzung des Selbstbildes übergewichtiger Personen kommen. Gleichzeitig sind Übergewicht und Adipositas mit teils starken negativen Zuschreibungen behaftet, teilweise auch hinsichtlich leistungsbezogener Eigenschaften, wie die im Folgenden aufgeführten Studien zeigen. Übergewicht36 und Adipositas sind mit einer Reihe negativer Stereotype assoziiert, die mitunter auch die akademische Leistungsfähigkeit betreffen. Übergewichtigen erwachsenen Personen werden beispielsweise eine geringere Intelligenz, Motivation, Willensstärke und Selbstkontrolle zugeschrieben als Normalgewichtigen (Hilbert et al. 2008; Roehling 1999). Sikorski et al. (2012) zeigen für Deutschland, dass sich gewichtsbezogene Vorurteile nicht nur auf Erwachsene, sondern insbesondere auch auf Kinder beziehen: In ihrer Studie an erwachsenen Befragten wurden übergewichtige und adipöse Kinder noch negativer bewertet als Erwachsene mit Übergewicht oder Adipositas. Ergebnisse eines Experiments von Thiel et al. (2008) mit Kindern und Jugendliche weisen in dieselbe Richtung. Die Autor/innen baten 454 Jugendliche im Alter von zehn bis 15 Jahren um eine Einschätzung zu unbekannten Mädchen und Jungen anhand von Fotografien. Die Befragten sollten Einschätzungen zu unterschiedlichen Charaktereigenschaften der abgebildeten Kinder treffen und angeben, ob diese als Spielkameraden infrage kämen oder nicht. Es waren (1) adipöse, (2) normalgewichtige und (3) normalgewichtige, querschnittsgelähmte Kinder abgebildet. Im Vergleich zu 36

Anders als Fettleibigkeit (Adipositas) stellt moderates Übergewicht an sich keine Krankheit oder gesundheitliche Beeinträchtigung dar. Insofern muss kritisch reflektiert werden, ob die Bezeichnung „gesundheitliche Beeinträchtigung“ hierfür angemessen ist. Aus drei Gründen wird in der vorliegenden Arbeit Übergewicht bewusst vereinfachend als gesundheitliche Beeinträchtigung behandelt: Zum einen ist Übergewicht erwiesenermaßen ein Risikofaktor für eine Reihe von Erkrankungen (Harlan 1993; Ferraro et al. 2003; Srinivasan et al. 1996). Insofern kann Übergewicht zumindest in seiner „dispositionellen“ Rolle für spätere gesundheitliche Beeinträchtigungen gedacht werden. Zweitens wird in der Sozialepidemiologie und der Gesundheitsberichterstattung für das Kindes- und Jugendalter der (steigenden) Prävalenz von Übergewicht eine große Bedeutung beigemessen. Hierbei wird Übergewicht eine potenziell gesundheitsschädigende Wirkung zugeschrieben, die sich nicht auf zukünftige gesundheitsbezogene Outcomes beschränkt, sondern auch unmittelbare Beeinträchtigungen im Kindes- und Jugendalter selbst einschließt, die nicht erst zeitverzögert zu einem späteren Zeitpunkt im Leben auftreten (Kolip 2004: 235). Im Gegensatz zu Adipositas wird Übergewicht hierbei zwar nicht per se als Krankheit betrachtet, wohl aber als gesundheitliche Beeinträchtigung. Drittens hat Übergewicht nach aktuellem Forschungsstand selten genetische Ursachen, sondern gilt als hauptsächlich verhaltensverursacht durch überkalorische Ernährungsweise, Bewegungsmangel oder eine Kombination aus beidem. Schätzungen zufolge sind nur etwa 10-15% der interindividuellen Varianz im BMI genetisch bedingt (Hebebrand et al. 2013), wobei die Bedeutung physiologischer Vorgänge des Metabolismus allerdings noch deutlich untererforscht ist (vgl. Markert 2014: 4). Übergewicht kann aus dieser Perspektive auch als Folge gesundheitsrelevanten Verhaltens gedeutet werden.

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den behinderten und nicht behinderten normalgewichtigen Kindern wurden die adipösen Kinder insgesamt als weniger sympathisch, weniger intelligent und attraktiv, als fauler und seltener als Spielkameraden infrage kommend bewertet. Mit einem ganz ähnlichen Vorgehen war bereits im Jahr 2003 eine US-amerikanische Studie zu vergleichbaren Resultaten gekommen (Latner & Stunkard 2003). Adipöse Kinder wurden auch in dieser Studie signifikant schlechter bewertet als nicht behinderte und behinderte normalgewichtige Kinder. Latner und Stunkard (2003) hatten ihre Untersuchung explizit als Replikationsstudie zu einem Experiment aus dem Jahr 1961 angelegt (Richardson et al. 1961), das bereits ähnliche, wenn auch schwächere Zusammenhänge, gezeigt hatte. Latner und Stunkard (2003) zeigen mit ihrer Replikationsstudie, dass der stigmatisierende Effekt von Adipositas über die letzten 40 Jahre in den USA stark zugenommen hat. Gewichtsbezogenes Stigma scheint zumindest für die USamerikanische Gesellschaft ein wachsendes Problem zu sein. In einer Übersichtsarbeit tragen Puhl und Latner (2007) Studienergebnisse zu Stereotypisierung übergewichtiger Kinder durch Peers, Lehrkräfte und sogar Eltern zusammen. Die Autorinnen konstatieren, dass Kindheit und Jugend von einer erhöhten Vulnerabilität und Sensitivität gegenüber gewichtsbasiertem Stigma gekennzeichnet sind. Sie argumentieren, dass solch frühe negative Erfahrungen die soziale, emotionale und akademische Entwicklung beeinträchtigen könnten (Puhl & Latner 2007: 565). Dass von Übergewicht betroffene Personen die negativen Zuschreibungen zu internalisieren scheinen, zeigen Studien zum Thema Selbststigmatisierung (Durso und Latner 2008; Lillis et al. 2011; Puhl und Brownell 2003; Rehaag 2011). Selbststigmatisierung bedeutet, dass betroffene Personen sich aktiv selbst negative Eigenschaften zuschreiben, welche mit ihrem Stigma in der allgemeinen Wahrnehmung in Verbindung gebracht werden. Im Rahmen der Selbststigmatisierung zeigen die Betroffenen ihrer eigenen Person gegenüber Vorurteile und benachteiligendes Verhalten (vgl. Rudolph 2014: 360). Hilbert et al. (2014) zeigen an über 1,000 übergewichtigen und adipösen Erwachsenen, dass eine Internalisierung gewichtsbezogener negativer Zuschreibungen mit Minderwertigkeitsgefühlen der betroffenen Personen assoziiert ist. Für Kinder und Jugendliche sind die Befunde zu den Folgen gewichtsbezogener Vorurteile uneinheitlich: Strauss (2000) findet keine Unterschiede im Selbstwertgefühl zwischen über- und normalgewichtigen Kindern im Alter von neun und zehn Jahren. Mit zunehmendem Alter entstehen allerdings Unterschiede zu Ungunsten der übergewichtigen Kinder, wie seine Wiederholungsbefragung im Alter von 13 bis 14 Jahren an demselben Sample zeigt. Auch eine kanadische Längsschnittstudie kommt zu dem Ergebnis, dass sich mit zunehmendem Alter das Selbstbewusstsein übergewichtiger Kinder negativer entwickelt als das normalgewichtiger Kinder (Wang et al. 2009). Griffiths et al. (2010) sehen in einer Übersichtsarbeit anhand von 37 Studien den Zu-

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sammenhang zwischen Übergewicht und geringem globalen sowie körperlichem Selbstbewusstsein bestätigt. Der stärkste Zusammenhang besteht im Alter zwischen 13 und 18 Jahren, lässt sich aber bereits in ähnlicher Stärke auch bei jüngeren Kindern finden. Crocker und Major (1989) verweisen wiederum auf Studien, in denen sich der erwartete negative Effekt von Stigmatisierungen auf das Selbstbewusstsein nicht zeigt und führen hierfür drei Erklärungen an (ebd.: 612 ff.): Innerhalb einer stigmatisierten Gruppe könnte erstens eine kollektive Ablehnung der gängigen Vorurteile über das Stigma vorherrschen. Zweitens könnten Betroffene ihre Situation mit anderen, möglicherweise stärker Betroffenen vergleichen anstatt mit nicht-Betroffenen und so zu einer positiven Eigenbewertung kommen. Drittens könnten in der Gemeinschaft der Stigmatisierten jene Bereiche „unterbetont“ werden, in denen der Gruppe Nachteile nachgesagt werden, während Bereiche überbetont werden, die mit positiven Vorurteilen belegt sind, in Bezug auf übergewichtige Personen beispielsweise Humor oder Gemütlichkeit. Der Großteil der Studien zum Zusammenhang von Übergewicht und Selbstbewusstsein zielt auf das globale oder das körperbezogene Selbstbewusstsein ab. Unklar ist, inwieweit sich Effekte auf leistungsrelevante Facetten des Selbstbewusstseins zeigen (siehe Seite 95). Negative Zuschreibungen bei ADHS Auch das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom ist mit leistungsrelevanten negativen Zuschreibungen verbunden. Diese sind nicht gänzlich von dem Merkmal ADHS getrennt, sondern stehen zu der Tatsache in Bezug, dass Aufmerksamkeit eine relevante Größe für Schulerfolg darstellt und ein Defizit selbiger per se als ein leistungsrelevanter Nachteil gedeutet werden kann. Dennoch werden von ADHS betroffenen Personen stärkere Defizite unterstellt als aufgrund ihrer Diagnose zu erwarten wären. Lebowitz (2016) hat in einer Übersichtsstudie Befunde aus den USA zu ADHS-basiertem Stigma zusammengetragen. Eisenberg und Schneider (2007) zeigen, dass Lehrkräfte die schulischen Leistungen für Drittklässler/innen mit ADHS signifikant schlechter einschätzen als für Schüler/innen ohne ADHS. Die Beurteilung der von ADHS betroffenen Schüler/innen fallen noch schlechter aus als auf Grundlage ihrer tatsächlichen akademischen Leistungen zu erwarten wäre. Auch die Urteile durch Eltern fallen für Kinder mit ADHS schlechter aus als ihr tatsächlicher Leistungsstand erwarten ließe (Eisenberg & Schneider 2007). Eine qualitative Untersuchung britischer Kinder und Jugendlicher zwischen neun und 14 Jahren von Singh et al. (2010) zeigt auf, dass sich von ADHS betroffene Jugendliche als von anderen Personen „bloßgestellt“ und als „andersartig“ empfunden erleben. Insgesamt sind sie der Ansicht, dass Lehrkräfte und Klassenkamerad/innen eine negative Sicht auf die Betroffenen haben, sie unter anderem für weniger intelligent halten als andere Schüler/innen und ihnen

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ihre Andersartigkeit in alltäglichen Situationen zeigen. Auch Walker et al. (2008) finden Evidenz für eine negative Einschätzung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS seitens ihrer Peers. Diese Beschreibungen lassen auf ein mit ADHS assoziiertes Stigma schließen. Lebowitz (2016: 202) verweist allerdings auch auf eine Studie, deren Befunde nicht den Schluss zulassen, dass von ADHS betroffene Jugendliche stigmabedingte Nachteile hinsichtlich ihrer generellen und schulbezogenen Selbstwahrnehmung hätten (Eisenberg & Schneider 2007, siehe auch Hoza et al. 2004). Tabassam und Grainger (2002) finden hingegen für ein australisches Sample negative Zusammenhänge zwischen ADHS und der Selbstwahrnehmung von Schüler/innen in Bezug auf akademische Belange. Auch eine US-amerikanische Studie von Slomkowski et al. (1994) liefert Hinweise darauf, dass Kinder und Jugendliche mit ADHS ein geringeres Selbstwertgefühl aufweisen als Kinder und Jugendliche ohne ADHS. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die empirische Befundlage eindeutige Hinweise auf ADHS-basiertes Stigma liefert; inwiefern dies sich im Selbstkonzept der betroffenen Kinder und Jugendlichen niederschlägt, ist hingegen weniger klar. Bedeutung gesundheitsbezogener Stigmata für die schulischen Leistungen Für die theoretische Verknüpfung von gesundheitlichen Stigmata mit schulischen Leistungen ist der Begriff des akademischen Selbstkonzepts als Unterkategorie des Selbstkonzepts bedeutsam. Nach Bong und Skaalvik (2003) umfasst das akademische Selbstkonzept Wissen und Wahrnehmungen hinsichtlich der eigenen akademischen Leistungsfähigkeit. Neben einer kognitiven Komponente beinhaltet das akademische Selbstkonzept auch eine emotionale Komponente in Form von affektiv basierten Einstellungen gegenüber der eigenen Person in schulischen Belangen (Bong und Skaalvik 2003: 6). Ein positives akademisches Selbstkonzept gilt als förderlich für schulische Leistungsfähigkeit und für in die Zukunft gerichtete Bildungsaspirationen und die Bildungsbeteiligung (Prince & Nurius 2014; Wouters et al. 2011). Ehm et al. (2011) weisen auf verschiedene Erklärungsansätze für das Zusammenspiel von akademischem Selbstkonzept und schulischen Leistungen hin, wobei in der aktuellen Debatte von einer Wechselwirkung ausgegangen wird: Die schulische Leistung hat einen Einfluss auf das Selbstkonzept, aber das Selbstkonzept übt umgekehrt auch einen Einfluss auf die Leistungsentwicklung aus (Ehm et al. 2011; Guay et al. 2003; Marsh & Craven 2006). Die letztgenannte Wirkrichtung ist für die Annahme eines Einflusses gesundheitsbezogener Stereotype auf den Bildungserfolg relevant: Davon ausgehend, dass die eigenen Wahrnehmungen und Bewertungen auch von den Bewertungen anderer beeinflusst werden, sollte sich eine gesundheitsbezogene Selbststigmatisierung hinsichtlich leistungsrelevanter Stereotype auch im akademischen Selbstkonzept niederschlagen und somit einen Einfluss auf die schulische Leistungsfähigkeit haben.

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Stereotype Threat Theoretische Annahmen zu einem Zusammenhang zwischen Stereotypen, akademischem Selbstkonzept und schulischer Leistungsfähigkeit lassen sich auch mit Hilfe der Theorie zu Stereotype Threat herleiten (Steele 1997; Désert et al. 2009; Hermann & Vollmeyer 2016; Spencer et al. 2016). Stereotype Threat („Bedrohung durch Stereotype“) beschreibt die Angst davor, ein negatives Stereotyp über eine Gruppe zu erfüllen, der man angehört. Diese Angst, so die Annahme, wirkt in Prüfungssituationen als zusätzlicher Druck und bewirkt, dass die betroffenen Personen in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind und im Sinne einer sich selbst-erfüllenden Prophezeiung tatsächlich eine schlechtere Leistung erzielen (Spencer et al. 2016: 419). Das Phänomen wurde bislang vor allem für ethnische oder geschlechtsspezifische leistungsbezogene Stereotype untersucht, lässt sich aber grundsätzlich auf alle Formen der Gruppenzugehörigkeit übertragen, die mit einem negativen leistungsbezogenen Vorurteil belastet sind. Spencer et al. (2016) identifizieren unter anderem zwei Mechanismen, aufgrund derer eine Leistungsminderung („Underperformance“) auftreten könne: Zum einen den erhöhten Erfolgsdruck, der aus der Motivation heraus entsteht, das Stereotyp nicht zu bedienen, und zweitens die Bedrohung der Selbstintegrität und Zugehörigkeit bei Erfüllung des negativen Stereotyps. Personen, die von einem Stereotyp bedroht sind, haben eine erhöhte Motivation das Stereotyp zu widerlegen, oder seine Bestätigung zumindest zu vermeiden. Spencer et al. (2016: 420) tragen Studien zusammen, die zeigen, dass dies zu einem erhöhten Erfolgsdruck führen kann, der damit einhergeht, dass Aufmerksamkeit und Konzentration nicht vollständig auf die eigentliche Aufgabe verwendet werden können, sondern zusätzliche Kapazitäten dafür aufgebracht werden müssen, den Erfolgsdruck zu verarbeiten. Ein erhöhter Erfolgsdruck kann außerdem zu einer Einschränkung des Arbeitsgedächtnisses führen, wie mehrere Studien gezeigt haben (ebd. 421). Einen weiteren, allerdings noch nicht empirisch untermauerten Mechanismus vermuten Spencer et al. (2016: 421 f.) in Taktiken der Betroffenen, ihr Selbstwertgefühl zu schützen, indem sie alternative Erklärungen für die antizipierte Underperformance finden, sich auf Grundlage dieses „self-handicapping“ (ebd.: 421) selbst weniger zutrauen, und infolge dessen in Testsituationen auch tatsächlich schlechter abschneiden. Zu Stereotype Threat durch Übergewicht finden Carels et al (2013) in einer online durchgeführten Befragungsstudie, dass übergewichtige junge Erwachsene eine Reihe von Situationen aus der Vergangenheit berichten können, in denen sie sich gewichtsbezogenem Stereotype Threat ausgesetzt sahen. Inwieweit sich dies aber tatsächlich in schulischen Misserfolgen niederschlägt, bleibt offen (ebd.: 267). Seacat und Mickelson (2009) berichten, dass sich bei übergewichtigen Frauen ein negativer Effekt von Stereotype Threat auf das intentionierte Ernährungs- und Bewegungsverhalten zeigt, wenn

