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German Pages 144 Year 2014
Andrea Baier »Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?«
Kultur und soziale Praxis
Andrea Baier (Dipl.-Soz.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis im Bereich Forschung und Evaluation. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Subsistenz, Interkulturelle Gärten, Urbane Landwirtschaft, Do it yourself.
Andrea Baier
»Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?« Gesundheit und soziale Ungleichheit. Erfahrungen einer Frauengruppe mit einem Gesundheitsprojekt
Dieser Band entstand im Rahmen der Forschungsarbeit der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und straf bar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung Rücken: Teilnehmerinnen des Projekts »Gesundheit und Ernährung« Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-2490-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Prolog | 7 »Europa war ein Schock für mich« | 7
1. Zum Hintergrund von Buch und Projekt | 9 Gärten und Gesundheit | 9 Interkulturelle Gärten | 10
2. Konstituierung der Gruppe | 15 Die Projektfrauen | 23
3. Soziale Ungleichheit und gesundheitliche Situation | 33 Barrieren und Hindernisse | 37 Bewegung und Ernährung | 40 Was nutzt der Gesundheit, was schadet ihr? | 42 Wo die Frauen wohnen | 43
4. Die Themen im Gruppengeschehen | 49 Das Opferfest | 52 Geschlechterverhältnisse | 53 Depressionen | 56 Zur gesellschaftlichen Wertschätzung der Subsistenz | 60
5. Die Projekte | 65 Interviews in Göttingen-Grone | 65 Bestandsaufnahme in Göttingen-Grone. Licht und Schatten | 69 Ernährung und Migration | 74 Schimmel in der Wohnung | 80
Ein Hausarzt wird eingeladen… | 83 Nachmittag mit Klangschalen – alternative Ansätze und Projekte | 93 Der Fahrradkurs | 97 Bei pro familia: Wechseljahrbeschwerden | 103 Redakteurinnen zu Besuch | 105
6. Resümee | 109 Ausblick | 118 Danksagung | 120
7. Literatur | 121 8. Anhang | 125 Fragebogen zum Thema Gesundheit und Ernährung | 125 Zusammenstellung der Ergebnisse | 131
Prolog »E UROPA WAR EIN S CHOCK FÜR MICH « Als Kulturdolmetscherin und Übersetzerin in Friedland1 zu arbeiten, das war toll, erinnert sich Amina F. und bekommt leuchtende Augen. Aber nachdem die Gelder für das Programm und damit auch für ihre Tätigkeit gestrichen wurden, ist sie erst einmal wieder ohne berufliche Beschäftigung. Die Erwerbslosigkeit ist mit ein Grund, warum ihr Leben in Deutschland viel stressiger ist, als es ihr Leben in XX war, sagt sie: Es bedeutet Stress, aufzuwachen und nicht zu wissen, wie man den Tag am besten gestaltet, aufzupassen, dass die Zeit nicht einfach so verstreicht. Es bedeutet auch Stress, dass man sich immer um so viel bürokratische Angelegenheiten kümmern muss. Aber der eigentliche Stress kommt von der Arbeitslosigkeit, kommt davon, damit zu kämpfen, dass man sich wertlos fühlt.
1 | Friedland ist ein Grenzdurchgangslager in der Nähe von Göttingen mit wechselvoller Geschichte. Zunächst Aufnahmelager für vertriebene Deutsche, heimkehrende Kriegsgefangene, später für Übersiedler aus der DDR und Spätaussiedler sowie auch immer wieder Aufnahmeort für Flüchtlinge aus Krisengebieten, zuletzt für Kontingentflüchtlinge aus dem Irak.
1. Zum Hintergrund von Buch und Projekt G ÄRTEN UND G ESUNDHEIT Von September 2008 bis August 2011 trafen sich zehn Frauen jeden Montag im Nachbarschaftszentrum in Göttingen-Grone, um über ihren Alltag, ihre Familien, ihren Stadtteil und ihre Erfahrungen mit dem hiesigen Gesundheitssystem zu reden. Das Praxisforschungsprojekt »Gesundheit und Ernährung« war im Kontext der Internationalen Gärten Göttingen angesiedelt. Es wurde konzipiert von der Stiftung Interkultur und finanziell gefördert vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Es handelte sich gleichermaßen um ein Integrationsprojekt wie um ein Gesundheitsprojekt:1 Einerseits sollte das Potential Interkultureller Gärten für das Thema »Ernährung und Gesundheit« ausgelotet und andererseits sollten »Mikro-Integrationsprozesse« (Werner 2008) über ein für Migrantinnen hoch relevantes Thema gefördert werden. Das Projekt war auch der (informelle) Versuch, eine Selbsthilfegruppe im Netzwerk der Interkulturellen Gärten zu erproben. Seit den 1970er Jahren spielen Selbsthilfegruppen eine immer größere Rolle im bundesdeutschen Gesundheitssystem, insgesamt ca. zehn Prozent der Bevölkerung haben diese Form der gegenseitigen Unterstützung schon genutzt, aber MigrantInnen sind kaum darunter (s.u.). Genau besehen – was die praktische Lebenshilfe angeht – kann der eine oder andere Interkulturelle Garten aber durchaus als Selbsthilfegruppe gelten, da die GärtnerInnen ihre Belange hier selbst und gemeinsam in die Hand nehmen.
1 | Integration und Gesundheit bedingen einander: Mangelnde Integration erschwert den Zugang zum Gesundheitssystem (und wirkt sich außerdem negativ auf das Wohlbefinden und damit auf die Gesundheit aus), und umgekehrt erschweren gesundheitliche Probleme gesellschaftliche Teilhabe, mithin Integration.
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
Der folgende Text beschreibt und analysiert die Erfahrungen der beteiligten Frauen, die sie im Laufe der drei Jahre mit sich selbst – als Gruppe und Einzelne –, mit Institutionen und VertreterInnen des offiziellen Gesundheitssystem wie mit alternativen Gesundheitsansätzen, mit Politik, Verwaltung, Stadtteil und Nachbarschaftszentrum gemacht haben.
I NTERKULTURELLE G ÄRTEN Interkulturelle Gärten gibt es in Deutschland seit 1996 – der Internationale Garten Göttingen war der erste seiner Art. 1995 äußerten bosnische Frauen im dortigen Migrationszentrum auf die Frage einer Sozialarbeiterin, wie man sie am besten unterstützen könnte, den Wunsch nach einem Gemüsegarten: Endlich nicht mehr nur Tee trinkend herumzusitzen, auf das Ende des Krieges wartend, endlich wieder selber etwas zu tun, zumal etwas Produktives und Sinnvolles, das wünschten sich die Bosnierinnen. Außerdem hatten sie in ihrer Heimat immer Gärten bewirtschaftet, mit dem Gemüseanbau konnten sie also an Bekanntes und Gekonntes anschließen und sich dadurch in der Fremde neu beheimaten (Müller 2002 2). Interviews in Interkulturellen Gärten zeigen, dass Gartenarbeit und Gartengemeinschaft gerade auch bei der Bewältigung der durch Migration bedingten Belastungen hilfreich sind. Gärten können trösten und über erlittene Traumata und Heimweh hinweghelfen (s.u. Interviewausschnitt Begzada Alatovic). Inzwischen gibt es in Göttingen drei dieser Projekte, die sich vielfältig in den Stadtteilen vernetzt haben. Von Anfang an wurden die Gärten von den Beteiligten nicht nur als Garten, sondern auch als Integrationsprojekt verstanden, hier sollten sich Neuankömmlinge, schon lange Ansässige und Einheimische begegnen, um dann gemeinsam in der Einwanderungsgesellschaft anzukommen (vgl. Shimeles in Müller 2002). Die gute Idee wurde zur Erfolgsstory. Mittlerweile sind mehr als 140 Interkulturelle Gärten in ca. 70 Städten entstanden, und es werden immer noch mehr.3 Dass diese Projekte trotz aller Schwierigkeiten blühen 2 | Der Titel des Buches über die Interkulturellen Gärten Göttingen lautet nicht zufällig »Wurzeln schlagen in der Fremde« (Christa Müller 2002). 3 | Stand April 2013. Koordiniert werden die Interkulturellen Gärten von der Stiftung Interkultur (Projekt der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis), die die Praxis in den Projekten erforscht und fördert.
1. Zum Hintergrund von Buch und Projekt
und gedeihen, liegt zweifellos auch daran, dass es neben dem Gedanken der Integration um etwas sehr Konkretes geht: um Blumen und Gemüse auf der einen, um Gemeinschaft und Geselligkeit auf der anderen Seite; und dass das Gärtnern im Interkulturellen Garten vielen MigrantInnen einen produktiven Umgang mit positiven wie mit negativen Erinnerungen ermöglicht und so insgesamt ihr Lebensgefühl verbessert. Gärten sind generell ressourcenreiche Räume, die sich günstig auf das Wohlbefinden und damit auf die Gesundheit auswirken: Sattes Grün, frisches Gemüse, Bewegung an der Luft, sinnvolles Tun und, im Fall von Gemeinschaftsgärten, Geselligkeit. Die Schönheit der Pflanzen beruhigt die Seele, die Wahrnehmung von Naturkreisläufen kann erden, die Verantwortung für Gemüse und Blumen von Leid und Unglück ablenken. Die für Körper wie Seele heilsame Wirkung gärtnerischer Tätigkeit wird zunehmend auch in der therapeutischen Arbeit erkannt und genutzt (siehe www.garten-therapie.de). Darüber hinaus können Blumen und Kräuter nicht nur zur Dekoration bzw. zum Kochen, sondern auch zur Herstellung »natürlicher« Medizin verwendet werden. Insbesondere ältere Migrantinnen verfügen in diesem Bereich oft noch über Wissen, das langsam verloren geht, weil es nicht mehr angewendet und ausgetauscht wird. Die Projektgruppe »Gesundheit und Ernährung« sollte deshalb u.a. auch das tradierte Heilwissen von kräuterkundigen MigrantInnen erheben und sammeln. Tatsächlich hat den Migrantinnen der Austausch über ihre Hausmittel großen Spaß gemacht, sie mussten mitunter allerdings etwas im Gedächtnis kramen oder ihre Mütter anrufen, um die Rezepturen zu erfragen.4
4 | Interessant war, dass sich die verschiedenen volkskundlich-traditionellen Heilweisen gar nicht sehr unterscheiden, und auch in angestammt deutschen Haushalten werden immer noch gerade bei der Versorgung von Kinderkrankheiten diverse Hausmittelchen eingesetzt. Aus den gesammelten Rezepten entstand eine Broschüre »Honig, Olivenöl, Joghurt und Zitrone. Migrantinnen präsentieren Hausmittel aus ihren Herkunftsländern«.
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
Erkundung des Kräuterreichtums im Internationalen Friedensgarten Göttingen-Grone Begzada Alatovic, Koordinatorin von Rosenduft, einem Interkulturellen (Frauen-)Garten in Berlin Kreuzberg beschreibt die heilsamen Kräfte des gemeinsamen Gärtnerns gerade im Exil auf den verschiedenen Ebenen folgendermaßen: »Frauen sitzen immer zu Hause und kochen und backen, können häufig kein Deutsch, haben keine Berufsausbildung, keine Arbeitserlaubnis, da ist der Garten die einzige Möglichkeit rauszukommen, einfach unter Menschen zu sein. [...] Ich hatte Frauen, die waren mehrere Jahre im Flüchtlingslager in Srebrenica, und als hier die erste Zwiebel rausgekommen ist, die waren überwältigt. Sie sprechen auch mit den Pflanzen, es ist eine besondere Beziehung. Und sie haben auch ein großes Wissen, ohne dass sie zur Schule gegangen sind. Das können sie hier im Garten weitergeben und auch darüber reden. Das ist besser als nur zu Hause immer über Krankheit und über den Krieg zu reden. [...] Es gibt viele Frauen, die nicht offen über ihre Vergewaltigungen und andere Kriegstraumata reden wollen. Wenn sie in den Garten kommen, gehen sie meistens alleine auf ihr Beet. Ich nutze den Garten, um Zugang zu den Frauen zu bekommen, das dauert manchmal jahrelang, aber manche haben irgendwann angefangen, Vertrauen wieder aufzubauen, das im Krieg verloren gegangen ist. [...] Mittlerweile werden Frauen auch von ihren Therapeuten in das Gartenpro-
1. Zum Hintergrund von Buch und Projekt
jekt geschickt. [...] Besonders am Garten ist, dass die Frauen im Garten Vertrauen aufgebaut haben. Und dass sie im Garten arbeiten. Sie geben was, sie zeigen was, und das ist wichtig für die Seele. [...] Als die Zucchini die ersten Blüten gekriegt haben, freuten sich die Frauen und riefen sich gegenseitig. Sie wachsen zusammen mit den Pflanzen. Die Freude an den Pflanzen wirkt auf die Menschen. (….) Es gibt über den Garten Kontakte, die sonst nicht wären. Z.B. besucht uns der Bürgermeister von Kreuzberg, Herr Schulz, oft. Begegnungen mit Menschen sind auch wichtig für die Frauen. Wir kochen dann immer was Traditionelles und backen Brot im Garten.« Interview: Christa Müller, 18.08.2010 im Rosenduftgarten
Interkulturelle Gärten wirken sich auch deshalb positiv auf die Gesundheit aus, weil sie als halböffentliche Räume ideale Orte für Begegnung und Empowerment-Prozesse sind. Menschen, die Selbstbewusstsein bzw. Selbstwertgefühl eingebüßt haben, weil sie ihre sozialen Bezüge zurücklassen mussten und im Einwanderungsland einen Statusverlust erlitten haben, können hier neuen Boden unter den Füßen gewinnen. Wie im Interview mit Begzada Alatovic deutlich wird, haben viele GärtnerInnen nicht nur das Stück Land kultiviert, d.h. verwandelt und bereichert, sondern auch sich selbst. Sie haben Freundschaften geschlossen, Schritte in die Öffentlichkeit getan, mit Behörden verhandelt, sich in der Nachbarschaft bekannt gemacht, Politiker eingeladen, in Arbeitsgruppen das Wort ergriffen. Letztlich findet Integration, so wie sie hier verstanden wird, im Alltag statt, in konkreten Praxen, auf der alltäglichen Beziehungsebene; oder sie findet eben nicht statt. So wichtig die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Integration sind, ebenso entscheidend ist, wie sich die alltäglichen Begegnungen von Einheimischen und MigrantInnen gestalten, ob hier die Etablierten- und Außenseiterdynamiken (Elias/Scotson 1993) unterlaufen, die Gesetzmäßigkeiten von Ausschluss und Selbstausschluss unterbrochen werden können. Und in Interkulturellen Gärten können MigrantInnen zur Abwechslung einmal an ihre Kompetenzen und Potentiale anknüpfen, statt auf ihre »Defizite« verwiesen zu werden. Die Gründung einer Arbeitsgruppe zum Thema Gesundheit und Ernährung im Interkulturellen Garten sollte entsprechend erstens Kontakte zu Institutionen und Projekten im Gesundheitsbereich intensivieren und Berührungsängste abbauen, zweitens die Kenntnis über die Funktionsweise des Gesundheitssystems und damit der deutschen Gesellschaft verbessern sowie drittens die eigene Rolle als Gesundheitsmanagerin in der
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
Familie bzw. die Ressourcen von Migrantinnen im Bereich Gesundheit und Ernährung reflektieren und stärken.
2. Konstituierung der Gruppe
Göttingen-Grone – Sozialer Brennpunkt mit viel Grün Im September 2008 begann die Koordinatorin des Projekts vor Ort, Najeha Abid, Frauen im Göttinger Stadtteil Grone, einem sogenannten sozialen Brennpunkt, anzusprechen, ob sie Interesse hätten, an einem Projekt über Gesundheit und Ernährung teilzunehmen. Neun Frauen fanden sich im Herbst zur Projektgruppe zusammen1, Parwin Mustafa und Khamee Abdulrahman Mahmud, migriert aus dem Irak, Sultan Akgül aus der Türkei, Samia Karkaba und Layla Arafa aus dem Libanon, Safia Eshra aus Ägypten, Malika Bouzid aus Algerien, Sandra Müller aus Deutsch-
1 | Mit der Koordinatorin zehn.
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land und Hanun Mohamed aus Syrien.2 Sieben blieben bis zum Schluss. Für eine über drei Jahre bestehende Projektgruppe ist das eine beachtliche Kontinuität und verrät bereits etwas über die Bedeutung der Gruppe für jede einzelne Frau. Anfangs trafen sie sich 14-tägig, dann wöchentlich montags von 16-18h im Nachbarschaftszentrum in Göttingen-Grone. Mehr als einhundert Mal kamen die Projektfrauen im Laufe dieser drei Jahre zusammen.3 Sie lernten sich in der Zeit sehr gut kennen, sie tauschten sich über ihre (unterschiedlichen) Auffassungen in Bezug auf alles Mögliche – angefangen von Schulangelegenheiten der Kinder über Erfahrungen mit der Agentur für Arbeit bis hin zu Fragen der Geschlechterverhältnisse und der Religion – aus. Außerdem informierten sie sich über die verschiedenen Institutionen des Gesundheitssystems und besuchten diverse Einrichtungen. Sie holten Erkundigungen über bestimmte Krankheiten (z.B. Depression) ein und befassten sich mit konventionellen wie mit alternativen Heilmethoden. Sie luden ExpertInnen in die Gruppe ein, um Antworten auf ihre drängendsten Fragen zu bekommen. Sie unternahmen der Gesundheit förderliche Aktivitäten zusammen (Schwimmen, Fahrrad fahren, Joggen, Ausflüge) und probierten im Projektzeitraum Dinge, die ihnen vorher fremd waren: Mehrmals durchstreiften sie eine für kommerzielle Anbieter veranstaltete Gesundheitsmesse, einige begannen, regelmäßig die Mitgliederzeitschrift ihrer Krankenkasse zu lesen, sie besuchten eine Tagung, führten Interviews im Stadtteil und organisierten Veranstaltungen. Dabei gewannen sie nicht nur Wissen über die Möglichkeiten der Gesundheitsvorsorge und des Gesundheitssystem, sondern auch noch über andere Bereiche der deutschen Gesellschaft. Über eine genauere und praktisch fundierte Vorstellung vom Einwanderungsland zu verfügen, ist sicher eine wesentliche 2 | Außerdem nahm eine Frau aus der ehemaligen UdSSR unregelmäßig eine Zeitlang an den Treffen teil. 3 | Jedes Treffen wurde – meist von Najeha Abid, der Koordinatorin – protokolliert, so dass die vorliegende Auswertung sich neben der teilnehmenden Beobachtung auf mehr als hundert Protokolle stützt. Außerdem wurden die Frauen zu Beginn des Projektes interviewt, zu ihrer Einwanderungsgeschichte, ihren Lebensverhältnissen, ihren Auffassungen zu Gesundheit und Krankheiten, zu ihren Sitten und Gebräuchen im Herkunfts- wie im Einwanderungsland. Zusätzlich wurden auch einige der ReferentInnen noch einmal zu ihren Eindrücken über ihr Zusammentreffen mit der Gruppe befragt.
2. Konstituierung der Gruppe
Voraussetzung für Integration. Vor allem wurden sie in den drei Jahren selbstbewusster, sie wissen ihre Interessen besser zu formulieren und haben eine Vorstellung davon entwickelt, an wen sie sich mit welchem Anliegen wenden können. Amina F.4 sagt, der Austausch mit anderen Frauen sei für sie sehr wichtig gewesen. Oft höre man etwas, wisse es aber nicht richtig einzuschätzen: Soll man z.B. die Tochter nun gegen Gebärmutterhalskrebs impfen lassen oder besser nicht? Und da sei es sehr hilfreich, wenn man mit anderen darüber sprechen könne.5 Wenn die Frauen zu den verschiedenen Anlässen6 gefragt wurden, was ihnen das Projekt »nütze«, was ihnen besonders wichtig an ihren Zusammenkünften sei, sind es vor allem soziale Aspekte, die sie hervorheben. Es hebt das Lebensgefühl und stärkt das Selbstbewusstsein, einer Gruppe anzugehören. Es entlastet zu erfahren, dass andere Frauen auch Probleme haben. Gegenseitiger Zuspruch stärkt und tröstet. Der Gruppenrahmen machte die Sache außerdem »offiziell«. Als definierte Arbeitsgruppe waren ihre Zusammenkünfte etwas anderes und »Wertvolleres« als eine »Kaffeeklatschgruppe«, obwohl oder gerade weil 4 | Die Frauen haben sich für den vorliegenden Text selber Pseudonyme gegeben. Alternierend sind sie auch namentlich genannt. So sind insgesamt mehr Namen als Personen im Spiel. Damit ist ein gewisses Verwirrspiel intendiert, das die Anonymisierung erhöht. 5 | Die Rede ist von der HPV-Impfung (Humane Papillomviren). Die Impf-Kampagne hat unter den Migrantinnen eine veritable Verunsicherung ausgelöst. Etliche Frauen haben ihren Töchtern zur Impfung geraten, andere hatten große Bedenken, wieder andere waren der Ansicht, das Problem betreffe sie gar nicht (weil ihre Töchter keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr hätten). Eine Mitarbeiterin des Frauengesundheitszentrums sorgte zuletzt für Klarheit. (Grundsätzlich schützt die angebotene Impfung nicht gegen alle Humanen Papillomviren, sondern nur gegen eine bestimmte Form, d.h. es besteht eine gewisse Gefahr, dass man sich nach einer Impfung in falscher Sicherheit wiegt. Sie sollte regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen (Abstriche) auf keinen Fall ersetzen. Denn nur Abstriche klären zuverlässig, ob eine Infektion vorliegt. Die Impfung muss spätestens nach fünf Jahren wiederholt werden und ist dann kostenpflichtig. Sie ist nur sinnvoll, wenn noch keine Infektion vorliegt, d.h. vor Aufnahme sexueller Beziehungen.) 6 | BesucherInnen und JournalistInnen erkundigten sich regelmäßig nach der Motivation, an der Gruppe teilzunehmen.
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hier auch sehr viele Alltagsprobleme thematisiert wurden, die im engeren Sinne nichts mit Ernährung und Gesundheit zu tun hatten. Ihre sonstigen informellen und privaten Treffen erleben die Frauen offenbar als Teil ihrer alltäglichen Sozialität, die Gruppe als etwas Besonderes. »Ich freue mich die ganze Woche auf Montagnachmittag«, hieß es z.B., oder: »die Gruppe mache ich für mich, das ist die Zeit, die ich mir nehme, und in der Zeit muss dann eben mein Mann auf die Kinder aufpassen«. Die Frauen erlebten die Gruppe als geschützten Rahmen, in dem das, was gesagt wird, »unter uns bleibt«, während ansonsten im halböffentlichen Raum vielleicht schon einmal jemand unerlaubt mithört und Dinge unkontrolliert weitergetragen werden. Das gegenseitige Vertrauen war immer wieder ein zentraler Punkt, wenn es darum ging, zu erläutern, was an der Gruppe so besonders war. Deshalb wollten die Frauen ihre Runde auch nur ungern öffnen bzw. erweitern. In dieser Hinsicht war es eher eine Selbsterfahrungs- als eine Selbsthilfegruppe. Auf sicherem Terrain konnten die Frauen in der Gruppe ihre Meinung vertreten, ohne befürchten zu müssen, negativ sanktioniert zu werden. Dabei wurden zwar durchaus auch normative Auffassungen geltend gemacht, aber es kam eben auch Abweichendes zu Sprache, teilweise wurde heftig diskutiert. Eine besondere Rolle spielte dabei übrigens auch die Meinung der deutschen Teilnehmerin: Mehr darüber erfahren zu wollen, wie die deutsch-deutschen Frauen so sind bzw. leben, war ein erklärtes Motiv der Migrantinnen, in der Gruppe mitzuarbeiten. Sandra Müller hat die Rolle, »das Deutsche« in diesem interkulturellen Setting zu repräsentieren, bereitwillig angenommen und sich nicht gescheut, zu sagen, was sie denkt, einschließlich der Theorien, die sie sich über »die MigrantInnen« gebildet hat. D.h. hier konnten Projektionen verhandelt werden. Dabei begegnete Sandra Müller »den Anderen« immer mit Respekt, stellt sich auf ihre Seite und kritisierte »die Deutschen« für ihre mangelnde Integrationsbereitschaft: Deutschland solle endlich einsehen, dass es ein Einwanderungsland sei. In dieser Hinsicht gab es also einen Konsens in der Gruppe. Diese Neugier, etwas über die Lebenswirklichkeit deutscher Frauen zu erfahren, konnte auch durch die Begegnungen mit den verschiedenen Referentinnen gestillt werden, von denen sich viele persönlich einbrachten, von ihrer Lebensgeschichte und beruflichen Entwicklung erzählten, inklusive privater und beruflicher Brüche. Zu realisieren, dass auch deutsche Frauen ohne migrantischen Hintergrund gebrochene Erwerbsbiografien und schwierige Lebensumstände – Trennung, Krankheit, finanzielle Pro-
2. Konstituierung der Gruppe
bleme – haben können, schien die eigene schwierige Lebenssituation zu relativieren bzw. Mut zu machen, dass sie sich eventuell ändern lässt. Jenseits der thematischen Dimension und des Organisationsrahmens wurde die Gruppe für die Frauen auch zum »Passagen-Raum«, insofern sie einen Raum zwischen Familie und Öffentlichkeit, zwischen Herkunfts- und Einwanderungsland bildete. Eine soziale Dynamik ist eine soziale Dynamik. Durch die Entstehung einer (Frauen-)Öffentlichkeit bzw. die (Halb-)Öffentlichkeit der Auseinandersetzungen ergeben sich unweigerlich produktive Verunsicherungen, Irritationen, Reibungen, neue Möglichkeiten. Der interkulturelle Rahmen, so Karin Werner (2008), bietet mehr Freiheit zum Ausprobieren neuer individueller Ausdrucksformen als innerfamiliäre und innerethnische Communitys, die die einzelnen eher auf Konformität verpflichten. Zur Beliebtheit oder zur persönlichen Bedeutung der Gruppe für die Frauen dürfte noch beigetragen haben, dass mit der Gruppenzugehörigkeit ein gewisser Statusgewinn verbunden war. Mit den öffentlichen Veranstaltungen, die sie organisierten, traten die Frauen als Initiatorinnen bzw. Gastgeberinnen in Erscheinung. Mit der Zeit und mit ihren Aktivitäten wurde die Gruppe bekannt im Stadtteil, einige Male stand etwas über sie in der Zeitung. Sie wurden eingeladen, auf dem Gesundheitsmarkt in Göttingen7 mit dabei zu sein und auf Tagungen zu fahren, sie waren als Interviewpartnerinnen gewünscht.8 Verschiedentlich äußerten andere Frauen ihr Interesse an einer Mitarbeit. Darüber freuten sich die Gruppenmitglieder. Die Hälfte der Frauen in der Projektgruppe waren aktive Mitglieder im Verein Internationale Gärten Göttingen, die andere Hälfte nicht, eine Frau begann während der Projektlaufzeit mit dem Gärtnern. Zwischendurch gab es den Plan und mindestens einen ernsthaften Versuch, gemeinsam eine Parzelle im Garten zu bewirtschaften, aus verschiedenen 7 | Der Gesundheitsmarkt wird vom Göttinger Gesundheitszentrum veranstaltet und ist eine nicht-kommerzielle, lokale Informations- und Aktionsveranstaltung zu Gesundheitsförderung und Prävention. 8 | Eine Diplomandin wandte sich an die Gruppe, weil sie Migrantinnen suchte, die ihr von ihren Erfahrungen im Krankenhaus erzählten, ein angehender Therapeut suchte für seine Ausbildungsverpflichtungen das Gespräch mit Gruppenmitgliedern; die Frauen entsprachen diesen Wünschen gerne.
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
Gründen wurde dann nichts Rechtes daraus.9 Als Ressource im Hintergrund war der Interkulturelle Garten dennoch präsent: Als Reservoir für die (Heil-)Kräuter, die für Tee, Essig, Salat und Quark genutzt wurden, als Ort der Bienenhaltung und geselliger Treffen. Und um sich bei den ReferentInnen für ihre Bereitschaft zu einem Vortrag zu bedanken, wurden fast immer Gartengaben überreicht. Eine nicht zu unterschätzende Rolle für den Erfolg des Projektes spielte insbesondere die Koordinatorin Najeha Abid. Najeha Abid ist seit über fünfzehn Jahren in den Internationalen Gärten Göttingen engagiert. Sie ist eine Integrationsfigur. Sie sprach die Frauen im Stadtteil GöttingenGrone an und warb für das Projekt. Sie schlug die Tagesordnung vor und verschickte die Einladungen zu den Treffen. Sie griff die Vorschläge der Frauen auf und brachte selber welche ein und ermutigte die Frauen unaufhörlich, auch selber aktiv zu werden. Sie stellte ihr Know-how zur Verfügung, wirkte als Vorbild und hielt die Fäden zusammen. Sie provozierte und schlichtete, wie es ihr gerade nötig schien. Sie war ein Glücksfall für das Projekt. Last but not least protokollierte sie die Sitzungen.
9 | Zumindest kein gemeinsames Projekt, zwei Frauen haben dort Kräuter angebaut und gepflegt.
2. Konstituierung der Gruppe
Najeha Abid bei der Zubereitung von Kräuteressig im Internationalen Garten Göttingen-Grone. Der Kräuteressig wurde z.B. als Dankeschön an die ReferentInnen verteilt.
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Das Projekt wurde von der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis wissenschaftlich begleitet. Da die Forschungsmethode nahe liegender Weise insbesondere auf teilnehmender Beobachtung beruhte, war ich auf sehr vielen Gruppensitzungen zugegen. Das war zunächst durchaus mit Irritationen verbunden. Die am Projekt beteiligten Frauen versuchten zu ergründen, welche Funktion ich in der Gruppe haben würde, wie und warum ich montags mit ihnen um den Tisch saß, abwechselnd wurde ich als Mittlerin zur Stiftungsgemeinschaft bzw. zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angesprochen, als zweite »deutsch-deutsche« Frau, die man über die hiesigen Sitten und Gebräuche ausfragen konnte, oder auch als Kontrollinstanz, wie ich wohl diese oder jene Idee beurteilen würde. Zunächst war ich eher ein Fremdkörper in der Gruppe, aber nach und nach gewöhnten sich die Frauen an meine Präsenz und akzeptierten mich als assoziiertes Mitglied. Die Moderation der Arbeitsgruppe überließ ich konsequent Najeha Abid, aber wenn ich gefragt wurde, habe ich gelegentlich auch von mir erzählt bzw. meine Meinung kundgetan. Als »teilnehmende Beobachterin« stand ich einerseits »außen vor« und war andererseits auf vielfache Weise involviert. Die Frauen reagierten je nach Temperament unterschiedlich auf meine Präsenz, die einen waren an Kontakt interessiert, die anderen zurückhaltender. Manchen fiel es bis zum Schluss schwer, mich zu duzen. Das machte den Abstand, den sie empfanden, sehr deutlich. Bei bestimmten Themen, bei Konflikten untereinander, wechselten die Frauen auch schon einmal in andere Sprachen und schlossen mich aus. Das ist eine gleichermaßen unangenehme wie interessante Erfahrung, weil sich so nachempfinden lässt, wie sich MigrantInnen oft fühlen, wenn sie nicht verstehen. Wie geht man schließlich mit Äußerungen, Daten und Debatten um, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren? Das Gruppengeschehen zu beobachten, gehört mit zu den Rahmenbedingungen des Forschungsprojekts, auch Konflikte können sehr aufschlussreich sein. Wenn »Erkenntnisse für Prozesse der Integration auf der Mikroebene des alltäglichen Handelns« (so die Formulierung im Forschungsantrag10) generiert 10 | Stiftung Interkultur (2007): »Interkulturelle Gärten« – ein ressourcenorientierter Ansatz der Mikro-Integration in der bundesweiten Verankerung. Systematische Erprobung und Verbreitung des Themenfeldes »Ernährung und Gesundheit« für das Netzwerk Interkulturelle Gärten« am Standort Göttingen-Grone (Förderantrag an das Bundesamt für Migration).
2. Konstituierung der Gruppe
werden sollen, könnte die Einbeziehung solcher Beobachtungen natürlich aufschlussreich sein. Die Migrantinnen wollen Einzelheiten ihres persönlichen Lebens aber nicht unbedingt veröffentlicht sehen. Als ich Interviews zu ihrer Einwanderungsgeschichte und ihrer Motivation zur Teilnahme am Forschungsprojekt machen wollte, wurden solche Vorbehalte sehr deutlich, zwei Frauen wollten sich lieber nicht interviewen lassen. Die übliche Methode, mit dem Problem umzugehen, die jeweiligen Aussagen zu anonymisieren, hat in einer so kleinen Gruppe wie der BAMF-Gruppe11 aber seine Grenzen, so dass auf die Darstellung besonders heikler Sachverhalte verzichtet wurde, um das Persönlichkeitsrecht und die Integrität der Frauen nicht zu beschädigen.
D IE P ROJEK TFR AUEN Die Projektteilnehmerinnen kommen zwar mehrheitlich aus dem arabischen Raum, erleben einander aber als »sehr verschieden«, und zwar gerade verschieden in Bezug auf ihre Herkunftsländer, und sie empfinden gerade diese Differenz als interessant und bereichernd. Zudem ist ihr sozialer Hintergrund unterschiedlich. Es nehmen Frauen mit akademischer Bildung teil genauso wie Frauen, die aufgrund der politischen Situation in ihrem Heimatland keine Schule besuchen konnten. Sie sind zu Projektbeginn zwischen 28 und 55 Jahre alt. Einige Frauen kannten sich schon vorher über den Interkulturellen Garten, die Kinder oder weil sie im selben Haus wohnen oder zusammen an einem Sprachkurs teilgenommen haben. Zwei Frauen leben mit ihren Kindern alleine und sind von ihren Partnern getrennt oder geschieden, die anderen sind verheiratet (eine Frau heiratet im Projektzeitraum). Zusammen haben die neun Frauen 26 Kinder, drei davon werden im Projektzeitraum geboren, insgesamt neunzehn in Deutschland. Bis auf zwei Teilnehmerinnen wohnen die Frauen in Göttingen-Grone. Weil sie, unabhängig davon, ob sie über eine qualifizierte Ausbildung verfügen oder nicht, Schwierigkeiten haben, eine existenzsichernde Arbeit zu finden, befinden sich fast alle in einer 11 | Die Frauen bezeichneten das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geförderte Forschungsprojekt als »BAMF-Projekt« und sich selbst als »BAMFGruppe« oder »BAMF-Frauen«.
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
wirtschaftlich prekären Situation.12 Sie haben insofern mit belastenden Lebenssituationen zu kämpfen, die sie insbesondere anfällig machen für psychosomatische Krankheiten, Depressionen und Existenzängste. Sie sind in der kleinen Gruppe entsprechend verbreitet. Ihre gegenwärtige Lebenssituation ist trotz unterschiedlicher Herkunft vergleichbar. Zwar gibt es, wie das SINUS-Institut schon vor längerer Zeit ermittelte, die Migrantin ebenso wenig wie den Migranten, weil sich auch die Lebensstilmilieus der MigrantInnen inzwischen ausdifferenziert haben (Wippermann/Flaig 2009), aber die Frauen der Gruppe gehören trotz unterschiedlicher Bildungsniveaus derselben sozioökonomischen Schicht an. In ihrem Fall hat die Migration zu einer Nivellierung 12 | Hoch qualifizierte EinwanderInnen beginnen ihr Leben in Deutschland regelmäßig mit einem beruflichen Abstieg. Die von der Integrationsbeauftragten des Bundes, Maria Böhmer, in Auftrag gegebene Studie zum »Brain Waste« ergab, dass nur 16 Prozent der befragten EinwanderInnen aus Osteuropa eine Stelle in ihrer Branche finden, obwohl die meisten über Ausbildung und/oder Studium verfügen. »Die Untersuchung offenbart ein bizarres Labyrinth von Anerkennungsstellen und Zulassungsverordnungen, in dem sich nicht einmal deutsche Beratungseinrichtungen zurechtfinden, geschweige denn die Zuwanderer selbst. Mal ist der Bund zuständig, mal die Länder. Brain Waste berichtet von Bewerbern, die sich bei vier Stellen über die Anerkennung ihres akademischen Abschlusses informierten – und vier unterschiedliche Antworten bekamen. Auf dem Bildungsgipfel haben Bund und Länder eine bessere Beratung der Betroffenen versprochen. Maria Böhmer fordert darüber hinaus für jeden Zugewanderten eine schnelle und bundesweit einheitliche Prüfung seiner Qualifikationen« (Die Zeit, Nr. 50, Dez. 2008, S.79). Was für die ZuwanderInnen aus der ehemaligen Sowjetunion gilt, gilt ähnlich auch für die Menschen aus dem arabischen Raum, für sie gibt es allerdings noch weniger gesicherte Daten. April 2012 trat das sogenannte Anerkennungsgesetz (»Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsabschlüsse«) in Kraft. Es sollte die Chancen von MigrantInnen, in Deutschland im erlernten Beruf zu arbeiten, verbessern. U.a. beinhaltet die Neuregelung die Vereinheitlichung der Verfahren sowie die Einführung eines Rechtsanspruchs auf ein Bewertungsverfahren. Zudem ist der Zugang zu den Anerkennungsverfahren nicht mehr an die deutsche bzw. eine EU-Staatsangehörigkeit geknüpft (www. bmbf.de; 09.04.2013). Inwieweit dieses Gesetz für eine substantielle Verbesserung der Situation gesorgt hat, wird ein Jahr nach seiner Verabschiedung unterschiedlich beurteilt (Süddeutsche Zeitung 03.04.2013).
