Wie man ein Kind lieben soll: Hrsg. und mit einer aktuellen Einführung versehen von Sabine Andresen [17 ed.] 9783666711497, 9783525711491


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German Pages [336] Year 2018

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Wie man ein Kind lieben soll: Hrsg. und mit einer aktuellen Einführung versehen von Sabine Andresen [17 ed.]
 9783666711497, 9783525711491

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Janusz Korczak

Wie man ein Kind lieben soll herausgegeben von Sabine Andresen

Janusz Korczak

Wie man ein Kind lieben soll

Herausgegeben und mit einer aktuellen Einführung versehen von Sabine Andresen Mit der historischen Vorbemerkung von Elisabeth Heimpel und Hans Roos und einer Einleitung von Igor Newerly Aus dem Polnischen von Armin Droß 17., überarbeitete Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, 1967 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Jakob Steiger, Korczak-Porträt aus der Galerie der Aufrechten, www.jakobsteiger.de Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-71149-7

Inhalt

Wie liebt man Kinder – eine kindheitstheoretische Einordnung Janusz Korczaks  VII Sabine Andresen

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVII Elisabeth Heimpel und Hans Roos

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX Igor Newerly

Das Kind in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Das Internat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Sommerkolonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Das Waisenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Sabine Andresen

Wie liebt man Kinder – eine kindheitstheoretische Einordnung Janusz Korczaks

1.  Wie man ein Kind lieben soll? Ein in die Irre führender Titel Janusz Korczaks Gesamtwerk ist durch Intensität, Tiefe, Nachdenklichkeit und den lebenslangen Wunsch, den Rechten des Kindes zur Geltung zu verhelfen, geprägt. Für das damit verbundene literarische, wissenschaftliche, medizinische und pädagogische Engagement steht auch seine Schrift, die bei Vandenhoeck & Ruprecht unter dem Titel Wie man ein Kind lieben soll 1967 erstmals in deutscher Übersetzung erschienen ist. In der hier nun vorliegenden neuerlichen Auflage wird die von 1967 stammende zeithistorische Einleitung von Korczaks Weggefährten Igor Newerly durch eine an die jüngere Korczak-Forschung anschließende kindheitstheoretische Einordnung ergänzt. Die Tetralogie – Das Kind in der Familie, Das Internat, Sommerkolonien und Das Waisenhaus – befasst sich wegweisend mit der kindheitstheoretischen Frage, wie man in der Familie und in pädagogischen Institu­ tionen dem Allgemeinen des Kindes als Mensch und dem Besonderen des Kindes als Kind gerecht werden kann. Dieses Buch bahnte den Weg für die daran anschließenden kindheitstheoretischen und pädagogischen Arbeiten Korczaks. Doch der Titel der Übersetzung von 1967 führt etwas in die Irre: Wie man ein Kind lieben soll suggeriert, dass Korczak eine Art Rezept oder Regieanweisung erarbeitet und seinen Leserinnen und Lesern eine pädagogische Wahrheit vorgelegt haben könnte. Dabei sind sein gesamtes Nachdenken und Schreiben über Kinder, sein Beobachten und Messen von Kindern sowie seine Gespräche und Aktivitäten mit Kindern von der Haltung des schöpferischen Nichtwissens geprägt (Kirchner/ Andresen/Schierbaum 2018). Korczak blieb skeptisch gegenüber Vorschriften und versuchte sich selbst für konkrete Situationen offenzuhalten. Bereits auf der ersten Seite des Buches findet sich die Haltung des produktiven Zweifelns: »Ich ahne viele Fragen, die auf eine Antwort warten, Zweifel, die eine Erklärung suchen. Und ich antworte: Ich weiß nicht.« (in diesem Band, S. 1) 1 Korczak positioniert sich durchaus eindeutig für die Wahrnehmung des Kindes als vollwertigen Menschen und nicht als defizitäres Wesen, er argumentiert für die 1 Im Folgenden werden die Zitate aus diesem Buch nur mit der Seitenzahl angegeben.

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Anerkennung der Rechte des Kindes, und er kritisiert mit deutlichen Worten Diskriminierung und Machtmissbrauch durch Erwachsene gegenüber Kindern. Dies verleitet ihn jedoch nicht zu einer Sprache pädago­gischer Rezepte. Er lässt sich auch in der vorliegenden, für sein Werk zentralen erziehungstheoretischen Abhandlung nicht dazu hinreißen, ein für jedes Kind, in jedem Milieu und für jede Beziehungsdynamik passendes Erziehungskonzept zu versprechen. So verstanden beschreibt er keineswegs, wie man ein Kind lieben soll, sondern eröffnet uns als Leserinnen und Lesern Perspektiven auf die Qualität von Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen, auf die Gestaltung von Kindheit und auf eine Balancierung der unterschiedlichen Bedürfnisse von Kindern. Es finden sich sowohl Vorstellungen über die Autonomie von Kindern als auch über ihre Sehnsucht nach Fürsorge und Respekt. In Band IV der Sämtlichen Werke Korczaks, bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, ist die Tetralogie 1999 unter dem passenderen Titel Wie liebt man ein Kind veröffentlicht. Diese Übersetzung scheint der Intention Korczaks eher zu entsprechen und es liegt nahe, die vier Texte, die erstmals gemeinsam 1920 und 1929 in der zweiten und veränderten Auflage publiziert wurden, in diesem Duktus zu lesen. Mit dieser an die neuere Forschung anschließenden Problematisierung des Titels wird im Folgenden die kindheitstheoretische Einordnung in vier Schritten vorgenommen: Im zweiten Abschnitt geht es um eine Kontextualisierung der Publikation von 1967 unter dem Konzept der Zeugenschaft. Daran anschließend bettet drittens eine knappe biografische Verortung von Korczak und seinem Werdegang das vorliegende Buch in den Lebensweg und das Lebenswerk in gebotener Kürze ein. Im Rahmen eines DFG -Forschungsprojektes2 konnte der Beitrag Korczaks zur interdisziplinären Kindheitsforschung systematisch herausgearbeitet werden (Kirchner/Andresen/Schierbaum 2018). Dies wird sehr gestrafft im vierten Abschnitt vorgestellt. Der fünfte Abschnitt entfaltet bis heute aktuelle Schlüsselthemen der Tetralogie und soll so auch dazu verhelfen, Korczaks Gedankenwelt über das Kind zu verstehen. Schließlich geht es im letzten Kapitel um die Aktualität der Schrift.

2.  Die Bedeutung der Zeugenschaft 1967 lag Korczaks Ermordung und die der ihm anvertrauten jüdischen Kinder sowie seiner engen Kolleginnen und Kollegen 25 Jahre zurück. Die Schuld der Deutschen an der grausamen Ermordung von sechs Millionen europäischer Jüdinnen und Juden wurde immer noch weitgehend verdrängt, verleugnet und blieb im Eifer des Aufbaus der Bundesrepublik und der DDR tabuisiert. Viele nationalsozialistische 2 DFG AN 296/6-1, Leitung Sabine Andresen und Michael Kirchner, Laufzeit 5/2012-4/2014.

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Täter und Täterinnen waren in den Institutionen weiterhin beschäftigt, auch in Schulen, in der Heimerziehung, in den Kliniken und Psychiatrien. Viele wurden weder zur Rechenschaft gezogen noch wurden sie dazu aufgefordert, sich in ihrem Handlungsfeld aktiv von den Sichtweisen, Methoden und Praktiken des Nationalsozialismus zu distanzieren. Dies hatte auch in pädagogischen und sozialen Einrichtungen und für bestimmte Gruppen von Heranwachsenden erhebliche, teils existenzielle Folgen. Die bis heute nur schleppend vorankommende Aufarbeitung der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche etwa in den Heimen der 1950er- und 1960er-Jahre bezeugt, wie weit entfernt viele Menschen in Deutschland von der humanistischen und an der Würde und Integrität des Kindes orientierten Pädagogik Korczaks waren. Nur wenige Überlebende waren nach Deutschland zurückgekehrt, der erste Frankfurter Auschwitzprozess unter dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer fand von 1963 bis 1965 statt. Ein Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und der Aufbau einer Erinnerungskultur waren noch in weiter Ferne. Auch die Pädagogik hatte ihre eigenen ideologischen Verstrickungen im Nationalsozialismus und ihre Schuld an Diskriminierung, Grenzverletzung und Gewalt ausgeblendet. Angesichts dessen kann die Herausgabe einer zentralen Schrift Korczaks als wichtiger Meilenstein der (west)deutschen Bildungsgeschichte gedeutet werden. Fünf Jahre später, 1972, erhielt Janusz Korczak postum den Friedenpreis des deutschen Buchhandels.3 Wichtig für die Publikation war das Interesse des Verlages an weiterführenden Erziehungsvorstellungen. Diskussionen darüber fanden auch in der Zeitschrift Neue Sammlung statt. 4 Die promovierte Pädagogin Elisabeth Heimpel gab Wie man ein Kind lieben soll zusammen mit dem Historiker für polnische Geschichte, Hans Roos, heraus. Sie war als Erziehungswissenschaftlerin und Herausgeberin der Neuen Sammlung insbesondere an sozialpädagogischen Themen interessiert. Heimpel hatte bei Herman Nohl promoviert und stand in ihrer Studienzeit an der Universität Freiburg mit Martin Heidegger in einem engeren Austausch. Es ist wenig bekannt, welche Position sie als Wissenschaftlerin im Nationalsozialismus eingenommen und wie sie sich zum Rassismus und Antisemitismus verhalten hat (Weber-Reich 1983). Nach dem Krieg gehörte Heimpel zu einer Gruppe von Atomwaffengegnerinnen und -gegnern in der jungen Bundesrepublik und verstand sich offenbar als Pazifistin. Ihr Mitherausgeber, Hans Roos, hatte seinen Forschungsschwerpunkt in der polnischen Geschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Er beschrieb und analysierte 1959 für einen Handbuchartikel die nationalsozialistische Besatzungspolitik in Polen und benannte die damit verbundenen Verbrechen und Gewalttaten. 3 Die Laudatio wurde von Hartmut von Hentig gehalten. 4 Deren Einfluss und die Inhalte müssten auch angesichts der allmählich anlaufenden Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Odenwaldschule und anderen pädagogischen Einrichtungen dringend analysiert werden.

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Die inhaltliche Einordnung der Schrift nahm der polnische Pädagoge und Autor Igor Newerly vor. Diese Einleitung ist inzwischen selbst ein aufschlussreiches historisches Dokument. Newerly arbeitete einige Jahre eng mit Korczak zusammen und gab später in Polen dessen Schriften heraus. Seit seiner Jugend war Newerly politisch aktiv. Sein Blick auf Korczak und dessen Werk ist deshalb auch politisch geprägt. In diesem Sinne arbeitet er Korczaks politische Entwicklung heraus. Dieser sei zunächst als junger Akademiker von konspirativen oder öffentlichen Aktionen überzeugt gewesen und habe auf die Macht der Massen gehofft (Newerly, S. XXXII). Schließlich aber bekannte sich Korczak zu einer »entschieden unpolitischen Haltung« (ebd.). Laut Newerly habe Korczak bis zum Ende seines Lebens nie wieder Vertrauen in das Potenzial der Revolution gefasst und sich deshalb auf die Suche nach einem anderen »Thema seines Lebens« (S. XXXIII) gemacht. Insofern ließe sich zwischen der Abwendung von einer politischen Gestaltung der Gesellschaft hin zu einer pädagogischen Gestaltung der Kindheit durchaus ein Zusammenhang herstellen. Die Distanzierung von der Politik sei auch der Grund gewesen, so Newerly, warum Korczak von den kritisch linken Kräften seiner Zeit nicht anerkannt worden sei. Darüber hinaus passte aber auch sein Einsatz für eine bessere soziale und rechtliche Stellung des Kindes nicht zu den sozialistischen Vorstellungen des gesellschaftlichen Umbaus. Newerly liest Korczak dennoch auch als einen politischen Denker und folgt dieser Kritik der Linken nicht. Seine Einleitung betont den polnischen Widerstand gegen die russische Herrschaft, und daran war Korczak als Akteur etwa der Fliegenden Universität und als junger Autor beteiligt. So respektiert er zwar die Selbstzuschreibung Korczaks, unpolitisch zu sein, erkennt in dessen Engagement aber eine zutiefst humanistische und in diesem Sinne auch politische Haltung. Die Lektüre dieser inhaltlichen Verortung der Tetralogie bringt der Leserin und dem Leser heute zudem die Kritik Korczaks an der Medizin seiner Zeit nahe. Korczak prangerte an, dass die Wissenschaften, aber vor allem die Medizin, generell ihre Möglichkeiten, das Elend des Kindes zu beenden, nicht ausschöpfen würden. Dies verdeutlicht er wiederholt an den prinzipiellen Möglichkeiten medizinischer Versorgung und fordert sozialpolitisches Engagement von Ärzten. Durch Newerly wird auch die Bedeutung der Kriegseinsätze Korczaks für sein wissenschaftliches und pädagogisches Schaffen deutlich. Er arbeitet heraus, wie Korczak angesichts der Gewalt und des Leids im Ersten Weltkrieg zu der »Dominante seiner Existenz« (Ebd., S. XXXVIII), nämlich der guten Gestaltung von Kindheit, gefunden habe. Korczak verarbeitete seine Kriegserlebnisse vermutlich durch das Schreiben über Kinder und das Nachdenken über Kindheit. Dies ist in Wie man ein Kind lie­ ben soll repräsentiert: Der erste Text Das Kind in der Familie ist zwischen 1914 und 1918, Das Internat zwischen 1917 und 1918, Sommerkolonien 1918 und Das Waisen­ haus 1920 fertiggestellt. In der existenziellen Situation als Lazarettarzt an der Front

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verfasst Korczak folglich seine grundlegende erziehungstheoretische Schrift und findet in dieser Phase zu seinem biografischen Lebensthema. Dieses ist charakterisiert durch die Sorge um das Kind und das Ringen um eine gute Kindheit im Hier und Jetzt. Die Prinzipien Korczaks orientierten sich, das stellt auch Newerly heraus, an dem absoluten Wert der Kindheit als Lebensphase und dem Gebot der moralischen und physischen Gesundheit des Kindes. Igor Newerly berichtet als Zeitzeuge voller Wärme von Korczak, seinem Wesen, ihrer gemeinsamen Zeit, aber er spart auch die Thema­tisierung der Konflikte nicht aus. Mit dem heutigen Wissen über die Lebensverhältnisse im Warschauer Ghetto und auch über den Ghettoaufstand (Sznaider 2017), den Korczak nicht mehr miterlebte, ist Newerlys Bericht über sein letztes Zusammentreffen mit Korczak besonders eindrucksvoll. Er habe ihm, so Newerly, im August 1942 einen gefälschten Passierschein ins Ghetto gebracht. »Er [Korczak, san] lehnte ab. Mehr noch, er war überrascht. Er hatte ganz einfach nicht von mir erwartet, dass ich ihm einen so nichtswürdigen Vorschlag unterbreiten werde – die Kinder angesichts des Todes im Stich zu lassen!« (Ebd., S. XLVIII) In seiner Einleitung, dieser historischen Quelle eigenen Werts, zitiert Newerly, der die Ghetto-Tagebücher Korczaks erhalten und veröffentlicht hat, dessen letzten, sehr zu Herzen gehenden Eintrag: Dieser beinhaltet Korczaks Bekenntnis, dass er selbst angesichts des Ghettos keinem Menschen etwas Böses zu wünschen vermöge. Korczaks Verhältnis zu den Menschen und seine Empathie scheinen in den wenigen Sätzen durch. Er fragt sich, was in dem deutschen Wachposten an der Begrenzung des Ghettos vorgehen mag, während er ihn, den alten Mann, beim Blumengießen beobachtet. Newerly greift dies auf und beschreibt seine eigenen Erfahrungen mit der Internierung in Majdanek, Auschwitz, Oranienburg und Bergen-Belsen und seine Strategie zu überleben. Er habe immer wieder in seinen Gedanken mit Korczak diskutiert, um dem Grauen, das ihm umgab, etwas entgegensetzen zu können. Mit diesen persönlichen Erinnerungen legt Newerly als Überlebender Zeugnis ab und übernimmt eine Verantwortung dafür, dass Korczak, Stefania Wilczynska sowie weitere Kolleginnen und Kollegen und schließlich die mit ihnen gemeinsam deportierten und ebenfalls ermordeten Kinder nicht vergessen sind. Zeugnis abzulegen erhält nach Auschwitz die Dimension, Menschen, ihr Leid und das ihnen von Menschen zugefügte Unrecht dem drohenden Vergessen zu entziehen. Primo Levi hat dies einzigartig in seinem 1963 auf Italienisch erschienenen autobiografischen Roman La tregua, in deutscher Übersetzung Die Atempause (Levi 72010, erstmals erschienen 1994) zum Ausdruck gebracht. Er erzählt von Hurbinek, einem Kind in Auschwitz: »Hurbinek, drei Jahre alt und vielleicht in Auschwitz geboren; Hurbinek, der nie einen Baum gesehen hatte und der bis zum letzten Atemzug gekämpft hatte, um Zutritt in die Welt der Menschen, aus der ihn eine

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bestialische Macht verbannt hatte, zu erhalten; Hurbinek, der Namenlose, dessen winziges Ärmchen doch mit der Tätowierung von Auschwitz gekennzeichnet war – Hurbinek starb in den ersten Tagen des März 1945, frei, aber unerlöst. Nichts bleibt von ihm: Er legt Zeugnis ab durch diese meine Worte.« (Levi 2010, S. 21)5 Das Anliegen, für Korczak, seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter und für die Kinder, Zeugnis abzulegen, wird auch in dem von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann ebenfalls 1999 als Ergänzungsband der Sämtlichen Werke (Gütersloher Verlagshaus) herausgegebenen Band Janusz Korczak in der Erinnerung von Zeitzeugen. Mitarbeiter, Kinder und Freunde berichten (Beiner/Ungermann 1999a) deutlich. Auch in diesen teilweise sehr persönlichen Erinnerungen werden Korczaks Erziehung, seine Persönlichkeit, der Alltag mit ihm und ganz individuelle Erlebnisse in den beiden Heimen so eindrücklich beschrieben wie bei Newerly. Vor allem anhand dieser Zeugnisse wird aber zudem das Wirken und die Haltung von Stefania Wilczynska sichtbar. Sie war vermutlich kaum weniger wichtig für den gesamten Arbeitsprozess und das Lebenswerk von Korczak. Es würde sich zweifellos lohnen, ihren Beitrag noch einmal vertieft auch in einer deutschsprachigen Diskussion herauszustellen.6 Wie Newerly erinnern sich einzelne Zeuginnen und Zeugen an die Deportation, den letzten Weg in die Waggons vor dem Abtransport nach Treblinka. Zusammen mit den Stimmen dieser Zeitzeuginnen und -zeugen geht die Einleitung von Igor Newerly in eine »chorische Zeugenschaft« ein.7 Newerlys Text hat somit über die thematische Einordnung des Werkes hinaus die Bedeutung des Zeugnisses. Dieses kann durch eine neue Einführung nicht ersetzt werden. Es steht für sich selbst.

3.  Biografie und Kontext Janusz Korczak Geburtsname war Henryk Goldszmit. Als Sohn assimilierter jüdischer Eltern kommt er am 22. Juli 1878 oder 1879 in Warschau, dem damaligen Kongresspolen, in einer vom Geist der Aufklärung geprägten, jüdischen Familie 5 Giorgio Agamben (2013) beschreibt in Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, dass ein Gesamtbild der Vernichtung der Juden durch die Forschung vorliegen würde. »Ganz anders verhält es sich dagegen mit der ethischen und politischen Bedeutung der Vernichtung oder selbst mit dem menschlichen Begreifen des Geschehens – letztlich also seiner Aktualität.« (ebd., S. 7) Davon ausgehend fragt er nach der Zeugenschaft im Sinne dessen, »dem Ungesagten zuzuhören« (ebd., S. 9). 6 Stefania Wilczyn´ska wurde 1886 geboren und war eine der ersten studierten Pädagoginnen ihrer Zeit. Sie studierte in Warschau und Lie`ge (Belgien). Es ist davon auszugehen, dass sie nicht nur an der praktischen Arbeit mit den Kindern beteiligt war. Sie teilte vermutlich auch viele konzeptionelle Überlegungen Korczaks. 7 Die Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels von 2013, Swetlana Alexijewitsch, verfolgt diese chorische Zeugenschaft in ihrer literarischen Arbeit etwa in dem Buch Die letzten Zeugen.

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zur Welt. Er wächst in den ersten Jahren zusammen mit seiner Schwester in einem wohlhabenden Milieu auf, was sich nach dem frühen Tod des Vaters ändert, weil die Familie daraufhin verarmt. Nach dem Abitur studiert Korczak von 1898 bis 1905 in Warschau Humanmedizin an der russischsprachigen Kaiserlichen Universität, aber insbesondere, darauf verweist auch Newerly, an der Fliegenden Universität. Hier studiert er nicht nur in der polnischen Sprache, sondern kommt mit neuen Ideen und interessanten Intellektuellen zusammen, und er beginnt sich intensiver mit anderen Fächern zu befassen. Eine frühe Erfahrung ist seine pädagogische Praxis in den Sommerkolonien, den mehrwöchigen Freizeiten für arme und/oder kranke Kinder. Der dritte Text in dem vorliegenden Werk basiert auf diesen Erfahrungen (Kirchner/Andresen/Schierbaum 2018). Nach Promotion und Approbation lässt er sich in Warschau zum Kinderarzt ausbilden und ist kontinuierlich als Autor tätig. Bekannt machen ihn die Werke Kinder der Straße (Korczak 1901/1996) und Kind des Salons (Korczak 1904/06/1996) sowie Sozialreportagen. Die Reportagen machen seine Sensibilität für soziale Missstände sichtbar. In diese Phase fällt auch ein längerer Auslandsaufenthalt, der ihn nach Berlin und Paris führt: »Das Berliner Krankenhaus und die deutsche medizinische Literatur lehrten mich, über das nachzudenken, was wir wissen, und langsam und systematisch vorzugehen. Paris lehrte mich, über das nachzudenken, was wir nicht wissen, aber wissen wollen, müssen und werden. Berlin, das war ein Arbeitstag voller kleiner Sorgen und Bemühungen; Paris, das war der Feiertag eines künftigen Morgens mit seinem glänzenden Vorgefühl, seiner machtvollen Hoffnung und seinem unerwarteten Triumph. Willenskraft, den Schmerz der Unwissenheit, die Lust des Forschens schenkte mir Paris. Die Technik der Vereinfachung, die Erfindungsgabe im Kleinsten, die Ordnung der Details – brachte ich aus Berlin mit. Die große Synthese des Kindes – davon träumte ich, als ich in der Pariser Bibliothek, mit vor Erregung gerötetem Gesicht, die eigentümlichen Werke der klassischen französischen Kliniker las.« (Korczak 1999a, S. 201) 1909 wurde Korczak erstmals zum Kriegsdienst eingezogen, eine Erfahrung, die sich 1914 und 1919 wiederholen sollte. Das Jahr 1912 ist ein entscheidender Wendepunkt in seinem Leben, denn Kor­ czak wechselt gewissermaßen die Profession, indem er die Leitung des Waisenhauses Dom Sierot übernimmt. Fortan verknüpft er das Medizinische mit dem Pädagogischen. Beim Dom Sierot handelt sich um ein Waisenhaus mit Internat für ca. 100 jüdische Kinder, meist Sozialwaisen. Vor allem im engen Kontakt und in der Zusammenarbeit mit seiner Kollegin Wilczyn´ska schuf er eine konsequent an den

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Rechten des Kindes orientierte Einrichtung, in der die Selbstverwaltung der Kinder zentral war. Ergänzend zu den päda­gogischen Strukturen errichtet er in den Zwanzigerjahren im Dom Sierot außerdem eine sogenannte Burse, die Studierenden der Päda­gogik die Möglichkeit bieten sollte, unter der fachlichen Betreuung von Korczak und Wilczyn´ska praktische pädagogische und sozialpädagogische Erfahrungen zu sammeln und diese gemeinsam zu reflektieren. Das Waisenhaus eröffnete ihm täglich die Möglichkeit der forschenden Beob­ achtung von Kindern, und diese nutzte er und sammelte so nicht nur sehr viel Material, sondern auch ganz unterschiedliche methodische Erfahrungen (Kirchner/Andresen/ Schierbaum 2018). Er führte viele Gespräche mit Kindern und spürte ihrem Erleben, Fühlen und Denken nach. In den 1920er-Jahren übernahm er in Warschau auch noch eine weitere Mitarbeit in dem von der Polin Maria Falska – sie war ausgebildete Lehrerin und aktive Sozia­listin – geleiteten Waisenhaus Nasz Dom, einem Internat für polnische Sozialwaisen. Hier sammelt er auch sein reformpädagogisches Wissen, das vor allem in dem Buch Schule des Lebens (1907/08/2002b) veröffentlicht wird. Außerdem veröffentlichte er u. a. König Macius´ der Erste und König Macius´ auf der einsamen Insel (1923) und Das Recht des Kindes auf Achtung (1928) sowie wichtige Essays zur Pädagogik und Sozialpädagogik. Was von Korczaks Werk gerettet wurde, umfasst in der deutschen Gesamtausgabe 15 Bände mit jeweils zirka 400 Seiten.

4.  Zur kindheitstheoretischen Lektüre8 Im Rahmen eines DFG -Forschungsprojektes wurde der Beitrag Korczaks zu bis heute relevanten Fragen nicht nur der erziehungswissenschaftlichen Forschung, sondern vor allem auch der Kindheitsforschung untersucht (Kirchner/Andresen/ Schierbaum 2018). Korczaks programmatische, theoretische, methodische und ethische Perspektiven zur Erforschung von Kindern sind hierfür in den Blick genommen worden. In der Tetralogie ist bereits sehr vieles von dem enthalten, was auch später Kern seiner Arbeit und Reflexion bleiben wird. Dazu gehört das methodische und zugleich normative Bekenntnis zur möglichst vorurteilsfreien Beobachtung des Kindes in seinen sozialen und räumlichen Gegebenheiten. Nicht zuletzt angesichts des starken und wiederkehrenden Plädoyers für die Beobachtung und die daran anschließende dichte Beschreibung ist Korczaks Herangehensweise als eine phänomenologische zu bezeichnen. Davon ausgehend entfaltete er theoretische und ethische Anschlüsse an die Kindheitsforschung. Wichtig ist zudem die von dem Zürcher Bildungshistoriker Jürgen Oelkers herausgearbeitete 8 Dieser Abschnitt speist sich maßgeblich aus Kapitel 4 der Studie von Kirchner/Andresen/ Schierbaum 2018.

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Skepsis Korczaks gegenüber pädagogischen Machbarkeitsphantasien. Ähnlich wie 1925 der psychoanalytisch geschulte Kindheits- und Jugendforscher Siegfried Bernfeld betonte Korczak den Eigenwillen des Kindes und seine Unverfügbarkeit auch angesichts der bestmöglichen Pädagogik. Es geht hier um eine Sensibilisierung für die Tatsache, dass Erziehung scheitern kann, weil Kinder nicht programmierbar sind. Zum Glück für die Menschheit könne man, so Korczak, Kinder nicht dazu zwingen, erzieherischen Einflüssen nachzugeben. Welche Bezüge aus Korczaks Themen, Überlegungen, Erfah­rungen und Diskussionen lassen sich zur Kindheitsforschung herstellen? Rolf Göppel (2007) hat Korczak aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive in den Kontext der zeitgenössischen Forschung zu Kindern und Kindheit gestellt – und deutete die Ansätze zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als eine Art »Anfang« der interdisziplinären wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Aufwachsen, als Kinderforschung. Dieser Forschungs- und Diskussionszusammenhang erhielt 1906 auf dem Kongress für Kindheitsforschung in Berlin eine erste wichtige Plattform. Die Akteurinnen und Akteure kamen aus der Medizin, der Pädagogik und Heilpädagogik und der Psychologie. Die im Rahmen des Kongresses publizierten Vorträge u. a. von Theodor Ziehen, William Stern oder Adolf Baginsky bieten heute einen guten Überblick über den Stand der Forschung und Diskussion, auf die Korczak bei seinem Aufenthalt in Berlin 1907 gestoßen sein muss. Was diese auch international zu beobachtende wissenschaftliche Aktivität unter dem Label Kinderforschung einte, war das Interesse an der Entwicklung von Kindern, ihren geregelten Verläufen und Abweichungen. Besonders die Sorge um spezifische Fehlentwicklungen oder Risiken des Aufwachsens waren relevant und gingen mit Bemühungen um eine bessere Gestaltung der kindlichen Umwelt in Familie oder Schule sowie mit neuen pädagogischen Ideen einher. Dabei entfaltete sich vor allem in der Psychologie ein breiteres Repertoire an methodischen Herangehensweisen. Die Methoden der Beobachtung, Beschreibung und Dokumentation kindlicher Entwicklung und der Aktivitäten von Heranwachsenden, sei es in Form von Tagebüchern der Eltern oder in Form von Dokumentationsbögen, bildeten den Kern dieser Forschungsbemühungen. Insofern lässt sich Korczaks Credo der Beobachtung und phänomenologischen Herangehensweise in diesen Kontext verorten. Korczaks programmatischer Beitrag zu einer Kindheitsforschung lässt sich in einem ersten Zugang mit der von ihm variationsreich eingesetzten Vorstellung beschreiben, dass es keine Kinder, sondern nur Menschen gebe. Bereits 1899 hatte er geschrieben: »Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind es bereits« (Korczak 1899/2004, S. 50). Den Status des Kindes in Opposition zum Status des Menschen zu bringen, wird kategorisch problematisiert und mit Machtinteressen von Erwachsenen in Verbindung gebracht. Hier arbeitet sich Korczak auch an

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Erziehungsvorstellungen von Eltern und den Zugriffswünschen der Pädagogik insgesamt ab. Das Kind ist bereits vor jeder Erziehung ein Mensch und wird nicht erst durch Erziehung zu einem solchen. Diese Haltung und Programmatik drücken sich vor allem in der Magna Charta Libertatis, in den drei Grundrechten des Kindes, die 1929 durch das Das Recht des Kindes auf Achtung erweitert werden, aus: »Ich fordere die Magna Charta Libertatis als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch weitere, ich aber habe diese drei Grundrechte herausgefunden: 1.  Das Recht des Kindes auf seinen Tod. 2.  Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag. 3.  Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist.« (S. 31) Mit dem Einstehen für die Überzeugung, dass es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen gebe, gehen die in den Grundrechten ausformulierten Dimensionen von Gegenwartsorientierung und Individualität jenseits von Erziehung einher. Das Recht des Kindes auf den Tod formuliert der Kinderarzt Korczak in einem dialektischen Sinne, verurteilt er doch die aus Furcht resultierende Einstellung gegenüber dem Kind, die ihm primär das eigene lebendige Leben verweigere: »Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben; um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben.« (S. 34). Aus der Geringschätzung der Gegenwart des Kindes, sei es in der elterlichen Erziehung, der institutionellen Pädagogik, der Medizin oder auch der Wissenschaft, resultiere auch eine Verachtung des Kindes an sich und seiner Mühen beim Wachsen, was eine Bürde ohne Rechte sei. Dabei verurteilt Korczak auch eine Art hermeneutische Bequemlichkeit der Erwachsenen: »Warum sollte denn das »Heute« des Kindes schlechter und wertloser als sein »Morgen« sein?« (S. 34) Der Umgang mit dem Kind richte sich auf festgelegte Entwicklungsschritte, Besitzansprüche vor allem der Mütter und einseitige Erwartungen an das Kind. Insbesondere die Kritik Korczaks an Entwicklungstheorien ist aufschlussreich, weil er sich mit der sich etablierenden psychologischen Forschung kritisch auseinandersetzt und auf Distanz zu den von Göppel diskutierten, psychologisch argumentierenden Akteurinnen und Akteuren der zeitgenössischen Kindheitsforschung geht. Als kindheitstheoretische Annäherung an Korczak lässt sich die Spannung zwischen der Angewiesenheit und Verletzlichkeit des Kindes und dem Anspruch auf Eigenständigkeit, Individualität sowie auf Handlungsspielräume rekonstruieren. Korczaks systematischer Zugang erschließt sich über solche Spannungsverhältnisse, die er offensiv thematisiert und Widersprüchliches nicht harmonisiert. Vor allem verhandelt er das spannungsreiche Verhältnis der Fähigkeit zur Autonomie

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und der Anerkennung von Abhängigkeit und Verletzlichkeit aufseiten des Kindes. Damit verbunden ist das Verhältnis von Rechten und Bedürfnissen in der generationalen Ordnung, dabei können den Rechten der Kinder durchaus entgegengesetzte Bedürfnisse von Erwachsenen entgegenstehen. Darauf macht Korczak aufmerksam. Zur Charak­terisierung der Unterschiede zwischen beiden »Gruppen« zieht er den Erfahrungsbegriff heran. Seine systematische Reflexion zielte auf die Spannung zwischen Kindern und Erwachsenen – einerseits mit Blick auf ein Auseinanderfallen von Bedürfnissen und Ansprüchen von Kindern und den für sie sorgenden Erwachsenen und andererseits im Begriff der Erfahrung. Ihn nutzte Korczak, um einen prinzipiellen Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem nicht nur programmatisch, sondern auch systematisch zurückweisen zu können. Ausschließlich die Qualität und die Anzahl der Erfahrungen, die sich im Laufe des Lebens ergeben und nicht von vornherein da sind, rechtfertigten eine Unterscheidung der Lebensalter. Wie Korczak auch auf die evolutionstheoretische Diskussion rekurriert und dabei fragt, ob erworbene, also erfahrene Eigenschaften vererbt werden, wovon Darwin überzeugt war, soll hier nicht weiter untersucht werden. Wichtig ist, dass Korczak die neuere Forschung dazu durchaus im Blick hatte und diese kindheitstheoretisch zu deuten verstand: »Im Bereich der Instinkte fehlt ihm [dem Kind, san] nur einer [gemeint ist der Fortpflanzungsinstinkt, san], das heißt, er ist vorhanden, aber noch uneinheitlich, wie eine Nebelwand erotischer Vorahnungen. Seine Gefühlswelt ist mächtiger als unsere, weil sie noch durch keine Hemmungen eingeschränkt ist. Im Bereich des Intellekts kommt es uns zumindest gleich, es fehlt ihm nur die Erfahrung.« (S. 58) Der Mangel an Erfahrung aufseiten des Kindes macht vor allem die Verantwortung des Erwachsenen für das Kind und die Gestaltung von Kindheit notwendig und es lässt sich daraus auch der Schutzgedanke grundlegend ableiten, denn hilflos sei das Kind wegen mangelnder Erfahrungen (S. 58). Allerdings markiert Erfahrung nicht nur die zentrale Differenz, sondern auch die Relationalität der generationalen Ordnung, die aber, so Korczaks Diagnose, ausgeblendet werde und möglicherweise zu den Diskriminierungen des Kindes durch die Erwachsenen mit beitrage. Im weiteren Fortgang dieser Überlegungen formuliert er die Wirkung der Machtlosigkeit aus: »Daher ist der Erwachsene so oft ein Kind und das Kind wiederum ein erwachsener Mensch. Der ganze Unterschied beruht im Übrigen darauf, dass es keinem Verdienst nachgeht und dass es zum Nachgeben gezwungen ist, weil wir [die Erwachsenen] für seinen Unterhalt sorgen.« (S. 58)

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Dies ist eine provokative Wendung, aber sie regt auch heute zum Nachdenken darüber an, warum Erwachsene unhinterfragt Privilegien genießen.

5.  Janusz Korczaks Schlüsselthemen zum Leben mit Kindern In allen vier Teilen aus Wie man ein Kind lieben soll (Wie liebt man ein Kind) wird deutlich, dass für Korczak das Kind Ausgangspunkt des Nachdenkens über Erziehung, über Rechte und ihre Umsetzung, aber auch über Erwachsene war. Im Kind bündeln sich die prinzipiellen Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen und die empirischen Beschränkungen, denen der Mensch an sich aufgrund seiner spezifischen Umwelt stets ausgeliefert ist. Das heißt, Korczak legt mit seinen Beobachtungen und daran anschließenden Analysen den Blick auf die Bedingungen menschlichen Daseins frei. Dies konsequent am Kind zu thematisieren, sensibilisiert schließlich insbesondere für die Verletzlichkeit des Menschen an sich. Gerade im Kind kommen verschiedene sozial bedingte Erscheinungsformen, die Abhängigkeit, Ohnmacht und Missachtung verstärken (Andresen/­Koch/König 2015), zusammen. So vereinigt beispielsweise ein jüdisch polnisches Mädchen in einem Waisenhaus im russisch besetzten Polen in sich die Erfahrungen von Diskriminierung als Jüdin, Polin, als Kind ohne (schützende) Familie, in einem besetzten Land und es erfährt Geringschätzung als Kind in der Machtordnung der Generationen. Auf diesen Zusammenhang macht Korczak immer wieder aufmerksam und fragt nach den daraus resultierenden Folgen für das Kind. In seinen Schriften verbindet er die phänomenologische Beschreibung und Analyse der Verletzlichkeit des Kindes mit der Identifikation besonders verletzlich machender Strukturen. Dies ist die Perspektive auf eine am Kind orientierte Gestaltung von Kindheit. Die in diesem Abschnitt vorgestellten Schlüsselthemen geben Hinweise auf diejenigen Aspekte, für die Erwachsene die Verantwortung tragen und an denen sich bis in die Gegenwart hinein Handlungsbedarf zeigt, um Marginalisierung und Abwertung von Kindern gegenüber Erwachsenen zu unterbinden und sicherzustellen, dass die Anliegen der Kinder mindestens ebenso gewichtet werden wie die der Erwachsenen. Korczak entwickelt seine Schlüsselthemen am Alltag mit Kindern. Auch dafür ist die Tetralogie Beispiel gebend und bedeutsam für sein Gesamtwerk. Er betrachtet das Kind in den verschiedenen »Umwelten«, den Institutionen Familie, Internat, Sommerkolonie und Heim, und fragt dabei auch nach Entwicklungsschritten. Korczak verfügt nicht nur über eigene praktische Erfahrungen – auch wenn er selbst keine Familie gründete, so ist er doch in einer Familie aufgewachsen –, sondern er prüft gewissermaßen die spezifischen Risiken für Kinder und legt damit die Spur zur besseren institutionellen Gestaltung von Kindheit. Er erinnert folglich bis heute das Fachpersonal in Internaten oder in der Heimerziehung und selbstverständlich auch

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die ehrenamtlich Tätigen in der Ferienbetreuung daran, die strukturellen oder konzeptionellen Schwachstellen der eigenen Einrichtung nicht zu übersehen. Gegenwärtig werden genau in diesem Verständnis pädagogische Institutionen dazu aufgefordert, Schutzkonzepte zu entwickeln, um präventiv gegen Grenzverletzungen und Gewalt wirksam vorgehen zu können. Eine damit verbundene Herausforderung ist die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen, um ihre Perspektiven und Erfahrungen zu berücksichtigen. Auch das ist eine der grundlegenden Forderungen von Janusz Korczak an pädagogische Einrichtungen. Die Aussage, er betrachte alles konsequent ausgehend vom Kind, schließt jedoch eine Einbeziehung der Erwachsenenposition keineswegs aus. Im Gegenteil entfaltet sich die soziale Position des Kindes oft erst im Verhältnis zu der des Erwachsenen in der Familie, der Schule oder in der Heimerziehung. Korczaks Schrift erinnert daran, dass nicht nur Kinder existenziell auf Erwachsene angewiesen sind, weil sie der Fürsorge, Pflege und Liebe bedürfen, sondern auch Erwachsene ihren sozialen Status verlieren würden ohne Kinder. Daran anschließend arbeitet Kor­ czak – ohne sich ausdrücklich auf die Psychoanalyse zu beziehen (er kannte die Arbeiten von Freud) – heraus, dass die Biografie eines Menschen vom Verlauf der Kindheit geprägt sei. Die im Erwachsenwerden erfolgende Aufschichtung von Erfahrungen mache letztlich den Unterschied zum Kind aus. Erfahrungen an sich, so seine kritische Diskussion, rechtfertigten allerdings keine Höherwertigkeit des Daseins [s. Abschnitt 4]. Blickt man aus der kindheitstheoretischen Perspektive auf sein Werk, so lassen sich verschiedene Schlüsselthemen identifizieren. In diesen verarbeitet er die Spannung zwischen den prinzipiellen Ressourcen des Menschenkindes und seiner spezifischen Verletzlichkeit als Kind. Er stellt somit die Frage nach dem Verhältnis von Menschenrechten und Kinderrechten. In diesem Verständnis sind die Forderung nach Gewaltfreiheit, die Bereitschaft, Kindern zuzuhören und ihnen zu glauben, echtes Interesse am Kind und die Fragen nach dem Vertrauen in Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen grundlegend für Korczaks Werk. Sie sind bis heute zu beachten. ȤȤ Gewalt in der Erziehung »Die vier Wände des Elternhauses, der Schule, des Internates bergen düstere Geheimnisse. Manchmal werden sie für einen Augenblick durch das Blitzlicht eines Skandals sichtbar. Und dann herrscht wieder Dunkelheit. In der gesetzlich sanktionierten Vergewaltigung, die unsere Erziehung an den Seelen der Kinder begeht, in der Unfreiheit und der unanfechtbaren Herrschaft der Erwachsenen sind notwendigerweise auch Willkür und Verbrechen verborgen:« (S. 136)

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Diese thematische Perspektive auf Gewalt in der Erziehung und die Möglichkeit willkürlichen Handelns durch Erwachsene stammt aus Das Internat. Seit 2010 gibt es ein deutlicher ausgeprägtes Bewusstsein für Gewalt, insbesondere auch sexualisierte Gewalt, gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Einrichtungen. Die Ächtung von Gewalt in der Erziehung und als Mittel der Pädagogik ist eine neue Errungenschaft. Erst seit dem Jahr 2000 ist das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung im Zivilrecht der Bundesrepublik verankert (Andresen 2018). Zu Korczaks Zeiten gab es zwar durchaus kritische Perspektiven auf gewaltförmige Erziehung etwa in der Auseinander­setzung mit erzieherischem Sadismus (Hagner 2012), aber insgesamt gehörten Schläge und andere Formen der Erniedrigung vermutlich zum Alltag vieler Kinder. In der vorliegenden Tetralogie bringt Korczak den Leserinnen und Lesern eine Sicht nahe, die erstens die Würde des Kindes stark gewichtet und die Wahrung seiner Integrität, dann aber zweitens auf die strukturelle Anfälligkeit für Gewalt in bestimmten Institutionen aufmerksam macht. In dem obigen Zitat spielt er darauf an, dass gerade Institutionen mit einem relativ geschlossenen System und wenig Einblick von außen strukturelle Gefahren für Kinder und Jugendliche bergen. Es gibt inzwischen zahlreiche Belege für die Gewaltförmigkeit von geschlossenen Institutionen. Korczak blendet jedoch nicht die Familie als Tatort von Gewalt gegen Kinder aus. An verschiedenen Stellen macht er diese zum Thema. Neben den Pädagoginnen und Pädagogen versucht er stets auch die Mütter und Väter zu ermuntern, Erziehung ohne Gewalt zu praktizieren und sie für die Verletzlichkeit von Kindern zu sensibilisieren. Dabei blendet er nicht aus, – auch den eigenen Alltag vor Augen – dass das Leben mit Kindern zu aufreibenden Situationen führen kann, weshalb er die Herausforderung einer gewaltfreien Form von Erziehung auch benennt. Der Anspruch Korczaks findet seinen charakteristischen Ausdruck, nachdem das Waisenhaus ins Warschauer Ghetto umziehen musste. Auch unter den widrigsten Bedingungen hielt er an den Prinzipien seiner humanistischen Päda­gogik fest. ȤȤ Kindern zuhören »Hör dir die Klagen der Kinder genau an und geh ihnen auf den Grund, und du wirst Mittel und Wege finden, manchem Übelstand abzuhelfen und manchen Klägern Genugtuung zu verschaffen.« (S. 150) Das Schlüsselthema »Kindern zuhören« lässt sich ebenfalls im Lichte der gewaltfreien Erziehung diskutieren. Korczak beobachtet sehr genau, dass es eine mangelnde Bereitschaft aufseiten der Erwachsenen zu geben scheint, sich mit den Erlebnisberichten von Kindern, insbesondere wenn sie negative Erfahrungen enthalten, zu befassen. Diese Verweigerung, Kindern zuzuhören und »echtes« Inte­

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res­se zu zeigen, kann mit strukturellen Defiziten – etwa Zeitmangel – zusammenhängen, mit dem Unwillen, etwas genau wissen und in Erfahrung bringen zu wollen, was ein Kind beschäftigt, oder aber mit eigenen Ängsten und Schuldgefühlen. Berichtet das Kind von Gewalt, vielleicht sogar von sexualisierter Gewalt, so kommen Erwachsene in die Situation, handeln zu müssen, und oft wissen sie nicht, wie sie dem Kind helfen können und wo sie selbst Beratung und Unterstützung erhalten. Bis heute machen deshalb junge Menschen die Erfahrung, dass ihnen nicht zugehört wird, dass ihr Wort weniger zählt und ihre Veränderungsvorschläge selten aufgegriffen werden. Insofern handelt es sich hier um ein ganz aktuelles Thema im Generationenverhältnis. ȤȤ Kindern glauben »Für einen gewissenlosen oder unfähigen Erzieher ist es bequem, nicht zu wissen, was unter den Kindern vorgeht; er nimmt ihre Streitigkeiten nämlich gar nicht ernst, und er vermag sie nicht vernünftig zu beurteilen.« (S. 149) Insbesondere wenn Kinder und Jugendliche von sexuellen Übergriffen und Gewalt berichten, haben sie in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass ihnen nicht geglaubt wurde. Darauf zielt auch der Vorwurf Korczaks, ein gewissenloser Erzieher oder eine Erzieherin sei bequem, denn er bzw. sie will die Wahrheit des Kindes nicht hören und darauf reagieren müssen. Glauben schenken gerade dann, wenn Kinder sich besonders verletzlich erleben, ist bis heute zentral, damit Kinder nach erfahrener Gewalt wieder ein Gefühl der Sicherheit und Zugehörigkeit empfinden können. ȤȤ Kinder wertschätzen und ernst nehmen »Ein Kind denkt nicht weniger, nicht ärmlicher, nicht schlimmer als die Erwach­ senen, es denkt nur anders. In unserem Denken sind die Bilder verblichen und zerrissen, die Gefühle dumpf und verstaubt. Ein Kind denkt mit dem Gefühl, nicht mit dem Verstand. Darum ist es so schwierig, sich mit ihm zu verständigen, deshalb gibt es keine schwerere Kunst, als zu Kindern zu sprechen.« (S. 233) »Wie oft sind wir einem Kinde ähnlich, das der Katze ein Schleifchen umbindet, ihr eine Birne anbietet und Bilderchen zum Ansehen gibt – dann aber sich wundert, dass die nichtsnutzige Katze taktvoll zu entweichen trachtet oder in der Verzweiflung die Krallen gebraucht.« (S. 65) Das erste Zitat stammt aus Das Waisenhaus und ermuntert dort tätige Erwachsene, respektvoll mit Kindern das Gespräch zu suchen. Bereits die Magna Charta Libertatis hat verdeutlicht, dass es Korczak um die Wertschätzung des Kindes als Sub-

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jekt mit Rechten und berechtigten Ansprüchen geht sowie um die Anerkennung der Lebensphase Kindheit, die im Vergleich zur Erwachsenenphase nicht minderwertig sei. In dem zweiten ausgewählten Zitat aus Das Kind in der Familie wird darüber hinaus eine Erziehungspraktik problematisiert. Die mangelnde Achtung vor dem Kind und der Ernsthaftigkeit seines Daseins führt zu einer Verniedlichung. Diese wird dem Kind nicht gerecht und führt zu fragwürdigen Umgangsformen und schwierigen Beziehungen. Ein Kind wie eine Puppe oder wie ein Haustier zu behandeln, ist eine Wurzel für Konflikte in der Familie. Deutlich wird im Zitat ebenfalls, dass Korczak versuchte, Prozesse und Dynamiken der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen in den Blick zu nehmen. ȤȤ Vertrauen und Verantwortung »Auch dann, wenn es nicht oder nur bedingt vertraut, weil man es schon oftmals getäuscht hat, ist es gezwungen, sich an die Weisungen der Erwachsenen zu halten – ebenso wie ein unerfahrener Arbeitgeber einen unredlichen Arbeiter dulden muss, weil er ohne ihn nicht auskommen kann, und wie ein Gelähmter die Hilfe eines barschen Pflegers annehmen und seine Launen ertragen muss.« (S. 60 f.) Für gelingende Beziehungen ist Vertrauen ein zentraler Indikator. Gerade im Prozess des Aufwachsens sind Kinder darauf angewiesen, dass sie von Menschen umgeben sind, bei denen sie sich sicher fühlen, weil sie darüber auch ein Grundvertrauen in sich selbst und ihre Umwelt entwickeln. Hat ein Kind – und Korczak hat das Misstrauen der Kinder oft beschrieben – schlechte Erfahrungen gemacht, so wird es für das Kind schwerer, Vertrauen in einer neuen Situation, gegenüber fremden Personen zu fassen. Er sensibilisiert genau beobachtend dafür, dass das Vertrauen des Kindes nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern Erwachsene in der Verantwortung sind, sich dieses zu erwerben. Darüber hinaus wendet er umgekehrt auch den Blick auf das Misstrauen gegenüber Kindern als weit verbreitetes gesellschaftliches Phänomen. So sei allein die Architektur der Heime ein Symbol des Kontrollwunsches gegenüber Kindern. Auch hier liegen systematische Anschlüsse an die Gestaltung von Institutionen, in denen Kinder und Jugendliche leben, die schwierige Erfahrungen gemacht haben und deshalb nur schwer Vertrauen fassen. Fehlendes Vertrauen in die Umwelt kann auch aus dem Umgang mit Gleichaltrigen resultieren. Kinder verfügen über wenig Mitbestimmungsmöglichkeiten und Kontrolle darüber, mit wem sie in der Familie, aber vor allem in pädagogischen Einrichtungen ihre Zeit verbringen. Sie sind über viele Stunden mit Gleichaltrigen zusammen, mit denen sie sich nicht immer verstehen.