4.1 Theoretische Annahmen zum primären Gesundheitseffekt

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diese mit ihrem Übergewicht und dem dazugehörigen Stigma ungesunder Ernährungsund Bewegungsgewohnheiten konfrontiert werden. Die dargestellten Studien sind zwar weder konkret auf Kinder und Jugendliche, noch unmittelbar auf die schulische Leistungsfähigkeit bezogen. Dennoch lässt sich theoretisch eine Übertragbarkeit auf den schulischen Kontext für jene gesundheitlichen Beeinträchtigungen herleiten, auf deren Grundlage leistungsrelevante Stereotype aktiviert werden. Es wird daher angenommen, dass bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigungen mit einem Stigma besetzt sind und durch die Internalisierung negativer leistungsrelevanter Stereotype im Sinne einer selbst erfüllenden Prophezeiung zu einer Verschlechterung der schulischen Leistungen führen. Ergänzend muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass negative Stereotype nicht nur über eine verminderte Leistungsfähigkeit infolge von Selbststigmatisierung, sondern auch aktiv zu Diskriminierung führen können, beispielsweise durch Lehrkräfte (vgl. Bozoyan 2014). Diese Mechanismen können im Laufe der vorliegenden Arbeit jedoch nicht untersucht werden und spielen daher auch in dem zugrunde gelegten theoretischen Modell keine zentrale Rolle. 4.1.1.4 Arbeitshypothesen zu den Wirkmechanismen des primären Gesundheitseffekts im Überblick Zusammenfassend ist von einem negativen Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigung auszugehen. Die erste Arbeitshypothese lautet daher wie folgt: Hypothese 1: Gesundheitliche Beeinträchtigungen haben einen negativen Effekt auf die schulischen Leistungen von Grundschulkindern. Darüber hinaus werden Wirkhypothesen zu Konzentrationsschwierigkeiten, Fehlzeiten und Stigma als mögliche Mediatoren für die Effekte aller zu untersuchenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen postuliert. Hypothese 2a: Der in H1 postulierte negative Effekt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen wird partiell durch eine verminderte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit vermittelt. Hypothese 2b: Der in H1 postulierte negative Effekt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen wird partiell durch schulische Fehlzeiten vermittelt. Hypothese 2c: Der in H1 postulierte negative Effekt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen wird partiell durch internalisierte negative Zuschreibungen (Stigma) vermittelt. In den theoretischen Ausführungen ist bereits deutlich geworden, dass ein bestimmter Mechanismus nicht jede Form von gesundheitlicher Beeinträchtigung gleich stark me-

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4 Gesundheit im Modell zur Genese von ungleichen Bildungschancen nach Boudon

diieren sollte, sondern dass sich der Anteil der erklärten Varianz durch den jeweiligen Mediator zwischen den Beeinträchtigungen unterscheiden sollte. In Tabelle 1 ist eine Übersicht der zu erwartenden Stärken der jeweiligen Mediationen für die verschiedenen im Rahmen dieser Arbeit zu untersuchenden gesundheitliche Beeinträchtigungen dargestellt.37 Beispielsweise ist anzunehmen, dass Stigma insbesondere im Fall von Übergewicht und ADHS eine wichtige Mediatorrolle spielen sollte, während die anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen weniger stark mit einer Internalisierung negativer Zuschreibungen in Verbindung stehen sollten. Auch für die Mediation durch Konzentrationsschwierigkeiten sind differenzielle Effekte zu erwarten, wobei diese insbesondere bei regelmäßigen Schmerzen und ADHS ins Gewicht fallen sollten. Verschiedene Formen von Beeinträchtigungen gehen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten für schulische Fehlzeiten einher. Während beispielsweise Übergewicht kaum mit schulischer Abwesenheit assoziiert sein dürfte, sind Unfallverletzungen, die einen Krankenhausaufenthalt erforderlich machen, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit mit einer Abwesenheit vom Unterricht verbunden (sofern sie sich nicht zufällig in den Schulferien ereignen). Tabelle 1 Übersicht über Stärke der Wirkmechanismen für verschiedene gesundheitliche Beeinträchtigungen

Allg. gesundheitliche Beeintr. Regelmäßige Schmerzen Übergewicht Unfallverletzungen ADHS Niedriges Geburtsgewicht

Konzentrationsschwierigkeiten +++ +++ + +++ +++ +

Schulische Fehlzeiten +++ +++ + +++ ++ +

(Internalisiertes) Stigma + + +++ + ++ +

Quelle: Eigene Darstellung

4.1.2 Moderation des primären Gesundheitseffekts durch die soziale Herkunft Nicht nur die Wahrscheinlichkeit an einer gesundheitlichen Beeinträchtigung zu leiden, unterscheidet sich zwischen den Angehörigen der verschiedenen Sozialschichten. Möglicherweise variieren auch die schulrelevanten Konsequenzen im Fall von gesundheitlichen Beschwerden mit der sozialen Herkunft. Die soziale Position geht mit unterschiedlichen Graden der Verfügbarkeit materieller und immaterieller Ressourcen einher, wie in Kapitel 2 bereits ausführlich dargelegt wurde. Diese sollten nicht nur für die Gesundheit selbst förderlich sein, das heißt, das Auftreten bestimmter gesundheitlicher Beeinträchtigungen insgesamt unwahrscheinlicher machen, sondern im Fall ihres Auftretens auch deren erfolgreiche Bewältigung 37

Zur Operationalisierung der Gesundheitsindikatoren siehe Kapitel 5.1.2, 5.2.2, sowie 6.2.

4.1 Theoretische Annahmen zum primären Gesundheitseffekt

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erleichtern. Wenn Kinder von einer gesundheitlichen Beeinträchtigung betroffen sind, liegt nahe, dass statushohe Eltern diese besser zu kompensieren in der Lage sind. Inwieweit eine gesundheitliche Beeinträchtigung in andere Lebensbereiche, beispielsweise den schulischen Alltag, eingreift, hängt vermutlich stark von den familiären Bewältigungsressourcen ab. Statushohe Eltern verfügen über mehr finanzielle Ressourcen, die beispielsweise in Unterstützungsleistungen wie Nachhilfeunterricht investiert werden können, wenn das Kind aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen dem Unterricht fernbleiben muss. Sie verfügen über ein höheres Maß an Gesundheitskompetenz (Abel & Sommerhalder 2015), die für die Identifikation einer gesundheitlichen Beeinträchtigung, den Umgang damit, beispielsweise bei der Gabe von Medikamenten, hinsichtlich der Interaktion mit medizinischem Fachpersonal, und letztlich auch für die Genesung förderlich sind. Eltern mit hohem sozioökonomischem Status nehmen außerdem häufiger an den Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 teil (siehe Seite 38), in denen alle Kinder von der Geburt an bis kurz vor Schulbeginn regelmäßig auf mögliche gesundheitliche Störungen und Einschränkungen in ihrer Entwicklung hin untersucht werden. Für den Fall, dass eine gesundheitliche Beeinträchtigung vorliegt, kann diese somit frühzeitig erkannt und behandelt werden. Am Beispiel von unmittelbar lernrelevanten Beeinträchtigungen wie einer Sehstörung lässt sich der Nutzen einer solchen Untersuchung verdeutlichen: Eine Sehstörung schränkt das visuelle Lernen ein und ist beim vorschulischen Kompetenzerwerb mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Nachteil (Oldenhage et al. 2009: 642). Durch geeignete Maßnahmen wie das Tragen einer Brille können negative Effekte auf den Kompetenzerwerb verhindert werden. Hierzu ist aber vonnöten, dass die Beeinträchtigung des Sehvermögens frühzeitig erkannt wird. Kinder, die regelmäßig an den Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen, sind im Falle einer vorhandenen gesundheitlichen Beeinträchtigung also im Vorteil. Schichtspezifische Unterschiede finden sich darüber hinaus auch in psychosozialen Ressourcen. In den Gesundheitswissenschaften wird bereits seit einigen Jahrzehnten das Konzept der Salutogenese (Antonovsky 1997) im Zusammenhang mit der Frage diskutiert, was Menschen gesund erhält. Der Ansatz versteht sich als komplementär zur klassischen pathogenetischen Sichtweise der Medizin, die danach fragt, was Menschen krank macht. Das Modell der Salutogenese wurde in den 1970er Jahren von dem israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky entwickelt und erlangte große internationale Bekanntheit (Faltermaier 2012: 5). Es fragt danach, warum und unter welchen Bedingungen Menschen trotz hoher Belastungen und einschneidender Risikoerfahrungen ihre Gesundheit erhalten können. Gesundheit ist bei Antonovsky nicht als dichotome Abgrenzung zu Krankheit zu verstehen, sondern als ein Kontinuum, an dessen äußersten Polen jeweils maximale Gesundheit, beziehungsweise

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maximale Krankheit stehen. Es ist ein holistisches Konzept, das nicht allein auf die Abwesenheit pathogenetischer Störungen fokussiert, sondern Gesundheit globaler, im Sinne von Wohlbefinden und Funktionsfähigkeit, definiert. Antonovskys Erkenntnisinteresse liegt auf den Schutzfaktoren und Widerstandsressourcen, die Menschen dabei helfen, Gesundheit zu erhalten. Im Gegensatz zur Pathogenese als klar defizitorientiertem Konzept ist das Modell der Salutgenese ressourcenorientiert. Wie entsteht Gesundheit? Wie wird sie bewahrt? Welche Faktoren ermutigen die Gesundheit? Wie wird ein Mensch gesünder (oder weniger krank)? Für Antonovsky ist hierbei das Konzept des „Kohärenzgefühls“ (engl., sense of coherence) ausschlaggebend, das an dieser Stelle nur in Kürze umrissen werden kann (vgl. Langius et al. 1992): Personen mit einem ausgeprägten Kohärenzgefühl verfügen über ein grundlegendes Vertrauen in die Sinnhaftigkeit, die Verstehbarkeit und die Handhabbarkeit des Lebens. Sie vertrauen darauf, den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein und diese bewältigen zu können. Sie haben eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung, womit eine selbstbewusste Zuversicht beschrieben ist, dass schwierige Situationen in eigener Kompetenz bewältigt werden können (Hohm et al. 2017). Da das Kohärenzgefühl in Interaktion mit der Umwelt hergestellt wird, kommt neben personalen Faktoren auch sozialen Unterstützungsressourcen eine hohe Bedeutung zu. Hartung (2011: 236) argumentiert, dass als Vorbedingung von sozialer Unterstützung Sozialkapital in Form von bestehenden sozialen Netzwerken notwendig ist. Im Sinne Bourdieus sind mit dem Sozialkapital38 einer Person die „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen“ angesprochen, welche „mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ (Bourdieu 1983: 190 f.). Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von „Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (ebd.: 190 f.). Sozialkapital wirkt sich positiv auf das Kohärenzgefühl aus. Damit ist zugleich eine soziale Ungleichheitsdimension der Kohärenz angesprochen: Die Verfügbarkeit von Sozialkapital, insbesondere von Netzwerken aus denen ihrerseits viel Kapital potenziell zu mobilisieren ist, ist in den höheren Schichten größer (Haug 1997: 4). Lundberg und Nyström Peck (1994) zeigen, dass der Grad der Ausprägung des Kohärenzgefühls positiv mit sozioökonomischen Faktoren verbunden sind. An einem schwedischen Sample berufstätiger Personen zeigen sie, dass sich in den unteren Berufsgruppen überproportional viele Personen mit besonders niedrig ausgeprägtem Kohärenzgefühl befinden. 38

Ergänzend sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich unter dem Sammelbegriff Sozialkapital vielfältige Ansätze subsummieren lassen und es keine einheitliche Definition des Konzepts gibt. Die bedeutsamste Unterscheidungslinie kann zwischen Ansätzen gezogen werden, die in der Tradition Bourdieus (1983) Sozialkapital als individuelle Ressource verstehen (dieses Verständnis liegt auch der oben zitierten Studie von Hartung zugrunde) und jenen Ansätzen, die Sozialkapital in der Tradition Putnams (2001a,b) als kollektive Ressource von Gemeinschaften verstehen (für einen Überblick siehe Gefken 2012).

4.1 Theoretische Annahmen zum primären Gesundheitseffekt

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In enger Verbindung und historisch nahezu parallel zum Konzept der Salutogenese wurde Anfang der 1980er Jahre das Konzept der Resilienz entwickelt. Mit Resilienz ist die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber psychosozialen, psychologischen und biologischen Entwicklungsrisiken angesprochen – sie gilt auch als das „Immunsystem der Seele“ (Fröhlich-Gildhoff 2016). Resilienz meint nicht Unverwundbarkeit, sondern die „Fähigkeit, Verwundungen zu bewältigen“ (Schubert-Rakowski 2014: 34). Ähnlich zum Kohärenzgefühl im Konzept der Salutogenese ist auch Resilienz kein angeborenes und stabiles Persönlichkeitsmerkmal; Resilienz entwickelt sich vielmehr in der Auseinandersetzung mit Herausforderungen in einem Interaktionsprozess zwischen Kind und Umwelt. Resilienz wird also nicht primär aus der Person heraus erzeugt, sondern immer in Interaktion (Wustmann, 2015: 48). Den Beginn der Resilienzforschung markiert die klassische „Kauai“-Studie von Emmy Werner und Ruth Smith (Werner & Smith 1992). Die beiden US-amerikanischen Psychologinnen begleiteten den gesamten Geburtsjahrgang 1955 auf der hawaiianischen Insel Kauai über 40 Jahre hinweg, mit dem Ziel herauszufinden, wie sich die unterschiedlichen psychosozialen und biologischen Risiko- und Schutzfaktoren im Lebensverlauf auf die Entwicklung der 698 Teilnehmer/innen auswirkten. Ein Teil der Kinder war bereits in der frühen Kindheit sehr hohen Entwicklungsrisiken ausgesetzt, beispielsweise Geburtskomplikationen, extremer Armut oder erheblichen familiären Belastungen. Die Mehrheit dieser Kinder zeigte sich vulnerabel gegenüber den Belastungen und entwickelte bereits in einem Alter von zehn Jahren Verhaltens- und Lernprobleme und delinquentes Verhalten. Rund einem Drittel dieser Kinder gelang es hingegen, sich den Belastungen gegenüber resilient zu zeigen und sich insgesamt günstig zu entwickeln: Sie absolvierten erfolgreich die Schule und wuchsen zu kompetenten, fürsorglichen und zufriedenen jungen Erwachsenen heran. Den Grund für diese positive Entwicklung sahen die Autorinnen in Schutzfaktoren im Kind, der Familie und im Umfeld der Kinder, welche die Wirkung der Entwicklungsrisiken moderierten und teilweise auch gänzlich auszugleichen vermochten (Werner & Smith 1992: Kapitel 4). In den darauffolgenden Jahrzehnten entwickelte sich die Resilienzforschung weiter und fand auch in deutschsprachigen Untersuchungen Berücksichtigung (Laucht et al. 2001; Lösel & Bender 2008 [1999]). Für die vorliegende Arbeit sind beispielsweise Befunde aus der Mannheimer Risikostudie bedeutsam, in deren Rahmen 362 Kindern untersucht wurden, die durch frühe, das heißt bei Geburt bestehende organische und psychosoziale Belastungen in ihrer Entwicklung gefährdet waren (Laucht et al. 1996). Die Autor/innen kommen zu dem Schluss, dass ungünstige Startbedingungen nicht notwendigerweise eine negative Entwicklung nach sich ziehen; sondern dass die Effekte der Risikofaktoren vielmehr durch andere Faktoren modifizierbar sind, insbesondere durch familiäre emotionale und soziale Ressourcen. Hierbei zeigte sich außerdem,

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4 Gesundheit im Modell zur Genese von ungleichen Bildungschancen nach Boudon

dass nicht nur Belastungen, sondern auch Bewältigungsressourcen nach sozialer Position der Kinder variieren: Ein günstiger sozialer Status der Familie ging in vielen Fällen mit einer größeren Verfügbarkeit der unterschiedlichen Bewältigungsressourcen einher. Es ist ein mittlerweile gut belegter Befund, dass Kinder und Erwachsene mit höherem sozialen Status tendenziell über mehr Bewältigungsressourcen verfügen, beispielsweise in Form von Wissen, Fähigkeiten oder sozialen Netzwerken, und daher vielen Belastungen gegenüber in höherem Maße resilient sind als Angehörige sozial weniger privilegierter Schichten (Christmann et al. 2015: 127; siehe Mergenthaler 2011 für Resilienz im Alter; Schoon & Bartley, 2008). Auch für das Kohärenzgefühl im Sinne Antonovskys liefert die empirische Befundlage Hinweise darauf, dass mit steigendem sozialem Status tendenziell auch das Kohärenzgefühl zunimmt (Hartung 2011). Dieser Zusammenhang ist auch für die vorliegende Untersuchung relevant. Es wird die Annahme untersucht, dass eine gesundheitliche Beeinträchtigung eine potenzielle Belastung darstellt, die entweder erfolgreich bewältigt werden kann oder die im Falle der Nichtbewältigung das Zurechtkommen in anderen Lebensbereichen, beispielsweise der Schule, erschweren kann. Eine weitere Annahme ist, dass materielle, kognitive, soziale und auch psychosoziale Ressourcen wie ein ausgeprägtes Kohärenzgefühl und Resilienz die Bewältigung dieser Belastung erleichtern. Wie weiter oben dargestellt, variiert die Verfügbarkeit dieser Bewältigungsressourcen nach der sozialen Position zugunsten Angehöriger der höheren Sozialschichten. Entsprechend sollten Kinder aus Familien mit hohem sozialem Status etwaige gesundheitliche Beeinträchtigungen besser bewältigen können. Die soziale Herkunft sollte also nicht nur eine verursachende Rolle für gesundheitliche Ungleichheiten in der Kindheit spielen, sondern auch den Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf Bildungsergebnisse in seiner Stärke beeinflussen. Die soziale Herkunft sollte den Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf den Schulerfolg also moderieren. Hypothese 3: Der in H1 postulierte negative Effekt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen wird durch die soziale Herkunft moderiert und nimmt in seiner Stärke mit steigendem sozioökonomischem Status ab (Kompensationshypothese). 4.1.3 Mediation des primären sozialen Herkunftseffekts durch Gesundheit Schließlich ist die Frage zu beantworten, ob gesundheitliche Ungleichheit einen Beitrag zur Erklärung der intergenerationalen Transmission von ungleichen Bildungschancen leistet. Wenn davon ausgegangen wird, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen das Zurechtkommen mit schulischen Anforderungen erschweren und sich negativ auf die schulischen Leistungen auswirken, dann wäre im Lichte der sozial ungleich verteilten Ge-