2. Konstituierung der Gruppe
ihrer Status- und Bildungsunterschiede geführt. Weder sie noch ihre Männer (eine Ausnahme gibt es) haben qualifizierte Arbeit in Deutschland, sie leben in ähnlichen, teilweise identischen Wohnungen, sie kaufen ähnliche Dinge und in ähnlichen Geschäften. In Bezug auf ihre Kinder sind sie alle sehr bildungsorientiert. Sie besuchen die Elternabende, versuchen ihre Kinder bei ihren Hausaufgaben zu unterstützen, finanzieren ihnen bei Bedarf Nachhilfestunden.13 Sie bemühen sich um ein partnerschaftliches Verhältnis zu ihren Kindern und setzen sich damit explizit von traditionellen Vorstellungen bzw. Erziehungspraxen ihrer Eltern ab. Es ist verschiedentlich Thema, wie sie selbst unter zu strengen, autoritären Eltern gelitten haben.14 Sie sind (fast) alle gläubige Musliminnen, (fast) alle ohne Kopftuch, sie halten die religiösen Gebote (Gebete, Ramadan, Alkohol- und Schweinefleischverbot, Jungfräulichkeit vor der Ehe) ein. Primäres soziales Bezugssystem von allen Frauen ist die Familie, sind ihre Kinder, keine stellt ihre persönlichen Ambitionen über die familiären Belange. Keine der Frauen kommt in der Absicht, sich in Deutschland zu assimilieren. Die Lebensverhältnisse in ihren Herkunftsländern veranlassten sie zur Migration, nicht der Wunsch, in Deutschland oder einem anderen mitteleuropäischen Land zu leben. Zwar hatten sie auch bestimmte – positive – Vorstellungen von Europa, unter anderem, dass die persönliche Freiheit hier größer sei, und eben dies erschien ihnen auch attraktiv, aber das war kein ausschlaggebender Grund, zumal sie die größere Freiheit – so sie es denn gibt – auch nur bedingt für sich geltend machen (wollen). Unverändert bleibt auch die individuelle Zuschreibung
13 | Eine Frau kämpfte im Projektzeitraum darum, dass ihr Sohn auf seiner Schule bleiben konnte. Er musste einmal eine Klasse wiederholen. Sie erzählt, dass seine Lehrer behaupteten, dass er jetzt wieder zu schlecht wäre. Frau Q. ist entschlossen, das nicht einfach so hinzunehmen. 14 | Die partnerschaftliche und gewaltfreie Erziehung gelingt nicht in jedem Fall und in jeder Situation. An einem Nachmittag wurde deutlich, unter welchem Druck die Frauen in Bezug auf ihre Kinder, und insbesondere in Bezug auf ihre Töchter, mitunter stehen. Eine Projektteilnehmerin berichtete stockend, dass ihre Tochter ihr heftige Vorwürfe macht, dass sie sie als Jugendliche manchmal schlug. Sie sagte, sie hätte schreckliche Angst gehabt, dass sie, wie ein Mädchen aus dem Bekanntenkreis, auch eine Beziehung zu einem »falschen« Jungen eingehen könnte.
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zur nationalen Identität ihres Herkunftslandes: Man bleibt Ägypterin, Syrerin etc.15 Die Frauen sind keine Intellektuellen, auch wenn einige von ihnen eine akademische Ausbildung erfahren haben.16 Sie sind nicht befasst mit anti-kolonialen Diskursen und verfolgen auch nicht die einschlägigen Auseinandersetzungen um die angemessene Begrifflichkeit, über die Macht der Zuschreibung und wie Ausschlüsse produziert werden. Sie beschweren sich zwar über Diskriminierung und beschreiben sich öfter als Opfer von Diskriminierung, aber sie sind ihrerseits ganz unbeschwert, was die Rede über »Kultur« angeht. Sie nehmen nicht an, dass »Kultur« eine Konstruktion oder ein Diskurseffekt ist, sie empfinden sie als substanzielle Entität. Sie sind der Meinung, dass deutsche Frauen in ihren heterosexuellen Beziehungen im Allgemeinen glücklich(er) sind, dass sich deutsche Männer partnerschaftlicher verhalten und dass sich die Verhältnisse in Deutschland insgesamt weniger patriarchal darstellen. Die Bilanz hinsichtlich ihrer persönlichen Situation ist gemischt: Sie beklagen ihre gesundheitlichen Probleme; insbesondere haben sie alle zwischendurch mit Stimmungstiefs (wegen Heimweh, wegen Einsamkeit und Verlorenheit, wegen diverser Sorgen) zu kämpfen. Sie klagen über die Erwerbsarbeitslosigkeit; ihre eigene und die der Männer. Als besonders belastend empfinden es die Frauen, wenn die Männer unzufrieden sind und nichts mit sich anzufangen wissen. Mitunter beklagen sie sich über ungerechte Arbeitsverteilung und dass ihre Familien sie nicht entsprechend unterstützen. Grundsätzlich beschreiben sie ihre Partnerschaften als glücklich (bis auf eine Frau). Sie machen sich Sorgen, wenn ihre Kinder Probleme in der Schule haben. Die meisten Frauen sind sozial gut eingebunden, entweder in die weitläufige Familie oder in die über die Herkunft definierte Gruppe, oder auch in mehrere soziale Geflechte. Bei der einen oder anderen Frau scheint dies aber weniger der Fall zu sein. Zudem bedeutet familiäre Eingebundenheit nicht nur Austausch und Aufgehobensein, sondern auch Verpflichtung und Kontrolle. 15 | Die Frauen sind alle Migrantinnen der ersten Generation und unterscheiden sich in ihren Erfahrungen und Selbstdefinitionen radikal von denen der zweiten Generation, wie sie z.B. María do Mar Castro Varela (2007) in ihrer Studie beschreibt. 16 | Eine Frau hat Agrarwissenschaften studiert, eine Wirtschaftswissenschaften, zwei Frauen haben als Lehrerinnen gearbeitet.
2. Konstituierung der Gruppe
Eine Frau sagt, dass sie darunter leide, dass keine Landsleute von ihr in Grone leben. Mehrere Frauen sagen, sie vermissten Bekanntschaften zu deutschen Frauen. Von allen wird die Gesundheitsgruppe als wichtiger Außenkontakt bezeichnet. Rabab B. Frau B. war fest entschlossen, ihrem Kind hier in Deutschland eine Chance zu geben. Deshalb zog sie, sobald es ging, aus Grone weg. Sie war auch entschlossen, Deutsch zu lernen und hat Freundschaften und Bekanntschaften zu Deutschen aufgebaut. Sie war drittens entschlossen, sich nicht auf die Familienrolle zu beschränken und hat ihrer Tochter schon früh eine entsprechende Selbständigkeit abverlangt. In der Erziehung hat sie sich an den anderen Kindern orientiert. Was die deutschen Kinder durften, durfte ihre Tochter auch. Für all das hat Frau B. den richtigen Mann. Er steht politisch links und ist nicht religiös. Es würde ihm nicht einfallen, seiner Frau Vorschriften zu machen. Frau B. selbst ist praktizierende Muslima, sie pilgerte auch nach Mekka, aber von den Moscheen in Göttingen hält sie sich fern. Was sich da abspielt, ist ihr suspekt. Sie plädiert für die Trennung von Religion und Politik: Religion sei Privatsache. Frau B. identifiziert sich u.a. auch darüber, aus einer größeren Stadt zu kommen. Frau B. ist sowohl kritisch gegenüber den Sitten und Gebräuchen der »Herkunftsländer« als auch gegenüber den deutschen. Frau B. hat in ihrem Herkunftsland als Lehrerin gearbeitet. Fayrus L. Frau L. kam nach Deutschland, um zu heiraten und eine Familie zu gründen. Ihr Studienabschluss – Bachelor in Wirtschaftswissenschaft – wurde nicht anerkannt. Es gelang ihr nicht, in Deutschland eine ihrer Ausbildung entsprechende Stelle zu bekommen. Deswegen hat sie sich ehrenamtlich in verschiedenen Projekten engagiert, u.a. ist sie Mitglied mit Parzelle in den Internationalen Gärten Göttingen. Die Möglichkeit, an einer Weiterbildung zur Kulturdolmetscherin teilzunehmen, hat sie gerne wahrgenommen, um noch besser Deutsch zu lernen, um Kontakt zu deutschen Institutionen, zur deutschen Gesellschaft zu bekommen. Frau L. möchte mitreden und mitgestalten, auch über die Bedingungen von Integration. Sie ist der Ansicht, dass es der deutschen Gesellschaft gut anstünde, auch die islamischen Feiertage anzuerkennen. Frau L. hat zwei halbwüchsige Söhne.
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
Hend N. Frau N. kommt ohne Ehemann bzw. in der Absicht, sich von ihrem Ehemann zu trennen, mit zwei Söhnen nach Deutschland. Ein dritter Sohn bleibt in XX. Sie hat in XX eine akademische Ausbildung absolviert, an die sie anknüpfen will. Parallel zum Projekt besucht sie ein Fortbildungsprogramm an der Uni, inklusive der obligatorischen Sprachkurse. Sie wohnt in Grone, privaten Kontakt zu Deutschen hat sie wenig. Sie kam mit großen Erwartungen nach Deutschland, besonders was die politischen wie persönlichen Freiheiten anbelangt. Inzwischen ist sie desillusioniert. Weil ihr jahrelang Sprachkurse und Arbeitsmöglichkeiten verweigert wurden und sie sich von den Behörden von oben herab behandelt fühlte, hat sie keine besonders gute Meinung mehr von Deutschland. Sie zieht schließlich mit ihrem neuen Mann und Kindern im Laufe des Projektes nach XX, in der Hoffnung, dort leichter Arbeit zu finden. Amina F. Frau F. kam nach Deutschland, um zu heiraten und eine Familie zu gründen. Obwohl ihre Ausbildung hier anerkannt wurde, konnte sie ihren erlernten Beruf nicht ausüben. Auch für deutsch-deutsche BewerberInnen ihres Fachs gab es kaum Stellen und ihr stand zusätzlich das Sprachproblem im Weg. Sie absolvierte mehrere Deutsch-Kurse in eigener Regie, engagierte sich in den Internationalen Gärten, nahm Fortbildungsmöglichkeiten wahr und hatte zwei oder drei Jahre Projektstellen. Auf permanente qualifizierte Arbeit hat Frau F. trotzdem wenig Aussicht, die Arbeitsmarktlage ist einfach nicht entsprechend. Nach der Trennung von ihrem Mann zog Frau F. ihre beiden Kinder alleine groß. Die Tochter hat gerade Abitur gemacht, sie will Grundschullehrerin an einer Schule mit hohem Migrantenkinderanteil werden(!). Der Sohn ist etwas jünger. Wie die anderen Frauen spricht Frau F. mit ihren Kindern in ihrer Muttersprache (untereinander sprechen die Kinder Deutsch). Frau F. hat insgesamt wenig Kontakte, es gibt kaum Landsleute in Grone, sagt sie, und dass ihr Menschen aus dem Irak, aus dem Libanon, aus Ägypten letztlich fremd seien. Man könne mit ihnen zwar Arabisch sprechen, aber es sei eben anders. Sie wohnt in Grone, weil das für sie am einfachsten und angenehmsten ist, weil sie hier nicht auffällt und sich nicht erklären muss. Frau F. ist interessiert an Kontakten zu Deutschen, und in ihrer Vorstellung verbindet sich Europa immer noch mit größerer politischer und persönlicher Freiheit.
2. Konstituierung der Gruppe
Hana A. Frau A. kam vor ca. 20 Jahren mit Mutter, Vater, mehreren Geschwistern, deren Ehepartnern und Kindern (und ihrer eigenen Familie) nach Deutschland, um Asyl zu beantragen. Sie hat sofort Kontakt zu Deutschen gesucht, sie hat im Migrationszentrum gearbeitet und sich in den Internationalen Gärten Göttingen engagiert. Sie hat wie die anderen diverse Fortbildungen absolviert und Zertifikate erworben. Vor fünfzehn Jahren wurde Frau A. eine Stelle bei der Stadt angeboten. Aber ihr Mann konnte sich nicht vorstellen, sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern, also konnte sie die Chance nicht wahrnehmen. Jetzt, wo ihre Kinder erwachsen sind, ist es ihrem Gefühl nach für einen beruflichen Neuanfang zu spät. Ihr Mann hatte in Deutschland zunächst einige Jahre Arbeit, jetzt leben sie schon länger von Sozialleistungen. Eigentlich hatte Frau A. sich entsprechend ihrer sozialen Herkunft ein solide-bürgerliches Leben in Deutschland erhofft. Zahra H. Frau H. und ihr Mann kamen als Flüchtlinge nach Deutschland, ihre drei Kinder wurden hier geboren. Ein Schulbesuch war ihr aufgrund der politischen Verhältnisse in ihrem Heimatland nicht möglich. Herr H. hat eine feste Stelle, Frau H. jobbt in prekären und befristeten Arbeitsverhältnissen. Weil ihr Deutsch trotz Integrationskurs und Hauptschulkurs nicht so gut sei, reiche es nicht für eine qualifiziertere Arbeit, sagt sie. Die Schulausbildung ihrer Kinder ist ihr sehr wichtig. Die Familie ist eng in die Community vor Ort eingebunden. Frau H. ist unkonventionell in Sachen geschlechtliche Arbeitsteilung, sie hat nichts dagegen, wenn ihr Sohn ihr beim Putzen hilft. Ihrer Tochter rät sie zum »Abitur für alle Fälle«, auch wenn das Fachabitur reichen würde, um ihren Berufswunsch zu realisieren. In Grone zu wohnen, ist für Frau H. selbstverständlich, hier wohnen schließlich alle ihre Verwandten und Freundinnen und sonstigen Angehörigen der Community. Dayana M. Frau M. ist genauso alt wie Frau H., Anfang 30, und hat auch drei Kinder. Zwei sind in Deutschland geboren. Auch Frau M. kam als Flüchtling mit ihrer Familie nach Deutschland. Auch sie konnte in ihrer Heimat keine Ausbildung absolvieren. Herr M. hatte lange eine feste Stelle, mit seinem Verdienst ließ sich der Familienunterhalt für die Familie bestreiten.
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Frau M. versorgt den Haushalt. Sie fühlt sich damit ausgelastet, für drei halbwüchsige Kinder und ihren Mann zuständig zu sein. Als ihr Mann arbeitslos wird, wird ihr ein Integrationskurs nahe gelegt. Frau M. findet, den hätte man ihr besser vor achtzehn Jahren anbieten sollen, oder die Möglichkeit, einen Schulabschluss zu machen17. Sie spricht davon, aus Göttingen weggehen zu wollen, weil ihr Mann hier keine Arbeit mehr findet. Abgesehen davon ist Grone ihr Stadtteil, obwohl Frau M. das Stigma stört, mit dem der Stadtteil behaftet ist. Fatma S. Frau S. ist vor Ort in eine große Familie – Eltern, Schwestern, Brüder, Kinder etc. – eingebunden und hat nicht so viele soziale Kontakte jenseits der Verwandtschaft. Sie spricht nach eigener Einschätzung »nicht so gut Deutsch«, weil für sie keine Notwendigkeit besteht, Deutsch zu sprechen. Normalerweise, sagt sie, ist das in ihrem Alltag für sie auch kein Problem. Als störender empfindet sie ihre finanzielle Situation. Sie würde gerne in ihrem erlernten Beruf arbeiten. In diesem Bereich sind aber kaum feste Stellen zu finden. So häufig es geht, fährt Frau S. mit ihrem Ehemann nach XX, eigentlich würde sie gerne zurückgehen, aber ökonomische und politische Sicherheit hat ihr Herkunftsland nicht zu bieten. Sie hat vier Kinder aus zwei Ehen. Halat K. Frau K. ist die jüngste in der Gruppe. Auch sie und ihr Mann kamen als Flüchtlinge nach Deutschland. Sie hat wegen ihrer Kinder eigene berufliche oder schulische Ambitionen immer wieder zurückgestellt. Sie fürchtet, es könnte ihren Kindern schaden, wenn sie nicht zu Hause wäre. Sie hat sich zwar immer wieder über Fort- und Ausbildungsmöglichkeiten informiert, aber es scheiterte jedes Mal daran, dass sie nicht familienfreundlich organisiert wurden. Ihr Mann hat eine feste Arbeitsstelle, finanziell ist es knapp, aber sie kommen zurecht. Frau K. hat sich über das Projekt mit Frau H. und Frau M. angefreundet. Zu Deutschen hat sie wenig Kontakt. 17 | Frau M. kommentiert spöttisch-entnervt, ihre Fallmanagerin habe ihr zwar nichts anzubieten, aber offenbar die (irrige) Vorstellung, Migrantinnen säßen zu Hause bei ihren Familien fest, und es würde ihnen gut tun, wenn sie einmal rauskämen.
2. Konstituierung der Gruppe
Fabienne P. Frau P. ist Krankenschwester und kann perfekt Deutsch. Damit hat sie eigentlich zwei Pluspunkte auf ihrer Seite. Aber in Göttingen, sagt sie, sei es schwer, eine Anstellung im Krankenhaus zu finden. Vor ihren Babyjahren hat sie als Nachtwache und für einen mobilen Pflegedienst gearbeitet. Im Moment denkt sie der Kinder wegen noch nicht wieder an Erwerbsarbeit. Sie versucht, ihren Mann zu motivieren, noch besser Deutsch zu lernen, einen Kurs zu machen, eine Ausbildung, damit er bessere Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt hätte. Frau P. ist interessiert, sich in die Familie ihres Mannes einzufinden, die in der Hauptsache in XX lebt, schon wegen ihrer Kinder, aber auch, weil sie es interessant findet. Frau P. sagt, sie sei bereit, ihrem Mann kulturell entgegenzukommen, z.B. ist klar, dass sie in Grone wohnen, z.B. war ihr wichtig, dass der Sohn beschnitten wird, z.B. ist klar, dass die Kinder arabische Namen bekommen. Allerdings besteht sie auch darauf, eben Deutsche zu sein und deshalb andere Vorstellungen von ihrer Rolle in der Ehe zu haben als muslimische Frauen. Sie macht das an der »anderen Kultur« fest.
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3. Soziale Ungleichheit und gesundheitliche Situation
Wichtig für die Gesundheit sind nach Maßgabe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – neben Frieden, ausreichender Ernährung und angemessenen Wohnverhältnissen – eine Geborgenheit vermittelnde Umgebung, die Chance zur Entfaltung von (praktischen) Fähigkeiten, Möglichkeiten zur Einflussnahme (auf die eigenen Lebensverhältnisse), gesellschaftliche Wertschätzung, Zugang zu Bildung und Information, Zugang zu Natur, soziale Beziehungen, soziale Gerechtigkeit (vgl. Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung von 1986)1. Frieden und einigermaßen zufriedenstellende Wohnverhältnisse hat Deutschland zu bieten, auch ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit. Um die Chancengleichheit ist es dagegen nicht so gut bestellt. Die Möglichkeiten der Frauen, ihre Lebensverhältnisse entscheidend zu verändern, sind begrenzt.2 So lange ihre Männer Arbeit haben, sind sie meistens trotzdem einigermaßen damit zufrieden, wie sie ihr Leben eingerichtet haben. Wenn die Männer ihre Jobs verlieren, kann sich die Situation allerdings schnell dramatisch zuspitzen. Nicht nur, dass die finanzielle Situation dann prekär wird, auch die gewohnten Routinen im Arbeitsalltag, in der Arbeitsteilung geraten aus den Fugen, und vormals harmonische Familienverhältnisse werden plötzlich problematisch. Wenn das passiert, wird die Gruppe wirklich wichtig, bietet sie doch wenigstens die 1 | www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G. pdf 2 | Sie setzen ihre Hoffnungen auf ihre Kinder. Sie haben verstanden, dass der Schulerfolg ihrer Kinder der Schlüssel zum sozialen Aufstieg ist, und irgendwie schaffen sie es, aus dem knappen Familienbudget auch noch den Nachhilfeunterricht zu finanzieren.
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
Möglichkeit, über all das sprechen zu können. Die Wahrnehmung und Reflexion der Belastungen, die ein Leben in der Migration begleiten, ist vermutlich ein entscheidender Faktor, um sie zu handhaben und gesund zu bleiben. Die ihnen »Geborgenheit vermittelnde Umgebung« finden die Frauen der Arbeitsgruppe zuallererst in der Familie, dann in ihrer Community, teilweise auch in den Internationalen Gärten Göttingen und erklärtermaßen auch in der Arbeitsgruppe. »Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten« haben sie nur bedingt. Sie managen alle Mehrpersonen-Haushalte, entfalten dort also fortwährend die Fähigkeiten, die es braucht, die Bedürfnisse der Familienmitglieder zu versorgen. Insbesondere engagieren sie sich auch als Begleiterinnen der Schulkarrieren ihrer Kinder. Besonders wertgeschätzt wird diese Arbeit im Allgemeinen aber nicht; auch ihre Kinder, das machen gelegentliche Bemerkungen deutlich, nehmen die Versorgung und Begleitung durch die Mütter für selbstverständlich, und die Töchter streben selbstverständlich Ausbildung und Berufstätigkeit an. Während in vielen nicht-westlichen Gesellschaften Hausarbeit ganz selbstverständlich zur produktiven Arbeit zählt und entsprechend viel Anerkennung erfährt, ist dies in den westlichen Gesellschaften erheblich weniger der Fall. Das hat unter Umständen gravierende Auswirkungen auf das Wohlbefinden von Frauen. Vielen gelingt es zwar zunächst, die eigene Auffassung, das eigene Wertesystem eine Zeitlang gegen die neue gesellschaftliche Bedeutung aufrechtzuerhalten, aber spätestens wenn die Fallmanagerin signalisiert, die Frau müsste doch dringend einmal aus ihrer Familie raus und »arbeiten«, auch wenn sie drei schulpflichtige Kinder hat, vermittelt sich die entsprechende Botschaft und entwertet die geleistete Arbeit im Familienmanagement. Hausarbeit ist im (Post-)Industrieland Deutschland wenig wert, Emanzipation nur als berufliche Emanzipation denkbar. Die »Familienrolle« bietet also insgesamt weniger Chancen zur (Selbst-) Entfaltung. Andererseits haben die Frauen auch kaum Chancen auf qualifiziertere Erwerbsarbeit, und zwar, wie gesagt, unabhängig davon, ob sie eine Ausbildung haben oder nicht bzw. welche Ausbildung sie haben. Eine Frau qualifizierte sich im Projektzeitraum für Schulsozialarbeit, fand danach aber keine Stelle. Eine andere Frau holte ihren Hauptschulabschluss nach, die Suche nach einer Ausbildungsstelle blieb aber erfolglos. Alle Frauen nehmen immer wieder an Maßnahmen teil, die die Agentur für Arbeit
3. Soziale Ungleichheit und gesundheitliche Situation
für sie auslobt, oder auch an Weiterbildungsangeboten, die die Stadt anbietet, aber das führt nie zu regulärer Beschäftigung. Teilweise nehmen die Frauen diese Möglichkeiten trotzdem gerne wahr, einfach aus Interesse und weil es gut tut, etwas zu lernen, weil es nicht ihr Wunsch ist, immer nur für die Familie da zu sein.3 Manche Frauen engagieren sich ehrenamtlich, entweder im Verein Internationale Gärten Göttingen oder in der Integrationsarbeit, drei haben eine Ausbildung zur Kulturdolmetscherin absolviert. Aber sie sind verständlicherweise unzufrieden damit, auf ein ehrenamtliches Engagement beschränkt zu sein. Sie fühlen sich auch schnell ausgenutzt und reagieren empfindlich auf Vorschläge, wo sie sich noch – unbezahlt – gesellschaftlich einbringen könnten. Und es ist für sie so bitter wie für einheimische Erwerbsarbeitslose, nicht im erlernten Beruf arbeiten zu können. Unterschiedlich ist, wie sehr sich die Frauen jeweils über ihren Beruf oder ihre Familienarbeit identifizieren. So ist eine der Frauen der Meinung, dass man einen eigenen Beruf braucht, um gesund zu bleiben, eine andere wäre schon zufrieden, wenn ihr Mann eine Stelle hätte, sie selbst hätte auch ohne Job genug Arbeit. In der Publikationsreihe der Gesundheitsberichterstattung – GEB – des Robert-Koch-Institut Berlin wurden 2008 zwei Berichte veröffentlicht, die die gesundheitliche Situation der zugewanderten Menschen beleuchten.4 Demnach sind MigrantInnen nicht grundsätzlich kränker als die nichtmigrierte Bevölkerung, aber sie haben in manchen Bereichen erhöhte Gesundheitsrisiken. Hierzu zählen insbesondere auch Erkrankungen aufgrund psychosozialer Belastungen. Viele Zugewanderte müssen 3 | Christine Class, Koordinatorin im Interkulturellen Garten Aalen, erklärt sich die anhaltende Begeisterung, die das Angebot »professionelles Fotografieren« nach anfänglichem Zögern bei einer Gruppe von Migrantinnen auslöste, damit, dass die Frauen es genießen, einmal nicht in ihrer Rolle als Versorgerinnen ihrer Familien angesprochen zu werden (s.u.). 4 | Robert Koch-Institut (Hg.) (2008a): Migration und Gesundheit. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Berlin (AutorInnen u.a. Oliver Razum, Hajo Zeeb, Uta Meesmann, Liane Schenk, Maren Bredehorst). Robert Koch Institut (Hg.) (2008b): Kinder- und Jugendsurvey (KiGGS) 20032006. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland. Bericht im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, Berlin (AutorInnen u.a. Liane Schenk, Hannelore Neuhauser, Ute Ellert).
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die Trennung von Verwandten, traumatische Erlebnisse im Zusammenhang mit Krieg und Verfolgung, Fremdenfeindlichkeit sowie Konflikte, die sich durch das Leben in einer anderen Kultur ergeben, verarbeiten. Hinzu kommt, dass ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen – ein niedriger sozioökonomischer Status, ein gesundheitsgefährdender Arbeitsplatz bzw. Arbeitslosigkeit sowie schlechte Wohnverhältnisse – der Gesundheit oft abträglich sind. Insbesondere ein ungesicherter Aufenthaltsstatus ist eine erhebliche Belastung für die körperliche und psychische Gesundheit. Viele MigrantInnen haben also aufgrund der Umstände ihrer Migration, aber insbesondere aufgrund ihres sozioökonomischen Status im Einwanderungsland spezifische Herausforderungen zu bewältigen. Andererseits können MigrantInnen oft im Ausgleich auf bestimmte Ressourcen zurückgreifen, z.B. auf soziale Netzwerke und/oder bestimmte Traditionen bzw. Gewohnheiten, die gesundheitsfördernd sind. Nicht immer sind den MigrantInnen ihre Ressourcen selber präsent. Das Praxisforschungsprojekt sollte auch dazu dienen, solche Potentiale aufzuspüren bzw. ihnen bewusster zu machen. Grundsätzlich sind mit einer Migration allerdings nicht nur Risiken, sondern auch Chancen verbunden, sogar was die gesundheitliche Lage angeht. Das Gesundheitssystem bzw. die allgemeine Versorgungslage können z.B. im Einwanderungsland »besser« 5 sein als im Herkunftsland, oder die Lebensbedingungen insgesamt angenehmer, z.B. was den Schutz vor politischer Verfolgung betrifft.6 Allerdings ist Migration immer eine Anpassungsleistung, die die eigenen Normen und Kompetenzen (z.B. die Sprachkompetenz) in Frage stellt oder sogar entwertet. Sie kann gelingen oder scheitern, was sich entsprechend förderlich oder schädlich auf die Gesundheit auswirken dürfte. Die Autoren des Schwerpunktberichts »Migration und Gesundheit« kommen schließlich zu dem Ergebnis, dass »Menschen mit Migrationshintergrund [...] erhöhte Gesundheitsrisiken aufweisen können« (Hervorhebung AB), dass aber nicht die Migration als solche krank macht, dass es vielmehr entscheidend auf die Gründe und Umstände einer 5 | »Besser« nicht im Sinne der fachlichen Standards, sondern hinsichtlich der Zugänglichkeit. 6 | So sagt Natalia P. im Interview, sie sei in Russland immer krank, krank vor Angst, gewesen (s.u.).
3. Soziale Ungleichheit und gesundheitliche Situation
Migration ankommt sowie auf die Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland (Robert Koch-Institut (Hg.) 2008). Wie Heidrun Schulze (2006) überzeugend darlegt, kommt es zudem auf das Leben vor der Migration an. Grundsätzlich besteht ein gut belegter Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und gesundheitlicher Benachteiligung: Reiche Menschen leben länger als arme Menschen (und zwar erheblich länger).7
B ARRIEREN UND H INDERNISSE Die gesundheitliche Benachteiligung von MigrantInnen wird noch dadurch verschärft, dass sich das deutsche Gesundheitswesen wenig auf die spezifischen Bedürfnisse und Belange der zugewanderten Menschen eingestellt hat. Voraussetzung für eine stimmige Diagnostik und Therapie ist zuallererst die sprachliche Verständigungsmöglichkeit, an dieser ersten Hürde hakt es fast immer. Weiter müssten die unterschiedlichen Krankheitsauffassungen Berücksichtigung finden. In dieser Hinsicht und insgesamt fehlt es aber im Gesundheitssystem an interkultureller Kompetenz, und deshalb werden die Gesundheitsprobleme von MigrantInnen nicht immer richtig erkannt und können dann auch nicht entsprechend behandelt werden (Schouler-Ocak 2009:10ff; Salman 2009:24ff).8 Jede Frau aus der Gruppe hat ihre Geschichte mit dem deutschen Gesundheitssystem zu erzählen: Wie es aufgrund von sprachlichen Missverständnissen (fast) zu dramatischen Kunstfehlern kam, wie deutsche ÄrztInnen MigrantInnen schlecht behandeln und wie sehr sie sich über den – lieblosen – Umgang mit alten, kranken und verwirrten Menschen in bundesdeutschen Institutionen wundern bzw. entsetzen.
7 | Der Zusammenhang von Armut, ungünstigen Wohnverhältnissen und erhöhter Sterblichkeit wurde schon 1912 in dem von Max Mosse und Gustav Tugendreich herausgegebenen Standardwerk »Krankheit und Soziale Lage« belegt (R.i.O.). Reprint 1977 Göttingen Cromm Selbstverlag. 8 | Dabei treten Verständigungsschwierigkeiten zwischen ÄrztIn und PatientIn möglicherweise nicht wegen der »kulturellen« Differenz auf, sondern einfach wegen der Unterschiede aufgrund von Bildungsgrad, sozialer Lage oder persönlichem Schicksal.
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Krankheiten und ihre Symptome sind letztlich so kulturell bedingt wie ihre Behandlung durch die jeweilige medizinische Praxis. Krankheitsverständnis bzw. -theorie, Schmerzausdruck und Therapieerwartung variieren. In Deutschland sind die vorherrschenden Krankheits- und Behandlungsvorstellungen von europäischen Sicht- und Denkweisen geprägt. Die allopathische Medizin ist vorherrschend, auch wenn sich daneben zunehmend andere Heilweisen entwickelt haben. Abwertung und Verdrängung der Laienkultur begünstigen Medikalisierung und technische Zugänge. MigrantInnen bringen dagegen womöglich andere kulturelle Krankheitskonzepte und Gesundheitsauffassungen mit, die im Gesundheitssystem aber keine Berücksichtigung finden. Selbstredend sind die Krankheitsvorstellungen von MigrantInnen ihrerseits nicht statisch, sondern wie kulturelle Konzepte generell im Fluss. In der Arbeitsgruppe wurden z.B. kaum andere als die in Deutschland gängigen Krankheitsauffassungen zum Ausdruck gebracht. Im Gegenteil akzeptierten die Teilnehmerinnen der Arbeitsgruppe im Prinzip recht vertrauensvoll konventionelle Behandlungsmethoden. Verschiedentlich erzählten die Frauen von traditionellen Konzepten wie dem »bösen Blick«, identifizieren sich aber ganz offensichtlich nicht damit, und auf einen zu einer Gruppensitzung eingeladenen »traditionellen Heiler« reagierten sie äußerst skeptisch. Bei einem Gespräch über Homöopathie kommen dann doch einmal einige Vorstellungen bezüglich »anderer« Krankheits- und Heilungskonzepte zur Sprache bzw. zum Vorschein. Rabab B. sagt, sie glaube nicht an die homöopathische Methode, und sie denke nicht, dass es wirke, wenn sie nicht dran glaube. Fabienne P. ermutigt sie, die Sache vielleicht einmal auszuprobieren. Rabab B. meint: Ihr Leben erzählen, das könnte sie auch einer Freundin: »Ja, wirklich, manchmal telefoniere ich so lange«. Das machten Migrantinnen und würden sich so gegenseitig heilen. Sie ist überzeugt, dass man sich gegenseitig oder sogar sich selbst behandeln kann. Sie spreche sich z.B. selbst gut zu, und obgleich sich ihre Tochter darüber wundere, kuriere sie so ihre Schmerzen. Sie gehe auch jeden Tag zu Fuß zur Arbeit, das sei auch eine Methode, sich selbst zu helfen, und tatsächlich wirke es bei Rücken- und Kopfschmerzen. Rabab B. meint in Bezug auf die homöopathischen Kügelchen, sie halte ja auch nichts von anderen Tabletten, z.B. nehme sie auch die ihr von der Ärztin verschriebenen Schmerzmittel nicht. Und noch ein Einwand fällt ihr ein: Sie weiß von einer Bekannten, die seit Jahren wegen Migräne zu einer Homöopa-
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thin laufe und von ihr abhängig sei (und krank wie eh und je). Eine der Frauen berichtet dagegen von positiven Erfahrungen mit Homöopathie. Fayrus L.’s Sohn hatte Neurodermitis, und bei ihm half die herkömmliche Medizin nicht, die Homöopathie aber sehr. Frau L. ist der Meinung, dass Homöopathie in XX »an jeder Ecke« praktiziert werde. Fabienne P. ergänzt, die Länder dort [gemeint sind vermutlich die Länder des Nahen Ostens, AB] seien doch überhaupt diejenigen, die die Homöopathie erfunden hätten. In Pflanzenheilkunde seien sie groß. Fabienne P. macht offensichtlich keinen Unterschied zwischen Homöopathie und anderen nichtschulmedizinischen Zugängen: Das seien doch auch Pflanzen, die in traditionellen Praxen heilerisch zur Anwendung kämen, meint sie auf den Einwand, dass die homöopathische Methode von einem deutschen Arzt begründet wurde. Rabab B. wendet sich um Zustimmung werbend an eine Frau, ob sie nicht auch religiöse Heilerinnen kennen würde, die z.B. ein Gebet auf den Tee sprechen, bevor sie ihn dem Kranken zu trinken geben, und sofern der daran glaube, wirke das auch sehr zuverlässig. Wenn sich der Proband aber lustig mache, wirke es nicht. Fabienne P. weiß von einem Mann in Grone zu berichten, den sie »den Kräutermann« nennen, der mit solchen Methoden heile, und auch ihr Mann habe, als ihr Sohn starke Zahnschmerzen hatte, ein Gebet gesprochen, das die Schmerzen vertrieb. Amina F. hat von so jemandem noch nicht gehört, Fabienne P. weiß auch nichts Genaues. Er nehme kein Geld für seine Dienste, sagt sie. Das findet Frau F. bedenklich, das spreche für Magie, meint sie. Fabienne P. findet dagegen, dass das für den Mann spreche, dass er sich nicht zu bereichern suche. Najeha Abid und Malika Bouzid versuchen sich derweil zu erinnern, wie man bei ihnen zuhause »solche Leute« nennt, aber es fällt ihnen nicht ein. Offensichtlich gehört deren Konsultation nicht zu ihrem Alltag. Auch der Rückgriff auf traditionelle Hausmittel bei leichten bis mittleren Krankheiten ist offenbar nicht an der Tagesordnung. Aber die Erstellung der Broschüre mit den entsprechenden Rezepturen und deren Präsentation auf dem Göttinger Gesundheitsmarkt hat den Frauen großen Spaß gemacht.
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Am Stand auf dem Gesundheitsmarkt. Insgesamt drei Mal präsentierten die Frauen hier ihr Projekt.