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»Man sollte daran denken, dass das Wohlergehen eines Kindes nicht allein davon abhängt, wie es von den Erwachsenen beurteilt wird, sondern ebenso – oder vielleicht in noch höherem Maße – von der Meinung seiner Altersgenossen; diese haben zwar andere, aber nicht weniger beständige Grundsätze in ihrem Werturteil und bei der Verleihung von Rechten an die Glieder ihrer Gemeinschaft.« (S. 74) Es ließen sich weitere Themen, die Korczaks Gesamtwerk durchziehen, identifizieren. Aber gerade Korczaks Bearbeitung der kindlichen Verletzlichkeit erinnert seither an die Verantwortung der Erwachsenen. Die vorliegende kindheitstheoretische Einordnung hat ihren Ausgangspunkt im Nichtwissen, das für Korczak stets Antrieb war, Kinder zu beobachten, zu beschreiben und mit ihnen ins Gespräch zu kommen und im Austausch zu bleiben. Er legte keine Rezepte vor, sondern blieb stets in einer offenen und fragenden Haltung. Das Wissen- und Erkennenwollen ist auch eine der herausragenden Eigenschaften von Kindern. Dies hat Janusz Korczak stets fasziniert. Hier schließt sich ein Kreis, denn der fragende Korczak verbündete sich mit der staunenden und fragenden Haltung von Kindern: »Wie schläft der Mensch ein? Ob das Wasser wohl lebt? Und woher weiß das Wasser denn, wenn es null Grad Wärme ist und wenn es zu Eis werden muss? Wo ist die Hölle? Wie hat es dieser Mann fertiggebracht, dass in seinem Hut aus Taschenuhren Rührei wurde, wo doch die Uhren heil geblieben sind und der Hut nicht kaputtgegangen ist; ob das wohl ein Wunder ist?« (S. 77)

6.  Zur Aktualität der Pädagogik Korczaks Das echte Interesse Korczaks an den Fragen und Interessen der Kinder ist auch ein Schlüssel zum Verständnis seiner pädagogischen Haltung. Ein Teil von Pädagogik kann durchaus Belehrung und Wissensvermittlung sowie die Erzählung des Erwachsenen sein, aber diese muss auch ausgehen von dem, was Kinder bereits mitbringen. Ein gutes Beispiel ist die durchaus pädagogisch zu lesende Kommunikation Korczaks als Redakteur der Kleinen Rundschau (Kirchner/Andresen/Schierbaum 2018, S. 164 ff.). In seiner Zeitung für Kinder forderte er diese zu Briefen und Berichten an die Zeitung auf. Korczak versuchte, diese Anfragen und Stellungnahmen zu beantworten und dabei auch Wissen zu vermitteln. Ihm ging es darum, dass Kinder ihre eigene Sprache finden und ihre Stimmen erheben. Er wollte sie befähigen, auch über aufwühlende Themen und schwierige und komplexe Phänomene oder Situationen Auskunft zu geben. Als Redakteur eröffnet er den Kindern eine Perspektive, wie man über sich selbst nachdenken und schreiben kann und welche Rückschlüsse aus bestimmten persönlichen Entscheidungen oder Erleb-

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nissen gezogen werden können. Er versucht, anhand medizinischer Diagnosen den Kindern lehrreich zu vermitteln, wie wichtig eine möglichst genaue Beschreibung dessen ist, was man als Kind erlebt, wie man das Erlebte und sich selbst wahrnimmt, womit man als Kind beschäftigt ist. In verschiedenen Briefen an seine Leserinnen und Leser fordert Korczak diese nicht nur dazu auf, an die Zeitung zu schreiben, sondern auch möglichst klar, durchdacht und genau zu formulieren, denn es genüge nicht, oberflächlich beispielsweise von den eigenen Regelverstößen zu berichten: »Du mußt genau schreiben: zehn Beispiele geben, wie du unartig warst. Du mußt schreiben, welche Fehler du hast und welche guten Eigenschaften. Wenn du schreibst: Ich bin ungehorsam – das ist auch zu wenig. Du mußt zehn Beispiele nennen, was man dir befohlen hat zu tun und du anders gemacht hast. Denn Ungehorsam ist so vielgestaltig wie Husten. Manchmal ist der Mensch aus einer Laune heraus ungehorsam, manchmal aus Leichtsinn, er hat nicht daran gedacht, und manchmal, weil er etwas tun soll, was er nicht zuweg bringt oder nicht kann. Manchmal kann man den Ungehorsam leicht heilen und manchmal schwer. Ebenso wie den Husten: Ein Husten ist schwer auszuheilen, ein anderer heilt in vier Tagen von selbst.« (Korczak 1926/2005a, S. 65) In dieser Haltung Korczaks und seiner konkreten Arbeit finden sich bis heute wichtige Anschlussmöglichkeiten der Pädagogik. Sie ist nämlich nach wie vor mit ähnlichen Fragen konfrontiert, wie sie Korczak beschäftigt haben. Wie kann in einer Schulklasse Kommunikation gelingen, wie vermittelt man komplexe Sachverhalte, wie motiviert man im Unterricht oder in der Freizeit Kinder zum Schreiben, wie schafft eine Lehrerin eine Vertrauensbasis zu den Kindern und Jugendlichen? Korczak bietet auch hier kein Rezeptwissen, aber er vermittelt eine klare pädagogisch ethische Haltung. Deren erster zentraler Eckpunkt ist der Respekt vor den Kindern als Seienden und zugleich Lernenden. Kinder ernstzunehmen heißt bei Korczak aber auch, sie zu kritisieren, wie das obige Zitat verdeutlicht. Päda­ gogisches Handeln ist somit eines des Forderns und Herausforderns der Kinder und enthält die Pflicht zum Üben und gegebenenfalls Nachbessern. Hier finden sich folglich interessante Anschlussmöglichkeiten an aktuelle Fragen auch der Motivation und Aneignung von Wissen. Korczak wusste aber, dass nur diejenigen Kinder lernen können, die nicht vom Hunger geplagt in die Schule kommen, die zuhause keine Gewalt erfahren oder in der Schule diskriminiert werden. Lernen zu können, setzt einen Freiraum des Kindes von existen­ziellen Sorgen voraus. Auch hier zeigen sich Einsichten, die etwa im Kontext der Traumapädagogik wichtig sind. Überhaupt bieten seine Schriften Anlass zum Nachdenken über das Zusammenwirken von schulpädagogischen

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und sozialpädagogischen Herangehensweisen an Kinder und Jugendliche. Gegenwärtig ist eine der zentralen Anforderungen in pädagogischen Settings die Arbeit in multiprofessionellen Teams. Korczak neu zu lesen, wäre folglich hilfreich für die Entwicklung sogenannter Schutzkonzepte, die dazu beitragen sollen, Kinder und Jugendliche in den pädagogischen Institutionen vor Gewalt zu schützen. In seiner Einrichtung gab es bereits einen Beschwerdebriefkasten und auch andere Praktiken, die Kindern ermöglichten, Rechte zu erhalten und Schutz zu bekommen. Besonders überzeugend ist sein Plädoyer, auch in der Pädagogik genau zu beobachten und zu beschreiben. Er selbst sensibilisierte sein Personal dafür und wusste, dass diese Fähigkeiten erst herausgebildet werden müssen. Das heißt, Korczak verweist auf die Anforderungen der Qualifikation von Pädagoginnen und Pädagogen über ihr Fachwissen hinaus. In der Pädagogik – etwa in Kindertagesstätten, in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, weitaus seltener bislang in Schulen – geht es heute um die Umsetzung von Kinderrechten. Korczak bietet für deren Bedeutung nicht nur eine grundlegende theoretische Basis, sondern darüber hinaus besondere praktische Überlegungen. Er erprobte die konsequente Orientierung an den Kinderrechten und der Bestimmung und Mitbestimmung der Kinder in den Einrichtungen. Sei es, dass er Plebiszite der Zuneigung und Abneigung ermöglichte (Kirchner/Andresen/Schierbaum 2018, S. 133 ff.) oder das Kameradschaftsgericht installierte, in dem Kinder über die Angelegenheiten des Alltags beratschlagten und ihren gemeinsamen Alltag ordneten. Die Idee des Kameradschaftsgerichts besagt: Wenn jemand etwas Böses getan hat, so ist es am besten, ihm zu verzeihen. Wenn er es getan hat, weil er es nicht besser wusste, so weiß er es jetzt. Wenn er unabsichtlich etwas Böses getan hat, so wird er in Zukunft vorsichtiger sein. Wenn einer etwas Böses getan hat, weil es ihm schwerfällt, sich anzupassen, wird er sich nun damit Mühe geben. Wenn es geschehen ist, weil jemand ihn dazu überredet hat, so wird er dem in Zukunft nicht mehr folgen. (S. 235) Wenn einer etwas Böses getan hat, so ist es am besten, ihm zu verzeihen und zu warten, bis er sich bessert. Korczak pädagogisch zu lesen, fordert dazu auf, die Herausforderungen der Umsetzung der Rechte in pädagogischen Settings anzunehmen und neue Wege zu wagen. Darauf macht auch eine wichtige neue Monographie von Sigurd Hebenstreit (2017) aufmerksam. Hebenstreit zielt mit dem Studienbuch über Janusz Korczak auf die Ausbildung von Erzieherinnen und anderen pädagogischen Fach- und Lehrkräften. Hebenstreit zeigt sehr schlüssig auf, dass Korczaks Pädagogik Erzieherinnen und Erzieher dazu auffordert, sich niemals vom Wunschdenken leiten zu lassen, sondern von der Beobachtung der Wirklich-

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keit (Hebenstreit 2017, S. 167). Letztlich wird deutlich, Pädagogik ist bei Korczak die Reflexion der eigenen Praxis. Die Rezeption anderer Ansätze spielt bei ihm eine nachrangige Rolle. Eine solche Herangehensweise birgt gerade in der Pädagogik auch die Gefahr selbstreferentiellen Vorgehens. Doch letztlich müssen die heutige Pädagogik und mit ihr die Erziehungswissenschaft das Potenzial und die Grenzen von Janusz Korczaks Werk weiter systematisch erschließen.

Literatur Agamben, G. (52013). Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Andresen, S. (2018). Gewalt in der Erziehung als Unrecht thematisieren. Perspektiven aus der Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Zeitschrift für Pädagogik. 64/1, S. 6–14. Beiner, F./Ungermann, S. (Hrsg.) (1999). Janusz Korczak in der Erinnerung von Zeitzeugen. Mitarbeiter, Kinder und Freunde berichten. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Göppel, R. (2004). Janusz Korczak und die Kindheitsforschung in seiner und unserer Zeit. In: S. Ungermann/K. Brendler (Hrsg.). Janusz Korczak in Theorie und Praxis. Beiträge internationaler Interpretation und Rezeption. S. 136–165. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Brendler (Hrsg.) (2004). Janusz Korczak in Theorie und Praxis. Beiträge internationaler Interpretation und Rezeption. S. 136–165. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Hagner, M. (2012). Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls. Berlin: Suhrkamp. Hebenstreit, S. (2017). Janusz Korczak. Leben – Werk – Praxis. Ein Studienbuch. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa. Kirchner, M./Andresen, S./Schierbaum, K. (2018). Janusz Korczaks ›schöpferisches Nichtwissen‹ vom Kind. Beiträge zur Kindheitsforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Korczak, J./Lewin, A./Beiner, F. (Hrsg.) (1901/1906/1996). Sämtliche Werke. Bd. 1. Kinder der Straße, Kind des Salons. Gütersloh: Gütersloher Verlags­haus. Korczak, J./Beiner/F. (Hrsg) (1919/1929/1939/1999). Sämtliche Werke. Bd. 4. Wie liebt man ein Kind. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Korczak, J./Beiner, F./Ungermann, S. (1907/1908/2002). Sämtliche Werke. Bd. 7. Sozialkritische Publizistik. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Korczak, J./Beiner, F. (Hrsg.) (1898/2004). Sämtliche Werke. Bd. 9, Pädagogische Essays. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Korczak, J./Beiner, F. (Hrsg.) (1926/2005a). Sämtliche Werke. Bd. 14. Kleine Rundschau, Channuka- und Purim-Szenen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Levi, P. (2010). Ist das ein Mensch? München: dtv. Newerly, I. (162014). Einleitung. In: J. Korczak (2014). Wie man ein Kind lieben soll. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Sznaider, N. (2017). Gesellschaften in Israel. Eine Einführung in zehn Bildern. Berlin: Jüdischer Verlag. Weber-Reich, T. (1993). Des Kennenlernens werth. Bedeutende Frauen Göttin­gens. Göttingen: Wallstein.

Elisabeth Heimpel und Hans Roos

Vorbemerkung

Im Nachlass von Herman Nohl, Professor der Philosophie und Pädagogik an der Universität Göttingen, fand sich ein Brief von Dr. Elisabeth Blochmann aus dem Jahre 1928. Eine junge Psychologin bat um Rat. Sie sei in Warschau gewesen »bei einem Dr. Corczak«, der dort seit zwölf Jahren ein Waisenhaus leite, »einen ganz konsequent durchgeführten Kinderstaat, der sich hervorragend bewähren soll«. Er habe darüber ein Buch geschrieben, »das in Polen großes Aufsehen mache«; sie wolle es übersetzen, wenn sie dafür einen Verlag und finanzielle Unterstützung fände. Der Plan gelang nicht. Vierzehn Jahre später ging das Heim mit seinen Kindern und seinem Leiter in der grauenvollen Herrschaft des Nationalsozialismus unter. Heute jedoch, fast vierzig Jahre nach jenem Brief, dürfen wir den deutschen Lesern jenes Buch vorlegen als den ersten Band päda­gogischer Schriften des polnischen Kinderarztes und Erziehers Janusz Korczak. Igor Newerly, der Herausgeber der polnischen Ausgewählten Werke (vier Bände, Warschau, 1957–1958), schrieb das Vorwort für diese erste deutsche Ausgabe; er stellte auch die »Zeittafel« zusammen. Kleinere Schriften und das Tagebuch Korczaks sowie ein ausführliches Nachwort der Herausgeber sollen in einem zweiten Bande folgen. Die im Wesentlichen 1914–1916 verfasste Studie Wie man ein Kind lieben soll, Korczaks Hauptwerk, ruht auf der Erfahrung, die er als Arzt, als Erzieher und als Leiter des Warschauer Heimes für jüdische Waisenkinder während der ersten Jahre nach der Übernahme des Heimes gemacht und verarbeitet hatte. Sie gehört zu den wenigen klassischen sozialpädagogischen Schriften, die mit dem Stanzer Brief Pestalozzis beginnen und bis zu Makarenkos Pädagogischem Poem reichen. Die Arbeiten Korczaks sind in der europäischen erziehungswissenschaftlichen Literatur nahezu unbekannt geblieben. Das hängt zusammen mit den politischen Ereignissen in Polen und Europa seit dem Beginn der dreißiger Jahre, deren dunkelsten Schatten die nationalsozialistische Herrschaft warf – ein weiterer Grund, der uns diese Ausgabe angelegen sein lässt. Die mühevolle Übersetzung aus dem Polnischen verdanken wir Armin Droß. Ferner haben wir dem Korczak-Komitee in Warschau und Herrn Igor Newerly für

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Elisabeth Heimpel und Hans Roos

ihre Unterstützung besonders zu danken. Unser Dank gehört auch Frau Ruth Roos für ihre wertvolle Hilfe bei der Überarbeitung der schwierigen Übersetzung. Die polnische Ausgabe der Ausgewählten Werke, der unsere Übersetzung folgt, gibt den Text von Wie man ein Kind lieben soll nach der zweiten Auflage vom Jahre 1929 wieder, der letzten Ausgabe, die zu Lebzeiten Korczaks erschien (siehe den dritten Band der polnischen Ausgabe, S. 73–329, 425). Die in der deutschen ebenso wie in der polnischen Ausgabe kursiv gedruckten Abschnitte, deren Entstehungszeit für die Herausgeber nicht mit völliger Genauigkeit feststellbar war, bezeichnen spätere Ergänzungen des ursprünglichen Textes. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind diese von Korczak erst für die zweite Auflage von 1929 eingefügt worden. In die Anmerkungen der Herausgeber sind einige der (meist lateinische Ausdrücke oder Namen erläuternden) Anmerkungen der polnischen Ausgabe aufgenommen worden.

Igor Newerly

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Wenn es um den Nachweis des Namens geht, so ist es Kraszewski9 und der Zerstreutheit eines Setzers zu verdanken, dass Janusz Korczak 1899 auf der Bildfläche erscheint. Als der zwanzigjährige Henryk Goldszmit seine Arbeit für einen litera­ rischen Wettbewerb junger Autoren in Reinschrift übertrug, war sein Blick auf den neben ihm liegenden Roman von Kraszewski Die Geschichte von Janasz Korczak und der schönen Schwertfegerin gefallen. Auf gut Glück erwählte er diesen Helden zum Kennwort für seine Wettbewerbsarbeit, und später irrte sich der Setzer, als er die Liste der Preisträger zusammenstellte, bei diesem Namen um einen Buchstaben. Die Persönlichkeit dagegen, die uns bekannt und die als Janusz Korczak lebendig ist, hat sich bedeutend später geformt, im Ablauf von vielfältigen, intensiv durchlebten Wandlungen in den Jahren 1898 bis 1904, und sie fand die endgültige Bestimmung des eigenen Lebensweges irgendwann vor dem Ersten Weltkrieg. Dem Anschein nach deutete nichts auf diesen Weg hin, nichts, außer einer gewissen »Wunderlichkeit«. Die Goldszmits, Herr Jozef, der Advokat, und Frau Cäcilie, geborene Ge˛bicka, hatten ein eigenartiges Kind. Ein Kind, das stundenlang allein spielen konnte und dem die Welt der eigenen Beobachtungen und Träume genügte. Ein Träumer, pflegte der Vater zu sagen; ein Philosoph, konstatierte die Großmutter, wenn sie den Eröffnungen ihres Enkels lauschte. Sie allein glaubte an seinen Stern. »Ich habe einen Forschergeist, keinen Erfindergeist«, schreibt Korczak in seinen Erinnerungen gegen Ende seines Lebens. »Ich befragte meine Steinchen, Kinder und Erwachsene, wer sie seien. Mein Spielzeug blieb ganz. Es interessierte mich nicht sonderlich, warum eine Puppe die Augen schloss, wenn man sie hinlegte. Nicht der Mechanismus, sondern das Wesen einer Sache, das Ding an sich …« Seine angeborene Nachdenklichkeit und seine Vorstellungskraft wachsen im Widerstreit mit langweiligen, erlebnisarmen, in der schönen Wohnung der Kindheit hermetisch abgeschlossenen Eindrücken. Später kommt die Schule, wo er den Stock des Lehrers kennenlernt. Dann das Gymnasium, das man mit der Straßenbahn erreichte, die im Sommer mit einem, im Winter mit zwei Pferden bespannt war – ein humanistisches 9 Jozef Ignacy Kraszewski (1812–1887), viel gelesener polnischer Romanautor.

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Igor Newerly

Gymnasium mit einem gedankenlosen, auf Gedächtnisübungen beschränkten Unterricht, der mit reichlich Griechisch und Latein zu einem unerschütterlichen Block der antiken Welt zusammengeschweißt war, mit Maulkorbmethoden und Heuchelei, mit der aufgezwungenen fremden russischen Sprache. Obwohl er bereits weiß, dass er Jude ist, fühlt sich Henryk als Pole, kennt keine andere Kultur als die pol­nische und keine andere Sprache als die, die in seiner seit langem assimilierten Familie gesprochen wird. Alles das bedrängt ihn, zwingt zur Selbstverteidigung in unerreichbaren und lichten Regionen des Geistes. Krankheit und Tod des Vaters (nach längerem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik) bedeuten materiellen Ruin und belasten sein ganzes weiteres Leben. Armut folgt dem bürgerlichen Wohlstand, und dieser Zustand ist umso schmerzlicher, als er stolz und verzweifelt zugleich vor fremden Blicken verborgen gehalten wird. Es gibt keinen anderen Ausweg, er muss der Mutter helfen und nach einem Verdienst suchen. Er gibt Nachhilfestunden. Für Bücher, deren Inhalt er leidenschaftlich und bildungshungrig miterlebt, und für eigene literarische Versuche bleiben ihm nur die Nächte. Er schreibt eine Erzählung mit dem Titel Der Selbstmörder, deren Held aus Furcht vor dem Wahnsinn auf das Leben verzichtet. Er verfasst auch Gedichte. Endlich das Reifezeugnis, das er wie ein Hund einen Knochen aus einer Marktbude an sich reißt, und die Universität. Davor aber noch zwei Episoden. Als Schüler der letzten Klasse fasst er Mut und begibt sich zur Redaktion der damals führenden politisch-literarischen Wochenzeitung Prawda. Der Chefredakteur Aleksander Swie˛tochowski empfängt ihn persönlich. Schlimmer hätte es Henryk nicht treffen können. Der »Hetman des fortschrittlichen Denkens«, wie Swie˛tochowski genannt wurde, der Autor der dreibändigen, philosophierenden Geister, vornehm im Umgang, elegant in seinem Lebensstil, hatte derart erhabene Perspektiven, dass er Anfänger kaum bemerkte. Auch auf den jungen Sienkiewicz, den jungen Sieroszewski, auf Reymont und Zeromski war er nicht zur rechten Zeit aufmerksam geworden, und so hatte er sie für seine Zeitschrift verloren. Was hätte er also aus den Versen eines schüchternen Gymnasiasten heraushören können? Sehr erregt und mit vibrierender Stimme liest ihm Henryk seine Elegie vor, und als er endet »… nicht fühlen will ich, nicht leben mehr, ins dunkle Grab lasst mich gehn …« antwortet Swie˛tochowski mit unerschütterlicher Ruhe: »Das gestatte ich Ihnen gerne!«

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»Ich habe keine Gedichte mehr gemacht«, bemerkte Korczak später, als er mir diese Episode erzählte. Die zweite Episode ereignete sich nach dem Abitur. Als sich Henryk von dem einzigen Professor verabschiedete, den er im Gym­nasium gern mochte und der ihn für die Dichtungen Homers zu begeistern gewusst hatte, beugte er sich überraschend über die Hand des verehrungswürdigen Philologen und küsste sie. So ist Henryk, ein Poet von farbiger Ausdruckskraft und starker Gefühlsmächtigkeit, zugleich ein forschender Geist, der nach dem rechten Inhalt des Lebens sucht, ein Angehöriger der Intelligenz in der dritten Generation (der Vater Jurist, der Großvater Arzt), als er sich in die medizinische Fakultät aufnehmen lässt. Seinen Vornamen hat er vom Großvater, und so entschließt er sich auch für dessen Beruf. Dies ereignete sich im Jahre 1898; es war das Jahr des Beginns auf dem Wege jenes Wandels von Henryk zu Janusz, und es war im sozialen Leben Polens ein so einschneidendes Jahr, dass die Politik, die sich lange Jahre hindurch in der Hand der Konservativen befunden hatte (der Kollaborateure, wie wir heute sagen würden), aus den Salons auf die Straße ging. In Warschau sind in diesem Triennium von 1898–1900 bereits die drei großen politischen Parteien in Aktion – die Polnische Sozialistische Partei, die Sozialdemokratie und die Nationaldemokratie. Ihre jungen Führer, deren Namen später in die Geschichte eingehen, Pilsudski, Dmowski, Marchlewski und Dzierzynski, setzen sich aktiv ein. Es kommt zu Reibereien zwischen diesen profilierten politischen Lagern, in den Hochschulen und besonders auf dem Gebiet der Universität, wo in großer Eile »Verkehrsingenieure« für alle drei Richtungen der Massenbewegung engagiert werden. Die erste Berührung mit der Politik hatte Henryk auf dem Hof der Universität, wo die Nationalen gegen die Sozialisten kämpften und Grüppchen von Sozialisten sich untereinander befehdeten. Es waren Kämpfe, von denen einer, der daran teilgenommen hatte, nach Jahren in seinen Erinnerungen sagt: »Die damals noch so schwächlichen sozialistischen Parteien gingen erbarmungslos gegeneinander vor, und diese Kämpfe blieben vor allem auf die empfindlichen Gemüter der Jugend nicht ohne Eindruck.« Drei große politische Aktionen erschüttern ein um das andere Mal das akademische Leben und das Leben des ganzen Landes: die Vertreibung einer Gruppe von kompromittierten Professoren von der Universität Warschau, was zu einer bis dahin unerhörten patriotischen, gegen den Zaren gerichteten Demonstration führte, und kurz darauf eine Kundgebung von Studenten, Intelligenz und einfachem Volk bei der Enthüllung des Mickiewicz-Denkmals; schließlich erfolgte ein allgemeiner Studentenstreik, da als Antwort auf die brutale Auflösung einer Versammlung der akademischen Jugend in Petersburg sich alle Hochschulen auf dem ganzen Gebiet des Zarenreiches erhoben.

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In jenen stürmischen Tagen erkannte Henryk die Notwendigkeit der politischen Aktion, und er hat wohl auch die Macht der Masse richtig eingeschätzt; jedoch konnte ihm das Kulissengeplänkel zwischen den Parteien nicht verborgen bleiben, und er bemerkte die nicht immer richtigen Methoden, die Kompromisse und den Verrat von Prinzipien zugunsten kurzlebiger Parteiinteressen. Viel schlimmer noch war, dass er auf die Schändlichkeiten stieß, die auf dem politischen Leben des damaligen Russland und Polen zu lasten begannen. Um die immer kraftvolleren Befreiungs- und Revolutionsbewegungen besser bekämpfen zu können, bediente sich die zaristische politische Polizei in einem bis dahin unbekannnten Maße des Mittels der Provokation. Liquidationen bisher als zugriffssicher geltender Organisationen und Massenverhaftungen erfolgten. Von Mund zu Mund wurden die Namen von Provokateuren weitergegeben, die bis vor Kurzem noch Genossen, ja sogar geachtete und prominente Genossen, gewesen waren. Es herrschten Vernichtung, Verwirrung und Psychose. Keinem kann man mehr trauen, wachsam muss man seinen weiteren Weg suchen, ohne Sicht auf dem schmalen Grenzpfad zwischen Ideal und sumpfigem Unland. Aus dem Nebelschwaden dieses Sumpfes treten Gespenster hervor, unbestimmbar und trügerisch, so dass sich schwerlich erkennen lässt, ob es sich um wirkliche Gespenster handelt oder um Fantasmagorien. Da wird Henryks gleichaltriger Kollege, der zwanzigjährige Stanislaw Brzozowski, der Provokation verdächtigt, und er versucht vergeblich, seine Unschuld zu beweisen. Henryk wird ihn später zusammen mit anderen Intellektuellen verteidigen; Brzozowski aber, der bedeutende Kritiker und Schriftsteller, der hervorragendste Kopf des Jungen Polen, erlischt schließlich, ohne dass der Makel, ein Provokateur zu sein, von ihm genommen worden ist. Wenn man nach langen Jahren aus der erhellenden historischen Perspektive die Dinge betrachtet, nimmt man nur noch die großen Objekte, die Position von Gebirgsmassiven und die Richtung verschiedener Strömungen wahr. Aus der Nähe gesehen springt einem jeder ungestalt verdorrte Wachholderstrauch in die Augen und jeder Klumpen Dreck. Davon gab es genug, und das konnte unter so schwierigen, deformierenden Bedingungen auch gar nicht anders sein. Der damalige politische Kampf im zwielichtigen Untergrund vermochte Naturen wie Henryk schon abzuschrecken. Dieser Jüngling, der auf jede Gewalt und alles Unrecht, auf Verlogenheit und Betrug so empfindlich reagiert, dem es aber nicht an Mut fehlt, den er oftmals in seinem Leben bis zum freiwilligen Märtyrertod beweist – er wendet sich ab von der Politik. Zwar gibt er später mehr als einmal zu erkennen, auf welcher Seite er steht, und er kommt sogar für kurze Zeit ins Gefängnis – indessen verharrt er bis zu seinem Lebensende in einer entschieden unpolitischen Haltung, und er bleibt skeptisch gegenüber der Möglichkeit, ein Problem auf revolutionärem Wege zu lösen.

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Er sucht nach einem anderen »Thema seines Lebens«, so wie er es in einem Brief an einen jungen Freund präzisiert hat: »Wenn es das Thema des Lebens darstellt, physisch und geistig satt zu werden, dann droht immer der Bankrott: Man erschöpft sich. Übersättigung oder das Gefühl der Leere. Wenn du dagegen nimmst, um zu geben, so hast du ein Ziel, und es ist notwendig, die Fülle zu haben. Das eigene Leid umschmelzen in eigenes Wissen und Freude für andere, aufgehen in den eigenen Lebenszielen. Misserfolge sind dann zwar schmerzlicher, aber sie demoralisieren nicht.« Wenn der Mensch geistig heranreift, bevor er noch so oder anders das Thema seines Lebens gefunden hat, sucht er instinktiv nach einem Kontakt, nach einem Austausch mit einer kräftig profilierten und beunruhigenden, innerlich aber reichen Persönlichkeit. Die Professorenschaft der Warschauer Universität war in dieser Hinsicht wohl die ärmste von allen hohen Schulen Russlands. Wer konnte, studierte lieber im Ausland oder in Petersburg, Moskau und Dorpat. Aber Warschau besaß noch eine andere Hochschule, die es sonst nirgendwo gab und die jeder Nation hätte zur Ehre gereichen können – die Fliegende Universität. Heimlicherweise, nach der Polizei ausschauend, in immer wieder anderen Privatwohnungen, hielten Gelehrte wie der bedeutendste polnische Soziologe Ludwik Krzywicki, der bekannte Geograph und Publizist Wacław Nałkowski, der Pädagoge Jan Władyslaw Dawid, der Philosoph Mahrburg, der Orientalist Radlin´ski und viele andere ihre Vorlesungen – keine namenlosen Kathedergrößen, sondern originelle Individua­ listen, faszinierende Persönlichkeiten von großem Wissen und edlem Charakter. Die Jahre 1898 bis 1900 stellten in der Geschichte der Fliegenden Universität den Höhepunkt ihrer Entwicklung dar. Gleichzeitig ist es die Zeit, da sich der geheime Unterricht an den illegalen polnischen Volksschulen in voller Blüte befindet. Zahlreiche Angehörige der Intelligenz, jugendliche und ältere, arbeiten unter rein konspirativen Bedingungen, redlich und durchtrieben zugleich, und mit ganzer Hingabe, in einer Atmosphäre höchster Idealität. Henryk stellt sich in die Reihen dieser vielleicht schönsten Armee, die Polen jemals besessen hat. In diesem Zentrum der radikalen Intelligenz, bei seiner Arbeit im Rahmen der Fliegenden Universität, auf dem Gebiet der leihgebührfreien Volksbüchereien, bei patriotischen und allgemeinbildenden Aktionen, findet er wegweisende Geister, Leitbilder und Freundschaften, denen er bis zum Ende die Treue hält. Einige Jahre hindurch, etwa 1899 bis 1902, leben sie beide nebeneinander her: Henryk und Janusz. Henryk studiert Medizin, arbeitet, schafft den Lebensunterhalt für sich selbst, für Mutter und Schwester als Hauslehrer und von den armseligen Honoraren für

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seine Feuilletons in der humoristischen Wochenzeitung Kolce (Stacheln). Unter anderem beginnt er dort auch mit dem Abdruck des Sensationsromans Der Lakai – Aus dem Tagebuch eines Entgleisten. Das Manuskript geht in der Redaktion von Hand zu Hand; auch Studenten und angehende Literaten schreiben nacheinander Kapitel um Kapitel, so dass die Handlung, die sich inhaltlich kaum zusammenfassen lässt, sich gänzlich unberechenbar entwickelt. Niemand weiß, worum es eigentlich geht, weder die Leser noch der Autor, der gerade an der Reihe ist und der nur deshalb zu schreiben scheint, um seinen Vorgänger vor Neid erblassen zu lassen und den Nachfolger in ein irritiertes Stöhnen zu versetzen. Manchmal verschwindet Henryk von der Universität und aus der Redaktion, und dann erscheint Janusz in der Altstadt. In den dämmerigen, schmalen Straßen, in den blinden Sackgassen hallen seine Schritte dumpf auf dem ausgetretenen Pflaster, wenn er die Elendsbehausungen des Lumpenproletariats, die Zuhälterquartiere und die Diebeskneipen streift. Um die Mittagszeit besucht dieses Armenviertel der »Suppentrompeter« einer Wohltätigkeitsgesellschaft: ein Koch mit weißer Schürze und weißem Käppchen ruft mit seinen Trompetenstößen die Hungrigen zu einem Kohlgericht oder einer Erbsensuppe für drei Kopeken herbei, und wenn man einen Teller mitbringt, braucht man nichts zu zahlen. Ein Schlupfwinkel des Elends und des Lasters, von obdachlosen Kindern und von Messerstechern. Manchmal erscheint ein Polizeimeister, revidiert die Passan­ten, und wenn er bei einem ein Messer findet, dessen Länge die Breite einer Hand überschreitet, so befiehlt er seinen Kosaken, den Betroffenen gleich auf dem Bürgersteig mit ihren Knuten zu verprügeln. Aber das geschieht nur bei Tage. Sobald der Abend dämmert, wagt es keine Amtsperson, kein Schutzmann, sich in diesem Viertel zu zeigen. Aber Janusz bewegt sich hier ganz ungeniert, hat auch hier seine Freunde, und niemand rempelt den wunderlichen Studenten an. »Mit unvergleichlicher Meisterschaft rührt Janusz die Herzen an«, sagt sein Freund Licin´ski, ein junger Dichter der polnischen Dekadenz. Sogar die Messerstecher haben ihn gern. Eines Nachts wollten sie sich hinter einer Kneipe um seinetwillen duellieren, aber Janusz redete auf sie ein, umarmte einen von den Schlägern und gab ihm einen Kuss auf seine versoffene Verbrechervisage, bis dieser wütend wurde und unter Flüchen sein Messer auf den Boden schleuderte. Janusz selbst notiert in seinem Tagebuch: »Die Jahre haben hier finstere und rachsüchtige Gewalten aufeinandergetürmt, in diese Welt kann man nicht ungestraft Einblick nehmen … Ich beginne jetzt zu begreifen, wie man für einen Tagesverdienst von vier, drei oder gar nur zwei Zloty eine Familie erhalten, Miete, Lebensunterhalt, Kleidung, Wäsche, Petroleum, Doktor, Apotheke und den Pfarrer für das Begräbnis bezahlen und sich

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manchmal noch betrinken und einen Namenstag ausrichten kann. Ich verstehe jetzt, warum die Kinder hier eine erdige Gefängnishaut, entzündete Lider und krumme Beinchen haben, und warum von zehn nur vier am Leben bleiben. Ich kann es mir nur nicht erklären, wie diese vier groß werden können und Kraft zur Arbeit haben.« »Zu Ihnen, Herr Janek, kommen Kinderhorden aus der ganzen Straße«, verwundert sich die Frau des Droschkenkutschers, bei dem Janusz damals wohnt. Er unterrichtet die Kinder, behandelt sie und nimmt sich ihrer an. Am Weihnachtsabend verkleidet er sich als heiliger Nikolaus und zieht im Schafspelz, mit angeklebtem weißem Bart, mit dem Pilgerstock und einem Sack auf den Schultern von Haus zu Haus. Alle begrüßt er mit Namen, teilt kleine Gaben aus und hinterlässt den märchenhaften Glanz einer schönen Illusion und segnet aus traurig-mitfühlendem Herzen alles, was leidet und irrt. »Eine Stunde lang war ich ein Heiliger«, denkt er, als er ins Stadtzentrum zurückkehrt, um wieder Henryk zu werden. So leben eine Zeit lang Henryk und Janusz nebeneinander her, bis im Zusammenleben mit dieser Welt der Armen, in der Arbeit für sie, in der ersten unguten Liebe (denn auch das macht er hier durch) der bisherige »schwankende, schmähliche Weltschmerz« umschlägt in die Glut der Selbstkritik, bis er seine Forderungen und Vorwürfe nicht mehr an Menschen, Institutionen und an die düstere Wirklichkeit, sondern an sich selbst richtet. »Ich spüre, wie sich in mir unbekannte Kräfte sammeln, die wie ein helles Licht emporschießen, und dieses Licht wird mir leuchten bis zum letzten Atemzug. Ich fühle, wie ich mich dem Augenblick nähere, da aus den Abgründen meiner Seele das Ziel zum Vorschein kommt, aus dem das Glück erblüht.« Worte, die wie ein Gelöbnis klingen, sonderbar prophetisch und erhaben, wenn man an seinen weiteren Weg denkt: vierzig Jahre voller Arbeit und schöpferischer Tätigkeit für die Kinder bis zum Tod, dem entsetzlichen Tod in der Gaskammer des Vernichtungslagers10 und zugleich dem schönsten Tod – denn er entspringt dem eigenen Opferwillen. Diese Worte sagt Janusz, der aus den schmerzvollen, intensiv durchlebten Auseinandersetzungen und Erfahrungen Henryks geboren wird, nachdem dieser Henryk, gleichsam nach den Gesetzen einer Desintegration, sich aufgelöst hat. Das ist nun schon Janusz Korczak, der Verfasser des Romans Das Salonkind, im Jahre 1904. Das ist Janusz, der das System, die sittliche Verfassung, vor allem aber die bürgerliche 10 Das Wort »Vernichtungslager« steht deutsch im polnischen Original.

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Familie anklagt und demaskiert in der ambitiösen Absicht, die »Elenden«, wie sie sich in Polen darbieten, im litera­rischen Zeugnis sichtbar zu machen. Die Bilder ballen sich in einer irritierenden Mischung von Halluzinationen, Grotesken und dokumen­ tarischen Komponenten, durchtränkt von einem Gefühl der Mitschuld, ergreifend durch die Ungeheuerlichkeit des dargestellten Leidens. »Seine Seele«, sagt Brzozowski, »entwickelte eine sublimierte Hellsichtigkeit für den Schmerz. Und zugleich treten bei Korczak humoristische Züge hervor. Nichts ist einfacher, als Welt und Menschen, Ereignisse und Meinungen mit den Augen dessen zu betrachten, der die Lächerlichkeit um sich wahrzunehmen versteht. Nichts ist leichter, man muss es nur mit dem Blick der Verzweiflung sehen. Auf ihrem düsteren Hintergrund zeichnet sich alles mit närrischer Genauigkeit ab. Verzweiflung gibt keinem Pathos Raum. Übrig bleibt allein die sich selbst in ihrer Ausdauer gegen die Nichtigkeit belächelnde Gestalt.« Der Roman Das Salonkind erscheint in Fortsetzungen im Glos (Die Stimme), einer außerordentlich fortschrittlichen gesellschaftlich-literarischen Wochenzeitung; er wird zu einem literarischen Ereignis. Der Erfolg des Romans setzt die Verleger in Bewegung: Die Leser verlangen nach Korczak. Aber Korczak ist nicht da, er ist im Krieg, irgendwo in einem Lazarett in der Mandschurei, und deshalb wird rasch eine Auswahl von Henryks Feuilletons und Novellen zusammen­gestellt. In Abwesenheit des Autors erscheinen die Koszałki – Opałki (Albernheiten) mit dem Verfassernamen Janusz Korczak, in Klammern Henryk. Hier endet die Wandlung von Henryk zu Janusz. Zum letzten Mal begegnen hier einander die beiden Namen, um sich für immer zu trennen. Von nun an gibt es nur noch Janusz Korczak, der ein in sich ruhender Mensch und ein gereifter Schriftsteller von eigentümlicher Prägung ist. Jedes Leben lässt sich von einem bestimmten Orte her aus den ihm eigenen menschlichen Zügen – wenn man von den Einwirkungen des Zufalls und der Zwangssituation absieht – ohne Schwierigkeiten deuten. Wenn der Höhepunkt in der Verdichtung seiner Möglichkeiten und seiner vorhandenen Kräfte richtig erfasst wird, treten später kaum noch Undeutbarkeiten oder Diskrepanzen mit der psychologischen Wahrhaftigkeit oder mit dem intimen Imperativ des betreffenden Menschen auf. Janusz Korczak, wie er sich uns nach dem Jahre 1904 darstellt, ist vor allem ein guter Mensch, von jener schwer verständlichen Güte, die nicht nach allgemein menschlichen Maßstäben meßbar ist; er hat eine recht poetische Natur und einen forschenden Geist. An sich selbst stellt er ethische Maximalforderungen; er ist ein Fana­tiker der Pflicht. Er ist sich dessen bewusst, dass alle unsere Ideale und Wahr-

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heiten nur den Wert besitzen, den wir ihnen durch unser eigenes Leben verleihen. Und er hat das Thema seines Lebens bereits gefunden: das Kind. »Ich habe es gelobt und will dabei bleiben: Der Sache des Kindes bin ich verpflichtet.« Er versucht, ihr als Arzt zu dienen. In einem Warschauer Kinderkrankenhaus arbeitet er mit Unterbrechungen während des russisch-­japanischen Krieges sieben Jahre lang; später verwendet er seine Ersparnisse für eine Reise ins Ausland: ein Jahr Praxis in den Kliniken von Berlin, ein halbes Jahr in Paris, einen Monat in London. In den Arbeitervierteln von Warschau, wo er wohnt, behandelt er die armen Leute kostenlos oder für einen symbo­lischen Betrag; dagegen lässt er sich in den Häusern der wohlhabenden Intelligenz, in den Palais von Industrie-Potentaten, wohin er immer öfter gerufen wird, Professorenhonorare zahlen. Der Verfasser des Romans Das Salonkind ist in den Salons gesucht und gern gesehen. Der bekannte Literat und gute Arzt, der sich nach einer brillan­ten Praxis im Ausland der armen Leute in Warschau annimmt, erregt mit seinen rätselhaften Problemen aus dem Grenzbezirk von Evangelium und sozialer Utopie Neugier und Unruhe. Man möchte ihn entdecken und einen Modearzt aus ihm machen – aber was soll man tun, wenn er dies nicht will und sich selbst schadet? Er beginnt, sich unbefriedigt zu fühlen. Allmählich reift in ihm der Verrat an der Medizin, wie er es bezeichnet, der »Scheidungsprozess«. Die Ursachen? Einmal genügt es ihm nicht, nur kranke Kinder zu betreuen. Ihn interessiert das Kind in seiner physischen und moralischen Gesundheit überhaupt, das Kind mit allen seinen Problemen und seiner Situation in der Gesellschaft. Zum anderen bedrückt ihn die Ratlosigkeit der Medizin gegenüber den sozialen Ursachen, die Krankheiten zur Folge haben. In der pädiatrischen Ambulanz, wo ihn scharenweise Mütter umringen, die einen Rat begehren oder Medikamente von ihm haben wollen, kann er Aufruhr und Protest in seiner eigenen Brust nicht mehr bändigen: »Wann, zum Teufel, werden wir endlich aufhören, Salizyl gegen Elend, Ausbeutung, Unrecht, gegen Verwaisung und Verbrechen zu verschreiben? Wann, in Dreiteufels Namen?« Er gibt die Medizin und seine glänzende ärztliche Praxis auf – und er geht von der pädagogischen Problematik in seinen literarischen Werken zur praktischen Erziehungstätigkeit in dem Waisenhaus Dom Sierot über, das nach seinem eigenen Entwurf 1911 errichtet wurde.

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Trotz des Übermaßes an Arbeit und Erlebnissen in seiner Tätigkeit als Erzieher stellt er sein literarisches Schaffen nicht ein. In diesen Jahren verfasst er Erzählungen aus den Ferienkolonien, ferner Bobo (eine literarische Studie über das Kleinkind), Spowied´z motyla (Beichte eines Schmetterlings, Erinnerungen aus der Pubertätszeit), Feralny tydzien (Eine unglückliche Woche, Erzählung aus dem Schulleben) vier abgerundete Arbeiten von dauerhaftem Wert in drei Jahren. Gleichzeitig ist er bemüht, Lücken in seiner pädagogischen Bildung auszufüllen. Nächtelang liest er, studiert und sinnt in seiner Dachstube im Waisenhaus einer Vision nach, die ihn schon seit Jahren nicht mehr loslässt: »Die große Synthesis des Kindes das war es, was mir als Zukunftsbild erschien, seit ich in einer Pariser Bibliothek mit großer Anteilnahme die erstaunlichen Werke der französischen Klassiker der Kinderheilkunde gelesen hatte.« Als ausgereifte Persönlichkeit, mit dem bereits erwählten »Thema seines Lebens« und einer eigenen, voll entwickelten, wenn auch noch unausgesprochenen Meinung über diese Thematik, geht er in den Krieg. Wenn er damals, 1914 in Ostpreußen, irgendwo in der Nähe des damaligen Ortelsburg gefallen wäre, so hätte man in den Uniformtaschen dieses Hauptmanns der russischen Armee das Manuskript gefunden: Jak kochac´ dziecko (Wie man ein Kind lieben soll). Mit diesem Entwurf in der Tasche marschiert er mit der Armee Samsonow zu den masurischen Seen, schreibt während des Feldzuges selbstvergessen weiter, wo auch immer ein Halt eingelegt wird, an der Rawa, in der ukrainischen Steppe und bei Tarnopol … mit dem gesamten Wissen des Arztes und des Erziehers versehen, setzt er seine Fragezeichen hinter das Unerforschte und das Bekannte, Althergebrachte; er möchte den Leser, nachdem er dessen Forscherdrang geweckt hat, mit sich selbst konfrontieren und ihn damit zu eigener geistiger Anstrengung nötigen. Er macht sich frei von dem Übermaß an Leiden um ihn her, von der würgenden Einsamkeit, und er konzentriert sich auf die davon nicht betroffene Vernunft, auf die Dominante seiner Existenz: Wie soll man ein Kind lieben? So vermag nur die Liebe zu sprechen, die verständige Liebe, die vieles weiß und noch mehr verlangt. Eine Liebe, die mit dem Blick des Psychologen den weit verzweigten Wandlungsprozess von der Geburt bis in die Pubertätszeit durchforscht, die mit den Schwingungen dichterischer Vorstellungskraft in die Geheimnisse der Kindheit eindringt und dann wieder mit zupackender Satire Ignoranz und Egoismus der Erwachsenen, gängige Formeln und pseudo-wissenschaftlichen Schwindel demaskiert, mit einer Leidenschaft, die er selbst einmal beiläufig erklärt:

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»Ich habe dieses Buch im Feldlazarett geschrieben, bei Geschützdonner, mitten im Kriege; ein Programm Verständnis heischender Nachsicht allein genügte nicht.« Pestalozzi, dem Korczak viel verdankte und dessen Kindheit er in einem Roman nachzeichnen wollte, hatte durch »Gertrud« seine Hauptaussagen gemacht. Wie Gertrud ihre Kinder lehrt ist das für den großen Schweizer bezeichnendste Werk und für das pädagogische Denken klassisch zu nennen, da es voll von unzähligen Inspirationen für das gesamte 19. Jahrhundert ist. Korczaks Schrift Wie man ein Kind lieben soll ist gleichsam seine »Gertrud«; es ist seine Synthesis des Kindes. Später hat er diese Synthesis präzisiert, und er hat sie im dritten Teil dieses Buches und in seiner Schrift Prawo dziecka do szacunku (Das Recht des Kindes auf Achtung) mit Argumenten belegt. Er sollte diese Synthesis später in – den·Radioplaudereien des Alten Doktors und in seiner Heiteren Pädagogik populär machen, und er sollte neue künstlerische Erfolge mit seinen Erzählungen Wenn ich wieder klein bin und König Hänschen haben – zu dieser Grundkonzeption vom Kind und von dessen Welt aber sollte er nichts mehr hinzufügen noch abstreichen. Unschwer lässt sich hier eine gewisse Affinität zwischen Korczak und einer für das Königreich Polen zur Zarenzeit charakteristischen Kategorie von Wanderphilosophen entdecken, also von Gelehrten ohne Lehrstuhl wie Nałkowski, Radlin´ski, Krzywicki (dieser vielleicht in geringerem Maße), Abramowski und Brzozowski … Ohne wissenschaftliche Arbeitsstätte mit modernen Forschungsmitteln, ohne deren technische Bequemlichkeiten und deren Wechselbeziehungen von Versuchsreihen – dabei jedoch stark engagiert in aktuellen sozialen Fragen – tendieren sie alle zur Philosophie hin; sie neigen dazu, auf einem weit gespannten Problemhintergrund ihre Fragen zu stellen, nicht zuletzt solche einer übergreifenden Deutung von Grenzbezirken verschiedener Disziplinen. Jeder von ihnen ist durchweg originell und suggestiv, und jeder von ihnen hinterlässt Neuerungen, die eine längere Zeit hindurch beunruhigend wirken, jedoch nicht immer gründlich fundiert sind und daher oft erst einen Anfang darstellen. Noch ein weiterer Zug verbindet Korczak mit dem stürmischen Beginn unseres Jahrhunderts. Die Revolution und die Klassenkämpfe lehren ihn, obgleich er an ihnen nicht teilnimmt, das Kind unter dem Aspekt der Interessenkämpfe zu sehen, und er wird infolgedessen zum Kämpfer. »Wollte man die Menschheit in Erwachsene und Kinder und das Leben in Kindheit und Reife einteilen, so gäbe es in der Welt und im Leben sehr viel Kindhaftes. Weil wir aber nur die eigenen Auseinandersetzungen und die eigenen

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Sorgen im Blick haben, nehmen wir es nicht wahr, so wie wir früher die Frauen, die Bauern, die unterdrückten Schichten und Völker nicht zu sehen vermochten. Wir haben uns so eingerichtet, dass die Kinder uns möglichst wenig stören, möglichst wenig ahnen, wer wir eigentlich sind und was wir wirklich tun.« Die Kinder – sie sind für ihn eine unterdrückte Gesellschaftsschicht, ein Proletariat auf kleinen Füßen, das mit der mühseligen Arbeit des Wachsens beschäftigt ist. Er ist ihr Volkstribun, der um das Recht auf freie Entwicklung für sein kleines Volk kämpft und Forderungen oder Anklagen erhebt. Zwei Kriege, die er miterlebt, zwei Revolutionen, die Unabhängigkeit des Vaterlandes (von der man sich erträumt hatte, dass es in diesem neuen Vaterland verständiger und menschlicher zugehen würde als irgendwoanders, und das sich – wie überall auf der Welt – als von Gewalttat, Unrecht und Falschheit erfüllt erwiesen hatte), ferner zwielichtige Kollektive, Psychosen, die hier und da die Massen erfassten – all diese modernen Erscheinungen, dramatischen Auseinandersetzungen und Gegensätzlichkeiten setzen sich für ihn zu einem wenig heiteren Bild von der Welt und vom Menschen zusammen, das er später in seinem Senat der Wahnwitzigen szenisch dargestellt hat. Ihm stellt sich die Zukunft nicht so sehr in einer anderen, besseren Gesellschaftsordnung als vielmehr in einem besseren Menschen dar. Dummheit, Habgier, Lüge und Dieberei überwuchern wie eh und je die neu errichteten Institutionen, die Primitiven verderben die Präzisionsgeräte, und hohe Ideale, die in der unreifen, übelgesinnten Masse wie Fermente wirken, schlagen schließlich in Schändlichkeit um. Es geht um die Veredelung der Art; aber das ist ein langer und komplizierter Prozess, der sich in zwei Stadien vollzieht: in der Eugenik, die einen edleren menschlichen Grundstoff liefern soll, und in der Erziehung oder dem eigentlichen Bearbeitungs­prozess. Nicht alles in den pädagogischen Arbeiten Korczaks ist in unanfechtbarer Weise zuendegeführt. Aber alles ist tief durchdacht, in einer logischen Konzeption verbunden und auf reiche Erfahrung gegründet. Man gewinnt den Eindruck einer so konsequenten Architek­tonik, dass man bei allgemeiner Kenntnis seiner Prinzipien die einzelnen Elemente mit ziemlicher Genauigkeit ableiten und ihre Tragfähigkeit, ihre Rangfolge und funktionale Bestimmung festlegen kann. Wie sehen nun diese Prinzipien aus? Was hier vor allem in die Augen fällt, ist die in gewisser Hinsicht uneigennützige medizinische Seite seiner erzieherischen Bemühungen. Korczak kennt keine anderen Gebote als die moralische und physische Gesundheit des Kindes, die Förderung all seiner positiven und die Zügelung seiner schlechten Eigenschaften. Seine Erziehungsarbeit geschieht nicht auf Empfehlung der Kirche, des Staates oder einer Gesellschaftsklasse, und sie geschieht

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auch nicht im eigenen Interesse, sondern zum Wohl des Kindes selbst. In dieser Hinsicht postuliert er die kategorische Widerlegung Platos und die all seiner Epigonen durch zweitausend Jahre hindurch, namentlich für die Pädagogik totaler Staaten. Die Kinder mit Selbsterkenntnis ausrüsten, ihre Arbeitsgewohnheiten festigen, ihnen Selbstbeherrschung und einträchtiges Zusammenleben beibringen, irgendein Minimum an Menschenwürdigkeit – ihren weiteren Weg werden sie schon allein finden, und sie werden allein über sich selbst entscheiden. »Eines geben wir euch mit – die Sehnsucht nach einem besseren Leben, das es noch nicht gibt, das aber einmal kommen wird, wenn ihr ein Leben der Wahrheit und Gerechtigkeit geführt habt«, pflegte er damals zu seinen Zöglingen zu sagen, wenn sie sein Haus des Kindes verließen. Jahre später, schon im Vorgefühl des nahenden Unterganges, schreibt er in sein Tagebuch, er wisse nicht, was er den Kindern eigentlich zum Abschied sagen solle: Bis zum Äußersten wehrt er sich dagegen, die individuelle Persönlichkeit des Kindes nach eigenen Vorstellungen zu formen und ihm die eigenen Urteile und Programme aufzuzwingen. Ich muss dabei immer an Flaubert denken, dessen literarisches Ideal eine so objektive und natürliche Prosa war, dass es gänzlich unmöglich schien, die Existenz des Autors auch nur zu ahnen. Das zweite, ebenso wichtige Prinzip Korczaks ist der absolute Wert der Kindheit. Nicht im Hinblick auf die Zukunft, auf einen Nutzen für irgendjemanden oder irgend etwas, sondern als Wert an sich. Er untersucht dieses Prinzip unter verschiedenen Aspekten und argumentiert: »Ohne eine heitere vollwertige Kindheit verkümmert das ganze spätere Leben.« »Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer.« »Es ist einer der schlimmsten Fehler zu meinen, die Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kinde und nicht vom Menschen.« Daraus folgen zwei grundlegende Erkenntnisse: zum ersten die Achtung vor dem Kindheitsalter, das den anderen Lebensaltern des Menschen gleichberechtigt sein soll (eine für damalige Zeiten verwunderliche Forderung) also Gleichberechtigung des Kindes, Deklaration des »Rechtes des Kindes auf Achtung«, die ernsthafte Behandlung seiner Angelegenheiten und Erlebnisse, die Souveränität seiner Eigenart und ein gerechter Anteil an der Verteilung des Sozialproduktes; zum andern die soziologische Begriffsbestimmung des Kindes als einer unterdrückten und ungerecht behandelten Gesellschaftsschicht. Bezeichnend für Korczak ist seine ausgesprochen objektive dialektische Betrach­ tung des Kindes. Für ihn gilt nicht das Kind im Allgemeinen, sondern immer nur das Kind als Individuum. Nicht das Kind, wie es sein wird, sondern wie es ist – nicht wie

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es sein sollte, sondern wie es sein kann. Er will das Kind in dessen unaufhörlichem Wandlungsprozess erfassen, und er sucht dabei nach wirksamen Mitteln, auf das einzelne Kind jetzt und unter den gegenwärtigen Bedingungen einzuwirken. Korczak sucht nach einem Mittelweg zwischen Zwang und Willkür, nach einem Weg der Vereinbarung, der Verständigung, wie es Maryna Falska in ihrem Bericht über die pädagogischen Prinzipien des Waisenhauses Nasz Dom (Unser Haus) formuliert: »An die Stelle des Zwanges ist die freiwillige und bewusste Anpassung des Individuums an die Formen des Gemeinschaftslebens gesetzt worden. Es gab nicht viele Worte, keine Moralpredigten: Aufbau und Atmosphäre des Internats sollten so beschaffen sein, dass die Kinder sich wohlfühlten, dass ihnen selbst daran gelegen war, sich nach allen ihren Kräften zu bemühen, um sich zu beherrschen und zu überwinden, sich zu fügen und sich an die Ansprüche und Bedürfnisse der Umwelt anzupassen.« Dieses erzieherische Grundprinzip verwirklichte Korczak in den zwanzig Jahren seiner Tätigkeit in zwei Warschauer Anstalten, im Dom Sierot (Waisenhaus), einem Internat für jüdische Kinder, und im Nasz Dom (Unser Haus), einem Haus für polnische Kinder. Die Erzieherteams beider Häuser, die von ihm geleitet wurden, standen in sehr engem gegenseitigem Arbeitskontakt. Auch die Kinder beider Anstalten lebten in Freundschaft miteinander; manchmal kam eine Gruppe von Zöglingen für längere Zeit in das Dom Sierot und umgekehrt. Das eine wie das andere Haus war in gleicher Weise organisiert, und beide hatten dasselbe erzieherische Klima und dieselben pädagogischen Methoden, die zu der Konzeption einer organisierten Kindergemeinschaft gehören. Diese Konzeption war im Grundsatz nicht neu, denn sie wurde auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Ländern zu der Zeit praktiziert und diskutiert, als Korczak sein System schuf. Es waren Zeiten einer pädagogischen Gärung und Krise, als immer neue Richtungen entstanden, die mit Donnerstimme dazu aufforderten, mit der alten Routine zu brechen. In der Pädagogik ging es heiß her, und immer deutlicher war der Ruf nach der Selbstverwaltungsmethode zu vernehmen. Es war bereits nach der Zeit der Kleinen Republiken, die nach dem Wesen von Homer Lane und William R. George in England und in den Vereinigten Staaten bestanden. Wickersdorf und Odenwald-Schule, »die freien Schulgemeinden« in Deutschland, existierten schon, auch die »Ecole des Roches Demolins« in Frankreich, und auch die Sommerkolonien, die Šackij nach den Prinzipien der Jugendselbstverwaltung in der Nähe von Moskau unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg leitete. Allen diesen pädagogischen Experimenten ist das Bestreben gemeinsam, ein Höchstmaß an Initiative, Selbstständigkeit und einträchtigem Zusammenleben der