4.1 Theoretische Annahmen zum primären Gesundheitseffekt

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sundheitschancen denkbar, dass gesundheitliche Ungleichheit ein Mediator des empirisch gut belegten Effekts der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen ist: Vor dem Hintergrund, dass die meisten gesundheitlichen Beeinträchtigungen überproportional häufig bei Kindern aus sozial schwachen Familien auftreten, liegt die Vermutung nahe, dass Gesundheit einer von vielen Wirkpfaden ist, über den die soziale Herkunft die schulische Leistung beeinflusst. Hypothese 4: Der in H1 postulierte negative Effekt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen mediiert den Effekt der sozialen Herkunft auf schulische Leistungen partiell (Transmissionshypothese). Insgesamt ist eher von einer schwachen und lediglich partiellen Mediation des Herkunftseffekts auf die Bildungsergebnisse durch den Faktor Gesundheit auszugehen. Zum einen sind die Mechanismen des Herkunftseffekts zu einem Großteil bereits identifiziert und können als empirisch gut abgesichert gelten. In der Vergangenheit wurden eine Vielzahl von Faktoren ermittelt, die für den Bildungserfolg von Kindern eine hohe Relevanz haben und die durch ihre sozial ungleiche Verteilung einen großen Erklärungsbeitrag für Bildungsungleichheiten leisten können (Feinstein et al. 2004). Gesundheit ist hier als weiterer Erklärungsmechanismus zu sehen, der einen Teil der immer noch unerklärten Varianz in den Bildungschancen von Kinder verschiedener Herkunftsschichten einnehmen könnte. Zum anderen ist die Phase der Kindheit und Jugend insgesamt von guter Gesundheit geprägt (Lampert und Kuntz 2015: 12), so dass nicht zu erwarten ist, dass Gesundheit einen großen Teil des Einflusses der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen erklärt. Allerdings zeigen aktuelle Zahlen wie die Familienstudie der AOK „Gesunde Kinder – gesunde Zukunft“ auch, dass rund 20 Prozent der Kinder, von denen viele als „objektiv gesund“ gelten, in Deutschland unter einer gesundheitlichen Beeinträchtigung leiden (AOK Bundesverband 2014): Hierbei handelt es sich um relativ regelmäßig auftretende Rückenschmerzen, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Nervosität, Schlafprobleme oder Benommenheit. Die Tatsache, dass ein Fünftel der Kinder zwischen vier und 14 Jahren in Deutschland als gesundheitlich beeinträchtigt gelten, zeigt auf der anderen Seite, dass dem Faktor Gesundheit und seiner ungleichen Verteilung durchaus eine Bedeutung bei der Erklärung sozialer Bildungsungleichheit zukommen könnte. Daher wird im empirischen Teil der Arbeit eine Mediation der sozialen Herkunft durch die Berücksichtigung der Gesundheit getestet. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 4.1.2 skizzierten Annahmen, nach denen der sozialen Herkunft möglicherweise nicht nur eine verursachende, sondern auch eine moderierende Rolle für den Einfluss von Gesundheit auf Bildungserfolg spielen kann, könnte der Wirkpfad der sozialen Herkunft über Gesundheit tatsächlich eine bedeutende Rolle spielen. Zudem ist zu beachten, dass die in dieser Arbeit durchgeführten Analysen auf eine relativ frühe Phase des

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4 Gesundheit im Modell zur Genese von ungleichen Bildungschancen nach Boudon

Bildungserwerbs abzielen, nämlich auf die Grundschulzeit und den Übergang in die Sekundarstufe I. Dadurch, dass sich frühe bildungsbezogene Nachteile über den Verlauf der gesamten Bildungskarriere kumulieren können (Grgic et al. 2010), ist davon auszugehen, dass auch anfangs schwach ausgeprägten Effekten im weiteren Lebensverlauf eine Relevanz zukommt. 4.2 Theoretische Annahmen zum sekundären Gesundheitseffekt In dem folgenden Kapitel soll es um die Frage gehen, ob und auf welchen Wirkpfaden gesundheitliche Beeinträchtigungen die Bildungsbeteiligung beeinflussen können. In der vorliegenden Arbeit wird die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs (im Gegensatz zum Besuch einer Haupt- oder Realschule) untersucht. Aus der bisherigen Forschung ist bekannt, dass es markante schichtspezifische Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit gibt, nach der Grundschule das Gymnasium zu besuchen – auch über schulische Leistungsdifferenzen hinaus (Arnold et al. 2007; Baumert & Schümer 2001; Cortina & Trommer 2003; Ditton et al. 2005). Konkret bedeutet dies, dass Schüler/in A aus einer Familie mit hohem sozioökonomischem Status mit einer höheren Wahrscheinlichkeit nach der Grundschule auf ein Gymnasium wechselt als Schüler/in B aus einer Familie mit niedrigem sozioökonomischem Status mit den gleichen Schulnoten. Als mögliche Gründe für diese sekundären Herkunftseffekte, die an sämtlichen Gelenkstellen des Bildungssystems auftreten, werden in der Tradition der Rational Choice-Theorie insbesondere schichtspezifisch unterschiedliche Ergebnisse von Kosten-Nutzen-Kalkulationen diskutiert (Ditton et al. 2005; Kurz & Paulus 2008; Paulus & Blossfeld 2007).39 Wie in Kapitel 2.2.4 ausführlich dargelegt, fallen aus Sicht der Rational Choice-Theorie selbst bei gleicher schulischer Leistung für Angehörige der unteren Sozialschichten die relativen Kosten für einen hohen Bildungsgang höher und die Erträge geringer aus, da der Statuserhalt bereits mit vergleichsweise niedriger qualifizierenden Bildungsgängen gesichert ist. Die auf dem Ausgangsmodell von Boudon aufbauenden Theorien setzen einen zusätzlichen Fokus auf die schichtspezifisch differierenden Erfolgserwartungen, die bei Boudon eher am Rande angesprochen worden waren: Mitglieder der unteren sozialen Schichten schätzen die Wahrscheinlichkeit, dass das Gymnasium erfolgreich durchlaufen und mit dem Abitur beendet wird, geringer ein als Mitglieder der hohen sozialen Schichten40 – auch bei gleichen schulischen 39

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Alternative Erklärungsansätze beschäftigen sich mit Diskriminierung hinsichtlich der Grundschulempfehlung seitens der Lehrkräfte (Lehmann & Peek 1997). Eine empirisch gut belegte Ausnahme stellen die überdurchschnittlich hohen Bildungsaspirationen von Migrant/innen dar, die angesichts ihrer häufig unterprivilegierten sozioökonomischen Stellung und unterdurchschnittlicher schulischer Leistungen in der Bildungsforschung als „Aspiration-Achievement-Paradox“ diskutiert werden (siehe Becker 2010; Becker & Gresch 2016; Relikowsi et al. 2012; Salikutluk 2013).

4.2 Theoretische Annahmen zum sekundären Gesundheitseffekt

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Leistungen. Jene Erfolgserwartungen finden ihren Ausdruck in den realistischen Bildungsaspirationen: Mit der Einschätzung, welchen Schulabschluss ein Kind realistischer Weise erzielen wird, sind Erwartungen an das erfolgreiche Durchlaufen eines bestimmten Bildungsweges eng verknüpft. Ebenjene realistischen Bildungsaspirationen werden in der vorliegenden Arbeit fokussiert. Es wird argumentiert, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen die subjektiv eingeschätzte Wahrscheinlichkeit, dass ein hoch qualifizierter Bildungsweg (hier: das Gymnasium) erfolgreich bestritten wird, verringern, weil sie das antizipierte Zurechtkommen mit den hohen Anforderungen des gymnasialen Schulalltags unwahrscheinlicher machen. Das folgende Kapitel nimmt zunächst eine begriffliche Bestimmung von Bildungsaspirationen vor, wobei auch auf die geläufige Unterscheidung zwischen idealistischen und realistischen Bildungsaspirationen eingegangen wird (Kapitel 4.2.1). Beide Konzepte werden als Bildungsaspiration bezeichnet, sie sprechen aber sehr unterschiedliche Aspekte von Aspirationen an. Anschließend wird der Fokus auf das Konzept der realistischen Bildungsaspiration gelegt und erläutert, inwieweit dieses mit der Erfolgserwartung bezüglich bestimmter Bildungswege verbunden ist. An dieser Stelle wird in Kapitel 4.2.2 die Bedeutung des Faktors Gesundheit beim Übergang in die Sekundarstufe theoretisch hergeleitet. Als zentraler Mediator für diesen sekundären Gesundheitseffekt wird ebenjene subjektiv wahrgenommene Erfolgswahrscheinlichkeit vermutet, dass das Gymnasium erfolgreich durchlaufen werden kann. Diese sollte sich angesichts einer gesundheitlichen Beeinträchtigung erwartungsgemäß verringern. Analog zu den schulischen Leistungen wird auch für den sekundären Gesundheitseffekt ein moderierender Effekt der sozialen Herkunft in Richtung einer Kompensation durch einen hohen SES postuliert (Kompensationshypothese, Kapitel 4.2.3). In Kapitel 4.2.4 wird theoretisch begründet, dass der Faktor Gesundheit eine Rolle bei Erklärung der intergenerationalen Transmission ungleicher Bildungsbeteiligung spielen könnte (Transmissionshypothese). 4.2.1 Wirkmechanismen des sekundären Gesundheitseffekts Das Konstrukt der Aspiration stammt ursprünglich aus der Sozialpsychologie und bezeichnet nach Kurt Lewin ein Anspruchsniveau eines Individuums für sich selbst oder für andere (Lewin et al. 1944). Seit den späten 1960er Jahren findet das Konzept der Aspiration unter dem Begriff der Bildungsaspirationen auch in der Bildungssoziologie Anwendung und bezieht sich auf das Anspruchsniveau im Hinblick auf Bildungsziele. Bildungsaspirationen wird ein bedeutender Stellenwert bei der Genese von schichtspezifischen Unterschieden in der Bildungsbeteiligung zugesprochen (Becker 2013; Stocké 2014).

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4 Gesundheit im Modell zur Genese von ungleichen Bildungschancen nach Boudon

In Anlehnung an Lewin, sowie an Haller (1968) hat sich beim Konzept der Bildungsaspirationen eine analytische Trennung in idealistische und realistische Bildungsaspirationen durchgesetzt. Als hilfreich zum Verständnis der Unterschiede dieser beiden Konzepte erweist sich deren englischsprachige Übersetzung in der internationalen Literatur: Während idealistische Bildungsaspirationen als aspirations bezeichnet werden, sind die realistischen Bildungsaspirationen auch unter dem Begriff expectations geläufig. Es wird also zwischen Bildungswünschen und tatsächlich erwarteten Bildungsabschlüssen unterschieden (vgl. Becker 2010: 4). Idealistische Bildungsaspirationen bezeichnen Bildungswünsche im Sinne einer von den tatsächlichen Möglichkeiten ihrer Umsetzbarkeit losgelösten „Idealvorstellung“. Sie leiten sich aus Normen und individuellen Werthaltungen ab (Becker 2013: 436). Realistische Bildungsaspirationen beziehen sich hingegen auf die realistisch erwarteten Bildungsergebnisse unter Berücksichtigung der vorherrschenden Rahmenbedingungen. Dies können beispielsweise die aktuellen schulischen Leistungen und/oder institutionelle Regelungen für den Übergang in die Sekundarstufe I sein, die festlegen welche Voraussetzungen für den Besuch eines Gymnasiums erfüllt sein müssen. Für die vorliegende Arbeit ist insbesondere das Konzept der realistischen Bildungsaspiration relevant, das im Folgenden näher erläutert werden soll. 4.2.1.1 Realistische Bildungsaspirationen Realistische Bildungsaspirationen stellen das Ergebnis eines primär rationalen Abwägungsprozesses dar. Sie sind sehr eng mit den subjektiven Erwartungen verbunden, ob ein bestimmter Bildungsweg erfolgreich durchlaufen werden kann oder nicht. Obwohl in seiner ursprünglichen Konzeption auf die betroffene Person selbst bezogen (das heißt auf die/den Schüler/in), wurde das Konzept der Bildungsaspiration mit analogen Grundannahmen in der Vergangenheit häufig auf elterliche Bildungsaspirationen übertragen (vgl. Klein & Biedinger 2009: 7). Dies gilt auch für die vorliegende Arbeit, in deren Rahmen Aspirationen von Eltern hinsichtlich des Bildungsgangs ihrer Kinder analysiert werden. Neben pragmatischen Erwägungen hinsichtlich der Datenverfügbarkeit ist der Bezug auf elterliche Aspirationen auch dadurch begründet, dass die Übergangsentscheidung in den meisten deutschen Bundesländern bereits in der vierten Klassenstufe gefällt wird und die Kinder zu diesem Zeitpunkt noch sehr jung sind. Entsprechend plausibel ist es anzunehmen, dass die Eltern einen sehr großen Einfluss auf die Übergangsentscheidung nach der Grundschule haben, beziehungsweise diese sogar hauptsächlich von den Eltern getroffen wird.41 Empirisch zeigt sich, dass Bil41

Der aktuelle Stand der Forschung verweist zwar auf einen eigenständigen Effekt der kindlichen Bildungswünsche auf den tatsächlichen Bildungsübergang; dieser ist jedoch nicht größer als der Effekt der elterlichen Aspirationen und steht durchaus eng mit diesen in Verbindung, wenn auch nicht in einem perfekten Zusammenhang (Wohlkinger & Ditton 2012).

4.2 Theoretische Annahmen zum sekundären Gesundheitseffekt

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dungsaspirationen von Kindern stark durch die Aspirationen ihrer Eltern geprägt sind (Haunberger & Teubner 2008: 312), selbst in einem höheren Alter und bei späten Bildungsentscheidungen wie dem Abschluss der High-School (Bohon et al. 2006). Dennoch wird an dieser einseitigen Betrachtung der elterlichen Aspirationen auch Kritik geübt (Wohlkinger & Ditton 2012: 46). Zur Messung der realistischen Bildungsaspirationen werden Eltern beispielweise gefragt, mit welchem Abschluss ihr Kind die Schullaufbahn voraussichtlich beenden wird. Um diese Frage zu beantworten, muss auch eine Einschätzung darüber getroffen werden, ob ein bestimmter Bildungsweg unter Kenntnis der relevanten Einflussfaktoren erfolgreich durchlaufen werden kann oder ob die jeweiligen Anforderungen möglicherweise zu hoch erscheinen. Hierfür dürften als wichtigster prognostischer Wert die aktuellen schulischen Leistungen dienen. Aber auch institutionelle Regelungen zum Bildungsübergang sind hierbei maßgeblich: In Bundesländern, in denen für einen Gymnasialbesuch beispielsweise ein bestimmter Notendurchschnitt erreicht werden muss, wird die Bedeutung der schulischen Leistungen des Kindes für die Erfolgserwartung womöglich eine größere Rolle spielen als in Bundesländern, in denen der Elternwille zählt. Für die Einschätzung der Erfolgserwartung könnte neben den aktuellen schulischen Leistungen und institutionellen Regelungen zum Übergang aber auch der Gesundheitszustand des Kindes maßgeblich sein. Gesundheitliche Beschwerden könnten das antizipierte Zurechtkommen mit den hohen Anforderungen am Gymnasium erschweren. Entsprechend sollten sie insgesamt mit einer Verringerung der Erfolgserwartung einhergehen, die sich in der realistischen Bildungsaspiration der Eltern niederschlägt. 4.2.1.2 Arbeitshypothesen zum Wirkmechanismus des sekundären Gesundheitseffekts Zusammenfassend ist von einem negativen Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs auszugehen. Die erste Arbeitshypothese zum sekundären Gesundheitseffekt lautet daher wie folgt: Hypothese 5: Gesundheitliche Beeinträchtigungen haben einen negativen Effekt auf die Wahrscheinlichkeit, nach der Grundschule auf ein Gymnasium zu wechseln. Als Wirkmechanismus wird eine Verringerung der realistischen Bildungsaspiration erwartet, da gesundheitliche Beeinträchtigungen die subjektiv eingeschätzte Erfolgswahrscheinlichkeit verringern, dass das Gymnasium erfolgreich durchlaufen und mit dem Abitur beendet werden kann. Hypothese 6: Der in H5 postulierte negative Effekt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs wird durch verminderte realistische Bildungsaspirationen vermittelt.