B E WEGUNG UND E RNÄHRUNG Muslimische Frauen treiben generell zu wenig Sport, heißt es in offiziellen Verlautbarungen bedauernd, und diese Eigenart wird der »islamischen Kultur« zugeschrieben. Dabei könnte man das umgekehrt auch als Hinweis deuten, dass die zugewanderten Frauen perfekt an die deutsche Gesellschaft adaptiert sind, in der die Menschen insgesamt unter Bewegungsarmut leiden. Mit dem Bewegungsmangel verknüpft sei ein zu hohes Körpergewicht, sagen die MedizinerInnen (Robert Koch-Institut (Hg.) 2008a: 52ff)9. Die Projektteilnehmerinnen teilen diese Einschätzung und klagen (fast) alle über Gewichtszunahme. Man könnte Übergewicht bei MigrantInnen als Hinweis auf die Verweigerung von Integration durch die deutsche Gesellschaft verstehen, als Hinweis darauf, dass ihnen zu wenig Betätigungsfelder und Bestätigungsmöglichkeiten zugestanden werden. 9 | Bei nichtdeutschen Frauen liegt der Body Mass Index im mittleren und älteren Alter deutlich über dem deutscher Frauen. Männer ohne und mit Migrationshintergrund unterscheiden sich diesbezüglich nicht (ebd.).
3. Soziale Ungleichheit und gesundheitliche Situation
Unzufriedenheit mit den Lebensumständen kann sich mitunter in einer wachsenden Bedeutung des Essens artikulieren; Essen ist zudem identitätsstiftend und lindert vielleicht die Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit. MedizinerInnen attestieren im Zusammenhang mit ungenügender Bewegung und Übergewicht oft ein mangelndes Bewusstsein. Für die Frauen in der Gruppe gilt diese Diagnose nur bedingt, ihnen ist ihr Bewegungsmangel als Problem sehr deutlich, sie unternehmen immer wieder Anläufe, z.B. das Fitnessstudio in Grone regelmäßig zu nutzen. Viele gesundheitsschädliche Verhaltensweisen von MigrantInnen sind keine kulturelle Eigenart, sondern ihrem sozialen Status bzw. ihrer Desintegration geschuldet (bzw. umgekehrt: Folge der Exklusionstendenzen in der deutschen Gesellschaft). Zum Beispiel ist das Rauchverhalten der jungen Männer im Viertel, das ein Groner Hausarzt dem patriarchalen Modus in den Migrantenfamilien zuschreibt – konkret meint er, die männlichen Jugendlichen würden zu sehr verwöhnt, z.B. nicht für die Arbeit im Haushalt herangezogen und auch sonst wenig gefordert bzw. kontrolliert –, wahrscheinlich eher ihrer Erwerbsarbeitslosigkeit als dem »kulturellen Faktor« zuzuschreiben (die Beschäftigungslosigkeit wiederum ist u.a. einem defizitären Schulsystem anzulasten). Neuerdings problematisieren ÄrztInnen, dass viele Kinder aus Zuwandererfamilien zu dick seien. Die Projektfrauen thematisieren in ihren Gruppensitzungen mehrfach die Gefahr, ihre Kinder zu sehr zu verwöhnen, und ihr Motiv, sie für Widrigkeiten in der familiären Situation entschädigen zu wollen, sehen sie klar und kritisch. Allerdings ist keines der Kinder der Frauen zu dick, eher im Gegenteil. »Wir geben unseren Kindern Süßigkeiten, weil wir ihnen keine Verwandten geben können«, erläutert Khamee Abdulrahman Mahmud. Kindern Süßigkeiten zu geben, ist eine preisgünstige Möglichkeit, sie zu verwöhnen, sie gleichsam für die Zumutungen der Migrationssituation zu entschädigen, oder sie zu entschädigen für das, was man sich nicht leisten kann. Es beruhigt das schlechte Gewissen der Erwachsenen. Mit »Kultur« hat das schon deshalb nichts zu tun, weil das Essverhalten dem heimatlichen oft diametral entgegengesetzt ist: In XX hätte sie ihren Kindern wahrscheinlich Trockenfrüchte statt Industriezucker angeboten, überlegt eine Frau. In XX seien Süßigkeiten auch viel zu teuer.
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W AS NUT Z T DER G ESUNDHEIT, WAS SCHADE T IHR ? In westlichen Breiten sorgen sich die Menschen weniger um die physische Existenz als vielmehr um ihren sozialen Status. Als prekär erleben sie u.U. ihr Selbstwertgefühl und ihre Lebensplanung. Stressfaktoren können Beschwernisse im Alltag (Zeitnot, Geldmangel, Statusmangel, Einsamkeit) oder bedrückende Lebensereignisse (Tod, Krankheit, Trennung, Erwerbsarbeitslosigkeit und Arbeitsstress, Mobbing) bzw. Übergänge im Lebenszyklus (Adoleszenz, Lehrstellensuche, Berufsfindung, Beginn und Ende von Elternschaft, Rente) sein. Zur Bewältigung solcher Belastungsproben sind emotionale, kognitive und kommunikative Fähigkeiten gefragt. Nicht zu unterschätzen ist die heilsame Kraft von sozialen Beziehungen. Menschen profitieren vom Zusammenleben mit anderen Menschen. Das wusste schon Emile Durkheim (1983) und veranlasste Robert Putnam (2000) bekanntlich zu seiner Einschätzung, dass eine Vereinsmitgliedschaft einen stärker positiven Einfluss auf die Gesundheit habe als die Entscheidung, Sport zu treiben oder mit dem Rauchen aufzuhören. Einsamkeit ist eine entscheidende Komponente im Zusammenhang mit Krankheit. Wenn sie gut sind, beeinflussen soziale Beziehungen Lebensqualität und Lebensdauer positiv. Umgekehrt sind Isolation und Feindseligkeit der Gesundheit abträglich. Gemeinsame Überzeugungen, Werte, Regeln sind der Gesundheit dienlich, weil sie den sozialen Zusammenhang stärken und Konflikte reduzieren. Anerkennung und Wertschätzung wirken gesundheitsfördernd, Missachtung und Ablehnung krankmachend (vgl. Badura/Feuerstein 2007).10 Gerade in den unteren Schichten ist der soziale Zusammenhalt besonders gefährdet bzw. fragil. Das gilt für MigrantInnen aber nur bedingt. Die soziale Kohäsion in Familie und Community migrantischer Milieus ist vergleichsweise hoch und wird entsprechend als Ressource im Bereich Gesundheit eingeschätzt (Robert Koch-Institut [Hg.] 2008a:7). Wenn es um persönliche Voraussetzungen guter Gesundheit in einer potentiell riskanten Umgebung geht, spielen auch religiöse Bindungen als Quel10 | Auch die sozialen Faktoren des Gesundheitsverhaltens werden gerne unterschätzt. Der Politikwissenschaftler James Fowler und der Sozialmediziner Nicholas Christakis haben entdeckt, »dass sich Gesundheitsverhalten und allgemeines Wohlbefinden wie ansteckende Viren in Netzwerken verbreiten«. Allerdings gilt dieser Zusammenhang auch umgekehrt, auch ungesundes Verhalten verbreitet sich in Netzwerken (Christakis/Fowler 2010).
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len sozialer Integration, die das Individuum vor Ungewissheit und Isolation schützen und insofern gesundheitsfördernd wirken, eine positive Rolle (vgl. Durkheim 1983). Nach Antonovsky (1987), der die individuellen Voraussetzungen guter Gesundheit in einer potentiell riskanten Umgebung untersuchte, ist entscheidend, ob Menschen die Welt als sinnhaft, verständlich und beeinflussbar erleben. Augenscheinlich sind viele Migrantinnen hier gehandicapt, wegen ihrer sprachlichen Schwierigkeiten haben sie weniger Chancen, die Welt als sinnhaft und verständlich zu erleben, sie verstehen oft nicht oder falsch und empfinden sich entsprechend als verloren bzw. einflusslos.
Brainstorming kam auf dem Treffen oft zum Einsatz, hier zum Thema: Was ist gesund?
W O DIE F R AUEN WOHNEN Die soziale Lage beeinflusst die gesundheitliche Lage, soweit herrscht Konsens. Wie genau, darüber wird gestritten. Bekanntlich liegen preisgünstige Wohnungen oft an lauten Straßen oder in wenig attraktiven Stadtteilen ohne Infrastruktur etc. Häufig fehlt Grün, vielfach ist die Sicherheitslage mangelhaft. Umstände, die sich ungünstig auf Wohlbefinden, Lebensqualität und Gesundheit auswirken, sind auf kommuna-
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ler Ebene z.B. mangelnde Infrastruktur in Bezug auf Lebensmittel- und Gesundheitsversorgungseinrichtungen, schlechter baulicher Zustand der Wohnungen, Lärm, Gestank im Wohnumfeld, hohe Kriminalitätsrate etc. Mitunter können bestimmte Ressourcen, wie z.B. soziale Netzwerke, negative Effekte vorhandener Stressoren relativieren. Was heißt das in Bezug auf Grone? Grone liegt am westlichen Stadtrand Göttingens, ca. vier Kilometer von der Innenstadt entfernt. In den 1960er und 70er Jahren wurde hier eine Wohnsiedlung errichtet, die überwiegend von vier bis sechsgeschossigen Bauten geprägt ist. Am Siedlungsrand befinden sich ältere Reihen- bzw. Einfamilienhäuser, hier wohnen mehrheitlich Deutsch-Deutsche. Grone ist durch die Kasseler Landstraße, eine stark befahrene Ausfallstraße in Grone-Nord (Alt-Grone) und Grone-Süd geteilt. Insgesamt beherbergt der Stadtteil ungefähr 25.000 EinwohnerInnen, in der Wahrnehmung der Arbeitsgruppenfrauen hauptsächlich kurdische und arabische Iraker, Türken, Libanesen, Kosovo-Albaner, Deutsche und Aussiedler aus Russland und Polen. Daneben gibt es arabische Bevölkerung aus Algerien, Tunesien, Marokko, Syrien, Palästina sowie Menschen aus Vietnam, dem Jemen, einige aus Afghanistan, Ägypten, dem Iran und Sudan. Die Wohnqualität ist so »mittel«. Es fehlen die Läden, die Cafés, die Produktionsstätten, die gewachsenen Vierteln ihren lebendigen Charakter verleihen, andererseits gibt es genug Raum zwischen den Häusern und viel Grün (insgesamt 15 Spielplätze, eine weitläufige Parkanlage, Sportplätze). Es gibt einen zentralen Platz mit Nachbarschaftszentrum11, einer (evangelischen) Kirchengemeinde, einigen Infrastruktureinrichtungen (eine Filiale des Jobcenters, eine Apotheke, ein Internetcafé). Die Jugendlichen nutzen das Netcafé12 und außerdem diverse Treffpunkte draußen (Bänke, Platz vor dem Nachbarschaftszentrums, Grünstreifen). Die Wohnungen bzw. die Häuser selbst sind von unterschiedlicher Qualität, sie gehören verschiedenen Wohnungsbaugesellschaften. Manche sind renoviert 11 | Das Nachbarschaftszentrum wird von einem Förderverein getragen (Mitglieder sind drei Göttinger Kirchengemeinden sowie vier Wohlfahrtsverbände) und zum Großteil von der Stadt Göttingen finanziert (bis 2010 auch noch über das Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser des BMFSFJ). 12 | Das (Inter)Netcafé war eine offene, von der Stadt geförderte Jugendeinrichtung; inzwischen wurde es geschlossen, die Räume werden momentan von einem deutsch-türkischen Verein genutzt.
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und wirken »ganz gut in Schuss«, an manchen »bröckelt der Putz«. Insbesondere wegen inkonsequenter Sanierung (neue Fenster, aber keine Dämmung der Wände) gibt es in vielen Wohnungen ein Schimmelproblem. In manchen Häusern sind Flure und Aufzüge verwahrlost, dreckig und beschmiert. Sicher sind allenfalls die Wohnungen, in die Keller wird häufig eingebrochen, meistens geht es nach Auskunft der GronerInnen um Beschaffungskriminalität. Ohne dass es tagsüber im Viertel so sichtbar wäre, sind die sozialen Probleme nach wie vor groß. Insbesondere viele Jugendliche haben keine Arbeit. Die jungen Männer hängen draußen herum, wissen nicht, was sie tun sollen. Sie rauchen viel. Männer ohne Arbeit sind (für Frauen) in jedem Lebensalter ein Problem, nicht nur, dass sie kein Geld nach Hause bringen, sie durchkreuzen auch den Tagesablauf, stehen entweder im Weg oder hadern mit ihrer Situation; die jungen Männer werden, weil ihnen Lebenschancen verweigert werden, zum »Störfaktor«. Aufgrund seiner im Vergleich zur Gesamtstadt überdurchschnittlich hohen Erwerbsarbeitslosigkeit zählt Grone zu den benachteiligten Quartieren. Das Bild des Stadtteils war lange durch steigenden Wohnungsleerstand, Vandalismus und vernachlässigte öffentliche Freiflächen geprägt, 1999 wurde Grone in das Bund-Länder-Programm »Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf – die soziale Stadt« aufgenommen. Seither setzten die Verantwortlichen zahlreiche Maßnahmen zur Aufwertung des Wohnumfeldes sowie des Wohnungsbestandes um. Eine der Maßnahmen waren Bau und Betreibung des neuen Nachbarschaftszentrums, in dem die Projektgruppentreffen stattfinden. Dieses Zentrum spielt für die Lebensqualität im Viertel eine wichtige Rolle. Zunächst ist es ein Versammlungsort, an dem alle BewohnerInnen zusammentreffen und für die eigenen Belange oder die des Viertels aktiv werden können. Es werden diverse Angebote offeriert, man kann sich beraten und beim Ausfüllen von Formularen helfen lassen, es finden Kurse statt, gerade auch Sprachkurse, es gibt eine Hausaufgabenbetreuung, ein Frauen- wie ein Männerfrühstück, eine Gymnastikgruppe, musikalische Früherziehung etc. Die Benutzung der Räume ist für die BewohnerInnen kostenlos, es gibt eine hauptamtliche Kraft für die Leitung des Bürgertreffs, einige »halbe« Stellen (Honorarkräfte) für Hausmeister und Küche und großen Bedarf an ehrenamtlichen MitarbeiterInnen, d.h. die BewohnerInnen Grones sollen ihr Zentrum im Wesentlichen mit bürgerschaftlichem Engagement selber managen. Das Nachbarschaftszentrum liegt prominent mitten im Quartier, zwei Buslinien halten in unmittelbarer Nähe, die aus dem Stadtzentrum jeweils halbstündig nach Grone fahren.
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Der Stadtteil hat sichtlich davon profitiert, dass in die Renovierung von Häusern und die Pflege der Freiflächen investiert wurde. Seither macht der Stadtteil einen weniger desolaten Eindruck, die vielen Grünflächen im Viertel tragen positiv zum Bild bei. »Heutzutage würde man nicht mehr so großzügig bauen«, erläutert eine Frau aus der Stadtverwaltung, »heute versucht man Wohngebiete zu verdichten«. Für die EinwohnerInnen ist die mangelnde Verdichtung natürlich von Vorteil, man ist schnell unter Bäumen, kann gut mit dem Kinderwagen spazieren gehen, es gibt viele Spielplätze. Jugendliche können sich in den auf sie zugeschnittenen Freizeiteinrichtungen treffen, verfügen aber auch über Möglichkeiten, sich zu separieren (Parkbänke im Grünstreifen, kleine Plätze im Gelände, die nicht einsehbar sind). Problematisch ist nach wie vor die soziale Situation im Viertel, viele Menschen sind auf Transferleistungen angewiesen. Zudem gilt Grone immer noch als sozialer Brennpunkt und hat einen schlechten Ruf. Eine Groner Adresse erleichtert die Lehr- und Arbeitsstellensuche nicht gerade. Weil eine lokale Ökonomie fehlt und es kaum lokale Versorgungsstrukturen, kleine Ladenlokale und Handwerksbetriebe gibt, erfolgt die Versorgung einerseits über die größeren Discounter (in Grone-Süd gibt es einen Rewe-Laden, der als teuer gilt, im »Kaufpark«, dem Einkaufszentrum auf der Grünen Wiese hinter Grone gelegen, gibt es eine Aldi-Filiale, einen Lidl-Laden gibt es in Grone-Nord), andererseits kaufen die BewohnerInnen in einem günstigen »türkischen« Supermarkt (Sinem-Markt) und einem »russischen« Geschäft, dessen Fischangebot ausdrücklich gelobt wird. Trotz der verschiedenen Widrigkeiten wohnen die meisten Frauen der Arbeitsgruppe bewusst und gerne hier und benennen als Vorteile die soziale Nähe untereinander und die Möglichkeit, nach den eigenen Vorstellungen leben zu können: Wenn es für die Nachbarinnen ein Problem wäre, sagen sie, dass sie viel Besuch haben und es auch schon einmal laut wird, wäre das anstrengend. Es gibt durchaus einen eigensinnigen Stolz auf das Viertel. Hier ist Leben, heißt es, hier kennen sich die Leute, hier ist das soziale Klima angenehm. Das Wohnen in einem von MigrantInnen dominierten Stadtteil mindert erkennbar den Stress. Homogene Lebensverhältnisse sind auch entlastend. Der Stolz auf das Viertel bedeutet aber nicht, dass man unter den Gegebenheiten dort nicht auch leidet, und so ging es bei den Gruppentreffen ziemlich oft um die Diskussion der Lebensbedingungen in Grone.
3. Soziale Ungleichheit und gesundheitliche Situation
An einem Nachmittag lamentiert Hend N. über den Zustand ihres Hauses, sie müsse leider anerkennen, sagt sie, in einem »Pennerhaus« zu wohnen, das Treppenhaus sehe immer fürchterlich aus, im Keller würde geklaut, Drogenkonsum finde dort auch statt. Sie schüttelt den Kopf. Amina F. ist es nicht recht, dass sie so schlecht über das Haus redet, sie macht geltend, dass auf ihrer Etage immer geputzt würde. Dayana M. mischt sich ein und sagt, Grone habe einen schlechten Ruf, und sie erzählt (wieder) die Geschichte, wie ihr bei der Jobsuche die Groner Adresse zum Nachteil geriet.13 Fabienne P. wischt alles mit einer Handbewegung weg und meint: Mal habe der eine Stadtteil keinen guten Ruf, mal der andere. Es gäbe viele Stadtteile, die als schlechte Adresse gelten, sie stehe darüber und empfehle diese Haltung auch allen anderen, sie lebe gerne in Grone.
Arrangement bestimmer Speisen zum Frühjahrsfest. Viele GronerInnen feiern am 20. oder 21. März das kurdische oder iranische Frühlingsfest (Nouruz oder Newroz,). Najeha Abid lud zu gegebenem Anlass die Gesundheitsgruppe zu sich nach Hause ein.
13 | Die Geschichten der erfahrenen (oder auch nur vermuteten) Demütigungen werden sehr oft, immer wieder erzählt. Sie reflektieren die unangenehmen Gefühle, die damit verbunden sind, perpetuieren sie aber natürlich auch.
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Zwei der Gruppenmitglieder wohnen bewusst nicht in Grone, weil sie sich der sozialen Deklassierung, die der Wohnort Grone mit sich bringt, entziehen wollten bzw. in besonderer Weise den Anschluss an die deutsche Gesellschaft suchten. Eine der Frauen erzählt, wie sehr ihre Tochter von dem einen Jahr Kindergarten in X. profitiert habe. Nach diesem Jahr konnte sie perfekt Deutsch sprechen. Aber hart sei es auch gewesen, ihre Klassenkameradinnen wohnten in Häusern, das Kind sei nach Hause gekommen und habe seine Mutter gefragt, warum sie denn kein Haus mit Garten hätten.
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Als Einstieg und um sich kennen zu lernen, startete die Gruppe mit einer Runde zu den Fragen: Fühlst du dich gesund? Oder hast du gesundheitliche Probleme? Lebst du gesund? Wenn ja, wie machst du das? Wenn nein, warum nicht? Was heißt überhaupt »gesund leben«? Die Fragen wurden von den Frauen als Chance wahrgenommen, den anderen etwas von der eigenen Lebenssituation und Gemütslage zu vermitteln und die persönliche Lage ein Stück weit zu bilanzieren. Alle hatten ein großes Bedürfnis, ihre Geschichte zu erzählen – die weitere Erzählanlässe für andere Geschichten bot – es wurde kommentiert, nachgefragt, aufeinander Bezug genommen. Das war insofern ein gelungener Anfang, als die Frauen sich über diesen intensiven Austausch gut kennen lernten und schnell näher kamen. Später wunderten sich die Frauen oft über das Vertrauen, das sie gegenseitig empfanden und führten das auf diese Stunden zurück. Außerdem kristallisierten sich so schnell die typischen Problemkonstellationen bezüglich Gesundheit und Migration heraus und konnten als allgemeine und strukturelle und nicht nur individuelle Schwierigkeiten wahrgenommen werden. Das erlebten die Frauen erklärtermaßen als entlastend. Oft entwickelten sich längere Gespräche zu bestimmten Problemen oder Themen: Depressionen, Religion, Geschlechterverhältnis etc. Diese erste Bestandsaufnahme machte deutlich, dass es mit der gesundheitlichen Situation der Frauen nicht zum Besten steht. Sie leiden unter Rückenschmerzen, Bluthochdruck, Allergien, Schlaflosigkeit, Übergewicht und insbesondere auch unter depressiven Verstimmungen und Ängsten, die mit ihrer Lebenssituation zusammenhängen.1 Ihr Le1 | Die z.B. von Erwerbsarbeitslosigkeit, unsicheren finanziellen Verhältnissen, Schwierigkeiten mit ihren Kindern und/oder Männern geprägt ist.
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ben empfinden sie überwiegend als aufreibend und beschwerlich. Als eine Frau im Verlauf des Projekts schwanger wird, erklärt sie ihre gedämpfte Freude damit, dass es so anstrengend sei, noch ein Kind großzuziehen. Deutschland sei so anstrengend, sagt sie, dabei fürchte sie nicht das Putzen, Kochen, Versorgen, aber die Schule. Die Frauen berichteten in diesen ersten Gesprächsrunden erstaunlich offen über ihre Situation und Probleme. Najeha Abid wird später kommentieren, dieses Sprechen über die (gesundheitlichen) Probleme sei selbst schon ein Stück Therapie gewesen. Trotz gelegentlicher Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten, ist die Atmosphäre insgesamt harmonisch und wertschätzend. Die Frauen haben das Gefühl, gerade von ihren unterschiedlichen Meinungen zu profitieren Dabei birgt die »Wie hältst du es mit der Religion, respektive mit dem Islam«-Frage, die, neben der Frage, wie sich die Frauen in Bezug auf das Geschlechterverhältnis positionieren, immer schnell im Raum steht, einigen Konfliktstoff. »Wie hältst du es mit der Religion« ist ein Thema, wenn darüber gesprochen wird: Wer kauft was ein? Wer hält sich (nicht) daran, dass eine Muslimin kein Schweinefleisch und keinen Alkohol zu sich nehmen soll? Und es ist auch relevant, wenn darüber gestritten wird, ob Unterwäsche auf dem Balkon getrocknet werden darf. 2 Auf einem der Treffen fand eine Diskussion darüber statt, ob eine ungenügende Beachtung religiöser Gebote – z.B. das Opferfest in bestimmter Weise zu feiern – die Verhandlungsposition von MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft beeinträchtige (s.u.). Meistens gelang es, unterschiedliche Auffassungen gegenseitig zu respektieren. In einem Fall kam es allerdings zum Zerwürfnis und zum Austritt einer Frau aus der Gruppe. Die Erzählungen der Frauen während dieses ersten Austauschs bestätigen die Thesen, die im Kontext von Migration und Gesundheit formuliert 2 | Im Laufe einer Diskussion »bekannte« sich eine Frau dazu, ihre Unterwäsche auf dem Balkon zu trocknen, weil es ihr praktischer erschien. Den empörten Einwand, dass sie von Männern gesehen werden könnte (was der Islam verbietet), konterte sie mit dem Hinweis, dass überall in der arabischen Welt männliche Händler Wäsche für Frauen verkaufen. Darüber rege sich niemand auf. Und solange das so sei, hänge sie ihre Sachen auch auf den Balkon. Punktum.
4. Die Themen im Gruppengeschehen
werden: Entscheidend für die gesundheitliche Situation ist die sozioökonomische Lage, in die die MigrantInnen durch die Einwanderung geraten. Auch »eingeborenen« Deutschen mangelt es an Gesundheit, wenn sie unter prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen leben müssen. Die deprivierenden Lebensumstände lassen sich dabei zu einem großen Teil darauf zurückführen, dass Deutschland sich über Jahrzehnte nicht als Einwanderungsland verstand und ArbeitsmigrantInnen wie politischen Flüchtlingen nur sehr zögerlich eine Zukunftsperspektive einräumte. Für viele MigrantInnen bedeutet ihre Lebenssituation permanenten Stress. Zudem wirkt die Erfahrung, um Asyl bitten zu müssen und von Lebensmittelkarten und/oder in einem Flüchtlingsheim gelebt zu haben, noch lange nach. Aussagen oder Fragen wie »Deutschland war ein Schock für mich«, »Ich war früher nie krank, erst seit ich in Deutschland bin, bin ich dauernd krank«, »Deutschland stresst mich« oder »Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?« illustrieren, wie die Migrantinnen selber ihren Gesundheitszustand mit ihrer Lebenssituation in Verbindung bringen. »Ich habe oft schreckliches Heimweh«, erzählt eine Frau, und eine andere beklagt: »Ich hatte mir immer vorgestellt, mal ein Haus zu haben«. Die Frauen hadern alle mit ihrem sozialen Status. Sie hatten sich nicht vorgestellt, von staatlichen Transferleistungen abhängig zu sein. Sie hatten gehofft bzw. erwartet, in Deutschland Arbeit zu finden und vom sozialen Aufstieg geträumt und nicht, in einem Viertel zu leben, das als sozialer Brennpunkt gilt. Ihre Lebenserzählungen machen neben den belastenden Faktoren aber auch deutlich, dass sie tatsächlich auf einige salutogenetische Potentiale zurückgreifen können, die sich positiv auf ihre Gesundheit auswirken, eben die soziale Kohäsion in Familie und Community, bestimmte Traditionen (z.B. im Bereich der Ernährung) oder auch religiöse Vorstellungen (Umgang mit Alkohol). So machen sie zum Beispiel aus der Arbeitsgruppe umgehend einen Lebensraum: Besonders am Anfang bringen die Frauen oft etwas zu essen mit, loben sich gegenseitig ob ihrer Kochkünste, verwöhnen sich gegenseitig mit landestypischen Speisen wie Foul, eingelegten und gefüllten Gemüsen, Reis mit Mandeln und Huhn, sauren Lupinen, Kuchen und Obstsalat und ähnlichen Köstlichkeiten mehr. Es herrscht immer ziemlicher Trubel bis es losgeht und auch noch danach. Handys klingeln, Kinder laufen rein und raus, und es gibt viele Nebengespräche. Ganz au-
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genscheinlich verstehen die Frauen die Gruppe auch als geselliges Event und nicht als reines Arbeitstreffen. Entsprechend werden auch diverse Feste in der Gruppe gefeiert, z.B. das kurdische Frühjahrsfest und der Internationale Frauentag.
Brainstorming: Gesundheit und Migration
D AS O PFERFEST Neben gutem Einvernehmen kamen auch Konflikte zur Darstellung. Es ging um den 8. Dezember und darum, dass der Tag voraussichtlich ein hoher muslimischer Feiertag sein würde, und deshalb wollte eine der Frauen nicht, dass an diesem Tag ein Gruppentreffen stattfände. Sie wollte nicht einfach ihrerseits fernbleiben, sie wollte durchsetzen, dass niemand käme und die Heiligkeit des Tages gebührend gewürdigt würde. Ihre Forderung, das Treffen solle ausfallen, war damit von einem impliziten Vorwurf begleitet, dass nämlich den anderen der Feiertag nicht so wichtig sei; sprich sie nahm für sich in Anspruch, auf der moralisch besseren Seite zu stehen. Es entstand umgehend Tumult. Die sich durchaus auch als religiös verstehenden anderen Frauen wehrten sich dagegen, dass ihnen eine zu sagen versuchte, wie sie sich gottgefällig zu verhalten hätten. Najeha Abid gelang es schließlich zu schlichten: Jede hat ihre
4. Die Themen im Gruppengeschehen
Meinung, und es ist auch die Meinung erlaubt, dass man trotz Feiertag gerne kommen möchte. Der Konflikt um die richtige Interpretation der islamischen Lehre ist einer, der trotz diplomatischen Geschicks der Koordinatorin immer einmal wieder aufbricht. Im Anschluss entspinnt sich die Diskussion, ob es kulturell begründete Normen gibt, die besser zu hinterfragen wären: Fabienne P. erzählt, dass sie sich ärgere, wenn die Freunde ihres Mannes ihre Tassen nicht leer trinken und ihre Teller nicht leer essen. Sie gebe Gästen trotz Hartz IV, was sie könne, das sollten sie dann aber auch zu schätzen wissen. Die Freunde ihres Mannes verhalten sich respektlos, findet sie. Ihr Mann sagt, sie solle sie nicht darauf ansprechen, das sei unmöglich, aber Fabienne P. will sich nichts vorschreiben lassen. Fayrus L. versucht ihr zu erklären, dass man sich in der arabisch-islamischen Kultur so verhalte, um zu zeigen, dass man nicht darauf angewiesen sei, bei anderen zu essen. Rabab B. bestätigt, ja, das sei eine der schlechten Angewohnheiten in ihrer Kultur, z.B. wenn die Trauben gerade reif seien und noch entsprechend teuer, würde kein Gast von den Trauben essen, um nicht den Anschein zu erwecken, es hätte bei ihnen zu Hause noch keine gegeben. Absurd findet sie das, während Fayrus L. es verteidigt. Fabienne P. sind die kulturellen Hintergründe in diesem Fall einerlei, sie setzt ihre soziale Situation dagegen, die es ihr unerträglich macht, Lebensmittel wegzuwerfen.
G ESCHLECHTERVERHÄLTNISSE »Wie hältst du es mit der Religion« ist auch eine wichtige Referenz, wenn es darum geht, in der Gruppe zu diskutieren, was Frauen dürfen und was nicht. »In unserer Religion geht das nicht, dass wir zur Probe mit jemandem zusammenleben«, erläutert eine Frau, offensichtlich mit Bedauern, aber ohne Impuls, die religiöse Vorgabe infrage zu stellen. Fabienne P. vertritt die These, dass Religion (der Islam) und »Tradition« für die Ungerechtigkeiten bzw. Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis verantwortlich seien. Bei Konflikten mit ihrem Mann argumentiert sie folgerichtig damit, eben Deutsche zu sein und deshalb bestimmte Vorstellungen über Geschlechtergerechtigkeit zu haben, mit denen ihr Mann zurechtkommen müsse. Sie hat den Eindruck, dass muslimische Männer sich noch weniger für Haushalt und Kinder verantwortlich fühlen als deutsche
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Männer und denkt, dass deutsche Frauen im Vergleich mit eingewanderten Frauen emanzipierter sind. Die »ausländischen« Frauen scheinen ihr da im Prinzip zuzustimmen. Obwohl sie sich mit ihren Männern gut verstehen und mehr oder minder partnerschaftliche Beziehungen führen, wie sie immer betonen, fühlen sie sich doch irgendwie im Hintertreffen. Insbesondere fühlen sie sich zu wenig unterstützt, was die Haushaltsführung angeht. »Ich bin in der Familie Frau und draußen Mann«, sagt eine der Frauen und meint damit, dass sie fürs Geldverdienen zuständig ist, aber weiterhin auch alleinverantwortlich die Organisation des Haushalts managt. Das ist einerseits eine Belastung, aber andererseits – nicht zu ändern. Eine andere Frau erzählt, wie sie die Chance auf eine qualifizierte, feste Stelle nicht wahrnehmen konnte, weil ihr Mann mit dem Haushalt und den Kindern alleine nicht zurechtgekommen wäre. Das heißt, selbst wenn die Männer bereit wären, ihren Anteil zu übernehmen, ist fraglich, ob die Frauen ihnen die Sache auch wirklich überlassen könnten. Ebenso wie deutsche Frauen identifizieren sie sich mit ihrer Verantwortung für die Familie, die Alleinzuständigkeit gehört zum Selbstbild. Es würde sie verunsichern, »draußen Mann zu sein« und in der Familie auch, sprich sich bekochen zu lassen statt selbst zu kochen, nicht mehr für die häusliche Atmosphäre zuständig, nicht mehr die wichtigsten Ansprechpartner für die Kinder zu sein etc. Geschlecht wird entlang der nämlichen heteronormativen Vorgaben konstruiert, auch wenn sich die Frauen damit die schlechteren Karten einhandeln.3 Eine wesentliche Differenz bei der Thematisierung des Geschlechterverhältnisses ist die zwischen »Tradition« und »Moderne«. Der Fortschrittsgedanke steht unübersehbar Pate, wenn die Lebensführung in den Familien der Migrantinnen beurteilt wird. Es ist das »Deutsche«, das die Maßstäbe setzt, »die Anderen« sind die »Zurückgebliebenen«. Beliebte Verallgemeinerungen sind z.B.: Migrantinnen (oder auch: muslimische 3 | Mit der Entscheidung, dass das Gesundheitsprojekt ein Frauenprojekt sein sollte, haben wir gleichzeitig die Annahme bestätigt, dass das Gesundheits- und Ernährungsthema ein Frauenthema ist. Auch so wird Geschlecht konstruiert. Andererseits nutzen die Frauen selbst das Thema, um sich einen Frauen(frei)raum zu verschaffen. Für die Gesundheit – die eigene, aber auch die der anderen Familienmitglieder – zuständig zu sein, ist ohne Frage eine zusätzliche Belastung. Aber die Zuständigkeit für die Versorgung und die Fürsorge ist eben auch ein stabilisierender Faktor im Lebenszusammenhang bzw. wichtig fürs Selbstverständnis.
4. Die Themen im Gruppengeschehen
Frauen) lassen sich von ihren Familien zu sehr vereinnahmen, deutsche Frauen tun auch einmal etwas für sich. Migrantinnen kümmern sich zu viel um das, was andere sagen, deutsche Frauen sind da unabhängiger. Deutsche Frauen lassen sich weniger von ihren Männern gefallen etc. Malika Bouzid berichtet von einem Gespräch mit einer irakischen Frau, die gesagt hat, wenn sie noch einmal entscheiden könnte, würde sie einen deutschen Mann heiraten (in der Annahme, dass der ihr im Haushalt helfen würde). Als ich einwende, dass es laut diverser Studien mit der Beteiligung am Haushalt bei deutschen Männern auch nicht so weit her sei, insbesondere nicht, wenn es Kinder im Haushalt gibt, will sie mir nicht glauben, sie hält deutsche Männer doch für ansprechbarer. Meinen Hinweis auf einen in dieser Hinsicht ganz vorbildlichen Iraker, tut sie ab: Der sei eine Ausnahme. Es ist erstaunlich, wie selbstverständlich der bundesdeutsche Mehrheitsdiskurs die eigene Gesellschaft als geschlechterdemokratisch und die Gesellschaften vieler EinwanderInnen per se als patriarchal etikettiert und dabei »übersieht«, dass Frauen auch hierzulande vielfältig diskriminiert werden und Gewalt ausgesetzt sind, und es ist erstaunlich, dass diese Sichtweise von den Migrantinnen weitgehend geteilt wird. Allerdings muss man wohl zur Kenntnis nehmen, dass die direkte patriarchale Kontrolle durch konkrete Männer den davon betroffenen Frauen oftmals drückender erscheint als die sexistische Kontrolle durch ein allgemeines Prinzip, das aber dennoch größere persönliche Freiheiten erlaubt (vgl. zu dieser Problematik Bennholdt-Thomsen u.a. 1987). Es gibt in Deutschland mehr Möglichkeiten für Frauen, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten, davon ist auch Amina F. überzeugt. In ihrem Heimatland, meint sie, können Frauen z.B. nicht so einfach mit ihren Kindern alleine leben, wenn die Ehe misslingt, in Deutschland schon. Und dass sich die Verwandten einer Frau bei Konflikten in der Ehe einmischen können und das auch tun, hält sie nicht unbedingt für einen Vorteil. Das sei nicht ausgemacht, dass sie sich auf die Seite der Frau stellen und den Mann bei Fehlverhalten in seine Schranken weisen würden: Im Zweifel versuche auch der Bruder, die Frau zu dominieren, fürchtet sie.