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Zöglinge in ihrer organisierten jungen Gemeinschaft zu erreichen, wie das seinerzeit Adolphe Ferrière begründet hat: »Das Selbstverwaltungssystem ist eine Erziehungsmethode, und erziehen heißt, aus mangelndem Sachverstand zu Sachkundigkeit, aus Unbeholfenheit zu Geschicklichkeit, aus der Sphäre des Unbewussten zum Wissen, aus mangelnder Voraussicht zur Umsicht zu führen.« Über dieses gemeinsame Prinzip hinaus nahm das Experimentieren mit der Selbstverwaltungsmethode verschiedene Formen an, entsprechend den pädagogischen Traditionen in den einzelnen Ländern, ihrer Geschichte, ihrer Kultur und der Persönlichkeit derer, die sie schufen. Korczak knüpft in seinem System in einem gewissen Maße an vergessene, aber schöne Traditionen aus der Zeit der polnischen Aufklärung im 18. Jahrhundert an. Die Notwendigkeit einer inneren Erneuerung des Staates, der von der Eroberungssucht dreier mächtiger Nachbarn bedroht war, nötigte damals dazu, die Nation in einem patriotischen und staatsbürgerlichen Geiste zu erziehen, und so stieg die Pädagogik in Polen zur Staatsräson allerhöchsten Ranges auf. Das erste Kultusministerium der Welt entstand in Polen 1773 in Gestalt der Kommission für Nationale Erziehung; man reformierte damals das mittelalterliche Programm und die Unterrichtsmethoden im Geiste der fortschrittlichsten Prinzipien der Epoche, zum ersten Mal führte man weltliche Ethik in den Schulen ein, die sogenannte »Moral-Lehre«, man legte besonderen Nachdruck auf die staatsbürgerliche Erziehung, und man begann unter anderem, die Selbstverwaltungsmethode einzuführen, indem man empfahl, Schüler-Kollegialgerichte zu bilden. Nun waren in Korczaks Anstalten alle, Zöglinge wie Erzieher, Bürger ihrer kleinen Republik, in der es öffentlich bekannte, genau umrissene Rechte und Pflichten für alle gab. Von den Prinzipien dieses weit verzweigten Systems lassen sich hier in Kürze nur die wichtigsten Elemente erwähnen. Vor allem geht es um die Einwirkung auf das Kind durch die Meinung seiner Umwelt. Alle Taten eines Kindes wurden mit den Kategorien der Anerkennung oder der Verurteilung durch seine Altersgenossen deutlich gemacht. Der Druck der öffentlichen Meinung der Kindergemeinschaft war umso stärker, als er auf unbestreitbare und eindeutige Art zum Ausdruck kam und durch ein Dokument, wie es eine Abstimmung darstellt, einsichtig gemacht wurde. Diese Abstimmungen über den neu eintretenden Zögling fanden nach einem Monat oder nach einem Jahr seines Aufenthaltes in der Anstalt statt, das heißt also vor der Zuerkennung des Ranges eines vollberechtigten »Staatsbürgers«; ferner gab es sie in der Zeit der sogenannten Rehabilitierung, wenn einer der Zöglinge sich in seinem Verhalten gegenüber seinen Kameraden im Schulunterricht und in der Arbeit

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für sein Unterkunftshaus bessern wollte oder wenn er einen höheren staatsbürgerlichen Rang erlangen wollte. Die Abstimmung fand in solchen Fällen auf die Weise statt, dass jedes Kind drei Kärtchen erhielt: Auf der ersten stand ein Pluszeichen, das bedeutete »Ja, ich mag und schätze ihn«; auf der zweiten ein Minuszeichen oder »Nein, ich kann ihn nicht leiden, ich traue ihm nicht«, und auf der dritten Karte stand eine Null, also »Ich weiß nicht, er ist mir gleichgültig«. Eins von diesen Kärtchen wurde in eine Büchse geworfen, mit der der Erzieher an den Tischen entlangging; denn gewöhnlich fand eine Abstimmung im Speiseraum während einer Mahlzeit statt. Ziemlich eindeutig und frappierend war die Aussage der Zahlen, wenn an der Tafel 8o Minuszeichen, 11 Nullen und nur 9 Plusvermerke erschienen. Oder umgekehrt. Das Verhältnis von Wohlwollen, Abneigung und Gleichgültigkeit der Gruppe stand weiß auf schwarz vor den Augen der Kinder und der Erzieher. Und darum ging es ja. Bloße Annahmen, Verdachtsmomente und Gutdünken sollten durch eine offenkundige Tatsache ersetzt werden. Es galt, die aktuelle Beurteilung der Umwelt ebenso wie die Körpertemperatur zu messen und anzugeben. Hervorgehoben zu werden verdient es, dass auch die neu hinzugekommenen Erzieher nach einer gewissen Probezeit sich einer Abstimmung unterziehen mussten. Die zweite sehr wesentliche und charakteristische Selbstverwaltungsinstitution in Korczaks Kinderhäusern war das Kameradschaftsgericht, das übrigens wie in jeder anderen Gemeinschaft ein wesentliches Kriterium für die Ausbildung der Bürgerrechte und den Grad der Demokratisierung ist. Korczak ging es jedoch dabei nicht um die Rechtspflege, sondern um die Bildung einer Erziehungsinstitution par excellence, welche die Kinder zum Nachdenken nötigte. Wenn sie sich kritisch selbst überprüften, dann sahen und verstanden sie auch sich selbst und ihre Altersgenossen besser, und sie beachteten die Regeln eines einträchtigen Zusammenlebens. Gleichzeitig ging es Korczak auch darum, dem Erzieher, der zugleich Sekretär dieses Gerichts war, noch ein Feld der engen Zusammenarbeit mit den Kindern und der Beobachtung zu eröffnen, damit er zum Sachkenner für kindliche Probleme werden sollte. Die Arbeit für das Kinderhaus, für die Gemeinschaft, wurde als wichtiger Erziehungsfaktor betrachtet, und man bemühte sich darum, die Arbeit schließlich zu einer inneren Selbstverständlichkeit und zum Maßstab des eigenen Wertes zu machen. Diese Arbeit wurde in ein System von einzelnen Diensten aufgegliedert. Die Kinder sorgten für Sauberkeit und Ordnung im Haus, halfen in der Küche, im Essraum und in der Bibliothek, betreuten die im Unterricht Schwächeren und die Kranken, und sie arbeiteten für den Bedarf der Anstalt in der Wäscherei, der Buchbinderei und in der Tischlerwerkstatt. Diese Dienstleistungen suchten sich die Kinder selbst aus. Die Meldungen der Einzelnen wurden bei einer allgemeinen Versammlung unter dem Gesichts-

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punkt geprüft, ob dieser oder jene die vorgesehenen Arbeiten auch bewältigen könnte, und erst nach Abstimmung und Vereinbarung wurde schließlich die Liste der einzelnen Dienstleistungen und der Diensthabenden für den kommenden Monat aufgestellt. Und da es schwierige und leichtere Arbeit gab, mehr oder weniger verantwortungsvolle, ergaben sich dabei für die Kinder deutlich erkennbare Degradierungen oder auch Rangerhöhungen. Die Dienstleistungen wurden nach Arbeitseinheiten bewertet (eine halbe Stunde Arbeit für das Kinderhaus entsprach einer solchen Einheit) und von den Erziehern kontrolliert. Wenn jemand nach ein paar Monaten redlicher Arbeit 500 Arbeitseinheiten für sich verbucht hatte, erkannte ihm der Selbstverwaltungsrat eine Gedenk-­Postkarte zu (bunte Reproduktionen von Blumen oder Früchten, mit einer entsprechenden Widmung auf der Rückseite, mit Korczaks Unterschrift und einem Abdruck des Ratsstempels). Korczak legte besonderes Gewicht auf solche Zeichen der Anerkennung und des Ansporns. »Das Böse tut sich selbst kund«, pflegte er zu sagen, »es zwingt zur sofortigen Reaktion. Das Gute geht gewöhnlich auf leisen Sohlen, es macht kein Aufhebens, und so geht man an ihm vorüber, ohne es wahrzunehmen.« Daher rührten Korczaks breit angelegte und auf verschiedene Weise vollzogene Bemühungen, gute Taten denkwürdig zu machen. Daher wurden Gedenk-Postkarten nicht nur für Arbeitsleistungen zuerkannt, sondern auch zur Erinnerung an eine Besserung, an ein besonders gutes Abstimmungsergebnis oder an gute Betreuung jüngerer und schwieriger Kinder. Diesem Zweck, gute Taten festzuhalten, dienten auch besondere Gedenktage, die in der Anstalt zur Erinnerung an ein erfreuliches Ereignis oder als Anerkennungszeichen für die Arbeit eines Teams bestimmt wurden (Tag der Küche, Tag der Wäscherei usw.), und schließlich auch eine Liste der Danksagungen. Ein anderes Gebiet für derartige erzieherische Bemühungen, den Wunsch nach Selbsterziehung zu wecken und zu festigen, stellte die Technik der Willensbildung dar. Hier waren die für die Kinder attraktiven Einfälle Korczaks schier unerschöpflich. Manchmal nahm dieses Willenstraining die Form eines Wettkampfes an; wie beispielsweise mit der Liste der Frühaufsteher (Wer springt drei Monate lang beim ersten Gongschlag aus dem Bett?). Ein andermal wieder gab es ein Mittelding zwischen Spiel und Beichte: Die Kinder bekannten Korczak ihre Fehler, die sie gern loswerden wollten, und wetteten mit ihm um zwei Bonbons, dass sie während einer oder zweier Wochen sich nur noch soundsovielmal und nicht öfter schlagen, zanken oder ausschimpfen würden; diese Wette wurde in ein besonderes Buch eingetragen. Leidenschaftlich, verzweifelt und hoffnungsvoll gewannen oder verspielten die Kinder jene beiden billigen symbolischen Bonbons, und so verringerten sich dabei die Schwächeanfälle ihrer Natur bis auf ein Minimum. Indem dieses ganze System die Folgen und Konsequenzen jeder Tat aufzeigte, aber auch die Wandelbarkeit von Fehlern und Vorzügen, und endlich die Hilfen

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für die Selbstbeherrschung, sprach es zu dem Kind unaufhörlich im Geiste jener Mahnung Shakespeares: »Einmal nur beherrsche dich! Das gibt dir Kraft für einen nächsten Sieg!« So würde ich die Grundzüge von Korczaks Pädagogik, seinen Methoden und seinem System umreißen. Aber selbst wenn er in seinen Kinderhäusern keine Methode, kein System hinterlassen hätte, so würde er trotzdem heute im Kreis unserer Interessen und Taten weiterwirken. Denn er hat als Schriftsteller unvergängliche Werte hinterlassen: Er erzieht Erzieher und Eltern, er begründet eine in ihrer Innerlichkeit unvergleichliche Schule der Kinderpsychologie, er ergreift uns durch seine Humanität, und er festigt uns durch seine verantwortliche, tätige Haltung dem Leben gegenüber. Korczaks Schriften richten sich an eine empfängliche, nachdenkliche Leserschaft. Das ist gerade heute nicht ohne Bedeutung, da wir mit einer Mischung von Angst und gewisser Hoffnung das Phäno­men einer Massenkultur betrachten, einer Kultur, die weitgehend aus zweiter und dritter Hand übernommen wird, die in Auszügen, Zusammenfassungen oder anderen Trockendestillaten aus der Zentrifuge unserer Gegenwart und in einem schwindelerregendem Tempo unerprobte Gedanken, undurchdachte Erfahrungen, ungeordnete Kenntnisse von sich gibt, einen·attraktiven und allen zugänglichen Brei, der wie jeder Ersatz Nährwerte vortäuscht. Eine Massenkultur gibt es heute auf der ganzen Welt; sie zeigt sich in der eigentümlichen Mentalität und im Typ des Menschen, in seiner Lebensweise, in seinen Geschmacksrichtungen, Gewohnheiten und kollektiven Psychosen, am stärksten in Amerika, etwas schwächer noch bei uns – aber sie ist da und wird sich, ob wir nun wollen oder nicht, weiter entwickeln. Das ist keineswegs so schädlich, wie manche glauben, wenn die Zahl derer, die sich authentische Kulturgüter leisten können, groß genug ist und sie sich beim Genuss von Kulturmargarine über deren Qualität klar sind. Pädagogik und Literatur sondern bei der Ordnung von Korczaks Nachlass sein Erbe in veraltete, in aktuell bedeutsame und in noch nicht zeitentsprechende Werke. Die Kultur adoptiert den gesamten Korczak. Für sie ist er mit seinem gesamten Schaffen, mit seinem Leben und Sterben wertvoll und gegenwartsnah. Die Beweise von Ehrerbietung und Anerkennung, die Korczak heute in verschiedenen Ländern über trennende Grenzen, über die Unterschiede des nationalen Klimas und über politische Systeme hinweg erwiesen werden, zeugen davon, dass er heute besser bekannt ist und mehr benötigt wird als zu seinen Lebzeiten. In dem Landschaftsbild seiner Zeit zeichnet sich seine Silhouette als die eines sehr einsamen Wanderers ab. Er war allen fremd, wenn er auch überall als ein achtbarer Ausländer respektiert wurde. Die Polen aus dem nationalen und klerikalen Lager konnten ihm seine jüdische Herkunft nicht verzeihen. Die nicht assimilierten Juden sahen in ihm den polnischen Schriftsteller, den Repräsentanten der polnischen Kul-

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tur. Die soziale Linke, insbesondere die aktive revolutionäre Jugend, stieß er durch seinen Skeptizismus ab, aber auch dadurch, dass er die Kinderfrage nicht mit dem Kampf um die Änderung des Gesellschaftsaufbaus verband. Für die Konservativen war er ein Linker, fast schon ein Bolschewik. In der literarischen Welt stand er abseits von Richtungen und Gruppen, wurde mit einem gewissen Bedauern bewundert: ein beachtliches Talent, aber illegitimer Herkunft, nämlich »von dieser Pädagogik da« gezeugt. Die Pädagogen verwirrte er mit dem Temperament des Volkstribunen, indem er ihnen die Maske vom Gesicht riss und sie dem Zweifel aussetzte, ob »denn dieser ganze Korczak vielleicht nicht doch nur Literatur sei?« In meiner Studentenzeit war ich sein Sekretär, und zwei Jahre hindurch Erzieher in seinen Kinderhäusern, in jeder Anstalt ein Jahr; dann übernahm ich die Redaktion der von ihm gegründeten Zeitschrift für Kinder und Jugendliche, und ich blieb bis zum Ende mit ihm in Verbindung. Ich kann also am Ende dieser Darlegungen Zeugnis ablegen von dem besten Menschen, den im Leben kennen­zulernen mir vergönnt war. Er war ein Mensch von ungewöhnlicher Heiterkeit des Geistes und von großem Humor. Gewiss musste ein Mensch von solcher Gewissenhaftigkeit, ein Künstler von so absorptiver, beinahe kindlicher Empfindsamkeit starke psychische Temperaturstöße und Momente schrecklicher Leiden und Erregungen durchmachen. Welche Zweifel ihn auch immer befielen – den Extrakt seiner Probleme und ihren emotionalen Gehalt gab er in seinen Schriften und in den Briefen an seine Freunde wieder. Für seine Umgebung war er eine Verkörperung der Selbstdisziplin und der Ausgeglichenheit. In den sechzehn Jahren meiner Beziehungen und Beobachtungen gibt es nur wenige Augenblicke, in denen Korczak in Zorn ausbrach, weil er sich in einem gereizten oder depressiven Zustand befand. Zerstreutheit, Mangel an visuellem Gedächtnis und ein Übermaß vielfältiger, manchmal miteinander kollidierender Beschäftigungen zwangen ihn dazu, eine Technik der Selbstkontrolle und einen Tagesplan auszuarbeiten, der von den frühen Morgenstunden an auch die geringfügigsten Tätigkeiten festlegte, bis zu seinen Telefongesprächen hin; diesen Tagesplan trug er in sein Notizbuch ein. Seine angeborene Gewissenhaftigkeit hieß ihn, jede Arbeit zunächst einmal selbst auszuprobieren und sie erst dann jemand anderem anzuvertrauen. Daher kamen seine scheinbar so sonderbaren und nichtigen Tätigkeiten, wie beispielsweise das Schuheputzen gemeinsam mit den Kindern, die Sauberkeitskontrolle in den Klosetts, das Einsammeln des Geschirrs im Speiseraum nach den Mahlzeiten oder auch die eigenhändige Niederschrift von Korrespondentenberichten für Kinder- und Jugendzeitschriften. Nach jeder derart einfachen Arbeit drängten sich ihm weitere Überlegungen auf, und er empfand die Notwendigkeit, sich in der Internatszeitung oder bei einer Mitarbeiterversammlung auszusprechen.

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Im Blick auf die Welt und die Menschen hatte er etwas von der barmherzigen Skepsis des Anatol France an sich, etwas aus jenen Ansichten des Pfarrers Hiero­ nime Coignard: »Wenn wir über diese unseren törichten Unternehmungen lachten, die uns so erhaben erschienen und doch oft blutig waren, wenn wir zu der Überzeugung gelangten, dass unsere heutigen Vorurteile ebenso lächerliche oder abscheuliche Folgen haben wie unsere früheren, wenn wir das eine wie das andere mit derselben barmherzigen Skepsis betrachteten wie er, es käme weniger oft zu Streitereien auf dieser schönsten aller Welten …« Seiner Skepsis ließ er freien Lauf, sein barmherziges Wesen verbarg er, wo er nur konnte, indem er seine lyrische Veranlagung verschwieg, und so wirkte er manchmal rührend komisch, wenn er den alten Zyniker spielte. Und dann sein wunderbarer Sinn für Humor. Das war ein höchst origineller Humor, dem er in seiner Jugend den Ruf eines guten Feuille­tonisten zu verdanken hatte, ein Humor, der seine Erzählungen mit heiterem Glanz erfüllte und in Gesprächen überraschend zum Vorschein kam, wenn er mitten in sachlichen Überlegungen seine Ansicht mit einem karikierenden Aphorismus plastisch zu machen wusste. Sein Humor und seine entwaffnende Unmittelbarkeit ließen ein Gespräch mit Korczak so erfrischend wie ein Brausebad wirken. Mit der ernsthaftesten Miene konnte er, indem er sich über seinen skeptischen Zuhörer amüsierte, eine an sich vollkommen zutreffende Behauptung ad absurdum führen. Er verstand es, Arbeit wie ein anmutiges Vergnügen erscheinen zu lassen. Er liebte es, Streiche zu vollführen, und er liebte es auch, davon zu erzählen, denn er war ein exquisiter Plauderer, ein Kenner von Anekdoten, und er schätzte Volksweisheiten gerade um ihrer kernigen Ausdrucksweise willen. Übrigens war er selbst nicht selten Gegenstand mancher Anekdote, die damals in Warschau umlief. Er tat Gutes, ohne zu überlegen, unbewusst, in einer wunderbaren Übereinstimmung mit seiner Natur. Bei meinen letzten Besuchen bei ihm im Ghetto hätte er mit mir gehen können, denn ich hatte noch einen gefälschten Passierschein bei mir. Er lehnte ab. Mehr noch, er war überrascht. Er hatte ganz einfach nicht von mir erwartet, dass ich ihm einen so nichtswürdigen Vorschlag unterbreiten werde – die Kinder angesichts des Todes im Stich zu lassen! Später erhielt ich sein Tagebuch, das ich in Band IV seiner ausgewählten Schriften veröffentlicht habe. Auf den letzten Blättern finden wir ein mit halber Stimme gesprochenes Bekenntnis:

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»Ich wünsche keinem Menschen etwas Böses. Ich kann das nicht, ich weiß nicht, wie man das macht …« Seine Notizen enden mit einer unvollendeten Eintragung: »Ich gieße die Blumen, die armen Pflanzen des Waisenhauses, eines jüdischen Waisenhauses … Ein Posten sieht mir bei dieser Arbeit zu. Ob ihn diese meine friedliche Tätigkeit in früher Morgenstunde wohl reizt oder rührt? Er steht und schaut. Die Beine hat er breit gespreizt. Meine Glatze im Fenster – das wäre ein gutes Ziel. Er hat einen Karabiner bei sich. Warum steht er da und betrachtet mich friedlich? Er hat keinen Befehl. Vielleicht war er in Zivil Lehrer auf einem Dorf, vielleicht Notar, Straßenkehrer in Leipzig oder Kellner in Köln? Was würde er tun, wenn ich ihm zunickte? Ob er wohl freundlich winken würde? Vielleicht weiß er gar nicht, dass er ist, wie er ist? Vielleicht ist er erst gestern von weither hier angekommen …« In Majdanek und Auschwitz, in Oranienburg und Bergen-­Belsen habe ich später manchmal mit diesem guten Schatten meiner Jugend in Gedanken diskutiert. Um nicht zu zerbrechen, um nicht wahnsinnig zu werden, floh ich, wo ich nur konnte, in die Welt des Geistes und der Fantasie, und oft war ich bei den Lagerappellen geistesabwesend, irgendwo weit fort in den Gefilden der Geschichte oder inmitten von abstrakten Überlegungen. Ja, ich hatte über mancherlei nachzudenken, und mein Horizont war weit gespannt. In Auschwitz verlor ich meinen Hass gegen das deutsche Volk; denn ich sah dort gute Menschen deutscher Nationalität, die sich lange vor mir in Lagern befanden. Ich vermochte also die Situation, in der ich mich befand, unter menschlichen Aspekten zu deuten, eine Situation, zu der Jahrhunderte eines langdauernden und allgemeinen Prozesses beigetragen hatten: dem der Aufspaltung des Menschengeschlechtes in zwei verschiedene Gattungen in den »homo sapiens« und in den »homo rapax«, wie Korczak es bezeichnete. Nicht in allen Dingen war ich mit meinem Meister einig gewesen; nun aber lauschte ich seiner Stimme in diesem Dialog. Ich erblickte ihn unter den Gestalten, die mit ihrem Pathos und ihrer Wärme die Geschichte der Menschheit erhellen. Einander unähnlich, aus verschiedenen Jahrhunderten, Nationen und sozialen Schichten stammend, wecken sie doch die gleichen Empfindungen. Warum wohl? Worin sind solche Menschen einander nahe, was verbindet sie? Doch wohl die Verwandtschaft ihrer sentimental-ethischen Konstitution (nicht die ihrer psychischen, denn die ist ganz anderer Art). Aus der Identität des Guten und des Schönen in ihnen selbst, aus ihrer subtilen poetischen Sentimentalität kommt ihre Empfindlichkeit gegen das Abscheuliche. Jede Verunstaltung, jedes Unrecht, jeder Betrug

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tut ihnen weh. Ihr Leiden setzt sich um in höchste ethische Forderungen, die sie an sich selbst und nur an sich selbst stellen. Dieses höchste Ethos heißt sie die Wahrheit bekennen, die bei jeder dieser Gestalten eine andere ist, und es heißt sie diese Wahrheit ohne Vorbehalte durch ihre ganze Existenz bestätigen und mit dem Tod besiegeln. Manchmal erscheinen sie uns in der Gestalt von Heiligen oder Revolutionären, die aus freiem Willen lange vor ihrer Exekution sterben; oft finden sie sich im Schaffen eines Künstlers, eines Philosophen, eines Entdeckers wieder … Das ist nicht entscheidend. Wichtig allein ist, dass es in der Geschichte der Menschheit ohne ihr Dasein und Wirken nicht viel Menschliches gäbe.

Das Kind in der Familie Geboren werden ist nicht auferstehen; das Grab gibt uns wieder, aber es blickt uns nicht an wie die Mutter. 1 Anhelli

1. Wie, wann, wie viel – warum? Ich ahne viele Fragen, die auf eine Antwort warten, Zweifel, die eine Erklärung suchen. Und ich antworte: Ich weiß nicht. Jedesmal, wenn du ein Buch fortgelegt hast und beginnst, den Faden eigener Gedanken zu spinnen, hat das Buch seinen beabsichtigten Zweck erreicht. Wenn du beim schnellen Blättern nach Vorschriften und Rezepten suchen solltest, wenn du unwillig darüber bist, dass es nur wenige sind, so wisse, wenn du Ratschläge und Hinweise findest: Dies ist nicht mit dem Willen des Autors geschehen, sondern gegen diesen. Ich weiß nicht und kann nicht wissen, wie mir unbekannte Eltern unter unbekannten Bedingungen ein mir unbekanntes Kind erziehen können. Ich sage ausdrücklich nicht »erziehen wollen« und nicht »erziehen sollten«. Dies »Ich-weiß-Nicht« ist in der Wissenschaft der Ur-Nebel, aus dem neue Gedanken auftauchen. Für einen Verstand, der nicht an wissenschaftliches Denken gewöhnt ist, bedeutet ein »Ich-weiß-Nicht« eine quälende Leere. Ich will lehren, das wunderbare, von Leben und faszinierenden Überraschungen erfüllte schöpferische »Ich-weiß-Nicht« der modernen Wissenschaft in Bezug auf das Kind zu verstehen und zu lieben. Es geht mir darum, dass man begreift: Kein Buch und kein Arzt können das eigene wache Denken, die eigene sorgfältige Betrach­tung ersetzen. Oft begegnet man der Meinung, dass die Mutterschaft eine Frau adelt, dass sie erst als Mutter geistig reift. Ja, die Mutterschaft lässt mit flammenden Buchstaben Fragen erscheinen, die alle Bereiche des äußeren und des geistigen Lebens umfassen; indessen kann man diese auch unbeachtet lassen, ihre Beantwortung feige in eine ferne Zukunft verschieben oder sich darüber entrüsten, dass man ihre Lösung nicht käuflich erwerben kann. 1 Dichtung in rhythmisierter Prosa des polnischen Romantikers Juliusz Słowacki. Der Titelheld Anhelli durchwandert, in einer Anspielung an Dantes Göttliche Komödie, die sibirische Hölle.

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Einem Menschen befehlen, er solle diese Gedanken zu Ende denken und eine fertige Lösung geben – das hieße, von einer fremden Frau zu verlangen, sie soll dein eigenes Kind zur Welt bringen. Es gibt Gedanken, die man selbst unter Schmerzen gebären muss, und sie gerade sind die kostbarsten. Sie entscheiden darüber, ob du, Mutter, deinem Kinde die Brust gibst oder das Euter, ob du es als Mensch oder als Weibchen erziehst, ob du es leiten oder am Halfter des Zwanges hinter dir herschleppen wirst, ob du mit ihm nur solange spielen wirst, wie es klein ist, und dabei im Austauschen von Zärtlichkeiten einen Ersatz findest für die spärlichen oder unwillkommenen Liebkosungen deines Ehegatten; später aber, wenn es herangewachsen ist, überlässt du es sich selbst oder stellst dich ihm feindlich gegenüber. 2. Du sagst: »Mein Kind« Wann hast du das größte Recht darauf, wenn nicht in der Zeit der Schwangerschaft? Der Schlag des wie ein Pfirsichkern so kleinen Herzens ist das Echo deines Pulsschlages. Dein Atem lässt auch ihm den Sauerstoff der Luft zukommen. Ein Blutstrom kreist in ihm und in dir, und kein roter Blutstropfen weiß es jetzt schon, ob er bei dir bleibt oder bei ihm oder ob er vergossen wird und stirbt als Tribut, den das Geheimnis der Empfängnis und der Geburt fordert. Der Bissen Brot, den du kaust, ist für dein Kind Stoff zum Aufbau seiner Beine, mit denen es laufen, der Haut, die es kleiden, der Augen, mit denen es sehen, des Gehirns, in dem das Denken aufflackert, der Hände, die es nach dir ausstrecken, des Lächelns, mit dem es »Mutter« rufen wird. Miteinander sollt ihr den entscheidenden Augenblick erleben: Ihr werdet einen gemeinsamen Schmerz erleiden. Die Glocke schlägt – die Losung heißt: Seid bereit. Und zugleich wird es sagen: »Ich will mein eigenes Leben leben«, und du sagst: »Lebe nun dein eigenes Leben.« Unter krampfartigen Zuckungen deines Inneren wirst du es von dir geben, ohne dich um seinen Schmerz zu kümmern, kräftig und entschieden wird es sich hinausdrängen, ohne deiner Schmerzen zu achten. Ein brutaler Akt. Nein, sowohl du als auch dein Kind, ihr zittert Tausende von Malen auf nicht wahrnehmbare, subtile, wunderbar gewandte Weise, um euren Anteil am Leben zu beanspruchen und dabei nicht mehr zu nehmen, als euch von Rechts wegen gehört, nach allgemeinen, seit Urzeiten gültigen Gesetzen. »Mein Kind.« Nein, nicht einmal in den Monaten der Schwangerschaft und in den Stunden der Geburt gehört das Kind dir. 3. Das Kind, das du geboren hast, wiegt zehn Pfund. Davon sind acht Pfund Wasser und je eine Handvoll Kohlenstoff, Kalk, Stickstoff, Schwefel, Phosphor, Ka-

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lium und Eisen. Du hast acht Pfund Wasser und zwei Pfund Asche zur Welt gebracht. Und jeder Tropfen dieses deines Kindes war einmal Dunst einer Wolke, ein Schneekristall, Nebel, Tau, ein Bach und das Abwasser eines städtischen Kanals. Jedes Atom Kohlenstoff oder Stickstoff war einmal Bestandteil von Millionen verschiedener Verbindungen. Du hast nur das alles zusammengefügt, was schon vorhanden war. Die Erde, schwebend im unendlichen Raum. Ihr naher Gefährte, die Sonne, fünfzig Millionen Meilen entfernt. Der Durchmesser unserer kleinen Erde, das sind nur dreitausend Meilen feurigglühender Masse mit einer dünnen, in einer Mächtigkeit von zehn Meilen erstarrten Schale. Auf dieser dünnen, mit Feuer erfüllten Schale, inmitten von Ozeanen, eine Handvoll festes Land. Auf dem Land, zwischen Bäumen und Sträuchern, Insekten, Vögeln, Tieren, wimmelt es von Menschen. Und unter den Millionen von Menschen hast du noch ein – ja was denn? –Hälmchen, ein Stäubchen zur Welt gebracht, ein Nichts. Es ist so hinfällig, dass eine Bakterie, die erst in tausendfacher Vergrößerung einen Punkt im Blickfeld darstellt, es töten kann … Aber dieses »Nichts« ist ein leibhaftiger Bruder der Woge im Meer, des Sturmwindes, des Blitzes, der Sonne und der Milchstraße. Dieses Stäubchen ist ein Bruder der Getreideähre, des Grases, der Eiche, der Palme, des Gelbschnabels im Vogelnest, des Löwenjungen, des Füllen und des kleinen Hundes. In ihm ist etwas, das empfindet, untersucht, duldet, begehrt, sich freut, liebt, vertraut, hasst, glaubt, zweifelt, an sich zieht und abstößt. Dieses Stäubchen umfasst mit seinen Gedanken alles: Sterne und Ozeane, Berge und Abgründe. Und was ist der Inhalt der Seele anders als das All, nur ohne Dimensionen. Das ist nun der Widerspruch im menschlichen, aus vergänglichem Staub entstandenen Wesen, in dem Gott Wohnung genommen hat. 4. Du sagst: »Mein Kind.« Nein, es ist ein gemeinsames Kind, ein Kind von Vater und Mutter, von Ahnen und Urahnen. Irgendein fernes »Ich«, das in einer Reihe von Vorfahren schlief, die Stimme aus einem morschen, längst vergessenen Sarg spricht plötzlich aus deinem Kind. Vor dreihundert Jahren, im Krieg oder im Frieden, hat irgendein Mensch Gewalt gewonnen über einen anderen, im Kaleidoskop sich kreuzender Rassen, Nationen, Klassen – im Einverständnis oder mit Gewalt, im Augenblick des Entsetzens oder der Liebestrunkenheit hat er betrogen oder verführt, niemand weiß, wer und wann, aber Gott hat es im Buche der Vorherbestimmung verzeichnet, und die Anthropologen möchten es enträtseln aus Schädelform und Farbe der Haare. Manchmal

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fantasiert ein sensibles Kind, es sei ein Findelkind im Hause seiner Eltern. Das trifft zu: Sein Erzeuger ist vor langen Zeiten schon gestorben. Ein Kind ist wie ein Pergament, dicht beschrieben mit winzigen Hieroglyphen, die du nur zum Teil zu entziffern vermagst; manche aber kannst du auslöschen oder nur durchstreichen und mit eigenem Inhalt erfüllen. Ein grausames Gesetz? Nein, eine gute Erkenntnis. Sie stellt in jedem Kind das erste Glied in der unendlichen Kette der Generationen her. Suche nach dem in deinem dir fremden Kinde schlummernden Teilchen von dir selbst. Vielleicht entdeckst du es, vielleicht kannst du es sogar zur Entfaltung bringen. Das Kind und die Unermeßlichkeit. Das Kind und die Ewigkeit. Das Kind – ein Stäubchen im unendlichen Raum. Das Kind – ein Moment in der Zeit. 5. Du sagst: »Es soll … Ich will, dass es …« Und du suchst nach einem Vorbild, dem es gleichen soll, nach einer Lebensform, die du für dein Kind begehrst. Es hat nichts zu bedeuten, dass ringsherum graue Mittelmäßigkeit herrscht. Die Menschen machen sich zu schaffen, wollen dies und das erreichen, kleinliche Sorgen, nichtiges Trachten, banale Ziele … Unerfüllte Hoffnungen, beißender Groll, ewige Sehnsucht … Das Unrecht herrscht. Frostige Gleichgültigkeit lässt zu Eis erstarren, Heuchelei erstickt den Atem. Was Klauen und Zähne hat, greift an, was von stiller Gemütsart ist, zieht sich in sich selbst zurück. Und sie leiden nicht nur, sondern sie nehmen auch Schaden. Was soll aus dem Kind werden? Ein Krieger oder nur ein Arbeiter, ein Feldherr oder ein gemeiner Soldat? Oder soll es nur glücklich werden? Wo ist das Glück und was ist es? Kennst du den Weg? Gibt es überhaupt jemanden, der ihn kennt? Wirst du damit fertig werden? Wie kann man in die Zukunft schauen und wie es beschützen? Ein Schmetterling über dem schäumenden Wildbach des Lebens. Wie soll man ihm Beständigkeit verleihen, ohne seinen Flug zu beschweren, wie ihn abhärten und doch seine Flügel nicht ermüden? Durch das eigene Beispiel also, durch Hilfestellung, Ratschläge und gute Worte? Und wenn es sie verwirft? In fünfzehn Jahren wird es den Blick fest in die Zukunft richten, und du in die Vergangenheit. In dir Erinnerungen und Gewohnheiten – in ihm Wankelmut und trotzige Hoffnung. Du bist von Zweifeln befallen, und dein Kind hegt Erwartungen und vertraut, du fürchtest dich, und dein Kind ist ohne Angst. Die Jugend, wenn sie nicht spottet, verdammt und verachtet, will immer die mit Mängeln behaftete Vergangenheit verändern. So sollte es auch sein. Und dennoch …

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Mag es suchen, wenn es nur nicht fehlgeht, mag es klettern, wenn es nur nicht stürzt, mag es roden, wenn es sich nur nicht die Hände blutig reißt, mag es seine Kräfte gebrauchen, aber vorsichtig. Es sagt: »Ich bin anderer Meinung. Genug mit der Fürsorge.« Du hast also kein Vertrauen? Du brauchst mich nicht mehr? Meine Liebe ist dir lästig? Uneinsichtiges Kind, das vom Leben nichts weiß, armes Kind, undankbares Kind! 6. Undankbares: Ist denn die Erde der Sonne dankbar, dass sie scheint? Dankt der Baum dem Samen, weil er aus ihm hervorgegangen ist? Singt die Nachtigall ihrer Mutter ein Lied, weil deren Brustgefieder sie gewärmt hat? Gibst du deinem Kinde weiter, was du von deinen Eltern empfangen hast, oder borgst du es ihm nur, um es wieder an dich zu nehmen, indem du geschäftig alles anschreibst und Zinsen berechnest? Ist denn die Liebe ein Verdienst, für das du Bezahlung forderst? »Die Krähen-Mutter flattert wie irrsinnig hin und her, setzt sich dem Buben fast auf die Schultern, beißt sich an seinem Stock fest, hängt dicht über ihm in der Luft und schlägt mit dem Kopf wie mit einem Hammer gegen den Baumstamm, hackt kleine Zweige ab und krächzt mit der heiseren, angestrengten, trockenen Stimme der Verzweiflung. Als der Bengel eins von ihren Jungen aus dem Nest wirft, lässt sie sich zur Erde fallen mit schleppenden Flügeln, öffnet den Schnabel, will krächzen, hat aber keine Stimme mehr, schlägt also mit den Flügeln und hüpft wie toll, lächerlich anzusehen, zu den Füßen des Jungen hin. (…) Als man alle ihre Kinder getötet hat, fliegt sie auf den Baum zurück, betrachtet das leere Nest, und während sie über ihm kreist, denkt sie über etwas nach.« (Zeromski2) Die Mutterliebe ist elementar. Die Menschen haben sie nach ihrer Art verändert. Die ganze zivilisierte Welt mit Ausnahme der von der Kultur unberührten Massen praktiziert den Kindermord. Ein Ehepaar, das zwei Kinder hat, wo es doch zwölf hätte haben können, ist des Totschlags schuldig an zehn Kindern, die nicht geboren wurden und unter denen das eine gerade »ihr Kind« hätte sein können. Unter den Ungeborenen haben sie vielleicht das wertvollste umgebracht. Törichte Aufgeblasenheit. Lange wollte ich nicht begreifen, dass man rechnen muss und besorgt sein um die Kinder, die geboren werden. In der Unfreiheit unter den Teilungsmächten, als Untertan, nicht als Staatsbürger, habe ich mich nicht darum bekümmert und nicht bedacht, dass gleichzeitig auch Schulen, Werkstätten, Krankenhäuser und kulturelle Daseinsbedingungen entstehen müssen. Eine unbedachte Vermehrung empfinde ich 2 Ungenau wiedergegebenes Zitat des polnischen Dichters Stefan Zeromski (1864–1925).

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heute als Unrecht und leichtsinnigen Frevel. – Wir befinden uns vielleicht am Vorabend einer neuen Gesetzgebung, die von den Gesichtspunkten der Eugenik und der Bevölkerungspolitik bestimmt ist. 7. Ob es wohl gesund ist? Noch ist es für die Mutter verwunderlich, dass ihr Kind nicht mehr mit ihr identisch ist. Bis vor Kurzem noch war in ihrem zwiefachen Leben die Sorge um das Kind ein Teil des sorglichen Umgangs mit sich selbst. So sehr hat sie die Zeit herbeigesehnt, da alles vorüber wäre und sie diesen Augenblick hinter sich hätte. Sie hatte gemeint, dann von Sorgen und Nöten frei zu sein. Und nun? Sonderbar: Früher war ihr das Kind näher, es gehörte enger zu ihr, sie war seiner Sicherheit gewisser, selbstverständlicher erschien sie ihr. Mit dem Augenblick, da fremde Hände – erfahrene, entlohnte, selbstsichere – es in Pflege genommen hatten, fühlte sie sich allein, beiseitegeschoben, beunruhigt. Die Welt nimmt es bereits in Beschlag. Und in den langen Stunden einer erzwungenen Untätigkeit stellen sich manche Fragen ein: Was habe ich ihm mitgegeben, habe ich es auch mit allem Notwendigen ausgestattet, wie habe ich für seine Sicherheit gesorgt? Ist es auch wirklich gesund? Warum weint es denn? Warum ist es mager, saugt schlecht, schläft nicht, schläft zuviel, warum hat es ein so großes Köpfchen, krumme Beinchen, geballte Fäustchen, warum eine so rote Haut, weiße Pustelchen auf der Nase, warum schielt es wohl, hat den Schluckauf, niest, muss würgen, ist heiser? Das muss so sein? Vielleicht sagt man ihr die Unwahrheit? Sie betrachtet das Kleine, Hilflose, gänzlich unähnlich allen ebenso Kleinen und Zahnlosen, denen sie auf der Straße und im Garten begegnet. Ob es wohl möglich ist, dass auch ihr Kind in drei oder vier Monaten …? Aber vielleicht täuschen sich alle? Vielleicht nehmen sie es nicht ernst? Die Mutter lauscht misstrauisch auf die Stimme des Arztes, verfolgt ihn mit ihren Blicken: Sie möchte aus seinen Augen, seinem Achselzucken, dem Hochziehen der Augenbrauen, den Stirnfalten ablesen, ob er die Wahrheit sagt, ob er unschlüssig ist, ob er sich ausreichend konzentriert? 8. »Ob es hübsch ist? Daran liegt mir nichts.« So reden unaufrichtige Mütter, welche die Ernsthaftigkeit ihrer Ansichten über Erziehungsfragen gern unterstreichen möchten. Schönheit, Anmut, Statur, eine angenehm klingende Stimme, das ist ein Kapital, das du deinem Kinde mitgegeben hast; wie die Gesundheit, wie der

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Verstand ist es ihm eine Hilfe auf dem Lebensweg. Man sollte die Schönheit nicht überbewerten, und wenn sie nicht mit anderen Gaben verbunden ist, kann sie sogar schädlich sein. Umso notwendiger ist es, sie mit wacher Aufmerksamkeit im Blick zu behalten. Ein hübsches Kind ist anders als ein hässliches zu erziehen. Aber da es keine Erziehung ohne Teilnahme des Kindes gibt, sollte man die Fragen von Schönheit und Anmut nicht schamhaft vor dem Kind verschweigen; denn gerade das ist ihm schädlich. Diese vorgebliche Nichtachtung der Schönheit ist ein Relikt des Mittelalters. Sollte der Mensch, der so empfänglich ist für die Schönheit einer Blume, eines Schmetterlings, eines Landschaftsbildes, sich der Schönheit des Menschen gegenüber gleichgültig verhalten? Du willst vor deinem Kind verborgen halten, dass es hübsch ist? Wenn ihm das keiner von den vielen Menschen sagt, die es im Hause umgeben, so werden es ihm fremde Leute sagen, auf der Straße, im Laden, im Garten, überall – mit einem Ausruf, einem Lächeln, einem Blick, Erwachsene oder Gleichaltrige. Es erfährt etwas davon, wenn es die Benachteiligung der hässlichen und garstigen Kinder sieht. Es begreift, dass Wohlgestalt Vorrechte verleiht, wie es auch versteht, dass diese Hand seine Hand ist, der es sich bedienen kann. So wie ein schwächliches Kind gut gedeihen kann und ein gesundes einem Unglücksfall zum Opfer fallen, so kann ein hübsches unglücklich sein, aber ein mit dem Panzer der Hässlichkeit bewehrtes, das sich nicht hervortut und unbemerkt bleibt, glücklich dahinleben. Denn du musst, musst daran denken, dass das Leben jede Begünstigung, die es als wertvoll erkannt hat, abzukaufen, abzulisten oder zu entwenden begehrt. In dieser Gleichgewichtslage mit ihren Tausenden von Vibrationen kommt es zu Überraschungen, die die Erzieherin oftmals die schmerzliche Frage stellen lassen: »Warum?« »Mir liegt nichts an der Schönheit!« Du stehst in der Gefahr, mit einem Fehler und einer Unwahrheit zu beginnen. 9. Ist es gescheit? Wenn die Mutter zunächst nur ängstlich diese Frage stellt, bald wird sie verlangen, dass es so sei. Iss, auch wenn du satt bist, auch wenn dich der Ekel überkommt, geh schlafen, und wenn es unter Tränen geschieht und du eine Stunde lang aufs Einschlafen wirst warten müssen. Du musst, ich will es so, damit du gesund bleibst. Spiel nicht im Sand, trag eng anliegende Höschen, zerzause dir nicht die Haare, denn ich will, dass du hübsch aussiehst. »Es spricht noch immer nicht  … Es ist älter als  … und trotzdem  – Es lernt schlecht …«

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Anstatt zu beobachten, um zu erkennen und zu wissen, nimmt man das erste beste Beispiel eines »wohlgeratenen Kindes« und fordert von seinem eigenen Kind: Diesem Vorbild sollst du ähnlich sein. Es darf nicht sein, dass vermögender Eltern Kind ein Handwerker wird. Es mag lieber ein unglücklicher und demoralisierter Mensch aus ihm werden. Keine Liebe zum Kind, sondern Egoismus der Eltern, nicht das Wohl des Einzelnen, sondern die Ambitionen des großen Haufens, kein Suchen nach gangbaren Wegen, sondern die Fessel der Schablone. Es gibt aktive und passive Geister, lebendige und apathische, ausdauernde und launenhaft wechselnde, nachgiebige und widerspenstige, schöpferische und auf Nachahmung bedachte, blendende und solide, sachlich bestimmte und literarisch begabte Geister; es gibt ein hervorragendes und ein mäßig durchschnittliches Gedächtnis; Esprit in der Verwendung erworbenen Wissens und redliches Bedenken, angeborenen Despotismus und Reflexion, und Kritizismus; es gibt Früh- und Spätentwicklung, einseitige oder vielfältige Interessiertheit. Aber wen geht das schon etwas an? »Soll es doch wenigstens vier Klassen beenden«, so spricht die elterliche Resignation. In Vorahnung einer glänzenden Renaissance physischer Arbeit sehe ich ihre Anwärter in allen Klassen der Gesellschaft. Derweilen schlagen sich Eltern und Schule mit jeder ungewöhnlichen, untypischen, schwachen oder unausgeglichenen Intelligenz herum. Es geht nicht darum, ob es gescheit, sondern vielmehr wie klug das Kind ist. Ein naiver Appell an die Familie, freiwillig ein schweres Opfer auf sich zu nehmen. Intelligenz-Untersuchungen und psychotechnische Versuche werden egoistische Ambitionen wirksam einschränken. Eine ferne Zukunftshoffnung, wie sich versteht. 10. Ein gutes Kind. Man sollte sich davor hüten, gut mit bequem zu verwechseln. Es weint kaum, weckt uns in der Nacht nicht auf, ist zutraulich, heiter – also gutartig. Es ist bösartig – launisch, schreit ohne sichtbaren Grund, löst bei der Mutter mehr verdrießliche als liebevolle Empfindungen aus. Unabhängig von ihrem Befinden sind Neugeborene von ihren ererbten Eigenschaften her mehr oder weniger geduldig. Hier reicht eine Einheit Schmerz aus, um zehn Einheiten Geschrei als Reaktion auszulösen, dort reagiert ein anderes auf zehn Einheiten von Unpässlichkeiten mit einer Einheit Weinen. Das eine ist verschlafen, bewegt sich träge, saugt langsam, schreit ohne lebendige Spannung, ohne deutlich spürbaren Affekt. Das andere ist reizbar, von lebhaften Bewegungen, leichtem Schlaf, es saugt heftig und schreit, bis es bläulich anläuft.

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Es hat Keuchhusten, erstickt beinahe, man muss es wieder zu sich bringen, manchmal kehrt es nur mühsam zum Leben zurück. Ich weiß, das ist eine Krankheit, die man mit Lebertran, Phosphor und milchloser Diät heilen kann. Aber diese Krankheit hatte einen Säugling zu einem reifen Mann von mächtiger Willenskraft, einer elementaren Vitalität und genialen Geistesgaben heranwachsen lassen. Napoleon litt im Säuglingsalter an Keuch­husten. Die ganze moderne Pädagogik trachtet danach, bequeme Kinder heranzubilden, sie strebt konsequent und Schritt für Schritt danach, alles einzuschläfern, zu unterdrücken und auszumerzen, was Willen und Freiheit des Kindes ausmacht, seine Seelenstärke, die Kraft seines Verlangens und seiner Absichten. Artig, gehorsam, gut, bequem, aber ohne einen Gedanken daran, dass es innerlich unfrei und lebensuntüchtig sein wird. 11. Eine schmerzliche Überraschung für die junge Mutter ist das Schreien ihres Kindes. Sie hat gewusst, dass Kinder weinen, aber bei dem Gedanken an das eigene Kind hatte sie das nicht bedacht; sie erwartete nur sein bezauberndes Lächeln. Sie wird seine Bedürfnisse genau beachten, sie wird es vernünftig aufziehen, modern, unter Anleitung durch einen erfahrenen Arzt. Ihr Kind wird nicht weinen müssen. Aber es kommt die Nacht, da sie wie betäubt daliegt, den lebendigen Widerhall der schweren Stunden, die Ewigkeiten dauerten, noch immer verspürend. Kaum hat sie die Süße einer sorglosen Ermattung, einer Trägheit ohne inneren Vorwurf, eines Ausruhens nach getaner Arbeit, nach verzweifelter Anstrengung, der ersten in einem verzärtelten Leben, verspürt. Kaum ist sie der Täuschung erlegen, dass alles vorüber sei, weil dieses andere nun schon selbstständig atmet. In sich selbst versunken, vermag sie nur der Natur geheimnisvoll flüsternde Fragen zu stellen, ohne überhaupt eine Antwort zu verlangen. Da plötzlich … Das despotische Schreien des Kindes, das etwas verlangt, sich über etwas beklagt, Hilfe fordert – aber sie versteht es nicht. Gib acht! »Wo ich doch nicht kann, nicht will, nicht weiß, was ich tun soll!« Dieses erste Schreien beim Schein der Nachtlampe ist die Ankündigung eines Kampfes des nun zweigeteilten Lebens: das eine reife Leben, zum Nachgeben, zu Entsagungen, zu Opfern gezwungen, setzt sich zur Wehr; das andere, neue, junge erkämpft sich seine eigenen Rechte. Heute klagst du es nicht an; es begreift nicht, leidet. Aber auf dem Ziffernblatt steht die Stunde, da du einmal sagen wirst: »Auch ich fühle, auch ich leide.«

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12. Es gibt Neugeborene und Kleinkinder, die wenig weinen – umso besser. Aber es gibt auch solche, denen beim Schreien die Adern auf der Stirn anschwellen; die Fontanelle tritt hervor, Gesicht und Kopf laufen dunkelrot an, die Lippen färben sich blau, die zahnlosen Kiefer beben, der Bauch bläht sich auf, die Fäustchen krampfen sich zusammen und die Beine schlagen in der Luft herum. Plötzlich lässt die Kraft nach, und es hört auf, sieht die Mutter mit dem Ausdruck vollkommener Ergebung »vorwurfsvoll« an, versucht die Augen zu schließen und will schlafen, aber nach ein paar hastigen Atemstößen kommt es wieder zu einem ähnlichen oder sogar noch stärkeren Schreianfall. Ist es wohl möglich, dass die feinen Lungen, das kleine Herz, das junge Gehirn das aushalten? Hilfe, einen Arzt! Ewigkeiten vergehen, bis er kommt, mit nachsichtigem Lächeln ihre Befürchtungen anhört, so ein Fremder, Unzugänglicher, Berufsmäßiger, für den dieses Kind nur eines von tausend ist. Er ist gekommen, um sich gleich wieder anderen Leiden zuzuwenden, andere Klagen anzuhören, jetzt ist er gekommen, bei Tag, da alles heiterer erscheint: die Sonne am Himmel, Menschen gehen auf der Straße, er ist gekommen, als das Kind gerade schläft, gewiss erschöpft nach den schlaflosen Stunden und als kaum noch geringe Spuren der gespenstischen Nacht wahrzunehmen sind. Die Mutter hört ihm zu, manchmal etwas unaufmerksam. Ihr Traum von dem Arzt, dem Freund und Führer auf dem mühseligen Reiseweg, ist unwiederbringlich dahin. Sie händigt ihm das Honorar aus und bleibt allein zurück mit der bitteren Überzeugung, dass der Arzt ein gleichgültiger, fremder Mensch ist, der nicht begreift, worum es geht. Auch er war unsicher, auch er hat nichts Bestimmtes ausgesagt. 13. Wenn die junge Mutter wüsste, wie entscheidend diese ersten Tage und Wochen sind, nicht so sehr für die Gesundheit des Kindes heute, als vielmehr für ihrer beider Zukunft. Und wie leicht kann man diese Zeit vertun! Anstatt sich mit dem Gedanken abzufinden, dass ihr Kind für den Arzt nur insoweit Gegenstand seines Interesses ist, als es ihm etwas einbringt oder seine Ambitionen befriedigt; dass es auch für die Welt wenig bedeutet, nur für sie selbst kostbar ist … Anstatt sich mit dem modernen Stand der Wissenschaft vertraut zu machen, die Mutmaßungen anstellt, um Erkenntnis bemüht ist, forscht und vorwärtsschreitet – Wissen erwirbt, aber keine Gewissheit, Hilfe zuteilwerden lässt, aber keine Garantie …

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Anstatt der Erkenntnis tapfer zu begegnen: Das Aufziehen eines Kindes ist keine Spielerei, sondern eine Aufgabe, an die man die Bemühungen schlafloser Nächte, die Summe schwerer Erlebnisse und viele Gedanken wenden muss … Anstatt all dies im Feuer eines großen Gefühls zu einem gediegenen Bewusstsein zusammenzuschmelzen, ohne Selbsttäuschung, ohne kindisches Schmollen und selbstsüchtige Bitterkeit, ist sie in der Lage, das Kind zusammen mit seiner Pflegerin in ein abgelegenes Zimmer einzuquartieren, weil sie nicht mitansehen kann, wie das Kleine leidet. Weil sie seine schmerzlichen Hilferufe nicht mehr anzuhören vermag, kann sie den einen Arzt und auch andere wiederholt herbeirufen, ohne dabei auch nur eine Erkenntnis zu gewinnen; sie wird nur gequält, betäubt und halb von Sinnen. Wie naiv ist doch die Freude einer Mutter darüber, dass sie das erste undeutliche Gerede ihres Kindes versteht, die verdrehten und verstümmelten Ausdrücke errät. Jetzt erst? … Nur so viel? … Nicht mehr? … Und die Sprache des Weinens und des Lachens, die Sprache der Augen und der Mundstellung, der Bewegungen und des Saugens? … Verzichte nicht auf diese Nächte. Sie können dir geben, was kein Buch, kein Ratschlag zu geben vermögen. Denn hier liegt der Wert nicht mehr im Wissen allein, sondern in dem tiefen seelischen Umschwung, der nicht mehr zu jenen unfruchtbaren Erwägungen zurückzukehren gestattet: »Was könnte sein, was sollte sein, was wäre gut, wenn …«, sondern unter den gegebenen Bedingungen zu handeln lehrt. In diesen Nächten kann dem Kind ein wunderbarer, schutzengelgleicher Verbündeter erstehen – die Intuition des mütterlichen Herzens, jene Hellsichtigkeit, die besteht aus dem forschenden Willen, der wachen Vernunft und einem ungetrübten Gefühl. 14. Einmal ließ mich eine Mutter rufen. »Mein Kind ist eigentlich gesund, ihm fehlt nichts. Ich möchte nur, dass Sie es ansehen.« Ich sehe es mir an, gebe ein paar Anweisungen, beantworte einige Fragen. Es ist ja gesund, lieb und fröhlich. »Auf Wiedersehen.« Noch an demselben Abend oder am anderen Tag: »Herr Doktor, mein Kind hat Fieber.« Die Mutter hat bemerkt, was ich als Arzt bei einer oberflächlichen Untersuchung während der kurzen Visite nicht entdecken konnte. Stundenlang über das Kleine gebeugt, ohne Kenntnis von Beob­achtungsmethoden, weiß sie nicht, was sie wahrgenommen hat, sich selbst misstrauend, wagt sie es nicht, sich zu ihren eigenen subtilen Beobachtungen zu bekennen.