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4 Gesundheit im Modell zur Genese von ungleichen Bildungschancen nach Boudon

4.2.2 Moderation des sekundären Gesundheitseffekts durch die soziale Herkunft Analog zu den schulischen Leistungen (Kapitel 4.1.2) ist auch hinsichtlich des Effekts von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialübergangs eine Moderation durch den elterlichen sozioökonomischen Status zu erwarten. Unter der Annahme, dass in Familien mit hohem sozioökonomischem Status insgesamt mehr Ressourcen zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe die negativen Auswirkungen gesundheitlicher Beeinträchtigungen kompensiert werden können, sollten gesundheitliche Beeinträchtigungen für diese Familien die Erfolgserwartungen hinsichtlich des Gymnasiums nicht in dem Maße negativ beeinflussen wie für Familien mit weniger Ressourcen. Entsprechend sollte die Wahrscheinlichkeit des Gymnasialbesuchs nach sozialer Herkunft variieren: Während Kinder aus den unteren Sozialschichten mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine deutlich niedrigere Wahrscheinlichkeit haben sollten, auf das Gymnasium zu wechseln als Kinder gleicher Herkunft mit den gleichen schulischen Leistungen, sollten sich gesundheitliche Unterschiede für Kinder aus den höheren Sozialschichten nicht im gleichen Ausmaß auf die Wahrscheinlichkeit eines Übergangs auswirken. Die Kompensationshypothese postuliert einen kompensatorischen Effekt eines hohen SES auf den Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf den Gymnasialübergang. Daraus leitet sich die siebente Arbeitshypothese ab: Hypothese 7: Der in H5 postulierte negative Effekt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs wird durch die soziale Herkunft moderiert und nimmt in seiner Stärke mit steigendem sozioökonomischem Status ab. 4.2.3 Mediation des sekundären sozialen Herkunftseffekts durch Gesundheit Ebenfalls analog zu den schulischen Leistungen (Kapitel 4.1.3) wird auch hinsichtlich des Gymnasialübergangs eine Mediation des Herkunftseffekts durch gesundheitliche Beeinträchtigungen angenommen. Auch hierbei wird von einer schwachen, lediglich partiellen Mediation ausgegangen, da die soziale Herkunft über viele verschiedene, mittlerweile empirisch gut untermauerte, Mechanismen auf die Übergangsentscheidungen wirkt. Davon ausgehend, dass erstens gesundheitliche Beeinträchtigungen die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs vermindern, zweitens gesundheitliche Beeinträchtigungen überproportional häufig bei Kindern der unteren Sozialschichten auftreten und drittens in diesen Familien auch noch besonders wenige Ressourcen zur Kompensation der negativen Auswirkungen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorliegen, könnten gesundheitliche Beeinträchtigungen einen Teil des Effekts der sozialen Herkunft auf den Bildungsübergang erklären. Die Transmissionshypothese postuliert daher, dass systematische gesundheitliche Unterschiede zwischen Kindern verschiedener sozialer Herkunftsgruppen einen Beitrag zur Erklärung der intergenerationalen Transmission der Bildungschancen in Form des Gymnasialbesuchs leisten. In

4.3 Schematische Gesamtdarstellung des theoretischen Modells

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diesem Sinne wird von einer Mediation des Effekts der sozialen Herkunft durch den Gesundheitszustand ausgegangen. Daraus leitet sich die achte Arbeitshypothese ab: Hypothese 8: Der in H5 postulierte negative Effekt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs mediiert den Effekt der sozialen Herkunft auf die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs partiell (Transmissionshypothese). 4.3 Schematische Gesamtdarstellung des theoretischen Modells Abbildung 6 zeigt die Gesamtdarstellung der theoretischen Annahmen der vorliegenden Untersuchung. Den konzeptionellen Rahmen bietet das Modell zur Genese ungleicher Bildungschancen nach Boudon (1974; siehe Seite 18). Alle weiß hinterlegten Elemente und Zusammenhänge kennzeichnen theoretische Annahmen zum Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg, die bereits als empirisch gesichert gelten. Gestrichelte Elemente kennzeichnen hingegen jene Zusammenhänge, die durch die zusätzliche Berücksichtigung des Faktors Gesundheit in das Modell integriert werden. Die übergeordnete theoretische Annahme ist, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen Bildungsergebnisse in zweierlei Hinsicht beeinflussen können: Zum einen wird ein Effekt auf die schulischen Leistungen erwartet, zum anderen ein Effekt auf die Bildungsentscheidung und im Ergebnis die Wahl der Schulform in der Sekundarstufe I. In Anlehnung an Boudons (1974) konzeptionelle Unterscheidung der Herkunftseffekte kann auch bei den Effekten der Gesundheitsindikatoren zwischen primären, das heißt die schulischen Leistungen betreffenden Gesundheitseffekten und sekundären, das heißt die Bildungsentscheidung beim Übergang in die Sekundarstufe I betreffenden Gesundheitseffekten unterschieden werden. Primäre und sekundäre Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Es wird angenommen, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen die schulische Leistungsfähigkeit beeinflussen (primärer Gesundheitseffekt). Hierbei werden drei Wirkpfade berücksichtigt: Eine Verminderung der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, schulische Fehlzeiten und die Internalisierung negativer Zuschreibungen. Es wird zweitens angenommen, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen die Bildungsentscheidung beeinflussen (sekundärer Gesundheitseffekt). Der vermutete Wirkmechanismus ist eine – unabhängig und zusätzlich zu den schulischen Leistungen – verminderte subjektive Erfolgserwartung, dass ein hochqualifizierender Bildungsweg, im konkreten Fall das Gymnasium, erfolgreich durchlaufen werden kann. Diese drückt sich in niedrigeren realistischen Bildungsaspirationen aus. Kompensationshypothese. Es ist weiterhin anzunehmen, dass die Stärke der Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die Bildungsergebnisse nach sozialer Herkunft variieren. Die Kompensationshypothese postuliert, dass die soziale Stellung der

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4 Gesundheit im Modell zur Genese von ungleichen Bildungschancen nach Boudon

Familie den Effekt der gesundheitlichen Beeinträchtigungen in seiner Stärke beeinflusst. In Familien mit hohem SES stehen mehr Ressourcen zur Verfügung, mit Hilfe derer die negativen Auswirkungen gesundheitlicher Beeinträchtigungen kompensiert werden können. Insofern wäre zu erwarten, dass der negative Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen und auf die Bildungsentscheidung mit steigendem SES in seiner Stärke abnimmt.

Abbildung 6 Gesamtdarstellung des theoretischen Modells Quelle: Eigene Darstellung

Transmissionshypothese. Weiterhin wird angenommen, dass durch die Korrelation von Gesundheitszustand und sozialer Herkunft der beschriebene negative Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen einen Teil des Herkunftseffekts auf den Bildungserfolg erklärt. Es wird folglich eine Mediation des Herkunftseffekts auf die schulischen Leistungen und auf die Bildungsentscheidungen durch gesundheitliche Beeinträchtigungen angenommen. Dieser Zusammenhang ist mit den gestrichelten Pfeilen von sozialer Herkunft zu schulischen Leistungen und von sozialer Herkunft zur Bildungsentscheidung angedeutet. Ferner findet sich in dem Modell ein gepunkteter Pfeil von Gesundheit zu Gymnasialbesuch. Es ist nicht davon auszugehen, dass die angesprochenen Wirkmechanismen den Effekt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Wahrscheinlichkeit des Gymnasialbesuchs vollständig erklären können. Vielmehr ist wahrscheinlich, dass

4.3 Schematische Gesamtdarstellung des theoretischen Modells

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hierbei noch weitere Mechanismen eine Rolle spielen, beispielsweise Diskriminierung. Diese werden im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht untersucht und sollen daher in der schematischen Darstellung des Gesamtmodells nur „angedacht“ werden.

5 Studie I – Bildungserfolg Das folgende Kapitel umfasst die empirische Prüfung der Hypothesen 1 bis 4 zu Effekten gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen. Die Hypothesen werden zum einen mit Daten einer Querschnittuntersuchung aus der Bundesrepublik Deutschland überprüft, zum anderen mit Daten einer Längsschnittstudie aus Großbritannien. Diesem Vorgehen liegt der Umstand zugrunde, dass es im deutschsprachigen Raum an öffentlich zugänglichen Längsschnittdaten fehlt, die umfassende und objektiv erhobene Gesundheitsinformationen, sowie Angaben zu schulischen Leistungen enthalten.42 In Kapitel 5.1 werden zunächst Querschnittsanalysen mit Daten der Basiserhebung der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS-Studie) durchgeführt. Die Studie enthält eine große Anzahl an Gesundheitsinformationen, so dass mehrere gesundheitliche Beeinträchtigungen auf ihre Wirkung auf den Schulerfolg hin analysiert werden können. Im Bereich der physischen Gesundheit werden der selbsteingeschätzte allgemeine Gesundheitszustand, regelmäßige Schmerzen, Übergewicht, Unfallverletzungen, und im Bereich der mentalen Gesundheit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auf ihren Zusammenhang mit den Schulnoten von Grundschüler/innen hin untersucht. In Kapitel 5.2. werden Daten der Millennium Cohort Study aus dem Vereinigten Königreich ausgewertet, die eine Längsschnittbefragung darstellt und daher komplexere Analysemethoden ermöglicht, jedoch weniger Gesundheitsinformationen und anstelle von Schulnoten Angaben von Lehrkräften zu schulischen Leistungen der Kinder enthält. In diesen Analysen werden der allgemeine Gesundheitszustand, regelmäßige Schmerzen, Übergewicht, sowie ADHS auf ihre Effekte auf die durch Lehrkräfte eingeschätzten schulischen Leistungen von Grundschüler/innen in den Fächern Englisch und Mathematik hin untersucht. 5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen Entsprechend der Datenstruktur43 der KiGGS-Basiserhebung (Querschnitt) kann die Frage danach, ob und auf welche Weise gesundheitliche Beeinträchtigungen die schu42

43

Zwar wurde im Rahmen der Studie zur Gesundheit und Jugendlichen in Deutschland bereits zwei Wiederholungsbefragungen durchgeführt. Die Daten der ersten Folgebefragung liegen zu dem Zeitpunkt, in dem die vorliegende Arbeit verfasst wurde, auch bereits vor. Dem Public Use File fehlt jedoch die personenspezifische Identifikationsvariable, so dass die Daten nicht längsschnittlich verwendet werden können. Zwar wurden mittlerweile insgesamt drei Wellen der KiGGS-Studie erhoben, wobei ein Teil des Samples auch an einer längsschnittlich angelegten Wiederholungsbefragung teilgenommen hat. Der Public Use File kann jedoch nur als Querschnitts- oder Trendstudie verwendet werden, da die personenspezifische ID in dem Public Use File nicht enthalten ist.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 J. Tuppat, Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Bildungserfolg, Gesundheit und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31425-5_5

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5 Studie I – Bildungserfolg

lischen Leistungen vermindern, mit den KiGGS-Daten ausschließlich zu einem einzigen Messzeitpunkt zwischen Kindern mit und ohne bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigungen untersucht werden. Die einzelnen Hypothesen zum primären Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen lauten wie folgt: H1a-f: Kinder mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Form von a) b) c) d) e) f)

Beeinträchtigungen des allgemeinen Gesundheitszustands regelmäßigen Schmerzen Übergewicht Unfallverletzungen in den letzten12 Monaten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung niedrigem Geburtsgewicht

weisen schwächere schulische Leistungen in den Fächern Deutsch und Mathematik auf als Kinder ohne die entsprechende Beeinträchtigung. Um die Annahme eines kausalen Effekts zu erhärten, muss der in Hypothese 1 postulierte Effekt auch unter Kontrolle möglicher konfundierender Drittvariablen wie der sozialen Herkunft nachweisbar sein. Hinsichtlich der konkreten Wirkmechanismen wird davon ausgegangen, dass verminderte Leistungsfähigkeit, Fehlzeiten und die Internalisierung negativer Zuschreibungen (Stigma) die Effekte der gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen vermitteln (Kapitel 4.1.1.). Zur Überprüfung werden Mediatoranalysen durchgeführt und anschließend mittels einer Dekompositionsanalyse die relativen Anteile der drei einzelnen Wirkmechanismen am totalen Effekt der jeweiligen gesundheitlichen Beeinträchtigung ermittelt. Es können mit den KiGGS-Daten die folgenden Mediatoreffekte getestet werden:44 H2a-f: Der in Hypothese 1 formulierte Effekt von gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Form von wird partiell vermittelt durch a-b) Konzentrationsschwierigkeiten, Fehlzeiten und die Internalisierung negativer Zuschreibungen. c-f) Konzentrationsschwierigkeiten und die Internalisierung negativer Zuschreibungen. Die Effekte einer gesundheitlichen Beeinträchtigung auf die Schulnoten sollten nicht für alle Kinder gleich stark ausfallen, sondern es wird davon ausgegangen, dass durch einen hohen SES die negativen Effekte gesundheitlicher Beschwerden zum Teil kompensiert werden können (siehe Kapitel 4.1.2). Die Kompensationshypothese postuliert 44

Aufgrund einer Filterfunktion bei der Erhebung der Informationen zu schulischen Fehlzeiten kann dieser Mediator nur in den Analysen zum allgemeinen Gesundheitszustand und regelmäßigen Schmerzen verwendet werden (siehe Seite 216).

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

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folglich eine Moderation des im Hypothesenblock 1 formulierten Effekts von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die schulischen Leistungen durch die soziale Herkunft. Konkret wird folgender Zusammenhang angenommen: H3a-f: Der in Hypothese 1 formulierte negative Effekt von a) b) c) d) e) f)

Beeinträchtigungen des allgemeinen Gesundheitszustands regelmäßigen Schmerzen Übergewicht Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung Unfallverletzungen in den letzten 12 Monaten niedrigem Geburtsgewicht

auf die schulischen Leistungen nimmt mit steigendem sozioökonomischem Status der Eltern in seiner Stärke ab. Im vierten Schritt ist zu zeigen, ob gesundheitliche Beeinträchtigungen einen Beitrag zur Erklärung der sozial ungleich verteilten Bildungsergebnisse liefern. Die Argumentation erfolgt hierbei zweistufig: Davon ausgehend, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen erstens die schulischen Leistungen vermindern (Hypothesenblock 1) und zweitens die negativen Effekte von gesundheitlichen Beeinträchtigungen für Kinder aus sozial schwachen Familien auch noch besonders gravierend sind (Hypothese 3), wäre denkbar, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen einen Teil des sozialen Herkunftseffekts auf die schulischen Leistungen erklären. Gesundheitliche Ungleichheit wäre demnach ein Erklärungsfaktor für die intergenerationale Transmission von Bildungserfolg (Transmissionshypothese). Die Transmissionshypothese wird mit einer Mediationsanalyse getestet, sowie mittels eines Dekompositionsverfahrens des totalen Effekts der sozialen Herkunft zerlegt und der relative Anteil physischer und psychischer gesundheitlicher Beeinträchtigungen an diesem Effekt ermittelt. Da die Prävalenz gesundheitlicher Beeinträchtigungen in der Phase von Kindheit und Jugend insgesamt eher gering ist, ist nicht von einer starken Mediation auszugehen, sondern der Erklärungsbeitrag des Faktors Gesundheit am totalen Effekt der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg dürfte erwartungsgemäß eher gering ausfallen, so dass von einer partiellen Mediation auszugehen ist.45 Zur Überprüfung dieser vierten Hypothese wird ein globaler Wert für die physische Gesundheit gebildet und die gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht mehr einzeln untersucht (siehe Seite 119). H4: Der Effekt der sozialen Herkunft auf die schulischen Leistungen ist partiell vermittelt durch soziale Unterschiede in der Prävalenz physischer und mentaler gesundheitlicher Beeinträchtigungen. 45

Dies bedeutet aber eben nicht, dass dieser Zusammenhang aus wissenschaftlicher und praktischer Sicht zu vernachlässigen sei: Auch wenn es insgesamt relativ wenige betroffene Kinder gibt, können die Auswirkungen für diese Kinder theoretisch gravierend sein.