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D EPRESSIONEN Als Fabienne P. erzählt, dass sie Probleme mit Depressionen hat, vor allem in der kalten Jahreszeit, horcht Zahra H. auf und will genaueres wissen. Fabienne P. erklärt, sie möge nicht aufstehen, alles fiele ihr schwer, sie verkrieche sich, sei trauriger Stimmung. Zahra H. sagt, das kenne sie auch. Die anderen Frauen nicken. Zahra H. hat gerade eine arbeitslose Zeit hinter sich, und das sei schwer, sagt sie, wenn man immer nur zuhause sei und es außerdem wirtschaftliche Probleme gäbe, die einen belasteten. Fabienne P. schildert, was sie gegen die Depressionen unternimmt: Sie versuche, viel rauszugehen, mit Leuten zu reden, Sonnenstrahlen einzufangen, zur Ruhe zu kommen, etwas für sich zu machen, z.B. heute zur Gruppe zu gehen, genug zu schlafen. Insgesamt, sagt sie, sei es mit den Depressionen besser, seit sie verheiratet sei und ein Kind habe. Dayana M. erzählt, dass sie einmal eine Phase hatte, in der sie oft allein auf ihrem Balkon gesessen und geweint habe. Mit Alleinsein und Sich-einsam-Fühlen4 habe das zu tun gehabt und auch mit finanziellen Problemen und vielleicht auch mit der Schilddrüse. Seit sie regelmäßig Hormontabletten nehme, gehe es ihr besser. Und seit sie eine Nachbarin zur Freundin hat, gehe es ihr auch besser. Zahra H. erzählt, dass ihre Depressionen besser wurden, als sie eine neue Arbeit fand. Arbeit sei gut gegen finanzielle Probleme, gut gegen Heimweh und deshalb gut für die Gesundheit, findet sie. Zahra H. hat ziemlich viel Heimweh. Obwohl sie seit 14 Jahren in Deutschland lebt, sehnt sie sich immer noch nach XX. Wenn sie zuhause ist, kann sie bei ihrer Mutter Kraft und Lebensmut tanken, das reicht dann für eine Weile. Wenn sie zu lange nicht zuhause war, geht ihre »Batterie leer«. Leider kann sie es sich nicht leisten, jedes Jahr ihre Herkunftsfamilie zu besuchen. Etwas für sich zu tun, halten die Frauen bei depressiver Verstimmung für hilfreich, aber für nicht so einfach. Migrantinnen seien es nicht gewohnt, etwas für sich zu tun, sind sie sich einig. Und alleine spazieren zu gehen, finden sie langweilig. Sprechen sei auch gut für die Gesundheit, fällt Zahra H. noch ein, aber das könne sie nicht gut, sie behalte viel zu viel für sich. Mit ihrem Mann kann sie Probleme nicht besprechen, weil 4 | Ihr Mann arbeitete immer in drei Schichten, weil man dann mehr Geld verdient, und sie hatte nachts oft Angst, wenn er nicht da war. Immer alleine zu sein, bekomme ihr nicht, ist ihre Diagnose.
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er sich immer sofort aufregt und dann nachts nicht schlafen kann. Also »bleibt alles in meinem Kopf«. Mit anderen Frauen kann sie auch kaum sprechen, weil sie üble Nachrede fürchtet. Enge soziale Beziehungen bedeuten eben mitunter auch soziale Kontrolle. Hana A. erzählt, dass sie sich schlapp und ausgelaugt fühle. In XX, sagt sie, hatte sie einen Beruf, Verwandte und Bekannte. Jetzt, wo auch das jüngste ihrer Kinder erwachsen oder fast erwachsen ist, fühle sie sich »kaputt« und denkt, dass es für sie keinen Anschluss mehr gibt. Außerdem macht sie sich Sorgen, dass ihre Kinder »Dummheiten« machen und ihr die Schuld dafür gegeben wird. Sie sagt, sie könne sich nur sehr schwer von ihren Kindern abgrenzen. Hana A. findet ihre ganze Lebenssituation verfahren, insbesondere leidet sie unter der Arbeitslosigkeit, nicht nur ihrer eigenen, auch die der anderen Familienmitglieder liegt ihr auf der Seele. »Ich bin alt geworden in Deutschland«, sagt sie. Im Moment nimmt sie an einem Weiterbildungskurs vom Arbeitsamt teil und merkt, wie schwer es ihr fällt, sich acht Stunden zu konzentrieren, sie bekommt Rückenschmerzen und Kopfschmerzen, sie denkt an die Arbeit, die zu Hause auf sie wartet, und findet es mühsam, acht Stunden still zu sitzen. Sie hat oft Herzrasen, von ihrem Stress bekommt sie Bluthochdruck. Die Ärzte sagen, ihre Beschwerden seien psychosomatisch und raten zu einer Therapie. Aber dazu, sagt sie, habe sie keine Zeit. Sie ist auch unsicher, ob den Ratschlägen der Ärzte zu trauen ist: Ihr Sohn bekam von einem Psychotherapeuten Tabletten gegen Schlaflosigkeit verschrieben. Sie haben auch geholfen, aber sie fühlte sich getäuscht, als sie dem Beipackzettel entnahm, dass sie abhängig machen. Hana A. ist genau in dem (mittleren und höheren) Alter, in dem es verstärkt zu »Bilanzierungskrisen« kommen kann: Die mit der Migration verbundenen Hoffnungen und Wünsche werden mit der Realität verglichen, das Ergebnis fällt oft deprimierend aus, muss deprimierend ausfallen, weil die deutsche Gesellschaft den MigrantInnen nur wenig Chancen eröffnet hat. In der Gruppe sitzen einige Frauen mit »richtig guten Ausbildungen«, wie es eine Teilnehmerin formuliert, aber sie konnten in Deutschland nicht in ihrem Beruf arbeiten. Meist sind sie mit dieser Situation sogar zurechtgekommen, insbesondere wenn sie vor Krieg oder politischer Verfolgung geflüchtet waren und die Lebenssituation in Deutschland vor diesem Hintergrund in jedem Fall besser schien. Sie haben den eigenen Statusverlust auch im Hinblick darauf
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akzeptiert, dass ihre Kinder bessere Chancen haben würden. Das ist nun oft genug aber gar nicht der Fall. Weil die Kinder der EinwanderInnen im deutschen Schulsystem regelmäßig und überproportional scheitern, gesellt sich zu der eigenen eher unbefriedigenden Situation noch das Scheitern der Kinder. Das macht die Situation dann endgültig bitter. Psychosomatische Krankheiten sind bei nichtdeutschen Frauen der mittleren Altersgruppe dreimal so häufig der Grund für eine Rehabilitationsmaßnahme wie bei deutschen Frauen. Das Risiko einer psychischen Erkrankung steigt zwar im mittleren Lebensalter generell an, aber bei ausländischen Frauen offenbar besonders stark (Robert KochInstitut [Hg.] 2008: 60f.). Schlaflosigkeit und Medikamente sind Stichworte, die aus Hana A.s Erzählungen aufgegriffen werden, Schlafschwierigkeiten kennen die anderen Frauen auch. Mehreren wurden deshalb schon Psychopharmaka oder Schlaftabletten verschrieben. Eine Frau sagt (ironisch), je mehr man sich in Deutschland integriere, desto mehr nähme man die Marotten der Deutschen an. Früher habe sie nie schlecht geschlafen. Dayana M. erzählt, sie habe einmal 50 Tropfen statt 15 vom Schlafmittel genommen, als 15 nicht so recht zu wirken schienen. Daraufhin sei sie dann wie eine Betrunkene durch den nächsten Tag getaumelt. Einmal war sie in einer Klinik, um die Verfolgungsängste loszuwerden, die sie entwickelt hatte, nachdem sie von einem Mann belästigt wurde. Der Aufenthalt dort habe ihr sehr gut getan. Auch Hend N. weiß von einer Tablettenabhängigkeit zu berichten, die sie in einer schwierigen Lebensphase entwickelte. Glück licherweise konnte sie sie überwinden. Zahra H. fällt die Geschichte einer Bekannten ein, die sich plötzlich auffällig zu benehmen begann. Der Mann der Bekannten wollte zunächst nicht zulassen, dass sie ins Krankenhaus kam. Erst als sie schließlich sogar mit Messern auf ihn losging, habe er einer Behandlung zugestimmt. Inzwischen sei diese Frau mit ihrer Familie wieder zurück in XX und man hört, es gehe ihr besser. Die Frauen tauschen verschiedene Theorien und Erklärungen aus: Sie hatte so schlimmes Heimweh und wollte nicht in Deutschland sein: »Sie konnte hier nicht leben«. Eine andere Erklärung lautet: Sie hatte einen Mann, der sie hier in Deutschland vollkommen kontrollierte. Die Krankheit war für sie ein Ausweg aus dieser unhaltbaren Situation. Es wird auch gemutmaßt, dass sie vielleicht auch überhaupt
4. Die Themen im Gruppengeschehen
nicht krank war, sondern nur eine gute Schauspielerin, die ihren Mann auf diese Weise gezwungen habe, mit ihr in die Heimat zurückzugehen. Eine der Frauen ist überzeugt, dass in eingewanderten Familien alle Beteiligten oft besser mit psychischen Krankheiten umgehen können als die in deutschen Familien. In deutschen Familien würden Verrückte eher ihrem Schicksal überlassen, meint sie beobachtet zu haben. In Migrantenfamilien gäbe es »mehr Wärme«. Sie erzählt von einer psychisch verwirrten Nachbarin, die, als sie sie im Landeskrankenhaus besuchte, mit Medikamenten vollgepumpt und offensichtlich nicht Herrin ihrer Sinne war. Hana A. bestätigt diesen Eindruck und erzählt eine Geschichte über deutsche Menschen, die niemanden haben, die sich um sie kümmern, so dass ihre ausländischen Nachbarn ihnen beispringen müssen. Die Gespräche mäandern, die Geschichten bzw. der Austausch darüber dient der Selbstvergewisserung bzw. der Diskussion über bestimmte kulturelle Praxen, sie geben den Frauen die Gelegenheit, ihre Gedanken zu formulieren, Meinungen auszutauschen, ihren Alltag, ihre Community, ihr Handeln und ihre Überzeugungen zu reflektieren, gegebenenfalls zu überprüfen. Um der Sache mit den Depressionen auf den Grund zu gehen, laden die Frauen später eine psychologische Mitarbeiterin des Göttinger Psychiatriezentrums Asklepios ein. Halat K. beschwert sich bei der Psychologin, Frau B., dass ihre Probleme von deutschen Ärzten oder überhaupt von deutschen Menschen nicht verstanden würden. Sie habe z.B. Probleme mit ihrer Schwiegermutter. Der deutsche Arzt (oder überhaupt die Deutschen) gäben ihr Tipps, mit denen sie nichts anfangen könne, à la, sie solle sich die Kritik der Schwiegermutter eben verbitten. Zahra H. bestätigt ihre Sicht, dass deutsche Freundinnen sich manchmal für ihre Kultur interessierten und sich dann aber entsetzt abwendeten, wenn sie ihnen etwas darüber erzähle. Sie könne aber ihre Kultur nicht komplett verwerfen, findet sie, auch wenn sie problematische Seiten habe. Als Beispiel für eine problematische Seite führt eine Frau die restriktiven Heiratsvorschriften aus: Zwar sei es grundsätzlich möglich, dass ihre Töchter auch deutsche Männer heiraten könnten, wenn sie denn Moslem würden, aber man mache sich damit gesellschaftlich unmöglich. Eigentlich gehe es doch nicht. Eine Frau, eine Irakerin, behauptet, es seien vor allem die Iraker, die so intolerant seien, bei anderen Migranten sei das nicht so eine Katastrophe. Das wiederum bestreitet eine andere Frau mit Verweis auf ihr »eigenes« Land und seine intolerante Haltung in diesen Fragen ener-
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gisch. Um diesen etwas skurrilen Wettstreit, wessen Kultur besonders rigide sei, ging es immer wieder einmal in der Gruppe. Frau B. meint, in westlichen Kulturen sei immer das Individuum wichtig, und in vielen nicht westlichen Kulturen gehe es aber um die Gemeinschaft. Eine Frau nimmt sofort vehement Partei für die westliche Sicht der Dinge, dass es um das Individuum und nur um das Individuum gehen sollte. Um die Familie sollte man sich nicht kümmern. Zahra H. findet das nicht, sie könne nicht ganz deutsch werden, sie wolle auch kurdisch sein. Frau B. und Najeha Abid pflichten ihr bei, dass es nicht bessere oder schlechtere Kulturen gäbe, sondern nur verschiedene Kulturen. Das ist die politisch korrekte Sicht der Dinge, Hend N. ist aber nicht gewillt, sich dieser Haltung anzuschließen. Manchmal prallen in der Gruppe die unterschiedlichen Lebenskonzepte und Lebenssituationen eben doch unversöhnlich aufeinander.
Z UR GESELLSCHAF TLICHEN W ERTSCHÄT ZUNG DER S UBSISTENZ Immer wieder kreisen Gespräche um den Verlust kultureller Praxen: Bestimmte Fähigkeiten und Traditionen im Bereich Ernährung und Gesundheit verschwinden im Zuge der Migration und/oder der Moderne. Man könnte auch sagen, die Nähe zur Subsistenz schwindet in der Immigration (vgl. Baier 2010). Selbstgetrocknete Früchte werden durch industriell hergestellte Süßigkeiten ersetzt, die Rezepturen bestimmter Heilmittel kennen nur noch die Großmütter etc. Diese Veränderungen waren nicht allen Frauen bewusst, und erst in der Gruppe fällt ihnen wieder ein, dass da etwas war, dass es vielleicht auch einen Verlust zu beklagen gibt. Wie man, vielmehr frau Subsistenztätigkeiten bewertet, ist damit ebenfalls eine – umstrittene – Frage: Grundsätzlich sind die eingewanderten Frauen oft noch näher an der Subsistenz – was sich in Bezug auf die Gesundheit durchaus als eine Ressource erweisen kann. Die Notwendigkeit, die Bedeutung und die Wertschätzung der Subsistenz sind weniger verdrängt, der gesellschaftliche Beitrag der Frauen zur Ökonomie des Haushalts vergleichsweise anerkannter als in anderen deutschen Familien. Die Frauen identifizieren sich mit den »weiblichen« Aufgaben des Sorgens und Versorgens. Für keine der Frauen war es je ein Thema, vielleicht kein Kind zu bekommen. Und den Hausfrauenpflichten nachzu-
4. Die Themen im Gruppengeschehen
kommen, ist ein Wert an sich bzw. eine Frage der Ehre. Nichtsdestotrotz leiden die Frauen darunter, nicht erwerbstätig sein zu können, und sie können sich der allgemeinen Geringschätzung der Hausarbeit letztlich eben doch nicht entziehen.5 In einer Gruppensitzung ergab sich eine interessante Diskussion über den Zusammenhang zwischen der Wertschätzung bestimmter Arbeiten und dem Selbstwertgefühl. Es ging um die Frage, ob die Versorgung eines Haushalts allein Lebenszufriedenheit vermitteln kann bzw. ob es von der eigenen Perspektive auf diese Arbeit abhängt, ob sie es kann oder nicht. Die Auffassungen waren kontrovers. Die Abhängigkeit vom Einkommen anderer, fanden einige, stehe klar dagegen, dass man als Hausfrau zufrieden sein könne. Und insbesondere wenn sich der Erfolg der Versorgungsarbeit nicht so recht einstelle, weil z.B. die Kinder nicht den erwünschten Erfolg in der Einwanderungsgesellschaft haben, sei es schwierig mit der Lebenszufriedenheit, argumentierte eine Frau. Die Diskussion beginnt damit, dass sich Frau B. an Frau A. wendet6: Was sie denn für Ziele in ihrem Leben gehabt habe, dass sie sich als so gescheitert betrachte? Sie habe gesunde Kinder, sie habe einen netten Mann, sie sei in den Interkulturellen Gärten aktiv. Das deute doch auf ein gelungenes Leben. Frau A. verweist auf ihre Erwerbsarbeitslosigkeit. Frau B. lässt das nicht gelten, die Erziehung von Kindern sei doch eine wichtige Lebensaufgabe. Frau A. meint, sie und ihr Mann hätten zu wenig erreicht in ihrem Leben, und auch ihre Kinder würden »nur kämpfen« hier in Deutschland. Frau B. erkundigt sich, ob ihre Situation heute besser wäre, wenn sie damals nicht ausgewandert wäre. Frau A. meint, wenn sie vergleiche, was z.B. die Kinder derjenigen Verwandten machten, die in XX geblieben seien, dann hätten sie trotz Krieg und schwierigem Alltag ihre Schulabschlüsse und würden im Ausland studieren, und ihre Kinder hätten nicht einmal auf Anhieb eine Ausbildungsstelle bekommen. Sie und ihr Mann, sie hätten einfach so wenig erreicht. Immerhin hätte sie einen netten Mann, insistiert Frau B. weiter. Ja, nett sei er schon, gesteht Frau 5 | Das wird in jeder Vorstellungsrunde deutlich, wenn die Frauen sich aufgefordert sehen zu sagen, welchen Beruf sie haben. Die »Nur-Hausfrauen« empfinden an dieser Stelle sichtlich ein Unbehagen, mehr noch als diejenigen, die sich mit einem gesellschaftlich wenig geschätztem Job »outen« müssen. 6 | Personen in diesem Abschnitt zusätzlich verfremdet.
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A. zu, aber letztlich würde er auch einfach nur auf dem Sofa sitzen. Das sei sie selbst schuld, meint Frau B., wenn sie das zulasse. Frau A. sagt, er würde sagen, er gehe nicht zu McDonald’s arbeiten, und er putze auch keine Toiletten, und wenn er das sage, sei sie still. Sie selbst fände eine solche Arbeit zwar okay, aber von ihrem Mann könne sie das eben nicht verlangen. Das kann Frau B. jetzt ihrerseits gut verstehen, sie findet auch, man kann nicht jede Arbeit machen, Arbeit, die der Würde schadet, müsse man ablehnen. Im Supermarkt Dosen einzuräumen, das würde ihr auch nicht einfallen. Manche Frauen in der Gruppe räumen Dosen ein, eine von ihnen empört sich: »Ich lehne so einen Lebensstil total ab. Ich will nicht um jedes Geld betteln. Egal, was für eine Arbeit, Hauptsache, man hat eigenes Geld«. Das finden Dayana M. und Zahra H. entschieden auch. Dayana M. erinnert sich mit sichtlichem Unbehagen daran, dass ihre Tochter sie für geizig hielt, als sie kein eigenes Geld hatte, das sie ihr geben konnte. Zahra H. erzählt, dass ihr jedes Staubsaugen Spaß mache, weil sie daran denke, dass sie den Staubsauger selber gekauft habe. Dayana M. sagt, Arbeit ist Arbeit, und dass sie auch schon Studentinnen getroffen habe, die putzen gehen, um sich ihr Studium zu finanzieren. Amina F. versucht zu vermitteln, es sei für Frau B. vielleicht etwas anderes, weil sie einen Akademiker zum Mann habe. Deshalb sei es für sie etwas anderes, Dosen einzuräumen. Najeha Abid findet, dass es niemandes Stolz verletzt, im Zweifelsfall auch schlecht bezahlte Arbeit zu tun. Zahra H. arbeitet im Moment für fünf Euro die Stunde im Supermarkt und findet es »besser als nichts«. Ohne Ausbildung und abgeschlossene Schulausbildung sei es eben schwer, besser bezahlte Jobs zu finden. Hier wird in verdichteter Form eine Diskussion nachvollzogen, die in der Neuen Frauenbewegung unter der Überschrift »Gleichheit oder Differenz« bzw. »Lohnarbeit oder Subsistenz« über Jahre erbittert geführt wurde: Ist ein Job, egal welcher, besser als gar kein Job? Ist Arbeit außerhalb der Familie mehr wert als Arbeit zuhause? Und es wird (wieder einmal) deutlich, dass der Streit unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht geklärt werden kann, hin wie her befinden sich Frauen in der Falle, solange sie für die Subsistenz zuständig sind, die Subsistenz aber keine gesellschaftliche Repräsentanz hat, und sie nur schlecht bezahlte wie unsichere Arbeit bekommen, und weder die Subsistenz- noch die Erwerbsarbeit eine eigenständige Existenzsicherung ermöglicht. Eigenes Geld zu haben, ist offenbar unter anderem deshalb wichtig, um es den Kindern geben zu können. Wenn ihre Kinder Geld brauchen,
4. Die Themen im Gruppengeschehen
kommen sie zu ihnen, sagen die Frauen. Ihr Mann könnte ihrer Tochter auch Geld geben. Wenn er es anbiete, lehne die Tochter mit den Worten: »Mutter hat mehr Geld« ab. Und die Mutter ist sichtlich stolz darauf. Die Frauen sind auch stolz auf ihre engere Beziehung zu ihren Kindern, sie schätzen die Gewissheit, dass der Haushalt ohne sie nicht laufen würde. Auch wenn sie dafür unter Umständen einen hohen Preis zahlen, wie Frau A.s Ausführungen, die ja Auslöser für die Diskussion waren, zeigen. Eine weitere Facette zum Umgang mit der Subsistenz wird besprochen, als Najeha Abid von der Tagung »Gesund und mittendrin« der FriedrichEbert-Stiftung (2009 in Berlin) berichtet. Sie erzählt, dass dort festgestellt wurde, dass türkische Kinder die gesünderen Kinder seien. Sie fragt in die Runde, ob die anderen das ebenso einschätzen würden. Die Frauen äußern Zustimmung. Sie vermuten, dass das so sei, weil in türkischen Familien jeden Tag gekocht werde. »Türkische Frauen kochen, deutsche Frauen gehen arbeiten«, heißt es. Fabienne P. erläutert, in Deutschland sei es bis vor einer Generation auch noch so gewesen, dass es mittags in jeder Familie Mittagessen gab, »aber«, sagt sie »dann kam die Emanzipation«, damit habe man sich keinen Gefallen getan: »Bei euch ist das eben heute noch Tradition«, lobt sie. Zahra H. führt noch einen weiteren Grund für die gute gesundheitliche Verfassung der Kinder an: Die meisten Türken seien »sehr sauber und ordentlich« und legten Wert auf ein gemütliches Heim. (D.h. sie hat denselben Eindruck wie die Kölner SoziologInnen in ihrer Studie über ein sogenanntes benachteiligtes Viertel.7) Dayana M. findet, das sei auch kein Wunder, wenn man 24 Stunden zuhause sitze, sei es leicht, den Haushalt in Ordnung zu halten. Sie beobachtet bei ihren türkischen Nachbarinnen, dass sie nur selten die Wohnung verlassen, während sie selber oft in die Stadt geht, Bekannte besucht, Besuch bekommt. Ob sie die Häuslichkeit ihrer Nachbarinnen als positiven oder negativen Aspekt in Bezug auf Gesundheit deutet, bleibt an dieser Stelle offen. Gelegentlich wurde in der Gruppe die Bedeutung von 7 | Die SoziologInnen haben in einer Studie in Köln Vingst-Höhenberg herausgefunden, dass türkische Familien besser als deutsche Familien mit Armut umgehen können, dass die Haushalte türkischer Familien mit geringem Einkommen wesentlich gepflegter als die vergleichbaren Haushalte deutscher Familien sind (Blasius, Jörg/Friedrichs, Jürgen/Klöckner, Jennifer 2008).
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Außenkontakten und Geselligkeit für das Wohlbefinden betont. Halat K. verweist auf den Unterschied zwischen türkischem und arabischem Essen, ersteres sei gesünder, leichter, bestehe aus viel Gemüse, bereitet mit Olivenöl, während das eigene Essen oft sehr fleischhaltig und schwer sei. Es wird deutlich, Fabienne P. spricht aus deutscher Perspektive über »das Essen der anderen« (das arabische Essen inklusive), während die als »die Anderen« titulierten Frauen, das türkische Essen als »das fremde Essen« betrachten. Die Aussage »das türkische Kind ist das gesündere Kind« beziehen sie ganz offensichtlich nicht auf sich bzw. ihre Kinder. Fabienne P. sagt, sie beobachte, dass Migrantinnen immer wahnsinnig viel schaffen, dass sie es schaffen, zu kochen, zu putzen, sich um ihre Kinder zu kümmern, Besuch zu haben und womöglich sogar noch arbeiten zu gehen, und sich aber wenig Zeit für sich nehmen. Fabienne P. betont, sie kritisiere das nicht, sie bewundere es eher, aber für sie selber sei es nichts, weil sie eben nicht über diese Tradition oder Kultur verfüge. Zahra H. stimmt zu, dass sie dieses »persönlich für sich« nicht so haben. Najeha Abid bemerkt in Bezug auf den Aufwand, den viele ums tägliche Kochen betreiben, das sei auch eine Form oder Möglichkeit, im Alltag mit der Heimat verbunden zu bleiben, bzw. es sei selber ein Stück Heimat. So gesehen wäre es also nicht »Tradition«, sondern längst hybrid. Wie der Diskussion zu entnehmen ist, haben die Frauen eine Meinung dazu, wie es um die Situation der Subsistenz in der deutschen Gesellschaft bestellt ist – nicht zum Besten –, und sie scheinen auch der Überzeugung zu sein, dass eine größere Nähe zur Subsistenz – hier: des Essens, des Wohnens, der Fürsorge – gewisse salutogenetische Vorteile mit sich bringt. Die Migrantinnen halten bewusst an bestimmten Gewohnheiten und kulturellen Traditionen fest, wertschätzen familiäre Solidarität und ihre Community, pflegen einen großzügigeren Umgang mit Zeit und widersetzen sich damit partiell der Ökonomisierung aller Lebensbereiche (z.B. hat immer Vorrang, wenn Verwandte kommen oder Feste gefeiert werden). Sprich, sie bewahren und pflegen in ihrem Alltag Logiken der Subsistenz, allerdings ohne dass dies die einzige soziale und wirtschaftliche Logik in ihrem Leben wäre. Sie verbinden vielmehr verschiedene symbolische und materielle Ordnungen miteinander. Insgesamt aber spielt die Ordnung der Subsistenz oft eine größere Rolle als in nichtmigrantischen Kontexten. Das, was sie an Deutschland beklagen (das »Kalte« und »Anstrengende«) ist letztlich ein Mangel an Subsistenzorientierung (ausführlich vgl. Baier 2010).
5. Die Projekte I NTERVIE WS IN G ÖT TINGEN -G RONE Nach den Gesprächsrunden zur persönlichen Gesundheitssituation und den Gesundheitsauffassungen wurde das weitere Vorgehen gemeinsam geplant. Welche Themen sollten bearbeitet, welche Institutionen und Projekte besucht, welche ExpertInnen eingeladen werden? Die Vorschläge waren zahlreich, die Frauen wollten sowohl die psychosomatische Klinik vor Ort aus der Nähe betrachten, die Arbeit der Arbeiterwohlfahrt (AWO)1 im Bereich Unterstützung von MigrantInnen bei Übersetzungsproblemen im Krankenhaus kennen lernen, endlich einmal erfahren, was es mit alternativen Heilmethoden auf sich hat, mehr über gesunde Ernährung lernen, eine Tagung über psychische Probleme unbegleiteter Flüchtlingskinder besuchen, zusammen in die Sauna gehen usw. Aus aktuellem Anlass führte die erste »Exkursion« 2 die Gruppe auf die GesundMesse3, die ihre Ideen, was man alles machen könnte, über was man sich alles informieren müsste, noch vervielfältigte; und im Laufe des Projektes kamen ständig neue hinzu.
1 | Einer der Verbände der freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. 2 | Projektintern wurden die verschiedenen selbstorganisierten Veranstaltungen mit ÄrztInnen, ProjektmitarbeiterInnen und sonstigen ExpertInnen sowie die Besuche von Institutionen und Projekten »Exkursionen« genannt: Ausflüge ins Gesundheitssystem eben. 3 | Die Gesund-Messe findet alle zwei Jahre in Göttingen statt. Aussteller sind Ärzte, Therapeuten, Apotheken, Sanitätshäuser, Krankenkassen, Krankenhäuser, Reha- und Pflegeeinrichtungen sowie weitere regionale Anbieter aus der Gesundheitsbranche. Zudem werden Fachvorträge und Mitmachaktionen angeboten, bei denen sich BesucherInnen informieren und beraten lassen können.
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Aber zuallererst entwickelten die Frauen einen Leitfaden für Interviews, die sie mit einigen GronerInnen führen wollten, um die Bedarfslage im Viertel im Bereich Gesundheit und Ernährung zu ermitteln. Auf der Grundlage dieser Daten sollte/wollte die Arbeitsgruppe anschließend verschiedene öffentliche Veranstaltungen für die Groner Bevölkerung im Nachbarschaftszentrum oder auch Ausflüge zu Institutionen und Projekten organisieren. Neben den Rahmendaten (wie Alter, Herkunft, Geschlecht, Dauer des Aufenthaltes in Deutschland) wollten die Frauen nach dem Umgang mit den Gesundheitsinstitutionen, dem Bewegungsverhalten (oder -wünschen), der sozialen Integration, den Ernährungsgewohnheiten sowie dem Einkaufsverhalten fragen. Schlussendlich erstellten sie einen fünfseitigen Fragenbogen, eigentlich viel zu lang. Aber der Diskussionsprozess darüber, was man wissen will, wie man fragen sollte, war die Sache wert.4 Bevor es losgehen sollte, interviewten sich die Frauen gegenseitig, um sich in die ungewohnte Rolle einzufinden. Im Januar und Februar 2009 wurden die Interviews dann im Stadtteil durchgeführt. Letztlich kamen 26 Interviews zustande, die Antworten auf den Fragebögen wurden von Najeha Abid zusammengefasst.5 Allerdings erwiesen sich die Antworten als schwierig zu interpretieren, sie blieben letztlich wenig aussagekräftig, obwohl sich die Gruppe so um die Präzisierung der Fragestellung bemüht hatte. Wenn man etwas über die Bedürfnislage einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in Sachen Gesundheit erfahren will, empfiehlt sich ein quantitatives Vorgehen eben nur sehr bedingt. Außerdem waren die Frauen bei der letztendlichen Durchführung der Interviews nicht so engagiert wie vorher bei der Erstellung des Fragebogens. Nichtsdestotrotz war es für sie nach eigenem Bekunden eine interessante Erfahrung, einmal in die Interviewerinnen-Rolle zu schlüpfen. Einige Frauen haben offensichtlich interessante Gespräche mit ihren Nachbarinnen und BesucherInnen geführt. Außerdem war die Erstellung des Fragebogens für sich genommen schon interessant und einträglich für die Gruppe, weil sie vielfache Erzähl- und Diskussionsanlässe bot. Im Anschluss erörterten die Frauen, welche Bedarfe sich in den Interviews als vordringlich darstellten, welche Veranstaltungen auf jeden Fall organisiert werden sollten. Sehr schnell kristallisierte sich heraus, dass 4 | Fragebogen siehe Anhang. 5 | Zusammenstellung der Ergebnisse siehe Anhang.
5. Die Projekte
man mit den ÄrztInnen im Viertel ins Gespräch kommen wollte. Die Vorstellung, sie als ExpertInnen zu befragen – und zwar nicht in der Rolle der Patientin, sondern als interessierte Bevölkerung gewissermaßen –, war für die Frauen offensichtlich sehr attraktiv. Im Projektverlauf wurden der Groner Hausarzt Dr. K. zwei Mal und eine Ärztin vom Mammografie-Screening-Zentrum Göttingen, Dr. S., eine Mitarbeiterin des Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie (Asklepios Fachklinikum Göttingen), Maria B., eingeladen, drei Mal organisierten die Frauen Treffen mit der Ärztin Barbara E. von pro familia. Eine Veranstaltung mit einer Groner Gynäkologin wurde anberaumt, kam aber nicht zustande.
Interviewvorbereitung, die Frauen testen ihren Fragebogen
Ein Gespräch mit Natalia P. (im Rahmen der Fragebogenaktion) Natalia P. lebt seit viereinhalb Jahren in Deutschland. Sie sei »Kontingentflüchtling«, sagt sie. Sie kommt aus Russland und hat jüdische Wurzeln, aufgrund dieser Herkunft konnten sie und ihre Familie aus- bzw. einreisen. Sie selber wollte schon jahrelang ausreisen, wegen ihrer Kinder, aber ihr Mann war immer dagegen. Er ist Arzt wie sie, und er wollte in seinem Beruf arbeiten. Er spricht keine andere Sprache neben Russisch, und er
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war gerne Arzt. Ihr selber sei ihr Beruf nicht so wichtig wie ihre Kinder, sagt Natalia P. Sie hat sich in Russland immer Sorgen gemacht, dass ihnen etwas zustoßen könnte, auf dem Weg zur Schule, auf den Straßen der Stadt, auch dass sie auf Abwege geraten könnten. Irgendwann hat ihr Mann dann eingewilligt, einen Ausreiseantrag zu stellen. Heute studiert ihr Sohn in Heidelberg und hat »eine nette Frau«, sie muss sich keine Sorgen mehr um ihn machen. Die Tochter ist in der 13. Klasse und macht jetzt bald Abitur. Wenn sie ebenfalls mit ihrem Studium beginnt und ihrerseits »einen netten Mann« gefunden hat, wird sich Natalia P. nach eigenem Bekunden »sehr erleichtert« fühlen. Dann will sie sich auch wieder mit ihrer eigenen beruflichen Situation befassen. Momentan arbeitet Natalia P. für den Mobilen Gesundheitsdienst bzw. bei der Beratungsstelle für erwachsene Zuwanderer, einer Einrichtung der AWO. Als Internistin kann sie in Göttingen nicht arbeiten, in Russland ist der Bereich arbeitsteiliger organisiert, hier müsste sie als Internistin Untersuchungen machen, mit denen sie sich nicht auskennt, d.h. sie müsste sich erst fortbilden. Sie plant, mittelfristig aus Göttingen wegzugehen, sich in einer ländlichen Gegend niederzulassen, wo sie als zweite oder dritte Ärztin in einer bestehenden Praxis tätig sein könnte (»für die Urlaubsvertretung«, sagt sie). Natalia P. meint, sie war in Russland viel öfter krank als in Deutschland, sie hatte lange einen nervösen Magen, weil sie in ständiger Anspannung, in ständiger psychischer Überlastung lebte. In Deutschland ist sie nicht mehr oft krank, sie denkt, sie hat eine gute Konstitution. Sie fühlte sich in Russland medizinisch besser versorgt, weil die behandelnden ÄrztInnen ihre FreundInnen waren, aber sie hält insgesamt auch viel vom Gesundheitssystem in Deutschland. Sie vertraut grundsätzlich der modernen Medizin, interessiert sich aber auch für alternative Heilmethoden und wendet diese auch an. Sie fährt nicht mit dem Fahrrad, macht täglich 10-15 Minuten Gymnastik, geht nicht ins Fitnessstudio, weil sie das »künstlich« findet, schwimmt aber einmal in der Woche. Sie schaut höchstens ein- bis zweimal in der Woche fern und keine Heimatsender. Sie hat Kontakt zu ihren deutschen Nachbarn, die mehrheitlich »gute, alte, nette Leute« sind, den meisten Kontakt hat sie aber zu Landsleuten. »Meine Seele«, sagt sie, »verlangt danach, russisch zu sprechen«. Sie geht selten ins Theater und nie ins Kino. Sie fährt öfter als einmal im Jahr in Urlaub und zwar vorzugsweise mit russischen Reiseunternehmern (die Busse werden von deutschen Busfahrern gefahren, aber die Reiseleiter sind immer russisch). Das sei sehr preisgünstig, sagt sie. Auf diese Weise
5. Die Projekte
hat sie schon halb Europa bereist (Italien, Bayern etc.): »Ich reise viel mit wenig Geld«. Außerdem fährt sie auf diese Weise auch ihre Familie besuchen. Ein- bis zweimal in der Woche kocht sie, sie verwendet nicht mehr viel Fisch, obwohl sie den gerne mag. Er ist in Deutschland zu teuer, findet sie. Das russische Geschäft in Grone, in dem alle GronerInnen Fisch kaufen, weil er da gut und billig ist, ist zu weit von ihrer Wohnung entfernt. Sie achtet vor allem auf den Preis. Klar, auch auf Qualität, aber Leitkriterium sei der Preis, betont sie. Bioprodukte kauft sie nicht, weil sie zu teuer sind, außerdem kennt sie eine Frau, die ihr gesagt hat, dass auf diesem Gebiet sehr viel betrogen wird. Bei McDonald’s kauft sie nie, die Mikrowelle benutzt sie nur zum Aufwärmen. Sie meint, im Prinzip könne man sich in Deutschland so ernähren, wie man möchte, weil es alles gäbe, aber manche Lebensmittel, wie eben z.B. Fisch, seien in Deutschland zu teuer. Natalia P. ist in einer vergleichsweise komfortablen sozialen Situation, sie hat zwar selber im Moment keine ihrer Ausbildung entsprechende Stelle, aber ihr Mann arbeitet als Arzt in einem Göttinger Krankenhaus, d.h. es gibt keine finanziellen Probleme. Außerdem war der Aufenthaltsstatus der Familie von Anfang an geklärt, das hat ihr den Start in Deutschland erleichtert. Ihre Kinder haben das hiesige Schul- und Ausbildungssystem erfolgreich durchlaufen, ihre Erwartungen haben sich also weitgehend erfüllt.