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Und sie war darauf aufmerksam geworden, dass das Kind, ohne eigentlich heiser zu sein, doch eine etwas mattere Stimme hatte. Es plapperte seltener und auch ein bisschen leiser. Einmal zuckte es im Schlaf ein wenig heftiger als sonst. Es lächelte wohl nach dem Erwachen, aber etwas schwächer. Es saugte ein bisschen langsamer, vielleicht öfter pausierend, als sei es zerstreut. Ob seinem Lachen ein schmerzlicher Zug beigemischt war oder ob es nur den Anschein hatte? Sein Lieblingsspielzeug hatte es zornig zurückgewiesen – warum wohl? Mit hundert Regungen, die ihr Auge, ihr Ohr, ihre Brustwarzen wahrnahmen, mit hundert kleinsten Klagen sagte es: »Ich bin indisponiert. Heute fühle ich mich nicht gut.« Die Mutter glaubte nicht an das, was sie sah; denn sie hatte von keiner ähnlichen Erscheinung etwas in einem Buch gelesen. 15. Eine Tagelöhnerin bringt ihren einige Wochen alten Säugling in die Ambulanz. »Es will nicht trinken. Kaum nimmt es die Brust, dann lässt es sie auch schon wieder los. Aus dem Löffelchen trinkt es gut. Manchmal schreit es plötzlich auf, im Schlaf oder auch im Wachen.« Ich untersuche den Mund, den Rachen und kann nichts feststellen. »Bitte geben Sie ihm die Brust.« Das Kind berührt nur mit den Lippen die Brustwarze, es will nicht saugen. »Es ist so misstrauisch geworden.« Endlich nimmt es die Brust, hastig, zieht ein paarmal wie aus Verzweiflung und lässt sie mit einem Aufschrei wieder los. »Sehen Sie doch einmal hin, es hat etwas am Gaumen.« Ich untersuche noch einmal – eine Rötung, aber sonderbarerweise nur an einem Gaumen. »Oh, hier etwas Schwarzes, ein Zähnchen oder was sonst?« Ich sehe etwas Hartes, Gelbliches, oval mit einem dunklen Strich am Rand. Ich rühre daran, es bewegt sich, ich nehme es ab, darunter eine kleine rötliche Vertiefung, blutig umrandet. Schließlich halte ich dieses Etwas in der Hand: Es ist eine Samenhülse. Über der Wiege des Kindes hängt ein Vogelbauer mit einem Kanarienvogel. Der Vogel hatte die Hülse beim Fressen herausgeschleudert, sie war dem Kind auf das Bäckchen gefallen und dann in den Mund gerutscht und hatte sich in den Gaumen gebohrt. Mein Gedankengang: stomatitis catarrhalis, soor, stom. aphtosa, gingivitis, angina usw. Die Mutter: Es hat Schmerzen, irgendetwas im Mund ist nicht in Ordnung. Ich habe es zweimal gründlich untersucht … Und sie?

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16. Wenn den Arzt manchmal die genaue und bis ins einzelne gehende Beobachtung in Erstaunen versetzt, so kann er andererseits mit gleicher Verwunderung feststellen, dass Mütter das einfachste Symptom oft nicht mehr verstehen, ja nicht einmal mehr wahrzunehmen vermögen. Das Kind weint seit seiner Geburt, etwas anderes kenne ich gar nicht. Immerzu weint es! Bricht es plötzlich in Weinen aus und hat sein Schreien gleich den Höhepunkt erreicht, oder geht sein schmerzliches Klagen allmählich in Schreien über? Beruhigt es sich schnell, unmittelbar nachdem es Stuhlgang gehabt oder uriniert oder gespuckt hat, oder schreit es plötzlich und gewaltsam auf, beim Baden, beim Anziehen oder wenn man es anhebt? Oder weint es ständig klagend vor sich hin, ohne plötzliche Ausbrüche? Wie bewegt es sich dabei? Reibt es sein Köpfchen am Kopfkissen, oder bewegt es saugend die Lippen? Beruhigt es sich wieder, wenn man es aufnimmt, wenn man es wickelt, es auf den Bauch legt, öfter seine Lage wechselt? Schläft es nach dem Weinen tief und lange, oder wacht es bei jedem Geräusch auf? Weint es mehr vor oder nach dem Trinken, öfter morgens, abends oder nachts? Beruhigt es sich beim Trinken? Für wie lange? Oder will es nicht trinken, und wie äußert sich das? Lässt es die Brust los, kaum dass es sie genommen hat, oder erst beim Trinken selbst, plötzlich, oder nach einer gewissen Zeit? Weigert es sich entschieden, oder kann man es zum Trinken überreden? Wie saugt es? Warum saugt es nicht? Wenn es Schnupfen hat, wie wird es trinken? Gierig und intensiv, weil es Hunger hat, dann wieder schnell und flach, ungleichmäßig, mit Pausen, weil es keine Luft bekommt. Und weiter, Schluckschmerzen, was mag es wirklich sein? Nicht nur Hunger oder »Bauchweh« bringen es zum Schreien, sondern auch wenn ihm Lippen, Gaumen, Zunge, Rachen und Nase wehtun, wenn Finger, Ohren oder Knochen schmerzen, wenn der After durch die Klistierspritze gereizt ist, wenn es Schmerzen hat beim Urinieren, bei Übelkeit, Durst, Überhitzung, Hautjucken, das einen Monate später erst auftretenden Ausschlag ankündigt – es weint wegen eines aufgerauten Wäschebändchens, wegen einer Windelfalte, eines Watteflöckchens wegen, das sich im Hals festgesetzt hat, und eben auch wegen einer Samenhülse aus dem Kanarienvogelbauer. Ruf den Arzt für zehn Minuten, aber beobachte es auch selbst, zwanzig Stunden lang. 17. Das Buch mit seinen fertigen Formeln hat den Blick abgestumpft und das Denken träge gemacht. Von den Erfahrungen, Beobachtungen und Ansichten anderer lebend, ist das Vertrauen zu sich selbst so sehr verlorengegangen, dass man nicht mehr aus eigener Perspektive sehen will. Als ob das gedruckte Wort eine Offenbarung wäre und nicht das Forschungsprodukt irgendeines Menschen, nur nicht

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mein eigenes, erzielt irgendwo und an irgendeinem Menschen, nur nicht heute und am eigenen Kind. Und die Schule hat diese Feigheit auch noch gefördert, die Furcht, die eigene Unwissenheit offenbar werden zu lassen. Wie oft schon hat eine Mutter nicht gewagt, Fragen zu stellen, die sie sich für den Arzt notiert hatte. Und wie selten nur überreicht sie dem Arzt ihren Fragezettel, angeblich weil sie darauf nur »dummes Zeug« notiert hat. Indem sie selbst verschweigt, dass sie unwissend ist, zwingt sie den Arzt oft dazu, seine Zweifel, seine Unschlüssigkeit zu verbergen, um eine entschiedene Diagnose stellen zu können. Wie ungern nimmt sie unbestimmte Antworten zur Kenntnis, wie wenig schätzt sie es, wenn der Arzt am Kinderbettchen laut denkt, und wie oft ist ein Arzt gezwungen, zum Scharlatan zu werden, um Prophet zu sein. Manchmal wollen die Eltern nicht wissen, was sie wissen, und nicht sehen, was sie sehen. Eine Niederkunft in einer Sphäre fanatischer Bequemlichkeit ist etwas so Einzigartiges und verdrießlich Ungewöhnliches, dass die Mutter von der Natur kategorisch reichlichen Lohn erwartet. Wenn sie schon die Entsagungen, Unannehmlichkeiten und Beschwerden der Schwangerschaft und die Schmerzen der Geburt auf sich genommen hat, dann sollte das Kind wenigstens so sein, wie sie es gern haben möchte. Noch schlimmer: Daran gewöhnt, dass für Geld alles zu haben ist, will sie sich nicht damit abfinden, dass es etwas gibt, was ein armer Teufel bekommen kann, ein Großmächtiger aber nicht einmal zu erbetteln vermag. Wie oft fallen Eltern auf unnütze Mittel oder gar auf Falsifikate herein, wenn sie auf dem Markt nach einer Ware suchen, die mit dem Etikett »Gesundheit« versehen ist. 18. Für den Säugling die Mutterbrust – ohne Rücksicht darauf, ob er geboren wurde, weil Gott die Ehe gesegnet oder weil ein Mädchen seine Unschuld verloren hat; ob die Mutter flüstert: »Mein Liebling!« oder ob sie seufzt: »Was fang ich nur an, mein Gott«, ob man einer hoch gebildeten Dame mit aller Ehrerbietung gratuliert und einem Mädchen vom Dorf nachruft: »Pfui, du Schlampe.« Die Prostitution, die dem Gebrauch der Männer dient, findet ihre gesellschaftliche Vervollständigung im Ammentum, das zum Nutzen der Frauen da ist. Man sollte sich des sanktionierten schweren Verbrechens an dem armen Kind voll bewusst sein – das nicht einmal dem Reichen zum Guten anschlägt. Denn eine Amme kann zwei Kinder ernähren: das eigene und das fremde. Die Milchdrüsen geben so viel Nahrung, wie von ihnen verlangt wird. Und die Amme verliert gerade dann die Nahrung, wenn das Kind weniger trinkt, als die Brust hergibt.

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Die Formel: im Überfluss strömende Nahrung, ein schwächliches Kind – Verlust der Nahrung. Sonderbar: In weniger wichtigen Fällen sind wir geneigt, den Rat vieler Ärzte einzuholen; bei einer so folgenschweren Frage aber, ob die Mutter nähren kann, lassen wir es bei einem manchmal sogar unaufrichtigen, von irgendjemandem eingeflüsterten Rat bewenden. Jede Mutter kann nähren, jede hat Nahrung genug; nur die Unkenntnis der Nährtechnik beraubt sie der ihr angeborenen Fähigkeit. Brustschmerzen, wundgesaugte Brustwarzen, stellen ein gewisses Hindernis dar; aber hier wird der Schmerz durch das Bewusstsein verdrängt, dass die Mutter die ganze Zeit der Schwangerschaft durchgehalten hat, ohne auch nur eine dieser Lasten den Schultern einer gekauften Sklavin aufzubürden. Das Nähren ist nämlich die Fortsetzung der Schwangerschaft, »nur hat sich das Kind von innen nach außen begeben, hat, losgelöst von seinem Nährboden, nach der Brust gelangt, trinkt nicht mehr rotes, sondern weißes Blut«. Trinkt Blut? Ja, das der Mutter, denn das ist das Recht der Natur; es trinkt nicht das Blut des umgebrachten Milchbruders, was nach dem Recht der Menschen möglich wäre. Ein Widerhall der lebhaften Auseinandersetzung über das Recht des Kindes auf die Mutterbrust. Heute hat sich die Wohnungsfrage in den Vordergrund geschoben. Was wird es morgen sein? So ist die Anteilnahme des Autors vom gegenwärtigen Augenblick abhängig. 19. Vielleicht würde auch ich ein ägyptisches Traumbuch der Hygiene zum Gebrauch für Mütter schreiben. »Dreieinhalb Kilo Geburtsgewicht bedeuten Gesundheit und Wohlergehen.« »Grün-schleimiger Stuhlgang: Unruhe, unangenehme Nachrichten.« Vielleicht würde auch ich ein Liebesschatzkästlein mit Ratschlägen und Hinweisen verfassen. Aber ich habe mich davon überzeugt, dass es keine Vorschrift gibt, die unkritischer Extremismus nicht ad absurdum führen würde. Das alte System: Dreißigmal in vierundzwanzig Stunden die Brust geben, abwechselnd mit Rizinus. Der Säugling wird von einem Arm zum anderen weitergereicht, wird gewiegt und geschwenkt von allen verschnupften Tanten. Er wird zum Fenster getragen, vor den Spiegel gehalten, man schnalzt, klappert, singt ihm etwas vor – ein Jahrmarkt. Das neue System: Alle drei Stunden die Brust. Wenn das Kind die Vorbereitungen zur Mahlzeit sieht, wird es unruhig, ärgerlich, es weint. Die Mutter blickt auf die Uhr: noch vier Minuten. Das Kind ist eingeschlafen, die Mutter weckt es; denn nun ist es an der Zeit,

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hungrig wird es von der Brust gerissen, weil die Minuten vorbei sind. Es liegt – nicht daran rühren. Nicht an ein Herumtragen gewöhnen! Gebadet, trockengelegt, satt – soll es schlafen. Es schläft nicht. Man muss auf den Zehen gehen, die Fenster verhängen. Ein Krankenhaussaal, ein Leichenhaus. Nein – der lebendige Gedanke arbeitet, aber die Vorschrift befiehlt. 20. Nicht »zu welchen Zeiten soll man nähren«, sondern »wievielmal am Tage«. So gestellt schränkt diese Frage die Freiheit der Mutter nicht ein: Sie selbst soll die Zeiten bestimmen, so wie es für sie und das Kind am besten ist. Wievielmal sollte ein Kind in vierundzwanzig Stunden trinken? Vier- bis fünfzehnmal. Wie lange soll es an der Brust liegen? Von vier Minuten bis zu dreiviertel Stunden und länger. Es gibt Brüste, die leicht und schwer Milch geben, solche mit dürftiger und reichlicher Nahrung, solche mit gut ausgebildeten und schwach entwickelten Brustwarzen, abgehärtete und empfindliche. Manche Kinder saugen kräftig, andere launisch-unregelmäßig und faul. Es kann also keine allgemeingültigen Vorschriften geben. Schlecht entwickelte, aber strapazierfähige Brustwarzen; dazu ein munteres Neugeborenes. Mag es oft und lange saugen, um die Brust richtig »auszubilden«. Eine mit Nahrung reichlich versehene Brust, ein schwächlicher Säugling. Vielleicht empfiehlt es sich, einen Teil der Nahrung vor dem Trinken abzuspritzen, um das Kind dazu zu bringen, sich anzustrengen. Es kann das vielleicht nicht schaffen? Dann also die Brust geben und den Rest abspritzen. Die Brust gibt schwer Milch, das Kind ist träge. Nach zehn Minuten erst beginnt es zu trinken. Eine Schluckbewegung kommt vielleicht auf eine, zwei, fünf Saugbewegungen. Die Milchmenge kann bei einem Schluck geringer oder größer sein. Es nimmt die Brust, zieht, aber schluckt nicht, schluckt selten, oft. »Es läuft ihm übers Kinn.« Vielleicht, weil reichlich Nahrung, vielleicht auch, weil wenig Nahrung vorhanden ist, weil das Kind, ausgehungert, kräftig zieht und sich verschluckt, aber nur bei den ersten Zügen. Wie kann man Vorschriften machen, ohne Mutter und Kind vor sich zu haben? »Fünfmal in vierundzwanzig Stunden, je zehn Minuten« das wäre ein Schema. 21. Ohne Waage gibt es keine Technik des Nährens. Alles, was wir ohne diese unternähmen, wäre ein Blinde-Kuh-Spielen. Ohne Waage lässt sich nicht feststellen, ob das Kind drei oder zehn Löffel Milch getrunken hat.

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Aber davon hängt ab, wie oft es, wie lange es, ob es aus beiden Brüsten oder nur aus einer trinken sollte. Die Waage kann ein untrüglicher Ratgeber sein, wenn sie den wirklichen Sachverhalt anzeigt; sie kann zum Tyrannen werden, wenn wir von ihr das Schema eines »normalen« Wachstums des Kindes haben wollen. Dass wir aus dem Vorurteil über die »grünlichen Stuhlgänge« nicht in den Aberglauben an die »idealen Kurven« verfallen möchten. Wie sollte man wiegen? Es ist bemerkenswert, dass es Mütter gibt, die viele Stunden mit Tonleitern und Etüdenüben verbringen, aber die Mühe, sich mit einer Waage vertraut zu machen, für allzu beschwerlich halten. Vor und nach dem Trinken wiegen? Welch ein Aufwand! Es gibt andere, die nicht nur sorgfältig, sondern geradezu zärtlich mit der Waage umgehen, diesem hochgeschätzten Hausarzt. Billige Säuglingswaagen und ihre Verbreitung bis in jede Hütte, das wäre eine soziale Aufgabe. Aber wer nimmt sich ihrer an? 22. Woher kommt es wohl, dass eine Generation unter der Parole: Milch, Eier, Fleisch aufgewachsen ist und die andere Grütze, Gemüse und Obst bekommt? Ich könnte antworten: Fortschritte in der Chemie, Ergebnisse der Stoffwechsel-Forschung. Nein, das Wesen dieses Wandels liegt tiefer. Die neue Diät ist ein Ausdruck des Vertrauens der Wissenschaft zum lebendigen Organismus, ein Zeichen der Toleranz seinem Willen gegenüber. Wenn man Eiweiß und Fette verabfolgte, wollte man den Organismus durch eine speziell zusammengestellte Diät zur Entwicklung zwingen, heute geben wir alles: Mag der lebendige Organismus doch selbst auswählen, was er braucht, was ihm nützlich ist, mag er selbst im Rahmen seiner Kräfte, der Aktivitäten der mitgebrachten Gesundheit, der potenziellen Entwicklungsenergie seine Anord­ nungen treffen. Nicht das, was wir dem Kind geben, sondern was es sich aneignet, ist entscheidend. Denn jeder Zwang und jedes Übermaß ist ein Ballast, jede Einseitigkeit ist ein möglicher Fehlgriff. Selbst wenn wir uns ganz in der Nähe der Wahrheit befinden, können wir einen gering erscheinenden Fehler machen; aber indem wir ihn Monat für Monat wiederholen, richten wir Schaden an oder erschweren die Arbeit. Wann, wie, womit soll man zufüttern? Wenn dem Kind der eine Liter Milch nicht mehr ausreicht, den es saugend zu sich nimmt, sollte man allmählich, immer unter Beachtung der Reaktion des Organismus, alles geben, was dem Kinde bekommt.

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23. Und wie steht es mit Stärkepräparaten? Man sollte die Wissenschaft von der Gesundheit und den Handel mit der Gesundheit auseinanderhalten. Haarwuchsmittel, Zahnpflegemittel, Hautverjüngungspuder, Stärkepräparate zur Erleichterung des Zahnens sind hundertmal eine Schändung der Wissenschaft, spiegeln aber niemals ihren Stolz und ihr begeistertes Streben wider. Der Fabrikant, der durch seine Präparate sowohl einen normalen Stuhlgang als auch imponierende Gewichtszunahmen garantiert, liefert, was die Mutter erfreut und dem Kinde schmeckt. Aber er kann den Geweben keine Aufnahmefähigkeit verleihen, er verlangsamt diese womöglich, er kann keine Lebenskraft vermitteln, er mindert sie vielleicht sogar durch Überfettung; er bietet keine Widerstandsfähigkeit gegen Seuchen. Immer wieder aber setzt er die Kraft der Mutterbrust herab – umsichtig und verstohlen zwar, indem er nur beiläufig Zweifel weckt, lockt und die Schwächen der Massen befriedigt. Nun könnte jemand sagen: In aller Welt berühmte Namen haben ihre Anerkennung ausgesprochen. Aber auch Gelehrte sind nur Menschen: Unter ihnen gibt es mehr oder weniger scharfsinnige, vorsichtige und leichtfertige, Rechtschaffene und Fälscher. Wie viel Wissenschaftler gibt es doch, die nicht wegen ihrer genialen Begabung, sondern wegen ihrer Pfiffigkeit oder des Privilegs von Vermögen und Geburt führend sind! Die Wissenschaft bedarf kostspieliger Werkstätten, und diese werden nicht allein durch wirkliche Leistung, sondern auch durch Geschmeidigkeit, Fügsamkeit und Intrige erworben. Ich habe an einer Sitzung teilgenommen, in der ein dreister Frechling sich die gewissenhafte, in zwölf Jahren geleistete Forschungsarbeit eines anderen aneignete. Ich kenne eine Entdeckung, die für eine bedeutende internationale Tagung bestimmt war. Das Belebungspräparat, dessen Wert ein gutes Dutzend von Kapazitäten bestätigt hatte, erwies sich als ein Falsifikat; es gab einen Prozess: Der Skandal wurde eilig vertuscht. Nicht auf den, der Stärkepräparate rühmt, sondern auf den, der sie trotz aller Bemühungen von Agenten und Fabrikanten nicht lobend erwähnen will, kommt es an. Und diese verstehen es schon, sich angelegentlich zu bemühen und in einen zu dringen. Millionenunternehmungen besitzen schon einen beträchtlichen Einfluss; das ist eine Macht, der nicht jeder Widerstand leistet. Manche Gedankengänge in diesen Abschnitten sind ein Widerhall meines Trennungsprozesses von der Medizin. Ich habe mangelnde Fürsorge und Pfuscherei bei Hilfeleistungen erlebt. (Neben dem oft unterschätzten Kamienski hat als Erster Brud-

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zinski3 die Gleichberechtigung für die Kinderheilkunde gefordert und erzwungen.) Die ausländische Spezialitätenindustrie fing an, Elend und Vernachlässigung weidlich auszunutzen. Heute gibt es bei uns Fürsorgestationen, Kinderkrippen in den Fabriken, Sommerkolonien, Kurorte, Gesundheitsaufsicht in den Schulen und Krankenkassen. Noch geht es nicht immer ordentlich zu, und es gibt manche Mängel, aber wir haben es doch erlebt, dass ein Anfang gemacht wurde. Heute darf man an die Wirksamkeit von Stärkepräparaten und Arzneimitteln glauben, ihre Aufgabe ist es, Hygiene und öffentliche Fürsorge für das Kind zwar zu unterstützen, nicht aber zu ersetzen. 24. Das Kind hat eine fiebrige Erkältung. Ist es nicht ernstlich bedroht? Wann wird es wieder gesund? Unsere Antwort hängt von manchen Urteilen ab, die sich auf das stützen, was wir wissen und was wir wahrzunehmen vermochten. Ein kräftiges Kind also überwindet eine nicht so heftige Ansteckung im Laufe von ein, zwei Tagen. Wenn der Anfall stärker ist und das Kind schwächer, so dauert die Unpässlichkeit eine Woche. Das sehen wir ja. Oder: Das Leiden ist gering, aber das Kind ist noch sehr klein. Eine Erkältung bei Säuglingen geht oft von einer Nasenverstopfung auf den Rachen über, auf die Luftröhre und die Bronchien. Das müssen wir feststellen. Schließlich enden neunzig von hundert ähnlichen Fällen mit einer raschen Gesundung des Kindes, in sieben Fällen halten die Beschwerden länger an, bei dreien entwickelt sich eine richtige Krankheit, und es kann sogar der Tod eintreten. Ein Vorbehalt: Vielleicht verbirgt sich hinter einer leichten Erkältung ein anderes Leiden? … Aber eine Mutter will Gewissheit haben, nicht auf Vermutungen angewiesen sein. Man kann die Diagnose ergänzen durch eine Untersuchung der Ausscheidungen der Nase, durch Untersuchungen des Urins, des Blutes, der Gehirnflüssigkeit, man kann durchleuchten und Spezialisten heranziehen. Der Wahrscheinlichkeitsfaktor bei der Diagnose und sogar bei der Therapie wird größer werden. Aber ob dieses Plus nicht von dem Schaden oftmaliger Untersuchungen aufgewogen wird, durch die Anwesenheit vieler Ärzte, von denen jeder in seinen Haaren, in den Falten seiner Kleidung, in seinem Atem eine weit gefährlichere Krankheit mitbringen kann? Wo hat sich das Kind nur erkälten können? 3 Józef Brudziński, Arzt und Gelehrter, Organisator und erster Rektor der 1915–1918 wiedererstandenen Universität Warschau.

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Es wäre gewiss zu verhindern gewesen. Aber macht dieses geringfügige Übel das Kind nicht widerstandsfähig gegen heftigere Infektionen, die es in einer Woche, in einem Monat befallen könnten, vervollkommnet es nicht den Abwehrmechanismus: im Wärmezentrum des Gehirns, in den Drüsen, in den Bestandteilen des Blutes? Können wir das Kind denn von der Luft isolieren, die es einatmet und von der ein Kubikzentimeter Tausende von Bakterien enthält? … Ist diese Diskrepanz zwischen unseren Bestrebungen und dem notwendigen Nachgeben nicht eine erneute Probe dafür, ob die Mutter auch ausreichend gewappnet ist, nicht so sehr von ihrer Ausbildung als vielmehr von ihrer Einfühlung her, ohne die sie ein Kind nicht aufziehen kann? 25. Solange der Tod noch Wöchnerinnen in großer Zahl dahinraffte, dachte man nicht so sehr an das Neugeborene. Es wurde erst entdeckt, als Asepsis und die Technik der Geburtshilfe das Leben der Mutter garantierten. Solange die Säuglingssterblichkeit so erschreckend hoch war, musste sich die Wissenschaft ganz auf Fläschchen und Windeln konzentrieren. Jetzt werden wir vielleicht schon in kurzer Zeit neben der reinen Existenz auch das Antlitz, das Leben und die psychische Entwicklung des Kindes im ersten Lebensjahr deutlich wahrnehmen. Was bisher auf diesem Gebiet getan worden ist, stellt erst einen Anfang dar. Unendlich ist die Zahl psychologischer Probleme und der Folgen, die auf der Grenze zwischen Soma und Psyche des Säuglings stehen. Napoleon litt als Kind an Krämpfen. Bismarck war rachitisch, und ganz zweifellos sind alle Propheten und Verbrecher, Helden und Verräter, Große und Kleine, Athleten und Kümmerlinge einmal Säuglinge gewesen, bevor sie reife Menschen wurden. Wenn wir die Urformen von Gedanken, Gefühlen und Bestrebungen kennenlernen wollen, bevor sie sich entwickeln, differenzieren und definieren, müssen wir uns ihm, dem Säugling, zuwenden. Nur grenzenlose Ignoranz und Oberflächlichkeit können übersehen, dass ein Säugling eine bestimmte, deutlich umrissene Individua­lität verkörpert, die sich aus seinem angeborenen Temperament, aus Kraft, Intellekt, Selbstgefühl und Lebenserfahrungen zusammen­setzt. 26. Einhundert Kleinkinder. Ich beuge mich über jedes einzelne Bettchen. Da gibt es einige, deren Leben nach Wochen und Monaten zählt, von unterschiedlichem Gewicht und mit sehr verschiedenartigem Verlauf ihrer »Kurve«, kranke, genesende, gesunde und einige, die sich kaum noch an der Oberfläche des Lebens halten. Mich treffen mannigfaltige Blicke, halb erloschene, verschleierte, ohne Ausdruck, dann wieder eigensinnige und schmerzlich gesammelte, lebendige, herzliche, aggressive. Ihr Begrüßungslächeln ist spontan, freundlich; oder es löst sich

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erst nach einem Moment aufmerksamer Beobachtung, als Antwort auf mein Lächeln und ein zärtliches, aufmunterndes Wort. Was mir zunächst zufällig erschien, wiederholt sich im Verlauf vieler Tage. Ich notiere, unterscheide vertrauensvolle und misstrauische, gleichmütige und launische, heitere und düstere, unsichere, erschrockene und ablehnende Kleinkinder. Ein ständig heiteres: Es lächelt vor und nach dem Trinken; ob man es aufweckt, ob es in tiefem Schlafe liegt – es hebt die Lider, lächelt und schläft wieder ein. Ein immer grämliches: unruhig, dem Weinen nah, begrüßt es mich und hat in drei Wochen nur einmal flüchtig gelächelt … Ich untersuche seinen Rachen. Lebhafter, stürmischer, leidenschaftlicher Protest. Oder auch nur ein verdrießliches Zucken, eine ungeduldige Kopfbewegung und schon wieder ein wohlwollendes Lächeln. Oder ein argwöhnisches Aufmerken auf jede Bewegung der fremden Hand, ein Zornesausbruch, noch bevor ihm etwas geschehen war … Eine Massenimpfung gegen Pocken; fünfzig in der Stunde. Das ist schon ein Experiment. Wiederum bei manchen eine spontane und entschiedene, bei anderen eine stufenweise und ungewisse Reaktion, bei den dritten Passivität. Eines kommt über das Staunen nicht hinaus, das Zweite wird langsam unruhig, das Dritte schlägt Alarm; das eine gewinnt schnell sein Gleichgewicht wieder, das andere merkt es sich lange, kann es nicht verzeihen … Man könnte sagen, das ist eben das Säuglingsalter. Das stimmt nur bis zu einem gewissen Grad. Die rasche Orientierung, die Erinnerung an frühere Erlebnisse. Wir kennen Kinder, die schmerzhafte Erfahrungen mit einem Chirurgen gemacht haben, wir wissen, dass es Kinder gibt, die Milch ablehnen, weil man ihnen eine weiße Emulsion mit Kampfer verabfolgt hat. Aber haben denn seelische Äußerungen des erwachsenen Menschen andere Ursachen? 27. Das eine Kind: Es ist zur Welt gebracht worden, und es hat sich bereits mit der kühlen Luft, der rauen Windel, der Unruhe verschiedener Geräusche und der Tätigkeit des Saugens abgefunden. Es trinkt fleißig, berechnend und dreist. Schon lächelt es, lallt vor sich hin und kann seine Hände bewegen. Es wächst, untersucht seine Umgebung, krabbelt, läuft, plappert und spricht. Wie und wann ist das vor sich gegangen? Eine heitere, ungestörte Entwicklung … Ein anderes Kind. Eine Woche ist vergangen, ehe es das Saugen gelernt hat. Ein paar unruhige Nächte. Eine Woche ohne Sorgen, und dann ein ganzer Tag voller Sturm. Die Entwicklung vollzieht sich etwas träge, das Zahnen ist beschwerlich. Es treten Schwankungen ein, aber nun ist alles in Ordnung: Das Kindchen ist friedlich, lieb, lustig.

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Vielleicht ist es ein geborener Phlegmatiker, die Betreuung wird nicht überlegt gehandhabt, die Brust ist nicht leistungsfähig genug, und die Entwicklung ist doch glücklich. Ein drittes Kind: Es ist ungestüm. Fröhlich und leicht erregbar, kämpft es verzweifelt und ohne seine Energievorräte zu schonen, wenn es von unguten Eindrücken äußerlich oder innerlich bedrängt wird. Lebhafte Bewegungen, plötzliche Veränderungen, heute ganz anders als gestern. Es lernt und vergisst auch wieder. Eine Entwicklung in gebrochener Linie mit steilen Anstiegen und Abfällen. Überraschungen, angefangen von den liebenswertesten bis zu den scheinbar bedrohlichen. Man kann nie behaupten, es geschafft zu haben. Ein leicht erregbares Kind, ein Trotzkopf, ein launisches Geschöpf, vielleicht für die Zukunft wertvoll … Wollte man die Sonnen- und die Regentage berechnen, es gäbe nicht viele heitere Stunden. Unzufriedenheit als grundlegender Charakterzug. Es gibt keinen großen Schmerz, aber unliebsame Überraschungen; es gibt keinen Lärm, aber Unruhe. Gut wäre es, wenn … Niemals bleiben Vorbehalte aus. Das ist ein Kind mit Mängeln, unvernünftig erzogen … Die Zimmertemperatur, hundert Gramm Milch zuviel oder hundert Gramm Trinkwasser zu wenig, das sind nicht nur hygienische, sondern auch erzieherische Faktoren. Das kleine Kind, das so vieles zu erforschen, zu ahnen, kennenzulernen, sich anzueignen, lieb zu gewinnen und abzulehnen, vernünftig abzuwehren und zu verlangen hat, muss ein gutes Selbstgefühl besitzen, unabhängig von seinem angeborenen Temperament, seiner schnellen oder schläfrigen Intelligenz. Statt des aufdringlichen Neologismus osesek (Säugling) gebrauche ich das alte Wort niemowlę (Kleinkind, das noch nicht sprechen kann). Die Griechen sagten népios, die Römer infans. Wenn es die polnische Sprache so will, warum dann das hässliche deutsche Wort »Säugling« übersetzen. Man sollte im Wörterbuch alter und wichtiger Ausdrücke nicht ohne sorgfältige Überlegung herumwirtschaften. 28. Die Sehkraft. Licht und Finsternis, Nacht und Tag. Schlafen – etwas kaum Wahrnehmbares geschieht; Wachen – die Regungen werden kräftiger; etwas Gutes (die Mutterbrust), etwas Böses (der Schmerz). Das Neugeborene blickt die Lampe an. Nein, es sieht noch nicht, die Augäpfel gehen in verschiedene Richtungen auseinander und kommen wieder zusammen. Später, wenn es einen langsam bewegten Gegenstand mit seinem Blick verfolgt, fixiert es ihn und verliert ihn jeden Augenblick wieder aus den Augen. Konturen von Schatten, der Aufriss erster Linien, und alles noch ohne Perspektive. Die Mutter, einen Meter entfernt, ist schon ein ganz anderer Schatten als nahe über das Bettchen gebeugt. Das Profil des Gesichtes wie eine Mondsichel, nur das Kinn

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und der Mund, wenn ihr Kind sie von unten betrachtet, dasselbe Gesicht, diesmal mit den Augen, wenn sie auf den Knien liegt, und wieder anders, auch das Haar ist zu sehen, wenn sie sich noch weiter herabbeugt. Aber Gehör und Geruch sagen, dass es dasselbe sei. Die Brust, eine helle Wolke, wohlschmeckend, duftend, Wärme und Güte. Das Kindchen lässt die Brust fahren und schaut, prüft mit seinen Blicken dieses sonderbare Etwas, das ständig über der Brust zu sehen ist, woher die Laute kommen und der warme Strom des Atems weht. Das Kleine weiß nicht, dass Brust, Gesicht und Hände eine Einheit bilden – die Mutter. Ein Fremder streckt die Hände aus. Getäuscht durch die vertraute Gebärde, das Bild, lässt es sich gern auf den Arm nehmen. Jetzt erst bemerkt es seinen Fehler. Diesmal entfernen es die Hände von dem vertrauten Schatten, führen es zu etwas Fremdem, Furchterweckendem hin. Spontan wendet es sich der Mutter zu, und, wieder in Sicherheit, schaut es verwundert oder versteckt sich hinter der Schulter der Mutter, um der Gefahr zu entrinnen. Endlich ist das Gesicht der Mutter nicht mehr nur ein Schatten, den man mit den Händchen untersucht. Das Kleine hat oft schon nach ihrer Nase gegriffen, das sonderbare Auge berührt, das abwechselnd aufblitzt und dann wieder unter der Hülle des Lides matt schimmert; es hat das Haar betastet. Und wer hat noch nicht gesehen, wie es die Lippen zurückschiebt, die Zähne betrachtet, in den Mund blickt, gesammelt, ernst, mit einer tiefen Stirnfalte. Nur dass es dabei durch törichtes Geplapper, Küsse, allerlei Späße gestört wird – wir sprechen dann vom »Zeitvertreib« des Kindes. Wir aber sind es, die spielen, das Kleine studiert. Es kennt bereits Axiome, Hypothesen und Probleme im Verlauf seiner Forschungen. 29. Das Gehör. Vom Straßenlärm hinter den Fensterscheiben, dem Widerhall weit entfernter Geräusche, dem Ticken der Uhr, Gesprächen und Gepolter bis zu den unmittelbar an das Kind gerichteten Flüsterworten bildet das alles ein Chaos von Reizen, das es unterscheiden und verstehen lernen muss. Hier seien noch die Laute erwähnt, die das Kleine selbst hervorbringt, der Schrei also, das Plappern und Brummeln. Bis es begreift, dass es selbst und kein Unsichtbarer vor sich hin lallt und schreit, vergeht viel Zeit. Wenn es daliegt und sein »Aha, abb, adda« sagt, horcht es und prüft die Empfindungen beim Bewegen der Lippen, der Zunge, des Kehlkopfes. Ohne über sich selbst Bescheid zu wissen, stellt es nur die willkürliche Hervorbringung dieser Laute fest. Wenn ich das Kindchen in seiner eigenen Sprache anrede, »aha, abb, adda«, betrachtet es mich erstaunt – ein geheimnisvolles Wesen, das ihm wohlbekannte Laute hervorbringt.

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Wenn wir uns tiefer in die Art des Bewusstseins eines Kleinkindes hineinversetzten, würden wir weit mehr darin finden, als wir meinen – nur nicht das, und nur nicht so, wie wir es annehmen. Armes Purzelchen, hungriges Kleines, armes, will es Pappchen machen, will es Mili. Das Kleine versteht das gut, es wartet darauf, dass seine Ernährerin die Bluse öffnet und ihm ein Tüchlein unters Kinn gelegt wird, es wird unruhig, wenn sich die Erfüllung seiner Erwartung verzögert. Und doch hat die Mutter diese ganze lange Tirade an sich selbst, nicht an das Kind gerichtet. Es würde sich eher die Laute einprägen, mit denen eine Hausfrau das Geflügel herbeilockt: »tschip, tschip.« Das Kleine denkt in den Kategorien der Erwartung angenehmer Empfindungen und der Furcht vor unliebsamen Eindrücken; dass es nicht nur in Bildern, sondern auch in Lauten denkt, kann man ja doch aus dem alarmierenden Charakter des Schreiens ablesen: Ein Schrei kündet Unheil an, oder er setzt automatisch den Apparat in Bewegung, der Unzufriedenheit ausdrückt. Betrachtet doch einmal aufmerksam ein Kleinkind, wenn es jemanden weinen hört. 30. Das Kleine gibt sich alle Mühe, die Außenwelt zu beherrschen: Es will die schlechten feindlichen Mächte in seiner Umgebung niederkämpfen und die guten, fürsorglichen Geister dazu zwingen, seinem Wohlbefinden zu dienen. Das Kleinkind kennt zwei Zauberformeln, deren es sich bedient, bevor es das dritte wunderbare Werkzeug seines Willens erobert: die eigenen Hände. Diese beiden Zauberformeln heißen: schreien und saugen. Wenn das Kleine anfangs schreit, weil ihm etwas weh tut, so lernt es auch bald zu schreien, damit ihm nichts weh tun soll. Allein gelassen, weint es, aber es beruhigt sich wieder, wenn es die Schritte der Mutter hört; es will trinken und weint, aber es hört zu weinen auf, wenn es bemerkt, dass die Mutter sich anschickt, es zu stillen. Es disponiert im Bereich seiner Kenntnisse (es sind nur wenige) und der verfügbaren Mittel (sie sind erst schwach entwickelt). Es begeht Fehler, indem es einzelne Erscheinungen verallgemeinert und aufeinanderfolgende Vorgänge als Ursache und Wirkung miteinander verbindet (post hoc, propter hoc4). Ob die Aufmerksamkeit und Sympathie für seine Schuhe nicht darauf zurückzuführen sind, dass es den Schuhen seine Fähigkeit zu gehen zuschreibt? Ebenso ist das Mäntelchen jener Zauberteppich aus dem Märchen, der es in die Welt der Wunder hineinführt, zum Spazierengehen. 4 Post hoc (ergo) propter hoc (lat.) wörtlich: »danach, also infolgedessen«. Eine philosophische Formel, die den Trugschluss bezeichnet, dass von zwei wahrgenommenen Ereignissen das erste zwingend die Ursache des zweiten ist.

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Auch ich habe das Recht, so etwas anzunehmen. Wenn ein Literaturhistoriker das Recht hat, Spekulationen darüber anzustellen, was Shakespeare beabsichtigte, als er seinen Hamlet schuf, so darf ein Pädagoge Vermutungen wagen, die sogar fehlerhaft sein können, ihm aber doch praktische Ergebnisse vermitteln. Das sieht so aus: Im Zimmer ist es schwül. Das Kind hat trockene Lippen, nur wenig dickschleimigen Speichel, es ist missmutig. Milch ist ein Nahrungsmittel, aber es ist durstig, also muss man ihm Wasser geben. Doch »es will nicht trinken«: es wendet das Köpfchen weg und schlägt den Löffel aus der Hand. Es möchte wohl trinken, kann es aber noch nicht. Wenn es die erwünschte Flüssigkeit auf seinen Lippen spürt, wirft es seinen Kopf herum und sucht nach der Brustwarze. Ich halte sein Köpfchen mit der linken Hand fest und halte den Löffel an seine Oberlippe. Es trinkt nicht, sondern es saugt das Wasser ein, gierig hat es fünf Löffelchen Wasser zu sich genommen und ist dann eingeschlafen. Wenn ich ihm aber ein- oder zweimal Flüssigkeit ungeschickt mit dem Löffel gebe, verschluckt es sich und wird verdrießlich, und dann will es wirklich nicht mehr aus dem Löffel trinken. Ein anderes Beispiel: Ein ständig missmutiger, unzufriedener Säugling beruhigt sich an der Brust, beim Wickeln und Baden und bei einer öfteren Änderung seiner Lage. Dieser Säugling hat einen juckenden Ausschlag. Man sagt mir, davon sei nichts zu sehen. Aber er wird mit Sicherheit in Erscheinung treten. Und tatsächlich nach zwei Monaten ist der Ausschlag da. Ein drittes Beispiel: Das Kindchen saugt an seinen Händen, wenn ihm etwas wehtut, alle unangenehmen Empfindungen, also auch die Unruhe ungeduldiger Erwartung, möchte es mit dem wohltätigen, vertrauten Saugen befriedigen. Es saugt an seinen Fäustchen, wenn es hungrig oder durstig ist, wenn es überfüttert ist, wenn es einen üblen Geschmack im Mund verspürt, wenn es Schmerzen hat, wenn ihm zu warm ist oder wenn ihm Haut oder Gaumen jucken. Woher mag es wohl kommen, dass der Arzt ankündigt, es werde nun zahnen, und das Kleine schon einen lästigen Druck im Kiefer oder im Gaumen verspürt, wenn die Zähne noch wochenlang auf sich warten lassen? Reizt nicht ein durchbrechender Zahn die kleinen Nervenverästelungen schon im Knochen selbst? Hier sei bemerkt, dass ein Kalb ähnliche Schmerzen leidet, bevor ihm die Hörner wachsen. Und hier nun dieser Weg: der Sauginstinkt, die Saugbewegungen, um den Schmerz zu mindern, und das Saugen als Vergnügen und Gewohnheit. 31. Ich betone: Grundton und Inhalt des psychischen Lebens eines Kleinkindes ist das Bestreben, die unbekannten Elemente, die Geheimnisse seiner Umwelt zu beherrschen, aus denen Gutes und Böses hervorgeht.

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Mit der Betätigung dieses Willens ist ein starker Wissensdrang verbunden. Ich betone: Ein ausgewogenes Wohlbefinden erleichtert ein objektives Erkennen, alle unangenehmen Empfindungen, die aus seiner inneren Verfassung kommen, also in erster Linie Schmerzen, beeinträchtigen sein noch ungefestigtes Bewusstsein. Um sich davon zu überzeugen, muss man es im gesunden Zustand, in Schmerzen und in Krankheitszeiten beobachten. Wenn es Schmerzen empfindet, schreit das Kleine nicht nur, sondern es hört auch den Schrei, verspürt ihn in der Kehle, erblickt ihn durch die halb geschlossenen Lider hindurch in verschwommenen Bildern. Das alles ist mächtig, feindselig, bedrohlich, unfassbar. Es muss sich dieser Augenblicke wohl gut erinnern und sie fürchten; und weil es sich selbst noch nicht kennt, verbindet es sie mit jenen Zufallsbildern. Hier liegt gewiss die Ursache für manche unverständlichen Sympathien, Antipathien, Befürchtungen und Wunderlichkeiten in den Reaktionen eines Kleinkindes. Die intellektuelle Entwicklung eines Kleinkindes zu ergründen, ist unendlich schwierig, denn es lernt immer Neues und vergisst das Gelernte: Es ist eine Entwicklung in vielen Phasen, die mit Stillständen und Rückschritten verbunden ist. Vielleicht spielt die mangelnde Fertigkeit des Selbstgefühls dabei eine wichtige Rolle – vielleicht sogar die wichtigste. Das Kleine untersucht seine Hände. Es streckt sie aus, bewegt sie nach rechts und nach links, von sich fort und wieder zurück, spreizt die Finger, ballt sie zur Faust, spricht zu ihnen und wartet auf eine Antwort, ergreift mit der rechten die linke Hand und zieht, nimmt die Klapper und betrachtet das sonderbar veränderte Aussehen der Hand, legt das Spielzeug aus einer Hand in die andere, steckt es prüfend in den Mund, nimmt es sofort wieder heraus und besieht es sich, gemächlich und aufmerksam. Es wirft die Klapper weg, zieht an einem Knopf der Bettdecke und untersucht die Ursache des soeben erfahrenen Widerstandes. Es spielt nicht etwa, seht doch einmal richtig hin und gebt auf die Willensanstrengung acht, die etwas erkennen möchte! Das ist ein Gelehrter in seinem Laboratorium, in eine sehr wichtige Frage vertieft, deren Lösung sich seinem Verständnis entzieht. Das kleine Kind tut anfangs seinen Willen durch Schreien kund, später durch das Mienenspiel seines Gesichtes und durch Gesten seiner Hände und endlich durch die Sprache. 32. Früher Morgen, sagen wir fünf Uhr. Das Kleine ist fröhlich aufgewacht, plappert, greift mit seinen Händchen hierhin und dorthin, richtet sich auf, stellt sich hin. Die Mutter will noch schlafen. Ein Konflikt zweier Wünsche, zweier Bedürfnisse, zweier widerstreitender Egoismen; die dritte Phase desselben Prozesses: Die Mutter leidet Schmerzen, und das

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Kind wird zur Welt gebracht; die Mutter möchte sich nach der Geburt ausruhen, das Kind fordert Nahrung; die Mutter will schlafen, das Kind möchte wach sein; so wird das weitergehen. Das ist keine Bagatelle, sondern ein Problem; steh doch zu deinen eigenen Gefühlen und sage, wenn du dein Kind einer bezahlten Pflegerin übergibst, eindeutig: »Ich will nicht« – auch wenn dir der Arzt bestätigt hat, dass du nicht kannst. Das sagt er nämlich immer in der Beletage, niemals aber im Dachgeschoss. Es kann auch so sein: Die Mutter opfert dem Kinde ihren Schlaf, aber sie fordert dafür ihren Lohn; sie küsst und liebkost das warme, rosige, zarte kleine Wesen und drückt es an sich. Nimm dich in Acht: Das ist ein zweifelhafter Akt exaltierter Sinnlichkeit – verdeckt, aber auf der Lauer liegend in der Mutterliebe, nicht des Herzens, sondern des Leibes. Wisse, das Kind wird sich gern an dich schmiegen, errötet von hundert Küssen, mit freudig glänzenden Augen, und das bedeutet, dass deine Erotik einen Widerhall in ihm gefunden hat. Also sollte man darauf verzichten? Das kann ich nicht verlangen, weil ich vernünftige Liebkosungen für einen wertvollen Erziehungsfaktor halte; ein Kuss lindert den Schmerz, er nimmt einem Wort der Ermahnung die Schärfe, er weckt Reue und belohnt für Bemühungen er ist ebenso ein Symbol der Liebe, wie das Kreuz ein Symbol des Glaubens ist, und er wirkt auch als solches; ich meine, er ist es und nicht, dass er es sein sollte. Im Übrigen jedoch, wenn dieser seltsame Wunsch, das Kind an sich zu drücken, zu streicheln, seinen Atem zu spüren und ganz in sich aufzunehmen, keinen Einwand in dir hervorruft, dann gib ihm nach. Ich verbiete nichts, noch schreibe ich etwas vor. 33. Wenn ich einem Kindchen zuschaue, wie es eine Schachtel öffnet und schließt, ein Steinchen hineinlegt und wieder herausnimmt, sie schüttelt und dem Geräusch nachlauscht; wenn ein Einjähriges sein Tischchen hinter sich her zieht oder unter einer Last auf unsicheren Beinchen schwankt; wenn ein Zweijähriges, dem man bedeutet, eine Kuh sei eine »muu«, dem hinzufügt: »ada-muu«, und »ada« der Name des Haushundes ist – dann begeht es sprachliche Fehler von höchster Logik, die man sich merken und veröffentlichen sollte. Wenn ich unter dem Kram eines kleinen Kerls Nägel, Schnüre, Läppchen, Glasscherben bemerke, weil man das brauchen kann, um hundert Vorhaben auszuführen; wenn man ausprobiert, wer weiter springt, arbeitet, sich tummelt, um ein gemeinsames Spiel zu organisieren, wenn eins fragt »ob ich wohl im Kopf ein ganz kleines Bäumchen habe, wenn ich an einen Baum denke«; wenn es einem alten Manne nicht einen Dreier gibt, um dafür gelobt zu werden, sondern sechsundzwanzig Groschen, sein ganzes Vermögen (»denn der Mann ist schon so alt und arm und wird bald sterben«).

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Wenn ein Halbwüchsiger seinen Schopf mit Spucke glättet, weil die Freundin seiner Schwester kommt. Wenn mir ein Mädchen schreibt, die Welt sei nichtswürdig und die Menschen glichen Tieren, und sie verschweigt das Warum; wenn ein Jüngling stolz einen aufrührerischen, reichlich abgeklapperten und überständigen Gedanken wie eine Herausforderung von sich gibt … Oh, ich liebkose diese Kinder mit meinen Blicken, mit meinen Gedanken und der Frage: Wer seid ihr, wunderbares Geheimnis, und was verbirgt sich in euch? Ich bin ihnen gut in dem Bemühen: Womit kann ich euch helfen? Ich küsse sie so, wie ein Astronom einen Stern küsst, der war, der ist und der sein wird. Dieser Kuss sollte die Mitte halten zwischen der Ekstase des Gelehrten und einem demütigen Gebet; wer soeben auf der Suche nach der Freiheit im Getümmel Gott verloren hat, der wird seinen Zauber nie erfahren. 34. Das Kind spricht noch nicht. Wann wird es damit beginnen? Das Sprechen ist zwar ein Maßstab für die Entwicklung des Kindes, aber weder der einzige noch der wichtigste. Das ungeduldige Warten auf das erste Wort ist ein Fehler, ein Beweis für mangelnde erzieherische Reife der Eltern. Wenn ein Neugeborenes im Badewasser zusammenzuckt und mit den Händchen herumfährt, weil es das Gleichgewicht verloren hat, dann sagt es: »Ich habe Angst.« Und diese Reflexbewegung der Furcht bei einem Wesen, das von Gefahr noch nichts weiß, ist höchst bemerkenswert. Du gibst ihm die Brust – es nimmt sie nicht und sagt dir damit: »Ich will nicht.« Es streckt die Hände aus nach einem begehrten Gegenstand: »Gib mir’s.« Mit zum Weinen verzogenem Mund und abwehrenden Bewegungen sagt es zu einem Fremden: »Ich trau’ dir nicht«, und manchmal fragt es auch die Mutter: »Kann man ihm wohl trauen?« Was besagt der forschende Blick eines Kindes anders als die Frage: »Was ist das?« Es langt nach einem Gegenstand, bekommt ihn mit großer Mühe zu fassen, seufzt tief auf, und mit diesem Seufzer der Erleichterung sagt es: »Endlich!« Versuch einmal, diesen ihm wieder wegzunehmen, und auf mancherlei Weise wird es dir sagen: »Ich gebe ihn nicht wieder her.« Es hebt das Köpfchen, setzt sich hin, steht auf: »Ich hab’ zu tun.« Was anders bedeuten seine lachenden Augen und der lachende Mund als dies: »Ach, wie geht’s mir gut!« Es spricht in der Sprache des Mienenspiels, in der Sprache von Bildern und von Gefühlserinnerungen. Die Mutter zieht ihm das Mäntelchen an, es freut sich, wendet sich zur Tür, wird ungeduldig und drängt zur Eile. Es denkt in den Bildern des Spaziergangs und in der Erinnerung dabei erlebter Gefühle. Das Kindchen ist dem Arzt freundlich gesonnen; sobald es aber den Löffel in seiner Hand erblickt, erkennt es in ihm den Feind.