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5 Studie I – Bildungserfolg

5.1.1 Daten: Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) Die „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS, ehemals „Kinder- und Jugendgesundheitssurvey“) ist eine bundesweite, repräsentative Untersuchung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (Hölling et al. 2012). Die Studie wird seit dem Jahr 2003 vom Robert-Koch-Institut in Berlin durchgeführt und umfasst aktuell drei Wellen (Stand: Juni 2017). Die Daten der ersten Welle, der so genannten Basiserhebung, wurden zwischen 2003 und 2006 erhoben. Die KiGGS-Basiserhebung liefert erstmals umfassende Gesundheitsdaten für Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland. Sie umfasst Daten aus schriftlichen Befragungen, ärztlichen Interviews sowie körperlichen Untersuchungen und Laboranalysen. In der ersten Folgewelle nach der Basis-Erhebung kamen ausschließlich telefonische Befragungen zur Anwendung. Die Daten der zweiten Folgewelle lagen zum Zeitpunkt der Arbeit noch nicht als Public Use File vor, so dass ausschließlich die Daten der Basiserhebung Verwendung finden. Die Zielpopulation der KiGGS-Basiserhebung waren Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 0 und 17 Jahren, die zum Zeitpunkt der Datenerhebung in Deutschland lebten. Die Stichprobenziehung erfolgte zweistufig: Zunächst wurden 167 Gemeinden in Deutschland ausgewählt, so dass ein repräsentatives Abbild aller der Siedlungsstruktur unter Berücksichtigung aller Bundesländer und der Gemeindegrößen gewährleistet war. Danach wurden aus den Einwohnermelderegistern dieser 167 Studienorte nach einem statistischen Zufallsverfahren Adressen von Kindern und Jugendlichen ausgewählt und die Familien kontaktiert. Von den insgesamt 26.899 eingeladenen Kindern und Jugendlichen haben schließlich 17.641 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 0 und 17 Jahren und deren Eltern an der KiGGS Basiserhebung teilgenommen (Kamtsiuris et al. 2007). Entsprechend nahmen 9.146 Kinder Jugendliche nicht an der Studie teil. Begründungen für die Nichtteilnahme konnten durch die Eltern bzw. Jugendlichen selbst genannt werden oder – falls kein Kontakt mit diesen zustande kam – von den Feldmitarbeitern protokolliert wurden. Der häufigste Grund der Nichtteilnahme war das Nichterscheinen zu dem vereinbarten Termin oder eine kurzfristige Absage (6 % der bereinigten Bruttostichprobe). Weitere 5,7 % nahmen auf Wunsche des Kindes nicht teil, 4,2 % auf Wunsch der Eltern. Der Anteil an Teilnahmeverweigerungen ohne Angabe des Grundes betrug 3,5%. Lediglich 2,6 % der Familien konnten bei der Bewerbung der Studie nicht erreicht werden (Kamatsiuris et al. 2007). Ein Vergleich der teilnehmenden mit den nichtteilnehmenden Familien zeigt, dass letztere zwar im Schnitt einen niedrigeren elterlichen Bildungsgrad aufweisen, sich jedoch keine Unterschiede bei gesundheitsbezogenen Faktoren des Kindes zeigen lassen (ebd., 553). Insofern scheint die KiGGS-Basiserhebung ein repräsentatives Abbild der

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

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gesundheitlichen Situation der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen im Befragungszeitraum zu liefern. Inhaltliche Schwerpunkte der Studie waren der Gesundheitsstatus, das Gesundheitsverhalten, die Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems sowie innerund außerfamiliäre Lebensbedingungen. Erhebungsinstrumente in KiGGS In der KiGGS-Basiserhebung kamen Fragebögen, Interviews und körperliche Untersuchungen zum Einsatz. In einem von allen Eltern und parallel von Kindern ab elf Jahren schriftlich auszufüllenden Gesundheitsfragebogen wurden Angaben zu körperlicher, psychischer und sozialer Gesundheit, zum Gesundheitsverhalten und zur Inanspruchnahme medizinischer Vorsorge- und Versorgungsleistungen abgefragt. Im Ernährungsfragebogen wurden vertiefende Informationen zum Ernährungsverhalten erhoben. Als interviewbasiertes Erhebungsinstrument fand ein ärztliches Gespräch mit den Eltern statt, in dem standardisierte Angaben zu Medikamentenkonsum, Impfstatus und dem Krankheitsgeschehen erfasst wurden. Ein zentraler Bestandteil der Erhebung waren zudem körperliche Untersuchungen und Tests der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen. Bestandteile waren Untersuchungen von Sehfunktion, Blutdruck und Puls, Körpermaßen, Koordinations- und Reaktionsvermögen, Neuromotorik, Ausdauer, Motorische Aktivität, Schilddrüsenfunktionalität sowie eine Hautinspektion (Hölling 2012). In die Analysen der vorliegenden Arbeit gehen Daten aus den Elterninterviews und den körperlichen Untersuchungen ein. 5.1.2 Operationalisierungen Im Folgenden werden die Kodierungen der einzelnen Variablen aus der KiGGS Studie dargestellt, die in den nachfolgenden Analysen verwendet werden: Abhängige Variablen Schulnoten (Deutsch und Mathematik). Die Informationen zu den Schulnoten stammen aus dem Elternfragebogen. Es werden die Schulnoten aus dem letzten Zeugnis in den Fächern Deutsch und Mathematik verwendet. Die Werte wurden gespiegelt, so dass höhere Werte für bessere Leistungen stehen. Die Variablen nehmen die Werte (1) „ungenügend“ bis (6) „sehr gut“ an. Diese Werte wurden anschließend für die multivariaten Analysen einer Z-Standardisierung unterzogen; die Einheit liegt entsprechend in Standardabweichungen vor. Ausreichender Notendurchschnitt (Deutsch und Mathematik). Für vertiefende Analysen zu den Moderatoreffekten der sozialen Herkunft wird eine dichotome Variable verwendet, die das Erreichen eines kritischen Schwellenwerts beim Notendurchschnitt in den Fächern Deutsch und Mathematik markiert. In vielen Bundesländern ist ein be-

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5 Studie I – Bildungserfolg

stimmter Mindestdurchschnitt in den Kernfächern von 2,33 oder besser erforderlich, um auf das Gymnasium wechseln zu können (siehe Seite 148 f.). Die Variable Ausreichender Notendurchschnitt nimmt entsprechend bei einem Notendurchschnitt von besser als 2,5 den Wert „1“ an, ab 2,5 oder schlechter den Wert „0“. Zentrale unabhängige Variablen Allgemeiner Gesundheitszustand. Der allgemeine Gesundheitszustand des Kindes bildet ein subjektives Globalurteil der Gesundheit ab und wurde anhand einer Selbsteinschätzung durch die Hauptbetreuungsperson auf einer fünfstufigen Skala von (1) „sehr gut“, (2) „gut“, (3) „mittelmäßig“, (4) „schlecht“ bis (5) „sehr schlecht“ erhoben. Um eine bessere Vergleichbarkeit mit den anderen verwendeten Datensätzen herzustellen, sowie aufgrund vergleichsweise niedriger Fallzahlen in der Kategorie „schlecht“ und „sehr schlecht“, wurden diese Randkategorien der Variable zusammengefasst. Die umkodierte Variable nimmt die Werte (1) „sehr gut“, (2) gut, (3) „mittelmäßig oder schlechter“ an.46 Beeinträchtigungen des allgemeinen Gesundheitszustands. Für vertiefende Analysen zu Mediator- und Moderatoreffekten wurde die Variable allgemeiner Gesundheitszustand dichotomisiert und unterscheidet zwischen den Ausprägungen (0) „guter / sehr guter“ und (1) „mittelmäßiger oder schlechterer“ allgemeiner Gesundheitszustand. Übergewicht und Adipositas. Die Angaben zu Übergewicht und Adipositas basieren auf dem so genannten Body Mass Index, welcher aus dem Verhältnis von Körpergröße und Gewicht nach folgender Formel berechnet wird: (Gewicht in kg) / (Größe in m)². Die Informationen zu Körpergröße und –gewicht wurden in der ärztlichen Untersuchung erhoben und sind daher als in hohem Maße objektiv anzusehen. Die Klassifikation in Normalgewicht, Übergewicht und Adipositas wurde anschließend auf Grundlage international vergleichbarer, geschlechts- und altersadjustierter Schwellenwerte nach Cole et al. (2000) vorgenommen (siehe Anhang A1). Schmerzen. Im Elterninterview wurde erfragt, ob das Kind in den vergangenen sechs Monaten häufig über Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Übelkeit geklagt hat. Die Frage wurde auf einer dreistufigen Skala von 1 „trifft nicht zu“, 2 „trifft teilweise zu“ bis 3 „trifft voll und ganz zu“ beantwortet. Für die Analysen wurde die Variable Schmerzen binär kodiert: (0) „trifft nicht / teilweise zu“, (1) „trifft voll und ganz zu“. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Im Elterninterview wurde erfragt, ob bei dem Kind jemals eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung festgestellt wurde. Die dichotome Variable nimmt die Werte (0) „nein“ oder (1) „ja“ 46

Da alle anderen gesundheitsbezogenen Variablen dichotom kodiert sind und der Wert „1“ für die jeweilige Beeinträchtigung steht, ist die Variable allgemeiner Gesundheitszustand in konsistenter Weise so kodiert, dass höhere Werte für stärkere Beeinträchtigungen stehen.

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

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an. Für Kinder, deren Hauptbetreuungsperson diese Frage mit „weiß nicht“ beantwortet hat, wurde ein fehlender Wert eingetragen; diese Fälle werden in der Analyse entsprechend nicht berücksichtigt. Unfallverletzung. Im Elterninterview wurde gefragt, ob das Kind in den vergangenen 12 Monaten durch einen Unfall eine Verletzung oder Vergiftung erlitten hat, die ärztlich behandelt werden musste. Die dichotome Variable nimmt die Werte (0) „keine Unfallverletzung“ und (1) „Unfallverletzung“ an. Niedriges Geburtsgewicht. Auch die Information zum Geburtsgewicht wurde im Elterninterview erfragt. Nach Ermessen der Weltgesundheitsorganisation liegt niedriges Geburtsgewicht vor, wenn ein Neugeborenes weniger als 2500 Gramm wiegt (WHO 2010). Diese Kategorisierung wurde übernommen und die Variable dichotom kodiert, wobei der Wert (0) für normales (oder hohes)47 Geburtsgewicht und der Wert (1) für niedriges Geburtsgewicht steht. Physische Beeinträchtigung. Für die Analysen zur Überprüfung der Transmissionshypothese wird ein globaler Wert gebildet, der angibt, ob ein Kind mindestens eine der nach den oben dargestellten Operationalisierungen definierte physische Beeinträchtigung aufweist: Allgemeine gesundheitliche Beeinträchtigung, regelmäßige Schmerzen, Übergewicht, Unfallverletzungen oder niedriges Geburtsgewicht. Die dichotome Variable nimmt den Wert (1) an, wenn mindestens eine dieser Beeinträchtigungen vorliegt, andernfalls den Wert (0). Wirkmechanismen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen Konzentrationsschwierigkeiten. Die binär kodierte Variable basiert auf der Zustimmung der Hauptbetreuungsperson zu mindestens einem der folgenden Aussagen, die im Elterninterview erhoben wurden. -

In den vergangenen sechs Monaten war mein Kind leicht ablenkbar oder unkonzentriert ([1] „trifft voll und ganz zu“ im Gegensatz zu [0] „trifft teilweise zu“ / „trifft nicht zu“). In den vergangenen sechs Monaten hat mein Kind Aufgaben gut zu Ende geführt und eine gute Konzentrationsspanne gehabt ([1] „trifft nicht zu“ im Gegensatz zu [0] „trifft teilweise zu“ / „trifft voll und ganz zu“).

Die innere Konsistenz der beiden Items ist gut, die durchschnittliche Korrelation zwischen den Items hoch: Das ordinale Alpha (Zumbo et al. 2007) beträgt α=0,751. Die 47

Eine weitere Differenzierung wird nicht vorgenommen, auch wenn (zu) hohes Geburtsgewicht möglicherweise auch ein gesundheitliches Risiko darstellen kann. Da in bisherigen Studien vor allem die negativen Effekte niedrigen Geburtsgewichts untersucht und empirisch untermauert wurden, wird auch in dieser Arbeit nur zwischen Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht und allen anderen unterschieden.

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5 Studie I – Bildungserfolg

zusammengefasste Variable Konzentrationsschwierigkeiten nimmt den Wert (1) „trifft zu“ an, wenn mindestens eine der beiden oben genannten Items den Wert (1) aufweist und den Wert (0) „trifft nicht zu“, wenn beide Items jeweils den Wert (0) aufweisen. Im Fall eines fehlenden Wertes auf einem der beiden Items wird der andere, gültige Wert zugrunde gelegt. Fehlzeiten. Die dichotome Variable Fehlzeiten bezieht sich auf Angaben zu gesundheitlich bedingten schulischen Abwesenheiten, die im Elternfragebogen erhoben wurden. Die Fragen sind allesamt Filterfragen, denen Fragen zu konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorausgehen. Nur für den Fall, dass mindestens eine der abgefragten gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorliegt, wurde dem Elternteil die Frage nach schulischen Fehlzeiten überhaupt gestellt und somit nur von einem Teil des Samples beantwortet. Für Kinder, deren Eltern diese Frage nicht gestellt wurde, nimmt die Variable den Wert (0) an.48 Aufgrund der Filterfunktion kann die Variable Fehlzeiten allerdings nicht für alle gesundheitlichen Beeinträchtigungen als Mediator getestet werden, da sie mit explizitem Bezug auf bestimmte Beeinträchtigungen gestellt wurde (beispielhaft wurde die Zustimmung zu der Aussage erhoben: „Wegen dieses Hauptschmerzes hat ihr Kind die Schule nicht besucht.“). Die Variable Fehlzeiten findet daher nur in den Mediatoranalysen für allgemeine gesundheitliche Beeinträchtigungen und Schmerzen Anwendung. Die Variable nimmt den Wert (1) an, wenn mindestens eine der folgenden Fragen bejaht wurde: -

Fehlen in Schule wegen Heuschnupfens ([1] „ja“ im Gegensatz zu [0] „nein“) Fehlen in Schule wegen Neurodermitis ([1] „ja“ im Gegensatz zu [0] „nein“) Fehlen in Schule wegen Asthma bronchiale ([1] „ja“ im Gegensatz zu [0] „nein“) Fehlen in Schule wegen Schmerz ([1] „ja“ im Gegensatz zu [0] „nein“) Nicht in Schule wegen Schmerz ([1] „immer/ häufig/ manchmal“ im Gegensatz zu [0] „einmal/ nie“)

(Internalisiertes) Stigma. Die Variable Stigma soll einen Proxy für die Internalisierung negativer Zuschreibungen darstellen. Sie setzt sich daher aus Items zusammen, die Stigmatisierung durch andere Personen enthalten, aber auch aus Items, welche das Selbstwertgefühl des Kindes berücksichtigen. Es wird die Zustimmung der Eltern zu folgenden Aussagen aus dem Elterninterview herangezogen:

48

Dieser Wert ist nicht im Sinne von „keine Fehlzeiten“ zu interpretieren. Es ist davon auszugehen, dass alle Kinder ein durchschnittliches Maß an Fehlzeiten aufweisen (Wert „0“). Zu diesem durchschnittlichen Wert können durch gesundheitliche Beeinträchtigungen verursachte Fehlzeiten hinzukommen. Als solch zusätzliche Fehlzeiten soll der Wert „1“ der Variable interpretiert werden.

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

-

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In der letzten Woche war mein Kind stolz auf sich. ([1] „nie“/ „selten“ [2] „manchmal“ [3] „oft“/ „immer“) In der letzten Woche fühlte mein Kind sich wohl in seiner Haut. ([1] „nie“/ „selten“ [2] „manchmal“ [3] „oft“/ „immer“) In der letzten Woche mochte mein Kind sich selbst leiden. ([1] „nie“/ „selten“ [2] „manchmal“ [3] „oft“/ „immer“) In der letzten Woche ist mein Kind bei anderen „gut angekommen“. ([1] „nie“/ „selten“ [2] „manchmal“ [3] „oft“/ „immer“) In den letzten sechs Monaten wurde mein Kind von anderen gehänselt oder schikaniert ([1] „trifft voll und ganz zu“ [2] „trifft teilweise zu“ [3] „trifft nicht zu“)

Das ordinale Alpha dieser Items beträgt α=0,755. Es wurde der Mittelwert aus allen fünf Items ermittelt. Durchschnittswerten von kleiner als 2,5 wird der Wert (1) „Stigma“ zugewiesen, Durchschnittswerten von 2,5 und größer der Wert (0) „kein Stigma“.49 Fälle mit mehr als zwei fehlenden Werten wurden als fehlend kodiert. Kontrollvariablen Soziale Herkunft (metrisch). Die soziale Herkunft der Kinder wird über den sozioökonomischen Status ihrer Eltern operationalisiert. In der KiGGS-Studie liegt mit dem Sozialschichtindex nach Joachim Winkler bereits eine Operationalisierung vor. Der Sozialschichtindex nach Winkler ist ein ungewichteter, mehrdimensionaler additiver Index (siehe Winkler 1998; Winkler & Stolzenberg 1999; 2009). Die Operationalisierung erfolgt über die drei Einzeldimensionen Bildung, Haushaltseinkommen sowie berufliche Stellung. Jede der drei Einzeldimensionen wird auf einer siebenstufigen Ordinalskala abgebildet; die erzielten Punktwerte werden aufsummiert. Die errechnete Maßzahl liefert Werte zwischen 3 und 21 und wird als kontinuierliche Variable verwendet (siehe Anhang A3). Es wird der jeweils höhere Wert der beiden Elternteile im Haushalt herangezogen. Bei Kindern von Alleinerziehenden wird der Wert des Elternteils verwendet, bei dem das Kind (hauptsächlich) aufwächst. Die Kodierung weist zwei wesentliche Einschränkungen auf: Zum einen fallen neben ungelernten Arbeiter/innen auch Schüler/innen, Student/innen, sowie Hausfrauen und männer in die niedrigste berufliche Kategorie. Diesen Personengruppen wird hierdurch womöglich ein zu niedriger Wert auf dem Sozialschichtindex zugewiesen, der ihre tatsächliche sozioökonomische Situation nicht adäquat widerspiegelt. Eine weitere 49

Das bedeutet beispielsweise, dass Kindern, die in mindestens drei der Items höchstens in die mittlere Kategorie eingestuft wurden, ein Stigma zugeschrieben wird. Dasselbe gilt für Kinder, die auf zwei der Items den niedrigsten Wert aufweisen. Diese Kategorisierung ist, wie so viele (insbesondere auf Indizes beruhende) Zusammenführungen von Ausprägungen, natürlich zu einem gewissen Grad arbiträr. Das hier gewählte Vorgehen liegt in pragmatischen Überlegungen zu ausreichend großen Fallzahlen und die Gewährleistung der Vergleichbarkeit mit den anderen empirischen Kapiteln in dieser Arbeit begründet.