B ESTANDSAUFNAHME IN G ÖT TINGEN -G RONE . L ICHT UND S CHAT TEN Im Anschluss an die BewohnerInnenbefragung entstand die Idee, für Grone einen Wegweiser in Sachen Gesundheit und Ernährung zu erstellen. Als die Frauen entsprechend eine Bestandsaufnahme versuchten, listeten sie zunächst die Arztpraxen auf. Es gibt drei allgemeinmedizinische Praxen, zwei davon Gemeinschaftspraxen in Grone, nur eineR von den ÄrztInnen hat einen nicht deutsch klingenden Namen. Dann gibt es noch eine Frauenärztin und drei ZahnärztInnen (zwei mit Migrationshintergrund: Palästina und Polen), wobei sich eine im »Kaufpark« (also im nahegelegenen Einkaufszentrum, nicht im Viertel) befindet. Insgesamt keine große Ausbeute; dafür gibt es ein »Kinderwunschzentrum« an der Kasseler Straße. Inwieweit das vor Ort genutzt wird, ist nicht zu klären. Ausdrücklich vermisst werden eine KinderärztIn, eine HNO-ÄrztIn, eine AugenärztIn und ein Krankenhaus. Außerdem sind die Frauen nicht in jedem Fall mit
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den ansässigen ÄrztInnen zufrieden, manche wünschen sich »bessere« ÄrztInnen. Dann gibt es immerhin vier Apotheken im Stadtteil, eine Praxis für Krankengymnastik, eine Praxis für Psychotherapie, eine für Logopädie und eine ambulante Reha-Klinik. Als nächstes für die Gesundheit maßgebliches Moment zählten die Frauen die Sport- und Erholungsplätze auf: Z.B. gibt es eine Saline in der Nähe. Allerdings wird sie kaum von den BewohnerInnen Grones frequentiert. Keine der Frauen aus der Arbeitsgruppe ist je dort gewesen, sie blieb die ganze Zeit über ein Sehnsuchtsort. Immer wieder thematisierte eine der Frauen, dass man als Gruppe einmal hingehen sollte, letztlich scheiterte es am hohen Eintrittspreis.6 Auch die Sportplätze werden nicht von den Frauen genutzt, ebenso wenig sind sie Mitglied im örtlichen Sportverein,7 aber ins Fitnessstudio (McFit) gehen einige. Schlank zu sein ist auch den Migrantinnen ein Anliegen. Auch das Naturbad, den Elmpark, den Stadtpark und den Levinpark besuchen sie. Ausdrücklich als Erholungsstätten verbuchen sie außerdem die fünfzehn Spielplätze, das Kinderhaus, das Jugendhaus, den Fußballplatz, das NetCafé. An für die Gesundheit förderlichen Freizeitaktivitäten fallen ihnen das Sommerkino, das Straßenfest, der Kirmesumzug und der Weihnachtsmarkt ein. Als für gesunde Ernährung wichtige Geschäfte zählen sie den Mix Markt (von »Russlanddeutschen« geführtes Geschäft), den China Markt (Importgeschäft für Lebensmittel aus dem asiatischen Raum), Sinem (türkisch-kurdischer Supermarkt) und den Naturkostladen im Kaufpark auf. Ausdrücklich nicht dazu zählen sie den Lebensmittelsupermarkt am Nachbarschaftszentrum sowie Aldi oder Lidl im Kaufpark. Ersterer sei zu teuer, letzterer hätte oft schlechte Ware bzw. läge nicht im Viertel. Das Nachbarschaftszentrum wird ausdrücklich und ausführlich mit seinen Angeboten gewürdigt: der Sprachunterricht (Deutsch, Englisch, Arabisch), Gitarrenkurs, Musikschule für Kleinkinder, Karate für Jungs, Karate für Mädchen, Kreative Handarbeit, Malen ohne Grenzen, Trommeln für alle. Wichtig erscheinen ihnen außerdem: Frauen- und Männerfrühstück, Begegnung in der offenen Diele, Internationales Kochen, Austauschgrup6 | Eine Eintrittskarte für eine Stunde Solebad kostet 15,00 € (Zehnerkarte 135,00 €), eine Eintrittskarte für anderthalb Stunden Solebad plus Soledampfbad kostet 19,00 € (Zehnerkarte 172,00 €). 7 | Es wird in der einschlägigen Literatur regelmäßig beklagt, »dass muslimische Mädchen und Frauen von allen Frauen in der Bundesrepublik die höchste Sportabstinenz aufweisen.« (Brigitte Schmid 2003: 206)
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pe der Ehrenamtlichen, Sonntagsfrühstück für Mädchen, Internationale Tauschbücherei, Literaturzirkel und Eltern-Kind-Gruppe. Interessant ist, wie viele Begegnungs- und Austauschtreffen dabei sind. Auch wenn die Frauen die Angebote nur sehr partiell nutzen, ist es ihnen offenbar wichtig, dass es sie gibt. Mehrere Frauen nehmen regelmäßig am Frauenfrühstück teil, eine Frau geht mit ihrem Kind zur musikalischen Früherziehung. Manche Angebote, wie die Tauschbörse, werden auch von den Kindern wahrgenommen. Alle gehen immer wieder zu Informationsveranstaltungen. Extra erwähnt werden die Renten- und Schwerbehindertenberatung sowie die Migrationsberatung (von der AWO). Was in Grone fehlt, wurde oben schon erwähnt (ein Kinderarzt, ein Krankenhaus, ein HNO-Arzt, ein Augenarzt und »bessere« ÄrztInnen). Außerdem vermisst eine Frau einen Aldi-Markt in der Nähe; und KulturdolmetscherInnen sowie SozialarbeiterInnen mit Migrationshintergrund werden gewünscht. Unter krankmachenden Aspekten wird angeführt, dass sich manche BewohnerInnen in ihrer eigenen Umgebung nicht wohl bzw. sicher fühlen oder sich für ihr Viertel schämen. Bei der Beantwortung der Frage, welche Aspekte in Bezug auf die Gesundheit in Grone eine Rolle spielen, nahmen die Frauen zunächst ganz konkret die Gesundheitsversorgungseinrichtungen in den Blick. Welche ÄrztInnen gibt es in Grone, welche nicht? Welche Erfahrungen haben die Migrantinnen mit ihnen gemacht? Die Erfahrungen waren natürlich nicht einheitlich, der Austausch darüber war ein wichtiger Aspekt in der Diskussion. Vor allem eine Ärztin hatte bei den meisten der Gruppenfrauen einen eher schlechten Eindruck hinterlassen. Trotzdem war sie zu einem Treffen eingeladen worden. Als sie zum verabredeten Termin dann nicht erschien und sich entschuldigte, ihn sich falsch notiert zu haben, plädierte die Mehrheit der Gruppe dafür, kein weiteres Treffen zu vereinbaren. Sie empfanden ihr Nichterscheinen als Ausdruck mangelnder Wertschätzung, die sie sich nicht gefallen lassen wollten. Dass sie Patientinnen respektlos behandele, war ohnehin ein Kritikpunkt, den einige Frauen schon im Vorfeld vorgebracht hatten. Einzelne Frauen erinnerten recht unangenehme Begegnungen mit ihr. Eine Frau erzählte, sie sei mit einer akuten Erkrankung bei ihr gewesen, trotzdem hätte die Ärztin sich geweigert, sie zu untersuchen bzw. Geld dafür verlangt. Eine andere Frau meinte, Migrantinnen würden von ihr despektierlich auf ihre Kinderzahl ange-
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sprochen. Der Vorschlag, man sollte die Chance nutzen, mit der Ärztin zu reden, wurde als naiv verworfen. Sie hätten es schon einmal beim Frauenfrühstück erlebt, meinte die eine Fraktion der Frauen, dass die Ärztin sich auf keinen Dialog ein- und keine Kritik gelten lasse. Dem Einwand der Koordinatorin, dass es unhöflich sei, der Ärztin mitzuteilen, dass die Gruppe kein Interesse mehr an ihrem Vortrag habe, begegnete eine Frau mit der Bereitschaft, die Absage zu übernehmen. Es konnte also nicht mehr überprüft werden, ob sich die Ärztin tatsächlich diskriminierend verhält oder womöglich Kommunikationsprobleme vorliegen. Es kommt vor, dass »normale« zwischenmenschliche Konflikte auf der Folie »Deutsche sind in der Tendenz ausländerfeindlich« gelesen werden. Die Unterscheidung ist selbstredend nicht immer einfach und insbesondere für diejenigen nicht, die sich ständig und täglich mit Ressentiments konfrontiert sehen und sich eher am unteren Ende in der sozialen Schichtung befinden. Nach Auflistung und Betrachtung der Ärzte, der Apotheken, der Physiotherapeutischen Praxen etc. erweiterten die Frauen ihren Fokus: Was gibt es noch an Infrastruktur in Grone, die für Gesundheit relevant ist? Sie zählen den Grünzug und die Spielplätze dazu bzw. verbuchen sie unter den für die Gesundheit förderlichen Umweltbedingungen. Sie stellen einen Zusammenhang zwischen den in einem Stadtteil vorhandenen Einkaufsmöglichkeiten und Gesundheit her. Über manches wird auch länger diskutiert, ob es nun zu den gesundheitsförderlichen Bedingungen zu zählen ist oder in einen anderen Kontext gehört. Eine Frau meint, eine billige Einkaufsmöglichkeit gehört auch zur günstigen Ausstattung eines Viertels, die anderen weigern sich, einem Discounter das Signum »gut für Lebensqualität« zu verleihen. Auch wenn letztlich doch keine Broschüre aus der Bestandsaufnahme entstand – weil sich keine geeignete Form der Darstellung fand: es fand sich kein Stadtplan, in den sich das Gefundene hätte eintragen lassen, die Frauen waren unschlüssig, ob sie Namen und Adressen der Beteiligten auflisten sollten, sie fürchteten, sie könnten jemanden vergessen und Zorn auf sich ziehen etc. – haben die Frauen im Verlauf auf ihr Viertel reflektiert, sich ihre Lebensumstände dort bewusst gemacht, sich ein Stück ihrer Lebenswelt besser angeeignet.8 8 | Ein Fall »Kritischer Kartierung« gewissermaßen. »Kritische Kartierung« dient der »gemeinschaftliche(n) Betrachtung und Veränderung unserer Territorien des Alltags« (Handbuch Kollektives Kritisches Kartieren – www.orangotango.info).
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Wichtiger noch als die Institutionen im Gesundheitsbereich schienen den Frauen die sonstigen Bedingungen im Viertel, sie waren bevorzugter Gegenstand der Debatten: Wie lebt es sich mit Kriminalität in der Nachbarschaft, mit Jugendarbeitslosigkeit? Wie ist es, wenn man mit Menschen in ähnlichen Lebensumständen bzw. mit ähnlichen Vorlieben zusammenwohnt? Mit anderen Worten, sie haben sich aus einer ganzheitlichen Perspektive mit der Beschreibung des Stadtteils und der gesundheitlichen Lage vor Ort beschäftigt (vgl. Bär/Böhme/Reimann 2009:23ff).
Kritische Kartierung: Auflistung der für die Gesundheit relevanten Aspekte in Göttingen-Grone
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E RNÄHRUNG UND M IGR ATION Die Frage, wie man sich bzw. die Familie gut und gesund ernährt, nahm in der Arbeitsgruppe immer wieder breiten Raum ein. Es ist ein Thema, das die Frauen im Alltag begleitet und umtreibt. Angefangen von der Schwierigkeit, vertraute Lebensmittel in guter Qualität zu besorgen, über sich verändernde Vorlieben insbesondere der Kinder bis hin zu den Tücken in der deutschen Kennzeichnungspflicht, diskutierten die Frauen ihre Praxis. Sie machten sich gegenseitig auf versteckten Zuckergehalt in Lebensmitteln aufmerksam, entdeckten die Problematik der kennzeichnungspflichtigen Zusatzstoffe, diskutierten, wo man am besten Fleisch kauft etc. Sie luden eine Groner Apothekerin in die Gruppe ein, die ihnen die Grundlagen der Lebensmittelkunde erläutern sollte, diskutierten mit Dr. K. über gesunde und ungesunde Ernährungsgewohnheiten und besorgten sich die Broschüre der Verbraucherberatung über Lebensmittelzusatzstoffe (E-Nummern). Die Ernährungsgewohnheiten der Frauen haben sich in Deutschland verändert. Gleichzeitig unterscheiden sich ihr Kochen und Essen von den Gewohnheiten der deutsch-deutschen Bevölkerung, die in sich selbst natürlich heterogen ist. »Ja, früher«, sagt eine Frau, »früher habe ich alles selbstgemacht: Brot, Joghurt, Wurst, Käse. Heute backe ich nur noch selten Brot«. Heute mache sie noch alle Marmelade, süßes Gebäck und sauer eingelegtes Gemüse selbst, mehr schaffe sie nicht, die »deutsche« Zeitnot habe sie angesteckt. Ihre Freundin erzählt, dass sie kaum noch Cous Cous koche, weil ihre Kinder es nicht mögen. Cous Cous gibt es – verkehrte Welt – nur noch, wenn die deutschen FreundInnen der Kinder zu Besuch kommen und sich das Gericht wünschen. In den Einwandererfamilien konkurrieren, was das Essen angeht, die integrativen und segregativen Tendenzen miteinander. Fast alle Migrantinnen besitzen und nutzen eine Mikrowelle. Sie finden das angesichts unregelmäßiger und unstrukturierter Tagesabläufe der verschiedenen Familienmitglieder praktisch. Das Huhn wäre doch Matsche, sagt eine Frau, wenn ich es zehn Mal am Tag aufwärmen würde. Essen ist eine Lebens(stil)frage.9 In ihren Ernährungsgewohnheiten sind Menschen oft konservativ, von ihrer Sozialisation geprägt, auf be9 | Essen ist, nebenbei, nicht nur eine Lebensstil, sondern auch eine Kostenfrage: An einem Nachmittag beschäftigen sich die Frauen mit dem Buch »Arm, aber Bio«
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stimmte Speisen eingeschworen, sie mögen einfach nichts anderes. Nahrungsmittel sind mit der Identität verknüpft, sie können auch fern vom Herkunftsland Gruppenkohäsion und Heimatgefühl erzeugen. »Orte des Eigenen« – und ein Esstisch ist ein »Ort des Eigenen« – werden »gerade da besonders stilgetreu rekonstruiert und intensiv gepflegt, wo sich Menschen als Fremde unter Fremden erfahren« (Tanner 1997: 482). Der Hang zu hergebrachten Speisen, so Tanner weiter, verstärkt sich in der Fremde womöglich noch, die Mahlzeiten ermöglichen es, die verlorene Heimat vorübergehend wieder »herbeizuschmecken«. Der enge Bezug auf die Herkunftsküche kann dazu dienen, die eigene kulturelle Identität gegen Assimilations- und Integrationszumutungen zu verteidigen und sich mittels dieser Praxis im transkulturellen Dazwischen zu verorten. In diesem Sinne handelt es sich eher um eine kulturelle Rekonstruktion als um die Bewahrung von Tradition. Der Erhalt der Herkunftsküche gelingt ohnehin immer nur partiell und für eine gewisse Zeit. Unweigerlich schleichen sich neue Gewohnheiten in den Speiseplan, z.B. die Kinder sind Verursacher von Veränderung. Brigitte Schmid (2003) beschreibt, welche Lebensmittel großes Beharrungsvermögen aufweisen und welche Mixturen wie entstehen. Nicht nur die Speise als solche, sondern auch die Tätigkeit der Speisezubereitung bietet Identifikationsmöglichkeiten, insbesondere für Frauen. Das ist u.U. auch mit Anerkennung verbunden. Wobei zumindest die Anerkennung von deutscher Seite etwa im Rahmen von institutionalisierten »interkulturellen Begegnungen« als zwiespältig erlebt wird. »Ich habe keine Lust mehr dazu, auf Veranstaltungen vom Nachbarschaftszentrum etwas zum Buffet beizutragen, da ist mir zu wenig Gegenseitigkeit dabei«, sagt eine Frau. (von Rosa Wolff). Die Idee des Buches finden die Frauen schon wichtig, aber für ihre Situation taugt es nicht: Wenn sie so viel Zeit für das Thema Einkaufen verwenden würden wie die Autorin im Buch, dann würden sie es nicht schaffen, die Familie zu versorgen, urteilen die Frauen. Sich für wenig Geld mit biologisch angebauten Lebensmitteln zu versorgen, ist eben beinahe ein Halbtagsjob. Mit ihrer Kritik benennen sie sogleich die zentrale Schwachstelle des Buchs. »Arm, aber Bio« ist aus einer bestimmten Perspektive geschrieben. Die Autorin ist Single, ihr Buch ist für andere Singles tauglich, aber kaum für die, die sich mit den Vorlieben anderer, insbesondere mit Peer-bezogenen Kindern auseinander zu setzen haben. Layla Arafa sagt: »Viele Migranten haben große Familien und kochen jeden Tag nicht nur für die Familie, sondern auch für spontane Gäste wie Schwestern und Bekannte«.
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Manche Treffen fanden auch in den Privatwohnungen der Frauen statt. Dann wurde immer– wie hier auf dem Fußboden – üppig aufgetischt.
Doch nicht nur die transkulturellen Dynamiken und die damit verbundenen Identitätspolitiken und Selbstzuschreibungen hinterlassen ihre Spuren im Ernährungsstil der MigrantInnen, der ehemals enge Zusammenhang zwischen Agrarwirtschaft, Produktionsstruktur und Ernährungsweise ist weltweit in Auflösung begriffen, insbesondere mit den Global Playern wie McDonald’s & Monsanto schwinden lokale Esskulturen.
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In Deutschland herrscht längst ein kulinarisches Patchwork, zur Erlebnisgesellschaft gehört das Spezialitätenrestaurant, typisch deutsches Essen ist gar nicht so leicht zu bestimmen, die Migrantinnen hatten kaum eine Vorstellung davon. »Das Essen der Anderen« evoziert inzwischen eher Urlaubserinnerungen als xenophobe Reflexe. Auch die MigrantInnen bedienen sich solcher Patchworks. Cous Cous und Baklawa stehen für Regionalität, Coca Cola & Co. für Internationalität. Kurdisches Dorf gegen Weltmarkt. Die Projektfrauen favorisieren nicht automatisch das regionale Modell, sie schätzen auch die Konsummöglichkeiten des globalen Markts. MigrantInnen sind längst TransmigrantInnen. Najeha Abid z.B. hat ihr Repertoire auch um Rezepte erweitert, die sie bei Besuchen ihrer in Schweden lebenden Verwandten kennen gelernt hat. Sie bringt fürs gemeinsame Buffet gerne und zur Irritation der Erwartungen gerne auch einmal Lachstorte10 mit. Trotzdem bleibt die traditionelle Ernährung als ein wichtiger Teil des Patchworks für die Frauen weiterhin eine Quelle von Identität, Stolz und Selbstbehauptung. Die landestypischen Gerichte werden meist gerne vorgezeigt bzw. die Gäste damit bewirtet. Die Migrantinnen nehmen für sich in Anspruch, ihre Familien gesund und gut zu versorgen.11 Dass die mediterrane Küche von Ernährungsexperten positive Noten erhält, wissen sie und führen sie auch selbstbewusst ins Feld. Deutsche Essgewohnheiten halten sie für weniger gesund; in deutschen Familien werde weniger gekocht bzw. weniger mit frischen Zutaten gekocht. Tatsächlich ist vor allem in den westlichen Industrieländern das Ernährungsverhalten inzwischen zum gesundheitlichen Problem geworden. Die sozialen Strukturen der Ernährung (Familienmahlzeiten) und die soziale Funktion des Essens erodieren und an die Stelle fester und verbindlicher Strukturen tritt Beliebigkeit, gekennzeichnet durch häufiges Zwischendurch- und Außer-Haus-Essen sowie den hohen Verzehr von Fertiggerichten. Da die ungünstigen Ernährungsmuster zudem mit einem entsprechenden Bewegungsverhalten (inaktive und sitzende Lebensweise, hoher Medienkonsum) korrelieren, ist eine stete Zunahme ernährungsbedingter Krankheiten zu verzeichnen. Die Lebensmittelindustrie hat längst für eine stetige Entfremdung vom Kochen und Essen 10 | »Smorgos Torta« – geschichtetes Brot, belegt mit Lachs und Mayonnaise. 11 | Die Zuschreibung, dass es ihre (weil eine weibliche) Aufgabe ist, sich um die gesunde Ernährung zu bemühen, übernehmen sie, ohne zu opponieren.
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gesorgt, immer mehr Convenience-Produkte, Fast Food etc. bestimmen das Angebot. Die in den westlichen Ländern übliche Fremdversorgung hat auch im Bereich Ernährung zu Enteignung und Entfähigung geführt, bekanntermaßen können inzwischen immer weniger Menschen kochen. Viele Migrantinnen kauften ihre Lebensmittel in ihren Herkunftsländern auf lokalen Märkten, hierzulande kaufen sie sie, wie die meisten Menschen, im Supermarkt, und der Anteil der schon weiterverarbeiteten Lebensmittel, bei denen nicht mehr ohne Weiteres ersichtlich ist, welche Inhaltsstoffe in ihnen verborgen sind, wächst. Najeha Abid schildert, wie die Versorgung mit frischem, qualitativ hochwertigem Gemüse in Deutschland zunächst ein Problem für sie war (was es in ihrer Heimatstadt Bagdad nie gewesen war), und dass erst ihre Parzelle im Interkulturellen Garten hier Abhilfe schaffte. Die Frauen verständigen sich in ihren Communitys darüber, wo es günstige Lebensmittelangebote gibt, wo man Halal-zertifizierte Produkte12 kaufen kann und teilen einander mit, dass Gummibärchen Gelatine enthalten. Wie viele Farbstoffe, Konservierungsmittel etc. sich mitunter in den Lebensmitteln verstecken, wussten die Frauen der Arbeitsgruppe dagegen anfangs nicht genau. Eine Frau schlug vor, sich damit näher zu beschäftigen und brachte eine Broschüre der Verbraucherzentrale über Lebensmittelzusatzstoffe mit. Diesen Text lasen die Frauen dann gemeinsam; mit wachsendem Entsetzen, zumal sie nebenbei noch entdeckten, wie viele Produkte verstecktes Schweinefleisch enthalten. Die Beschäftigung mit den E-Nummern wurde zum Augenöffner hinsichtlich der problematischen, unter Umständen eben auch gesundheitsschädlichen, Aspekte einer industriellen Lebensmittelproduktion. »Die E-Nummern« wurde zu einem geflügelten Wort im Kurs. Im Anschluss an die Lektüre verbrachten die Frauen – offenbar vergnügliche – gemeinsame Stunden in den Supermärkten der Umgebung, um ihr neu erworbenes Wissen anzuwenden. Allerdings warnt eine von ihnen: »Man darf es auch nicht übertreiben, sonst wird es anstrengend«. Unter dem Strich verfügen die MigrantInnen in Sachen gesunde Ernährung wohl über einen kleinen Vorteil,13 der sich allerdings in der zweiten Generation »aufzubrauchen« scheint. Sie selbst kochen und essen 12 | Nach dem Koran erlaubte Lebensmittel 13 | In der Fragebogenuntersuchung geben 14 von den 26 Interviewten explizit an, keine Fertiggerichte zu verwenden.
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gesünder als die deutsch-deutsche Bevölkerung, aber auch ihre Kinder lieben Pommes und Pizza.
Zwischenbemerkung – Gesundheitsförderung als Regulierungsmacht Der Aufwand, der um gesunde Ernährung inzwischen veranstaltet wird, ist natürlich a) auch ein Geschäft und b) Biopolitik, Bevölkerungskontrolle. Es handelt sich (auch) um Normalisierungsversuche. Gesunde Ernährung wie überhaupt eine gesunde Lebensführung sind gewissermaßen inzwischen Pflicht. Gerne werden die gesellschaftlichen Kosten bemüht, die eine ungesunde Ernährungsweise bestimmter Bevölkerungsgruppen mit sich bringt.14 Statt die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern, dass sie glücklicher wären – und sich Essen aus Frust sparen könnten – wird den Betroffenen die alleinige Verantwortung für ihr »Übergewicht« zugewiesen. Es gibt gesamtgesellschaftlich einen wachsenden Zwang zur individuellen Regulierung des eigenen Verhaltens. Der Diskurs um gesunde Ernährung ist auf diese Weise eng mit gesellschaftlicher Macht verknüpft: »Gesunde Ernährung ist (dann) auch Pflicht und Zwang. [...] Normieren, Überwachen, Disziplinar- und Pastoralmacht – diese von Foucault umrissenen Machttechnologien machen deutlich, in welchem multiplen Zwangskorsett die Nahrungsaufnahme steckt.« (Klotter 2011: 135) 15
In der Gesundheitsförderungscharta steht: »The people have the right and the duty«. – Nicht nur die Regierung, auch der Bürger hat die Pflicht: Er muss sich um seine Gesundheit kümmern. Pflicht und Selbstbestimmung stehen scheinbar nicht im Widerspruch. Damit, so Klotter, verwischen 14 | Dem deutschen Gesundheitswesen, heißt es, entstehen jährlich 80 Milliarden Euro Kosten durch vermeidbare Zivilisationskrankheiten (Leitzmann 2012:68). 15 | Von der Diätmoral einer staatlichen Biomacht sei in der Tat wenig zu halten, meint auch der Gastrosoph Harald Lemke. Aber er spricht auch vom »AdipositasDispositiv«, »Übersättigung und Verfettung« sind nach seiner Lesart nur die »augenscheinlichste Ausprägung eines angepassten Konsumverhaltens« (Lemke 2012: 211).
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sich hier Wollen und Müssen: »Ein nicht nur geringer Hauch von Diktatur durchweht ein solches Modell der Gesundheitsförderung.« (Ebd.: 136) Immerhin scheinen sich die MigrantInnen ansatzweise ein anderes, ein eigensinnigeres Schönheitsideal bewahrt zu haben als das durch den Schlankheitswahn geprägte deutsche Leitbild: Wenn ein Drittel der elfjährigen Mädchen mindestens schon eine Diät hinter sich hat, entpuppt sich die Leitkultur als Leidkultur.
S CHIMMEL IN DER W OHNUNG Problematisch für ihre Gesundheit sind bestimmte Rahmenbedingungen, mit denen die BewohnerInnen in Grone konfrontiert sind (weil sie z.B. nur bestimmte Mieten bezahlen können). »Ich lebe nicht gesund«, sagt Dayana M. in einer Gruppensitzung, »ich habe Schimmel in der Wohnung«. Wie sich herausstellt, ist sie nicht die einzige, schnell ist klar: Hier besteht Informations- und Handlungsbedarf. Eine Frau überlegt, ob die Verbraucherberatung vielleicht helfen könnte. Die Gruppe beschließt, das in Erfahrung zu bringen und will sich dann möglichst bald bei Dayana M. mit der Expertin treffen, um das Problem gleich vor Ort anzugehen. Zwei Wochen später trifft sich die Gruppe mit Frau F., einer Mitarbeiterin der Verbraucherzentrale Göttingen und Expertin für Beratung bei Schimmelproblemen. Es scheint höchste Zeit, Dayana M. ist ziemlich verzweifelt. In den acht Jahren, die sie in ihrer Wohnung wohnt, hat sie sowohl ihr Schlafzimmer als auch eines der Zimmer ihrer Kinder immer wieder renovieren müssen. Sorgfältig hat sie Tapeten und zum Teil auch den Putz entfernt. Jedoch ohne nachhaltigen Erfolg. Sobald es Herbst wird, ist der Schimmel wieder da. Im Schlafzimmer zieht er sich von der Zimmerdecke in der Ecke über die ganze Fensterwand. »Ich werde noch verrückt«, sagt Dayana M. Inzwischen tragen sie jede Nacht die Matratzen ins Wohnzimmer. »Man spürt, wie ungesund das mit dem Schimmel ist«, sagt Dayana M., »ich kann da nicht mehr schlafen«. Von der Hausverwaltung fühlt sie sich im Stich gelassen, der Hausmeister kommt nur widerwillig vorbei und behauptet, es sei alles eine Frage des Lüftens, da könne man sonst nichts machen. Dabei lüftet sie so viel, dass die Nachbarinnen sie schon darauf ansprechen, wie lange bei ihr immer die Fenster offen stehen. Einmal bekommt sie die Empfehlung, den Teppich zu entfernen und Laminat zu verlegen. Ein schlechter Rat, wie die
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Expertin erläutert: Ein Bodenbelag aus Naturfasern und Möbel aus Holz können mehr Luftfeuchtigkeit binden als »abgeschlossene« Materialien wie Laminat, lackierte Oberflächen oder Teppiche aus Synthetics. Dayana M. wohnt wie die anderen betroffenen Migrantinnen in einem der vier- bis fünfgeschossigen Wohnblöcke von schlechter Bausubstanz, die in den 1960er, 70er Jahren in Göttingen-Grone entstanden sind. Grundsätzlich sei es gar nicht so einfach, räumt Frau F. ein, unter den gegebenen Bedingungen Schimmelbildung zu vermeiden. Am besten wäre es zweifellos, die Eigentümergesellschaft könnte sich entschließen, die Außenwände zu dämmen. Aber die Expertin meint auch, dass es trotzdem möglich sei, mit der schwierigen Ausgangslage umzugehen. Wenn die Außenwände nicht isoliert sind, die Fenster aber erneuert wurden und keinen Luftaustausch mehr zulassen, wie es in dem Wohnblock der Fall ist, müsse man unter Umständen vier bis fünf Mal am Tag kurz, d.h. drei bis fünf Minuten, das Fenster weit öffnen. Das Zimmer sollte nicht auskühlen, es gelte hier nicht die Devise je länger je besser. Am besten wäre, das Zimmer würde immer ein bisschen geheizt; warme Luft kann mehr Luftfeuchtigkeit binden, so dass sie sich nicht an den Wänden niederschlägt. In kühleren Zimmern sollte man die Türen geschlossen halten, um zu vermeiden, dass die wärmere Luft mit der höheren Luftfeuchtigkeit in das kältere Zimmer ströme. Am besten kaufe man sich einen Hygrometer (Frau F. schätzt, dass so ein Gerät für ein paar Euro zu haben ist, was sich allerdings als Irrtum herausstellt), der die Luftfeuchtigkeit im Zimmer misst, und lüfte kurz durch, wenn sie zu sehr ansteigt. Vorher müsse man den Schimmel allerdings sehr sorgfältig (z.B. mit einer Essig- oder Alkohollösung) entfernen, gegebenenfalls müsse man sogar Putz abschlagen, und der neue Putz sollte keinen Gips, sondern Kalk enthalten. Die Expertin empfiehlt außerdem, Vorhänge nur sparsam zu verwenden, weil zwischen Wand und Vorhang sonst oft eine Kältebrücke entstehe, die die Schimmelbildung begünstige. Außerdem machten Vorhänge das Lüften unbequem. Sogleich lautet ein Kommentar der Zuhörerinnen: Soll man sich denn den ganzen Tag mit Lüften befassen? Und die Frauen möchten auch nur ungern auf ihre Vorhänge oder die dekorativen Gegenstände auf den Fensterbänken verzichten. Aber die Expertin bleibt hart: Anders gehe es nicht, sonst bleibe einer nur, mit dem Schimmel zu leben oder sich nach einer neuen Wohnung umzusehen. Oder sich zusammenzutun und Druck auf die Eigentümergesellschaft auszuüben, dass sie geeignete Maßnahmen ergreift.
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Dayana M. ist nach diesem Nachmittag nicht wirklich zufrieden, sie traut den Ausführungen und Tipps der Verbraucherberaterin nicht oder empfindet sie als Zumutung: Sechs mal Lüften am Tag ist zu viel. Sie fühlt sich nicht wirklich ernst genommen, obwohl die Expertin mehrfach betont, dass die Ausgangslage in der Tat nicht einfach ist. Dayana M. zählt auf, was sie schon alles unternommen und was alles schon nichts genützt hat und ist nur wenig motiviert, der Sache noch eine Chance zu geben. Sie findet, es sei Angelegenheit des Vermieters, also der Baugesellschaft, hier für Abhilfe zu sorgen. Aber die rechtliche Situation ist nicht klar. Auf Anhieb sieht die Wand in Dayana M.s Wohnung beunruhigend aus, und ihr Bericht erweckt den Eindruck, dass die Baugesellschaft ihre Sorgfaltspflicht vermissen lässt. Aber die Gerichte urteilen sehr unterschiedlich, was zumutbar ist und was nicht. Frau F. rät von einer gerichtlichen Auseinandersetzung ab. Die Begegnung mit der Verbraucherberaterin ist ein gutes Beispiel, wie Gesundheitsempfehlungen auf kulturelle und soziale Barrieren und Rezeptionssperren stoßen können. Wenn die Fachfrau vorschlägt, die Vorhänge abzuhängen und die Fensterbänke leer zu räumen, geht das ganz gegen die Vorstellungen von Wohnlichkeit der Migrantinnen. Sie bewegt sich auf der Ebene technischer Problemberatung, die Migrantinnen haben aber das Gefühl, sie werden schlecht behandelt (dass ihnen zugemutet wird, in Häusern mit schlechter Bausubstanz zu leben, die ein Vielfaches an Bemühung und Aufmerksamkeit erfordern als vergleichbare Wohnungen in besseren Wohnlagen). Also kommt es unweigerlich zu Missverständnissen, bzw. die Expertentipps kommen nicht so recht an. Die Migrantinnen wollen ihre Lebenssituation darlegen, die Verbraucherberaterin thematisiert dagegen den Umgang mit Luftfeuchtigkeit. Trotzdem beschließt die Gruppe im Anschluss an diesen Nachmittag, die Schimmelberatung in einem öffentlichen Rahmen zu wiederholen. Frau F. soll einen Vortrag im Nachbarschaftszentrum halten. Es werden Einladungen für die Veranstaltung geschrieben, im Zentrum aufgehängt und in der Nachbarschaft verteilt. Am anberaumten Nachmittag erscheinen außer den Frauen der Arbeitsgruppe zehn weitere Interessierte zur Veranstaltung. Frau F. hält einen Power-Point-Vortrag, ihre Folien veranschaulichen die Korrelation von Temperatur und Luftfeuchtigkeit und zeigen verschiedene Lüftungsmethoden. Schließlich erläutert sie Maßnahmen, die Eigentümer an ihren Ein- oder Zweifamilienhäusern unternehmen könnten. Mit anderen Worten, sie spricht etwas an der Klientel,
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die vor ihr sitzt, vorbei. Zum Schluss bleibt nur noch wenig Zeit für Fragen. Najeha Abid übersetzt am Rande für diejenigen der Gäste, die nicht genug Deutsch sprechen. Die Arbeitsgruppe ist mit dem Nachmittag dennoch zufrieden: Manche Folien seien etwas abstrakt gewesen, aber zum Schluss hätten sie doch noch konkrete Probleme schildern können und Antworten bekommen, finden sie. Die Begegnung mit der Beraterin führte nicht unmittelbar dazu, dass sich das Schimmelproblem löste. Vielmehr begleitete diese Thematik die Gruppe noch eine ganze Weile. Wichtiger noch als direkte Abhilfe war aber ohnehin, dass sie ihre Sicht der Dinge darstellen konnten und dass sie Gehör fanden; und trotz der anfänglichen Widerstände haben einige Frauen mit den Tipps der Expertin experimentiert und Erfolge erzielt. Dayana M. erreichte schließlich durch hartnäckige Beschwerde bei der Wohnungsbaugesellschaft die Kostenübernahme der Schimmelsanierung. Alles in allem konnte die Auseinandersetzung mit der Problematik schließlich als Erfolg verbucht werden.
E IN H AUSARZ T WIRD EINGEL ADEN … Oft gestaltet sich für MigrantInnen die konkrete Situation beim Arzt kompliziert, die Kommunikation missglückt, die Patientin ist hinterher verwirrt und unsicher. In einer Gruppensitzung erzählt Dayana M. von Unterleibsschmerzen, die sie morgens hatte. Sie war damit zuerst beim Hausarzt, der vermutete, es könnte etwas mit den Nieren sein. Er hätte dann aber mit dem Ultraschallgerät ihre Nieren nicht finden können, sagt Dayana M., so dass er vermutete, sie hätte womöglich nur eine Niere. Er schickte sie dann weiter zur Frauenärztin, die eine Entzündung diagnostizierte und Antibiotika verschrieb. Außerdem entdeckte sie einige Myome und gab Dayana M. einen neuen Termin für eine Kontrolluntersuchung. Aber was mit der Niere war, klärte sich nicht. Als Krankenschwester findet Fabienne P. es seltsam, dass der Arzt die Nieren nicht finden konnte und dass er dann gesagt haben soll, dass Dayana M. vermutlich nur eine Niere habe. Es herrscht Ratlosigkeit in der Gruppe. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es hier wohl irgendwie ein Verständigungsproblem gab. Es kristallisiert sich heraus: Die Frauen sind es offenbar gewohnt, und sie nehmen es hin, dass die ÄrztInnen nicht sicherstellen, dass ihre PatientInnen die gestellten Diagnosen auch verstehen, so dass
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sie sich nicht unnötig ängstigen müssen. Dieses generelle Dilemma im deutschen Gesundheitssystem erweist sich im Falle von MigrantInnen als besonders fatal. Wegen des Vorfalls am Morgen fällt Dayana M. jetzt auch wieder ein, dass, als sie gerade in Deutschland war, ihr Blinddarm operiert wurde, und zwar nach einer anfänglichen Fehldiagnose, die sie beinahe das Leben gekostet hätte. Damals sprach sie noch kaum Deutsch, lag alleine im Krankenhaus und wusste nicht, wie ihr geschah, ein offensichtlich traumatisches Erlebnis. Solche und ähnliche Erfahrungen bilden den Hintergrund für den Wunsch der Frauen, einmal ein anderes Setting zu versuchen, den Arzt zu sich in die Gruppe einzuladen, eine öffentliche Situation herzustellen, statt in seiner Praxis vorstellig zu werden. Dieses Format gefiel den Frauen dann offenbar so gut, dass sie es mehrfach wiederholten, Herr Dr. K. kam zwei Mal ins Nachbarschaftszentrum, Frau Dr. S. vom Mammografie-Screening-Zentrum wurde eingeladen, und in die Ärztin von pro familia haben sich die Frauen regelrecht verliebt, drei Mal haben sie diese Beratungsstelle aufgesucht.