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Es versteht nicht die Sprache der Worte, sondern die des Mienenspiels und die der Klangfarbe einer Stimme. »Wo hast du dein Näschen?« Ohne einen dieser drei Ausdrücke zu verstehen, weiß es aus der Stimmlage, der Bewegung der Lippen und dem Gesichtsausdruck zu entnehmen, dass man von ihm eine ganz bestimmte Antwort erwartet. Das Kindchen weiß ein sehr kompliziertes Gespräch zu führen, ohne sprechen zu können. »Lass das«, sagt die Mutter. Trotzdem langt es nach dem verbotenen Gegenstand, neigt anmutig das Köpfchen, lächelt, wartet ab, ob die Mutter das Verbot in strengerem Ton wiederholt oder ob sie – durch die raffinierte Koketterie entwaffnet – nachgibt. Ohne ein einziges Wort zu sagen, vermag es zu lügen, schamlos zu lügen. Um eine unerwünschte Person loszuwerden, gibt es das verabredete Zeichen, das Warnsignal, und wenn es auf dem bewussten Topf Platz genommen hat, blickt es triumphierend und spöttisch auf seine Umgebung. Wenn du versuchst, es zu necken, indem du ihm einen Gegenstand, den es haben will, gibst und wieder wegnimmst, so wird es nicht immer ärgerlich werden und nur manchmal beleidigt sein. Das Kleine kann auch ohne Worte ein Despot sein, einem aufdringlich zusetzen und seine Umgebung tyrannisieren. 35. Wenn der Arzt fragt, wann das Kind zu sprechen und zu laufen angefangen hat, gibt die verlegene Mutter sehr häufig schüchtern die ungenaue Antwort: Zeitig, spät, normal. Sie meint, das Datum einer so wichtigen Tatsache müsse genau sein, und jeder Zweifel werfe in den Augen des Arztes ein schlechtes Licht auf sie. Ich erwähne das zum Beweis, wie unpopulär im Allgemeinen das Bewusstsein ist, dass selbst eine streng wissenschaftliche Beobachtung nur mit Mühe eine annähernd richtige Entwicklungslinie des Kindes anzugeben vermag, und wie allgemein verbreitet der törichte Wunsch ist, diese Unkenntnis zu verbergen. Wie kann man erkennen, wann das Kind anstatt am, an und ama zum erstenmal mama, anstatt abba baba (Großmutter) gesagt hat. Wie lässt sich bestimmen, wann die Bezeichnung mama in seiner Vorstellung mit dem Bild der Mutter und nicht einem anderen eng verbunden ist? Das Kindchen rutscht auf den Knien, es steht, wenn man es festhält oder es sich selbst auf die Bettkante stützt, es hält sich aufrecht ohne fremde Hilfe, es hat ein paar Schritte auf dem Fußboden und viele in der Luft gemacht, es schiebt sich vorwärts, kriecht, robbt, schiebt einen Stuhl vor sich her, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, es wird immer sicherer, bis es richtig laufen kann. Und urplötzlich –

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gestern noch, die ganze Woche, ist es gelaufen, und nun kann es das nicht mehr. Es ist ein wenig überdrüssig, es hat die Lust verloren. Es ist hingefallen und hat sich erschreckt, nun ist es ängstlich – zwei Wochen Pause. Wenn das Köpfchen kraftlos auf die Arme der Mutter sinkt, so ist das kein Zeichen für ein schweres Leiden, sondern für jede Art von Unpässlichkeit. Das Kind ähnelt in jeder neuen Phase seiner Bewegungen einem Pianisten, der ein gutes Selbstgefühl haben und vollkommen ausgeglichen sein muss, um eine schwierige Komposition spielen zu können. Manchmal »fühlte sich das Kind schon nicht wohl, aber es gab nicht nach und lief vielleicht noch mehr herum, spielte und sprach«; hier folgt nun die Selbstanklage: »Ich dachte also, dass ich mir nur eingebildet hatte, ihm sei nicht gut; also ging ich mit ihm spazieren«; als Rechtfertigung: »Es war so schönes Wetter«, und die Frage: »Hat ihm das wohl schaden können?« 36. Wann sollte ein Kind laufen und sprechen? Dann, wenn es läuft und spricht. Wann sollten die Zähnchen durchbrechen? Eben dann, wenn sie sich zeigen. Auch die Fontanelle sollte dann zuwachsen, wenn sie sich eben von selbst schließt. Und das Kind sollte so lange schlafen, bis es ausgeschlafen ist. Wir wissen doch, wann das gemeinhin eintritt. In jeder populärwissenschaftlichen Broschüre sind, aus dickleibigen Handbüchern übertragen, diese kleinen Wahrheiten enthalten, die für Kinder im Allgemeinen gelten, für ein Kind jedoch sich gerade als falsch erweisen können. Denn es gibt Kleinkinder, die mehr, und andere, die weniger Schlaf brauchen, es gibt ein frühzeitiges Zahnen, bei dem die Zähnchen schon beim Durchbrechen schlecht sind, und gesunde, kräftige, intakte, aber spät durchbrechende Zähne gesunder Kinder; die Fontanelle wächst bei gesunden Kindern schon im neunten oder auch erst im vierzehnten Monat ihres Lebens zu; Dummerchen fangen manchmal früher zu plappern an, kluge Kinder sprechen bisweilen erst sehr spät. Droschkennummern, Sitzreihen im Theater, Mietzahlungstermine, alles was Menschen zur Aufrechterhaltung ihrer Ordnungen erdacht haben, kann beachtet und eingehalten werden; wer aber mit seinem gemäß den Polizeiverordnungen erzogenen Verstand nach dem lebendigen Buch der Natur greifen wollte, dem stürzt eine ganze Last von Beunruhigungen, Enttäuschungen und Überraschungen auf den Kopf. Ich rechne es mir als Verdienst an, dass ich auf die zuvor gestellten Fragen nicht mit einer Reihe von Klischees, die ich als kleine Wahrheiten bezeichnete, geantwortet habe. Denn es ist unwichtig, ob die oberen oder die unteren, die Schneide- oder die Backenzähne zuerst durchbrechen. Das kann jeder beobachten, der einen Kalender und Augen im Kopf hat; was aber ein lebendiger Organismus ist und wessen er bedarf, das ist eine große Wahrheit, die sich erst im Laufe der Zeit aus Beobachtungen ergibt.

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Selbst untadelige Ärzte müssen ihr Verhalten variieren: Verständigen Eltern gegenüber sind sie Naturwissenschaftler, haben ihre Zweifel, Vermutungen, schwierigen Probleme und interessanten Fragen; unvernünftigen Eltern treten sie als wortkarge Vorgesetzte entgegen: So und nicht anders, und genau nach dem Buchstaben muss es geschehen. »Alle zwei Stunden einen Teelöffel. Ein Ei, ein halbes Glas Milch und zwei Biskuits.« 37. Achtung! Entweder wir verständigen uns jetzt, oder wir trennen uns für immer. Jeder Gedanke, der sich heimlich davonstehlen und verbergen will, jedes sich selbst überlassene, ungebundene Gefühl sollte zur Ordnung gerufen und durch den gebietenden Willen gezügelt werden. Ich fordere die Magna Charta Libertatis5, als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch andere – aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden: 1. Das Recht des Kindes auf seinen Tod. 2. Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag. 3. Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist. Man muss die Kinder kennen, um bei der Gewährung dieser Rechte möglichst wenig falsch zu machen. Irrtümer müssen sein. Seien wir nicht ängstlich: Das Kind selbst wird sie mit erstaunlicher Wachsamkeit korrigieren, wenn wir seine unschätzbaren Fähigkeiten und mächtigen Abwehrkräfte nicht schwächen. Wir haben ihm zu viel oder Ungeeignetes zu essen gegeben: zu viel Milch – ein nicht mehr frisches Ei – es hat erbrochen. Wir haben ihm ein unverdauliches Wissen zu vermitteln versucht – es hat es nicht begriffen; einen nutzlosen Rat gegeben – es hat ihn nicht verstanden und ihn nicht befolgt. Es ist keine leere Phrase, wenn ich sage: Zum Glück für die Menschheit können wir Kinder nicht dazu zwingen, erzieherischen Einflüssen und didaktischen Anschlägen auf ihren gesunden Menschenverstand und ihren Willen nachzugeben. Es hatte sich bei mir noch nicht die Einsicht herausgebildet und bestätigt, dass es das erste und unbestreitbare Recht des Kindes ist, seine Gedanken auszusprechen und aktiven Anteil an unseren Überlegungen und Urteilen über seine Person zu nehmen. Wenn wir ihm Achtung und Vertrauen entgegenbringen und wenn es selbst Vertrauen hat und sich ausspricht, wozu es das Recht hat – wird es weniger Zweifel und Fehler geben. 5 Magna Charta Libertatum (lat.) Große Charta der Freiheiten; Privilegium, das vom Schwertadel und der Geistlichkeit Johann Ohneland 1215 abgenötigt wurde; Grundlage des englischen Parlamentarismus.

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38. Die heiße, einsichtige und ausgeglichene Liebe der Mutter zu ihrem Kinde muss diesem das Recht auf einen frühzeitigen Tod zugestehen, das Recht zur Beendigung seines Lebenslaufs nicht nach sechzig Umdrehungen der Erde um die Sonne, sondern nach einem oder auch nur drei Frühjahren. Ein grausames Ansinnen an jene, die Mühen und Kosten eines Kindbettes nicht öfter als ein- oder zweimal auf sich nehmen wollen. »Der Herr hat’s gegeben – der Herr hat’s genommen«, sagt das natürlich empfindende, einfache Volk, das weiß, dass nicht jedes Samenkorn eine Ähre hervorbringt, nicht jedes Küken lebensfähig zur Welt kommt, nicht jeder Setzling zu einem Baum heranwächst. Die Meinung besteht, dass eine umso kräftigere Generation am Leben bleibt und heranwächst, je größer die Kindersterblichkeit unter dem Proletariat ist. Nein: Die schlechten Lebensbedingungen, die schwachen Kindern den Tod bringen, schwächen auch die kräftigen und gesunden. Wahr scheint mir dagegen zu sein, dass ein Kind umso ungünstigere Bedingungen für seine körperliche und geistige Entwicklung vorfindet, je mehr eine Mutter aus vermögenden Kreisen durch den Gedanken an einen möglichen Tod des Kindes erschreckt wird. Wie oft habe ich in einem mit weißer Ölfarbe gestrichenen Zimmer inmitten von weißlackiertem Gerät, weiß gekleidet und von weißem Spielzeug umgeben ein blasses Kind gesehen, und ich habe dabei quälend empfunden: In diesem unkindlichen Zimmer, das eher einem Operationssaal gleicht, muss ja eine blutleere Seele in einem blutarmen Körper aufwachsen. »In diesem weißen Salon mit elektrischen Lampen in jeder Ecke muss man ja epileptisch werden«, sagt Claudina6 . Vielleicht weisen exaktere Untersuchungen nach, dass ein Zuviel an hellem Licht für Nerven und Gewebe ebenso schädlich wie der Lichtmangel im düsteren Souterrain ist. Wir verfügen (in der polnischen Sprache) über zwei Ausdrücke (für den Begriff »Freiheit«): swoboda (Ungebundenheit) und wolność (Autonomie). Swoboda, so meine ich, bezeichnet ein Besitz­verhältnis: Ich verfüge über meine Person. In wolność aber steht wola (der Wille), also die aus Willensdrang geborene Tat. Unsere Kinderzimmer mit ihren symmetrisch gestellten Möbeln, unsere blankgefegten städtischen Gärten sind weder der Ort, wo sich die swoboda offenbaren könnte, noch die Werkstatt, in welcher der aktive Wille des Kindes die Mittel zu seiner Verwirklichung fände.7 6 Claudina: Titelheldin von Erzählungen der französischen Schriftstellerin Sidonie-Gabrielle Colette. 7 In diesem Absatz ging es darum, dem deutschen Leser die beiden pol­nischen Ausdrücke swoboda und wolność, für die es im Deutschen nur das Wort »Freiheit« gibt, zu erklären. Die eingeklammerten Worte sind vom Übersetzer hinzugefügt worden.

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Das Zimmer für das Kleinkind hat sich aus der Entbindungsklinik entwickelt, und diese ist nach den Vorschriften der Keimfreiheit eingerichtet. Achten wir darauf, das Kind in dem Bestreben, es vor Diphtheriebakterien zu schützen, nicht in die muffige Atmosphäre von Langeweile und Willenlosigkeit zu versetzen. Der üble Geruch von übertrockneten Windeln ist heute kaum noch anzutreffen; aber der Ruch des Jodoforms ist oft zu verspüren.8 Vieles hat sich hier verändert. Nicht allein weißlackierte Möbel, sondern auch Badestrand, Ausflüge, Sport, Scouting. Auch kaum erst ein Anfang. Etwas weniger Bindung, aber das Kinderleben ist immer noch bedrückt und bedrängt. 39. Kuku, armes Pummelchen, wo hast du dein Wehweh? Das Kind sucht angestrengt nach den kleinsten Spuren von alten Kratzern, zeigt die Stelle an, wo ein blauer Fleck sein könnte, wenn es sich stärker angeschlagen hätte; es bringt es zu einer gewissen Meisterschaft, wenn es darum geht, Pickel, Hautflecke und Narben aufzufinden. Wenn jedes »Wehweh« im Ton, Gebärde und dem Mienenspiel hilfloser Ratlosigkeit und hoffnungsloser Resignation begleitet wird, so verbindet sich das »Pfui, wie hässlich« mit dem Ausdruck des Abscheus und des Ekels. Man muss nur einmal zuschauen, wie ein Kind seine mit Schokolade beschmierten Händchen von sich streckt, seinen ganzen Widerwillen und seine Ratlosigkeit mit ansehen, bis die Mutter sie mit ihrem Batisttüchlein wieder sauber wischt und man wird die Frage stellen: »Wäre es nicht besser, das Kerlchen würde dem Stuhl eine Ohrfeige geben, wenn es sich an ihm gestoßen hat; und wenn es beim Waschen Seife in die Augen bekommt, spucken und nach dem Kindermädchen mit den Füßen stoßen? …« Die Tür – es quetscht sich den Daumen, das Fenster – es lehnt sich hinaus und fällt, ein Obstkern – es bekommt keine Luft mehr, ein Stuhl – es kippt ihn um und gerät unter ihn, eine Schere – es verletzt sich schwer, ein Stock – es sticht sich ein Auge aus, es hat eine Schachtel aufgehoben – es infiziert sich, ein Streichholz – Feuer, es brennt sich. »Du wirst dir die Hand brechen, man wird dich überfahren, der Hund wird dich beißen. Iss keine Pflaumen, trink kein kaltes Wasser, geh nicht barfuß, lauf nicht in der brennenden Sonne herum, knöpf den Mantel zu, bind den Schal um. Siehst du, warum hast du nicht gefolgt. Nun musst du hinken, nun tun dir die Augen weh. Um Gottes willen! Du blutest ja! Wer hat dir denn ein Messer gegeben?«

8 Der polnische Originaltext enthält hier das ins Deutsche nur schwer übertragbare Wortspiel von zaduch (übler Geruch) und duch (Geist).

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Ein Schlag verursacht nicht nur eine Beule, sondern lässt auch eine Gehirnentzündung befürchten, Erbrechen zeugt nicht von der Unverdaulichkeit einer Mahlzeit, sondern weist auch auf eine nahende Scharlacherkrankung hin. Überall lauern Fallen und Gefahren, alles ist bedrohlich und Unheil verkündend. Und wenn nun ein Kind das alles glaubt und nicht heimlich ein Pfund unreife Pflaumen isst oder irgendwo in einem Winkel mit klopfendem Herzen mit Streichhölzern spielt, nachdem es die Wachsamkeit der Erwachsenen eingeschläfert hat, wenn es gehorsam, passiv und vertrauensvoll sich der Forderung unterwirft, jeder Erfahrung aus dem Wege zu gehen, jedem Wagnis zu entsagen und die Mühen jeder Willensregung zu vermeiden, was wird es dann tun, wenn es in seinem Inneren etwas verspürt, was verwundet, brennt und beißt? Habt ihr eine feste Vorstellung davon, wie man ein Kind vom ersten Lebensjahr an über die verschiedenen Zwischenstadien bis in die Reifezeit hinein geleiten kann, wenn das Mädchen blitzartig von der ersten Menstruation, der Junge von Erektionen und Pollutionen überfallen wird? So ist das; noch liegt es an der Mutterbrust, und ich frage bereits, wie es zeugen und gebären wird. Das ist nämlich eine Frage, über die nachzudenken zwei Jahrzehnte nicht zu lang sind. 40. Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben; um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben. Selbst in der verderblichen Atmosphäre lähmenden Wartens auf das, was kommen soll, aufgewachsen, eilen wir ständig einer Zukunft voller Wunder entgegen. Träge wie wir sind, wollen wir das Schöne nicht heute und hier suchen, um uns zum würdigen Empfang des morgigen Tages zu rüsten: Sondern das Morgen selbst soll uns neuen Aufschwung bringen. Bedeutet denn jenes »Ach, wenn es doch schon laufen und sprechen könnte« etwas anderes als hysterisches Warten? Es wird laufen, es wird sich an den harten Kanten von Eichenholzstühlen stoßen. Es wird sprechen, es wird mit seiner Sprache das Stroh des grauen Alltags dreschen. Warum sollte denn das »Heute« des Kindes schlechter und wertloser als sein »Morgen« sein? Wenn es um die Mühen geht – das Morgen wird noch mehr davon bringen. Und wenn dieses Morgen endlich da ist, warten wir erneut; denn die grundsätzliche Meinung, das Kind sei noch nichts, sondern es werde erst etwas, es wisse noch nichts, sondern es werde erst etwas wissen, es könne noch nichts, sondern werde erst etwas können, zwingt uns ja zu ständigem Warten. Die Hälfte der Menschheit ist nicht im vollen Sinne existent; ihr Leben ist ein Geschwätz, ihre Bestrebungen sind naiv, ihre Gefühle vergänglich, ihre Ansichten lächerlich. Kinder unterscheiden sich von den Erwachsenen; es fehlt etwas in ihrem

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Leben, und doch ist in ihrem Dasein ein unbestimmbares »Mehr« als in unserem, aber dieses von unserem Dasein unterschiedene Leben ist Wirklichkeit, nicht Vorausschau. Was haben wir denn dazu getan, um es zu erkennen und die Bedingungen zu schaffen, unter denen es bestehen und reifen kann? Das Bangen um das Leben des Kindes verbindet sich mit der Furcht, es könnte sich verletzen. Und diese Furcht wiederum ist mit der Sorge um die zur Aufrechterhaltung der Gesundheit notwendige Sauberkeit verknüpft. Hier nun wird die Laufkette der Verbote auf ein neues Schwungrad übertragen: Sauberkeit und Unversehrtheit des Kleides, der Strümpfe, der Krawatte, der Handschuhe und der Schuhe; schon geht es nicht mehr um das Loch in der Stirn, sondern um das in der Hose. Nicht Gesundheit und Wohl des Kindes, sondern unser Ehrgeiz und unser Geldbeutel spielen die Hauptrolle. Eine neue Laufkette von Verboten und Geboten setzt das Rad unserer eigenen Bequemlichkeit in Gang. »Lauf nicht so, du gerätst noch unter die Pferde. Lauf nicht, denn du kommst ins Schwitzen. Lauf nicht, denn du machst dich schmutzig. Lauf nicht, denn mir tut der Kopf weh!« (Und doch gestatten wir den Kindern grundsätzlich das Laufen: Es ist die einzige Lebensäußerung, die wir zulassen.) Diese ganze monströse Maschine ist Jahr für Jahr in Tätigkeit, um den Willen zu zerstören, die Energie zu zermahlen und die Lebenskraft des Kindes in Rauch aufgehen zu lassen. Um der Zukunft willen wird geringgeachtet, was es heute erfreut, traurig macht, in Erstaunen versetzt, ärgert und interessiert. Für dieses Morgen, das es weder versteht noch zu verstehen braucht, betrügt man es um viele Lebensjahre. »Kinder und Fische haben keine Stimme. Du hast Zeit, warte, bis du groß wirst. Oho, hast ja lange Hosen an, du hast ja schon eine Uhr. Lass mal sehen, dir wächst ja schon der Bart.« Und das Kind denkt: »Ich bin nichts – aber was sind die Erwachsenen! Nun bin ich schon ein bisschen älter und immer noch nichts. Wie viel Jahre soll ich noch warten? Wenn ich nur erst erwachsen wäre …« Es wartet und lebt so vor sich hin, es wartet und kann nicht frei atmen, es wartet und erwartet etwas, es wartet und schluckt seinen Speichel herunter. Die schöne Kindheit – nein, sie ist nur langweilig; und wenn es ein paar schöne Augenblicke gibt, dann sind sie ertrotzt und öfter noch erlistet. Kein Wort vom allgemeinen Unterricht, von Dorfschulen, von Gartenstädten, von den Pfadfindern. Das war alles noch so unwirklich und hoffnungslos fern. Ein Buch lebt davon, in welchen Kategorien von Erlebnissen und Erfahrungen der Autor sich bewegt, wie sein geistiger Bereich und seine Werkstatt aussehen und wie der Nähr-

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boden seines Geistes beschaffen ist. Deshalb stoßen wir so oft auf die naiven Ansichten von Autoritäten, die uns überdies fremd sind. 41. Also sollte man alles erlauben? Durchaus nicht: Wir würden aus einem sich langweilenden Sklaven nur einen blasierten Tyrannen machen. Durch Verbote stärken wir immerhin seinen Willen, wenn auch nur in der Selbstbeherrschung und Entsagung, wir entwickeln seine Fantasie, auf engem Raume tätig zu sein, seine Fähigkeit, sich einer Kontrolle zu entziehen; und wir wecken seine Fähigkeiten zur Kritik. Auch das hat seinen Wert als eine allerdings einseitige Vorbereitung für das Leben. Geben wir acht, dass wir, indem wir alles erlauben, nicht umso nachdrücklicher die Willenskraft drosseln, je mehr wir den Gelüsten nachgeben. Hier schwächen wir den Willen, dort vergiften wir ihn. Damit ist es nicht getan, mit diesem »Mach, was du willst« und dem »Ich tu, ich kaufe, ich gebe dir alles, was du magst, aber fordere nur das, was ich dir geben, kaufen und für dich tun kann. Ich zahle, damit du selbst nichts unternimmst, ich zahle, damit du mir gehorchst.« »Wenn du das Kotelett isst, kauft dir die Mama ein Büchlein. Geh nicht hinaus, dann geb ich dir auch Schokolade.« Das kindliche »Gib her«, und sogar die nur wortlos ausgestreckte Hand müssen auf unser »Nein« stoßen; und von diesem ersten »Du bekommst es nicht«, »Das kann man nicht«, »Das ist verboten« hängt ein sehr großes Stück Erziehung ab. Die Mutter will diese Frage beiseiteschieben; sie möchte das alles – bequem und schwachherzig – lieber auf die lange Bank schieben, auf später vertagen. Sie möchte nicht wahrhaben, dass sich in der Erziehung der tragische Zusammenstoß von unbilligen, nicht realisierbaren und unreifen Wünschen mit einem auf Erfahrung beruhenden Verbot nicht vermeiden lässt; und ebensowenig kann der noch weit tragischere Zusammenprall von zwei verschiedenen Wünschen, von zwei Rechten auf einem gemeinsamen Aktionsfeld vermieden werden. Das Kind möchte eine brennende Kerze in den Mund nehmen – ich darf das nicht zulassen, es will ein Messer haben – ich fürchte, es könnte sich verletzen, es streckt die Hände nach einer Vase aus, um die es mir leid wäre, es möchte mit mir Ball spielen – aber ich will ein Buch lesen. Wir müssen die Grenzen seiner und meiner Rechte abstecken. Das Kleine langt nach einem Glas, die Mutter küsst die ausgestreckte Hand. Das nützt nichts, sie gibt ihm die Klapper. Und als auch das nicht weiterhilft, lässt sie das verführerische Objekt verschwinden. Wenn nun das Kleine die Hand wegzieht, die Klapper fortwirft, mit seinen Blicken nach dem versteckten Gegenstande sucht und die Mutter ärgerlich ansieht, dann frage ich mich, wer nun recht hat: die Mutter, die ihr Kind überlistet, oder das Kind, das ihr trotzt?

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Wer die Frage von Verboten und Geboten nicht gründlich durchdenkt, solange es nur wenige sind, ist verloren, sobald ihre Zahl größer wird. 42. Jędrek (Andreas), das Dorfkind, kann schon laufen. Es hält sich am Türrahmen fest und steigt vorsichtig über die Schwelle aus dem Zimmer in den Hausflur. Von dort krabbelt es auf allen vieren über zwei Steinstufen ins Freie. Vor der Hütte begegnet ihm die Katze: Sie starren einander ein Weilchen an und wenden sich dann wieder ab. Jędrek stolpert über eine kleine Unebenheit, hält inne, schaut sich um. Er findet ein Stöckchen, hockt sich hin und stochert im Sand herum. Da liegt ein Stück Kartoffelschale, er steckt es zwischen die Zähne, verzieht das Mäulchen, spuckt und wirft das erdige Zeug fort. Wieder auf seinen Beinen, stößt er im Laufen mit dem Hund zusammen, der ihn rücksichtslos umwirft. Schon will er losheulen, aber nein: Da fällt ihm etwas ein, und er schluchzt bloß. Die Mutter geht Wasser holen; er hält sich an ihrem Rock fest und läuft nun schon sicherer. Ein paar ältere Kinder mit einem Wägelchen; er guckt: Sie jagen ihn weg, er bleibt abseits stehen und schaut wieder hin. Zwei Hähne kämpfen miteinander, er schaut zu: Die Kinder setzen ihn in das Wägelchen, ziehen los und werfen es um. Die Mutter ruft. Das ist die erste halbe Stunde von den insgesamt sechzehn Stunden des Tages. Niemand sagt ihm, dass er ein Kind ist; er fühlt selbst, was über seine Kräfte geht. Niemand sagt ihm, dass die Katze kratzt und dass er die Stufen noch nicht aufrecht hinabsteigen kann. Niemand erklärt ihm sein Verhältnis zu älteren Kindern. »Je größer Jędrek wurde, desto weiter führten ihn seine Streifzüge von der Hütte weg« (Witkiewicz).9 Er irrt sich, macht oft Fehler; die Folge: eine Beule, eine noch größere Beule, eine Wunde. Es ist nun nicht etwa so, dass ich es gutheiße, ein Übermaß an Fürsorge durch einen gänzlichen Mangel an Aufsicht zu ersetzen. Ich weise nur darauf hin, dass ein Einjähriges vom Lande bereits lebt, während bei uns erst der herangereifte Jüngling zu leben beginnt. Aber wann denn, um Gottes Willen, ist er so weit? 43. Bronek möchte die Tür öffnen. Er rückt einen Stuhl heran. Er bleibt stehen und ruht sich aus, bittet aber nicht um Hilfe. Der Stuhl ist schwer, er hat sich sehr geplagt. Jetzt zerrt er abwechselnd an dem einen und dann wieder an dem anderen Stuhlbein. Das geht langsamer, ist aber leichter. Schon steht der Stuhl ganz nahe an der Tür, Bronek meint, nun wird er die Türklinke packen können, er krabbelt rauf und steht. Ich halte ihn am Kittelchen fest. Er schwankt unsicher, erschrickt, steigt herunter, schiebt den Stuhl ganz dicht an die Tür, aber seitlich von der Türklinke. 9 Zitat aus der Novellensammlung Aus der Tatra von Stanisław Witkiewicz (1851–1915).

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Der zweite misslungene Versuch. Keine Spur von Ungeduld. Er müht sich weiter ab, nur die Ruhepausen sind länger. Zum dritten Mal klettert Bronek hinauf; ein Bein hoch, ein Handgriff, und, auf sein abgewinkeltes Knie gestützt, versucht er, das Gleichgewicht zu halten; eine neue Anstregung, die Hand umklammert die Kante, er liegt auf dem Bauch; wieder eine Pause, er wirft den Körper vor, kniet, verfängt sich mit den Beinen in seinem Kittelchen und steht wieder. Wie arm sind diese Liliputs imLande der Riesen. Immer hoch den Kopf, um etwas zu sehen. Das Fenster irgendwo, ganz da oben, wie im Gefängnis. Um sich auf einen Stuhl zu setzen, muss man ein Akrobat sein. Alle Muskelkraft und die ganze Intelligenz müssen aufgeboten werden, um endlich die Türklinke packen zu können. Nun ist die Tür offen – er seufzt tief. Dieses tiefe Aufseufzen der Erleichterung beobachten wir schon bei Kleinkindern nach jeder Willensanstrengung und nach anhaltender Konzentration. Wenn du ein spannendes Märchen beendet hast, seufzt das Kind ebenso auf. Es geht nur darum, dies richtig zu verstehen. Ein solch tiefes, einmaliges Aufseufzen zeigt an, dass das Atmen zuvor verlangsamt, flach und nicht ausreichend war. Das Kind guckt mit angehaltenem Atem, wartet, beobachtet, strengt sich an, bis der Sauerstoffvorrat erschöpft ist und im Gewebe Vergiftungserscheinungen auftreten. Der Organismus alarmiert unverzüglich das Atemzentrum; ein tiefer Seufzer folgt, der das Gleichgewicht wiederherstellt. Wenn ihr die Freude des Kindes und seinen Eifer zu deuten versteht, dann kann euch nicht verborgen bleiben, dass das Vergnügen über eine bezwungene Schwierigkeit, ein erreichtes Ziel, ein entdecktes Geheimnis die größte Freude darstellen, die Freude des Triumphes und das Glücksgefühl der Selbstständigkeit, der Beherrschung der Umwelt und des Umgangs mit den Dingen. »Wo ist die Mama? Sie ist nicht mehr da! Nun, such sie doch!« Es hat sie gefunden. Warum freut es sich so? »Lauf weg, Mama hascht dich! O je, sie kann dich nicht fangen!« Ach, wie ist es glücklich! Warum nur? Warum will es plötzlich auf allen vieren kriechen oder allein gehen und reißt sich los? Eine Szene, wie man sie jeden Tag beobachten kann: Es tappelt, strebt weg von dem Kindermädchen, bemerkt, dass sie hinter ihm herläuft; es läuft also weg, verliert das Gefühl für die Gefahr und läuft blindlings in einem überschäumenden Freiheitsgefühl davon – oder es legt sich so lang, wie es ist, auf die Erde, oder es reißt sich, endlich eingefangen, wieder los, stößt mit den Füßen und brüllt. Ihr werdet sagen: ein Übermaß an Energie; das wäre die physiologische Seite, aber ich suche nach dem psychophysiologischen Faktor. Ich frage, warum will es beim Trinken das Glas selbst halten, während die Mutter das Glas nicht einmal berühren darf; warum will es nicht mehr essen, isst aber gleich weiter, wenn man ihm erlaubt, den Löffel selbst zu halten? Warum bläst es

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fröhlich ein Streichholz aus, schleppt Vaters Pantoffeln herbei, bringt der Großmutter den Fußschemel? Ist das bloßer Nachahmungstrieb? Nein, es ist viel mehr, das ist etwas sehr Kostbares. »Ich allein!«, ruft es tausendmal mit Gebärden und Blicken, mit seinem Lachen und seinem Flehen, zornig und unter Tränen. 44. »Kannst du die Tür allein aufmachen?«, fragte ich einen kleinen Patienten, dessen Mutter mir zuvor gesagt hatte, dass er sich vor Ärzten fürchte. »Sogar im Klosett«, antwortete er schnell. Ich musste lachen. Der Bub schämte sich, aber ich schämte mich noch mehr. Ich hatte ihm das Bekenntnis eines heimlichen Triumphes entlockt und ihn dann ausgelacht. Es lässt sich unschwer ahnen, dass es eine Zeit gegeben hatte, da er schon alle Türen öffnen konnte, die Toilettentür seinen Anstrengungen jedoch noch widerstand und darum das Ziel seines Ehrgeizes war; darin ähnelte er einem jungen Chirurgen, der von der Durchführung einer schwierigen Operation träumt. Er hatte sich keinem Menschen anvertraut, denn er wusste, dass er bei der Umwelt kein Verständnis für die Dinge seiner Innenwelt erwarten konnte. Vielleicht hatte man ihn manchmal hart angefahren oder mit einer misstrauischen Frage zurückgewiesen. »Warum drückst du dich da herum, was machst du dir ständig da zu schaffen? Lass das, du richtest nur Schaden an. Geh sofort ins Zimmer!« So hatte er also heimlich und verstohlen herumprobiert, bis die Tür endlich offen war. Habt ihr schon einmal darauf geachtet, wie oft ein Kind, wenn im Vorflur die Klingel geht, bittend ruft: »Ich mach schon auf!« Zum einen ist das Schnappschloss der Eingangstür nicht ganz leicht zu öffnen, und zum anderen ist es das Gefühl, dass dort vor der Tür ein Erwachsener steht, der sich nicht zu helfen weiß und darauf wartet, dass er – der Kleine – ihm hilft. Solche kleinen Triumphe feiert ein Kind, das schon von weiten Reisen träumt und sich in seinen Träumen in die Rolle des Robinson auf einer menschenleeren Insel hineinversetzt; und in Wirklichkeit doch schon glücklich ist, wenn man ihm nur erlaubt, aus dem Fenster zu schauen. »Kannst du schon selbst auf einen Stuhl steigen? Kannst du auf einem Bein hüpfen? Kannst du mit der linken Hand einen Ball auffangen?« Und das Kind vergisst, dass es mich nicht kennt, dass ich ihm in den Hals schauen und ihm Arznei verschreiben werde. Ich spreche von Dingen, die stärker sind als das Gefühl der Verlegenheit, der Angst, der Unlust, und so antwortet es fröhlich: »Das kann ich.«

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Habt ihr schon einmal gesehen, wie ein kleines Kind lange, geduldig, mit unbewegtem Gesicht, halb offenem Mund und gesammeltem Blick seine Strümpfe oder die Pantoffeln anzieht und wieder abstreift? Das ist weder gedankenlose Spielerei noch bloße Nachahmung, sondern Arbeit. Welche Nahrung werdet ihr seinem Willen bieten, wenn es drei, fünf, zehn Jahre alt ist? 45. Ich! Wenn ein Neugeborenes sich mit dem eigenen Fingernagel kratzt; wenn ein Kleinkind im Sitzen sein Beinchen zum Mund führt, sich überschlägt und ärgerlich ringsherum nach dem Schuldigen sucht; wenn es sich an den Haaren zieht, vor Schmerz das Gesicht verzieht, aber den Versuch wiederholt; wenn es sich mit dem Löffel auf den Kopf schlägt, nach oben guckt, was es denn dort gibt, was es nicht wahrnimmt, aber doch fühlt – dann kennt es sich noch nicht. Wenn es die Bewegungen seiner Hände untersucht; wenn es an seinen geballten Händchen lutscht und sie aufmerksam betrachtet; wenn es an der Brust plötzlich zu saugen aufhört und sein Beinchen mit der Mutterbrust vergleicht; wenn es vor sich hintappelt, unter sich guckt und Ausschau hält nach dem, was es – ganz anders als die Hände der Mutter – hebt und trägt; wenn es das rechte bestrumpfte Bein mit dem linken vergleicht – dann will es erkennen und Bescheid wissen. Wenn es beim Baden das Wasser untersucht und dabei in vielen unbewussten Tropfen sich, den seiner selbst bewussten Tropfen, wiederfindet, dann ahnt es die große Wahrheit, die das kleine Wort enthält: Ich. Nur das Bild eines Futuristen kann uns deutlich machen, was dem Kind für sein Selbstverständnis wichtig ist: die Finger, die kleine Faust, undeutlicher schon die Beine, vielleicht der Bauch oder sogar der Kopf, aber das alles nur in schwachen Konturen, wie eine Landkarte von den Polargebieten. Noch ist die Arbeit nicht beendet, noch dreht und wendet es sich, um zu sehen, was sich hinter ihm verbirgt, vor dem Spiegel und auf Fotografien betrachtet es sich, entdeckt die Vertiefung des Nabels und die Erhebung der eigenen Brustwarzen; aber schon gibt es neue Arbeit: sich selbst in seiner Umwelt wiederzufinden. Die Mutter, der Vater, ein Mann, eine Frau; die einen erscheinen oft, die anderen selten, alles ist voll von geheimnisvollen Gestalten, deren Bestimmung dunkel und deren Taten zweifelhaft sind. Kaum hat es erfahren, dass die Mutter dazu da ist, seine Wünsche zu erfüllen oder ihnen zu widersprechen, dass der Vater Geld heimbringt und die Tanten Schokoladenplätzchen  – da entdeckt es auch schon in den eigenen Gedanken, irgendwo in seinem Inneren, eine neue, noch wunderlichere, unsichtbare Welt. Ferner geht es darum, sich selbst in der Gesellschaft, der Menschheit und im All wiederzufinden. Ach, man könnte graue Haare darüber bekommen – eine endlose Arbeit.

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46. Mein. Wo verbirgt sich der Grundzug dieses Denkens und Empfindens? Vielleicht wächst er zusammen mit dem Begriff »Ich«? Dann vielleicht, wenn das Kleinkind dagegen protestiert, wenn man es am Gebrauch seiner Hände hindert, wenn es um sie kämpft als um »seine« Hände und nicht um sein »Ich«. Wenn du ihm den Löffel wegnimmst, mit dem es auf die Tischplatte schlägt, beraubst du es nicht eines Besitzes, sondern eines Vermögens, mit der seine Hand Energie umsetzt, sich auf andere Weise, durch Geräusche, äußert. Diese Hand, nicht seine Hand im vollen Sinne, sondern eher ein dienstbarer Geist Aladins, hält ein Biskuit und gewinnt dabei eine neue, wertvolle Eigenschaft, die das Kind sich zu bewahren trachtet. In welchem Maße nun verbindet sich in ihm der Begriff des Eigentums mit der Vorstellung von wachsender Kraft? Der Bogen war für den Wilden nicht nur Eigentum, sondern eine verbesserte Hand, die entferntere Ziele zu treffen vermag. Das Kind will eine zerrissene Zeitung nicht hergeben, denn es untersucht sie, es übt sich daran; die Zeitung ist ein Werkstoff, so wie die Hand ein Werkzeug ist, das keine Töne hervorbringt und keinen Geschmack hat, das aber mit einer Glocke zusammen seine Sprache spricht und zusammen mit einer Semmel einen zusätzlichen angenehmen Eindruck beim Lutschen vermittelt. Erst später kommen Nachahmung, Wetteifer und der Wunsch, sich auszuzeichnen, dazu. Denn Besitz erweckt Achtung, hebt den Eigenwert und verleiht Macht. Ohne Ball stände das Kind unbeachtet im Schatten, aber im Besitz eines Balles kann es unabhängig von eigenen Verdiensten im Spiel einen besonderen Platz einnehmen; besitzt es einen Säbel, so wird es Offizier, nennt es einen Zügel sein Eigen, so ist es der Kutscher; gemeiner Soldat, Wagenpferd jedoch ist, wer nichts besitzt. »Gib mir, lass mal«, das ist eine Bitte, die den Ehrgeiz anreizt. »Hier hast du« oder auch »das kriegst du nicht« ganz nach Laune, denn das ist »meins«. 47. »Ich will haben, ich habe, ich will wissen, ich weiß, ich will können, ich kann«; drei Zweige eines gemeinsamen Willensstammes, dessen Wurzeln zwei Empfindungen sind: Zufriedenheit und Unzufriedenheit. Das kleine Kind gibt sich alle Mühe, sich selbst und seine lebendige und tote Umwelt zu erkennen, denn damit ist sein Wohlergehen eng verbunden. Wenn es fragt: »Was ist das?«, ob nun mit Worten oder Blicken, so will es keinen Namen, sondern etwas über die Bedeutung erfahren. »Was ist das?« »Pfui, wirf das weg! Pfui, das kann man nicht in die Hand nehmen.«

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»Was ist das?« »Ein Blümchen« – ein Lächeln, ein freundliches Gesicht und die Erlaubnis, es zu pflücken. Wenn ein Kind nach einem beliebigen Gegenstand fragt und ihm wird nur eine Bezeichnung ohne deren gefühlsmäßige Bewertung genannt, so kann es sein, dass es die Mutter verwundert und gleichsam enttäuscht ansieht, und das Wort langgezogen wiederholt, unsicher, was es mit dieser Antwort anfangen soll. Es muss Erfahrungen sammeln, um zu begreifen, dass es neben einer wünschenswerten und einer unerwünschten auch noch eine wertfreie Welt gibt. »Was ist das?« »Watte.« »Waattee?«, und es sieht die Mutter gespannt an und wartet auf einen Hinweis, was es davon wohl halten solle. Wenn ich in Gesellschaft eines Eingeborenen durch Äquatorialwälder reiste und eine Pflanze mit mir unbekannten Früchten bemerkte, so würde ich ebenso fragen: Was ist das – und er würde, diese Frage erratend, mit einem Ausruf, einer Gebärde des Abscheus oder mit einem Lächeln darauf antworten, das sei Gift, ein wohlschmeckendes Nahrungsmittel oder ein wertloses Gebilde, das mitzunehmen sich nicht lohnt. Das kindliche »Was ist das?« bedeutet »Wie ist es beschaffen? Wozu dient es? Was nützt es mir?« 48. Ein oft gesehenes, aber doch interessantes Bild: Zwei Kinder, noch nicht ganz sicher auf ihren Beinchen; das eine hat einen Ball oder einen Pfefferkuchen, das andere will ihm den wegnehmen. Der Mutter ist es peinlich, wenn ihr Kind einem anderen etwas entreißt, es nicht geben oder nicht mit ihm teilen oder es ihm nicht »borgen« will. Es ist ihr arg, dass ihr Kind sich nicht nach der herkömmlichen Art von Freundlichkeit verhält. Die geschilderte Szene birgt folgende drei möglichen Abläufe in sich: Das eine Kind nimmt dem anderen etwas weg. Das schaut zunächst erstaunt drein, blickt dann die Mutter an und erwartet von ihr eine Erklärung des unverständlichen Geschehens. Oder: Das eine versucht, dem anderen etwas wegzunehmen, aber es trifft plötzlich auf erbitterten Widerstand: Das betroffene Kind versteckt das begehrte Objekt hinter seinem eigenen Rücken, stößt den Angreifer zurück und wirft ihn um. Die Mutter eilt zur Hilfe herbei. Oder: Beide sehen einander lange an, nähern sich dann, das eine fasst mit unsicherem Griff zu, das andere setzt sich wenig überzeugend zur Wehr. Erst nach einer umständlichen Vorgeschichte entzündet sich ein Konflikt.

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Hier spielt das Alter der beiden und (das Maß) ihrer Lebenserfahrung eine Rolle. Ein Kind aus einer Schar älterer Geschwister hat schon oft sein Recht und sein Eigentum verteidigen müssen und ist manchmal auch selbst der Angreifer gewesen. Aber wenn wir einmal alles Zufällige beiseitelassen, dann bemerken wir zwei unterschiedliche Veranlagungen, zwei verschiedene Menschentypen: den aktiven und den passiven. »Das Kind ist so gutmütig: Es gibt alles her.« Oder: »Ein Dummerle: Es lässt sich alles wegnehmen.« Das alles hat weder mit Güte noch mit Dummheit etwas zu tun. 49. Gutartigkeit, das bedeutet: schwächere Lebensimpulse, mangelnder Willensaufschwung und Ängstlichkeit bei jedem Tun. Jähe Bewegungen, lebendige Erfahrungen und schwierige Vorhaben werden vermieden. Bei geringerem Tun macht es sich nur wenige handfeste Wahrheiten zu eigen, ist also gezwungen, seiner Umwelt mehr zu vertrauen und öfter nachzugeben. Ist sein Intellekt nicht so viel wert? Mitnichten – aber er ist von anderer Art. Das sich passiv verhaltende Kind hat weniger blaue Flecken und begeht nicht so viele ärgerliche Irrtümer; und so fehlt ihm die durch sie gewonnene schmerzhafte Erfahrung; aber vielleicht erinnert es sich dieser wenigen Erfahrungen besser. Das aktive Kind sammelt mehr Beulen und Enttäuschungen ein, aber es vergisst sie vielleicht schneller. Das erstere erlebt das alles in nicht so großer Vielfalt und nicht so schneller Folge, vielleicht aber gründlicher. Die passiven sind bequemer. Alleingelassen, fallen sie nicht aus dem Kinderwagen, und sie alarmieren nicht gleich bei geringfügigen Anlässen das ganze Haus. Aufgeregt und verweint beruhigen sie sich schnell, fordern nicht allzu hartnäckig, zerschlagen, zerreißen und ruinieren nicht so viel. »Gib her!«, es protestiert nicht. »Leg hin, nimm, iss!« – es fügt sich. Zwei Szenen: Das Kind hat keinen Hunger mehr, aber es ist noch ein Löffel Grütze übrig. Also muss es den aufessen, denn der Arzt hat diese Menge bestimmt. Unlustig öffnet es den Mund, kaut lange und träge und schluckt mit einiger Anstrengung den Bissen herunter. Das andere ist ebenso satt; aber es beißt die Zähne zusammen, wirft energisch den Kopf zurück, schlägt nach dem Löffel, spuckt und wehrt sich. Und die Erziehung? Wollte man sich von zwei vollkommen entgegengesetzten Kindertypen her eine Meinung über das Kind an sich bilden, so könnte man ebensogut aus den Eigenschaften von siedendem Wasser und Eis zusammen auf das Wesen des Wassers schließen. Die Skala umfasst einhundert Grad; aber wo sollen wir unser Kind einordnen? Aber die Mutter kann wissen, was angeboren und was mühsam erworben

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ist – und sie sollte daran denken, dass alles durch Dressur, Druck und Gewalt Erreichte vorübergehend, ungewiss und trügerisch ist. Und wenn das nachgiebige, »gute« Kind plötzlich schwierig und aufsässig wird, sollte man sich nicht darüber ärgern, dass das Kind so ist, wie es ist. 50. Der Landmann, der Himmel und Erde, Früchte und Kreaturen dieser Erde eingehend beobachtet, kennt die Grenzen menschlicher Macht. Dies Pferd hat eine flotte Gangart, jenes ist schwerfällig, furchtsam, störrisch; die Henne legt gut, die Kuh gibt reichlich Milch, der Acker ist fruchtbar und trocken, der Sommer regnerisch, der Winter ohne Schnee – überall begegnet ihm etwas, was er durch Pflege, Mühe, Peitschenhiebe ein bisschen verändern, ein wenig verbessern kann; aber es kommt auch vor, dass er nichts erreicht. Der Stadtmensch hat eine übertrieben hohe Vorstellung von der Macht des Menschen. Die Kartoffeln sind nicht gut geraten, aber sie sind da, man muss sie nur teuer bezahlen. Es ist Winter – er zieht seinen Pelz an; es regnet – er nimmt die Galoschen aus dem Schrank; bei anhaltender Trockenheit werden eben die Straßen gesprengt, damit es nicht so viel Staub gibt. Alles kann man kaufen, für alle Zwischenfälle gibt es einen Rat. Das Kind ist elend – da muss ein Arzt gerufen werden, es lernt schlecht – ein Hauslehrer wird schon helfen. Und ein Buch, das vorschreibt, was zu tun sei, vermittelt die Illusion, dass sich alle Schwierigkeiten beheben lassen. Wie sollte man es unter diesen Voraussetzungen für notwendig halten, dass ein Kind das sein müsse, was es ist, dass man, wie die Franzosen sagen, einem Ekzematiker wohl künstlich eine gesunde Hautfarbe anmalen, ihn aber nicht heilen kann. Ich möchte ein mageres Kind aufpäppeln. Ich gehe dabei langsam, vorsichtig zu Werk, und es ist mir gelungen: Es hat ein Kilogramm zugenommen. Aber eine geringfügige Unpässlichkeit genügt, ein Schnupfen, eine zur Unzeit verabfolgte Birne, und der Patient verliert die mühsam erworbenen zwei Pfunde wieder. Sommerkolonien für arme Kinder. Sonne, Wald, Wasser, sie atmen Freude, Ausgeglichenheit, Güte. Gestern noch ein kleiner Wildling, heute ein lieber Spielgefährte. Verschüchtert, furchtsam und abgestumpft, eine Woche später keck, lebhaft, voller Initiative und zum Singen aufgelegt. Hier ein Wandel von einer Stunde zur andern, dort geht eine ganze Woche darüber hin, im dritten Falle ändert sich nichts. Das ist weder ein Wunder noch das Ausbleiben eines Wunders; es ist nur das, was vorhanden war und gewartet hat, bis es sich entwickeln konnte, und im anderen Falle kann sich nichts zeigen, weil es nicht vorgegeben war. Ich unterrichte ein geistig zurückgebliebenes Kind: zwei Finger, zwei Knöpfe, zwei Streichhölzer, zwei Geldstücke – zwei. Schon kann es bis fünf zählen. Aber man

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braucht nur die Reihenfolge der Fragen, die Intonation, die Gebärde zu ändern, und wieder weiß und kann es nichts. Ein Kind mit einem Herzfehler: sanftmütig, langsam in seinen Bewegungen, beim Sprechen wie in seinen Freudenbekundungen. Sein Atem ist kurz, jede lebhaftere Bewegung löst einen Hustenanfall aus, bedeutet Leiden und Schmerz. Dieses Kind muss so sein. Die Mutterschaft vermag eine Frau zu adeln, wenn sie Opfer bringt, sich Entsagungen auferlegt und auf manches verzichtet; die Mutterschaft kann auch demoralisierend wirken, wenn das angebliche Wohl des Kindes dazu benutzt wird, das Kleine den Ambitionen, Neigungen und Gewohnheiten der Mutter auszusetzen. Mein Kind ist mein Eigentum, mein Sklave, mein Schoßhündchen. Ich kraule es hinter den Ohren, streichle ihm den Nacken, führe es mit Schleifchen verziert spazieren, dressiere es, damit es aufgeweckt und manierlich ist; und wenn es mir lästig wird, dann heißt es: »Geh spielen. Nimm dir die Schulbücher vor. Geh endlich schlafen!« Angeblich wird so die Hysterie kuriert: »Sie meinen, Sie seien ein Hahn. Bleiben Sie es nur, aber krähen Sie nicht!« »Du bist jähzornig«, sage ich zu einem Jungen. »Nun ja, dann schlag nur zu, aber nicht zu fest; brause nur auf, aber nur einmal am Tag.« Wenn ihr so wollt, habe ich in diesem einen Satz meine ganze Erziehungsmethode zusammengefasst. 51. Siehst du diesen kleinen Kerl, wie er rennt, schreit und sich im Sand herumwälzt? Er wird einmal ein bekannter Chemiker werden und Erfindungen machen, die ihm Ansehen, eine bedeutende Stellung und ein beträchtliches Vermögen einbringen werden. Jawohl, zwischen einem Trinkgelage und einem Ball wird sich der Plagegeist plötzlich besinnen, sich in sein Labor einschließen und als Gelehrter wieder herauskommen. Wer hätte das gedacht? Siehst du diesen anderen da, wie er mit schläfrigen Blicken gleichgültig dem Spiel seiner Altersgenossen zusieht? Er gähnt, erhebt sich – vielleicht nähert er sich der spielenden Kinderschar? Nein, er hat sich schon wieder hingesetzt. Auch aus ihm wird einmal ein bekannter Chemiker werden, dem manche Erfindung glückt. Ein Wunder: Wer hätte das geglaubt? Nein, weder aus dem kleinen Windbeutel noch aus der gleichaltrigen Schlafmütze werden Forscher und Gelehrte werden. Der eine wird Turnlehrer, der andere Postbeamter. Es ist eine flüchtige Mode, ein Fehler, eine unvernünftige Meinung, dass uns alles, was nicht hervorragend ist, als verfehlt und wertlos erscheint. Wir kranken an

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dem Hang zur Unsterblichkeit. Wer es nicht bis zur Denkmalswürdigkeit bringt, möchte wenigstens eine Gasse nach sich benannt wissen, ein ewiges Andenken hinterlassen. Wenn schon kein vierspaltiger Nekrolog erscheinen kann, so doch wenigstens eine kurze Erwähnung im Text: »Er nahm aktiv Anteil an …, in weiten Kreisen wird sein Hinscheiden betrauert.« Früher wurden Straßen, Krankenhäuser, Altersheime nach heiligen Schutzpatronen benannt, und das hatte seinen Sinn; später traten Herrschernamen an ihre Stelle, das war ein Zeichen der Zeit; und heute müssen Gelehrte und Künstler ihre Namen dafür hergeben, und das ist sinnlos. Schon werden Denkmäler für Ideen errichtet, für die namenlosen Helden, für alle jene, die noch kein Denkmal haben. Ein Kind ist kein Lotterielos, auf das der Gewinn eines Porträts im Sitzungssaal eines Magistrats oder einer Marmorbüste im Vestibül eines Theaters fallen kann. In jedem ist ein eigener Funke enthalten, der die Flamme des Glücks und der Wahrheit entzünden kann und vielleicht in der zehnten Generation zur feurigen Eruption eines Genies wird, das den eigenen Stamm verzehrt und der Menschheit dabei das Licht einer neuen Sonne schenkt. Ein Kind ist ein durch die Erbmasse für die Aussaat des Lebens vorbereiteter Acker; wir können nur daran mitwirken, damit das auch aufwächst, was mit starken Trieben zu wachsen beginnt, noch bevor es den ersten Atemzug tut. Neue Tabaksorten und frische Weinmarken bedürfen der Reklame für ihre Qualität, nicht aber der Mensch. 52. Also doch das Fatum der Erblichkeit, die unbedingte Vorherbestimmung, die Bankrotterklärung der Medizin und der Pädagogik? Diese Phrase klingt wie ein Donnerschlag. Ich habe das Kind ein dicht beschriebenes Pergament genannt, einen bereits bestellten Acker –aber lassen wir Vergleiche, die nur in die Irre führen. Es gibt Fragen, denen wir beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens die Antwort schuldig bleiben müssen. Sie sind nicht mehr so zahlreich wie früher, aber sie sind vorhanden. Es gibt Probleme, denen wir unter den heutigen Lebensbedingungen ratlos gegenüberstehen. Auch ihre Anzahl ist etwas geringer geworden. Da ist ein Kind, dem man mit dem besten Willen und den größten Bemühungen kaum zu helfen vermag. Da ist ein anderes, dem man auf eben diese Weise wohl helfen könnte; aber die Bedingungen dafür sind ungünstig. Dem einen würde ein Aufenthalt auf dem Lande, im Gebirge, an der See wenig nützen, dem anderen würde man so helfen können, aber es lässt sich nicht schaffen. Wenn wir einem Kinde begegnen, das aus Mangel an Fürsorge, frischer Luft und ausreichender Kleidung verkümmert, dann geben wir den Eltern keine Schuld. Sehen wir ein Kind, das durch ein Übermaß an betulichen Bemühungen entartet, das über-

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füttert, zu warm gekleidet und ständig vor eingebildeten Gefahren geschützt wird, dann sind wir geneigt, die Mutter zu beschuldigen; wir meinen, es wäre leicht, dem Übel abzuhelfen, wenn nur der Wille zur Einsicht vorhanden wäre. Nein, man muss schon sehr mutig sein, will man sich nicht mit unfruchtbarer Kritik, sondern mit der Tat den verpflichtenden Normen jener Klasse oder jener Gesellschaftsschicht widersetzen, der man angehört. Wenn dort die Mutter ihr Kind nicht sauberhalten, ihm nicht die Nase putzen kann, so ist es ihr hier einfach unmöglich, es mit zerrissenen Schuhen und schmutzigem Gesicht herumlaufen zu lassen. Wenn man es dort unter Tränen von der Schule nimmt und in eine Lehre steckt, dann fühlt man sich hier mit ebenso schmerzlichen Gefühlen dazu verpflichtet, es in die Schule zu schicken. »Der Bengel verwahrlost ohne Schule«, sagt die eine Mutter und sie nimmt ihrem Jungen das Buch weg. »Das Kind wird mir in der Schule ganz verdorben«, sagt die andere – aber sie kauft ein halbes Pud neuer Schulbücher. 53. Für die breite Masse ist die Erblichkeit eine Tatsache, die durch ihr Vorhandensein alle auftretenden Ausnahmefälle überdeckt; für die Wissenschaft ist sie ein Problem, das Gegenstand der forschenden Untersuchung ist. Es gibt eine umfangreiche Literatur, die sich auf die Lösung einer einzigen Frage beschränkt: Kommt ein Kind tuberkulöser Eltern bereits krank zur Welt, ist es nur prädisponiert, oder infiziert es sich nach der Geburt? Habt ihr bei euren Überlegungen über die Erblichkeit auch einmal so einfache Tatsachen bedacht, dass es nämlich außer der Vererbung von Krankheiten auch eine Erblichkeit der Gesundheit gibt, dass eine Familie sich nicht nach überkommenem »Plus« und »Minus«, nach Vorzügen und Fehlern, nach Soll und Haben bestimmen lässt. Gesunde Eltern zeugen ihr erstes Kind; das zweite wird das Kind von Syphilitikern sein, wenn die Eltern inzwischen von dieser Krankheit befallen sind; das dritte hat tuberkulöse Syphilitiker als Eltern, wenn diese sich auch noch Tuberkulose zugezogen haben. Diese drei Kinder sind einander gänzlich unähnlich: ohne Verpackung, mit Verpackung und mit doppelter Belastung. Umgekehrt, der kranke Vater ist inzwischen geheilt, von zwei Geschwistern ist das Erste das Kind eines kranken, das Zweite das Kind eines gesunden Erzeugers. Ist ein nervöses Kind nervlich belastet, weil es von nervösen Eltern stammt, oder weil es von ihnen aufgezogen wurde? Wo ist die Grenze zu suchen zwischen Nervosität und übertriebener Feinheit der nervlichen Struktur, einer seelischen Prädisposition? Zeugt ein Lebemann-Vater von vornherein einen Verschwender-Sohn, oder steckt er ihn erst durch sein Beispiel an? »Sage nur, wer deine Erzeuger sind, und ich sage dir, wer du bist«; aber das trifft nicht immer zu.