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5 Studie I – Bildungserfolg

Limitation besteht darin, dass das Haushaltsnettoeinkommen nicht nach Haushaltsgröße gewichtet vorliegt. Das gewichtete Haushaltsäquivalenzeinkommen spiegelt die finanzielle Situation von Haushalten deutlich genauer wider als das ungewichtete Haushaltsnettoeinkommen. Diese beiden Einschränkungen lassen sich nicht nachträglich beheben. Es ist aber davon auszugehen, dass sie durch zwei Punkte abgemildert werden: Zum einen werden die drei Variablen nicht einzeln betrachtet; durch das additive Verfahren bei der Indexbildung fällt einem eventuell ungenauen Wert auf einer der drei Variablen weniger Gewicht zu. Zweitens wird der jeweils höhere Wert der beiden Elternteile verwendet. In einer Konstellation, in der beispielsweise ein Elternteil zur Kinderbetreuung vorübergehend zuhause bleibt (und damit fälschlicherweise in die niedrigste berufliche Kategorie fällt), wird wahrscheinlich der andere Elternteil einen höheren Wert auf dem Winkler-Index aufweisen, womit automatisch dessen Wert für die Analysen herangezogen wird. Es ist davon auszugehen, dass dies in vielen Fällen auch tatsächlich demjenigen Elternteil entspricht, der den höheren soziökonomischen Status innehat. Soziale Herkunft (niedrig, mittel, hoch). Für einige Analysen wird der Indexwert in drei Gruppen zusammengefasst, so dass die soziale Herkunft ordinalskaliert in drei Kategorien vorliegt: (1) „niedrig“ (Indexwerte 3-8) (2) „mittel“ (Indexwerte 9-14) und (3) „hoch“ (Indexwerte 15-21). Migrationshintergrund. Ein Migrationshintergrund wird zugewiesen, wenn mindestens eines der beiden Elternteile im Ausland geboren wurde oder beide Eltern in Deutschland geboren sind, aber mindestens ein Elternteil eine andere Staatsbürgerschaft als die deutsche besitzt (Wert [1]). Wenn beide Eltern in Deutschland geboren sind und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, nimmt die Variable Migrationshintergrund den Wert (0) an. Alter. Es wird das Alter des Kindes in Monaten verwendet. Geschlecht (männlich). Für alle Kinder liegen Informationen zum Geschlecht vor. Die Variable Männlich nimmt die Werte (0) „weiblich“ und (1) „männlich“ an. Alleinerziehend. Die dichotome Variable Alleinerziehend nimmt den Wert (1) an, wenn das Kind mit nur einem Elternteil zusammenlebt und den Wert (0), wenn das Kind mit beiden Eltern oder mit einem Elternteil und einer/m neuen Partner/in zusammenlebt. Kinder, die bei Großeltern oder in anderen Konstellationen aufwachsen, werden von den Analysen ausgeschlossen. Kinderzahl. Die Kinderzahl im Haushalt wird durch die Summe der im selben Haushalt lebenden leiblichen Geschwister, Halb-, oder Stiefgeschwister und des Kindes abgebildet. Die Variable wurde anschließend z-standardisiert.

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

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Klassenstufe. Die Information über die Klassenstufe des Kindes zum Zeitpunkt des Interviews wird im Elternfragebogen erhoben. Die Regelgrundschule umfasst in Deutschland in fast allen Bundesländern die Klassenstufen 1 bis 4, wobei üblicherweise ab der dritten Klasse Noten vergeben werden. Der größte Teil des Analysesamples befindet sich daher zum Zeitpunkt der Befragung in den Klassenstufen 3 und 4. Einige Kinder erhalten aber bereits in den Klassenstufen 1 und 2 Noten und können in das Sample eingehen. Etwaige Unterschiede zwischen den Klassenstufen werden durch die Klassenstufen-Dummies kontrolliert. Fehlende Werte auf einer oder mehreren Modellvariablen wurden nicht imputiert, sondern führen zum Ausschluss aus allen Analysen, beziehungsweise aus Teilanalysen, sofern der Ausfall designbedingt ist, wie beispielsweise bei der Variable Fehlzeiten. Mit Blick auf die zentralen Modellvariablen sind fehlende Werte sehr selten (siehe Anhang A2) und beeinträchtigen somit die vorliegende Arbeit nicht. 5.1.3 Analysestrategie Das Sample der Bildungserfolgsstudie umfasst ausschließlich Kinder an Regelgrundschulen, da Schulnoten über die verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe II, bzw. zwischen Regelgrundschulen und Förderschulen nicht miteinander vergleichbar sind.50 Kinder mit amtlich anerkannten Behinderungen wurden von den Analysen ausgeschlossen (N=30). Alle Analysen in dieser Arbeit wurden mit der Statistiksoftware Stata, Version 14, durchgeführt. 5.1.3.1 Deskriptive Analysen In den deskriptiven Analysen wird zunächst untersucht, ob und in welchem Ausmaß verschiedene gesundheitliche Beeinträchtigungen im Kindesalter zwischen den sozialen Gruppen ungleich verteilt sind. Der Befund gesundheitlicher Ungleichheit im Kindesalter kann als empirisch gesichert erachtet werden; dennoch wird überprüft, ob mit dem konkreten Analysesample dieser Befund repliziert werden kann und wie stark das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheit bei den Kindern im Sample ausgeprägt ist. Hierbei wird der prozentuale Anteil der Kinder mit einer bestimmten gesundheitlichen Beeinträchtigung in den drei sozialen Herkunftsgruppen (niedrig, mittel, hoch) ermittelt. Anschließend wird mittels Chi-Quadrat Tests überprüft, ob die gefundenen Unterschiede statistisch signifikant sind. Zweitens wird deskriptiv überprüft, ob gesundheitlich beeinträchtigte Kinder im Durchschnitt tatsächlich schlechtere Schulnoten aufweisen als Kinder ohne die jeweilige Beeinträchtigung. Hierbei kommen zweiseitige T-Tests zur Anwendung, welche 50

Da nicht bekannt ist, ob sich die erhobenen Noten des letzten Zeugnisses auf das Zwischenzeugnis zum Halbjahr oder das Jahreszeugnis am Schuljahresende beziehen, müssen alle Kinder im Sample zum Zeitpunkt der Befragung noch in der Grundschule gewesen sein.

124

5 Studie I – Bildungserfolg

die Schulnoten in der Gruppe der gesundheitlich beeinträchtigten Kinder mit den Schulnoten in der Gruppe der Kinder ohne die jeweilige Beeinträchtigung vergleichen und auf Mittelwertgleichheit testen. Die T-Tests untersuchen, ob Unterschiede in den Mittelwerten zwischen diesen Gruppen statistisch signifikant sind. 5.1.3.2 Test des primären Gesundheitseffekts und seiner Wirkmechanismen I In den multivariaten Analysen werden lineare Regressionsmodelle51 berechnet, um den Effekt der verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Schulnoten in den Fächern Deutsch und Mathematik zu schätzen. Schulnoten sind „quasi-metrisch“ skaliert, das heißt, obwohl die Notenskala streng genommen eine Ordinalskala darstellt, wird sie in der Praxis in der Regel zweckmäßig als „quasi-metrisch“ behandelt52, ähnlich wie beispielsweise die Likert-Skala (Feiks 2016: 9). Entsprechend sind lineare Regressionen auf Schulnoten ein übliches Schätzverfahren (vgl. auch Wentura & Pospeschill 2015). Bei der linearen Regression (auch bekannt als OLS-Regression, vom engl. ordinary least suqares) müssen die folgenden Voraussetzungen erfüllt sein (vgl. Wolf & Best 2010): (1) Keine Multikollinearität der unabhängigen Variablen (2) Homoskedastizität der Residuen (3) Normalverteilung der Residuen (4) Keine Ausreißer53 (5) Linearer Zusammenhang von unabhängiger und abhängiger Variable In Anhang A4 sind die Regressionsstatistiken zu den einzelnen Tests dargestellt. Es zeigt sich, dass nicht alle Annahmen erfüllt sind. Es liegt keine Multikollinearität der unabhängigen Variablen vor. Da der Breush-Pagan Test darauf hinweist, dass Heteroskedastizität vorliegt, werden heteroskedastizitätsrobuste Standardfehler berechnet. Ein Shapiro-Wilk-Test verweist darauf, dass die Residuen nicht streng normalverteilt sind; die Verteilung zeigt jedoch, dass es nur an einigen Stellen Abweichungen von der Normalverteilung gibt (siehe Anhang A5-c). Verletzungen der Voraussetzungen der linearen Regression sind in der Praxis häufig der Fall und es wird gemeinhin angenommen, dass die Schätzmethode sich in der Regel relativ robust gegen diese Verletzungen verhält, das heißt, selbst wenn die Annahmen „nicht hundertprozentig erfüllt 51

52

53

Als Test auf Robustheit wurden alle Modelle auch als Ordered Logit-Regressionen gerechnet (siehe Anhang A4), was zu vergleichbaren Ergebnissen führte. Das folgende Beispiel verdeutlicht dies: Die Note „1 (sehr gut)“ ist besser als die Note „2 (gut)“. Unklar ist hingegen, ob der Abstand zwischen den Noten „1 (sehr gut)“ und „2 (gut)“ der gleiche ist wie zwischen den Noten „4 (ausreichend)“ und „5 (mangelhaft)“ ist. Dessen ungeachtet ist es jedoch in der Schulpraxis Gang und Gäbe, die Notenskala als metrisch zu behandeln, beispielsweise, wenn aus den einzelnen Schulnoten am Ende eines Schuljahres ein Durchschnittswert als Zeugnisnote eingeht. Extreme Ausreißer sind durch die natürlichen Begrenzungen nach oben und unten der quasimetrischen Skala der abhängigen Variable nicht möglich.

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

125

sind, führt das Verfahren in der überwiegenden Anzahl der Fälle immer noch zu brauchbaren, d. h. in einem pragmatischen Sinne realistischen Schätzwerten“ (Behnke 2015: 10). Es werden separate Modelle für die unterschiedlichen Indikatoren der Gesundheit, allgemeine gesundheitliche Beeinträchtigungen, regelmäßige Schmerzen, Übergewicht, Unfallverletzungen, ADHS und geringes Geburtsgewicht berechnet. In die Analysen gehen ausschließlich Grundschulkinder ein, da Schulnoten auf den verschiedenen weiterführenden Schulformen der Sekundarstufe I nicht miteinander vergleichbar sind. Um der Forderung nach einer geschlechtssensiblen Berichterstattung zu Kindergesundheit nachzukommen, wurden alle Modelle standardmäßig für Interaktionen mit der Variable „männlich“ hin untersucht. Da sich keine signifikanten Interaktionseffekte gezeigt haben, werden alle Modelle für beide Geschlechter gemeinsam berechnet und das Geschlecht als Kontrollvariable integriert. Um zu beantworten, warum gesundheitliche Beeinträchtigungen die schulischen Leistungen beeinflussen, wird ein schrittweises Analyseverfahren angewendet, indem die Modelle sukzessive um weitere Erklärungsvariablen erweitert werden. Das Grundmodell beinhaltet nur die Kontrollvariablen Geschlecht, Alter, Klassenstufe, Migrationshintergrund, Kinderzahl im Haushalt und Familienform (alleinerziehend). Dem Hypothesenblock 1a – f zufolge sollten Beeinträchtigungen der allgemeinen Gesundheit, Schmerzen, Übergewicht, ADHS, Unfallverletzungen und niedriges Geburtsgewicht jeweils mit einem geringeren Notendurchschnitt in den Fächern Deutsch und Mathematik assoziiert sein. Dies sollte sich auch dann nicht ändern, wenn in Modell 2 zusätzlich die soziale Herkunft in das Modell mit aufgenommen wird. Es ist durch die simultane Beeinflussung von Gesundheits- und Bildungsergebnissen davon auszugehen, dass sich die Effekte der Gesundheitsvariablen durch die Berücksichtigung der sozialen Herkunft verringern; für den Nachweis eines eigenständigen Effekts von Gesundheit auf Bildungserfolg ist aber eine Bedingung, dass ein signifikanter Effekt der Gesundheitsvariablen auch unter Kontrolle der sozialen Herkunft bestehen bleibt. Im dritten Modell werden zusätzlich die Wirkmechanismen Konzentrationsschwierigkeiten, Fehlzeiten und das Maß für die Internalisierung negativer Zuschreibungen in das Modell integriert (Modell 3). Erwartungsgemäß sollten sich die Effekte der Gesundheitsvariablen dadurch substanziell verringern (partielle Mediation, siehe Abbildung 7), beziehungsweise ganz verschwinden. Im nächsten Schritt werden die konkreten Wirkmechanismen der verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen in einer Mediationsanalyse genauer untersucht. Ziel dieser Analysen ist der Nachweis einer Mediation von Gesundheit durch verminderte Konzentrationsfähigkeit, Fehlzeiten und Internalisierung negativer Stereotype. Der

126

5 Studie I – Bildungserfolg

Mediator Fehlzeiten kann aufgrund der Filterfunktion bei der Erhebung schulischer Fehlzeiten ausschließlich in den Analysen zum allgemeinen Gesundheitszustand und Schmerzen untersucht werden (siehe Seite 120). Mediatoreffekte Ein Mediatoreffekt liegt dann vor, wenn der kausale Effekt einer unabhängigen Variable X auf eine abhängige Variable Y durch eine Mediatorvariable Z interveniert oder unterbrochen, das heißt vollständig oder zum Teil vermittelt wird. Man unterscheidet totale Mediatoreffekte, bei denen der Zusammenhang von X und Y vollständig durch Z erklärt wird, von partiellen Mediatoreffekten, bei denen der Zusammenhang zwischen X und Y nur teilweise durch Z vermittelt wird; Variable X übt dann auch unabhängig von Variable Z einen eigenständigen, direkten Effekt auf Variable Y aus (Urban & Mayerl 2011: 304). Der linke Teil der Abbildung 7 zeigt eine partielle, der rechte Teil eine totale Mediation des Effekts von X auf Y durch Z. Partieller Mediatoreffekt

Totaler Mediatoreffekt

Abbildung 7 Schematische Darstellung partieller und totaler Mediatoreffekte Originalquelle: Urban & Mayerl 2011: 304, eigene, modifizierte Darstellung

Auf die konkrete Fragestellung übertragen liegt eine Mediation dann vor, wenn der Effekt der verschiedenen Gesundheitsvariablen (X1-5) auf die Schulnoten in Deutsch und Mathematik (Y1-2) zumindest teilweise durch einen oder mehrere der Mediatoren Konzentrationsschwierigkeiten, Fehlzeiten und Stigma (Z1-3) vermittelt ist. Nach Holmbeck (1997) und Baron und Kenny (1986) sind Mediatorvariablen durch vier Bedingungen gekennzeichnet (vgl. Urban & Mayerl 2011: 310 ff.): i. ii. iii.

54

Der Prädiktor X (Gesundheitsvariable) hat einen signifikanten Effekt auf die Mediatorvariable Z (z. B. Konzentrationsschwierigkeiten). Der Prädiktor X (Gesundheitsvariable) hat in einem Regressionsmodell ohne Kontrolle des Einflusses der Mediatorvariablen Z (Konzentrationsschwierigkeiten) einen signifikanten Effekt auf die abhängige Variable Y (Schulnoten).54 Die Mediatorvariable Z (Konzentrationsschwierigkeiten) hat einen signifikanten Effekt auf die abhängige Variable Y (Schulnoten). Über diese Bedingung herrscht in der Literatur Uneinigkeit, da sie bei Auftreten so genannter Suppressor-Effekte nicht gilt. Im Fall einer Suppression wird der totale Effekt eines Prädiktors auf die abhängige Variable durch gegensätzliche Vorzeichen der direkten und indirekten Effekte verringert oder gänzlich aufgehoben (Urban & Mayerl 2011: 306). In den im Folgenden dargestellten Analyseergebnissen stellt diese Analyse das Ausgangsmodell (Modell 1) dar.

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

iv.

127

Der Effekt des Prädiktors X (Gesundheitsvariable) auf die abhängige Variable Y (Schulnoten) verringert sich, wenn in einer multivariaten Regression als zusätzlicher Prädiktor die Mediatorvariable Z (Konzentrationsschwierigkeiten ) aufgenommen wird.

Diesen Bedingungen folgt auch der aus mehreren Schritten bestehende statistische Nachweis von Mediatoreffekten durch Sobeltests. Das Stata-Kommando sgmedation führt eine Reihe von Tests durch, aus denen sich der Effekt des Prädiktors X in einen direkten und indirekten Effekt zerlegen lässt: i. ii. iii.