Ärztin im Nachbarschaftszentrum
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Veranstaltungsvorbereitung mit Hindernissen. Nicht endlos Zeit und viele andere Sorgen Auf der Tagesordnung der Sitzung steht die Vorbereitung für die Veranstaltung mit dem Groner Hausarzt Dr. K. Für den nächsten Montag hat die Gruppe ihn in das Nachbarschaftszentrum eingeladen, um den Groner BürgerInnen Fragen zur Gesundheitsversorgung in Grone zu beantworten bzw. mit ihnen zu diskutieren. »Welche Fragen wollen wir dem Arzt stellen und was muss für die Veranstaltung noch vorbereitet werden«, fragt Najeha Abid. Zunächst stellt sich heraus, dass plötzlich fast keine der Frauen zu dem Termin Zeit hat. Fatma S. fliegt zwei Tage vorher nach XX, Fayrus L. hat einen Zahnarzttermin, Hend N. sagt, sie schafft es nicht, weil sie in die Uni muss, Zahra H. muss arbeiten, Dayana M. eine Hochzeit vorbereiten, sprich es können nur Fabienne P., Hana A. und Halat K. Das gehe nicht, findet Hana A., das sei peinlich: »Vielleicht kommt auch sonst kaum jemand, und wenn von uns dann nur drei Frauen erscheinen, kann man das nicht machen«. Fatma S. schlägt vor, die Veranstaltung zu verschieben, sie würde nämlich gerne dabei sein. Aber auch nach den Sommerferien bleibt nur ein schmales Zeitfenster, bis Ramadan anfängt und dann auch wieder keine Zeit erübrigen kann. Najeha Abid findet es zudem unangenehm, dem Arzt abzusagen bzw. die Veranstaltung auf einen anderen Termin zu verschieben. Schließlich erklären sich Hend N. und Dayana M. doch bereit zu kommen, dann wären die Frauen mit Najeha Abid zu siebt oder, wenn Amina F. bis dahin wieder gesund ist, zu acht. Also werden jetzt doch Fragen gesammelt, die dem Arzt gestellt werden sollen. Hana A. will wissen, was man gegen Allergien unternehmen kann, Fatma S., was ihre Rückenschmerzen zu bedeuten haben, Zahra H., was man tun kann, wenn Kinder nicht essen wollen. Eine Frau erkundigt sich, ob sie den Arzt auch nach Blasenentzündungen fragen kann. Außerdem sind sie neugierig, ob der Arzt denkt, dass es Krankheiten gibt, die für MigrantInnen typisch sind?
Arztbesuch im Nachbarschaftszentrum Um kurz vor vier Uhr füllt sich langsam der Raum im Nachbarschaftszentrum, schließlich sind ca. 30 GronerInnen anwesend, einige, die überhaupt kein Deutsch sprechen oder jedenfalls nicht genug, um den Vortrag zu verstehen. Najeha Abid übersetzt ins Arabische, Persische, Kurdische.
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Der Arzt hat die Einladung gerne angenommen, er sagt, er freue sich, auf diese Weise einmal anders mit seinen PatientInnen in Kontakt zu kommen. Wunschgemäß spricht er über Rückenschmerzen, Allergien und ob es für Migranten typische Krankheiten gibt. Er spricht langsam, betont und hat Anschauungsmaterial mitgebracht. Er versucht, seine wesentliche Botschaft zu vermitteln, dass Rückenprobleme nicht nur vom Knochengerüst, sondern öfter noch von fehlenden Muskeln rühren. Rückenschmerzen seien zudem etwas ganz normales, alle Menschen bekämen früher oder später in ihrem Leben Rückenschmerzen, einfach aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen, der aufrechte Gang bringe das unweigerlich mit sich. Früher sei es herrschende Lehre gewesen, Leute mit Rückenschmerzen krankzuschreiben, inzwischen sei klar, Schonung bringe gar nichts, es sei besser, den Betroffenen Schmerzmittel zu verschreiben und sie weiter zur Arbeit zu schicken, weil Bewegung am besten helfe. Jeder Sport, jede Bewegung helfe, antwortet er auf die Frage, welche Sportart besonders zu empfehlen sei. Die Migrantinnen, die meisten sind Frauen, nutzen die Gelegenheit, ihr eigenes Gesundheitsproblem zu beschreiben und Rat zu hören. Es gibt viele spezielle Fragen: Was es bedeutet, wenn erst die Hand, der Arm und dann das Bein einschlafen? Was es bedeutet, wenn man plötzlich Schmerzen in der Hand hat? Wie kommt es zu hartnäckigen Nackenschmerzen? Die Liste ist lang. Dr. K. müht sich redlich, die Fragen zu beantworten, auch wenn er betont, mit Fern- oder Schnelldiagnosen sei es schwierig, jeder Fall sei individuell und müsse im Einzelnen angeschaut werden. Erst als ihm eine Frau die Krankenakten ihres wahrscheinlich rheumakranken, im Irak lebenden Bruders zeigen will, damit er etwas dazu sage, wehrt er ab bzw. schlägt vor, der Bruder könnte zu ihm in die Praxis kommen oder besser noch einen Termin bei einem Rheumatologen vereinbaren. Er versucht, immer wieder auf das Thema Rückenschmerzen zurückzukommen. Sein generelles Plädoyer lautet: Gehen Sie zum Arzt, reden Sie mit uns, werden Sie zur/m MitarbeiterIn im Gesundungsprozess, hoffen Sie nicht auf Wunder, tun Sie etwas für sich und fassen Sie sich in Geduld. Speziell empfiehlt er noch Entspannungstechnik nach der Jacobson’schen Methode. Sie sei schlicht, wirksam und gut in den Alltag einzubauen. In der Volkshochschule würden gute Kurse angeboten, sagt der Arzt. Aber die kosten Geld, sagt das Publikum. Schließlich bietet er an, gleich einmal eine Rückenübung anzuleiten, dass die Frauen es ausprobieren könnten: Frei sitzen, nicht anlehnen, Schultern
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hoch- und nach hinten ziehen, einige Sekunden halten, dann loslassen und spüren, wie gut das Gefühl ist, wenn man die Schultern entspannt hängen lässt und nicht immer angespannt hochhält. Die Zeit ist wegen der ganzen speziellen Fragen weit fortgeschritten, bevor er zum zweiten Thema des Nachmittags kommt. Es gäbe vermutlich verschiedene Gründe für die zunehmende Verbreitung von Allergien, meint er: fehlender Kontakt mit Tieren, hohe Belastung mit Chemikalien, zu viel Antibiotika. Wichtig sei, zunächst herauszufinden, wogegen die einzelne Person allergisch sei. Eine Frage aus dem Publikum, ob Allergien auch ernährungsbedingt seien, bejaht er grundsätzlich: Biologisch produzierte Lebensmittel seien besser. Ansonsten rät er, insbesondere gerade bei Asthma, zu cortisonhaltigen Sprays, die heute genau und niedrig dosiert und daher unbedenklich seien und auf jeden Fall besser, als Hustenkrämpfe und schlaflose Nächte in Kauf zu nehmen. Er empfiehlt, abends das Fenster zu schließen oder gegen Pollen schützende Fensternetze einzuhängen, zu duschen, bevor man ins Bett geht, auch die Haare zu waschen, um die Belastung zu reduzieren. Zusätzlich empfiehlt er die Desensibilisierungsmethode, aber für diese Methode brauche man immerhin drei Jahre Geduld. Er scheint nicht zu erwarten, dass die Migrantinnen oder dass überhaupt PatientInnen diesen Langmut aufbringen. Problematisch im Hinblick auf Milcheiweißallergie sei, dass viele Lebensmittel Milcheiweiß enthielten, z.B. Würstchen aus der Dose bestünden weniger aus Schweinefleisch als aus Milcheiweiß. Dosenwürstchen essen die MigrantInnen allerdings ohnehin nicht. Abschließend wiederholt er seinen Appell: Gehen Sie zum Hausarzt, reden Sie mit uns, bringen Sie sich, falls notwendig, gerne jemanden zum Übersetzen mit. Bei der Erörterung der Frage »Gibt es für Migranten typische Krankheiten?«, kommt er zunächst auf die Ernährung zu sprechen. Grundsätzlich, sagt er, sei die für die Mittelmeerländer typische Ernährung gesund, manche Bestandteile seien aber auch nicht zu empfehlen, wie z.B. Trockenobst. Das führe schnell zu Übergewicht. Überhaupt sollte man Obst nicht abends, sondern tagsüber essen, abends lieber Gemüse. Viel Brot sei eine deutsche Unart, die Migranten nicht übernehmen sollten. Er empfiehlt Obst und Gemüse im Verhältnis 1:3, insgesamt fünf Hände voll über den Tag verteilt. Viele Migranten, beobachtet er, gehen im Einwanderungsland, auch aus finanziellen Gründen, von ihren hergebrachten Ernährungsgewohnheiten ab. Sie gehen z.B. dazu über, mehr Fleisch zu essen, was ungesund sei, Fleisch mit hohem Fettanteil, das zu Übergewicht
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führe. Er fordert dazu auf, sich an die preisgünstigen Gemüseangebote in den Supermärkten zu halten. Grundsätzlich appelliert er an die Selbstverantwortung der PatientInnen. Er beobachte, dass gerade MigrantInnen Ärzte für allmächtig hielten bzw. die Fähigkeiten der Ärzte bei weitem überschätzten und mit der Erwartung kämen, Ärzte könnten mit einer Spritze, möglichst noch mit einer einmaligen, Rückenschmerzen heilen. Dass man Geduld haben und seine Lebensgewohnheiten verändern müsse, um Beschwerden zu heilen, sei vielen nicht bewusst. MigrantInnen setzten verordnete Medikamente auch eigenmächtig ab bzw. besorgten sich keine neuen Rezepte, weil sie dächten, es reiche, drei Wochen lang Tabletten zu nehmen. Dass manche Krankheiten dauerhafte Medikamentierung erfordern, sei ihnen schwer zu vermitteln. Grundsätzlich führt er das weniger auf die Kultur der EinwanderInnen zurück als vielmehr auf ihre sozioökonomische Situation. Teilweise, vermutet er, spiele vielleicht auch noch ein für manche Herkunftsländer typisches Bild von Ärzten als Halbgötter eine Rolle. Insgesamt empfindet der Arzt die Situation der Gesundheitsversorgung in Grone als »gar nicht so schlecht«, die Angebote würden nur nicht angenommen, insbesondere die Vorsorgeuntersuchungen und die Impfangebote nicht. Dass es keinen Kinderarzt gebe, sei natürlich ein Problem. Er beobachtet keine für Migranten typische Krankheiten, typisch sei, dass Migranten insgesamt mehr Krankheiten hätten, sie hätten mehr Zucker-, mehr Herz-, mehr Kreislaufprobleme, Migranten rauchten mehr und bewegten sich meist weniger, hätten öfter Gewichtsprobleme. Das wenigste davon sei kulturell bedingt, vielleicht der Genuss der Wasserpfeife, insbesondere bei den Libanesen beliebt, oder ein anderes Schönheitsideal, das weniger sensibel auf Übergewicht reagiere. Besondere Sorge bereite ihm der Gesundheitsstatus junger Männer, bei denen verschiedene Problemlagen kumulierten. Sie würden in den Familien verwöhnt, ohne gefordert zu werden, sie besuchten die Hauptschule und bekämen danach keine Lehre, »aber Rauchen und Trinken geht trotzdem«, sie führten einen ungesunden Lebenswandel. Dr. K. findet, die Familien täten ihren Söhnen keinen Gefallen damit, wenn sie deren ungesunden Lebenswandel tolerierten oder sogar noch unterstützten. Obwohl es allgemein in benachteiligten Schichten ein Problem ist, dass männliche Jugendliche weniger bildungsorientiert und noch chancenloser sind als ihre Schwestern, macht Dr. K. das – im Vergleich zum deutschen – bei den Migranten noch ungebrochenere Patriarchat dafür verantwortlich. Die Töchter orientierten sich an ihren fleißigen
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Müttern, die Söhne übernähmen keine Verantwortung. Auch Drogensucht sei ein akutes Problem, das eher die männlichen Jugendlichen betreffe. Am Schluss der Veranstaltung bedankt sich Najeha Abid für die Bereitschaft des Arztes, den BewohnerInnen von Grone Rede und Antwort zu stehen, und überreicht: Honig aus den Internationalen Gärten, selbstgemachten Essig mit Kräutern aus den Internationalen Gärten, Kräutertee aus den Internationalen Gärten und selbstgebackenes Gebäck mit wenig Zucker. Der Arzt bedankt sich für die – (partiell) gesunden – Geschenke und die Einladung und bekräftigt seine Bereitschaft zur weiteren Zusammenarbeit. Es ist schwer zu beurteilen, ob die MigrantInnen vom Versuch des Arztes, ihnen ins Gewissen zu reden, beeindruckt waren. Seiner Einschätzung, die Frauen könnten ihre Söhne vielleicht zu sehr verwöhnen, begegneten sie sehr reserviert. Zweifellos gingen viele seiner Ermahnungen an ihrer Realität vorbei (»Essen Sie möglichst Bio-Produkte«), auch wenn er sich bemühte, ihre Lebenswirklichkeit zu reflektieren (»Nutzen Sie die günstigen Supermarktangebote im Segment Gemüse«). Sein Appell an das einzelne Individuum, das sich selbst aktivieren soll, schien, so meine Wahrnehmung, bei diesem Auditorium eher zu verpuffen.16 Menschen sind keine kontextlosen Wesen. Umwelt, Verhalten und Person gehören untrennbar zusammen. Nicht umsonst wird in der Ottawa Charta auf erweiterte Handlungsräume und Befähigung gesetzt und die gesundheitsförderliche Gestaltung von Lebens- und Arbeitsbedingungen gefordert. Appelle an die individuelle Verantwortung gehen ins Leere: Statt auf das Individuum abzustellen, muss es darum gehen, Handlungsfähigkeit in Gruppen herzustellen und Vertrauen zu stiften (vgl. Wiencke 2011: 255ff). Insofern blieben Dr. K.s gut gemeinte Gesundheitsunterweisungen, wie solche Appelle meist, womöglich folgenlos. Als wichtiger ist zu bewerten, dass der Arzt sich als Gesprächspartner präsentierte und aufrichtig an seinen PatientInnen interessiert schien. Interessant an der Veranstaltung war die Verschiebung des Machtgefüges, die sich durch das Setting und die entstehende Kollektivität ereignete. Die Migrantinnen brachten selbstbewusst, fast energisch ihre eigenen Fallgeschichten ein. Ohnehin hatten sie die Themen gesetzt. Sie akzeptierten den Arzt zwar als Experten, aber stellten ihn gewissermaßen auch zur Rede. 16 | Dr. K. selbst meinte später, er habe zu viel in den einen Nachmittag packen wollen und die Sprachschwierigkeiten unterschätzt.
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Wirklich nachhaltig beeindruckt hat seine Zuhörerinnen, dass er sich beim anschließenden gemütlichen Teil der Veranstaltung nicht bedienen ließ, sondern selber mit der Kaffeekanne herumging und den Frauen einschenkte. Das fanden sie offenbar bemerkenswert unprätentiös und hat ihnen gefallen. Dass die Frauen den Nachmittag als Erfolg werteten, war spätestens klar, als sie den Arzt zu einer zweiten Veranstaltung, diesmal zum Thema »Gesunde und ungesunde Lebensweisen« einluden.
Arzt im Nachbarschaftszentrum
Dr. K. Teil II Diesmal hat Dr. K. das Thema für den Nachmittag vorgeschlagen, die Frauen sollen überlegen, welche Gewohnheiten und Traditionen in ihren Herkunftsländern für die Gesundheit förderlich und welche schädlich seien. Dr. K. eröffnet die Diskussion. Er seinerseits sei froh, dass in den letzten Jahren in Deutschland so eine starke Nichtraucher-Bewegung entstanden sei, dass man sich nicht mehr dafür zu rechtfertigen brauche, wenn man nicht rauchen wolle. Schlecht hingegen sei der nach wie vor übermäßige Konsum von Alkohol und dass es zu vielen sozialen Zusammenkünften dazu gehöre, viel zu trinken.
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Eine Irakerin meint, bei ihnen sei es umgekehrt, es würde wenig getrunken, aber viel geraucht, aber das betreffe die Männer. Die landesübliche Kleidung fungiere als Schutz vor Sonne und Hitze, und die Essgewohnheiten, viel Gemüse, seien gesund. Malika Bouzid meint, in Algerien esse man auch viel Obst und Gemüse, das sei positiv, aber auch sehr viel Süßes, allerdings keine in Fett gebackenen Süßigkeiten. Eine türkische Frau sagt, positiv in der Türkei sei, dass viel Gemüse und Obst gegessen werde, negativ sei die harte körperliche Arbeit. Trotz Nachfrage, ob die körperliche Arbeit nicht eigentlich gesund sei, zumindest für den Körper, bleibt die Frau dabei, dass es zu den widrigen Lebensbedingungen gehöre, als Frau körperlich sehr hart arbeiten zu müssen, positiv sei dagegen, wenn man sich um die Kinder kümmern könnte. Außerdem werden aus der Türkei noch als der Gesundheit förderliche Gewohnheiten berichtet, dass zusätzlich zum Obst und Gemüse Fruchtsäfte übliche seien, negativ sei an den Essgewohnheiten die Vorliebe für Weizengrütze und Bohnen, beides verursache Blähungen. Im Irak werde viel zu viel geraucht, gesund seien die traditionellen kulinarischen Vorlieben, auch hier Obst und Gemüse, insbesondere gesund sei, dass sehr viel selber hergestellt werde, Brot, Käse, Joghurt, eingelegtes Gemüse. In Kurdistan, heißt es, komme die Ernährung aus der Natur, das sei gut für die Gesundheit. Im Iran seien alle Lebensgewohnheiten positiv, negativ sei einzig die Religion, sagt eine Frau. Negativ sei die falsche Religion, versucht eine Frau zu präzisieren. Die Angesprochene geht auf diesen Relativierungsversuch nicht ein. In Afghanistan gäbe es frisches Rapsöl, man esse Reis und Maulbeeren. Negativ seien übermäßiges Rauchen, Trinken (trotz Islam) und die Gefriertruhen in der Stadt. In Bagdad werde das Essen täglich frisch besorgt, verarbeitet, genossen, es gäbe immer alles frisch auf dem Markt, das Brot werde jeden Tag selber gebacken, es gäbe keine Konservierungsstoffe im Essen und keine Pestizide. Negativ sei, dass insbesondere Frauen kein Bewegungsangebot bekämen, dass sie nicht Fahrrad fahren und nicht schwimmen dürften, andererseits besorgten sie die tägliche Arbeit und seien dadurch mehr in Bewegung als Männer und deshalb auch gesünder. Negativ sei, wie viel geraucht und – trotz Islam – getrunken werde. Negativ seien auch
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die Luftverschmutzung, die zunehme, und die Umweltzerstörung infolge der Kriege. Es gäbe auch mehr Kinder, die mit Behinderungen geboren werden, problematisch seien auch die Wasserversorgung und die mangelnde Gesundheitsversorgung. Demgegenüber positiv sei die Tradition der Fastenzeit. Zum Fasten gehöre nämlich auch, dass man auch nicht rauche und nicht lüge. Hochspannend, wie die Frauen ihre jeweilige Herkunftskultur in Bezug auf ihre salutogenetischen Aspekte reflektieren, was ihnen wichtig ist, auf welche Aspekte sie dabei kommen, dass bzw. wie sie Moderne und Tradition abwägen. Nicht nur, dass sie ihre jeweilige Herkunftskultur reflektieren, sie setzen auch die Probleme, die sie wahrnehmen, in Bezug zu den gesellschaftlichen Veränderungen. Dr. K. will wissen, wie es ist, arbeitslos zu sein, ob sie trotzdem im Stress seien oder eher Langeweile hätten. Kumri A. meint, Langeweile sei ein Männerproblem, Frauen hätten immer was zu tun, sie litten eher unter Zeitdruck, weil sie für alles verantwortlich seien, während sich ihre Männer das Leben nett machten, mit Freunden herumzögen, Tee trinken würden, auf dem Sofa lägen etc. Sofort entspinnt sich wieder die Diskussion, wer schuld ist, wenn die familiären Belastungen so ungleich verteilt sind, Parwin Mustafa meint, dass es jeweils sehr individuell sei, ob die Männer sich beteiligen oder nicht, es komme auf die Tradition in der Familie an. Wie das Geschlechterarrangement dort gelebt würde, präge das Verhalten der Männer. Diesmal erhält Dr. K. zum Abschied Löwenzahnblütengelee und eingelegte Quitten, beides selbstgemacht, die er in kleinen Dosen zu genießen verspricht. Was von den Nachmittagen bleibt: Kumri A. ist schwer beeindruckt, sie sagt, ganz anders als in ihrer Heimat benehme sich der Arzt wie ein Mensch, er sei überhaupt nicht hochnäsig, sondern an einem Gespräch von Mensch zu Mensch interessiert. Von der Veranstaltung mit Frau Dr. S. vom Mammografie-Screening-Zentrum sind die Frauen noch begeisterter. Wie sich herausstellt, fühlen sie sich, was die Vorsorgeuntersuchungen angeht, hochgradig verunsichert bzw. durch sie mit unverständlichen Anforderungen konfrontiert. Eine Frau erzählt, wie sie von ihrer Frauenärztin immer den Rat mit nach Hause bekam, dass sie selbst ihre Brust abtasten sollte, sie aber nicht wusste, wie, und dass sie auch immer irgendetwas fühlte und nicht wusste, ob
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und wie sie tätig werden sollte, und dass sie das Problem zu verdrängen versuchte. Erst als sie der Ärztin nach der Veranstaltung ihr Problem schilderte und die Ärztin daraufhin einen Termin für eine Mammografie mit ihr vereinbarte, sich Zeit nahm, ihr alles gut erklärte, fand sie in Bezug auf dieses Problem eine innere Ruhe. Auch eine andere Frau konnte im Anschluss an diese Veranstaltung eine jahrelange Unsicherheit in Zusammenhang mit einer unklaren Diagnose klären. Sie wirken beide überaus erleichtert, geradezu heiter, eine riesenschwere Last ist von ihnen gewichen. Die anderen freuen sich mit ihnen.
Frau D. erklärt die Wirkung der Impfung gegen Humane Papillomviren (HPV)
N ACHMIT TAG MIT K L ANGSCHALEN – ALTERNATIVE A NSÄT ZE UND P ROJEK TE Das Projekt war für die teilnehmenden Frauen auch eine Gelegenheit, sich mit alternativen Therapieformen auseinander zu setzen, von denen sie zwar schon einmal gehört hatten, insbesondere Homöopathie war ihnen ein Begriff, die die meisten aber bisher nie ausprobiert hatten, weil die Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen normalerweise nicht übernommen werden. Insgesamt fanden im Projektverlauf zwei Veran-
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staltungen mit Heilpraktikerinnen statt (Homöopathie und Klangschalentherapie), außerdem eine Veranstaltung mit einem in Grone bekannten »traditionellen Heiler« (s.u.) und ein Workshop zur Herstellung von Naturkosmetik. Eine Referentin aus dem Netzwerk Interkulturelle Gärten, Niki Reister aus dem Perivoli-Garten in Berlin, reiste mit Bienenwachs, Ölen und natürlichen Duftessenzen an und zeigte den Frauen, wie man alles zusammenmischt. Diesen Workshop haben die Frauen später mehrmals selbständig wiederholt und dazu noch andere Frauen aus dem Stadtteil eingeladen. Aber auch den »Nachmittag mit Klangschalen« fanden sie spannend, von Berührungsängsten keine Spur. Die Referentin Frau K. erzählt von ihrem verschlungenen Lebensweg,17 als sie die Klangschalentherapie noch nicht entdeckt hatte, bevor sie den Frauen vorschlägt, gleich mit einer praktischen Übung zu beginnen. Zunächst fällt die Konzentration etwas schwer, zwei Frauen bekommen erst einmal einen Lachkrampf, aber nach und nach beruhigt sich die Stimmung auf den Gymnastikmatten. Die Klänge greifen Raum, Frau K. versteht ihren Job. Es sei zu viel Anspannung in der Welt, sagt sie, dem möchte sie mit ihrer Arbeit begegnen. Später fragt sie nach den Erfahrungen der Frauen. Dayana M. sagt, sie sei in ihrem Leben noch nie so schnell eingeschlafen, es sei ganz toll gewesen, sie hätte am liebsten immer weitergeschlafen. Hana A. sagt, ihr seien »die ganzen Gefühle« in Rücken und Bauch gerutscht; sie habe Rückenschmerzen bekommen, weil die Gefühle so schwer wurden. Fabienne M. erzählt, sie habe sich zuerst gut tief entspannen können, aber dann habe sie plötzlich Angst bekommen und versucht, zurückzukommen. Najeha Abid berichtet, dass sie eine ganze Geschichte erlebt habe: zuerst war Krieg, dann Frieden. Halat K. pflichtet ihr bei, auch sie sei traurig geworden, habe an ihre Eltern, an ihre Geschwister gedacht. Frau K. erklärt, dass sie im ersten Teil der Übung mit den Klangschalen Gefühle aufrufe und die Musik
17 | Unterbrechung der eigenen Berufsbiografie wegen der Kinder und diverser Umzüge, Trennung, Schwierigkeit, in den erlernten Beruf zurückzukehren, Entwicklung neuer beruflicher Perspektiven, verschiedene zeitlich begrenzte Anstellungen im Bereich Handel mit Biolebensmitteln und Umweltbildung, schließlich Ausbildung zur Heilpraktikerin. Meiner Wahrnehmung nach ist es interessant für die Frauen der Gruppe zu realisieren, dass auch die Lebenswege vieler eingeborener deutscher Frauen nicht immer glatt verlaufen. Das kann entlasten und Mut machen.
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im zweiten Teil dazu diene, die Gefühle wieder zu beruhigen. Deswegen wundere sie sich nicht, dass sich alle zum Schluss wohlfühlten. Ob es auch vorkomme, dass ihre KlientInnen weinten, will Amina F. wissen. Das sei u.a. der Zweck der Übungen, erklärt Frau K. Zurückgehaltene Tränen verursachten Kopf- und Nackenschmerzen. Mit den Tränen würden Stresshormone aus dem Körper geschwemmt, Weinen habe therapeutische Wirkung; deswegen sei es so tragisch, dass viele Menschen das Weinen verlernt hätten. Den Rest des Nachmittags experimentieren die Frauen selber mit den Klängen, erzeugen Schwingungen im Wasserglas, schenken sich gegenseitig Töne. Schließlich gehen sie gleichermaßen aufgeräumt wie nachdenklich nach Hause, insbesondere weil es sich bei der Klangschalentherapie um eine Heilmethode mit Tradition und religiösem Hintergrund handelt und man die Wirkung unmittelbar spüren kann.
Klangschalenvorführung Neben den offiziell-öffentlichen Einrichtungen im Gesundheitssektor haben die Frauen auch verschiedene selbstorganisierte Gesundheitsprojekte besucht, eine Mitarbeiterin vom Frauengesundheitszentrum hielt einen Vortrag zur HPV-Impfung, eine Praktikantin der Frauenberatungsstelle erläuterte das Angebot in Sachen Paarberatung und Psychotherapie, Frau M., eine Mitarbeiterin des Göttinger Gesundheitszentrums erläuterte das Kon-
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zept Selbsthilfegruppe: Woher kommt die Idee, was nutzen Selbsthilfegruppen, wie viele gibt es, wie funktionieren sie, wie bilden sie sich, für wen sind diese Gruppen geeignet, wer braucht vielleicht etwas anderes. Die Frauen sind interessiert, stellen viele Fragen. Eine will wissen, ob es auch unspezifische Gruppen gäbe, nicht für irgendwelche speziellen Leiden, sondern einfach zur Lebensbewältigung, zur Unterstützung im Alltag. Frau M. hat keine Einwände: Es müsse nicht immer um ein spezifisches Problem gehen, praktische Lebenshilfe sei auch eine Idee. Irgendwann stellt Najeha Abid die Frage: Sind auch MigrantInnen in diesen Gruppen? Frau M. verneint und meint, sie würde sehr gerne von den anwesenden Frauen erfahren, warum das wohl so sei, dass MigrantInnen diese Möglichkeit gar nicht nutzten. Najeha Abid meint, sie habe einfach noch nie davon gehört. Außerdem sei es »ihre Kultur«, möglichst alles zu verheimlichen, insbesondere psychische Probleme. Andere Frauen nicken, bestimmt sei die Angst vor mangelnder Diskretion in der Gruppe ein Grund für die Zurückhaltung. Niemand wolle schließlich, dass vertrauliche Dinge an die falschen Leute geraten.
Die Projektgruppe zu Besuch im Göttinger Gesundheitszentrum In der Folge dieses Besuchs erörterten die Frauen länger, ob sie eine Selbsthilfegruppe gründen wollen oder nicht, was dafür, was dagegen spräche. Interessanterweise diskutierten sie nicht darüber, ob ihre Gruppe vielleicht selber längst so etwas wie eine Selbsthilfegruppe sei. Als Pro-
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Argument wurde angeführt, dass sie nach Abschluss des BAMF-Projektes zusammenbleiben könnten. Als Contra-Punkt wurde eingewendet, dass nicht davon auszugehen sei, dass in einer Selbsthilfegruppe besprochene Dinge vertraulich blieben.18 Bis zum Schluss wurde hier keine wirkliche Einigung erzielt.19
D ER F AHRR ADKURS Relativ früh entsteht die Idee, einen Fahrradfahrkurs zu organisieren. Fahrrad fahren, so die allgemeine Einschätzung, sei schließlich gesund; und zwar nicht nur wegen der körperlichen Ertüchtigung, sondern auch, weil es die Mobilität und damit die Unabhängigkeit erhöhe. Fahrrad fahren zu können, ist eine Art Schlüsselkompetenz, und in Deutschland können es fast alle, einschließlich natürlich die Kinder der Migrantinnen. Die Vorstellung, ihre Kinder mit der neu erworbenen Fähigkeit zu überraschen bzw. mit ihnen »gleichzuziehen«, machte allen Frauen im Vorfeld großen Spaß. Sie stellten sich vor, erstaunte wie bewundernde Blicke zu ernten. In der Erwartung, womöglich bald schon durch die Gegend zu radeln, hebt sich sichtlich die Stimmung im Raum. Drei der zugewanderten Frauen können schon Fahrrad fahren, haben es in Göttingen gelernt, die anderen sind Neulinge auf dem Gebiet, manche haben es schon einmal versucht, sind aber gescheitert. In Deutschland gibt es in Sachen Fahrradfahren lernen keine großen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, in manchen anderen Weltgegenden ist das eher eine Männersache: »Bei uns in Bagdad lernen nur die Jungen Fahrrad fahren«, erzählt Najeha Abid. Allerdings gäbe es auch im Irak »emanzipierte« Gegenden. Während ihrer Ausbildung zur Lehrerin in den Norden des Landes geschickt, stellte sie fest, dass in den kurdischen Gebieten viele Frauen mit dem Fahrrad fuhren. Geschlechtlich konnotierte Tätigkeiten changieren bekanntlich. 18 | Offizielle Selbsthilfegruppen müssen grundsätzlich für neue Mitglieder offen sein. 19 | Najeha Abid griff die Idee nach Abschluss des Projektes insofern auf, als sie im Nachbarschaftszentrum eine offene Gesprächsgruppe unter der Überschrift »Heimatgruppe« ins Leben rief. Die Gründung ist von der Annahme motiviert, dass die Auseinandersetzung mit dem Heimatverlust Auswirkungen auf die Gesundheit hat.
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Jedenfalls schien es den des Fahrradfahrens unkundigen Frauen als überaus attraktive Aussicht, selbiges zu lernen, wie eine Eintrittskarte. Mobiler zu sein, unabhängig von Bussen und Ehemännern irgendwohin zu können, macht freier. Zwar haben fünf der Gruppenfrauen einen Führerschein, aber nicht unbedingt Zugang zu einem Auto, d.h. normalerweise ist ihr Radius entsprechend eingeschränkt, sie sind auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen oder müssen zu Fuß gehen. Auf angenehme und nützliche Weise etwas für die Gesundheit zu tun: sich an der frischen Luft zu bewegen, kam als zusätzliches Motiv hinzu; und die Aussicht, mit dieser Fertigkeit ihre Ehemänner und Kinder zu beeindrucken. Die Motivation war also entsprechend hoch, den Plan in die Tat umzusetzen, erwies sich dann trotzdem als ausgesprochen langwierig und zäh. Warum eigentlich? Was braucht man, um einen solchen Kurs zu organisieren? Eine geeignete Lehrerin, einen passenden Ort, natürlich Fahrräder und auch etwas Geld oder Förderer (für Honorar, Räder, Fahrradhelme). An all diesen Stellen hakte das Vorhaben. Den Ort zu organisieren, war noch das einfachste. Eine Frau im Kurs schlug vor nachzufragen, ob sie den Schulhof nutzen dürften. Der Schulleiter hatte keine Bedenken, außer dass der Kurs nach der Hausaufgabenbetreuung stattfinden sollte. Die Suche nach einer Lehrerin, Fahrrädern und Geld erwiesen sich dagegen als hartnäckiges Problem. In Göttingen schien es niemanden zu geben, der sich mit Fahrradkursen für Erwachsene auskannte. Kurzfristig kam einmal die Idee auf, die Polizei zu fragen, ob sie im Rahmen der Verkehrserziehung einen Kurs anbieten könnte. Aber es wollte keine den Kontakt aufnehmen, ganz offensichtlich gab es Berührungsängste. Die Gruppe recherchierte im Netz, dass in Braunschweig schon einmal Fahrradkurse für Migrantinnen stattgefunden hatten. Najeha Abid nahm Kontakt zu der Kursleiterin auf. Sie wäre auch grundsätzlich bereit gewesen zu kommen, aber ihre Vergütungsvorstellungen waren zu hoch. Sie wollte ihre eigenen Fahrräder mitbringen und dafür einen Lastwagen mieten, außerdem hätte man ihre Hotelrechnung übernehmen müssen. Also schien es besser, sich doch vor Ort nach einer Kursleiterin umzusehen. Zwischenzeitlich wäre der Gruppe beinahe einmal der Zufall zur Hilfe gekommen. Bei einem Besuch im Gesundheitszentrum Göttingen erzählten die Frauen von ihrem Wunsch, und spontan konnte sich eine der Mitarbeiterinnen dort vorstellen, als Lehrerin einzuspringen. Sie wollte den Kurs über das Nachbarschaftszentrum Göttingen-Grone laufen lassen. Dessen Programmplanung war aber gerade abgeschlossen.
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Schließlich verlief auch dieser Anlauf im Sande. Außerdem stellte sich weiter die Frage nach den Fahrrädern. Die meisten Frauen besaßen keines und konnten sich auch kein neues Fahrrad anschaffen. Eine Frau aus der Gruppe wusste, dass die Caritas gebrauchte Fahrräder günstig abgibt. Sie erklärte sich bereit, die Telefonnummer besorgen, vergaß das aber immer wieder. Die Frauen fühlten sich auch offensichtlich überfordert zu entscheiden, welches Fahrrad für ihre Zwecke passend wäre. Irgendwann nahm Najeha Abid Kontakt zu Rainer W. vom ADFC Göttingen auf.20 Es stellte sich heraus, dass die ADFC-Gruppe selber schon überlegt hatte, Fahrradkurse für Migrantinnen anzubieten, dass ihnen aber der Kontakt zur Migrationsbevölkerung in Göttingen fehlte. Jetzt kam die Sache endlich in Schwung. Der ADFC stellte einen Antrag für einen finanziellen Zuschuss an das Umweltamt in Göttingen, der auch positiv beschieden wurde. Nach einigem Hin und Her erklärte sich schließlich eine Frau aus dem Verein bereit, einen solchen Kurs zu leiten. Auch um die Bereitstellung der Kursfahrräder kümmerte sich der ADFC nun. In einer Selbsthilfewerkstatt wurden eigens zehn Fahrräder für den Lernzweck gefertigt. Mehr als zwei Jahre nach Formulierung des Wunsches fand der Fahrradkurs dann endlich im September 2010 in Göttingen statt. Zehn Frauen nahmen teil. Rainer W. und Regine P. vom ADFC fuhren mit großem Leihlastwagen vor und luden die Fahrräder aus, außerdem gab es für jede Frau einen Helm. In der Kurswoche diente der LKW nach Kursende der sicheren Verwahrung der Fahrräder. Es hatte sich in ganz Grone kein Ort gefunden, wo man sie über Nacht hätte unterbringen können, überalls wurde Diebstahl befürchtet. Das machte den Kurs zusätzlich teuer. Diese Problematik am Rande könnte man als Einbruch der Realität bezeichnen. Normalerweise und bei Tageslicht macht Grone keinen gefährlichen Eindruck. Dass sich hinter der tagsüber eher ruhigen Fassade nachts ganz andere Dinge abspielen, macht so eine Episode jedoch unmissverständlich klar. Der Kurs begann mit einem Nachmittag auf dem Roller. Es gab zwei dieser Gefährte und die Frauen mussten sich abwechseln. Es ging darum, erst einmal etwas Gleichgewichtssinn zu entwickeln. Ungeübt und an Bewegung nicht besonders gewöhnt, entwickelten alle Frauen ziemlichen Muskelkater, über den sie stöhnten und lachten. Erst am zweiten Tag bekam jede »ihr« Fahrrad. Unter großer gegenseitiger Anteilnahme 20 | ADFC – Allgemeiner Deutscher Fahrradclub e.V.