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»Sage mir, wer dich erzogen hat, und ich sage dir, wer du bist«, –auch das stimmt nicht. Warum haben gesunde Eltern manchmal schwächliche Nachkommenschaft? Warum wächst in einer ehrbaren Familie ein Lump auf? Weshalb hat eine durchschnittliche Familie manchmal ein hochbegabtes Kind? Man sollte neben der Vererbungsforschung gleichzeitig auch Untersuchungen des Erziehungsmilieus betreiben; dann würde vielleicht manches Rätsel gelöst werden können. Als Erziehungsmilieu bezeichne ich den Geist, der in einer Familie vorherrscht; ihre einzelnen Glieder können ihm gegenüber keinen beliebigen Standpunkt einnehmen. Dieser lenkende Geist ist zwingend, und er duldet keinen Widerstand. 54. Ein streng dogmatisches Milieu. Tradition, Autorität, festgefügte Bräuche, Befehl als absolutes Gesetz, Zwang als Lebensimperativ. Disziplin, Ordnung und Redlichkeit. Gemessene Haltung, seelisches Gleichgewicht, Heiterkeit, die ihren Ursprung in Seelenstärke hat, im Gefühl der Beständigkeit, der Widerstandsfähigkeit, der Selbstsicherheit oder auch in dem Bewusstsein, dass die zuerteilten Aufgaben rechtens sind. Selbstbeschränkungen, Selbstüberwindung, Arbeit als Recht, Moralität als Gewohnheit. Bedachtsamkeit bis zur Passivität, zur einseitigen Nichtachtung von Rechten und Wahrheiten, die keine Tradition überliefert, keine Autorität sanktioniert und keine mechanisierte Tätigkeitsschablone fixiert hat. Wenn diese Selbstsicherheit nicht in Willkür, diese Schlichtheit nicht in Borniertheit umschlägt, dann wird dieses fruchtbare Erziehungsmilieu ein ihm geistig fremdes Kind entweder zerbrechen oder aber einen wahrhaft wohlgestalteten Menschen heranbilden, der seinen gestrengen Erziehern mit Ehrerbietung begegnen wird, weil sie ihn nicht als Spielzeug betrachtet, sondern den mühseligen Weg zu einem klar umrissenen Ziel geführt haben. Ungünstige Bedingungen und der Druck physischer Bedürfnisse verändern die geistige Wirklichkeit dieses Milieus nicht. Emsige Arbeit kann in Plackerei übergehen, Ruhe in Resignation, und die bis zur Verbohrtheit gehende Selbstverleugnung kann in den Willen zum Durchhalten hineinführen; manchmal treten auch Schüchternheit und Demut auf – aber immer bleibt das Gefühl der Billigkeit und das Vertrauen. Apathie oder Energie sind nicht eine Schwäche, sondern eine Stärke dieses Milieus, gegen die ein fremder böser Wille vergeblich angeht. Erde, Kirche, Vaterland, Tugend und Sünde können Dogmen sein; dies trifft auch für die Wissenschaft, für soziale und politische Arbeit, Vermögen, Auseinandersetzungen aller Art, Gott, Heldentum, Götzendienst und Narretei zu. Nicht, woran du glaubst, ist entscheidend, sondern wie du glaubst.

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55. Das idealistische Milieu. Sein Vorzug liegt nicht in einer durch Abhärtung erreichten seelischen Standfestigkeit, sondern in der Bewegung, im Engagement, im Schwung. Hier wird nicht gearbeitet, sondern fröhlich etwas getan. Man ist schöpferisch tätig und verharrt nicht in einer abwartenden Haltung. Es gibt keinen Zwang, sondern allein bereitwilliges Mittun. Es gibt keine starren Dogmen, aber es gibt Probleme mancherlei Art. An die Stelle von langwierigen Überlegungen treten Begeisterung und Enthusiasmus. Diese wiederum werden in Schranken gehalten durch den Abscheu vor schmutzigen Dingen, durch einen moralischen Ästhetizismus. Es kommt wohl vor, dass für kurze Zeit ein Gefühl der Abneigung wirksam wird, niemals aber Verachtung. Toleranz bedeutet hier keine Halbherzigkeit der eigenen Überzeugungen, sondern Achtung vor dem menschlichen Denken und Freude darüber, dass der Geist sich frei entfaltet, in verschiedenen Höhenlagen, in verschiedene Richtungen, in der Begegnung mit anderen, absteigend und sich wieder aufschwingend und den Raum erfüllend. Mutig im eigenen Tun, wird der Widerhall fremder Hammerschläge begierig aufgenommen, und das Morgen neuer Verwunderungen mit seinen Erkenntnissen, Verfehlungen, Kämpfen, Zweifeln, Behauptungen und Verneinungen wird voller Spannung erwartet. Wenn ein dogmatisch-strenges Milieu die Erziehung eines passiv angelegten Kindes begünstigt, so eignet sich ein idealistisches Milieu als Nährboden für Kinder mit Anlagen zur Aktivität. Ich glaube, dass viele schmerzliche Überraschungen hier ihren Ursprung haben. Für das eine Kind geben die zehn in Stein gehauenen Gebote Weisungen, die es doch aus der Glut des eigenen Herzens hervorbringen möchte; das andere Kind wird durch diese Gebote zur Suche nach Wahrheiten gezwungen, die es als fertige Wahrheiten annehmen muss. Das vermag man nicht zu erkennen, wenn man sich einem Kinde mit dem Anspruch nähert: »Ich werde aus dir einen Menschen machen«, anstatt die forschende Frage zu stellen: »Was könnte wohl aus dir werden, Mensch?« 56. Das Milieu eines heiteren Lebensgenusses. Ich habe alles, was ich brauche; also wenig, wenn ich ein Handwerker oder ein Beamter bin, oder viel als Besitzer umfangreicher Ländereien. Ich will sein, was ich bin, also Meister, Stations­vorsteher, Rechtsanwalt oder Romanschriftsteller. Die Arbeit ist kein Dienst, kein auszufüllender Posten, kein Zweck, sondern ein Mittel, um ein bequemes Leben unter erwünschten Bedingungen führen zu können. Heiterkeit, Sorglosigkeit, sanfte Gemütsbewegungen, Wohlwollen, Güte, so viel Nüchternheit wie erforderlich, so viel Selbsterkenntnis, wie man ohne viel Mühe erwerben kann. Ausdauer und Zähigkeit bilden sich weder in der Bewahrung des Überkommenen noch in forschendem Suchen und Streben aus.

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Das Kind lebt in der Atmosphäre einer inneren Ausgeglichenheit, einer trägen Gewöhnung, die das Vergangene bewahrt, einer Nachsichtigkeit modernen Strömungen gegenüber; und es lebt unter dem reizvollen Eindruck der Einfalt, die es umgibt. Hier kann es alles sein: mithilfe von Büchern, Gesprächen, Begegnungen und Lebenserfahrungen wirkt es selbst am Gewebe der eigenen Weltanschauung mit und wählt selbstständig seinen Weg. Ich erwähne noch Liebe der Eltern zueinander: Selten empfindet ein Kind, wenn es an ihr mangelt; aber es kostet sie ganz und gar aus, wenn sie vorhanden ist. »Der Papa ist böse auf die Mama, die Mama redet nicht mehr mit dem Vater; Mama hat geweint und Papa hat die Tür zugeknallt.« Das ist eine Wolke, die den blauen Himmel verdeckt und das muntere Geplapper im Kinderzimmer mit frostiger Stille zum Gefrieren bringt. Eingangs habe ich gesagt: »Jemandem zu befehlen, er solle fertige Gedanken von sich geben – das bedeutet, einer fremden Frau zu empfehlen, sie solle dein eigenes Kind zur Welt bringen.« Vielleicht hat mancher dabei gedacht: »Und ein Mann? Gebiert nicht eine fremde Frau sein Kind?« Nein: keine fremde, sondern die geliebte Frau. 57. Das Milieu des Scheins und des Karrieremachens. Hier haben wir es wieder mit Ausdauer und Zähigkeit zu tun; hier aber ist es nicht das Ergebnis einer inneren Notwendigkeit, sondern das kühler Berechnung. Hier ist kein Platz für die Fülle innerer Werte; es gibt nur eine berechnende Form, eine geschickte Ausnutzung fremder Werte und ein künstliches Aufputzen wirklicher Leere. Phrasen, mit denen man Geld verdienen kann, Überkommenes, dem man sich unterwirft. Nicht der Wert entscheidet, sondern eine geschickte Reklame. Das Leben ist kein Wechselspiel von Arbeit und Entspannung, sondern witternde Geschäftigkeit. Unbefriedigte Eitelkeiten, Raubgier, Fäulnis, Überheblichkeit und unterwürfiges Wesen, Neid, Wut und Bösartigkeit. Hier werden Kinder weder geliebt noch erzogen, hier taxiert man nur, rechnet mit Verlust und Gewinn, kauft und verkauft. Jede Verbeugung, jedes Lächeln, jeder Händedruck – alles ist berechnet, es versteht sich fast von selbst, auch Ehe und Fruchtbarkeit. Man macht seine Geschäfte mit Geld, Beförderungen, Auszeichnungen und Beziehungen in »hochgestellten Kreisen«. Wenn aus einem solchen Milieu etwas Positives hervorgeht, so handelt es sich oft nur um einen schönen Schein, ein gewandtes Spiel, eine noch besser angepasste Maske. Es kommt aber auch vor, dass in einem Milieu der Zersetzung und der Fäulnis unter Qualen und in geistiger Zerrissenheit die sprichwörtliche »Rose auf dem Misthaufen« erblüht.

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Solche Fälle liefern den Beweis, dass es neben dem anerkannten Gesetz von der erzieherischen Beeinflussung auch noch das Gesetz von der Antithese gibt. Wir sehen es wirksam werden an den Beispielen, in denen ein Geizhals einen Verschwender, ein Gottloser einen Gottesfürchtigen, ein Feigling einen Helden erzieht, was sich allein mit der »Erblichkeit« wohl kaum erklären ließe. 58. Das Gesetz von der Antithese findet Unterstützung in einer Kraft, die sich Beeinflussungen zu widersetzen vermag. Diese Beeinflussungen können verschiedenen Ursprungs sein, und sie bedienen sich verschiedener Mittel. Es ist ein Verteidigungsmechanismus des Widerstandes, der Gegenwirkung, der Selbstverteidigung, gleichsam der Selbsterhaltungstrieb des geistigen Organismus, wachsam, automatisch funktionierend. Wenn das Moralisieren in der Erziehung auch bereits abgewertet ist, so genießt doch die Beeinflussung durch das Beispiel, durch die unmittelbare Umwelt in der Erziehung unbedingtes Vertrauen. Warum versagt diese Beeinflussung so oft? Ich frage, warum ein Kind, das einen Fluch gehört hat, ihn entgegen allen Verboten nachsprechen will, und wenn es dies auf Drohungen hin endlich sein lässt, den Fluch doch im Gedächtnis behält? Wo ist der Ursprung dieses allem Anschein nach bösen Willens, wenn das Kind trotzt, wo es doch leicht nachgeben könnte? »Zieh doch den Mantel an.« Nein, er will ohne Mantel gehen. »Zieh das rosa Kleid an.« Das Kind hat aber gerade Lust, das blaue zu nehmen. Wenn du nicht darauf bestehst, wird das Kind schon gehorchen; wenn du aber unbedingt darauf beharrst, bittend oder drohend, wird es nichts mehr sagen und nur unter Zwang nachgeben. Warum stößt in der Pubertätszeit unser banales »Ja« am häufigsten auf das »Nein«? Ist dies nicht ein Anzeichen jenes tief verwurzelten Widerstands gegen Versuchungen, die aus dem Inneren kommen und die von außen an den Heranwachsenden herantreten können? »Traurige Ironie, die der Tugend befiehlt, die Sünde zu wollen, und dem Verbrecher, unbefleckte Träume zu träumen.« (Mirbeau10) Ein Glaube, der verfolgt wird, findet umso eher Gehör. Der Wille, die nationale Selbsterkenntnis einzuschläfern, erweckt sie umso nachhaltiger. Vielleicht habe ich hier Dinge aus verschiedenen Bereichen zusammengebracht; aber mir persönlich genügt es, wenn die Hypothese vom Gesetz der Antithese viele paradoxe Reaktionen auf pädagogische Anstöße hin erklärt und von allzu zahlreichen, häufigen und nachdrücklichen Einflussnahmen selbst in noch so erwünschten Richtungen abhält. 10 Octave Mirbeau (1848–1917), französischer Erzähler und Kunstkritiker.

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Familiengeist? Einverstanden. Aber wo bleibt der Geist der Epoche; er hat an den Grenzen der zu Boden geworfenen Freiheit Halt gemacht; feige haben wir das Kind vor ihm verborgen gehalten. Die »Legende des jungen Polen« von Brzozowski11 hat mich nicht vor einer engstirnigen Weltsicht bewahrt. 59. Was ist ein Kind? Was ist es, wenn man es auch nur physisch betrachtet? Ein sich entfaltender Organismus. Das ist richtig. Aber die Zunahme von Gewicht und Größe ist nur eine Erscheinung unter vielen anderen. Schon die Wissenschaft kennt verschiedene Phasen dieses Wachstums: Es ist ungleichmäßig; es gibt Zeitabschnitte eines schnellen und eines langsamen Wachsens. Außerdem wissen wir, dass ein Kind nicht nur wächst, sondern auch seine Proportionen ändert. Das breite Publikum weiß selbst das nicht. Wie oft ruft eine Mutter den Arzt herbei und klagt, das Kind sei elend geworden, habe erschreckend abgenommen, sein Leib sei erschlafft, Gesichtchen und Köpfchen sichtlich kleiner geworden. Sie weiß nicht, dass ein Kleinkind, das in das Kindesalter eintritt, seine Fettpölsterchen verliert, dass mit der Entwicklung des Brustkastens der Kopf sich zwischen den breiter werdenden Schultern verbirgt, dass sowohl die Glieder als auch die Organe sich unterschiedlich entwickeln, dass Gehirn, Herz, Magen, Schädel, Augen, die Knochen der Extremitäten ein unterschiedliches Wachstum haben, dass, wenn dies nicht so wäre, der erwachsene Mensch einem Ungeheuer ähnelte mit einem riesenhaften Kopf auf einem gedrungenen, fettleibigen Rumpf, dass er sich auf den beiden fetten Walzen seiner Beine nicht rühren könnte, dass eine Veränderung der Proportionen mit dem Wachstum Hand in Hand geht. Wir besitzen einige zehntausend Meßergebnisse, einige nicht gänzlich übereinstimmende Kurven des durchschnittlichen Wachstums; aber wir wissen nichts darüber, welchen Wert die vorkommenden Beschleunigungen, die Verlangsamungen und die Abweichungen von der normalen Entwicklung haben. Denn bei unserer bescheidenen Kenntnis der Wachstumsanatomie wissen wir nichts von seiner Physiologie. Wir haben wohl gewissenhaft das kranke Kind untersucht, aber erst vor Kurzem haben wir damit begonnen, auch das gesunde zu beobachten. Denn seit hundert Jahren ist das Krankenhaus unser Untersuchungsfeld, und das Erziehungsinstitut ist noch weit davon entfernt, die gleiche Aufgabe zu übernehmen.

11 Stanisław Leopold Brzozowski (1878–1911), Kritiker, Publizist, Literat und Soziologe, Schöpfer einer Philosophie der Arbeit; sein heute kaum noch bekanntes Buch Legende des jungen Polen übte auf seine Zeitgenossen bedeutenden Einfluss aus.

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6o. Das Kind hat sich verändert. Es ist irgendetwas mit ihm geschehen. Nicht immer vermag die Mutter zu sagen, worauf die Veränderung beruht; sie hat aber eine fertige Antwort auf die Frage, welchen Umständen dieser Wandel zuzuschreiben ist. Das Kind hat sich verändert nach dem Zahnen, nach der Pockenimpfung, nach dem Abstillen, nachdem es aus dem Bett gefallen war. Es lief bereits, plötzlich hat es aufgehört zu laufen; es meldete sich, wenn es abgehalten werden wollte, jetzt macht es sich wieder nass; es isst »nichts«, schläft unruhig, wenig oder allzu viel, es ist launisch geworden, übertrieben lebhaft oder träge – es ist abgemagert. Eine andere Phase: Nach dem Eintritt in die Schule, nach der Rückkehr vom Lande, nach den Masern, nach den verordneten Bädern, nach einem Schrecken bei einem Brand. Andere Gewohnheiten beim Schlafen und beim Essen, Veränderungen in seinem Charakter: früher gehorsam, jetzt eigenwillig, früher fleißig, jetzt zerstreut und faul. Es ist blass, hat eine schlechte Haltung, hässliche Angewohnheiten. Vielleicht der Einfluss schlecht erzogener Kameraden, vielleicht der Unterricht, vielleicht ist es krank? Zwei Jahre Aufenthalt im Waisenhaus, die eher mit intensiver Beobachtung der Kinder als mit Studien an ihnen ausgefüllt sind, ließen die Behauptung zu, dass ein Kind alles, was uns als mangelndes Gleichmaß der Pubertätszeit bekannt ist, mehrmals – wenn auch nicht in so krasser Form – als kleine Umbrüche durchlebt, ebenso kritische Jahre, die aber weniger ins Auge fallen und darum von der Wissenschaft noch nicht bemerkt worden sind. Manche, denen es um das Kind als ein Individuum geht, wollen es als einen Organismus im Zustand einer überhöhten Beanspruchung betrachten. Daher das größere Schlafbedürfnis, die geschwächte Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten, die Empfindlichkeit der Organe, die geringe seelische Ausdauer. Eine zutreffende Ansicht, aber sie gilt nicht für alle Entwicklungsstufen. Das Kind ist abwechselnd vital und munter, und dann wieder schwach, erschöpft und unlustig. Wenn es in der kritischen Phase erkrankt, sind wir geneigt, anzunehmen, die Krankheit habe schon vorher in ihm gesteckt. Ich glaube, dass sich die Krankheit in dem geschwächten Organismus vorübergehend entwickelt hat, sei es, dass sie im Hinterhalt darauf wartete, wann die Bedingungen für einen Überfall am günstigsten sein würden, sei es, dass sie, zufällig von außen eingeschleppt, sich ausgebreitet hat, weil sie keinen Widerstand vorfand. Wenn wir in Zukunft davon abkommen, die Lebenszyklen künstlich einzuteilen nach Kleinkindesalter, Kindheit, Jugend-, Mannes- und Greisenalter, so werden Wachstum und äußere Entwicklung nicht mehr das Einteilungsprinzip sein, sondern die uns noch weitgehend unbekannte

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tiefgreifende Umwandlung des Organismus als Ganzes, die Charcot12 in seiner Vorlesung über die Evolution der Arthritis – von der Wiege bis zum Grabe, zwei Generationen hindurch – dargestellt hat. 61. Zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr des Kindes wird oft der Hausarzt gewechselt. Da bekam ich neue kleine Patienten, deren Mütter sich über meinen Vorgänger beklagten, der das Kind angeblich höchst unvollkommen betreut hatte; andere Mütter haben wiederum mich mit dem Vorwurf abgelehnt, dass dieses oder jenes unerwünschte Symptom auf meine Nachlässigkeit zurückzuführen sei. Die einen wie die anderen hatten insofern recht, als der Arzt das Kind für gesund gehalten hatte und plötzlich wie aus dem Nichts ein zuvor nicht wahrnehmbarer Fehler in Erscheinung getreten war. Es genügt jedoch, die kritische Phase geduldig abzuwarten, und ein Kind mit einer nur geringen erblichen Belastung wird bald das vorübergehend gestörte Gleichgewicht zurückgewinnen; und sollte es auch stärker belastet sein, so tritt eine Besserung bestimmt ein, und die weitere Entwicklung des jungen Lebens fließt wieder ruhig dahin. Wenn man in diesem ersten Abschnitt, in dem sich ebenso wie in der zweiten Phase des Schulalters Funktionsstörungen zeigen, bestimmte Maßnahmen trifft, so schreibt man ihnen gerade eine Besserung des Zustandes zu. Und wenn heute bereits bekannt ist, dass eine Besserung bei Lungenentzündung oder bei Typhus nach Beendigung eines bestimmten Zyklus der Krankheit eintritt, so wird hier so lange Ungewissheit herrschen, bis wir in den Entwicklungsstufen des Kindes eine gewisse Ordnung entdeckt und voneinander abweichende Entwicklungsprofile für Kinder von verschiedenem Typus entworfen haben. Die Entwicklungskurve eines Kindes hat ihre verschiedenen Jahreszeiten, Phasen der intensiven Arbeit und der Ruhe zum Zwecke der inneren Vervollkommnung, der Beendigung eines eilig ausgeführten Vorhabens und der vorbereitenden Ansammlung von Vorräten für den weiteren Aufbau. Eine sieben Monate alte Leibesfrucht ist bereits lebensfähig, und doch reift sie noch lange zwei Monate (fast den vierten Teil der Schwangerschaft) im Schoße der Mutter weiter. Ein Kleinkind, das sein Anfangsgewicht im Laufe eines Jahres verdreifacht, hat das Recht, sich auszuruhen. Seine blitzartige seelische Entwicklung berechtigt es gleichfalls dazu, das eine oder andere von dem zu vergessen, was es bereits kennengelernt hat und was wir vorschnell als eine Errungenschaft von Dauer angesehen haben.

12 Jean Martin Charcot (1825–1893), frz. Neurologe, der vor allem Nervenerkrankungen und deren Merkmale beschrieben hat.

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62. Das Kind will nicht essen. Eine kleine arithmetische Aufgabe. Das Kind ist mit einem Geburtsgewicht von über acht Pfund zur Welt gekommen, nach Ablauf eines Jahres wiegt es fünfundzwanzig Pfund und hat damit sein Gewicht verdreifacht. Wenn es in demselben Tempo weiterwachsen würde, so wöge es am Ende des zweiten Lebensjahres fünfundzwanzig Pfund x 3 = 75 Pfund. Am Ende des dritten Jahres 75 Pfund × 3 = 225 Pfund. Am Ende des vierten Jahres 225 Pfd. × 3 = 675 Pfund. Am Ende des fünften Jahres 675 Pfd. × 3 = 2025 Pfund. Dieses fünfjährige Ungeheuer mit seinen 2000 Pfund Gewicht, das täglich 1/6 bis 1/7 seines Gewichtes verzehrte, wie das für Kleinkinder zutrifft, erforderte täglich 300 Pfund Nahrungsmittel. Ein Kind isst wenig, sehr wenig, oder viel, sehr viel, entsprechend seinem Wachstumsmechanismus. Die Gewichtskurve zeigt langsame oder plötzliche Zunahmen an, manchmal ändert sie sich monatelang nicht. In ihrer Konsequenz ist sie erbarmungslos: Das Kind nimmt in wenigen Tagen genausoviel zu, wie viel es zuvor, während einer Indisposition, abgenommen hat; und zwar einer inneren Weisung gemäß, die besagt: »So viel und nicht mehr.« Wenn ein gesundes, aber unterernährtes Kind normal ernährt wird, ergänzt es innerhalb einer Woche das Fehlgewicht und erreicht sein normales Gewicht. Wenn man ein Kind jede Woche einmal wiegt, dann beginnt es zu erraten, ob es an Gewicht zu- oder abgenommen hat: »In der vergangenen Woche habe ich dreihundert Gramm abgenommen, sicherlich sind es heute wieder 500 Gramm mehr. Heute werde ich abgenommen haben, weil ich kein Abendbrot gegessen habe. Wieder 500 Gramm mehr, danke …« Das Kind will es den Eltern recht machen; einmal ist es ihm peinlich, die Mutter zu kränken, zum anderen hat es große Vorteile, dem Willen der Eltern zu folgen. Wenn es also ein Kotelett nicht aufisst und seine Milch nicht austrinkt, so deshalb, weil es nicht mehr kann. Wollten wir es zwingen, so würden sich von Zeit zu Zeit Magenverstimmungen einstellen und die darauffolgende Diät den normalen Gewichtszuwachs regulieren. Grundsätzlich also sollte das Kind so viel essen, wie es will, nicht weniger und nicht mehr. Selbst bei der Notwendigkeit der kräftigeren Ernährung eines kranken Kindes sollte man das Kind bei der Zusammenstellung der Speisekarte befragen und die Kur mit ihm zusammen durchführen. 63. Kinder zum Schlafen zu zwingen, wenn sie nicht schlafen wollen, ist ein Vergehen. Es ist absurd, eine Aufstellung darüber anzufertigen, wie viel Stunden Schlaf ein Kind braucht. Die für ein bestimmtes Kind notwendige Stundenzahl festzu-

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stellen ist leicht, wenn man eine Uhr zu Rate zieht: Wie viele Stunden schläft es ohne Unterbrechung, bis es ausgeschlafen erwacht. Ich sage ausgeschlafen und nicht wach. Es gibt Zeiten, in denen das Kind mehr Schlaf braucht, und solche, wo es länger auch ohne zu schlafen im Bett bleiben möchte, weil es erschöpft ist, und nicht, weil es schläfrig ist. Zeiten der Ermattung: Abends geht das Kind nicht gern zu Bett, weil es noch nicht schlafen will, morgens verlässt es nur ungern das Bett, weil es noch keine Lust hat aufzustehen. Abends gibt es vor, noch nicht müde zu sein, weil man ihm nicht erlaubt, im Liegen Bilder auszuschneiden, mit Bauklötzen oder mit seiner Puppe zu spielen, weil man das Licht löscht und das Sprechen verbietet. Am Morgen tut es so, als schlafe es noch, weil man es sonst heißt, sofort aufzustehen und sich kalt zu waschen. Wie fröhlich begrüßt es jeden Husten, jede erhöhte Temperatur, die es ihm ermöglichen, ohne zu schlafen im Bett zu bleiben. Zeiten der inneren Ausgeglichenheit: Das Kind schläft schnell ein, aber es erwacht noch vor dem Morgengrauen voller Energie, Bewegungsfreude und übermütiger Initiative. Weder ein bewölkter Himmel noch ein kaltes Zimmer können es schrecken: barfuß, im Nachthemd macht es sich warm, indem es über Tisch und Stühle hüpft. Was soll man tun? Spät zu Bett bringen, sogar erst, oh Graus, um elf Uhr. Ihm erlauben, im Bett zu spielen. Ich frage, warum ein Gespräch vor dem Einschlafen »den Schlaf rauben« soll und ob nicht die Aufregung darüber, dass man, ohne es zu wollen, ungehorsam sein muss, viel eher »den Schlaf raubt«. Die zweifelhafte Maxime, früh schlafen zu gehen und früh wieder aufzustehen, haben die Eltern aus Bequemlichkeit bewusst zu einer anderen verfälscht: je mehr Schlaf, desto gesünder. Der öden Langeweile des Tages fügen sie noch die quälende Eintönigkeit des abendlichen Wartens auf das Einschlafen hinzu. Schwerlich lässt sich ein Befehl denken, der despotischer und bereits einer Tortur ähnlicher wäre, als der: »Schlaf ein!« Menschen, die spät schlafen gehen, pflegen nur dann krank zu werden, wenn sie die Nächte mit Trinken und Ausschweifungen verbringen und dann, durch ihre berufliche Tätigkeit zum frühen Aufstehen gezwungen, wenig Schlaf finden. Ein Neurastheniker, der einmal bei Morgengrauen aufgestanden ist, fühlt sich ausgezeichnet, weil er sich das einredet. Dass ein Kind, das zeitig zu Bett geht, nicht so lange dem künstlichen Lichte ausgesetzt ist, ist eigentlich kein so großer Vorteil in der Stadt, wo man doch bei Morgengrauen nicht aufs Feld gehen kann, sondern bei herabgelassenen Vorhängen, träge, unlustig und schlecht gelaunt daliegt, ein böses Vorzeichen für den beginnenden Tag … Mit den wenigen Zeilen hier, wie in allen Fragen, die dieses Buch berührt, vermag ich das Thema nicht auszuschöpfen. Meine Aufgabe ist es, zum Nachdenken anzuregen …

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64. Wodurch unterscheidet sich der geistige Organismus des Kindes von dem unsrigen? Wie ist er geartet, wessen bedarf er, und welche nicht wahrnehmbaren Möglichkeiten birgt er in sich? Wie steht es um jene Hälfte der Menschheit, die mit uns und neben uns in tragischem Zwiespalt lebt? Wir belasten sie mit den Pflichten des Menschen von morgen, ohne ihr die Rechte des Menschen von heute zuzugestehen. Wollte man die Menschheit in Erwachsene und Kinder teilen und das Leben in Kindheit und Reife, so gibt es hier wie dort unzählige Kinder. Wir nehmen sie – von unseren eigenen Auseinandersetzungen und Sorgen absorbiert – nur nicht wahr, so wie wir früher für Frauenfragen, Belange der Bauern oder Probleme der unterdrückten Bevölkerungsschichten und Nationen blind waren. Wir haben uns so eingerichtet, dass uns die Kinder möglichst wenig stören, und dass sie nicht ahnen, wer wir wirklich sind und was wir wirklich tun. In einem Kinderheim in Paris sah ich zwei verschiedene Treppengeländer: ein normal hohes für die Erwachsenen, ein niedrigeres für die Kleinen. Darüber hinaus ist dem Erfindergeist einzig und allein die Schulbank eingefallen. Das ist wenig, sehr wenig. Seht euch nur die bettlerischen Kinderplätze mit ihren verbeulten Emaillebechern an verrosteten Brunnenketten an, in den Gärten der hochherrschaftlichen Hauptstädte Europas. Wo sind die Häuser und Gärten, die Werkstätten und Versuchsfelder, das Werkzeug und das Experimentiergerät für die Kinder, die Menschen von morgen? Noch ein Fenster, noch ein Vorraum, der die Klasse vom Abort trennt, nur so viel hatte die Architektur übrig; noch ein Wachstuchpferdchen und einen Blechsäbel, so viel leistete die Industrie; ein paar Bildchen für die Wand und Handarbeitsmuster – nicht gerade viel; die Märchenwelt der Kinder – gerade die haben wir nicht erdacht. Vor unseren Augen ist aus dem Weibchen eine menschenwürdige Frau geworden. Jahrhunderte lang hatte sie die ihr aufgezwungene Rolle gespielt und einen durch Willkür und Egoismus des Mannes geschaffenen Typ vorgestellt, des Mannes, der nicht die berufstätige Frau inmitten des Volkes sehen wollte, ebenso wie er heute immer noch nicht das Kind in seiner Vorbereitung auf den »homo faber« wahrnimmt. Das Kind hat nichts gesagt, es hört immer noch zu. Das Kind – hundert Masken, hundert Rollen eines fähigen Schauspielers. Anders gegenüber der Mutter als in Anwesenheit des Vaters, der Großmutter, des Großvaters, anders gegenüber einem strengen als gegenüber einem milden Lehrer, anders in der Küche oder inmitten von Altersgenossen, wieder anders gegenüber Reichen als gegenüber Armen, anders in Alltagskleidung als in Festtagskleidung. Naiv und durchtrieben, demütig und erhaben, sanftmütig und rachsüchtig, guter

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Laune und eigenwillig vermag es sich eine Zeitlang so zu verbergen, so in sich selbst zu verschließen, dass es uns täuscht und ausnutzt. Im Bereich der Instinkte fehlt ihm scheinbar nur ein einziger; dieser ist an sich wohl vorhanden, aber noch unausgeprägt, gleichsam ein Nebel erotischer Vorahnungen. Seine Gefühlswelt ist mächtiger als die unsrige, weil sie noch durch keine Hemmungen eingeschränkt ist. An intellektuellen Kräften kommt es uns gleich; es fehlt ihm nur noch die Erfahrung. Daher ist der Erwachsene so oft ein Kind, und das Kind wiederum ein erwachsener Mensch. Der ganze Unterschied beruht im Übrigen darauf, dass es keinem Verdienst nachgeht, und dass es zum Nachgeben gezwungen ist, weil wir für seinen Unterhalt sorgen. Nun gibt es bereits Kinderheime, die Kasernen und Klöstern nicht mehr in so fataler Weise ähneln; fast gleichen sie Spitälern. Hygiene wird großgeschrieben, aber nur selten hört man ein Lachen, gibt es eine Überraschung, ist Ausgelassenheit zu verspüren; gemessener Ernst, wenn nicht Strenge, macht sich hier nur auf eine andere Weise bemerkbar. Die Architektur hat dieses Feld noch nicht entdeckt; es gibt noch keinen »Stil des Kindes«. Fassaden wie an den Häusern der Erwachsenen und ebensolche Proportionen, eine greisenhafte Kälte in den Details. Ein Franzose hat einmal gesagt, Napoleon habe die Klosterglocke des Erziehungswesens gegen eine Trommel ausgewechselt – das ist richtig; ich füge hinzu: Der Geist der modernen Erziehung wird durch Fabriksirenen übertönt. 65. Das unerfahrene Kind. Ein Beispiel dafür und der Versuch seiner Interpretation: »Mama, ich sag’ dir was ins Ohr.« Das Kind fällt der Mutter um den Hals und sagt geheimnisvoll: »Mama, frag doch mal den Doktor, ob ich eine Semmel (ein Stück Schokolade, Kompott) essen darf.« Es sieht dabei den Arzt an und möchte ihn durch ein Lächeln bestechen, um seine Zustimmung zu erreichen. Ältere Kinder flüstern ins Ohr, jüngere sprechen mit normaler Stimme … Es kommt der Augenblick, da die Umgebung das Kind für reif genug hält, um ihm Lehren zu erteilen. »Es gibt Wünsche, die man nicht äußern darf. Sie sind von zweierlei Art: Die einen darf man überhaupt nicht haben, und wenn man sie schon hat, muss man sich ihrer schämen; die anderen sind wohl zulässig, aber nur unter Gleichaltrigen.«

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Es ist hässlich, aufdringlich zu sein, und wenn man gerade einen Bonbon aufgegessen hat, um einen zweiten zu bitten. Manchmal ist es auch unartig, überhaupt um etwas Süßes zu bitten: Man muss warten, bis man es bekommt. Es ist hässlich, in die Hosen zu machen; aber man darf ebensowenig sagen »Ich muss mal«, weil man darüber lachen wird. Damit nicht gelacht wird, muss man’s jemandem ins Ohr sagen. Manchmal ist es hässlich, laut zu fragen: »Warum hat dieser Herr da keine Haa­re?« Der Herr lacht, alle lachen. Man darf wohl fragen, aber nur leise ins Ohr. Das Kind begreift nicht gleich, dass es nur deshalb etwas ins Ohr sagen soll, damit nur eine vertraute Person es hört; es sagt also etwas ins Ohr, aber laut: »Ich muss mal, ich möchte einen Keks.« Wenn es auch leise spricht, so begreift es nicht, warum. Warum soll es denn geheimhalten, was die Anwesenden auch so von der Mutter erfahren? Es schickt sich nicht, Fremde um etwas zu bitten; warum ist es jedoch erlaubt, den Doktor mit lauter Stimme um etwas zu bitten? »Warum hat das Hündchen da solch lange Ohren?«, fragt das Kind im leisesten Flüsterton. Wieder Gelächter. So etwas darf man laut fragen; denn das Hündchen nimmt das nicht übel. Aber es ist verboten zu fragen, warum dieses Mädchen da ein so hässliches Kleid trägt. Das Kleid kann doch auch nichts übelnehmen. Wie soll man es dem Kinde erklären, wie viel niederträchtige Erwachsenenfalschheit in dem allen steckt? Wie kann man es ihm später deutlich machen, warum es überhaupt hässlich ist, jemandem etwas ins Ohr zu sagen? 66. Das unerfahrene Kind. Es schaut neugierig in die Welt, hört eifrig zu und glaubt, was man ihm sagt. »Ein Äpfelchen, die Tante, ein Blümchen, eine Kuh« – es hält das alles für zutreffend. »Das ist hässlich, rühr das nicht an, das darf man nicht, das ist nicht erlaubt« – daran glaubt es wirklich. »Gib ein Küsschen, mach eine Verbeugung, bedank dich« – es tut das ohne Zögern. »Hat sich das Kindchen gestoßen; zeig mal her, Mama gibt einen Kuss drauf; schon tut es nicht mehr weh.« Es lacht unter Tränen, denn die Mama hat es ja geküsst; schon ist der Schmerz weg. Es hat sich gestoßen, läuft also, um sich eine Arznei zu holen: den Kuss. Es glaubt daran. »Hast du mich lieb?« »Und wie …«

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»Mama schläft, ihr tut der Kopf weh, man darf sie nicht wecken.« Also geht das Kindchen ganz leise auf Zehenspitzen zur Mutter hin, zupft sie vorsichtig am Ärmel und fragt sie flüsternd etwas. Es weckt die Mama nicht, oh nein, es fragt sie nur, und dann: »Schlaf nur, Mama, dir tut ja der Kopf weh.« »Da oben ist der liebe Gott. Der ärgert sich über unartige Kinder, aber den artigen gibt er Semmeln und Kuchen. Wo ist der liebe Gott?« »Da oben, ganz weit oben.« Die Straße herauf kommt ein sonderbarer Herr, ganz weiß gekleidet. »Wer ist das?« »Das ist der Bäcker, er backt Semmeln und Kuchen.« »Ja? Also ist das der liebe Gott?« Großvater ist gestorben und in der Erde begraben worden. »In der Erde begraben?«, verwundere ich mich. »Wie gibt man ihm denn etwas zu essen?« »Sie graben ihn aus«, sagt das Kind, »mit der Hacke.« Die Kuh gibt Milch. »Die Kuh?«, frage ich zweifelnd. »Aber woher nimmt sie die Milch?« »Aus dem Brunnen«, antwortet das Kind. Das Kind glaubt bedenkenlos; denn sooft es sich selbst etwas ausdenken will, geht es fehl; es ist darauf angewiesen, zu glauben. 67. Das unerfahrene Kind. Es hat ein Glas zu Boden fallen lassen. Etwas sehr Verwunderliches ist geschehen. Das Glas ist verschwunden, dafür sind ganz andere Gegenstände da. Es bückt sich, nimmt Glasscherben auf, verletzt sich, es tut weh, Blut tropft vom Finger. Alles ist so voller Geheimnisse und Überraschungen. Es schiebt einen Stuhl vor sich her. Plötzlich flimmert es ihm vor den Augen, es erschrickt, und dann gibt es ein Kra­chen. Der Stuhl hat sein Aussehen verändert, und das Kind selbst sitzt auf dem Fußboden. Wieder tut es weh, und der Schreck ist groß. Die Welt ist voll von wunderlichen Dingen und Gefahren. Es zieht an der Bettdecke, um darunter hervorzukriechen. Da es dabei das Gleichgewicht verliert, hält es sich am Kleid der Mutter fest. Es greift nach dem Bettrand, um sich aufzurichten. Um diese Erfahrung bereichert, zieht es die Tischdecke herunter. Wieder gibt es eine Katastrophe. Es sucht nach Hilfe; denn es vermag sich selbst noch nicht zu helfen. Bei seinen Selbstständigkeitsversuchen erleidet es Niederlagen. Es empfindet seine Abhängigkeit und wird ungeduldig. Auch dann, wenn es nicht oder nur bedingt vertraut, weil man es schon oftmals getäuscht hat, ist es gezwungen, sich an die Weisungen der Erwachsenen zu hal-

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ten – ebenso wie ein unerfahrener Arbeitgeber einen unredlichen Arbeiter dulden muss, weil er ohne ihn nicht auskommen kann, und wie ein Gelähmter die Hilfe eines barschen Pflegers annehmen und seine Launen ertragen muss. Mit allem Nachdruck sei es gesagt: Jede Ratlosigkeit, jede erstaunte Unwissenheit, jede fehlerhafte Anwendung von Erfahrungen, jeder verunglückte Versuch der Nachahmung und jede Abhängigkeit erinnern an das Verhalten des Kindes, unabhängig vom Lebensalter der betreffenden Person. Mühelos können wir kindliche Züge bei einem Kranken, einem Greis, einem Soldaten oder einem Gefangenen entdecken. Ein Landbewohner in der Stadt und ein Städter auf dem Land staunen auf kindliche Weise. Ein Laie stellt kindliche Fragen, ein Parvenu begeht die gleichen Taktlosigkeiten wie ein Kind. 68. Das Kind ahmt Erwachsene nach. Nur durch Nachahmung lernt es sprechen und den meisten Umgangsformen zu genügen, und nur dadurch erweckt es den Anschein, sich in die Erwachsenenwelt eingelebt zu haben, die es nicht verstehen kann, und die ihm fremd und unbegreiflich ist. Die schwerwiegendsten Fehlurteile über das Kind kommen deshalb zustande, weil seine wirklichen Gedanken und Gefühle in überkommene Begriffe gekleidet sind, und in Formen, deren sich diese Beurteilungen bedienen, indem sie diese mit einem gänzlich anderen Inhalt füllen. Zukunft, Liebe, Vaterland, Gott, Ehrerbietung, Pflicht – in Worten erstarrte Begriffe, die doch lebendig sind, sich erneuern, an Bedeutung gewinnen, sich wandeln, feste Formen annehmen, an Gewicht verlieren und in jeder Lebensphase etwas anderes bedeuten. Es bedarf großer Mühe, um einen Sandhaufen, den das Kind einen Berg nennt, nicht mit den schneebedeckten Felshöhen der Alpen zu verwechseln. Wer sich in den Geist der menschlichen Begriffe hineinversetzt, dem verwischt sich der Unterschied zwischen dem Kind, dem Jugendlichen, dem gereiften Menschen, dem schlichten Gemüt und dem Denker, und dem enthüllt sich der kluge Mensch unabhängig von seinem Lebensalter, von seiner Gesellschaftsschicht, von seinem Bildungsgrad und dem Kulturfirnis seines Äußeren als ein Wesen, das im Rahmen seiner geringeren oder größeren Erfahrung vernünftig urteilt. Menschen verschiedener Überzeugung (ich rede nicht von politischen Losungen, die manchmal unaufrichtig sind und mit Gewalt aufgezwungen werden) haben voneinander abweichende Grunderfahrungen gemacht. Ein Kind begreift die Zukunft noch nicht, es liebt die Eltern nicht, es hat noch keine Ahnung vom Vaterland, es vermag Gott nicht zu erfassen, es »achtet« keinen Menschen, und es kennt keine Pflichten. Es sagt: »Wenn ich erst groß bin …«,

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aber es glaubt nicht daran; es nennt die Mutter die »allerliebste«, aber es empfindet das nicht so; sein Vaterland ist der Garten oder der Hof, und Gott ist ihm ein biederer, bisweilen aber auch lästiger Onkel; es heuchelt die Ehrerbietung, und es unterwirft sich Pflichten, die derjenige verkörpert, der befiehlt und es beaufsichtigt. Man sollte nur daran denken, dass man nicht allein mit Prügeln, sondern auch durch Bitten und freundliche Blicke etwas befehlen kann. Das Kind hat manchmal Vorahnungen, aber das sind seltene, hellsichtige Augenblicke. Das Kind ahmt nach? Und was tut ein Reisender, der von einem Mandarin eingeladen wird, an einer rituellen Zeremonie teilzunehmen? Er schaut zu, bemüht sich, nicht aufzufallen und keine Verwirrung zu stiften, er versucht Wesen und Verbindung der einzelnen Handlungen zu erfassen, und er ist stolz darauf, dass er seine Rolle so gut spielt. Was macht ein ungeschliffener Kerl, der zu einem Festmahl von hochgestellten Persönlichkeiten zugelassen ist? Er ahmt nach. Und der Angestellte, der Bürobeamte, der Offizier – ahmen sie nicht in Sprache, Bewegungen, Lachen, Anzug und Haartracht ihre Vorgesetzten nach? Es gibt noch eine Form der Nachahmung: Wenn ein kleines Mädchen durch den Schmutz watet und ihr kurzes Kleidchen hochhebt, dann bedeutet das, dass sie jetzt gerade eine Erwachsene ist. Wenn ein Junge die Unterschrift seines Lehrers nachahmt, dann überprüft er gleichsam seine eigene Befähigung für ein hohes Amt. Auch diese Form der Nachahmung ist bei Erwachsenen zu finden. 69. Der Egozentrismus der kindlichen Weltsicht ist ebenfalls ein Mangel an Erfahrung. Vom persönlichen Egozentrismus, in dem sein Bewusstsein Mittelpunkt aller Dinge und aller Erscheinungen ist, geht das Kind zum familiären Egozentrismus über, der – abhängig von den Bedingungen, unter denen es aufwächst – kürzer oder länger dauern kann. Wir selbst bestärken es in diesem Fehler, indem wir den Wert des Elternhauses übertrieben hoch ansetzen, und indem wir erdachte oder tatsächliche Gefahren, die außerhalb der Reichweite unserer Hilfe und Fürsorge drohen, nachdrücklich hervorheben. »Bleib bei mir«, sagt die Tante. Das Kind schmiegt sich mit Tränen in den Augen an die Mutter und will um keinen Preis dableiben. »Es hängt so an mir«, sagt die Mutter stolz. Das Kind betrachtet erstaunt und furchtsam fremde Mütter, die ja noch nicht einmal seine Tanten sind. Aber es kommt der Augenblick, wo es das, was es in anderen Häusern sieht, mit dem zu vergleichen beginnt, was es selbst besitzt. Zunächst möchte es auch nur solch eine Puppe, einen Garten, einen Kanarienvogel haben, aber für sich daheim.

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Später bemerkt es, dass es auch andere Väter und Mütter gibt, ebenfalls gute, vielleicht sogar bessere? »Wenn das meine Mutter wäre …« Ein Kind vom Lande macht die entsprechenden Erfahrungen früher, kennt Traurigkeiten, die niemand mit ihm teilt, und Freuden, an denen nur die nächsten Menschen teilnehmen; es begreift, dass sein Namenstag nur ihm als Feiertag gehört. »Mein Vater, bei uns, meine Mutter« – dieses Herausstreichen der eignen Eltern, dem man so häufig begegnet, wenn Kinder miteinander streiten, ist eher eine polemische Formel; manchmal ist es auch die tragische Verteidigung einer Illusion, an die man glauben möchte, an der man aber schon zu zweifeln beginnt. »Wart nur, das sag’ ich meinem Vater …« »Vor deinem Vater werde ich gerade Angst haben!« Das stimmt schon: Mein Vater ist nur für mich so bedrohlich … Ich würde es als eine egozentrische Sicht des Kindes auf die unmittelbare Gegenwart bezeichnen, dass es aus Mangel an Erfahrung nur für den Augenblick lebt. Ein auf die nächste Woche verschobenes Vergnügen verliert seine Wirklichkeit. Der Winter wird im Sommer zur Legende. Wenn das Kind ein Stück Kuchen »für morgen« übriglässt, so verzichtet es unter Zwang darauf. Es fällt ihm schwer, zu verstehen, dass Gegenstände durch Beschädigungen nicht sogleich unbrauchbar werden, wohl aber weniger dauerhaft und schneller abgenützt. Es ist ein spannendes Märchen, zu hören, dass Mama einmal ein Mädchen war. Erstaunt, fast furchtsam blickt das Kind den Fremden an, den der Vater beim Vornamen nennt, weil er in der Kinderzeit sein Spielgefährte war. »Ich war damals noch nicht auf der Welt …« Besagt denn der jugendliche Egozentrismus nicht: Mit uns beginnt die Welt? Ist jedoch der Egozentrismus von Parteien, Klassen und Nationen anders? Wem wird denn die Stellung des Einzelnen innerhalb der Menschheit und des Universums bewusst? Wie mühselig hat man sich mit dem Gedanken abgefunden, dass sich die Erde bewegt, dass sie nur ein Planet ist? Und stand nicht die tiefe Überzeugung der Massen, dass die Schrecken eines Krieges im 20. Jahrhundert unmöglich seien, im Gegensatz zur Wirklichkeit? Unser Verhältnis zu Kindern ist es nicht Ausdruck des Egozentrismus der Erwachsenen? Ich habe nicht gewusst, wie gut ein Kind sich zu erinnern vermag und wie geduldig es warten kann. Viele Fehler werden gemacht, weil wir Kindern begegnen, die aus dem Zwang, der Unfreiheit, dem Frondienst kommen und die verdorben, traurig gestimmt oder rebellisch sind; man muss mühsam erraten, wie sie in ihrem Wesen beschaffen sind und was sie sein könnten.