Test 1: Effekt von X auf Y Test 2: Effekt von Z auf Y Test 3: Effekt von X auf Y unter Kontrolle von Z

Auf diese Weise wird auch der Anteil der Mediatorvariable Z am totalen Effekt des Prädiktors X ausgegeben. Sobeltests unterliegen strengen Normalverteilungsannahmen. Da diese häufig verletzt werden, schlagen Preacher und Heyes (2008) zusätzlich Bootstrapping vor, welchem ein nonparametrisches Resampling zugrunde liegt. Beim Bootstrapping werden aus den gegebenen Daten der festen Basisstichprobe eine Vielzahl (in den folgenden Analysen 5.000) neue Zufallsstichproben generiert, so genannte Resamples, beziehungsweise Replikationen, und die Teststatistik für jedes dieser Resamples ermittelt. Die empirische Verteilung der hierbei errechneten Werte dient der Approximation ihrer theoretischen Verteilung in der Population. Die Grundidee von Bootstrapping ist eine Übertragung der Beziehung zwischen Resample und Basisstichprobe auf die Beziehung zwischen Basisstichprobe und Population (Wollschläger 2014: 401). Für diejenigen Mechanismen, die sich in einer Mediationsanalyse ohne Kontrolle der jeweils anderen Mediatoren als signifikante für die Erklärung des Effekts einer bestimmten gesundheitlichen Beeinträchtigung auf die Schulnoten erwiesen haben, wird anhand einer Dekompositionsanalyse eines Modells, das alle Mediatoren enthält, die relative Bedeutung der einzelnen Mediatoren am totalen Effekt einer gesundheitlichen Beeinträchtigung ermittelt. Die Dekomposition wird mit dem Stata-ado khb geschätzt (siehe Breen et al. 2013). Die von Kristian Karlson, Anders Holms und Richard Breen (2011) ursprünglich für logit- und probit-Modelle entwickelte KHB-Methode kann auch auf lineare Modelle angewendet werden. Mit ihrer Hilfe lässt sich ermitteln, welchen relativen Erklärungsanteil die einzelnen Mediatoren jeweils am Effekt einer bestimmten gesundheitlichen Beeinträchtigung haben. 5.1.3.3 Test der Kompensationshypothese des primären Gesundheitseffekts I In einem dritten Analyseschritt wird der Frage nachgegangen, ob der Effekt gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf schulische Leistungen durch die soziale Herkunft

128

5 Studie I – Bildungserfolg

moderiert wird, das heißt: Variiert der Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und schulischen Leistungen nach der sozialen Herkunft? Konkret soll die Hypothese getestet werden, dass ein höherer sozioökonomischer Status die negativen Effekte gesundheitlicher Beeinträchtigungen kompensieren kann, das heißt, dass der Effekt einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in Stärke und Signifikanz mit steigendem sozialem Status abnimmt (Kompensationshypothese). Moderatoreffekte Die soziale Herkunft ist dieser Hypothese nach ein Moderator. Eine Moderatorvariable M, beeinflusst den Effekt eines Prädiktors X (Gesundheitsvariable) auf die abhängige Variable Y (Schulnoten) in seiner Stärke und Signifikanz (siehe Abbildung 8).

Abbildung 8 Schematische Darstellung eines Moderatoreffekts Quelle: Eigene Darstellung

In den im Folgenden dargestellten Regressionsanalysen werden die Moderatoreffekte als Interaktionseffekte spezifiziert. Hierbei werden die Werte der Prädiktor- und Moderatorvariable miteinander multipliziert und der Interaktionsterm in das multivariate Grundmodell (Modell 1) aufgenommen. Es erfolgen zwei Blocks von Analysen: In einer klassischen linearen Regressionsanalyse, aufbauend auf Modell 2 (Seite 125), wird zunächst der Interaktionsterm zwischen dem Sozialschichtindex und der jeweiligen Gesundheitsvariable in das Modell integriert. Ein positiver Interaktionseffekt würde bedeuten, dass der (negative) Effekt der Gesundheitsvariable auf die Schulnoten mit steigendem sozialem Status in seiner Stärke abnimmt. Der Wert des Interaktionsterms, sofern signifikant, kann als durchschnittlicher Zuwachs55 des Haupteffekts der Gesundheitsvariable pro Anstieg um eine Einheit auf dem Sozialschichtindex interpretiert werden. Ein positiver Interaktionseffekt würde folglich die Kompensationshypothese stützen. Die statistischen Tests auf eine Moderation erfolgen in zwei unterschiedlichen Varianten: Einmal mit SES als metrisch skalierter Variable und einmal mit einer kategorialen Variable in den drei Ausprägungen niedriger, mittlerer und hoher SES. Letzteres Vor-

55

Ein Zuwachs im Effekt steht hier inhaltlich erwartungsgemäß für die Verminderung des negativen Effekts, da der positive Wert des Interaktionsterms zu dem (erwarteten) negativen Koeffizienten der Gesundheitsvariable addiert wird.

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

129

gehen ermöglicht einen intuitiveren und anschaulicheren Einblick in soziale Unterschiede an verschiedenen Schwellenwerten des Sozialschichtindex nach Winkler. In einem zweiten Schritt wird anstelle einer linearen Funktion der Schulnoten die Wahrscheinlichkeit auf einen Notendurchschnitt von besser als 2,5 in den Fächern Deutsch und Mathematik untersucht (siehe Seite 117). Anstelle des metrisch skalierten Sozialschichtindex‘ wird in diesen Modellen anhand eines konkreten Gruppenvergleichs überprüft, ob der Effekt der Gesundheitsvariable auf die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit eines guten Notendurchschnitts für die verschiedenen sozialen Herkunftsgruppen unterschiedlich groß ist. Dieses Vorgehen ermöglicht einen intuitiveren und anschaulicheren Einblick in soziale Unterschiede an verschiedenen Schwellenwerten der sozioökonomischen Status. Es werden entsprechend der dichotomen Skalierung der unabhängigen Variable Logit-Modelle berechnet, die neben dem Interaktionsterm zwischen der Sozialschichtgruppen und der Gesundheitsvariablen dieselben Kontrollvariablen enthalten wie Modell 2 (Seite 125). Auf Grundlage dieser Modelle werden vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten für Kinder aus den verschiedenen sozialen Herkunftsgruppen mit und ohne eine bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigung berechnet, während alle anderen Variablen konstant gehalten werden. Die Ergebnisse werden grafisch dargestellt. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei aufgrund teils sehr geringer Zellbesetzungen der einzelnen Kombinationen um eine eher explorative Analyse handelt. Die Ergebnisse werden mit entsprechender Zurückhaltung interpretiert. Es erfolgt kein definitiver Test der Kompensationshypothese, sondern die Daten werden auf Hinweise hin untersucht, die für oder gegen die Hypothese sprechen. 5.1.3.4 Test der Transmissionshypothese zum primären Gesundheitseffekt I Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob die Berücksichtigung gesundheitlicher Beeinträchtigungen einen Beitrag für die Erklärung herkunftsbedingter Bildungsungleichheit liefert. Lässt sich ein Teil des Herkunftseffekts auf die schulischen Leistungen durch soziale Unterschiede im Gesundheitszustand der Schülerinnen und Schüler erklären (Transmissionshypothese, H4)? Die statistische Überprüfung der Transmissionshypothese erfolgt über eine Mediationsanalyse und anschließender Dekomposition mit Hilfe der KHB-Methode, die auf Seite 127 bereits beschrieben wurde. In dieser Analyse wird der Effekt der sozialen Herkunft zerlegt; technisch erfolgt analog zu Kapitel 5.1.3.1 die Zerlegung in einen direkten und einen indirekten Teil. Inhaltlich ist das Argument, dass in dem „direkten“, beziehungsweise „unerklärten“ Teil des Effekts sämtliche Mechanismen enthalten sind, die empirisch gut abgesicherte Wirkpfade der sozialen Herkunft darstellen: Familiärer Anregungs- und Unterstützungsgehalt, bildungsrelevante materielle und immaterielle Ressourcen, Aspirationen, Qualität der vorschulischen Betreuungsinstitutionen, um nur einige zu nennen. All jene Wirkme-

130

5 Studie I – Bildungserfolg

chanismen sind unter dem Teil des Effekts subsummiert, der in dem verwendeten Modell „unerklärt“ bleibt.56 In der Analyse wird der Anteil des indirekten Effekts geschätzt, der über den Wirkpfad Gesundheit verläuft. Es wird je ein globaler Wert für körperliche und mentale Gesundheit verwendet der relative Erklärungsbeitrag untersucht, den diese beiden Variablen am Gesamteffekt der sozialen Herkunft auf die schulischen Leistungen in Deutsch und Mathematik haben. 5.1.4 Ergebnisse Das bereinigte Sample besteht aus 1.720 Grundschulkindern. In Tabelle 2 sind wichtige Kennzahlen der Modellvariablen aufgelistet. Während bei metrisch skalierten Variablen die Mittelwerte angezeigt werden, ist bei Dummy-Variablen der prozentuale Anteil der Fälle im Sample dargestellt, welche bei der jeweiligen Variable den Wert (1) aufweisen. Standardabweichungen (im Folgenden SD für englisch: Standard Deviation) sind in der rechten Spalte abgetragen. Abhängige Variablen Die Kinder im Sample haben einen durchschnittlichen Notenwert (gespiegelt) von 4,71 im Fach Deutsch und 4,75 im Fach Mathematik. Auf der Standardnotenskala entspricht dies Durchschnittswerten von 2,39 (Deutsch) und 2,25 (Mathematik); im Durchschnitt haben diese Kinder also insgesamt gute Noten. Die durchschnittliche Abweichung dieses Werts beträgt 0,84 Notenpunkte (Deutsch), beziehungsweise 0,85 Notenpunkte (Mathematik). Unabhängige Variablen Der Großteil der Kinder in dem Sample verfügt über einen guten (53,8 %) oder sehr guten (40,9 %) allgemeinen Gesundheitszustand. Lediglich 5,4 % der Kinder weisen einen lediglich zufriedenstellenden oder schlechten Gesundheitszustand auf. Diesen Kindern wird entsprechend auf der dichotom skalierten Dummy-Variable „beeinträchtigter Gesundheitszustand“ der Wert (1) zugewiesen (5,4 %). Für 6,2 % der Kinder berichten die Eltern regelmäßige Schmerzen. Als übergewichtig werden mehr als ein Fünftel der Kinder (21,4 %) anhand ihres Body Mass Index eingestuft. Eine gesicherte Diagnose oder ein Verdacht auf ADHS liegt bei 12,2 % der Kinder vor. 15,2 % der Kinder haben in den letzten 12 Monaten vor der Befragung eine Unfallverletzung erlitten, die ärztlich behandelt werden musste. 6,5 % der Kinder kamen mit einem niedrigen Geburtsgewicht zur Welt. 56

Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil des sozialen Herkunftseffekts in der Tat unentdeckt bleibt; dieser ist jedoch sehr viel geringer als der durch die KHB-Analyse ausgegebene, und technisch als „unerklärt“ oder „direkt“ bezeichnete Teil des totalen Effekts der sozialen Herkunft. Diese Analyse ist für sich genommen daher nicht sonderlich aufschlussreich. Interessant wird insbesondere der Vergleich zu Kapitel 5.2.4.6, in welchem mit den Daten der MCS die gleiche Dekompositionsanalyse durchgeführt wird, allerdings unter Berücksichtigung der kognitiven Fähigkeiten im Vorschulalter.

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

131

Tabelle 2 Übersicht der Modellvariablen der Bildungserfolgsstudie (Teilstudie I)

Variable Schulische Leistungen Schulnote Deutsch (gespiegelt) Schulnote Mathematik (gespiegelt)

Mittelwert (SD) 4,71 (0,84) 4,75 (0,85)

Gesundheitliche Indikatoren Allgemeiner Gesundheitszustand (AGZ) Sehr guter AGZ Guter AGZ Max. mittelmäßiger AGZ Dummy: Beeinträchtigte allgemeine Gesundheit Dummy: Schmerzen Dummy: Übergewicht Dummy: ADHS Dummy: Unfallverletzungen letzte 12 Monate Dummy: Niedriges Geburtsgewicht

40,87 53,78 5,35 5,35 6,22 21,40 12,21 15,17 6,51

Mediatoren Dummy: Konzentrationsschwierigkeiten Dummy: Fehlzeiten Dummy: Geringes Selbstwertgefühl

18,72 8,72 21,51

Kontrollvariablen Winkler Sozialschichtindex Dummy: Niedrige Sozialschicht Dummy: Mittlere Sozialschicht Dummy: Hohe Sozialschicht Dummy: Männlich Alter in Monaten Dummy: Klassenstufe 1 Dummy: Klassenstufe 2 Dummy: Klassenstufe 3 Dummy: Klassenstufe 4 Kinderzahl im Haushalt Dummy: Migrationshintergrund Dummy: Alleinerziehend N

11,48 (4,21) 26,57 48,60 24,83 50,52 114,46 (10,16) 1,51 10,64 38,37 49,48 2,203 (0,89) 9,88 11,34 1.720

Datenquelle: KiGGS-Basiserhebung, eigene Berechnungen

Die Prävalenz der unterschiedlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen fällt also sehr unterschiedlich aus: Während mehr als ein Fünftel der Kinder im Analysesample

132

5 Studie I – Bildungserfolg

von Übergewicht betroffen sind, kommen Beeinträchtigungen des allgemeinen Gesundheitszustands, Schmerzen und niedriges Geburtsgewicht seltener vor. Mediatoren 18,7 % der Kinder sind der Angabe ihrer Eltern zufolge von Konzentrationsschwierigkeiten betroffen. Schulische Fehlzeiten wurden für 8,7 % der Kinder im Sample berichtet. Mehr als ein Fünftel der Kinder weisen ein geringes Selbstwertgefühl (Stigma) auf (21,5 %). Kontrollvariablen Der durchschnittliche Wert auf dem Winkler Sozialschichtindex, der eine Skala von 3 (niedrigster möglicher SES) bis 21 (höchster möglicher SES) aufweist, beträgt 11,5 (SD 4,2). Aufschlussreicher ist die Verteilung auf die drei Sozialschichtkategorien: Rund ein Viertel der Kinder stammen jeweils aus Familien der niedrigen (26,6 %) und hohen (24,83 %) Sozialschicht, knapp die Hälfte der Kinder aus der mittleren Sozialschicht (48,6 %). Das durchschnittliche Alter der Kinder in dem Sample beträgt 114,4 Monate (entspricht rund neuneinhalb Jahren) mit einer Standardabweichung von 10,1 Monaten. Diese vergleichsweise geringe Standardabweichung ist darauf zurückzuführen, dass die Kinder nicht gleichmäßig auf die verschiedenen Klassenstufen verteilt sind: Lediglich 1,5 % besuchen zum Zeitpunkt der Befragung die 1. Klassenstufe, rund 10,6 % die 2. Klassenstufe. Der Großteil der Kinder befindet sich in Klassenstufe 3 (38,4 %) und Klassenstufe 4 (49,5 %). Die durchschnittliche Kinderzahl beträgt 2,2 Kinder (SD 0,89). Die Samplekinder sind in diesem Wert bereits inkludiert, so dass diese durchschnittlich etwa ein Geschwisterkind haben. 9,9 % der Kinder im Sample haben einen Migrationshintergrund. 11,3 % der Kinder wachsen bei einem alleinerziehenden Elternteil auf. 5.1.4.1 Deskriptive Befunde In Abbildung 9 ist die Prävalenz der verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen nach Sozialschicht der Eltern dargestellt. Es zeigt sich für allgemeine gesundheitliche Beeinträchtigungen, Übergewicht und ADHS der aus der Literatur bekannte soziale Gradient: Je höher die soziale Schicht, desto geringer die Prävalenz der jeweiligen Beeinträchtigung. Hinsichtlich der anderen Formen gesundheitlicher Beeinträchtigungen zeigen sich abweichende Muster. Bei Schmerzen zeigt sich ein ausgeprägter Nachteil für Kinder der niedrigen Sozialschicht, während es keine Unterschiede in der Prävalenz zwischen Kindern der mittleren und hohen Sozialschicht gibt. Für Kinder aus der niedrigen Sozialschicht wurden am seltensten im letzten Jahr Unfallverletzungen berichtet. Insgesamt scheint es in dem Analysesample keinen Zusammenhang von SES und Unfallverletzungen zu geben, ein Befund, der mit den Daten der KiGGS-Studie auch für die gesamte Stichprobe, das heißt,

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

133

alle Altersgruppen zwischen 0 und 17 Jahren berichtet wurde (Saß et al. 2014: 794). Es gibt keine sozialen Unterschiede in Bezug auf niedriges Geburtsgewicht. Dieser Befund deckt sich wiederum nicht mit den Ergebnissen anderer Studien, die einen sozialen Gradienten bei Frühgeburt und niedrigem Geburtsgewicht ausmachen konnten (Finch 2003; Lampert et al. 2010: 10). 30

27,4

25

22

SES niedrig SES mittel SES hoch

21

20

10 5

16,9 14,8 12,5

13,8

15

10,4

10,3 8,1 4,9

3,3

6,6 6,7 6,1

6,3

4,8 4,7

0 AGZ

Schmerzen

Übergew.