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versuchten alle, sich mit der ungewohnten Fortbewegungsart vertraut zu machen. Jeden Tag wurden die Aufgaben etwas schwieriger und komplexer, mit großer Ernsthaftigkeit versuchten die Frauen sie zu bewältigen. Dabei ermutigten, beklatschten und trösteten sie einander. Es gab Erfolge zu feiern, wenn die Kurven immer besser klappten, aber auch Misserfolge zu verarbeiten, wenn wieder eine geradewegs in den Büschen gelandet war. Vor allem gab es ziemlich viel zu lachen. Am Ende der Woche schafften es alle geradeaus über den Schulhof. Fahrradfahren ist schwerer als man denkt, wenn man es als Erwachsene lernen muss. Vor allem ist es auch eine Übung in Selbstvertrauen. Zu viel darf man sich aber auch nicht zutrauen. Es geht um das richtige Maß. Es gab Unfälle zwischendurch. Die Frauen mussten wirklich Biss zeigen, es war keine Kleinigkeit. Zwischendurch kam die Presse, um über den Kurs zu berichten. Der Journalist bot an, in der Zeitung zu Fahrradspenden aufzurufen. Das war natürlich eine willkommene Idee, und sie war auch sehr erfolgreich. Es kamen mehr als zehn Fahrräder im Anschluss an die Berichterstattung zusammen, die Rainer W. abholte und die dann in einer Fahrradwerkstatt gewartet wurden. Sie stehen für künftige Kurse und für Anfängerinnen zur Verfügung bzw. konnten gegen eine Gebühr von 25 Euro erworben werden. Die spontane Spendenbereitschaft der GöttingerInnen hat die Teilnehmerinnen gefreut und gerührt. Fazit: Einige Frauen haben im Kurs das Fahrradfahren gelernt, andere werden noch einen Kurs brauchen. Für die Routine braucht es Übung. Eine Zeitlang fährt es sich noch besser im geschützten Raum. Die Frauen haben beschlossen, sich zwischendurch zu treffen, um die Kenntnisse gemeinsam aufzufrischen. Mindestens eine Frau fährt seit dem Kurs häufig und inzwischen routiniert Fahrrad. Sie war besonders motiviert, sie wollte unbedingt mit ihren noch kleinen Kindern Fahrradausflüge machen. Trotz der vielen Komplikationen im Vorfeld und der Stolpersteine im Nachhinein war der Fahrradkurs ein großer Erfolg für das Projekt. Zumal er auch keine Eintagsfliege blieb. Im September 2011 fand der zweite Kurs statt. Allerdings ist mehr als fraglich, ob die Fahrradfahrschule zustande gekommen wäre, wenn der ADFC mit seinen entsprechenden Kontakten, seiner Infrastruktur und dem Gewusst-wie nicht eingesprungen wäre. Über die Ressourcen, derartiges auf die Beine zu stellen bzw. über das Selbstbewusstsein, sich die nötigen Kompetenzen zu organisieren, verfügten die Frauen der Arbeitsgruppe einfach (noch) nicht. Umgekehrt
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wäre es auch dem ADFC, wie er selbst erklärt, nicht gelungen, die Klientel für so ein Projekt zu gewinnen. Als ähnlich schwierig erwies sich die Organisation eines Schwimmkurses, auch hier war die fehlende Kursleiterin wieder das Problem. Das erforderliche nichteinsehbare Schwimmbad war dagegen schnell gefunden, auch das nötige Geld fand sich, aber eine Lehrerin war zunächst weit und breit nicht aufzuspüren. Die meisten in Frage kommenden Kursleiterinnen wollten ein Honorar, das das begrenzte Budget der Frauen überstieg. Zwar erklärte sich das Büro für Integration der Stadt Göttingen freundlicher Weise bereit, einen Teil der Kosten zu übernehmen, aber die am Markt üblichen Stundensätze ließen sich damit nicht finanzieren. Es musste also eine Person mit Idealismus und Engagement her. Der Vorschlag, in der Universität an der Sportfakultät am Schwarzen Brett zu inserieren, wurde nicht aufgegriffen. Auch an die Sportlehrerinnen ihrer Kinder wollten die Frauen nicht herantreten. Schließlich kam ihnen auch hier wieder der Zufall zur Hilfe, die Lehrerin lief Najeha Abid schließlich bei einer Veranstaltung über den Weg. Im Nachhinein fanden die Frauen, das lange Warten habe sich gelohnt, die Lehrerin erwies sich als besonders nett und kompetent.
Kooperation
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Es kann losgehen
Nach getaner Tat
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B EI PRO FAMILIA : W ECHSEL JAHRBESCHWERDEN In Göttingen bietet pro familia Beratungsgespräche zu bestimmten Themen im Bereich Sexualität, Verhütung, Menstruation an. Wenn man sich als Gruppe anmeldet, ist es preisgünstiger (die Gebühr beträgt 15 Euro pro Termin). Die Frauen der Arbeitsgruppe haben das Angebot insgesamt drei Mal genutzt, an einem Nachmittag sollte es um das Thema »Wechseljahrbeschwerden« gehen. Barbara E., die Ärztin im Zentrum, vertrat bei dem Treffen die These, dass in »anderen Ländern« die Wechseljahre für Frauen oft glimpflicher verlaufen als in europäischen Ländern, weil, so ihre Erklärung, Frauen »dort« im Alter eher an Ansehen gewönnen, während sie in europäischen Ländern an Prestige verlören.21 In der Diskussion eine Woche später ging es darum, ob die Frauen mit dieser Sichtweise etwas anfangen konnten, ob sie sie teilen, wie sie die Situation beurteilen. Amina F. meint, sie habe sich gewundert, dass Frau Ernst das so gesagt habe. Sie habe gedacht, die Situation der Frauen in Deutschland sei doch gut, besser als in »ihren« Ländern. Die Frauen hier seien frei, könnten machen, was sie wollten und auch einen Freund haben und ihre Sexualität leben. Für sie sei es neu gewesen zu erfahren, dass die europäischen Frauen solche Probleme hätten. Sie ist sichtlich irritiert. In der weiteren Diskussion stellt sich dann heraus, dass sie in der Gruppe gar nicht so recht wissen, wie es mit den körperlichen Beschwerden von Frauen z.B. in den arabischen Ländern bestellt ist. Es würde eigentlich nicht darüber gesprochen, meinen sie. Halat K. erinnert sich, dass ihre Mutter von den Symptomen total überrascht wurde und fälschlicher Weise annahm, eine schlimme Krankheit zu haben. Trotzdem vertritt Halat K. die Ansicht, es sei besser, nicht im Vorhinein zu wissen, was auf eine zukomme. Wenn man es wisse, lebe man schon vorher in Angst und Schrecken, findet sie. Dayana M. schließt sich dieser Einschätzung an. Es würde zu viel Wind gemacht und womöglich entwickele man Probleme, die man nicht bekäme, wenn man nie etwas von ihnen gehört habe.
21 | In China und Indien sollen Frauen kaum über Wechseljahrbeschwerden klagen; und dieser Umstand wird mit der Steigerung des gesellschaftlichen Status älterer Frauen dort in Verbindung gebracht (vgl. David/Barde/Kentenich 2011: 91).
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Amina F. ist von dieser These nicht überzeugt und meint, es sei doch ganz gut zu wissen, was vorgehe und auf was man sich einzustellen habe. Dass Wechseljahre als ein natürliches Geschehen und nicht als Problematik betrachtet werden, war allenfalls, so lassen sich die Aussagen von Amina F., Dayana M. und Halat K. deuten, vielleicht in der Vergangenheit so, heute gehen die Frauen auch in ihren Herkunftsländern wegen Wechseljahrbeschwerden sehr viel zum Arzt, nehmen Medikamente etc. Das einzige, das für die Einschätzung der Ärztin spricht, ist, dass sich die Frauen eher auf die Wechseljahre zu freuen scheinen, als dass sie sie fürchten würden.22 Es entsteht auch deshalb kein klares Bild, weil die Situation eben widersprüchlich und in den verschiedenen Ländern und sozialen Kontexten auch unterschiedlich dürfte. Die Frauen betonen als wichtigen Unterschied, dass es in den arabischen Ländern nicht als Problem gilt, wenn Frauen noch spät Kinder bekommen. Najeha Abid ist eigentlich der Meinung, Barbara Ernst habe recht, arabische Frauen hätten weniger Wechseljahrbeschwerden. Sie denkt allerdings nicht, dass das mit der höheren Wertschätzung älterer Frauen zu tun habe, im Gegenteil fielen Frauen dort erheblich früher in die Kategorie alt als hierzulande. Ihre Erklärung dafür lautet vielmehr, dass das Leben im Irak im Allgemeinen weniger stressig sei, weshalb man insgesamt weniger gesundheitliche Probleme habe. Das Leben sei weniger individualisiert. Jedenfalls früher sei es weniger individualisiert gewesen. Wenn Lebensmittel und Wohnungen vorhanden waren und eine Person in der Familie ein Einkommen erwirtschaftete, reichte das eigentlich zum Leben, sagt Najeha Abid. Auch heute noch sei es selbstverständlich, dass das verdiente Geld für den Lebensunterhalt der ganzen Familie genutzt werde, insofern sei das Gefühl sozialer Sicherheit nach wie vor hoch. Aber so ganz sicher ist sie diesbezüglich nicht. Ihr fällt ein, dass die Mieten nach dem Krieg explodierten und dass das viele Folgeprobleme, auch hinsichtlich der gegenseitigen Versorgung im Familienverband mit sich brachte. Die Frauen werden oft als Expertinnen für die gesellschaftlichen Verhältnisse in »ihren« Ländern angesprochen, ohne diesen Erwartungen gerecht werden zu können. Erstens haben sich diese Länder verändert, seit 22 | Sie versprechen sich vom Eintritt der Wechseljahre die Befreiung von Menstruationsbeschwerden.
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sie sie verlassen haben, und außerdem ist diese Erwartung per se unrealistisch. Dazu kommt, dass sie mit Projektionen und Fantasien in Bezug auf ihre Herkunftsländer konfrontiert werden, die sie nicht so recht einzuordnen wissen. Immerhin war der Gedanke für sie interessant, dass das individuelle Erleben körperlichen Geschehens, z.B. der Wechseljahre u.a. auch abhängig ist von der Lebenssituation bzw. vom gesellschaftlichen Status der Betroffenen, in diesem Fall (älterer) Frauen. Wobei in der Diskussion strittig blieb, in welchen Gesellschaften Frauen nun besser gestellt sind.
R EDAK TEURINNEN ZU B ESUCH Im Verlauf des Projektes hatte die Gruppe mehrfach Kontakt zu Medien. Zu zwei Pressegesprächen lud die Gruppe selber ein, überdies wurden die Frauen mehrfach angefragt, über ihr Projekt zu berichten. Es erschienen verschiedene Artikel in den lokalen Zeitungen, z.B. über den Fahrradkurs, und überdies zwei Rundfunkbeiträge. Sie wurden von der Gruppe stolz zur Kenntnis genommen. An einem Nachmittag waren zwei Redakteurinnen vom Bürgerfunk Göttingen zu Gast. Die beiden Redakteurinnen äußerten zunächst ihre Vorbehalte gegenüber der Bezeichnung »Migrantinnen« und fragten, ob es besser sei, von »Frauen aus unterschiedlichen Herkunftsländern« zu sprechen. Najeha Abid meinte, dass die Bezeichnung »MigrantInnen« für die EinwanderInnen selbst ganz in Ordnung ist, nur ihre Kinder würde die ständige Rede vom »Migrationshintergrund« kränken. Letztlich kommt man aus dem Dilemma nicht heraus, dass man die EinwanderInnen auf ihre Herkunft festlegt, wenn man sie bezeichnet. Keine Sprachregelung kann dem abhelfen. Ob es die hier geborenen oder schon länger hier als in der Heimat der Eltern lebenden Kinder weniger kränkt, wenn man von »ihren Herkunftsländern« spricht, ist jedenfalls sehr fraglich. Dann entstand aus gegebenem Anlass eine Diskussion über den Ramadan. Die Redakteurinnen ließen sich ganz genau erklären, welche Rolle der Mond spielt, der bestimmt, ob die Fastenzeit 29 oder 30 Tage dauert, wie lange von morgens bis abends gefastet wird, sie wollten wissen, ob es den Frauen schwer oder leicht fällt und verglichen deren Antworten mit eigenen Fastenerfahrungen. Als Expertinnen angesprochen, erzählten die Frauen bereitwillig und lebhaft. Sie erklärten: Es sei eine Frage
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der Stimmung und der aktuellen Situation, ob man das Fasten durchhalte und wie es einem dabei gehe. Erst nach diesem intensiven Austausch begann das Interview. Mit dem Effekt, dass sich alle trauten, etwas zu sagen. Sie erzählten, wie sie zum Projekt kamen, was sie besonders aufschlussreich und wichtig fanden und warum sie sich für das Thema Gesundheit und Ernährung interessieren. Inzwischen erschienen sie beinahe schon routiniert. Die beiden Redakteurinnen hatten das Mikrophon schon wieder abgeschaltet, als sich noch eine weitere Diskussion entwickelt: Ob die Frauen in eine der Moscheen in Göttingen gehen, welche Einstellung sie überhaupt zu den Göttinger Moscheen haben, will eine von ihnen wissen. Zwei Frauen äußern sich kritisch. Die eine erzählt, wie ein ägyptischer Imam die Spenden der Gläubigen auf sein Privatkonto transferierte und damit von dannen zog. Die andere sagt, wenn sie beten wolle, bete sie zuhause, in der Moschee gehe es nicht um Religion, sondern um Politik. Was die anderen tun und denken, bleibt unklar, sie äußern sich nicht mehr so dezidiert, auch deshalb, weil das Gespräch sich jetzt in Zweiergespräche auflöst. Dann fragt eine der Redakteurinnen nach dem religiösen Sinn der Ramadan-Zeit. Jetzt sind die Frauen wieder bei der Sache, sie erläutern, es gehe zum Beispiel um Mitgefühl mit den Armen, man erlebe am eigenen Leib, wie sich Hunger und Durst anfühlen. Das erhöhe die Bereitschaft, Bedürftigen zu helfen. Zu spenden sei ein ausgesprochenes Gebot im Ramadan. Eine Frau erzählt, dass sie an Bekannte und Verwandte zuhause Geld überweise, weil in Deutschland ja sowieso niemand wirklich arm sei, und außerdem möchte sie selber bestimmen, wer das Geld bekomme und nicht an eine Institution spenden, die das Geld vielleicht veruntreut. Zahra H. erzählt, dass man im Ramadan die bedürftige Nachbarin einladen solle. Eine der Redakteurinnen meint, das wäre in Deutschland nicht denkbar, weil man die entsprechende Person damit beschämen würde. In Deutschland würde Armut möglichst verheimlicht. In der Diskussion verständigen sich die Frauen darauf, dass es sich hier wohl um einen kulturellen Unterschied handelt. Danach geht es um die Bildungsgutscheine, die die Kinder von HartzIV-Empfängern demnächst bekommen sollen. Die eine Redakteurin meint, da gäbe es doch auch die Befürchtung, dass Kinder damit diskreditiert, als bedürftig gebrandmarkt werden, und fragt, wie die Frauen denn dazu stünden? Dayana M. ist mit der Arbeitsministerin (Ursula von der Leyen) der Ansicht, dass dieses System sicherstelle, dass das Geld bei den
5. Die Projekte
Kindern ankomme. Sie erzählt von Fällen, in denen Eltern das für Kinder gedachte Geld für die Befriedigung eigener Konsumbedürfnisse ausgeben. Es ist eben durchaus so, dass, jenseits aller politischen Korrektheit, die Migrantinnen mitunter den Unterstellungen, die gegen sie verbreitet werden, zustimmen. Als die Redakteurinnen gegangen sind, sagt eine Frau, dass das aber zwei »sehr nette alte Frauen« waren. Die anderen sind auch der Meinung. Offensichtlich störte sie es nicht, dass auch diese Redakteurinnen wieder danach fragten, wie es denn ihre Familien fänden, dass sie an so einer Gruppe teilnähmen. Sie fühlen sich von der Vermutung, sie müssten ihre Männer um Erlaubnis fragen, nicht gekränkt. Sie erklären geduldig, dass sie durchaus ihre eigenen Entscheidungen treffen, und eine Frau erklärt den Redakteurinnen noch, dass die Männer ja auch etwas von der Gruppe hätten, wenn ihre Frauen Montagabend gutgelaunt zu ihnen zurückkehrten. Ganz offensichtlich macht den Mitgliedern der Arbeitsgruppe der interkulturelle Austausch Spaß, sie fühlen sich in der Expertenrolle – Auskunft über den Islam geben zu können – wohl, und insbesondere der Vergleich zwischen den verschiedenen »Sitten und Gebräuchen« ist reizvoll.
Die Projektteilnehmerinnen präsentieren das auf der Gesundmesse gesammelte Infomaterial.
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Das Projekt war zweifellos ein Erfolg, auch wenn es anders verlief als gedacht. Schlussendlich haben die Frauen mehr Dinge für sich alleine als Gruppe unternommen, als dass sie Veranstaltungen für andere organisiert hätten; und sie beschränkten sich bei der Organisation von Veranstaltungen im Wesentlichen auf das Format, ExpertInnen aus dem Gesundheitssystem ins Nachbarschaftszentrum einzuladen und diese Veranstaltungen im Stadtteil bekannt zu machen. Einige der im Projektantrag formulierten Erwartungen waren – das lässt sich im Nachhinein klar erkennen – zu voraussetzungsreich (und gingen an den Lebensrealitäten der Frauen vorbei). Dass es möglich wäre, eine sich selbst organisierende Arbeitsgruppe quasi aus dem Nichts auf die Beine zu stellen, war eine naive Idee. Möglicherweise wäre der Projektertrag noch größer gewesen, hätte man den Gruppenprozess durch professionelle Anleitung unterstützt bzw. noch mehr »fundiertes« Gesundheitswissen einzubinden versucht. Der große Vorteil der gewählten Vorgehensweise lag aber darin, dass die Frauen eben nicht (als passive Teilnehmerinnen) an einem (vorgefertigten) Kurs teilnahmen, sondern dass immer klar war, dass der Kurs durch ihr Tun und Lassen stand (oder fiel). So war gewährleistet, dass es wirklich ihre Interessen waren, die hier verhandelt wurden. Und selbst wenn angesichts des oft turbulenten Geschehens manchmal der Eindruck entstand, man könnte auch effektiver arbeiten, lässt sich in der Quintessenz feststellen, dass eine riesige Fülle an Wissen, Fakten, Material zusammenkam. Ohnehin bewegt sich der Erfolg des Projektes weniger auf der Wissensebene als vielmehr auf der Ebene der persönlichen Weiterentwicklung jeder einzelnen Frau. Das lässt sich nicht unbedingt beobachten bzw. das zeigt sich wenig auffällig in kleinen Gesten und Bemerkungen.
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Najeha Abid betont in dem Zusammenhang die Bedeutung von kleinen Schritten. Sie erläutert, dass es eine wichtige Erfahrung für Dayana M. und Zahra H. war, mit auf eine Tagung zu fahren (zum ersten Mal in ihrem Leben). Sie hätten extra nach dem Programm gefragt, um es in der Familie zeigen zu können. Und es macht einen Unterschied, da ist sie sich sicher, wenn die Kinder zu Hause beobachten, dass ihre Mütter die Informationsbroschüren der Krankenkassen durchblättern statt fernzusehen. Najeha Abid ist auch davon überzeugt, dass Zahra H.’s Entschluss, den Hauptschulabschluss nachzumachen, auf den positiven Einfluss der Gruppe zurückgeht. Zahra H. selbst betont, die Gruppe habe ihr sehr geholfen, die Ausbildung durchzustehen. Und sie selbst, sagt Najeha Abid, habe sich vor Projektbeginn nicht besonders für Zeitungsartikel zum Thema Gesundheit interessiert und entsprechende Veranstaltungen nicht wahrgenommen, und das sei jetzt vollkommen anders. Inzwischen lese sie sogar die Mitgliederzeitschrift ihrer Krankenkasse. Im Laufe der drei Jahre werden die Frauen aktiver und selbstverantwortlicher, was die Organisation ihrer Gruppe angeht. Zwar überlassen sie die »Richtlinienkompetenz« bis zum Schluss weitgehend der Koordinatorin, aber sukzessive bringen sie eigene Ideen und Vorschläge ein. Sie bringen Infomaterial mit, sie schneiden Artikel aus, sie kopieren Merkblätter. Sie halten sich gegenseitig kleine Vorträge, über den Gebrauch von Duftlampen, über die Anzahl der versteckten Zuckerstücke in Softgetränken, über traditionelles Heilen mit Bienen. Sie sprechen die Apothekerin vor Ort an, dass sie ihnen die aktuelle Ernährungslehre erläutert, sie organisieren mit Engagement die Veranstaltungen mit dem Hausarzt und der Ärztin vom Screening-Zentrum und konfrontieren die ins Nachbarschaftszentrum geladenen ExpertInnen mit ihren individuellen Problemen. Sie integrieren die Anregungen der Gruppe in ihren Alltag, Halat K. hört auf, zuckerhaltige Erfrischungsgetränke zu trinken, Zahra H. fragt ihre Mutter nach Familienrezepten gegen Husten und Blasenentzündung, wochenlang gehen die Frauen nur noch mit der E-NummernBroschüre aus dem Haus, und sie testen die Lüftungstipps. Vor allem wächst ihr Selbstbewusstsein. Herr Jendraszek, der uns in seiner Funktion als Regionalkoordinator beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehrfach besuchte (und in »Blickpunkt Integration«
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auch über das Projekt berichtete)1, staunte, wie selbstsicher sich die Frauen zum Abschluss des Projektes präsentierten. Bei Kaffee und Kuchen erzählten die Frauen ihm von den Widrigkeiten ihres Alltags, ihren Sorgen und Kämpfen: mit unkooperativen Arbeitsvermittlern und vorurteilsbeladenen Lehrern. Herr Jendraszek, der die Frauen als schüchtern und zurückhaltend kennen gelernt hatte, meinte zum Schluss anerkennend: »Ein Unterschied wie Tag und Nacht. So schnell lassen sie sich nicht mehr unterbuttern«. In den Rückmeldungen wird deutlich, wie die Frauen die Teilnahme an der Gruppe für sich definieren. Am wichtigsten ist ihnen, dass sie hier etwas für ihre Gesundheit tun. Dass sie sich dabei mit dem deutschen Gesundheitssystem bzw. der deutschen Gesellschaft auseinander setzen und womöglich auch noch etwas für ihren Stadtteil, für einen besseren Zugang von MigrantInnen zum Gesundheitssystem tun, ist für sie zweitrangig. Sie sehen sich selbst weder als sich selbstorganisierende Lernende noch als Multiplikatorinnen. Man könnte hier fast von einer hartnäckigen Rezeptionssperre sprechen, weil sich Najeha Abid als Moderation redlich bemüht hat, ein solches Selbstverständnis zu fördern. Es gilt aber wohl zur Kenntnis zu nehmen, dass die bei den Frauen vorhandene Motivation zum Engagement für andere begrenzt ist. Die Migrantinnen haben viele andere Sorgen und auch nicht endlos Zeit zur Verfügung, pragmatisch nutzen sie die Gruppe in erster Linie als sozialen Zusammenhang, der sie persönlich stärkt und der ihnen Informationen zu einem Thema bereitstellt, das sie interessiert. In einer ersten Rückschau auf das Projekt äußern sich alle, die sich zu Wort melden, positiv, teilweise begeistert. Fabienne M. sagt, sie findet, sie hätten »bereits super viel gemacht«, was sie aber besonders toll fände, sei die Gruppe. Damit erntet sie breite Zustimmung. Die gemeinsamen Aktivitäten blieben auch nicht auf die Montagnachmittage beschränkt, die Frauen treffen sich zum Frauenfrühstück im Nachbarschaftszentrum, zur Feier des Internationalen Frauentags und zum kurdischen Frühjahrsfest, sie gehen zusammen zum Schwimmkurs, verabreden sich zum Joggen und auf der Gesundheitsmesse. Das Projekt intensiviert Netzwerke und Beziehungen. Außerdem sprechen die Frauen auf ihren Treffen 1 | Aktueller Informationsdienst zur Integrationsarbeit in Deutschland, Zeitschrift des BAMF.
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hauptsächlich Deutsch, auch wenn sie zwischendurch ins Arabische oder Kurdische wechseln. Für manche der Frauen ist es der einzige regelmäßige Zusammenhang, in dem sie Deutsch sprechen.2 Überraschenderweise hebt Fabienne P. als besonders positiv hervor, »dass wir Interviews in Grone gemacht haben«. Unisono wird der gemeinsame Besuch der Gesundheitsmesse als gelungene Aktion, als besonders interessant und lehrreich erinnert. Hana A. wünscht sich, auch auf die Gesundheitsmessen der Umgebung zu fahren. 3 Der Ausflug in den Harz und in die Herrenhäuser Gärten in Hannover mit der Gruppe »Migrationsberatung für Erwachsene Zuwanderer« der AWO wird auch mehrfach positiv erwähnt. Zahra H. schlägt gleich vor, noch mehr Ausflüge in die Umgebung zu machen, sie möchte gerne einmal in den Zoo. Auf die Frage, was ein Zoobesuch mit Gesundheit zu tun habe, sagt sie: Erholung, Entspannung, gesunde Luft – das sei alles gut für die Gesundheit. Als besonders interessant werden auch die Sitzungen erinnert, in denen es um die Rezepte und Heilmittel aus den Herkunftsländern ging. Im Fazit zum Ende des Projekts wird natürlich der Schwimmkurs mehrfach als Pluspunkt erwähnt, selbst wenn es sehr lange dauerte, eine geeignete Schwimmlehrerin zu finden. Ein echtes Highlight war schließlich der Fahrradkurs, der nach diversen Hürden doch zustande kam. Wichtige wiederkehrende Themen waren im Verlauf des Projekts in Bezug auf die Kinder: Die Tücken einer Erziehung zwischen den Kulturen, gesunde Ernährung, Schule, Belastungen durch die Migration; in Bezug auf ihre soziale Situation: Fehlende Ausbildung, fehlende Sprachund Schreibkompetenz, fehlende Arbeitsplätze, Diskriminierungen, niedriger Lebensstandard, Einschränkungen im Konsum; in Bezug aufs Geschlechterverhältnis: Konflikte wegen der Arbeitsteilung bzw. wegen 2 | Viele MigrantInnen in Grone sprechen nicht selbstverständlich jeden Tag Deutsch, ihnen fehlen vielfach die entsprechenden Gelegenheiten. Ihr Arbeitsalltag gibt es nicht her, und nur zwei der Frauen haben eine deutsche Freundin. Sie müssten sich bewusst Sprachgelegenheiten schaffen. 3 | Die allgemein positive Resonanz war für mich verblüffend, in einer kommerziellen Gesundheitsmesse hätte ich nicht unbedingt einen geeigneten Ort vermutet, sich über Gesundheit zu informieren. Die Frauen der Arbeitsgruppe sind anderer Meinung, sie schwärmen regelrecht von dem »Ausflug« und haben ihn als »EyeOpener« erlebt: Was im Bereich Gesundheit alles angeboten wird.
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der Arbeitslosigkeit der Männer; in Bezug auf Göttingen-Grone: Freud und Leid, Stigmatisierung, schlechte Wohnqualität. Und immer wieder ging es ums Heimweh. Um den Verlust von Verwandten und Vertrautem.4 Und zwar in einem doppelten Sinne. Denn auch ihr Verhältnis zum Herkunftsland ist längst ambivalent: Najeha Abid ist immer deprimiert, wenn sie aus den Irak zurückkommt: Es ist eben nicht mehr das Land, das sie vor über zwanzig Jahren verlassen hat. Dayana M. beschwert sich, dass die Verwandten Geldgeschenke erwarten und dass die Wärme im Verhältnis irgendwie abhandengekommen ist. Unangenehm berührt fühlen sich die Frauen auch, wenn sie im Heimaturlaub um die Tabletten, die sie nehmen müssen, beneidet werden, und Dayana M. erzählt von Heilmethoden und Krankheitsvorstellungen, die sie ablehnt und befremden.5 Ungeachtet oder eingedenk dieser vielfältigen Problem- und widersprüchlicher Lebenslagen lässt sich zum Abschluss des Projektes konstatieren: Die Selbsthilfegruppe war ein Experiment und ein Wagnis, sie hat sich aber als Halt gebende und stabilisierende Einrichtung erwiesen. Die Migrantinnen konnten sich in ihrer Selbsthilfegruppe, in einem halböffentlichen Forum, in einer neuen sozialen Rolle erleben. Eine Selbsthilfegruppe kann sich auch als Sprungbrett in andere soziale Bereiche erweisen. Migrantinnen sind nicht mit den deutschen Institutionen aufgewachsen 4 | Wenn Maria do Mar Castro Varela (2007) in ihrer Studie zu der Einschätzung kommt, die von ihr interviewten Frauen würden die Verhältnisse in ihren Herkunftsländern (bzw. den Herkunftsländern ihrer Eltern) schönreden, übersieht sie dabei, dass es womöglich tatsächlich einen Verlust zu beklagen gibt, nämlich den eines weniger vom Konsumstress geplagten und mehr vom Sozialen bestimmten Lebens. Das, was entsteht, wenn sich sehnsüchtige Gefühle mit den Erinnerungen verbinden, ist ja nicht nur »falsch«, sondern durchaus auch »wahr«. Es geht bei der sehnsüchtigen Erinnerung insbesondere um soziale Dichte und Geborgenheit. Der Zuwachs an persönlicher Freiheit, den wahrscheinlich keine der von Castro Varela interviewten Frauen, die der zweiten Generation angehören, missen wollten, bedeutet gleichzeitig den Verlust sozialer Verbindlichkeit. Die Frauen aus der Gesundheitsgruppe registrieren, dass Frauen in Deutschland über größere Freiheiten verfügen und finden das auch attraktiv, aber der enge Bezug auf ihr soziales Umfeld ist ihnen wichtig. 5 | Sie erzählt davon, beobachtet zu haben, dass Menschen mit psychischen Problemen aus vorgeblich therapeutischen Gründen geschlagen wurden.
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und haben also diesbezüglich ein Defizit. In der Gruppe konnten sie sich »nachbilden«, eine Art »Nachsozialisation« unternehmen, sich über ihre Rechte als Patientin, Kundin, Versicherungsnehmerin klar werden. Die Gruppe war ein besonderer Zusammenhang wie es ihn im normalen Alltag von Migrantinnen sonst nicht gibt. Obwohl Familie und Community oft Dreh- und Angelpunkt der Gespräche waren, wurden die Grenzen dieses Sozialraums auch überschritten. D.h. in der Gruppe konnte Unvorhergesehenes/Unvorhersehbares passieren. Die Teilnahme an der Gruppe ermöglichte den Frauen Selbstreflexion, Bilanzierung, die Überprüfung liebgewonnener Überzeugungen, Vorurteile und Gewohnheiten, die Möglichkeit, sich neu zu sehen/zu erfinden und damit die Erweiterung von Handlungsoptionen. Mit Hilfe der Gruppe gelang es, die normalen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Den Arzt ins Nachbarschaftszentrum einzuladen, d.h. die Rolle der Gastgeberinnen einzunehmen, hinterlässt Spuren, so dass die Frauen hinterher auch alleine mit der ÄrztIn, mit der Situation besser zurechtkommen. Hier ließ sich Empowerment in Aktion beobachten. Die ÄrztInnen wurden gewissermaßen entzaubert bzw. präsentierten sich außerhalb ihrer Praxen selber auch in einer anderen Rolle. Sie wirkten zugänglicher, nicht mehr so einschüchternd, sondern wie Menschen, die man etwas fragen kann. Insgesamt erwies sich die Selbsthilfegruppe als unmittelbares Erfahrungsfeld gegenseitiger Befähigung und Förderung. Hier gelang selbstorganisierte Wissensvermittlung, gegenseitige Selbstförderung durch Kleinstprojekte. Über ihre biografischen Erzählungen erschienen die einzelnen Lebensgeschichten in einem neuen Licht. Über die Nutzung bzw. die Vermittlung von vorhandenem Erfahrungswissen (lokales und indigenes Wissen) konnten an die Lebensgeschichte geknüpfte Zugänge für gesundheitsförderndes Verhalten und generell Empowerment erschlossen und unterbrochene Fäden wieder aufgenommen werden. Das in der Lebenserfahrung gespeicherte Wissen erhielt (wieder) Bedeutung. Die Migrantinnen kamen in die Position von Akteurinnen und erschlossen sich über die Übernahme von (Selbst-)Verantwortung neuen Zugang zur Welt. Es gelang, über Gesundheit als Handlungsfeld die Funktionsweise der deutschen Gesellschaft besser zu verstehen, das sich Zurechtfinden zu verbessern und sogar (Teil-)Identifikationen mit der deutschen Um-
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welt herbeizuführen, wie das Abenteuer mit der Blutspende zeigte: Die Idee brachte Halat K. eines Tages ein. Sie hatte bei einer Operation eine Blutspende erhalten und war jetzt mit dem Gedanken beschäftigt, sich revanchieren zu wollen. Sie fragte die anderen, was sie davon hielten, gemeinsam Blut zu spenden. Interessanterweise hatte ganz zu Beginn des Projektes eine andere Frau diesen Vorschlag schon einmal gemacht und war damals mit ihrem Ansinnen grandios gescheitert. Die Frauen fühlten sich einfach nicht zuständig für die Bestückung deutscher Krankenhäuser mit Blutkonserven. Und nun, ca. drei Jahre später, fühlten sie sich plötzlich doch zuständig. Sie wurden gleich ganz unternehmenslustig, vereinbarten einen Termin beim Universitätsklinikum Göttingen und wurden dort alsbald als Gruppe vorstellig. Sie halfen sich gegenseitig, die nötigen Formulare auszufüllen und spendeten das Geld, das ihnen schon für ihre Bereitschaft, sich als Blutspenderinnen zur Verfügung zu stellen, zustand, für einen guten Zweck. Unseligerweise nahm die Geschichte nicht den positiven Verlauf, den sie hätte nehmen können. Man nahm ihnen die Blutprobe ab und schickte sie nach Hause mit der Maßgabe, auf Nachricht zu warten. Der Brief, den sie vom Klinikum wenig später erhielten, hat die Frauen dennoch verunsichert: Sie wurden zu einem Termin zur Besprechung eingeladen (»Wir sprechen über Ihre Ergebnisse«). Najeha Abids Kommentar zum Vorgehen lautete: Typisch deutsche Bürokratie, man bekommt einen Schreck. Tapfer gingen sie trotzdem hin, und es begannen Irrungen und Wirrungen. Ihnen wurde noch einmal Blut abgenommen, sie wurden noch einmal nach Hause geschickt, man wollte noch dieses und jenes abklären oder ausschließen. Zuletzt verloren die Frauen die Geduld. Es blieb der Eindruck hängen, die MitarbeiterInnen wollen ihr Blut nicht haben (weil sie Migrantinnen sind). Die MitarbeiterInnen scheinen den Frauen ihre Vorsichtsmaßnahmen nicht plausibel erläutert zu haben. Die Blutspende-Aktion musste also letztlich als Misserfolg verbucht werden. Als Erfolg aber insofern, als diese Ablehnung die Frauen offensichtlich nicht mehr wirklich zu erschüttern vermochte.