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70. Die Beobachtungsgabe des Kindes. Auf der Kinoleinwand ein erschütterndes Drama. Plötzlich eine durchdringende Kinderstimme: »Oh, ein Hündchen …« Niemand hat es bemerkt, nur das Kind hat es gesehen. Ähnliche Ausrufe hört man manchmal im Theater, in der Kirche, bei vielen Feierlichkeiten; peinliches Erschrecken der nächsten Angehörigen, Anlass zum Gelächter für die Allgemeinheit. Ohne das Ganze zu erfassen, ohne von dessen ohnehin unverständlichem Inhalt voll beansprucht zu sein, begrüßt das Kind glückstrahlend jedes bekannte, ihm vertraute Detail. Aber ebenso freudig begrüßen auch wir ein bekanntes Gesicht, dem wir zufällig in einer großen Gesellschaft von Menschen, die uns gleichgültig sind und deren Gegenwart uns bedrückt, begegnen … Das Kind, das nicht untätig sein kann, kriecht in jeden Winkel, guckt in jede Ritze, kramt herum und stellt tausend Fragen; das bewegliche Pünktchen einer Ameise, eine blitzende Glasperle, ein Ausdruck, ein Satz, den es aufgeschnappt hat, erregen sein Interesse. Wie sehr ähneln wir doch Kindern, wenn wir uns in einer fremden Stadt, in einer ungewohnten Umwelt befinden … Das Kind kennt seine Umgebung, ihre Launen, ihre Gewohnheiten und Schwächen; es kennt sie und vermag sie geschickt auszunutzen. Es spürt, wenn man ihm Wohlwollen entgegenbringt, errät Heuchelei, erfasst im Flug lächerliche Situationen. Es liest in einem Gesicht, wie der Bauer vom Himmel abliest, wie das Wetter wird. Denn auch das Kind beobachtet und forscht jahrelang, namentlich in Schulen und Internaten; diese angestrengte Arbeit, uns zu durchschauen, geschieht mit vereinten Kräften und in gemeinschaftlichem Bemühen. Wir wollen das nur nicht sehen; solange die Kinder nicht unseren Frieden stören, ziehen wir es vor, uns in der Illusion zu wiegen, sie seien naiv, unwissend und unvernünftig, und sie ließen sich leicht durch den Schein täuschen. Eine andere Auffassung brächte das Dilemma mit sich, dass wir entweder dem Vorrecht einer angeblichen Vollkommenheit offen zu entsagen, oder das, was uns in ihren Augen erniedrigt, lächerlich und arm macht, auszumerzen hätten. 71. Allem Anschein nach vermag sich ein Kind auf der Suche nach immer neuen Erlebnissen und Eindrücken nicht lange mit einer Sache zu beschäftigen, und sogar am Spiel verliert es bald die Lust; wer noch vor einer Stunde sein Freund war, ist nun sein Feind, um einen Augenblick später wieder sein herzlicher Spielgefährte zu sein. Eine im Allgemeinen zutreffende Beobachtung: Ein Kind in einem Eisenbahnwagen pflegt launisch zu sein, es wird ungeduldig, wenn man es auf eine Bank im Garten setzt; nimmt man es mit zu einem Besuch, so wird es einen ärgern; bald

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schon fliegt das Lieblingsspielzeug in die Ecke; im Unterricht ist es unruhig; nicht einmal im Theater kann es stillsitzen. Wir sollten jedoch bedenken, dass ein Kind auf der Reise aufgeregt und müde sein kann, dass es ungefragt auf eine Bank gesetzt worden ist, dass es sich bei einem Besuch gehemmt fühlt, dass es Spielzeug und Spielgefährten nicht selbst ausgewählt hat, dass es zum Unterricht genötigt worden ist, und dass es ins Theater unbedingt mitgehen wollte, weil es glaubte, dort auf angenehme Weise seine Zeit verbringen zu können. Wie oft sind wir einem Kinde ähnlich, das der Katze ein Schleifchen umbindet, ihr eine Birne anbietet und Bilderchen zum Ansehen gibt – dann aber sich wundert, dass die nichtsnutzige Katze taktvoll zu entweichen trachtet oder in der Verzweiflung die Krallen gebraucht. Bei einem Besuch möchte das Kind ausprobieren, ob sich die Dose auf der Konsole öffnen lässt, oder was dort in der Ecke so schimmert; es will nachschauen, ob es in dem dicken Buch Bilder gibt; es möchte das Goldfischchen aus dem Aquarium herausfischen, und es möchte viel Schokolade essen. Aber mit keiner Regung gibt es seine Wünsche kund; denn das tut man nicht. »Wir wollen nach Hause«, sagt es ungezogen … Man hatte ihm einen schönen Nachmittag versprochen: Fähnchen, bengalische Feuer, eine Vorführung – darauf hat es gewartet, und jetzt ist es enttäuscht. »Nun, gefällt es dir?« »Sehr gut«, antwortet es gähnend oder sein Gähnen unterdrückend, um ja niemand zu kränken … In einer Ferienkolonie. – Ich erzähle auf einer Waldwiese ein Märchen. Während des Erzählens geht ein Junge fort, später ein zweiter und ein dritter. Das wundert mich, und daher frage ich am nächsten Tag nach dem Grund: Der eine hatte einen Stock unter einem Strauch versteckt – das war ihm beim Märchenerzählen eingefallen, und er schaute nach, ob ihn auch keiner weggenommen hatte; dem anderen tat ein gequetschter Finger weh, und der Dritte mochte keine ausgedachten Erzählungen. Verlässt ein Erwachsener nicht auch eine Vorstellung, wenn sie ihn nicht interessiert, wenn ihm etwas wehtut oder wenn er in der Manteltasche sein Portemonnaie vergessen hat? Ich kenne zahlreiche Beispiele dafür, dass ein Kind sich viele Wochen und Monate mit ein und demselben Gegenstand beschäftigen kann und gar keine Abwechslung wünscht. Ein Lieblingsspielzeug verliert dann nie seinen Zauber. Dasselbe Märchen hört es viele Male mit stets gleichem Interesse an. Und umgekehrt: Ich kenne Mütter, die wegen der Eintönigkeit der Interessen ihrer Kinder ungeduldig werden. Wie oft wenden sie sich an einen Arzt, damit er »eine andere Ernährung verordnet, weil Brei und Kompott dem Kinde zum Hals heraushängen«.

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»Ihnen ist das lästig, verehrte Dame, nicht Ihrem Kinde«, musste ich in solchen Fällen erklären. 72. Die Langeweile, ein Thema für gründliche Studien. Langeweile – das ist Einsamkeit, Mangel an Eindrücken; Langeweile – ein Übermaß davon führt zu Lärm und wildem Durcheinander. Langeweile – das bedeutet: Das darf man nicht, wart nur, Vorsicht, das ist nicht schön. Das ist der Widerwille, den ein neues Kleidchen mit sich bringen kann, das sind Hemmungen, Verlegenheiten, Weisungen, Verbote und Pflichten. Das ist der Überdruss des Spielens auf dem Balkon, des Aus-dem-Fenster-Guckens, des Spazierengehens, des Besuche-Machens und des Spiels mit zufälligen, nicht selbst erwählten Spielgefährten. Die Langeweile – das ist ebenso gefährlich wie eine Erkrankung, die fiebrig, langwierig, schwärend ist und schlimmer wird. Die Langeweile  – das ist ein Unlustgefühl des Kindes; von daher kann übertriebene Empfindlichkeit gegenüber Wärme und Kälte, gegenüber Hunger und Durst kommen, sowie ein Übermaß beim Essen, Schläfrigkeit und allzu langer Schlaf, Schmerzempfindlichkeit und rasche Ermüdung. Langeweile – das ist Apathie, Unempfänglichkeit gegen Reize, verminderte Beweglichkeit, Wortkargheit und Schwächung aller Lebensimpulse. Das Kind steht träge auf, geht gebückt, mit schlurfenden Schritten, räkelt sich; es antwortet entweder nur mit Gesten oder einsilbig, mit leiser Stimme, unlustig und verdrießlich. Es äußert keine Wünsche, verhält sich jedoch ablehnend und feindlich, wenn man etwas von ihm fordert. Es kommt zu vereinzelten, plötzlichen Ausbrüchen, die unverständlich und kaum begründet sind. Langeweile – das ist gesteigerte Betriebsamkeit. Das Kind sitzt keinen Augenblick still, beschäftigt sich immer nur kurze Zeit mit einer Sache, ist launisch, undiszipliniert, boshaft, angriffslustig, aufdringlich, oft beleidigt, weinerlich und leicht verärgert. Manchmal bricht es absichtlich einen Streit vom Zaun, um in der erwarteten Bestrafung den starken Eindruck zu erleben, nach dem es verlangt. Oft können wir dem Starrsinn einer bewussten Böswilligkeit gerade dort begegnen, wo der kindliche Willen vollkommen am Ende ist; und auf ein Übermaß an Energie stoßen wir dort, wo Verzweiflung über das eigene Versagen herrscht. Die Langeweile wird manchmal zur kollektiven Psychose. Wenn Kinder unfähig sind, ein gemeinsames Spiel zu organisieren, wenn sie gehemmt sind oder nach Alter und Veranlagung nicht zueinander passen, oder wenn sie unter außergewöhnlichen Bedingungen stehen, können sie in die Tollheit besinnungslosen Radaumachens geraten.

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Sie schreien, stoßen sich herum, reißen einander die Beine weg, überschlagen sich, drehen sich bis zur Bewusstlosigkeit im Kreise und stürzen schließlich zu Boden; sie putschen sich gegenseitig auf, wobei sie krampfhaft lachen. Meistens macht eine Katastrophe diesem »Spiel« ein Ende, bevor es zum Umschwung kommt: Prügelei, zerrissene Sachen, zerbrochene Stühle, ein allzu hartes Zuschlagen – damit kommt es zu allgemeiner Verwirrung und zu gegenseitigen Beschuldigungen. Manchmal beendet auch ein Zuruf wie »Hört doch auf mit dieser Verrücktheit« oder »Schämt euch, was stellt ihr nur an« den Tumult; dann geht die Initiative in energische Hände über und man erzählt Märchen, man singt im Chor oder unterhält sich. Ich fürchte, dass manche Erzieher geneigt sind, diese nicht allzu häufigen pathologischen Zustände einer kollektiven Langeweile für ein normales Spiel von Kindern zu halten, die »sich selbst überlassen sind«. 73. Bisher sind nicht einmal solche Kinderspiele, die bereits literarisch bekannt sind, in gründlichen klinischen Studien behandelt worden. Man sollte daran denken, dass nicht nur Kinder spielen, sondern auch Erwachsene, dass Kinder nicht immer gern spielen, dass keineswegs alles, was wir als Spiel bezeichnen, es auch wirklich ist, dass viele Kinderspiele Nachahmungen ernsthaften Tuns von erwachsenen Menschen sind, dass Spiele im freien Gelände vollkommen anders sind als Spiele innerhalb der Mauern einer Stadt oder der Wände eines Zimmers, und dass Kinderspiele allein unter dem Gesichtspunkt der Stellung untersucht werden dürfen, welche die Kinder in unserer gegenwärtigen Gesellschaft einnehmen. Ein Ball. Schau dir einmal die mühseligen Versuche des Jüngsten an, den Ball aufzuheben, um ihn in der erwünschten Richtung über den Fußboden rollen zu lassen. Betrachte die unermüdlichen Übungen der Älteren, den Ball mit der rechten oder der linken Hand zu fangen, ihn immer wieder vom Boden oder von der Wand abzuschlagen, ihn mit dem Schlagstock zu treffen und ihn ins Ziel zu werfen. Wer schafft es am weitesten, am höchsten, am treffsichersten, am häufigsten? Da gibt es Wetteifer, Erkenntnis des eigenen Könnens durch Vergleich, da gibt es Triumphe, Niederlagen und Vervollkommnung. Da gibt es oft sehr komische Überraschungen. Schon hatte jemand den Ball gefangen, aber da ist er ihm wieder entglitten; er ist von dem einen abgeprallt und dem anderen direkt in die Hände gefallen; beim Fangen sind zwei mit den Köpfen zusammengestoßen; der Ball ist unter den Schrank gerollt, aber er kommt gutwillig von selbst wieder hervor. Große Erregung! Der Ball ist auf den Rasen gefallen, und es ist ein Wagnis, ihn zurückzuholen. Er ist verschwunden, man muss lange nach ihm suchen. Um ein Haar hätte er eine Fensterscheibe zertrümmert. Auf den Schrank ist er geflogen,

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wie soll man ihn herunterbekommen? – Lange Beratungen. Hat der da den Ball abgeschlagen oder nicht? Wer hat Schuld: der, der ihn schräg geworfen hat, oder der, der ihn nicht gefangen hat? Lebhafter Streit. Individuelle Varianten. Einer versucht zu täuschen, tut so, als wollte er werfen; er zielt auf den einen, schießt aber den anderen an; er verbirgt den Ball geschickt, so als ob er nicht wüsste, wo er ist. Er pustet hinter dem fliegenden Ball her, damit er schneller ans Ziel kommt; absichtlich überstürzt er sich beim Fangen; er versucht, den Ball mit dem Munde zu packen; er stellt sich ängstlich, wenn ihm der Ball zugeworfen wird und gibt vor, hart getroffen zu sein. Er schlägt den Ball: »Dir werd ich es geben, Ball!« »Da klappert was im Ball«, sie schütteln ihn hin und her und lauschen. Es gibt Kinder, die selbst nicht spielen, aber gern zusehen, wie Erwachsene Billard oder Schach spielen. Auch bei diesen Spielen gibt es interessante, falsche und geniale Züge. Die zweckgerichtete Bewegung ist nur eins von vielen Merkmalen, die den Sport den Kindern lieb macht. 74. Das Spiel ist nicht eigentlich das Lebenselement des Kindes, wohl aber das einzige Betätigungsfeld, auf dem wir ihm eine engere oder weitere Initiative erlauben. Beim Spiel fühlt sich das Kind bis zu einem gewissen Grade unabhängig. Alles andere ist ein flüch­tiger Gunstbeweis, ein Zugeständnis des Augenblicks; auf das Spiel aber hat das Kind ein Recht. Wenn ein Kind Pferdchen, Soldat, Räuber und Gendarm oder Feuerwehr spielt, dann entlädt es seine Energie in scheinbar zweckgerichteten Bewegungen; es gibt sich zeitweilig Täuschungen hin oder flieht bewusst aus dem grauen Alltag seines wirklichen Lebens. Deshalb lieben Kinder die Gesellschaft von Gleichaltrigen mit lebhafter Fantasie, vielseitiger Initiative und einem großen Schatz von Motiven, die aus Büchern stammen, so sehr; und sie unterwerfen sich untertänig oft der despotischen Macht solcher Gleichaltriger, weil ihre eigenen nebelhaften Einbildungen sich so leichter in den Schein einer Wirklichkeit umsetzen lassen. Die Gegenwart von Erwachsenen und Fremden legt Kindern Hemmungen auf; sie schämen sich ihrer Spiele, und sie sind sich deren Nichtigkeit bewusst. Wie viel bitteres Wissen von dem Mangel an wirklichem Leben und wie viel schmerzliche Sehnsucht danach wirkt doch in dem Spielen der Kinder fort! Der Stecken ist kein Pferd für das Kind, es muss nur mangels eines wirklichen Pferdes mit einem hölzernen vorliebnehmen. Wenn es in einem umgekippten Stuhl durchs Zimmer paddelt, so ist das noch keine Kahnfahrt auf einem Teich. Wenn ein Kind baden darf, solange es will, wenn es einen Wald voller Beeren, eine Angel, Vogelnester auf hohen Bäumen, einen Taubenschlag, Hühner, Kaninchen,

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Pflaumen in einem fremden Obstgarten und Blumen vor dem Haus täglich zur Verfügung hat, dann wird das Spiel überflüssig, oder es ändert seinen Charakter von Grund auf. Wer wird denn schon einen lebendigen Hund gegen einen ausgestopften auf Rädern tauschen? Wer wird ein Pony für ein Schaukelpferd hergeben? Dem Spiel wendet sich das Kind nur notgedrungen zu; hier sucht es Zuflucht vor der bösen Langeweile, hier schützt es sich vor der schrecklichen Öde, und hier verbirgt es sich vor der starren Pflichterfüllung. So ist es; das Kind will lieber spielen als grammatische Formeln oder Multiplikationstabellen seinem Gedächtnis einprägen. Das Kind hängt an seiner Puppe, seinem Stieglitz, an einer Topfblume, weil es noch nicht mehr besitzt; ein Gefangener oder ein Greis hängen an ähnlichen Dingen genauso, weil sie nichts mehr besitzen. Das Kind spielt mit beliebigen Dingen, um die Zeit totzuschlagen; denn es weiß nichts anzufangen, und es besitzt nichts anderes. Wir hören, wie das kleine Mädchen seiner Puppe die Grundregeln des guten Tons beibringt, wie es sie belehrt und tadelt; aber wir hören es meistens nicht, wie es sich bei ihr über seine Umgebung beklagt und ihr flüsternd seine Sorgen, Misserfolge und Träume anvertraut. »Ich sag’s nur dir, mein Püppchen, aber sag es nicht weiter.« »Du bist ein gutes Hündchen, ich bin dir nicht böse, du hast mir ja nichts Böses getan.« Die Einsamkeit des Kindes verleiht der Puppe eine Seele. Das ist kein Kinderparadies, sondern ein Drama. 75. Ein Hirtenjunge zieht die Karten dem Ballspiel vor: Er muss schon genug hinter den Kühen herlaufen. Ein kleiner Zeitungsverkäufer oder ein Laufbursche rennen nur anfangs so angestrengt; bald lernen sie, mit ihren Kräften hauszuhalten und sie gleichmäßig über den ganzen Tag hin zu verteilen. Ein Kind, das ein Kleinkind zu betreuen hat, spielt nicht mit Puppen; im Gegenteil, es sucht der unangenehmen Pflicht zu entgehen. Das Kind mag also nicht arbeiten? Die Arbeit eines Kindes armer Eltern ist durch die Nützlichkeit und nicht durch die Erziehung bedingt; man rechnet weder mit seinen individuellen Kräften noch mit seinen individuellen Eigenschaften. Es wäre lächerlich, das Leben armer Kinder als vorbildlich hinzustellen; auch hier gibt es Langeweile. Im Winter gibt es die Eintönigkeit der engen Stube, im Sommer die Öde eines kahlen Hinterhofes oder eines Straßengrabens; die Langeweile nimmt nur eine andere Form an. Weder die Kinder noch wir können einem Kind den Tag sinnvoll ausfüllen, so dass die Momente seines Ablaufs, folgerichtig aneinandergereiht, sich zu einem bunten Lebensinhalt entfalten, vom Gestern über das Heute zum Morgen. Zahlreiche Kinderspiele sind Arbeit.

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Wenn Kinder sich zu viert eine Hütte aus Zweigen bauen, mit einem Stück Blech, einer Glasscherbe oder einem Nagel Löcher graben, Pflöcke einschlagen, sie miteinander verbinden, ein Dach aus Zweigen auflegen, es mit Moos abdichten und dabei schichtweise angestrengt und schweigend arbeiten, dann ist dieses Tun – das zwar spielerisch ist, aber Verbesserungen entwirft, weitere Pläne entwickelt und die Ergebnisse erworbener Erfahrungen weitergibt – kein Spiel; vielmehr ist es eine unbeholfen ausgeführte Arbeit mit unzureichendem Gerät und ungenügendem Material, die darum wenig ergiebig ist; sie ist aber so organisiert, dass jedes Kind entsprechend seinem Alter, seinen Kräften und seinen Fähigkeiten sich so viel Mühe gibt, wie es nur vermag. Wenn ein Kinderzimmer gegen unser ausdrückliches Verbot so oft zur Werkstatt und zu einem Magazin von Gerümpel – d. h. von Material zur Ausführung beabsichtigter Arbeiten – wird, sollte man dann nicht dem nachgehen? Vielleicht ist es nicht angebracht, das Zimmer eines kleinen Kindes mit Linoleum auszulegen; vielleicht sollte man lieber eine Fuhre gesunden gelben Sandes darin verteilen und ein Bündel von Stöcken und eine Schubkarre Steine hinzugeben? Vielleicht wären Bretter, Dachpappe, ein Pfund Nägel, Säge, Hammer und eine Hobelbank willkommenere Geschenke als »Spielzeug«, und ein Werklehrer nützlicher als ein Meister der Gymnastik oder des Pianos. Dann müsste man aber aus dem Kinderzimmer die Ruhe und die sterile Sauberkeit eines Krankenhauses sowie die Furcht vor zerschundenen Fingern vertreiben. Oft weisen auch verständige Eltern ihr Kind voller Verdruss an: »Geh spielen!«; und schmerzlich berührt hören sie die Antwort: »Immer nur spielen und spielen.« Was sollen Kinder anfangen, wo sie doch nichts anderes haben? Hier hat sich inzwischen vieles gewandelt. Spiele und Spielzeug werden heute nicht mehr leichtfertig behandelt; sie sind bereits in den Lehrplan aufgenommen worden, und immer lauter wird der Ruf nach Spielplätzen. Von Stunde zu Stunde wandeln sich die Auffassungen, und das Denken eines durchschnittlichen Familienvaters und Erziehers kommt kaum noch nach. 76. Entgegen all diesen Erfahrungen gibt es Kinder, die weder durch das Alleinsein allzu sehr beeinträchtigt werden noch das Bedürfnis empfinden, aktiv tätig zu sein. Diese stillen Kinder, die von fremden Müttern oft als Vorbild hingestellt werden, sind im Haus »gar nicht zu hören«. Sie langweilen sich nicht; sie erfinden selbst Spiele, die sie auf Geheiß beginnen und auf Geheiß gehorsam unterbrechen. Das sind passive Kinder, die einen geringen und schwachen Willen haben und deshalb leicht nachgeben. Die Einbildung ersetzt ihnen die Wirklichkeit, und dies umso mehr, als die Erwachsenen das so haben wollen.

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In einer Kinderschar verlieren sie sich, sind schmerzlich berührt von der barschen Gleichgültigkeit der anderen und bringen es nicht fertig, in deren Fahrwasser zu bleiben. Anstatt das zu erkennen, möchten die Mütter auch hieran etwas ändern, und sie wollen mit Gewalt erzwingen, was sich nur langsam und vorsichtig in langwierigen Bemühungen und auf einem Wege erreichen lässt, der mit der Erfahrung vieler Misserfolge, nicht gelungener Versuche und schmerzlicher Demütigungen gepflastert ist. Jeder unbedachte Befehl verschlimmert die Sache nur. Ein »Geh, spiel mit den anderen Kindern« tut dem Kind ebenso unrecht wie das andere: »Nun hast du aber genug gespielt.« Wie leicht kann man sie in einer großen Schar entdecken. Ein Beispiel: Spiele im Kreis in einem Garten. Viele Kinder fassen einander bei den Händen und singen; die beiden in der Mitte spielen die Haup­trolle. »Na geh schon, spiel mit ihnen!« Die Kleine will nicht, denn sie kennt dieses Spiel und diese Kinder nicht. Als sie einmal mitspielen wollte, hieß es: »Wir brauchen dich nicht mehr, wir sind schon genug.« oder: »Du bist ein Tolpatsch!« Vielleicht würde sie es morgen oder in einer Woche wieder versuchen. Aber die Mutter will nicht warten; sie schafft ihr Platz und schubst sie in den Kreis. Schüchtern, zögernd fasst die Kleine ihre Nachbarn bei der Hand; sie möchte nicht beachtet werden, sie wird sich schon hineinfinden, vielleicht wird sie langsam Freude daran gewinnen und den ersten Schritt zur Versöhnung mit dem neuen gemeinschaftlichen Leben tun. Aber die Mutter begeht eine weitere Taktlosigkeit – sie möchte die Kleine zu einer lebhafteren Anteilnahme ermuntern: »Hört mal, warum sind immer dieselben im Kreis? Diese hier war noch überhaupt nicht drin; nehmt sie mal!« Eine Anführerin lehnt ab, die beiden anderen geben nach, aber ungern. Da steht nun die arme Anfängerin in einer Umgebung, die ihr nicht wohl will. Diese Szene endete mit einem weinenden Kind, einer verärgerten Mutter und einer irritierten Kinderschar. 77. Die Beobachtung des Kinderkreises im Garten dient auch als praktische Übung für Erzieher: Es geht um die Anzahl der wahrgenommenen Momente. Hier ergibt sich die generelle Beobachtung (sie ist schwierig, betrifft alle am Spiel beteiligten Kinder), und die individuelle (an einem beliebig ausgewählten Kind). Initiative und Keimzelle des Kreises, sein Aufblühen und sein Verfall. Wer gibt das Stichwort, wer organisiert und führt, und wessen Ausscheiden lässt den Kreis auseinanderfallen? Welche Kinder wählen sich ihre Nachbarn aus, wer reicht zwei zufällig in der Nähe Stehenden die Hände? Wer trennt sich gern wieder, um einem neuen Teilnehmer Platz zu machen, wer protestiert dagegen? Wer wech-

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selt oft seinen Platz und wer bleibt die ganze Zeit über an derselben Stelle? Wer wartet geduldig in den Spielpausen und wer wird kribbelig: »Na, macht schneller! Fangen wir doch schon an!« Wer steht regungslos auf seinem Platz, und wer tritt von einem Bein auf das andere, flattert mit den Händen und lacht laut? Wer gähnt, geht aber doch nicht fort, wer verlässt das Spiel, ob er nun nicht interessiert oder beleidigt ist; wer setzt den anderen so lange zu, bis er eine Hauptrolle erhält? Eine Mutter will ein kleines Kind in den Kreis hineinbringen; da sagt das eine Kind: »Nein, es ist zu klein«, und ein anderes antwortet: »Was macht das aus, soll es doch dabeisein.« Wenn ein Erwachsener das Spiel leitete, so würde er eine Reihenfolge und die anscheinend gerechte Rollenverteilung festlegen, und er würde in der Meinung, Hilfestellung zu leisten, Zwang ausüben. Zwei Kinder, fast immer dieselben, laufen um den Kreis herum (Katze und Maus), sind Hauptfiguren beim Käferspielen und beim Körbchenwählen, und die Übrigen langweilen sich wohl? Das eine guckt zu, das andere lauscht angespannt, das Dritte singt erst leise, dann mit halber Stimme und schließlich aus voller Kehle, das Vierte hat wohl Lust mitzuspielen, aber es zögert, und das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Aber der zehnjährige Anführer schätzt das alles psychologisch richtig ein, er hat den richtigen Überblick und beherrscht die Situation. Bei allem gemeinschaftlichen Tun – also auch beim Spielen – unterscheiden sich Kinder, auch wenn sie dasselbe tun, wenigstens in einer kleinen Einzelheit voneinander. Wir vermögen zu erkennen, was das Kind im Leben, mitten unter Menschen und in seinem eigenen Tun darstellt, welches seine nicht verborgenen, ganz offenkundigen Werte sind, was es begierig aufnimmt und was es von sich aus geben kann, wie die Menge es beurteilt, wie es mit seiner Selbstständigkeit steht und mit seiner Widerstandskraft gegen eine gemeinsame Beeinflussung. Aus intimen Gesprächen wissen wir, was es gern haben möchte, und aus der Beobachtung innerhalb einer Kinderschar, was es zu verwirklichen vermag; hier ist erheblich, wie sein Verhältnis zu den Menschen beschaffen ist, dort die verdeckten Motive dieses Verhältnisses. Wenn wir ein Kind immer nur allein sehen, lernen wir es nur von einer Seite kennen. Wenn die anderen ihm folgen – wodurch hat es das erreicht und auf welche Weise macht es Gebrauch davon? Ist das nicht der Fall – ob es dann wünscht, dass die anderen ihm gehorchen, ob es leidet, ob es sich ärgert, ob es unzufrieden, passiv, neidisch ist, ob es auf seinen Wünschen beharrt oder nachgibt? Ob es häufig oder nur selten opponiert, ob es recht hat oder nicht, ob es sich von seinem Ehrgeiz oder von Launen leiten lässt, ob es taktvoll oder brutal seinen Willen durchsetzt? Meidet es die Anführer oder klammert es sich an sie?

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»Hört mal her, machen wir das doch so! Wartet mal, so wird es besser gehen! Ich spiel nicht mehr mit. Na gut, dann sag doch, wie du es haben willst.« 78. Was sind denn friedliche Kinderspiele anderes als eine Unterhaltung, ein Gedankenaustausch, ein Fantasieren über ein bestimmtes Thema, das durch den Traum von der Macht drama­tisiert wird. Beim Spielen geben Kinder ihre eigentlichen Ansichten ebenso kund wie ein Autor in der Handlung eines Romans oder eines Theaterstücks seinen Grundgedanken entwickelt. Deshalb kann man hier so oft eine unbewusste Satire auf die Erwachsenen wahrnehmen, wenn sie Schule spielen, einen Besuch abstatten, Gäste empfangen, Puppen bewirten, kaufen und verkaufen, sich verdingen und ihren Dienst versehen. Das Schulespielen nehmen passive Kinder ernst, da sie gerne ein Lob ernten möchten – die aktiven spielen sich als Witzbolde auf, deren Unfug oft zu allgemeinen Protestkundgebungen gegen sie führt; verraten sie damit nicht unwillkürlich ihr wirkliches Verhältnis zur Schule? Wenn ein Kind um alle Welt nicht in einen Garten gehen kann, so macht es desto lieber lange Reisen über die Weltmeere zu unbewohnten Inseln; wenn es nicht einmal einen Hund besitzt, der ihm gehorcht, dünkt es sich gern Anführer eines ganzen Regiments – es möchte gerade dann, wenn es nichts zu sagen hat, gerne alles bedeuten. Aber ist das nur bei Kindern so? Geben nicht auch politische Parteien mit zunehmendem Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten ihre Luftschlösser für das Schwarzbrot realer Errungenschaften? Manche Spiele, Nachforschungen und Versuche der Kinder sehen wir gewöhnlich gar nicht gern. Das Kind geht auf allen vieren und bellt, um zu erfahren, wie sich Tiere benehmen; es stellt sich lahm, oder es spielt einen gebückten Greis, es schielt, stottert, torkelt wie ein Betrunkener, es ahmt einen Verrückten nach, den es einmal auf der Straße gesehen hat, es geht mit geschlossenen Augen (ein Blinder), es hält sich die Ohren zu (ein Tauber), es legt sich flach hin, verharrt regungslos und hält den Atem an (ein Toter); es guckt durch Brillengläser, nimmt einen Zug aus der Zigarette und zieht heimlich die Uhr auf; es reißt einer Fliege die Flügel aus: Wie wird sie nun fliegen? Es fängt mit einem Magneten eine Schreibfeder ein; es betrachtet seine Ohren (wo sind denn da die Trommelfelle?), seinen Rachen (was gibt’s denn da für Mandeln?); ein Bub schlägt einem kleinen Mädchen vor, Doktor zu spielen, denn er hofft, dadurch zu erfahren, wie es beschaffen ist; das Kind läuft mit einem Brennglas in die Sonne, horcht, was da in der Muschel rauscht und schlägt zwei Steine gegeneinander. Alles, dessen man sich vergewissern kann, will es sehen, untersuchen, erfahren; es bleibt auch so noch genug, was man einfach glauben muss. Alle sagen, dass es nur einen Mond gibt – aber er ist doch überall zu sehen.

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»Hör mal, ich bleib hier hinterm Zaun, und du gehst in den Garten.« Sie schlossen das Gartentor. »Na und jetzt, ist der Mond im Garten?« »Ja.« »Hier ist er auch.« Sie wechselten die Plätze und überprüften das Ganze noch einmal; jetzt haben sie die Gewissheit, dass es zwei Monde gibt. 79. Einen besonderen Platz nehmen Spiele ein, die der Erprobung der eigenen Kräfte und der Erkenntnis des eigenen Wertes dienen; aber das lässt sich nur im Vergleich mit anderen bewerkstelligen.Wer also kann längere Schritte machen, und wie viele Schritte geht einer mit geschlossenen Augen; wer kann länger auf einem Bein stehen, wer muss nicht mit den Augen zwinkern und nicht lachen, wenn er einem anderen in die Augen blickt; wer kann länger den Atem anhalten? Wer schreit lauter, wer spuckt weiter, wer schafft beim Pissen den höchsten Bogen, und wer kann den Stein höher schleudern? Wer springt mehr Stufen hinunter, wer springt höher und weiter, und wer hält den Schmerz eines gequetschten Fingers länger aus? Wer kommt schneller am Ziel an, wer kann wen hochheben, zu sich hinüberziehen, umwerfen? »Ich kann das. Ich verstehe das. Ich weiß, ich habe.« »Ich kann es besser. Ich weiß mehr. Meins ist besser.« Und dann: »Meine Mama und mein Vater, können …, haben …« So erwirbt man sich Achtung und nimmt eine entsprechende Stellung in der eigenen Umwelt ein. Man sollte daran denken, dass das Wohlergehen eines Kindes nicht allein davon abhängt, wie es von den Erwachsenen beurteilt wird, sondern ebenso oder vielleicht in noch höherem Maße von der Meinung seiner Altersgenossen; diese haben zwar andere, aber nicht weniger beständige Grundsätze in ihrem Werturteil und bei der Verleihung von Rechten an die Glieder ihrer Gemeinschaft. Ein Fünfjähriger kann in die Gesellschaft von Achtjährigen aufgenommen werden, und diese wiederum können von Zehnjährigen toleriert werden, die schon allein durch die Stadt streifen, einen verschließbaren Federkasten und ein Notizbuch besitzen. So kann einer, der bloß um zwei Schulklassen älter ist, manche Unklarheiten beseitigen; für ein halbes Stück Kuchen oder auch ganz umsonst weiht er einen in Geheimnisse ein, und er vermittelt Bildungs­güter: Ein Magnet zieht Eisen an, weil er magnetisiert ist. Die arabischen Pferde sind die besten, denn sie haben dünne Beine. Könige haben kein rotes Blut, sondern blaues. Löwe und Adler haben bestimmt auch blaues Blut (man müsste mal jemanden danach fragen). Wenn ein Leichnam jemanden bei der Hand nimmt, dann kann dieser sich nicht mehr losreißen. Im Wald gibt es Frauen, die anstatt der Haare

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Schlangen auf dem Kopf haben; er hat das selbst auf einem Bild gesehen. Sogar im Walde hat er sie gesehen, aber nur von Weitem, denn wenn ein Mensch sie aus der Nähe betrachtet, dann wird er in einen Stein verwandelt (hier lügt er wohl?). Er hat schon einen Ertrunkenen gesehen, er weiß, wie Kinder geboren werden, und er kann ein Portemonnaie aus Papier machen. Und das behauptet er nicht nur, sondern er hat wirklich ein Portemonnaie aus Papier gemacht; die Mama kann das nicht. 80. Wenn wir nicht das Kind, seine Gefühle, seine Bestrebungen und folglich auch seine Spiele geringschätzten, so würden wir begreifen, dass es ganz recht hat, wenn es mit dem einen gerne umgeht, das andere dagegen meidet, nur aus Zwang mit ihm zusammentrifft und ungern bei ihm bleibt. Mit seinem besten Freund kann man sich prügeln, aber auch bald wieder vertragen; mit einem unleidlichen Kind kann man nicht umgehen, ohne heftig mit ihm zu streiten. Man kann nicht mit ihm spielen, denn es heult wegen jeder Kleinigkeit; es ist schnell beleidigt, es beklagt sich, schreit und wird närrisch, es prahlt, schlägt blindlings zu, will kommandieren, es petzt und hintergeht einen, es ist falsch, tolpatschig, mickrig, dünn, schmutzig, hässlich. So ein einziges kleines Kind, das krakeelt und aufdringlich ist, verdirbt das ganze Spiel. Sieh dir einmal an, wie Kinder sich darum bemühen, den Störenfried unschädlich zu machen! Ältere Kinder lassen gern auch ein kleines mitspielen, weil es auch einen Platz ausfüllen kann – aber es soll sich mit einer zweitrangigen Rolle begnügen und nicht stören. »Gib ihm das, gib nach, erlaub es doch: Es ist doch noch klein.« Das stimmt aber nicht: Erwachsene geben Kindern auch nicht nach … Warum mag der Kleine nicht mitgehen, wenn man dort einen Besuch macht? Da sind Kinder, mit denen er doch gerne spielt. Er spielt gerne mit ihnen, aber bei sich zu Hause oder im Garten. Dort aber ist ein Herr, der Krach macht, dort wird man zudringlich geküsst, dort hat das Dienstmädchen ihn beleidigt, dort neckt ihn die ältere Schwester, dort gibt es einen Hund, vor dem er Angst hat. Sein Ehrgefühl erlaubt es ihm nicht, die wirklichen Gründe anzugeben; und die Mutter meint, das seien nur Launen. Er will nicht in den Park gehen. Warum wohl? Weil ihm ein älterer Junge gedroht hat, er werde ihn verprügeln; weil die Bonne eines Mädchens angekündigt hat, sie werde sich über ihn beschweren; weil der Gärtner mit dem Stock gedroht hat, als er auf den Rasen lief, um seinen Ball zu holen; weil er einem Jungen eine Spielmarke versprochen hat, und nun ist sie irgendwie verschwunden. Es gibt launische Kinder; ich habe in der Sprechstunde einige Dutzend davon kennengelernt. Diese Kinder wissen, was sie wollen, aber das bekommen sie nicht:

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Sie haben zuwenig Luft, weil sie unter der Last einer übergroßen Fürsorge ersticken. Wenn das Verhältnis der Erwachsenen zu Kindern im Allgemeinen kühl ist, so verachten die pathologisch launischen Kinder ihre Umgebung und hassen sie. Mit unverständiger Liebe kann man Kinder martern; die Gesetzgebung sollte sie in ihre Obhut nehmen. 81. Wir haben die Kinder in die Uniform der Kindlichkeit gesteckt; nun glauben wir, sie liebten, achteten und vertrauten uns, sie seien unschuldig, leichtgläubig und dankbar. Wir spielen die Rolle des uneigennützigen Betreuers ohne Fehler; wir sind gerührt bei dem Gedanken an die Opfer, die wir gebracht haben, und man kann sagen, dass wir uns zeitweilig gar nicht schlecht dabei fühlen. Zunächst glauben uns die Kinder; dann aber beginnen sie zu zweifeln, und sie versuchen, Verdachtsmomente zurückzuweisen, die sich arglistig einschleichen, und manchmal kämpfen sie auch dagegen an. Wenn sie aber die Fruchtlosigkeit ihres Vorhabens erkennen, beginnen sie, uns zu täuschen, zu bestechen und auszunutzen. Durch Bitten, anmutiges Lächeln, Küsse, Späße und gehorsames Wesen schmeicheln sie uns ab, was sie haben wollen; sie gewinnen uns durch Nachgiebigkeit; sie geben uns selten und sehr taktvoll zu verstehen, dass sie gewisse Rechte haben; manchmal erzwingen sie etwas durch Aufdringlichkeit; manchmal fragen sie ganz offen: »Und was bekomme ich dafür?« Es gibt hundert Varianten unter den folgsamen und rebellischen Sklaven. »Das ist hässlich, ungesund, das ist eine Sünde. Das Fräulein in der Schule hat auch gesagt … O je, wenn du wüsstest, Mama.« »Wenn du nicht willst, kannst du ja gehen. Dein Fräulein ist auch nicht klüger als du. Mag ich auch manches nicht wissen: Was macht mir das schon aus?« Wir mögen es nicht, wenn ein Kind auf einen Tadel hin schmollt; denn im Zorn drängen sich ihm offene Worte auf die Lippen, die wir aber dann auch nicht hören wollen. Das Kind hat ein Gewissen; aber dessen Stimme schweigt bei den kleinen alltäglichen Streitigkeiten. Diesem Gewissen entspringt dagegen die geheime Abneigung gegen die despotische – also ungerechte – Macht der Starken, die dank ihrer Macht niemandem verantwortlich sind. Wenn das Kind einen fröhlichen Onkel gern hat, dann deshalb, weil es ihm eine kurze Zeit der Ungebundenheit verdankt, weil Leben ins Haus gekommen ist, und weil es von ihm ein Geschenk erhalten hat. Und das Geschenk ist dann besonders wertvoll, wenn es lange gehegte Wünsche erfüllt. Sonst schätzt ein Kind Geschenke viel weniger, als wir meinen; denn es nimmt ungern etwas an von Menschen, die es nicht mag: »Er meint wohl, er habe mir eine Gnade erwiesen«, denkt es empört, und es fühlt sich gedemütigt.

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82. Die Erwachsenen sind nicht klug: Sie wissen die Freiheit, die sie genießen, nicht zu nutzen. Diese Glücklichen können sich kaufen, was sie wollen; sie dürfen alles, immer aber ärgern sie sich, und wegen jeder Kleinigkeit schreien sie herum. Die Erwachsenen wissen ganz und gar nicht alles: Oft antworten sie nur, um einen loszuwerden; oder sie antworten mit einem Scherz, oder auch so, dass man es nicht versteht; der eine sagt so und der Zweite anders, und man weiß überhaupt nicht, wer recht hat. Wie viele Sterne gibt es? Was heißt »Schulheft« in der Mohrensprache? Wie schläft der Mensch ein? Ob das Wasser wohl lebt? Und woher weiß das Wasser denn, wenn es null Grad Wärme ist und wenn es zu Eis werden muss? Wo ist die Hölle? Wie hat es dieser Mann fertiggebracht, dass in seinem Hut aus Taschenuhren Rührei wurde, wo doch die Uhren heil geblieben sind und der Hut nicht kaputtgegangen ist; ob das wohl ein Wunder ist? Die Erwachsenen sind nicht gut. Eltern geben ihren Kindern zu essen; aber das müssen sie, sonst würden wir ja sterben. Nichts erlauben sie den Kindern; sie lachen nur, wenn man etwas sagt, und anstatt es einem zu erklären, necken sie einen absichtlich und machen sich über einen lustig. Sie sind ungerecht, und wenn sie jemand hinters Licht führt, so glauben sie ihm. Sie mögen es, wenn man ihnen schmeichelt. Wenn sie guter Laune sind, so darf man alles – aber wenn sie böse sind, stört sie alles. Die Erwachsenen lügen. Das ist doch erlogen, dass man von Bonbons Würmer bekommt, dass man von Zigeunern träumt, wenn man nicht isst, dass man ins Bett macht, wenn man mit Feuer spielt, und dass man den Teufel wiegt, wenn man mit den Beinen baumelt. Sie halten auch nicht Wort: Erst versprechen sie etwas; dann aber vergessen sie es, oder sie reden sich heraus, oder sie verbieten es, angeblich zur Strafe: Sie hätten es ja ohnehin nicht erlaubt. Sie heißen einen die Wahrheit sagen; wenn man sich aber daran hält, sind sie gekränkt. Sie sind falsch: Ins Gesicht hinein sprechen sie anders als hinter dem Rücken. Wenn sie einen nicht mögen, so geben sie doch vor, dass sie einen gernhaben. Immer nur »Bitte, danke, Verzeihung, meine Verehrung« – man könnte denken, sie meinen es ernst. Nehmt das doch bitte ganz ernst und seht euch genau den Gesichtsausdruck eines Kindes an, das fröhlich dahergesprungen kommt, in seinem Eifer etwas Unpassendes sagt oder tut und plötzlich brutal angefahren wird. Der Vater schreibt; das Kind stürzt mit einer Neuigkeit herein und fasst ihn beim Ärmel. Es kann ja nicht ahnen, dass ein Tintenklecks auf einem wichtigen Dokument entsteht. Hart gescholten, schaut es voller Verwunderung drein: Was ist denn nun passiert? Die Erfahrung einiger unangebrachter Fragen, misslungener Späße, verratener Geheimnisse oder unvorsichtiger Geständnisse hat das Kind gelehrt, sich zu Er-

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wachsenen wie zu gezähmten, eigentlich aber noch wilden Tieren zu verhalten, deren man niemals ganz sicher sein kann. 83. Außer Geringschätzung und Abneigung, die Kinder Erwachsenen gegenüber haben können, ist manchmal auch ein gewisser Widerwille spürbar. Ein stechender Bart, ein rauhes Gesicht oder der Geruch einer Zigarre können ein Kind abstoßen. Nach jedem Kuss wischt es sich gründlich das Gesicht, solange man ihm das nicht verbietet. Die meisten Kinder wollen nicht auf den Schoß genommen werden; nimmt man sie bei der Hand, so ziehen sie diese langsam und unauffällig weg. Tolstoi hat dieses Verhalten bei Dorfkindern beobachtet; es ist allen Kindern eigen, die unverbildet und nicht durch blinden Gehorsam verschreckt sind. Von Schweißgeruch oder starkem Parfümduft sagt das Kind angewidert »es stinkt« – bis man ihm sagt, dass das ein hässlicher Ausdruck sei, und dass Parfüm wohlriechend sei; es kenne sich da nur nicht aus … Diese Herren und Damen da, die an Schluckauf, Gliederreißen und Durchfall leiden, einen bitteren Mundgeruch haben, sich vor Durchzug und Nässe fürchten, die am Abend nichts mehr essen dürfen, die der Stickhusten quält und die keine Zähne mehr haben, die keine Treppen steigen können und die rot anlaufen, dick sind und schnaufen, sind doch insgesamt etwas Scheußliches. Diese süßlichen Redewendungen von ihnen, dieses Streicheln, Schöntun und Geplapper, diese Vertraulichkeiten, sinnlosen Fragen und dieses Lachen, dessen Ursache man nicht kennt … »Wem ähnelt sie wohl? Hoho, wie groß er ist. Schau, wie groß es wird.« Das Kind wartet verlegen, wann das wohl alles zu Ende ist … Vor allen zu sagen »He, du verlierst ja dein Höschen« oder »Wirst ins Bett machen heut nacht«, macht den Erwachsenen gar nichts aus. Sie sind nun einmal unanständig … Das Kind fühlt sich sauberer, besser erzogen und achtenswerter. »Die haben Angst davor, zuviel zu essen, und sie fürchten sich vor nassen Füßen. Das sind Feiglinge: Ich habe überhaupt keine Angst. Sollen sie doch hinterm Ofen sitzen, wenn sie Angst haben; warum aber verbieten sie uns alles?« Es regnet: Das Kind läuft hinaus, stellt sich in den Guß, rennt lachend weg und klatscht sich die Haare an den Kopf. Strenger Frost: Es winkelt seine Unterarme in den Ellenbogen ab, macht sich krumm, zieht die Schultern hoch, hält den Atem an, spannt seine Muskeln, die Finger werden steif, die Lippen blau; es sieht sich einen Leichenzug an oder eine Schlägerei, und es läuft dann wieder nach Hause, um sich aufzuwärmen: »Brr, was hab ich gefroren, lustig wars.« Arm sind diese Alten, denen das alles schadet. Und vielleicht ist das einzige gute Gefühl, das Kinder uns entgegenbringen – das Mitleid.

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Offenbar ist den Erwachsenen immer etwas im Wege, wo sie doch so selten glücklich sind. Der arme Papa muss arbeiten, die Mama ist so schwach; sie werden sicher bald sterben, die Ärmsten, und deshalb sollte man sie nicht kränken. 84. Ein Vorbehalt. Neben diesen Gefühlen, die ein Kind zweifellos empfindet, neben den eigenen Reflexionen, die sich aufdrängen, begreift ein Kind, was Pflichterfüllung besagt; es kann sich von aufgezwungenen Ansichten und emotionalen Beeinflussungen nicht ganz befreien. Aktive Kinder machen Konflikte ihres gespaltenen Ichs ausgeprägter und schneller durch, bei passiven vollzieht sich dieser Prozess später und nicht so deutlich. Ein aktives Kind lässt seiner Fantasie von sich aus freien Lauf, einem passiven »öffnet« ein Schicksalsgefährte »die Augen«; aber keines geht dabei systematisch vor, so wie ich das getan habe. Die kindliche Seele ist ebenso kompliziert wie unsere, wie die unsere voller Gegensätzlichkeiten, und auch sie kämpft in sich den uralten Widerstreit aus: Ich möchte gern, aber ich kann es nicht; ich weiß, was sich gehört, aber ich bringe es nicht fertig. Ein Erzieher, der nicht einpaukt, sondern etwas freilegt, der nicht ausquetscht, sondern formt, nicht diktiert, sondern lehrt, nicht fordert, sondern anfragt – der erlebt mit dem Kinde zusammen manchen erschütternden Augenblick; und er wird manchmal mit Tränen in den Augen den Kampf zwischen Engel und Satan miterleben, bis der lichte Engel den Sieg davonträgt. Der Junge hat gelogen. Er hat heimlich die Konfitüre von der Torte genascht. Er hat einem kleinen Mädchen den Rock hochgehoben. Er hat mit Steinen nach Fröschen geworfen. Er hat einen Buckligen ausgelacht. Er hat eine Porzellanfigur zerbrochen und sie wieder so zusammengesetzt, dass nichts zu erkennen war. Er hat Zigaretten geraucht. Er war böse und hat seinen Vater verwünscht. Er hat schlecht gehandelt; nun fühlt er, dass es nicht das letzte Mal war, dass ihn wieder etwas von seinen guten Vorsätzen abbringen wird, und dass er sich wieder überreden lassen wird. Es kommt vor, dass ein Kind plötzlich still, folgsam und feinfühlig wird. Erwachsene kennen das: »Wahrscheinlich hat es etwas auf dem Gewissen.« Oft geht diesem verwunderlichen Wandel ein Sturm von Gefühlen voraus, erstickte Tränen im Kopfkissen, Vorsätze, feierliche Schwüre. Oft wären wir bereit zu verzeihen, wenn wir die Versicherung erhielten, keineswegs die Garantie, sondern nur die Illusion – der dumme Streich werde sich nicht wiederholen. »Ich werde doch kein anderer Mensch. Daher kann ich das nicht versprechen.« Nicht Eigensinn, sondern Ehrlichkeit diktiert diese Worte. »Ich verstehe schon, was Sie sagen, aber ich empfinde das nicht so«, sagte ein zwölfjähriger Junge.

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Diese achtenswerte Ehrlichkeit finden wir auch bei Kindern mit schlimmen Neigungen: »Ich weiß wohl, dass man nicht stehlen darf, dass das eine Schande und eine Sünde ist. Ich will nicht stehlen; aber ich weiß nicht, ob ich nicht doch wieder stehlen werde. Ich bin nicht schuld daran!« Schmerzliche Augenblicke erlebt der Erzieher, wenn er in der Ratlosigkeit des Kindes seine eigene Ohnmacht wahrnimmt. 85. Wir erliegen der Täuschung, dass ein Kind sich lange Zeit mit der Weltsicht eines Engels zufrieden geben kann, in der alles einfach und von einer gütigen Vernunft ist, und dass wir es fertigbringen, Unwissen, Schwachheit, Gegensätze, unsere Niederlagen und Entwürdigungen vor ihm zu verbergen – auch die Tatsache, dass es keine Formel für das Glück gibt. Naiv ist das Rezept pädago­gischer Autodidakten, dass es genüge, Kinder konsequent zu erziehen, dass der Vater das Tun der Mutter nicht kritisieren dürfe, dass Erwachsene in Anwesenheit von Kindern sich nicht unterhalten sollen, dass das Dienstmädchen lügenhaft behaupten dürfe, dass »die Herrschaften nicht zu Hause sind«, wenn ein unerwünschter Gast an der Haustür läutet. Aber warum darf man keine Tiere quälen, wenn doch Fliegen zu Hunderten qualvoll auf geleimten Papierstreifen umkommen? Warum kauft einem die Mama ein hübsches Kleid, wenn man nicht sagen darf, dass das Kleid hübsch ist? Muss eine Katze denn wirklich falsch sein? Ein Blitzschlag – die alte Kinderfrau bekreuzigt sich und sagte »Gott«, und ihre Herrin sagt, das sei »Elektrizität«. Warum muss man Erwachsene überhaupt achten, also auch einen Dieb? Onkelchen hat gesagt: »Da haben mir aber die Därme tüchtig weh getan« – aber es ist hässlich, das zu sagen. Warum ist Psiakrew (Hundeblut) ein Fluch? Die Köchin glaubt an Träume, die Mama nicht. Warum sagt man: »Gesund wie ein Fisch«, wo Fische doch auch krank werden? Ob der Hund wohl in den Brunnen macht? Warum ist es eigentlich hässlich zu fragen, wie viel ein Geschenk gekostet hat? Wie soll man etwas verheimlichen, wie etwas erklären, ohne das Unverständnis noch zu vertiefen? Oh, diese unsere Antworten … Zufällig wurde ich zweimal Zeuge, wie man einem Kinde vor dem Schaufenster einer Buchhandlung einen Globus erklärte. »Was ist das für ein Ball?«, fragt das Kind. »Na, eben so ein Ball«, antwortet die Kinderfrau. Ein anderes Mal: »Mama, was ist das für eine Kugel?« »Das ist keine Kugel, sondern die Erde. Da sind Häuser drauf, Pferde und auch die Mama.«

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»Mamaaa?« Das Kind blickt die Mutter mitleidig und besorgt an; es wiederholte seine Frage nicht. 86. Wir nehmen die stürmischen Erscheinungen kindlicher Freude oder kindlicher Trauer dann wahr, wenn sie sich von unserem Gemütszustand unterscheiden; aber wir bemerken ihre heiteren Stimmungen, ihre stille Versunkenheit, ihre tiefen Gemütsbewegungen, ihr schmerzliches Verwundertsein, ihren schwärenden Argwohn und ihre demütigenden Zweifel dann nicht, wenn sie den unseren ähnlich sind. »Echt« ist nicht nur das Kind, das auf einem Bein hüpft, sondern auch das andere, das die wundersamen Geheimnisse im Märchen des Lebens überdenkt. Dabei sollte man nur die wirklich »unnatürlichen« Kinder ausschließen, die gedankenlos eingepaukte oder von Erwachsenen aufgeschnappte Phrasen wiederholen. Ein Kind vermag nicht »wie ein Erwachsener« zu denken, aber es kann auf kindliche Weise über ernste Probleme der Erwachsenen nachdenken; mangelndes Wissen und ein geringerer Erfahrungsschatz zwingen es, anders zu denken. Ich erzähle ein Märchen: Zauberer, Drachen, Wahrsagerinnen, verwunschene Königstöchter; plötzlich kommt die anscheinend naive Frage: »Ist das wahr?« Und ich höre, wie ein Kind in überlegenem Ton erklärt: »Sie haben doch gesagt, das sei ein Märchen.« Weder Personen noch Handlung sind unglaubwürdig; all das wäre möglich, ist es aber doch nicht; weil wir erklärt haben: Märchen sind nicht wahr. Die Sprache, die Grauen und Wunder der Umwelt entwirren sollte, hat im Gegenteil das Unwissen vertieft und verbreitet. Früher verlangte das kleine Alltagsleben eine bestimmte Anzahl resoluter Antworten; das neue große Dasein des Wortes hat es in alle Probleme auf einmal versenkt, in gestrige und heutige, ferne und fernste. Man hat keine Zeit mehr, alles in seine Überlegungen einzubeziehen oder es gar zu untersuchen. Das theoretische Wissen trennt sich vom täglichen Leben, und es entzieht sich unserer Überprüfung. Hier verwandeln sich die Temperamente – das aktive und das passive – in geistige Typen: den wirklichkeitsbestimmten und den reflektiven. Der Wirklichkeitsbestimmte glaubt, oder er glaubt auch nicht, abhängig vom Willen der Autorität: Es ist bequemer und nützlicher zu glauben; der Reflektive forscht intensiv, folgert, negiert und rebelliert in Gedanken und in Taten. Den unbewussten Irrtum des Ersten stellen wir dem Willen zur Erkenntnis beim anderen gegenüber; das ist jedoch ein Fehler, der die Diagnose erschwert und die pädagogische Therapie unzulänglich macht. In psychiatrischen Kliniken schreibt ein Stenograph Monologe und Gespräche der Patienten mit; das wird in den pä-

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dagogischen Kliniken der Zukunft ebenso sein. Heute verfügen wir nur über das Material von Kinderfragen. 87. Die Sage vom Leben. Das Märchen von der Tierwelt. Im Meer gibt es Fische, die Menschen verschlucken. Ob diese Fische nun größer als ein Dampfer sind? Und ob so ein Fisch erstickt, wenn er einen Menschen verschlingt; und was ist, wenn er einen Hei­ligen hinunterschluckt? Was fressen sie, wenn kein Schiff untergeht? Ob man solch einen Fisch fangen kann? Können auch gewöhnliche Fische im Meer leben, und wie? Warum fängt man diese Fische nicht alle weg? Gibt es viele davon, vielleicht eine Million? Ob man aus einem solchen Fisch wohl einen Kahn machen kann? Sind das vorsintflutliche Fische? Die Bienen haben eine Königin; warum haben sie keinen König, ist der gestorben? Wenn Vögel wissen, wie sie nach Afrika fliegen müssen, dann sind sie doch klüger als Menschen, denn sie haben es ja nicht gelernt. Warum spricht man vom Tausendfüßler, wenn er doch keine tausend Füße hat, und wie viele hat er dann wirklich? Ob wohl alle Füchse listig sind – vielleicht können sie sich einmal bessern, und warum sind sie so? Wenn jemand einen Hund quält und schlägt, bleibt der einem dann trotzdem treu? Und warum darf man nicht hinsehen, wenn ein Hund auf einen anderen springt? Haben ausgestopfte Tiere einmal gelebt, und kann man auch einen Menschen ausstopfen? Hat es eine Schnecke sehr unbequem und eng? Stirbt sie, wenn man sie herauszieht aus ihrem Haus? Warum ist sie so feucht wie ein Fisch? Ob sie es wohl versteht, wenn man sagt: »Schnecke, Schnecke, zeig deine Hörnerlein?« Warum haben Fische kaltes Blut? Warum tut es der Ringelnatter nicht weh, wenn sie ihre Haut abstreift? Worüber reden Ameisen miteinander? Warum sagt man, der Mensch »stirbt«, und die Tiere »krepieren«? Wenn man einer Spinne das Netz zerstört, krepiert sie dann? Und woher nimmt sie den Faden, um ein zweites Netz zu knüpfen? Wie kann aus einem Ei eine Henne entstehen, muss man das Ei vergraben? Der Strauß frisst Steine und Eisen, womit macht er dann A-A? Woher weiß ein Kamel, für wie viele Tage es einen Wasser-Vorrat anlegen muss? Versteht der Papagei kein bisschen von dem, was er sagt, ist er klüger als ein Hund? Und warum kann man einem Hund nicht die Zunge stutzen, damit er spricht? War Robinson der Erste, der einem Papagei das Sprechen beigebracht hat? Ist es schwer zu lernen, wie man das macht? Das bunte Märchen von den Pflanzen: Ein Baum lebt, atmet, stirbt. Aus einer kleinen Eichel entsprießt ein Eichbaum. Aus einer Blüte wird eine Birne, kann man das sehen? Wachsen Hemden auf Bäumen? Das hat das Fräulein in der Schule gesagt (er beschwört es), ist denn das wahr? Der Vater sagt: »Red’ keinen Unsinn«; die Mutter meint, Hemden wüchsen nicht auf Bäumen, sondern der Flachs, aus dem man sie macht, wüchse auf dem Feld;

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in der Schule aber hat das Fräulein gesagt, in der Arith­metikstunde könne man darüber nicht reden, sie werde das ein andermal erklären. Also ist das doch nicht erlogen; wenn man nur ein solches Bäumchen zu sehen bekäme. Was ist diesen Wundern gegenüber schon ein Drache? Es gibt ihn nicht, aber es könnte ihn geben. Wie hätte denn Krakus13 den Drachen erschlagen können, wenn es keine Drachen gibt? Warum bildet man Sirenen ab, wenn es keine gibt? 88. Das Märchen von den Völkern. Der Mohr ist schwarz, damit man nicht erfährt, wie er sich wäscht. Seine Zunge ist nicht schwarz, und ebenso wenig seine Zähne. Ein Teufel ist er nicht: Er hat weder Hörner noch einen Schwanz. Seine Kinder sind auch schwarz. Sie sind schrecklich wild: Sie essen Menschen. Sie glauben nicht an Gott, sondern an Frösche. Früher haben sie alle an Bäume geglaubt, denn sie waren dumm; die Griechen haben auch dummes Zeug geglaubt, aber die waren klug; warum haben sie dann solchen Unsinn geglaubt? Die Mohren gehen ohne Kleider auf den Straßen umher und schämen sich überhaupt nicht. Sie klemmen sich Muscheln in die Nase und denken, das sei schön; warum sagt ihnen keiner, dass sie das nicht tun sollen? Sie sind glücklich: Sie essen Feigen, Datteln und Bananen, haben Affen und brauchen überhaupt nicht zu lernen; bei ihnen geht schon ein kleiner Junge auf die Jagd. Die Chinesen tragen Zöpfe, und sie sind sehr komisch. Die Franzosen sind am klügsten, aber sie essen Frösche und sagen Bonschur. Sie sind angeblich klug, aber sie reden so drollig: Bon-pon-fon­bson. Bei den Deutschen heißt es dagegen der – die – das, kapusta und kwas14 . Die Juden haben vor jedem Dreck Angst, rufen aj-waj und betrügen. Ein Jude, das ist wohl so, muss ganz einfach betrügen; denn sie haben den Herrn Jesus getötet. In Amerika gibt es auch Polen, was mögen die da machen? Wozu bricht man ihnen wohl die Beine, lässt sie betteln oder gibt sie einem Zirkus? Es muss schön sein, in einem Zirkus auftreten zu können. Ob man wohl immer noch Kunststücke machen kann, wenn man sich einmal die Hände ausrenkt? Gibt es wohl Zwerge, oder wenn nicht, warum? Und wenn es keine gibt, woher weiß man dann, wie sie aussehen? Auf der Straße ging ein ganz kleiner Mann, und alle sahen sich um; werden Liliputaner niemals groß, sind sie zur Strafe so klein geblieben? Waren die Venetianer Zauberer: Wie konnten sie nur aus Sand Glas machen? Ob das wohl schwer ist? Gehen die Goralen15 auch auf solchen Bergen umher, aus denen Feuer kommt? Sind die Matrosen ein 13 Krakus – Held der polnischen Volkssage, der einen Dramen tötete; sagenhafter Gründer der Stadt Krakau. 14 Kapusta = Kohl oder Sauerkraut; Kwas = säuerlich schmeckendes Getränk aus vorgegorenen Brotresten. 15 Goralen = Gebirgsbewohner der Beskiden und der Tatra [von polnisch góra = der Berg].