ADHS

Unfall

Niedriges GG

Abbildung 9 Prävalenz von gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei Grundschulkindern nach sozialer Herkunft, in Prozent (KiGGS-Studie) Datenquelle: KiGGS-Basiserhebung, eigene Berechnungen

Im Einzelnen zeigen sich folgende soziale Muster: Die Prävalenz von Beeinträchtigungen der allgemeinen Gesundheit beträgt 8,1% bei Kindern aus Familien mit niedriger Sozialschicht (hellgrau), 4,9% bei Kindern aus Familien der mittleren Sozialschicht (mittelgrau) und 3,3% bei Kindern aus Familien der hohen Sozialschicht (schwarz). 10,3% der Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus haben regelmäßig Schmerzen, mehr als doppelt so viele wie unter Angehörigen der mittleren (4,8%) und hohen (4,7%) Sozialschicht. Mehr als ein Viertel der Kinder der niedrigen Sozialschicht (27,4%) sind übergewichtig, während die Prävalenz in der Gruppe der mittleren Sozialschicht etwas geringer (22%) und in der Gruppe der hohen Sozialschicht deutlich geringer (13,8%) ausfällt. Auch die Verteilung von ADHS weist einen ausgeprägten sozialen Gradienten auf: Rund ein Fünftel der Kinder aus der niedrigen Sozialschicht ist davon betroffen. Bei Kindern aus Familien mit mittlerer Sozialschicht sind es nur etwa halb so viele (10,4%), unter den Kindern aus der hohen Sozialschicht stehen 6,3% in Verdacht, an ADHS zu leiden oder haben eine ärztliche Diagnose für ADHS. Für soziale Ungleichheiten in Unfallverletzungen zeigt sich hingegen kein klares Bild: Hierbei sind die Prävalenzen in der niedrigsten Sozialschicht sogar am geringsten ausgeprägt (12,5%), gefolgt von Kindern der hohen Sozialschicht (14,8%)

134

5 Studie I – Bildungserfolg

und Kindern aus der mittleren Sozialschicht (16,9%). Niedriges Geburtsgewicht ist in allen Gruppen gleich häufig vertreten (rund 6%) und weist somit keine soziale Strukturierung auf. Abbildung 10 zeigt die durchschnittlichen Notenwerte in Deutsch und Mathematik nach sozialer Herkunft. Hierzu wird der Winkler-Index herangezogen (Ränge 3 – 21). Tendenziell steigen die Noten erwartungsgemäß in beiden Fächern mit steigendem Wert auf dem Sozialschichtindex: Je höher der sozioökonomische Status der Eltern, desto besser sind im Durchschnitt die schulischen Leistungen der Kinder. Eine Ausnahme stellt die Gruppe der Kinder mit sehr niedrigem Sozialschichtindex dar, die deutlich bessere Leistungen aufweisen als dem generellen Trend nach zu erwarten wäre.57

5

4 Deutsch Mathematik 3 3

6

9 12 15 Sozialschichtindex nach Winkler

18

21

Abbildung 10 Durchschnittliche Notenwerte in den Fächern Deutsch und Mathematik (gespiegelt) nach sozialer Herkunft Datenquelle: KiGGS-Basiserhebung, eigene Berechnungen

57

Interessant für eine weitergehende Untersuchung könnten insbesondere die Kinder sein, die trotz niedrigem SES gute Leistungen erzielen. Vertiefende Analysen zeigen, dass sich in dieser Gruppe überproportional viele Kinder von alleinerziehenden Müttern (46,4%) befinden. An dieser Stelle kann nur gemutmaßt werden, ob in diesen Familien möglicherweise besondere Hilfen zum Einsatz kommen oder ob möglicherweise eine Trennung von einem Vater mit hohem sozialem Status noch nicht allzu lang zurückliegt und für diesen systematisch hohen Gruppenwert verantwortlich zeichnet. Ein weiterer möglicher Grund für diesen Befund könnte sein, dass sich in dieser Gruppe überproportional viele Studierende befinden: Diese fallen wie in 5.1.2 erläutert in die niedrigste berufliche Kategorie, haben (noch) ein niedriges Einkommen und teilweise noch keinen tertiären Bildungsabschluss.

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

135

Im nächsten Schritt wird der Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und schulischen Leistungen deskriptiv beleuchtet. In Tabelle 3 sind die Ergebnisse von T-Tests auf Mittelwertungleichheit in den Schulnoten im Fach Deutsch (oberer Teil der Tabelle) und Mathematik (unterer Teil der Tabelle) zwischen Kindern mit und ohne verschiedene Formen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen dargestellt: Beeinträchtigungen des allgemeinen Gesundheitszustandes (in den folgenden Tabellen und Abbildungen abgekürzt zu AGZ), regelmäßige Schmerzen, Übergewicht, ADHS, Unfallverletzungen und niedriges Geburtsgewicht (in den folgenden Tabellen und Abbildungen abgekürzt zu GG) dargestellt. Es sind in der Tabelle die durchschnittlichen Notenwerte (gespiegelt und z-standardisiert) und die Standardfehler (S. E., vom englischen standard error) in der Gruppe mit und ohne die jeweilige Beeinträchtigung dargestellt, sowie die daraus errechnete Differenz (Diff.) und der dazugehörige p-Wert. Tabelle 3 Ergebnisse der T-Tests auf Mittelwertgleichheit in den Schulnoten in Deutsch und Mathematik (z-transformiert) zwischen gesunden Kindern und Kindern mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen

Deutschnote Ohne Beeintr. (S. E.) Mit Beeintr. (S. E.) Diff. p-Wert (Diff.) Mathematiknote Ohne Beeintr. (S. E.) Mit Beeintr. (S. E.) Diff. p-Wert (Diff.) N

AGZ

Schmerz

Übergew.

ADHS

Unfall

GG

0,018 (0,024) -0,239 (0,091) 0,347 0,001

0,018 (0,024) -0,279 (0,109) 0,298 0,008

0,038 (0,027) -0,142 (0,050) 0,181 0,002

0,102 (0,024) -0,735 (0,076) 0,838 0,000

-0,001 (0,026) 0,008 (0,064) -0,009 0,889

0,012 (0,024) -0,180 (0,095) 0,066 0,536

0,015 (0,024) -0,282 (0,109) 0,298 0,005 1.720

0,021 (0,024) -0,322 (0,091) 0,344 0,002 1.720

0,031 (0,027) -0,114 (0,050) 0,145 0,013 1.720

0,080 (0,024) -0,579 (0,062) 0,660 0,000 1.720

0,005 (0,026) -0,029 (0,061) 0,034 0,609 1.720

0,012 (0,024) -0,180 (0,095) 0,193 0,047 1.720

Anmerkung: Zweiseitiger T-Test der Notenunterschiede, heteroskedastizitätskonsistente Standardfehler; fettgedruckte Mittelwertunterschiede sind statistisch signifikant (5% Signifikanzniveau) Datenquelle: KiGGS-Basiserhebung, eigene Berechnungen

Der Signifikanztests dieser Mittelwertunterschiede erfolgt mittels zweiseitiger T-Tests, wobei Heteroskedastizität (Varianzungleichheit der Störgröße) zwischen den Gruppen berücksichtigt wird. Signifikante Unterschiede (5%-Level) sind fett dargestellt. Für den Großteil der gesundheitlichen Beeinträchtigungen zeigen sich niedrigere Notenmittelwerte in der Gruppe der Betroffenen, welche für schlechtere Noten stehen.

136

5 Studie I – Bildungserfolg

Kinder mit Beeinträchtigungen des allgemeinen Gesundheitszustandes weisen im Durchschnitt signifikant schlechtere Noten auf als Kinder ohne diese Beeinträchtigungen. Der Unterschied beträgt im Fach Deutsch 0,35 Standardabweichungen (p=0,001) und im Fach Mathematik knapp 0,3 Standardabweichungen (p=0,005). Kinder mit regelmäßigen Schmerzen haben durchschnittlich um 0,3 Standardabweichungen (SD) niedrigere Deutschnoten (p=0,008) und um 0,34 SD niedrigere Werte in den Mathematiknoten (p=0,002) als Kinder ohne regelmäßige Schmerzen. Die Differenz zwischen normalgewichtigen und übergewichtigen Kindern ist etwas geringer, fällt aber ebenfalls zuungunsten der Kinder mit Übergewicht aus: Der Unterschied beträgt 0,18 SD für die Deutschnote (p=0,002) und 0,15 SD für die Mathematiknote (p=0,013). Es zeigen sich starke Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne ADHS zuungunsten der von ADHS betroffenen Kinder. Die Differenz beträgt 0,84 SD für die Deutschnote (p=0,000) und 0,60 SD für die Mathematiknote (p=0,000). Im Durchschnitt sind die schulischen Leistungen in Deutsch und Mathematik von Kindern mit der Diagnose ADHS oder dem Verdacht auf ADHS also deutlich schwächer als die Leistungen von Kindern ohne ADHS. Im Hinblick auf Unfallverletzungen finden sich hingegen keine statistisch signifikanten Mittelwertunterschiede. Niedriges Geburtsgewicht ist nur im Fach Mathematik mit einem schlechteren Notendurchschnitt assoziiert: Die Differenz beträgt 0,19 SD und ist auf dem 5%-Niveau signifikant (p=0,047). Für die Deutschnote deutet sich ebenfalls ein marginaler Nachteil für die betroffenen Kinder an, die jedoch nicht signifikant ist. Zusammenfassend zeigen sich für die meisten betrachteten Beeinträchtigungen negative Assoziationen mit den Noten in den Fächern Deutsch und Mathematik. Für ADHS sind die Differenzen am stärksten und betragen deutlich mehr als eine halbe Standardabweichung. Aber auch für Beeinträchtigungen des allgemeinen Gesundheitszustands und regelmäßige Schmerzen lassen sich substanzielle Unterschiede im Bereich von rund einer Drittel Standardabweichung zeigen. Für übergewichtige Kinder zeigen sich im Vergleich zu normalgewichtigen Kindern marginale, aber ebenfalls statistisch signifikante Unterschiede. Ebenso zeigt sich ein geringer Nachteil für Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht im Vergleich zu Kindern mit normalem Geburtsgewicht im Fach Mathematik. Die berichteten Differenzen mögen absolut betrachtet eher gering erscheinen. Wie sich anhand der insgesamt hohen Mittelwerte und vergleichsweise geringen Standardabweichungen in Tabelle 2 jedoch ablesen lässt, haben die meisten Kinder in dieser Phase der Bildungslaufbahn relativ gute Noten. Insofern sind die hier berichteten Gruppenunterschiede in ihrer Größenordnung als durchaus relevant zu erachten. Dies gilt, bei Notendurchschnittswerten von 2,39 (Deutsch) und 2,25 (Mathematik), insbesondere auch angesichts der Kopplung der Empfehlung zum Gymnasialübertritt in vielen

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

137

Bundesländern an den Notendurchschnitt. Inwieweit sich diese Ergebnisse auch unter Kontrolle von Drittvariablen als stabil erweisen, werden die Ergebnisse der multivariaten Auswertungen in den folgenden Kapiteln zeigen. 5.1.4.2 Multivariate Befunde zum primären Gesundheitseffekt I Zur Überprüfung der Hypothesen 1 – 4 werden multivariate lineare Regressionsmodelle geschätzt. Die Analyse erfolgt schrittweise, indem die Modelle sukzessive um Variablen erweitert werden: Modell 1 schätzt die Effekte der gesundheitlichen Beeinträchtigungen unter Kontrolle des Geschlechts, des Alters des Kindes, der Klassenstufe, der Kinderzahl im Haushalt, Migrationshintergrund und der familiären Situation (alleinerziehend). In Modell 2 wird die soziale Herkunft in Form des kontinuierlichen Sozialschichtindex‘ nach Winkler als weitere Kontrollvariable hinzugefügt. In Modell 3 werden zusätzlich die Mechanismen berücksichtigt, von denen eine Mediation des Effekts der jeweiligen gesundheitlichen Beeinträchtigung angenommen wird: Konzentrationsschwierigkeiten und geringes Selbstwertgefühl. Fehlzeiten werden lediglich in den Modellen zum allgemeinen Gesundheitszustand und zu Schmerzen berücksichtigt.58 Effekte auf die Deutschnote Es zeigen sich für die Deutschnote signifikante negative Effekte für Beeinträchtigungen des allgemeinen Gesundheitszustandes, regelmäßigen Schmerzen, Übergewicht und ADHS in Modell 1 (Tabelle 4, Modell 1). Unter Kontrolle des Geschlechts, des Alters, der Klassenstufe, der Kinderzahl im Haushalt, des Migrationshintergrundes und der familiären Situation liegen die Deutschnoten von Kindern mit beeinträchtigter allgemeiner Gesundheit rund 0,27 Standardabweichungen (SD) unter den Deutschnoten von Kindern ohne diese Beeinträchtigungen. Auch regelmäßige Schmerzen sind mit schlechteren Deutschnoten assoziiert. Der Effekt für regelmäßige Schmerzen beträgt 0,30 SD. Übergewichtige Kinder haben im Schnitt eine um 0,15 SD geringere Deutschnote als normalgewichtige Kinder. Ein vergleichsweise starker Effekt zeigt sich für ADHS mit einer signifikanten Verminderung der Deutschnote um 0,73 SD. Für Unfallverletzungen und niedriges Geburtsgewicht zeigen sich hingegen keine signifikanten Effekte auf die Deutschnote.

58

Der allgemeine Gesundheitszustand ist unter den Gesundheitsvariablen die einzige, die auch als ordinalskalierte Variable verwendet werden kann. Aus Gründen der Konsistenz wurde sie für die im Folgenden vorgestellten Analysen wie alle anderen Gesundheitsindikatoren dichotomisiert. In Anhang A6 sind ergänzend die Modelle mit der Variable in den drei Ausprägungen „sehr gut“, „gut“ und „mittelmäßig bis schlecht“ dargestellt. Es zeigt sich hierbei, dass der allgemeine Gesundheitszustand nicht nur an der Schwelle zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Schulleistungen wirkt, sondern dass es einen graduellen Abfall in den schulischen Leistungen mit abnehmendem Gesundheitszustand gibt.

138

5 Studie I – Bildungserfolg

In Modell 2 wird zusätzlich die soziale Herkunft berücksichtigt. Der Indexwert für die Sozialschicht nach Winkler ist wie erwartet positiv mit der Deutschnote assoziiert. Der Koeffizient für die Sozialschicht beläuft sich in allen Modellen auf etwa 0,07 SD; lediglich in dem Modell zu ADHS fällt er etwas geringer aus (0,065 SD). Die Modellgüte verbessert sich durch die Berücksichtigung der sozialen Herkunft deutlich, wie man an der Steigerung des korrigierten R²-Werts59 erkennen kann. Wie erwartet verringern sich durch die Berücksichtigung der sozialen Herkunft die Koeffizienten für die einzelnen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Die Effekte für allgemeine Gesundheit, Schmerzen und ADHS bleiben aber auch unter Kontrolle der sozialen Herkunft signifikant und negativ. Schüler/innen mit einer Beeinträchtigung der allgemeinen Gesundheit haben auch unter Kontrolle der sozialen Herkunft eine um 0,18 SD niedrigere Deutschnote als gesunde Kinder. Der Effekt für regelmäßige Schmerzen liegt bei -0,22 SD. Der Effekt von Übergewicht ist nun bereits knapp nicht mehr signifikant (p=0,15). Ein weiterhin deutlicher Effekt zeigt sich für ADHS, was auch unter Kontrolle der sozialen Herkunft mit einer um 0,63 SD niedrigeren Deutschnote einhergeht. Unfallverletzungen und niedriges Geburtsgewicht haben auch in Modell 2 keine signifikanten Effekte auf die Deutschnote. Modell 3 berücksichtigt zusätzlich die Mediatoren Konzentrationsschwierigkeiten, Fehlzeiten und Stigma, wobei die Variable Fehlzeiten nur in den Analysen zum allgemeinen Gesundheitszustand und zu Schmerzen berücksichtigt wird. Konzentrationsschwierigkeiten haben in allen Modellen einen relativ starken negativen Effekt auf die Deutschnote von -0,55 SD, in dem Modell zu ADHS beträgt der Effekt von Konzentrationsschwierigkeiten nur -0,41 SD. Abwesenheit vom Unterricht scheint hingegen keinen Effekt auf die Deutschnote zu haben. Ein geringes Selbstwertgefühl hat moderate negative Effekte in allen Modellen, die sich in der Größenordnung von etwa einer Viertel SD bewegen. Die Effektstärken sind, mit Ausnahme des Effekts von ADHS, insgesamt als gering zu bewerten. Es ist aber zu bedenken, dass es sich hierbei um die schulischen Leistungen zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Schullaufbahn handelt, wobei anzunehmen ist, dass sich schwach ausgeprägte Nachteile am Beginn der Bildungskarriere im Laufe der Zeit kumulieren und sich zu manifesten Nachteilen für gesundheitlich beeinträchtigte Kinder entwickeln können (für eine detaillierte Diskussion der Effektstärken siehe auch Seite 158).

59

Das herkömmliche R² erhöht sich mit jeder weiteren erklärenden Variable im Modell, unabhängig von deren tatsächlichem Erklärungsbeitrag. Daher wird in den Tabellen jeweils das korrigierte, um die Anzahl der Freiheitsgrade bereinigte, Bestimmtheitsmaß ausgegeben.

5.1 Teilstudie I zum primären Gesundheitseffekt: Querschnittsanalysen

139

Tabelle 4 Lineare Regressionen zum Einfluss gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf Noten im Fach Deutsch

AGZ Coef. (S. E.) Modell 1 Beeintr. Adj. R² Modell 2 Beeintr. SES Adj. R² Modell 3 Beeintr. SES Konzentr. Abwesenh. Stigma Adj. R² N

Schmerzen Coef. (S. E.)

Übergew. Coef. (S. E.)

-0,269** (0,009) 0,126

-0,302** (0,102) 0,128

-0,152** (0,055) 0,126

-0,180** (0,094) 0,070** (0,005) 0,202

-0,216** (0,099) 0,070** (0,005) 0,203

-0,065 (0,092) 0,059** (0,005) -0,553** (0,060) -0,070 (0,075) -0,247** (0,056) 0,262 1.720

-0,075 (0,098) 0,059** (0,005) -0,550** (0,060) -0,066 (0,075) -0,247** (0,056) 0,262 1.720

ADHS Coef. (S. E.)

Unfallverl. Coef. (S. E.)

GG Coef. (S. E.)

-0,731** (0,076) 0,178

-0,010 (0,064) 0,122

-0,088 (0,101) 0,123

-0,076 (0,053) 0,070** (0,005) 0,202

-0,634** (0,075) 0,065** (0,005) 0,242

-0,001 (0,059) 0,071** (0,005) 0,201

-0,098 (0,095) 0,071** (0,005) 0,201

-0,069 (0,050) 0,058** (0,005) -0,555** (0,060)

-0,318** (0,087) 0,058** (0,005) -0,412** (0,071)

0,057 (0,058) 0,059** (0,005) -0,557** (0,060)

-0,070 (0,088) 0,059** (0,005) 0,551** (0,060)

-0,246** (0,055) 0,262 1.720

-0,230** (0,054) 0,269 1.720

-0,252** (0,055) 0,262 1.720

-0,253** (0,055) 0,262 1.720

Anmerkungen: ** p