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Blutspendeformular ausfüllen im Universitätsklinikum Göttingen Dass sich ihr Gefühl, für gesellschaftliche Angelegenheiten mitverantwortlich zu sein, verändert hat, wurde noch an einer anderen Stelle deutlich: Anlässlich der durch Erdbeben und Tsunami ausgelösten Nuklearkatastrophe in Fukushima (März 2011), organisierte die Gruppe eine öffentliche Veranstaltung zum Stromanbieterwechsel, rief also zur politischen Auseinandersetzung mit der Energieversorgung in Deutschland auf. Wollte man das Projekt nur an seiner Integrationsleistung messen, müsste man spätestens jetzt wohl sagen, dass es geglückt ist. Das Ernährungs- und Gesundheitsprojekt war nicht angetreten, die gesundheitlichen Probleme der Frauen lösen zu wollen, das wäre angesichts der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch ausgesprochen vermessen gewesen. Überdeutlich wurde z.B. der Zusammenhang von Erwerbslosigkeit, unsicherem Aufenthaltsstatus, Selbstwertproblemen und mangelnder Gesundheit. Trotzdem hat sich das subjektive Gesundheitsempfinden der Frauen nach eigenem Bekunden verbessert. Zur psychischen Stabilisierung hat die Gruppenarbeit jedenfalls beigetragen: die gegenseitige Unterstützung, der Austausch untereinander, der feste Termin haben die Frauen in ihrem komplizierten Alltag gestärkt. Es hat geholfen, bei den diversen Problemen – und die Frauen haben viele Probleme – offene Ohren zu finden bzw. zu realisieren, dass andere auch
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Probleme haben bzw. es nicht unbedingt an ihnen liegt, wenn sie welche haben. Und was die körperliche Seite angeht, haben sie »gesunde Sachen« miteinander gemacht (Schwimmkurse, Joggingnachmittage, Ausflüge ins Grüne, Gartenarbeit), immer wieder über Ernährung diskutiert und in bestimmten Bereichen ihre Ernährungsgewohnheiten verändert. Legendär wurde der Vorsatz einer Frau, keine Cola mehr zu trinken, sondern Mineralwasser. Als leuchtendes Beispiel wurde sie bei allen möglichen Gelegenheiten gewürdigt. Im Rahmen des Projektes kam es auch zu zahlreichen – unwahrscheinlichen – Begegnungen. Die Frauen kamen mit Themen in Berührung, mit denen sie ohne das Projekt nicht in Berührung gekommen wären, sie haben AkteurInnen des Gesundheitssektors kennen gelernt, denen sie sonst nicht begegnet wären. Und umgekehrt. Die Mitarbeiterin des Gesundheitszentrums, die normalerweise ein eher bürgerliches Publikum über die Möglichkeiten der Selbsthilfe informiert, konnte die Migrantinnen selbst fragen, warum sie quasi nie in solchen Gruppen auftauchen bzw. konnte sie persönlich einladen. Die Netzwerke der MigrantInnen sind gemeinhin gut, aber auch begrenzt und erschöpfen sich in engen Zirkeln. So positiv enge soziale Beziehungen sind, um sich gegenseitig zu stabilisieren und sich aufgehoben zu fühlen, so limitierend sind sie mitunter in Bezug auf Informationsaustausch. Manche Informationen sprechen sich zwar rasend schnell herum, aber andere Informationen gelangen überhaupt erst gar nicht ins Netzwerk und machen dann eben auch nicht die Runde. Hätte Frau P. auch noch Kontakte zu anderen sozialen Milieus, hätte sie vielleicht gewusst, dass man auch ohne vorherigen Klinikaufenthalt bei Bedarf ein Recht auf ambulante Psychotherapie hat. Und würden umgekehrt die AkteurInnen im – konventionellen wie alternativen – Gesundheitswesen öfter mit MigrantInnen zusammentreffen, wären ihre interkulturellen Kompetenzen bestimmt besser. Zweifellos lohnt es sich – hin wie her – über den Tellerrand zu blicken. »Integration und Gesundheit gehören zusammen«, sagt Ramazan Salman, Geschäftsführer des Ethno-Medizinischen Zentrums in Hannover, »Gesundheit ist die Basis der Integration« (und Integration die Basis für Gesundheit). Er sagt, er beobachte sowohl ein wachsendes Interesse der Gesundheitsinstitutionen, auf die Bedürfnisse von MigrantInnen zu
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reagieren, einerseits, als auch ein wachsendes Interesse an Information auf Seiten der MigrantInnen andererseits.6
A USBLICK Im Anschluss entstanden im Netzwerk Interkulturelle Gärten zunächst zwei vom Göttinger Projekt inspirierte Nachfolgeprojekte in Aalen und Altenkirchen, die die Erfahrungen der Göttinger Frauen nutzten – Frau Abid besuchte beide Gärten, um von dem Gesundheitsprojekt zu berichten –, aber auch ihre eigenen Zugänge zum Thema fanden. In Aalen spielte im Projektverlauf neben Infoveranstaltungen und Ähnlichem vor allem der Erwerb von Kompetenzen eine zentrale Rolle: Die Frauen lernten Massagetechniken, Korbflechten und Fotografie. Insbesondere den Fotografie-Kurs empfanden die Frauen als sehr attraktives Angebot, weil er es ihnen ermöglichte, einmal aus ihrer Rolle herauszutreten und die Wahrnehmung »der anderen« entsprechend zu irritieren. Migrantinnen werden sehr oft als Versorgerinnen ihrer Familien angesprochen und wahrgenommen (mit unserem Projekt zu Gesundheit und Ernährung haben wir auch auf diese Rolle rekurriert). Die Aalener Frauen haben es offensichtlich genossen, sich in einem neuen Metier auszuprobieren, zumal als das Gesundheitsprojekt auch noch seinen Abschluss mit einer mehrwöchigen Fotoausstellung (»Kreativität verzaubert Natur«) in der städtischen Bibliothek, inklusive Rahmenprogramm fand. Sich derart ernsthaft mit einem ihnen zunächst fremden Gegenstand zu beschäftigen, hatte ganz offensichtlich Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl wie das Wohlbefinden der beteiligten Frauen und damit auf ihre Gesundheit. Die Koordinatorin der Gruppe – Christine Claas – und die Leiterin des Fotokurses – Anita Rudolf – beobachteten, wie sich einige Frauen mit dieser Erfahrung geradezu neu erfanden. Nicht nur die Migrantinnen lernten im Projektverlauf hinzu. Der Austausch über Sprachbarrieren spielte im Projekt eine wichtige Rolle. Was es bedeute, krank zu sein und sich darüber nicht richtig verständigen zu können, wie es sei, ÄrztInnen nicht zu verstehen, das, sagt Christine Class, habe sie erst so richtig durch dieses Projekt verstanden. 6 | Das Ethno-Medizinische Zentrum wurde von der Projektgruppe im Projektverlauf einmal besucht.
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In Altenkirchen – diese Gruppe wurde von Erika Uber, der Gartenkoordinatorin, ins Leben gerufen – stellten die Frauen zunächst ein Kochbuch zusammen, die Diskussion über gesunde Ernährung ist bei den monatlichen Treffen immer ein Schwerpunktthema. Außerdem interessiert sich die Gruppe sehr für naturheilkundliche Verfahren, dabei werden sie von der kräuterkundigen Heilpraktikerin Vaiva Zurawski unterstützt. Die Verbindung von Theorie und Praxis ist den Frauen wichtig, Cremes und Tees stellen sie jetzt selber her, demnächst wollen sie zusammen Seife sieden. Der Plan, ein gemeinsames Kräuterbeet anzulegen, scheiterte wie in Göttingen an diversen gesundheitlichen Malaisen. Über diese speziellen Gruppen hinaus wird das Gesundheitsthema in vielen Interkulturellen Gärten implizit und explizit immer wieder aufgegriffen. Insbesondere geht es auch um die Sicherung des eigenen Heilund Kräuterwissens. Auch Begzada Alatovic (s.o.) trägt hier seit Jahren entsprechende Kenntnisse zusammen. Im Interkulturellen Garten Marburg gibt es seit 2013 angrenzend einen zusätzlichen »Apothekergarten«. Das Netzwerktreffen im Frühling 2013 hatte das Thema Interkulturelle Gärten, Umweltgerechtigkeit und Gesundheit zum Schwerpunkt. Mit anderen Worten, das »BAMF-Projekt« wirkt im Netzwerk wie ein homöopathisches Mittel, sanft und stetig gleichermaßen, nach.
Gemeinsames Arbeiten im Kräuterbeet
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D ANKSAGUNG Ich danke den Projektteilnehmerinnen Khamee Abdulrahman Mahmud, Layla Arafa, Sultan Akgül, Malika Bouzid, Safia Eshra, Samia Karkaba, Hanun Mohamed, Parwin Mustafa und Sandra Müller sowie der Koordinatorin und meiner Kollegin Najeha Abid, die unermüdlich meine nie enden wollenden Fragen beantwortete. Wir alle danken den vielen Referentinnen und Referenten aus den verschiedenen Projekten und Institutionen des Gesundheitsbereichs, die engagiert und unentgeltlich von ihrer Arbeit berichteten, sowie Christa Müller, die die Projektidee hatte, den Forschungsantrag schrieb und den Projektprozess mit ihren klugen Kommentaren unterstützte. Zu danken ist auch Ansgar Jendraszek (Regionalkoordinator beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge), der das Zustandekommen des Vorhabens sehr unterstützte. Ein besonderer Dank gilt Karin Werner, die das Projekt von Beginn an interessiert begleitete und im Verlauf manch erhellende Überlegung in Bezug auf die Interpretation des Geschehens beitrug. Last but not least lektorierte sie das fertige Manuskript.
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8. Anhang F R AGEBOGEN ZUM THEMA G ESUNDHEIT UND E RNÄHRUNG 0. Rahmendaten Alter Nationalität Herkunft Geschlecht Wie lange leben Sie schon in Deutschland?
1. Institutionen des Gesundheitssystems Wie sind Sie versichert? ▫ gesetzlich ▫ privat ▫ gar nicht Wo/wie informieren Sie sich, wenn Sie Fragen zu Gesundheit haben? Fragen Sie ▫ Den Hausarzt/die Hausärztin? ▫ In der Apotheke? ▫ FreundInnen und Bekannte? ▫ Beratungsstellen (z.B. bei der Verbraucherzentrale)? ▫ Ihre Krankenkasse? ▫ Fernsehen und Internet? ▫ Sonstiges?
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
Haben Sie das Gefühl, dass Sie sich Gesundheitsinformationen leicht beschaffen können? ▫ Ja ▫ Nein ▫ Geht so Fühlen Sie sich gut informiert in Gesundheitsfragen? Wissen Sie z.B. genug über Gesundheitsvorsorge? ▫ Ja ▫ Nein ▫ Geht so Wissen Sie etwas über alternative Heilmethoden (Heilen mit Homöopathie, Bachblüten, Farben etc.)? ▫ Ja ▫ Nein Würden Sie gerne etwas/mehr über alternative Heilmethoden wissen oder vertrauen Sie der modernen Medizin? ▫ Ich vertraue der modernen Medizin ▫ Ich interessiere mich für alternative Heilmethoden, weil ich der modernen Medizin nicht so recht vertraue ▫ Ich interessiere mich für alternative Heilmethoden, obwohl ich der modernen Medizin vertraue Finden Sie, dass Ihre Krankenkasse Sie gut betreut und informiert? ▫ Ja ▫ Nein ▫ Geht so Was machen Sie, wenn Sie krank sind? ▫ Ich gehe zur Ärztin oder zum Arzt ▫ Ich frage meine Mutter (oder eine Tante oder Freundin etc.), was zu tun ist ▫ Ich versuche es zunächst mit »Hausmittelchen«: Tee bei Husten, kalte Umschläge bei Fieber usw. ▫ Ich gehe zu einer HeilpraktikerIn (Homöopathie und andere alternative Heilmethoden)
8. Anhang
Sind Sie oft krank? ▫ Ja ▫ Nein ▫ Mal so, mal so Haben Sie eine chronische Krankheit? ▫ Welche? Waren Sie in Ihrer Heimat öfter krank, oder sind Sie in Deutschland öfter krank? ▫ In der Heimat ▫ In Deutschland ▫ Kein Unterschied ▫ Wenn es einen Unterschied gibt, was ist der Grund? Fühlten Sie sich in Ihrer Heimat medizinisch besser versorgt, oder fühlen Sie sich in Deutschland medizinisch besser versorgt? ▫ In der Heimat, weil … ▫ In Deutschland, weil … ▫ Kein Unterschied
2. Bewegung Fahren Sie Fahrrad? ▫ Ja ▫ Nein. Warum nicht? Treiben Sie Sport? ▫ Welchen? ▫ Wie oft? ▫ Wenn nein, warum nicht? Besuchen Sie ein Fitnessstudio? ▫ Ja ▫ Nein. Warum nicht?
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
Gehen Sie schwimmen? ▫ Ja ▫ Nein. Warum nicht? Welchen Sport würden Sie gerne mal ausprobieren? Gehen Sie in die Sauna? ▫ Ja ▫ Nein. Warum nicht? Wie viele Stunden schauen Sie fern? ▫ Heimatsender ▫ Deutsche Sender ▫ Beides
3. Soziale Integration Haben Sie Kontakt zu Ihren Nachbarn? ▫ Ja ▫ Nein. Warum nicht? Haben Sie FreundInnen und Bekannte? ▫ Ja ▫ Nein. Warum nicht? Wie oft besuchen Sie Nachbarn, FreundInnen? ▫ einmal am Tag ▫ mehrmals in der Woche ▫ mehrmals im Monat ▫ seltener Haben Sie Kontakt zu Landsleuten und Deutschen? ▫ mehr zu Landsleuten ▫ mehr zu Deutschen ▫ Halbe-Halbe Gehen Sie ins Kino oder ins Theater? ▫ Ja ▫ Nein. Warum nicht?
8. Anhang
Wie oft fahren Sie in Urlaub? ▫ einmal im Jahr ▫ öfter ▫ alle zwei Jahre oder seltener ▫ Besuchen Sie Ihre Familie? ▫ Fahren Sie irgendwo anders hin?
4. Ernährung Kochen Sie in Ihrer Familie? ▫ Jeden Tag ▫ 1 bis 2 mal in der Woche ▫ Seltener Welche Lebensmittel verwenden Sie besonders häufig? ▫ Gemüse ▫ Brot und andere Getreideprodukte (Nudeln, Reis etc.) ▫ Milchprodukte (Yoghurt, Käse, Quark etc.) ▫ Hülsenfrüchte (Kichererbsen, Bohnen, Linsen) ▫ Fleisch ▫ Fisch ▫ Obst ▫ Eier ▫ Tee ▫ Kaffee ▫ Süßigkeiten (Eistee, Schokolade, Marmelade) ▫ Knabberzeug (Salzstangen, Chips etc.) ▫ Konserven ▫ Fertiggerichte (Tütensuppen, Ravioli aus der Dose, Salatdressing aus der Flasche etc.) ▫ Sonstiges: Achten Sie beim Kauf Ihrer Lebensmittel besonders auf ▫ Preis ▫ Qualität ▫ Bestimmte Marken ▫ Sonstiges
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
Wissen Sie, wo Sie wichtige Informationen über Ernährung bekommen können? ▫ Ja ▫ Nein ▫ Nicht so richtig Achten Sie auf Konservierungsstoffe? ▫ Ja ▫ Nein ▫ Mal ja, mal nein ▫ Ich weiß nicht so recht, welche Bedeutung Konservierungsstoffe haben und ob sie schädlich oder unbedenklich sind Achten Sie auf das Haltbarkeitsdatum? ▫ Ja ▫ Nein Lesen Sie sich die Zutatenliste auf den Lebensmitteln durch? ▫ Ja ▫ Nein ▫ Ja, aber ich weiß oft nicht, was die Angaben, z.B. die E-Nummern, bedeuten Achten Sie auf Bioprodukte? ▫ Ja ▫ Nein Wo kaufen Sie Ihre Lebensmittel? ▫ im Supermarkt ▫ in den Läden von MigrantInnen ▫ auf dem Markt ▫ im Bioladen ▫ im Sommer habe ich auch eigenes Gemüse aus dem Garten ▫ Essen Sie oft bei Mc Donald’s o.Ä.? ▫ Ja ▫ Nein ▫ Mal so, mal so
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Benutzen Sie die Mikrowelle zum Kochen oder nur zum Aufwärmen? ▫ Auch zum Kochen ▫ Nur zum Aufwärmen ▫ Ich benutze keine Mikrowelle Wenn Sie auf spezielle Lebensmittel (für Diabetiker, cholesterinfreie Waren, laktosefrei, Hallal etc.) angewiesen sind, finden Sie es leicht, diese zu finden? ▫ Ja ▫ Nein ▫ Geht so Können Sie sich in Deutschland so ernähren, wie Sie möchten, oder vermissen Sie bestimmte Lebensmittel? ▫ Man kann sich in Deutschland so ernähren, wie man möchte ▫ Bestimmte Sachen gibt es in Deutschland leider nicht ▫ Manche Sachen sind in Deutschland zu teuer Haben Sie Fragen zum Thema Gesunde Ernährung? Was würden Sie gerne wissen?
Z USAMMENSTELLUNG DER E RGEBNISSE In der Altersgruppe 40-72 Jahre interviewten die Frauen 13 GronerInnen (neun Frauen, vier Männer) aus der Türkei, Herzegowina, Libanon, Ägypten, Irak, Jemen, Afghanistan und Roma, die zwischen zehn und 36 Jahren in Deutschland leben (sieben haben die deutsche Staatsangehörigkeit). (Die Vielfältigkeit der Groner Bevölkerung wird hier sehr deutlich.) Drei der Interviewten fragen, wenn sie Fragen zur Gesundheit haben, ihre Ärztin, vier erkundigen sich bei FreundInnen und Bekannten, zwei sagen, sie beschaffen sich überall Informationen (bei Beratungsstellen, der Krankenkasse, im Internet etc.), der Rest macht keine Angaben. Ungefähr die Hälfte (sechs) meinen, dass sie sich Gesundheitsinformationen leicht beschaffen können, aber nur vier fühlen sich gut informiert in Gesundheitsfragen (sechs kreuzen »nein«, drei »geht so« an). Insgesamt acht Personen geben an, über alternative Heilmethoden Bescheid zu wissen bzw. sie anzuwenden; allerdings vertrauen sie gleichzeitig der allopathischen Medizin.
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
Sechs gehen zur Ärztin, wenn sie krank werden, sieben versuchen es zunächst mit »Hausmitteln« und fragen ihre Mütter. Ihren Gesundheitszustand schätzen drei als »schlecht« (wegen der Sorge um die Heimat, weil das Leben »hier« schwierig ist), sieben als »gut«, drei als »mal so, mal so« ein. An chronischen Krankheiten werden Bronchitis (1x), Diabetes (2x), niedriger Blutdruck (2x), Schilddrüsenprobleme (1x), hoher Cholesterin-Spiegel (1x), Bandscheibenvorfälle (2x) aufgelistet. Sieben Personen geben an, in Deutschland öfter krank zu sein, eine Person sagt, sie sei im Herkunftsland öfter krank gewesen, fünf können keinen Unterschied feststellen. Eine Person fühlte sich in ihrem Herkunftsland medizinisch besser versorgt (»weil die Ärzte bei der Behandlung auch ihren Kopf benutzen und nicht nur ihre Geräte«), acht Personen bevorzugen die Versorgung in Deutschland (»weil es neueste Medikamente gibt«), vier können keinen Unterschied feststellen. Acht Befragte fahren Fahrrad, fünf nicht (weil sie es nicht können: »weil dieser Sport nur Jungen erlaubt war«). Die Frage, ob sie Sport treiben, beantworten sechs Personen mit »nein« und begründen diese Abstinenz damit, dass sie keine Gewichtsprobleme haben. Drei Befragte sagen, sie gehen spazieren, eine Person meint, es gäbe kein attraktives Angebot. Niemand geht ins Fitnessstudio: weil es zu teuer ist, weil es gemischt ist, weil man sich alleine nicht hin traut, weil man ein Kind hat oder keine Zeit oder keine Lust oder kein Übergewicht. Vier Personen gehen allerdings schwimmen, vier nicht, weil sie nicht schwimmen können, drei nicht, weil sie es zu teuer finden oder weil es gemischt ist. Auf die Frage, welchen Sport sie gerne einmal ausprobieren würden, antworten drei »schwimmen«, eine Person würde gerne Basketball spielen, eine Wassergymnastik treiben, eine Tischtennis und Fußball spielen, eine Fallschirmspringen, vier formulieren keine Wünsche. Zwei Personen gehen in die Sauna, elf nicht: weil es zu teuer ist, weil dort Nacktheit Pflicht ist, weil es gemischt ist, weil »es allein keinen Spaß macht«, weil sie es nicht vertragen. Die Befragten schauen zwischen drei und fünf Stunden täglich fern, drei schauen Heimatsender, drei deutsche Sender, fünf schauen beides. Alle haben FreundInnen und Bekannte. Eine Person besucht ihre Nachbarn bzw. FreundInnen einmal am Tag, zwei besuchen sie mehrmals die Woche, eine einmal die Woche, zwei mehrmals im Monat, sechs seltener. Sieben Befragte haben mehr Kontakte zu Landsleuten, sechs
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Befragte sagen »halbe-halbe« (zu Deutschen und Landsleuten). Drei Personen gehen ins Kino, neun nicht: wegen des Alters, mangelnder Lust, mangelnden Geldes, mangelnder Zeit, mangelnden Interesses. Vier Befragte besuchen einmal im Jahr im Urlaub die Familie (im Herkunftsland), eine Person fährt alle vier Jahre oder seltener, zwei fahren aufgrund finanzieller Probleme gar nicht in Urlaub, eine hat nach 17 Jahren erstmals ihre Heimat besucht, eine nach sieben Jahren. Neun Befragte geben an, täglich zu kochen, eine Person kocht zweimal in der Woche, noch seltener kochen drei. Die Häufigkeit in der Verwendung der Lebensmittel ergab in der Befragung kein klares Bild, die Befragten verwenden die ganze Palette, Vorlieben kristallisieren sich nicht heraus. Vier Personen geben an, keine Fertiggerichte zu verwenden, eine Person verzichtet auf Eier, Fleisch, Fisch und Kaffee. Beim Einkauf achten die Befragten auf den Preis (drei), auf Qualität und Preis (sieben), nur auf Qualität (eine), auf bestimmte Marken und Preis (eine). Sieben geben an, über wichtige Informationen bezüglich Ernährung zu verfügen, vier fühlen sich schlecht informiert, zwei sagen »nicht so richtig«. Sieben Befragte achten auf Konservierungsstoffe, drei nicht, drei »mal ja, mal nein«. Elf achten auf das Haltbarkeitsdatum, vergessen es aber manchmal (sieben), zwei achten nicht darauf. 1 Sieben lesen sich die Zutatenliste der Lebensmittel durch, fünf nicht, eine Person sagt, mit den Angaben oft nichts anfangen zu können. Fünf Personen achten auf Bioprodukte (»wenn sie billig sind«), eine sagt »manchmal«, fünf Befragte achten nicht darauf, eine Person vertraut Bioprodukten nicht. Eine Befragte kauft ihre Lebensmittel ausschließlich im Supermarkt, fünf in von MigrantInnen geführten Läden und im Supermarkt, sieben geben an, im Supermarkt zu kaufen, im Sommer aber eigenes Gemüse aus dem Garten zu haben. Zu McDonald’s und & Co. gehen zwei selten (»nur wegen der Kinder)«, acht gar nicht und drei »mal so, mal so«. Sieben Personen benutzen die Mikrowelle zum Aufwärmen, eine Person nur zum Auftauen, eine auch zum Kochen(?), drei benutzen sie nicht. Spezielle Lebensmittel finden sechs Per1 | Die Frage, ob die BewohnerInnen über die Bedeutung des Haltbarkeitsdatums Bescheid wissen, war den Projektteilnehmerinnen sehr wichtig. Sie selber schätzten die Bedeutung des Haltbarkeitsdatums als hoch ein und vermuteten, nicht allen sei die Wichtigkeit des Haltbarkeitsdatums bekannt. Zu vermuten ist, dass die MigrantInnen zu diversen Gelegenheiten von Seiten des Gesundheitssystems aufgefordert werden, auf die Haltbarkeit von Lebensmittel zu achten.
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
sonen vor allem »beim Türken«, fünf Personen meinen, dass man sich in Deutschland so ernähren kann, wie man möchte, sieben sagen, bestimmte Lebensmittel gibt es in Deutschland leider nicht, eine Person sagt, manche Lebensmittel sind in Deutschland zu teuer. Die offene Frage, ob sie Fragen zum Thema Gesunde Ernährung haben bzw. was sie gerne zum Thema erfahren würden, hat keine interviewte Person beantwortet. In der Altersgruppe 22-39 wurden drei Männer und zehn Frauen befragt, die aus dem Irak, dem Iran, der Türkei, Rumänien und Kurdistan stammen (zehn besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit) und zwischen sechs und 22 Jahren in Deutschland leben. Neun Personen erkundigen sich, wenn sie Fragen zur Gesundheit haben, bei ihrer Hausärztin, Apothekerin oder Krankenkasse, vier Personen fragen Freunde und Bekannte. Zwei haben das Gefühl, sich leicht Informationen beschaffen zu können, eine nicht, zehn antworten mit »geht so«. Fünf geben an, gut informiert zu sein, z.B. auch in Fragen der Gesundheitsvorsorge, acht sagen »geht so«. Fünf fühlen sich von ihrer Krankenkasse gut informiert, eine Person nicht, acht antworten »geht so«. Alle sagen, dass sie der modernen Medizin vertrauen, fünf interessieren sich darüber hinaus auch für alternative Heilmethoden. Zwölf Personen gehen zum Arzt, wenn sie krank sind, eine Person konsultiert ihre Mutter, um zu fragen, was zu tun ist. Keine versucht es zunächst mit Hausmitteln. Eine Person gibt an, oft krank zu sein, vier Befragte sagen »nein«, acht »mal so, mal so«. Eine Person leidet unter Diabetes, eine unter Blutdruckproblemen und Asthma, eine Befragte hat eine Hautallergie, sieben Personen geben an, keine chronische Krankheit zu haben. Eine Befragte sagt, dass sie in ihrem Herkunftsland öfter krank war als in Deutschland, zwei Befragte geben an, in Deutschland öfter krank zu sein: ein Grund wird von allen dreien nicht angegeben. Neun Personen sagen, dass es keinen Unterschied gibt in der Krankheitshäufigkeit in Herkunftsland und Deutschland. Eine Person fühlte sich in ihrer Heimat besser medizinisch versorgt (sie begründet das nicht weiter), sieben Personen geben an, sich in Deutschland besser versorgt zu fühlen: wegen besserer Medikamente, eines guten Gesundheitssystems und »mehr Erfahrung« (aus der Ant-
8. Anhang
wort geht nicht hervor, ob die Person meint, selber mehr Erfahrung zu haben, oder ob sie meint, dass die im Gesundheitssystem Tätigen über mehr Erfahrung verfügen). Zwei Befragte geben an, mit dem Fahrrad zu fahren, zwei sagen, dass sie das nicht tun und begründen das mit fehlender Zeit, eine sagt »nein« ohne es zu begründen. (D.h. jüngere Migrantinnen können Fahrrad fahren.) Auf die Frage, ob sie Sport treiben, sagt eine Person, dass sie Fahrrad fährt, zwei sagen, dass sie sich drei bis vier Mal wöchentlich »bewegen«, zwei geben an, regelmäßig zu schwimmen (sechs Personen können schwimmen, sieben nicht, würden es aber gerne lernen), zwei laufen regelmäßig, fünf Personen geben an, keine Zeit oder kein Geld zu haben, um Sport zu treiben. Sechs nutzen das Fitnessstudio, sieben nicht (keine Zeit, kein Geld). Auf die Frage, welchen Sport sie gerne einmal ausprobieren würden, antworten die Befragten: Fußball (zwei), Basketball (eine Person), Gymnastik (eine Person), Schwimmen (fünf). Drei Befragte gehen in die Saune, zehn nicht (wegen der Preise, der Nacktheit, weil es keine nach Geschlechtern getrennten Räume gibt, wegen mangelnder Zeit). Drei Personen geben an, nur Heimatsender anzuschauen, eine Person schaut nur deutsches Fernsehen, eine Person sagt, sie schaut »beides«. Zwei Personen sagen, dass sie eine Stunde täglich fernsehen, eine Person schaut drei Stunden, sechs Personen schauen drei bis fünf Stunden fern. (Von den zehn Personen, die Angaben zur Länge ihres Fernsehkonsums machten, sagten nur fünf etwas zur Art ihres Fernsehkonsums, ob deutsche oder »Heimat«-Sender.) Zwölf Personen sagen, Kontakt zu ihren Nachbarn zu haben, eine Person hat keinen Kontakt zu ihren Nachbarn. Keine Person besucht täglich ihre Nachbarn und FreundInnen, aber fünf Befragte besuchen sie mehrmals in der Woche, mehrmals im Monat geben sieben Befragte hinsichtlich der Häufigkeit ihrer Besuche an, »seltener« sagt eine Person. Mehr Kontakt zu Landsleuten haben sechs Befragte, mehr Kontakt zu Deutschen hat eine Person, »halbe-halbe« geben fünf Personen an. Sechs Personen gehen ins Kino bzw. ins Theater, sieben haben entweder keine Zeit oder keine Lust.
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Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?
Fünf Personen fahren einmal im Jahr in Urlaub, drei öfter, drei alle zwei Jahre oder seltener. (Ob sie ihre Familien in ihrem Herkunftsland besuchen, geht aus den Antworten in den Fragebögen nicht hervor, zwei geben es an, die anderen geben nichts an, also auch nicht, ob sie woanders hinfahren.) Zwölf Personen kochen in ihrer Familie jeden Tag, eine Person »seltener«. Die Befragten geben an, alle Lebensmittel besonders häufig zu verwenden, Einschränkungen werden nur in Bezug auf Süßigkeiten gemacht (zwei), auf »Knabberzeugs« (sieben), Konserven (acht) und Fertiggerichte (zehn). Beim Bezug von Lebensmitteln achtet eine Person »auf den Preis«, sieben Personen auf »Qualität«, vier Personen achten auf »Preis und Qualität«, eine Person orientiert sich an bestimmten Marken. Sieben Personen geben an zu wissen, wo sie wichtige Informationen über Ernährungsfragen bekommen können, sechs Personen sagen »nicht so richtig«. Fünf Befragte geben an, auf Konservierungsstoffe zu achten, drei achten nicht darauf, fünf sagen »mal ja, mal nein«, keine Person gibt an, nichts Genaueres in Bezug auf Konservierungsstoffe zu wissen. Alle achten auf das Haltbarkeitsdatum. Zwölf Personen lesen sich auch die Zutatenliste der Lebensmittel durch, eine gibt an, mit den Angaben oft nichts anfangen zu können bzw. ihre Bedeutung nicht einschätzen zu können, eine Person gibt an, nicht darauf zu achten. Acht Personen sagen, dass sie auf Bio-Produkte achten, fünf sagen, dass sie das nicht tun. Fünf Befragte kaufen im Supermarkt, acht in von MigrantInnen geführten Läden, keine Person kauft auf dem Markt oder im Bioladen oder verfügt über eigenes Gemüse. Eine Person isst oft bei McDonald’s o.Ä., fünf nicht, sieben »mal so, mal so«. Elf Personen nutzen eine Mikrowelle (zehn davon nur zum Aufwärmen), zwei Personen nicht. Drei Befragte finden es leicht, cholesterinfreie Lebensmittel oder Hallal-Lebensmittel zu bekommen, vier finden es schwer, drei sagen »geht so«. Drei finden, man kann sich in Deutschland so ernähren, wie man möchte, drei sagen, dass es bestimmte Lebensmittel in Deutschland nicht gibt, vier finden, dass manche Lebensmittel in Deutschland zu teuer sind.
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Die offene Frage, ob sie Fragen zum Thema Gesunde Ernährung haben bzw. was sie gerne zum Thema erfahren würden, wird auch hier von keiner Befragten beantwortet. Die Teilnehmerinnen des Gesundheitsprojektes leiteten aus ihrer Befragung die Notwendigkeit ab, einen Schwimmkurs im Stadtteil anzubieten und fühlten sich auch in ihrer Absicht bestätigt, einen Fahrradkurs zu organisieren. Ich fand interessant, dass sie die Frage, welches Informationsangebot sich die Interviewten wünschen würden, offenbar gar nicht gestellt haben, vielleicht, weil es die letzte Frage in einem langen Fragebogen war, vielleicht weil sie sich mit einer offenen Frage (sie hätten die Antwort zumindest stichwortartig schriftlich fixieren müssen) überfordert fühlten.2 Insofern orientierten sich die Frauen im Fortgang der Planung vor allem an den Bedürfnissen, die innerhalb der Gruppe formuliert wurden. Mit aller Vorsicht ist dem Fragebogen vielleicht zu entnehmen, dass das Vertrauen zum Gesundheitssystem mit dem Alter der Befragten korreliert, in der Gruppe der 22-39jährigen ist es größer als in der Gruppe der 40-72jährigen; die älteren Befragten scheinen noch öfter auf Wissen jenseits autorisierter Experten zu vertrauen. Ansonsten kristallisieren sich wenige Unterschiede heraus, die Bereitschaft, täglich zu kochen, frische Lebensmittel zu verwenden, scheint z.B. unverändert hoch. Der deutlichste Unterschied besteht in der Nutzung des Fitnessstudios: keine Person in der Gruppe der 40-72jährigen nutzt diese Institution, während immerhin fast die Hälfte (sechs Personen) der 22-39jährigen (un-)regelmäßig hingehen. Gleichermaßen verblüffend und aufschlussreich erschien mir, dass die Abstinenz in sportlicher Betätigung in der Gruppe der 40-72jährigen damit begründet wird, kein Übergewicht zu haben. Als Selbstzweck haben die älteren MigrantInnen Sport offenbar »nicht auf dem Schirm«.
2 | Es kam nicht dazu, die Erfahrungen der Frauen in der Interviewsituation noch einmal gemeinsam in der Gruppe zu besprechen.
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Urban Studies bei transcript Andrea Baier, Christa Müller, Karin Werner
Stadt der Commonisten Neue urbane Räume des Do it yourself
Mai 2013, 232 Seiten, kart., 450 farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2367-3 Es ist nicht mehr zu übersehen: Eine neue Generation von Do-ityourself-Aktivisten nutzt die postfordistische Stadt als Labor für soziale, politische, ökologische und ästhetische Experimente. Ob im Gemeinschaftsgarten oder im FabLab, ob in Offenen Werkstätten oder bei Tausch-Events – überall hinterfragen die Protagonistinnen und Protagonisten das Verhältnis von Konsum und Produktion, problematisieren den Warencharakter der Dinge und des in ihnen eingeschlossenen Wissens. Dieser anspruchsvolle Bildband kombiniert visuelle Streifzüge durch die neuen urbanen Räume des Selbermachens mit anregenden Zeitdiagnosen. Die Beiträge veranschaulichen: Die jungen Urbanen setzen nicht auf Opposition, sondern folgen dem Bedürfnis nach ›echter Demokratie‹, indem sie (Atmo-)Sphären des Teilens und Tauschens schaffen. Sie praktizieren kollaborativen Konsum und bespielen den öffentlichen Raum nach Commonisten-Art.
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Kultur und soziale Praxis bei transcript Susann Huschke
Kranksein in der Illegalität Undokumentierte Lateinamerikaner/-innen in Berlin. Eine medizinethnologische Studie
Mai 2013, 416 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2393-2 Wie lebt es sich ohne soziale Absicherung? Anhand detaillierter Fallstudien ermöglicht diese Ethnographie Einblicke in die Lebenswelt und die Krankheitserfahrungen undokumentierter Lateinamerikaner/innen in Deutschland. Susann Huschke zeigt, wie Arbeitsmigrantinnen und -migranten ohne Aufenthaltsstatus ihren Lebensalltag ohne soziale Absicherung organisieren, und nimmt die Probleme und Lücken in der medizinischen Versorgung kritisch unter die Lupe. Das Buch wendet sich nicht nur an die Medizinethnologie und die Migrationsforschung, sondern auch an diejenigen, die in der Praxis mit Gesundheit, Migration und Illegalität befasst sind.
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März 2013, 254 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2006-1 Im Kontext der Gastarbeitsmigration sind unzählige transnationale Biographien und Lebensweisen entstanden. Wie aber nähert man sich ihnen aus soziologischer Sicht? Am Beispiel der griechischen Arbeitsmigration in Deutschland geht Irini Siouti den Transmigrationsprozessen in den Biographien der jüngeren, gut ausgebildeten Generation nach. Ihre biographieanalytische Studie erweitert das Forschungsfeld der Transmigration durch eine biographietheoretische Durchdringung des Transnationalisierungsphänomens.
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Multikulturalität in Europa Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft (unter Mitarbeit von Eva Onkels und Philip Röhr)
Dezember 2012, 234 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2096-2 Die »multikulturelle Gesellschaft« führt regelmäßig zu heftigen Reaktionen in der öffentlichen Diskussion. Für die einen Ausdruck einer Vision des bereichernden Zusammenlebens verschiedener Kulturen, ist sie für die anderen Symbol einer Gesellschaft ohne nationale Identität. Ein konfliktfreies multikulturelles Miteinander voller Harmonie scheint illusorisch. Realistisch ist jedoch der Anspruch, Chancen und Güter nicht nach ethnischen Kriterien zu verteilen. Eine gerechte Welt kann nur über Solidarität unter Gleichwertigen gestaltet werden – ohne Anschauung der ethnischen Zugehörigkeit. Der Band geht der Frage nach, wie dies gelingen kann. »Wer [...] an einer kritisch-analytischen und normativen Prüfung der Multikulturalität in Europa interessiert ist und den Problemhorizont ›Multikulturalität‹ aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet wissen will, findet in den vorliegenden Beiträgen gewiss zahlreiche Anregungen.« (Süleyman Gögercin, www.socialnet.de, 3 /2013)
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