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Volk? Können sie im Wasser leben? Was ist schwerer, ein Taucher zu sein oder ein Matrose? Welcher ist wichtiger? Manchmal ist eine Frage auch beunruhigend: »Wenn ich mich ganz mit Tinte vollschmierte, würden die Neger mich dann erkennen?« Ein Kind gibt sich nur schwer mit einer Auskunft zufrieden, für die es keine praktische Anwendungsmöglichkeit gibt. Es möchte sich auch betätigen, Versuche anstellen oder wenigstens aus der Nähe betrachten, was es da erfährt. 89. Das Märchen vom Menschen. Ob es Menschen gibt, die Augen aus Glas haben, ob sie die Augen herausnehmen können, und ob man mit solchen Augen auch sehen kann? Wozu sind Perücken da, und weshalb lacht man, wenn einer eine Glatze hat? Gibt es Menschen, die mit dem Bauch reden, oder reden sie mit dem Nabel? Wozu ist der Nabel eigentlich da? Ob es in den Ohren wirklich Trommelfelle gibt? Weshalb sind Tränen salzig, und warum ist das Meer auch salzig? Wie kommt es, dass ein Mädchen lange Haare hat und darum auch ganz anders aussieht? Wachsen auf dem Herzen wirklich Pilze, wo doch auf den Karten zum ersten April Herzen mit Pilzen zu sehen sind? Muss man wirklich sterben? Wo bin ich gewesen, als ich noch nicht auf der Welt war? Das Dienstmädchen sagt, dass man so ausschauen kann, als sei man krank, und wenn man dreimal ausspuckt, dann wird man nicht krank. Was geschieht in der Nase, wenn man niest? Ist ein Verrückter krank oder ist ein Betrunkener krank? Was ist schlimmer, ein Betrunkener oder ein Verrückter? Weshalb kann ich jetzt noch nicht erfahren, wie Kinder entstehen? Entsteht der Wind dadurch, dass sich einer aufgehängt hat? Ist es besser, blind zu sein als taub? Warum sterben Kinder, und Alte bleiben am Leben? Wann soll man mehr weinen, wenn die Großmutter stirbt, oder wenn das Brüderchen stirbt? Warum kann ein Kanarienvogel nicht in den Himmel kommen? Muss eine Stiefmutter ihre Kinder schlagen? Kommt die Milch in der Brust auch von der Kuh? Ist das wirklich da, was man träumt, oder sieht das nur so aus? Wovon sind Haare rot? Weshalb kann man ohne Mann kein Kind bekommen? Ist es besser, einen giftigen Pilz zu essen, oder sich von einer Schlange beißen zu lassen? Stimmt es, dass man schneller wächst, wenn man sich in den Regen stellt? Was ist das, das Echo, und warum ist es im Wald? Wie kommt es, dass man das ganze Haus sehen kann, wenn man die Hand zu einer Röhre zusammenlegt: Wie hat es darin Platz? Was ist der Schatten, und warum kann man nicht vor ihm fliehen? Stimmt es, dass einem Mädchen ein Schnurrbart wächst, wenn man es küsst und selber einen Bart hat? Hat man wirklich Würmer auf den Zähnen, und sieht man sie nur nicht?

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90. Das Märchen von der Autorität. Ein Kind hat viele Götter, Halbgötter und Helden. Die Autoritäten sind eingeteilt in sichtbare und unsichtbare, lebendige und tote. Ihre Hierarchie ist unendlich verwickelt. Mama, Vater, Großmama, Großvater, Tante, Onkel, Hauspersonal, Polizisten, Soldaten, König, Doktor, die Älteren überhaupt, Pfarrer, Lehrer, erfahrenere Kameraden. Sichtbare leblose Autoritäten: das Kreuz, die Thora-Rolle, das Andachtsbuch; Heiligenbilder, Ahnenporträts, Denkmäler großer Leute, Fotografien unbekannter Personen. Unsichtbare Autoritäten: Gott, Gesundheit, Seele, Gewissen, Verstorbene, Zauberer, Teufel, Engel, Geister, Wölfe, entfernte Verwandte, von denen oft die Rede ist. Autoritäten fordern Gehorsam; das begreift das Kind, wenn auch unter Schmerzen. Sie verlangen auch, dass man sie liebt, und das ist schon schwieriger. »Papa und Mama liebe ich mehr.« Kleine Kinder kokettieren damit, auf unverstandene Fragen mit unverständlichen Antworten zu erwidern. Ein älteres Kind kann solche Fragen nicht ausstehen: Sie demütigen es und machen es verlegen. Einmal liebt es mehr, einmal weniger, dann wieder gerade so viel wie unbedingt nötig, manchmal hasst es auch; ja, das ist schrecklich, aber was soll man machen, wenn es nun einmal hasst! Achtung ist ein so vielschichtiges Gefühl, dass ein Kind darauf verzichtet, sich selbst zu entscheiden, und sich auf die Erfahrung der Erwachsenen verlässt. Die Mama sagt dem Dienstmädchen, was es zu tun hat, und das Dienstmädchen hat Angst vor der Mama. Mama hat sich über die Bonne geärgert. Mama muss fragen, ob der Doktor dieses oder jenes gestattet. Der Polizist kann Mama bestrafen. Der Schulkamerad braucht der Mama nicht zu gehorchen. Der Vorgesetzte im Büro hat sich über Papa geärgert, deshalb ist Papa traurig. Der Soldat fürchtet den Offizier, der Offizier den General und der General wiederum den König. Hier ist alles verständlich; vielleicht interessieren sich Jungen darum für Dienstränge beim Militär; vielleicht dosieren Kinder deshalb ihre Achtung vor den einzelnen Schulklassen so genau, weil auch hier alles leicht zu verstehen ist. Sehr achtenswert sind die Vermittler zwischen den sichtbaren und unsichtbaren Autoritäten. Der Pfarrer hat mit Gott gesprochen, der Doktor hat seine geheimen Verbindungen zur Gesundheit, der Soldat hat Beziehungen zum König, und das Dienstmädchen weiß viel von Zauberdingen, Gespenstern und Geistern. Es gibt auch Augenblicke, in denen der Viehhirt zur achtenswertesten Persönlichkeit wird: wenn er nämlich mit seinem Taschenmesser ein Figürchen schnitzt. Das kann weder Mama noch der General und auch der Doktor nicht.

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91. Warum bekommt man von unreifem Obst Bauchweh? Sitzt die Gesundheit im Bauch oder im Kopf? Ist die Gesundheit dasselbe wie die Seele? Warum kann ein Hund ohne Seele leben, während ein Mensch ohne sie stirbt? Wird der Doktor auch krank, und muss er auch sterben – und warum? Warum sind alle großen Leute gestorben? Stimmt es, dass es Männer gibt, die Bücher schreiben und davon leben? Die Könige sterben alle: Sie halten sich nicht. Hat eine Königin Flügel? War Mickiewicz16 ein Heiliger? Ob der Pfarrer wohl Gott gesehen hat? Kann ein Adler bis in den Himmel fliegen? Ob Gott auch betet? Was machen die Engel; schlafen sie, essen sie, spielen sie Fußball, und wer näht ihnen die Kleider? Haben die Teufel große Schmerzen? Ob sie wohl die Giftpilze vergiftet haben? Wenn Gott auf die Räuber böse ist, warum muss man dann für sie beten? War Mose sehr erschrocken, als er Gott erblickte? Warum betet Papa nicht, hat Gott ihm das erlaubt? Ist der Donner ein Wunder? Die Luft, ist das Gott? Warum kann man die Luft nicht sehen? Geht die Luft gleich in eine leere Flasche oder nur allmählich – und woher weiß sie, dass da kein Wasser mehr drin ist? Weshalb fluchen arme Leute? Wenn es kein Wunder ist, warum kann dann niemand Regen machen? Woraus sind die Wolken gemacht? Lebt diese Tante, die so weit weg wohnt, in einem Sarg? Wie kindisch ist die Hoffnung von Eltern (nennt sie nur nicht fortschrittlich), die meinen, dass sie ihren Kindern das Verständnis der sie umgebenden Welt erleichtern, wenn sie ihnen sagen: »Es gibt keinen Gott.« Wenn es keinen Gott gibt, wer ist es denn, der das alles gemacht hat? Wer macht dann auch das, was sein wird, wenn ich sterbe, und woher ist dann der erste Mensch gekommen? Stimmt es, dass man wie ein Vieh lebt, wenn man nicht betet? Papa sagte, dass es keine Engel gibt; aber ich habe doch mit eigenen Augen einen gesehen. Wenn es keine Sünde ist, warum ist Töten dann verboten? Auch ein Huhn empfindet ja den Schmerz. Auch hier lauter Zweifel und beunruhigende Fragen. 92. Ein düsteres Märchen – das Rätsel der Armut. Weshalb gibt es Hungrige, Arme, Frierende, und warum kaufen sie sich nichts, warum haben sie kein Geld, und warum gibt man ihnen nichts »so«? Du sagst: »Arme Kinder sind schmutzig, sagen hässliche Worte und haben Würmer auf dem Kopf. Arme Kinder sind oft krank, und man kann sich bei ihnen anstecken. Sie prügeln sich, werfen mit Steinen, schlagen anderen die Augen aus. Geh nicht auf den Hof und in die Küche: Da ist es langweilig.« 16 Adam Mickiewicz (1798–1855), bedeutendster Dichter der polnischen Romantik.

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Aber das Leben sagt: »Sie sind überhaupt nicht krank, laufen den ganzen Tag fröhlich herum, trinken Wasser aus dem Brunnen und kaufen sich wohlschmeckende farbige Bonbons. Der Junge schwingt den Besen, fegt den Hof, schaufelt Schnee, das ist alles sehr lustig. Würmer haben sie keine, das stimmt einfach nicht; sie werfen auch nicht mit Steinen, denn sie haben ihre Augen noch; sie prügeln sich auch nicht, sondern messen ihre Kräfte. Hässliche Ausdrücke sind zum Lachen, und in der Küche ist es hundertmal erfreulicher als im Zimmer.« Du sagst zu deinem Kinde: »Arme Leute muss man lieben und ehren, sie sind gut und arbeiten schwer. Der Köchin muss man dankbar sein, weil sie das Essen kocht, und dem Hausmeister, weil er für Ordnung sorgt. Spiel mit seinen Kindern.« Aber das Leben sagt: »Die Köchin hat das Huhn geschlachtet, und morgen werden wir alle davon essen, auch die Mama; denn das Huhn ist gekocht, es tut ihm nicht mehr weh; aber die Köchin hat es lebend geschlachtet, Mama kann das nicht einmal sehen. Der Hausmeister hat die kleinen Hunde ertränkt, und sie waren doch so hübsch. Die Köchin hat harte Hände, und sie planscht im schmutzigen Wasser herum. Der Bauer stinkt, der Jude stinkt. Man sagt ganz einfach ›Verkäuferin‹ und ›Hausmeister‹, nicht ›Herr‹. Arme Kinder sind schmutzig; zeigt man ihnen was, gleich sagen sie: ›Gib her‹; und wenn man das nicht tut, reißen sie einem die Mütze vom Kopf und lachen; und ein Junge hat gespuckt, mir mitten ins Gesicht …« Noch hat das Kind nichts von bösen Zauberern gehört, und trotzdem tritt es furchtsam näher, um dem alten Manne einen Groschen zu geben. Das Kind weiß, dass man ihm auch in diesem Falle nicht alles sagt und dass auch in diesen Dingen etwas Hässliches verborgen ist, was man ihm nicht erklären will oder kann. 93. Die Seltsamkeiten des gesellschaftlichen Lebens und des guten Tons. Es ist nicht fein, den Finger in den Mund zu stecken, in der Nase zu bohren und zu schnurcheln. Es ist nicht fein, etwas zu erbitten, zu sagen: »Ich will nicht«, sich zurückzulehnen, wenn einen jemand küsst, oder zu sagen: »Das ist nicht wahr!« Es ist nicht fein, sich aufzustützen oder als Erster Erwachsenen die Hand zu geben. Es ist hässlich, mit den Beinen zu baumeln, die Hände in die Taschen zu stecken und sich auf der Straße umzusehen. Unschön ist es auch, laute Bemerkungen zu machen und mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Warum nur? Diese Verbote und Gebote sind ganz verschieden begründet; Kinder können ihr Wesen und ihren Zusammenhang nicht erfas­sen.

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Es ist unschön, im Hemd herumzulaufen, und ebenso unschön, auf den Fußboden zu spucken. Warum ist es falsch, sitzenzubleiben, wenn Erwachsene etwas fragen? Muss man sich vor dem Vater auch auf der Straße verbeugen? Was soll man tun, wenn jemand etwas sagt, was nicht wahr ist? Was soll man tun, wenn zum Beispiel der Onkel sagt: »Du bist ein Mädchen«, und man ist doch ein Junge; oder wenn er sagt: »Du bist meine Verlobte«, oder »Ich habe dich von der Mama gekauft«, und das doch gelogen ist? »Warum muss man Mädchen gegenüber höflich sein?«, fragte mich ein Schüler. »Das hat seine historische Bedeutung«, antwortete ich. »Warum hast du Härz mit ä geschrieben?« fragte ich ihn kurz darauf. »Das hat seine historische Bedeutung«, antwortete er mit einem boshaften Lächeln. Auf dieselbe Frage antwortete eine Mutter: »Sieh mal, ein Mädchen kriegt später Kinder, sie wird sehr krank sein«, usw. Kurz darauf ist wieder ein Streit zwischen Bruder und Schwester. »Liebe Mama, was geht’s mich an, dass sie später mal Kinder bekommen wird. Für mich ist allein wichtig, dass sie keine Heulsuse ist.« Am glücklichsten erscheint mir der Hinweis, dem man am häufigsten begegnet: »Man wird dich auslachen.« Das ist bequem und wirkt fast immer; denn ein Kind fürchtet die Lächerlichkeit. Aber man wird es auch auslachen, weil es auf die Mutter hört, weil es sich ihr anvertraut, weil es später nicht Karten spielen, Schnaps trinken und öffentliche Häuser besuchen will. Auch Eltern begehen aus Angst vor der Lächerlichkeit unsinnige Fehler. Das Schädlichste ist, Fehler des Kindes und Unzulänglichkeiten in seiner Erziehung zu verheimlichen; das Kind spielt eine Zeitlang für einen reichlichen Lohn Gästen gegenüber die Rolle eines wohlerzogenen Familiengliedes, später aber nimmt es Rache. 94. Die Muttersprache: Das sind keine ausgewählten und für das Kind zusammengestellten Vorschriften und Moralpredigten. Die Muttersprache ist vielmehr die Luft, welche die Seele des Kindes gemeinsam mit der Seele der ganzen Nation atmet: Wahrheit und Zweifel, Glaube und Sitte, der liebe Überdruss, Willkür und Respekt, alle Würde und Niedrigkeit, Reichtum und Armut, sie ist alles, was Dichter und Propheten in hoher Inspiration geschaffen und betrunkene Schergen ausgespien haben, sie birgt Jahrhunderte ertragreicher Arbeit und düstere Jahre der Unfreiheit in sich. Wer hat darüber nachgedacht oder darüber geschrieben, wer hat es erforscht, wie man Krankheitskeime aus der Sprache ausrotten und dieses Lebenselement mit

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Ozon durchtränken könnte? Vielleicht würde sich herausstellen, dass nicht das gesunde volkstümliche »scheißen«, sondern das salonhafte »einer Sünde wert« Keime des Zerfalls enthält? »Gelobt sei Jesus Christus. Gott hat ihn gestraft. Der Teufel hat ihn verleitet. Wie im Paradies. Im siebten Himmel. Die Hölle zu Hause. Einen Segensspruch auf den Weg. Wie beim Herrgott hinterm Ofen. Gott behüte. Gebete plappern. Scheinheilige Sudelei. Keinen roten Heller. Todesangst. Er würde dem Teufel seine Seele verschreiben. Er hat etwas auf dem Kerbholz. In einem alten Ofen heizt der Teufel. Ich mach mir einen Feiertag.« »Zum Wohl. Deine Gesundheit. Freitag, ein Unglückstag. Schluckauf, jemand denkt an mich. Verliebt, sie hat die Suppe versalzen. Ein Messer ist heruntergefallen, der Hungrige beeilt sich. Er hat dem Pfarrer die Grieben weggegessen. Mit einem Bein im Grabe.« »Chinesische Zeremonien. Zigeunerhochzeit. Jüdisches Wort. Her­ren­gnade. Grober Schädel, Waisenlos.« »Alter Schwätzer, alter Idiot, zahnlückige Alte. Rotznase, Gans, Bengel, Gelbschnabel, Milchbart.« »Blind? Nein, ohne Sehkraft. Alt? Nein, bejahrt. Lahm? Nein, gebrechlich.« »Ein Hundewetter. Auf den Hund gekommen. Zum Donnerwetter, zum Teufel. Vor Wut schäumen. Wie eine Katze mit einem Ballon am Schwanz. Wolfshunger. Er schlägt drein wie auf kaltes Eisen.« »Er hat kein Gehirnschmalz, er hat nicht alle Tassen im Schrank. Sand in die Augen streuen. Bei dem ist eine Schraube locker. Er birst vor Lachen. Sich drücken. Er kennt es wie seine Hosentasche. Das wird aber mal ein Kunststück. Er vergiftet mir das Leben.« Was ist das? Woher kommt das? Warum das alles? Der Tisch als Hauptwort, der Tisch als Subjekt. Aber weshalb heißt es: dumm wie ein Tischbein? Ob jener Mann sehr gescheit war, der die Grammatik erdacht hat? 95. Kinder lieben keine unverständlichen Ausdrücke; manchmal versuchen sie, ihre Umgebung damit zu blenden. Sie eignen sich die Sprache der Erwachsenen an (nicht ohne eine Auswahl getroffen zu haben), und sie benutzen manche Redewendungen, die wir häufig gebrauchen, mit einer deutlichen Akzentuierung. »Gib doch her, sieh mal. Borg mir das, hörst du. Zeig mal, siehst du.« »Siehst du« und »hörst du« entsprechen unserem »bitte«. Bitten, das ist betteln (ein Greis »bittet«). Ein Kind mag keine unterwürfigen Ausdrücke. »Denkst du vielleicht, ich werde bitten? Bitt ihn doch nicht. Ich werd ihn gerade bitten! Wart nur, wirst du mich wohl bitten!«

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Mir ist nur eine ausgesprochen feierliche Redewendung bekannt. »Siehst du, wie du bist: Da bitte ich dich nun so sehr, und was tust du?« Das Kind zieht sogar dann, wenn es sich an Erwachsene wendet, die Form vor: »Könntest du wohl, Mama, könnten Sie wohl …«;17 und es »bittet« nur dann, wenn es einer ausdrücklichen Aufforderung nachgibt. Den Ausdruck »siehst du« benutzt das Kind anstelle des nicht weniger peinlichen »verzeih bitte«. »Siehst du, das habe ich nicht mit Absicht getan. Sieh mal, das hab ich nicht gewollt. Siehst du, das hab ich nicht gewusst.« Was für einen reichen Schatz an warnenden und überredenden Wendungen Kinder doch anwenden, damit sie gewaltsame Szenen vermeiden können. »Hör auf, lass sein, fang nicht erst an, mach dass du wegkommst, hau ab. Bleib doch da. Ich sag dir – lass das. Ich bitte dich, hör auf (hier wird die Bitte zu einem sehr entschiedenen Befehl). Gehst du nicht endlich? Hörst du nicht, lass das endlich!« Als Drohung: »Willst eine haben? Kriegst gleich eine rein. Das wird dir noch leidtun! Da wirst du aber heulen!« Die geringschätzige Wiederholung eines Ausdrucks: »Gut, gut … Ich weiß, ich weiß … Wart nur, wart.« Wir bringen das Kind dazu, sich zu fürchten. »Da hab ich aber Angst. Denkst wohl, dass ich Angst habe. Ich werde gerade vor ihm Angst haben.« Jeder Besitz des Kindes wird in Frage gestellt: Nichts darf es ungefragt weggeben oder vernichten; denn es besitzt nur das Nutzungsrecht (umso mehr schätzt es einen uneingeschränkten Besitz). »Deine Bank, dein Tisch?« »Ja, meiner (oder: Vielleicht deiner?).« »Im war als Erster hier.« Als »Erster« hat er Platz genommen, hat er hier zu spielen begonnen, hat er zu buddeln angefangen. Die Erwachsenen beurteilen Kinderstreitigkeiten, besorgt um ihre eigene Ruhe, meist sehr oberflächlich. »Er hat Streit mit mir angefangen. Er hat zuerst angefangen. Ich steh hier ganz ruhig, er aber …« Interessant ist die verneinende Form: »Wenn ich dem nicht eine knalle! Wenn ich nicht ausrücke! Dass ich nicht lache!« Der Inhalt: Mutwille; vielleicht ist dieses »nicht« das Echo von Verboten. 17 Die polnische Sprache kennt das im Deutschen ungebräuchliche er mag, sie mögen, das durch das adverbiale niech ausgedrückt wird; also niech mama daje »mag die Mutter geben«, anstatt »Mama, gib bitte!«

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»Du hast es versprochen, denk dran. Du hast dein Wort gegeben. Du hast es gebrochen.« Wer sein Versprechen nicht hält, ist ein Schwein. Die Erwachsenen sollten immer daran denken. Ein reiches Studienmaterial. 96. Das Kind, das der Welt der Armen nicht gänzlich entfremdet ist, hält sich gern in der Küche auf; nicht weil es dort Backpflaumen und Rosinen gibt, sondern weil dort etwas geschieht, während in den Zimmern der Erwachsenen sich nichts abspielt. Dort wird ein Märchen spannender, weil das Kind daneben auch noch ein Stück wirklichen Lebens erlebt, weil es dort auch selbst etwas erzählen kann und weil man ihm dort mit Interesse zuhört, weil es in der Küche ein Mensch und kein Schoßhündchen auf einem Atlaskissen ist. »Also ein Märchen? Na gut. Also, was wollte ich doch erzählen? Also, das war so. Gleich, ich muss nur mal überlegen.« Bevor das Märchen beginnt, hat das Kind Zeit, sich bequem zurechtzusetzen, sich zu räuspern und sich auf ein längeres Zuhören einzustellen. »Sie geht also, geht durch den Wald. Ganz dunkel ist es hier, nichts ist zu sehen: weder Baum noch Tier noch Stein. Es ist dunkel, ganz dunkel. Sie hat also Angst, große Angst. Da bekreuzigt sie sich also einmal, da lässt die Angst schon ein bisschen nach; sie bekreuzigt sich noch einmal, und dann geht sie weiter.« Ich habe versucht, genauso zu erzählen; aber das ist nicht leicht. Wir haben keine Geduld, wir beeilen uns, wir achten weder Märchen noch Zuhörer. Das Kind kommt mit dem Tempo unseres Erzählens nicht mit. Wenn wir verstünden, so von der Leinwand zu erzählen, die aus Flachs gemacht wird, würde das Kind wahrscheinlich nicht annehmen, dass Hemden auf Bäumen wachsen und dass man Asche in die Erde sät … Eine wirkliche Begebenheit: »Wie ich morgens aufstehe, sehe ich plötzlich alles doppelt, jeden Gegenstand. Ich sehe zum Schornstein hinüber; auf einmal sind zwei Schornsteine da, und zum Tisch, da sind es zwei Tische. Ich weiß wohl, dass nur einer da ist, aber ich sehe zwei. Ich reibe mir die Augen, es hilft nichts. Und im Kopf ein Hämmern und Hämmern.« Das Kind wartet auf die Lösung des Rätsels, und wenn endlich der fremde Ausdruck »Typhus« kommt, ist es darauf vorbereitet, ihn anzunehmen. »Der Doktor sagt: Typhus …« Eine Pause. Der Erzähler ruht sich aus, und auch der Zuhörer verschnauft sich. »Da habe ich also Typhus bekommen …« Und weiter fließt die Erzählung. Die einfache Erzählung davon, dass es einmal in einem Dorf einen Bauern gab, der vor gar keinem Hund Angst hatte, eine Wette einging, einen Hund (der so böse wie ein Wolf war) mit bloßen Händen packte und ihn fortschleppte wie ein Kalb – wird

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zu einem Epos. Und wie einer bei einer Hochzeit sich als altes Weib verkleidete, und niemand erkannte ihn. Und wie ein Bauer ein gestohlenes Pferd suchte. Ein bisschen mehr Wachheit – dann würde auf der Estrade vielleicht ein Märchenerzähler im langen Bauernrock erscheinen und uns beibringen, wie man zu Kindern reden muss, um gehört zu werden. Wir sollten mit wachen Sinnen hinhören, anstatt verbieten zu wollen. 97. Ist das wahr? Man muss einmal das Wesen dieser Frage begreifen, die wir nur deshalb nicht hören wollen, weil wir sie für überflüssig halten. Wenn die Mama etwas gesagt hat oder die Lehrerin, dann heißt das, dass es wahr ist. Nun hat sich das Kind davon überzeugt, dass nicht jeder Mensch alles weiß, dass zum Beispiel der Kutscher von Pferden mehr weiß als selbst der Vater. Des Weiteren ist es richtig, dass nicht jeder Wissende auch redet. Manchmal wollen die Wissenden nicht reden, manchmal passen sie die Wahrheit dem kindlichen Niveau an, und häufig verbergen sie, was sie wissen, oder sie fälschen es sogar bewusst. Außer dem Wissen gibt es noch den Glauben; der eine glaubt, der andere nicht: Großmutter glaubt an Träume, Mama nicht. Wer hat recht? Schließlich gibt es noch die Lüge, die als Scherz oder als Mittel, sich hervorzutun, gesagt wird. »Ist es wahr, dass die Erde eine Kugel ist?« Alle sagen, dass das wahr sei. Wenn auch nur ein Einziger sagte, das stimme nicht, so bliebe der Schatten eines Zweifels. »Sie waren in Italien; ist es wahr, dass Italien wie ein Stiefel aussieht?« Ein Kind will wissen, ob du etwas selbst gesehen hast, ob du es von anderen weißt oder woher du es weißt; es möchte kurze, bestimmte, verständliche, eindeutige, ernsthafte und ehrliche Antworten erhalten. Wie misst ein Thermometer das Fieber? Der eine sagt: Das ist das Quecksilber, ein anderer: das lebendige Silber18 (warum lebendig?); der Dritte sagt, dass Körper sich ausdehnen (ist das Thermometer denn ein Körper?), und der Vierte, das Kind werde das später schon noch erfahren. Das Märchen vom Storch kränkt und ärgert das Kind, wie jede scherzhafte Antwort auf eine so ernste Frage – wie die, woher die kleinen Kinder kommen oder warum der Hund die Katze anbellt. 18 Die polnische Sprache hat neben der chemisch-physikalischen Bezeichnung für Quecksilber (rtęć) einen weiteren Ausdruck für Quecksilber in seiner übertragenen Bedeutung: lebendiges Silber (żywe srebro).

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»Wenn ihr mir die Arbeit nicht erleichtern wollt, dann braucht ihr das nicht zu tun; aber warum erschwert ihr sie mir, warum macht ihr euch über mich lustig, nur weil ich etwas wissen will?« Wenn ein Kind sich an einem Spielgefährten rächen will, pflegt es zu sagen: »Ich weiß was; aber wenn du so bist, dann sag ich dir’s nicht.« Ja, es sagt zur Strafe nichts; aber wofür wird es selbst denn von Erwachsenen durch das Verschweigen oder die unzulängliche Weitergabe ihres Wissens bestraft? Hier gebe ich noch ein paar typische Kinderfragen wieder: »Weiß das kein Mensch auf der ganzen Welt? Kann man das denn nicht erfahren? Wer hat das gesagt? Alle oder nur einer? Ist das immer so? Muss das so sein?« 98. Darf man das? Die Erwachsenen erlauben es nicht, weil es eine Sünde ist, weil es ungesund und hässlich ist und weil man noch zu klein ist; man darf es ganz einfach deshalb nicht, weil sie es verbieten – und damit ist Schluss. Auch hier sind die Fragen dubios und kompliziert. Manchmal ist etwas ungesund, weil die Mama böse ist; manchmal aber ist dies gestattet, wenn nämlich der Vater gut gelaunt ist oder wenn Gäste da sind. »Weshalb verbieten sie es? Das schadet den Kindern doch nicht.« Zum Glück ist diese theoretisch empfohlene Konsequenz nicht durchführbar. Denn wie wollt ihr ein Kind ins Leben einführen, wenn es überzeugt ist, dass alles richtig, gerecht, verständig begründet und unabänderlich sei? In der Theorie der Erziehung vergessen wir, dass wir das Kind nicht nur lehren sollten, die Wahrheit zu schätzen, sondern auch, die Lüge zu erkennen, nicht nur zu lieben, sondern auch zu hassen, nicht nur zu achten, sondern auch zu verachten, sich nicht nur zu fügen, sondern auch zu entrüsten, nicht nur nachzugeben, sondern sich auch zu empören. Oft begegnet man ausgereiften Menschen, die sich entrüsten, wo Nachsicht genügte, und solchen, die verachten, wo man Mitleid haben sollte. Auf dem Felde negativer Empfindungen sind wir nämlich Autodidakten, weil uns vom Alphabet des Lebens nur wenige Buchstaben gelehrt, die übrigen aber verschwiegen werden. Was Wunder, dass wir nicht richtig lesen können? Das Kind empfindet die Unfreiheit, es leidet an seinen Fesseln, und es sehnt sich nach der Freiheit, findet sie aber nicht; denn wenn sich die Form auch wandelt, so bleibt doch der Inhalt des Verbots und des Zwangs. Wir selbst als Erwachsene können unser Leben nicht ändern, weil wir in der Unfreiheit aufgewachsen sind; daher vermögen wir dem Kind kein ungebundenes Dasein zu bieten, solange wir selbst in Fesseln liegen. Wenn ich aus der Erziehung alles ausschließen würde, was mein Kind vorzeitig belastet, so begegnete es der strengen Beurteilung sowohl seiner Altersgenossen

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als auch der Erwachsenen unvorbereitet. Wäre die Notwendigkeit, neue Wege zu bahnen, oder die Mühe, gegen den Strom zu schwimmen, nicht ein noch schwereres Joch? Wie schmerzlich büßt das freie Völkchen vom Lande in den Schulinternaten für die wenigen Jahre, die es auf dem Felde, im Stall· und im Gesindezimmer verbracht hat … Dieses Buch habe ich im Feldlazarett geschrieben, beim Donner der Geschütze, während des Krieges;19 Nachsicht allein genügte nicht als Programm. 99. Warum unterscheidet sich ein Mädchen im neutralen Alter bereits so sehr von einem Jungen? Weil es außer der Benachteiligung durch die Kindheit noch den zusätzlichen Beschränkungen eines weiblichen Wesens unterliegt. Der Junge, der keine Rechte besitzt, weil er ein Kind ist, reißt das Privileg seines Geschlechts mit beiden Händen an sich und lässt es nicht mehr los. Er will diese Vorrechte nicht mit einem gleichaltrigen Mädchen teilen. »Ich darf das, ich kann das, ich bin ein Junge.« Ein Mädchen ist ein Eindringling im Kreis der Jungen. Von zehn Jungen fragt gewiss einer: »Was will die bei uns?« Es braucht nur zu einem Streit zu kommen, den die Jungen unter sich ausmachen können, ohne einander in ihrem Ehrgefühl zu verletzen oder einem den Ausschluss anzudrohen; für ein Mädchen aber haben sie nur die schroffe Zurückweisung: »Wenn es dir nicht passt, dann geh doch zu deinesgleichen.« Ein Mädchen, das lieber mit Jungen umgeht, wird im eigenen Kreis zu einem verdächtigen Persönchen: »Wenn du nicht willst, dann geh doch zu deinen Buben.« Benachteiligung antwortet auf Missachtung mit Missachtung: Das ist die unwillkürliche Selbstverteidigung des Stolzes, der angegriffen wird. Nur im Ausnahmefall ist ein Mädchen imstande, sich nicht abschrecken zu lassen, sich nichts aus der Meinung der anderen zu machen und hoch über der Masse zu stehen. Worin drückte sich die Feindschaft der Kindergemeinschaft Mädchen gegenüber aus, die lieber mit Jungen spielen? Sicherlich irre ich mich nicht, wenn ich behaupte, dass diese Feindseligkeit ein rücksichtsloses, grausames Gesetz hervorgebracht hat: »Für ein Mädchen ist es eine Schande, wenn ein Junge ihre Höschen zu sehen bekommt.« 19 Die Niederschrift erfolgte 1914–1916. Vgl. das Vorwort und die Zeittafel.

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Dieses Gesetz ist in der Form, die es unter Kindern angenommen hat, nicht von Erwachsenen erdacht worden. Ein Mädchen kann nicht ungezwungen herumlaufen; denn wenn es stürzt und nicht sofort sein Kleidehen zurechtziehen kann, hört es schon den boshaften Ruf: »Oh, die Höschen!« »Stimmt ja gar nicht« oder herausfordernd »Na und?« sagt es dann errötend, verwirrt und erniedrigt. Sollte es nur ein einziges Mal versuchen, mitzuraufen, so lässt der gleiche Ausruf seine Kräfte sofort erlahmen und macht es sofort kampfunfähig. Deshalb sind Mädchen nicht so gewandt und deshalb weniger angesehen; sie raufen nicht, sie sind dafür leicht beleidigt, sie zanken und beklagen sich, und sie weinen. Und dazu kommt noch, dass die Älteren Rücksicht für sie fordern. Mit welch freudiger Genugtuung sagen Kinder von einem Erwachsenen: »Dem brauche ich nicht zu gehorchen.« Und einem Mädchen sollen sie nachgeben – warum denn? Solange wir die Mädchen nicht von dem »Es-schickt-sich-nicht« befreien, das in ihrer Kleidung begründet ist, solange werden alle Bemühungen vergeblich sein, sie zu vollgültigen Spielgefährten der Jungen zu machen. Wir haben diese Aufgabe anders gelöst: Wir haben einem Jungen eine Perücke aus langen Haaren aufgesetzt und ihn mit ebenso vielen Schicklichkeitsvorschriften eingeschnürt wie die Mädchen. Sie spielen nun gemeinsam – anstatt der vermännlichten Töchter haben wir die Anzahl der verweiblichten Söhne verdoppelt. Kurze Kleider; Badeanzüge und Sportkleidung; neue Tänze – ein kühner Versuch, das Problem nach neuen Grundsätzen zu lösen. Wie viele Überlegungen dieser Art sind wohl in den Entscheidungen der Mode enthalten? Ich vertraue darauf, dass diese nicht leichtsinnig fallen. Es ist nicht richtig, nur zu schmollen und zu kritisieren; bei der Behandlung sogenannter heikler Themen sollten wir Vorsicht walten lassen. Ich würde kein zweites Mal den Versuch wagen, alle Entwicklungsetappen aller Kinder in einer kurzen Broschüre zu behandeln. 100. Ein Kind, das anfangs fröhlich auf der Oberfläche des Lebens dahinsegelt, ohne die düsteren Tiefen, die verräterischen Strömungen, die verborgenen Ungeheuer, die lauernden feindlichen Gewalten dieses Lebens zu kennen, das vertrauensvoll, bezaubert und heiter dessen farbige Überraschungen betrachtet, erwacht plötzlich aus seinem blauen Dahindämmern und flüstert ängstlich, mit starrem Blick, angehaltenem Atem und bebenden Lippen: »Was ist das, warum, weswegen?« Ein Betrunkener torkelt daher, ein Blinder tastet mit seinem Stock nach dem Weg,

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ein Epileptiker stürzt auf den Gehsteig, ein Dieb wird abgeführt, ein Pferd verendet, ein Hähnchen wird geschlachtet. »Warum? Wozu das alles?« Der Vater spricht mit zorniger Stimme, und die Mama weint immerfort. Onkelchen hat das Dienstmädchen geküsst, sie hat ihm gedroht, und jetzt lachen beide und sehen einander in die Augen. Man spricht empört über irgendjemand, man sagt, dass er unter einem Unglück verheißenden Stern geboren sei und dass man ihm daher die Knochen brechen müsse. »Was heißt das, warum?« Das Kind wagt nicht zu fragen. Es fühlt sich ganz klein, einsam und ratlos angesichts des Ringens geheimnisvoller Mächte. Das Kind, das zuvor den Ton angegeben hatte, dessen Wunsch Befehl gewesen war, das Weinen und Lachen als seine Waffen einzusetzen verstand und das sich im Besitz von Mama, Papa und der Kinderfrau reich fühlte – dieses Kind bemerkt nun, dass es von den anderen als Spielzeug betrachtet wird, dass es für die anderen da ist und nicht die anderen für es selbst. Wachsam wie ein kluger Hund, wie ein gefangener Königssohn, blickt es um sich und erblickt sich selbst. Die anderen wissen etwas, und sie verheimlichen es. Sie sind nicht das, was sie zu sein vorgeben, und sie fordern, das Kind solle nicht das sein, was es eigentlich ist. Sie singen das Lob der Wahrheit; selbst aber lügen sie und heißen einen, die Unwahrheit zu sagen. Sie sprechen ganz anders zu Kindern als untereinander. Sie lachen die Kinder aus. Sie haben ihr Leben, und sie sind erbost, wenn ein Kind in ihre Kreise einzudringen versucht; sie wollen, dass es leichtgläubig sei, und sie freuen sich, wenn es durch naive Fragen verrät, dass es ihre Welt noch nicht begreift. Tod, Tier, Geld, Wahrheit, Gott, Weib, Verstand – in all dem ist so etwas wie ein falscher Ton, ein unheimliches Rätsel, ein böses Geheimnis. Warum wollen sie nicht sagen, wie es wirklich ist? Und das Kind denkt traurig an seine frühen Jahre zurück. 101. Den zweiten Zeitabschnitt der Unausgeglichenheit, von dem ich mit Bestimmtheit nur aussagen kann, dass es ihn wirklich gibt, habe ich »Schulzeit« genannt. Diese Bezeichnung ist eine Ausflucht, eine Umschreibung des Nichtwissens; sie ist eine von den vielen Benennungen, die von der Wissenschaft in Umlauf gesetzt werden, um die Laien zu täuschen und den Anschein zu erwecken, sie sei wissend, wo sie doch eben erst zu ahnen beginnt. Die Phase der Unausgeglichenheit nach dem Schuleintritt ist nicht der Umschlag, der an der Grenze zwischen dem Kleinkindalter und der frühen Kindheit erfolgt; er hat nichts mit der Reifezeit zu tun.

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Physisch: ungünstige Veränderungen im Aussehen, im Schlafen, im Essen, verminderte Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten, das Hervortreten ererbter Mängel und ein schlechtes Allgemeinbefinden. Psychisch: Vereinsamung, seelisches Ungenügen, feindliche Haltung gegenüber der Umgebung, moralische Anfälligkeit und schließlich Aufruhr der angeborenen Neigungen gegen aufgezwungene erzieherische Einflüsse. »Was ist mit dem Kind los? Ich erkenne es ja gar nicht wieder« – so charakterisiert eine Mutter diesen Zustand. Manchmal heißt es auch: »Ich habe gedacht, das seien Launen; ich war darüber böse und habe es gerügt – offenbar aber war es schon lange krank.« Eine Mutter ist überrascht, die enge Verbundenheit der physischen und der psychischen Veränderungen wahrzunehmen: »Ich habe das dem schlechten Einfluss seiner Kameraden zugeschrieben.« Gewiss – aber warum ist unter den vielen Kameraden seine Wahl gerade auf diese bösen Kinder gefallen, weshalb haben sie so schnell Gehör gefunden und so schnell Einfluss gewonnen? Ein Kind, das sich unter Schmerzen von den ihm nahestehenden Menschen löst und nur noch locker mit der Gemeinschaft seiner Kinderzeit verbunden ist, empfindet umso größeres Leid, als es keine Hilfe findet, als es keinen Menschen hat, an den es sich um Rat wenden und dem es vertrauen kann. Wenn man diesen kleinen Veränderungen in einem Internat mit vielen Kindern begegnet, wenn von den hundert Kindern heute eines, morgen ein zweites »schlecht wird«, plötzlich faul, tolpatschig, verschlafen, launisch, aufreizend, undiszipliniert wird, wenn es zu lügen beginnt, um nach einem Jahr wieder ins Gleichgewicht zu kommen, »sich zu bessern« – dann besteht kein Zweifel daran, dass diese Veränderungen vom Wachstumsprozess abhängen, dessen Gesetzmäßigkeit durch objektive, unparteiische Instrumente erkannt werden kann: durch Gewicht und Maß. Ich sehe die Zeit kommen, in der Gewicht und Maß oder vielleicht andere vom menschlichen Genius erdachte Werkzeuge zum Seismographen für die verborgenen Kräfte des Organismus werden, in der sie nicht nur Erkenntnis, sondern auch Vorausschau ermög­lichen. 102. Es trifft nicht zu, dass ein Kind sich die Scheiben aus dem Fenster heraus und die Sterne vom Himmel herab wünscht, dass es mit Nachsicht und Nachgiebigkeit zu bestechen ist und dass es ein eingefleischter Anarchist ist. Nein, das Kind hat ein Gefühl für Pflichten, sofern sie ihm nicht gewaltsam aufgezwungen werden, es ist durchaus für Planung und Ordnung, es hält sich an Regeln und Verpflichtungen. Es verlangt lediglich, dass die Bürde nicht allzu schwer sei, dass sie den Nacken

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nicht durchscheuere und dass es Verständnis finde, wenn es zaudert, wenn es ausrutscht oder wenn es ermattet stehen bleibt, um Atem zu schöpfen. Versuche es nur (wir passen schon auf, ob du es schaffst), wie viele Schritte du mit deiner Last gehen kannst, ob du täglich so viel bewäl­tigen kannst – das ist der oberste Grundsatz der Orthophrenie. Das Kind will ernst genommen werden, es verlangt Vertrauen, erwartet Weisungen und Ratschläge. Wir verhalten uns ihm gegenüber unernst, wir verfolgen es ständig mit unserem Argwohn, wir stoßen es durch mangelndes Verständnis ab, und oftmals verweigern wir ihm sogar die erforderliche Hilfe. Die Mutter will dem Arzt bei der Konsultation nichts von dem eigentlichen Sachverhalt sagen; sie zieht es vor, ihm mit Gemeinplätzen zu kommen: »Das Mädchen ist nervös, launisch, ungehorsam.« »Tatsachen, Verehrteste, Symptome.« »Sie hat ihre Freundin gebissen. Es ist eine wahre Schande. Und dabei liebt sie die Kleine und spielt immer mit ihr.« Ein Gespräch von nur fünf Minuten mit dem Kinde genügt: Es hasst die »Freundin«, die es auslacht, sich über seine Kleider lustig macht und seine Mutter eine »Lumpensammlerin« genannt hat. Ein anderes Beispiel: Das Kind hat Angst, allein in einem Zimmer zu schlafen, und es gerät bei dem Gedanken an die herankommende Nacht in Verzweiflung. »Warum hast du mir das nicht gesagt?« »Ich hab es doch gesagt.« Die Mutter hatte das nicht so ernst genommen: Es war ja auch beschämend, dass ein so großer Junge sich noch fürchtete. Ein weiteres Beispiel: Der Junge hatte sein Kindermädchen angespuckt und sie an den Haaren gezogen; nur mit Mühe konnte man ihn losreißen. Die Bonne hatte ihn nachts in ihr Bett genommen und ihn geheißen, sich an sie zu schmiegen; sie hatte ihm gedroht, ihn in einen Koffer zu stecken und in den Fluss zu werfen. Ein Kind in seinem Leid kann entsetzlich einsam sein. 103. Ein angemessener Zeitraum zufriedener Ausgeglichenheit. Selbst »nervöse« Kinder werden wieder ruhig. Die Lebhaftigkeit und Frische der Kindheit, die Harmonie der Lebensfunktionen stellen sich wieder ein. Achtung vor älteren Menschen, Gehorsam und auch gute Manieren verstehen sich jetzt wieder von selbst; es gibt keine beunruhigenden Fragen, keine Launen und kein Überdie-Stränge-Schlagen mehr. Die Eltern sind wieder zufrieden. Das Kind fügt sich äußerlich der Gedankenwelt und der Einstellung der Familie sowie seiner Umwelt ein, und es genießt dabei eine bedingte Freiheit; es verlangt nicht mehr, als man ihm zugesteht, und es hütet sich davor, Ansichten zu äußern, von denen es von vornherein weiß, dass sie auf Ablehnung stoßen.

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Die Schule mit ihrer machtvollen Tradition, ihrem wimmelnden bunten Leben, ihrer strengen Planung und ihren Anforderungen, ihren Sorgen, Niederlagen und Triumphen, aber auch die Gemeinschaft mit dem Buch stellen jetzt den Inhalt des Lebens dar. Die Tatsachen selbst lassen für fruchtloses Grübeln keinen Raum mehr. Das Kind weiß jetzt bereits, dass auf dieser Welt nicht alles in Ordnung ist, dass es Gut und Böse gibt, Wissen und Unwissenheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Ungebundenheit und Abhängigkeit. Wenn es etwas nicht versteht – dann eben nicht – was geht es das schließlich auch an. Es fügt sich, es schwimmt eben mit dem Strom. Gott? Gewiss muss man beten, und gewiss muss man in Zweifelsfällen dem Gebet auch ein Almosen hinzufügen, wie das alle tun. Sünde? Die Reue stellt sich ein, und Gott vergibt. Tod? Da muss man eben weinen; man trägt Trauer und denkt unter Seufzen an den Verstorbenen zurück, wie es alle machen. Sie wollen haben, dass man vorbildlich, fröhlich, naiv und den Eltern dankbar sei – aber gewiss doch, ich stehe zu Diensten. »Bitte, danke, Verzeihung, Mama lässt grüßen, ich wünsche aus ganzem Herzen (nicht nur aus einer Hälfte)« das ist alles so einfach, so leicht; es bringt einem Lob ein und ist der Preis dafür, dass man in Ruhe gelassen wird. Das Kind weiß, wann, an wen und wie man sich mit welcher Bitte zu wenden hat, wie man sich geschickt aus einer peinliehen Situation herauswindet, wie man wen zufriedenstellt; und es berechnet nur, ob es sich »lohnt«. Ein gutes seelisches Selbstgefühl, physisches Wohlergehen machen es nachsichtig und zu Zugeständnissen bereit: Die Eltern sind im Grunde gut, die Welt ist im Allgemeinen angenehm, das Leben, von Kleinigkeiten abgesehen, schön. Diese Etappe, die von den Eltern ausgenutzt werden kann, damit sie sich und das Kind auf neue bevorstehende Aufgaben vorbereiten, ist ein Zeitraum naiven Friedens und sorglosen Ausruhens. »Arsenik- und Eisenpräparate haben da geholfen, eine gute Lehrerin, das Schlittschuhlaufen, die Zeit in der Sommerfrische, die Beichte, die Strafpredigt der Mutter.« Eltern und Kind geben sich der Täuschung hin, dass sie sich bereits in Harmonie befänden, dass sie alle Schwierigkeiten überwunden hätten – während doch die Funktion der Fortpflanzung, die ebenso wichtig wie das Wachstum ist und vom Menschen unserer Tage kaum beherrscht wird, den kontinuierlichen Prozess der Persönlichkeitsentwicklung schon bald in tragischer Weise komplizieren, den Geist trüben und den Körper attackieren wird. 104. Auch in diesem Falle haben wir lediglich das Bemühen um die Wahrheitsfindung und nur geringe Fortschritte zu ihrer Erkenntnis zu verzeichnen, und es

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droht uns der gefährliche Irrtum, die Wahrheit bereits zu besitzen, wo wir doch nur ihre schattenhaften Umrisse ahnen. Weder »Zeiten der Unruhe« noch »Perioden der Ausgeglichenheit« erklären das Phänomen; sie sind nur dessen gängige Benennung. Wenn wir uns zu Herren eines Geheimnisses gemacht haben, so fassen wir es in objektive mathematische Formeln; andere Geheimnisse, denen wir ratlos gegenüberstehen, machen uns kopfscheu und erregen uns. Feuer, Überschwemmung und Hagel sind Katastrophen, aber nur nach Maßgabe des Schadens, den sie angerichtet haben; daher stellen wir eine Feuerwehr auf, bauen Deiche, schließen Versicherungsverträge ab und setzen uns zur Wehr. Frühling und Herbst sind uns vertraut. Um den Menschen aber ringen wir vergebens; da wir ihn nicht kennen, verstehen wir es auch nicht, unser Leben mit dem des Mitmenschen zu einer harmonischen Übereinstimmung zu bringen. Hundert Tage führen zum Frühling hin. Noch sprießt kein Halm, und keine Knospe springt; in der Erde aber und in den Wurzeln liegt schon die Weisung des Frühlings, der insgeheim bereits da ist, bebend wartet, anschwillt unterm Schnee, in den kahlen Ästen, im Froststurm, um plötzlich in voller Blütenpracht hervorzubrechen. Nur eine oberflächliche Betrachtung nimmt in dem wechselhaften Wetter eines Märztages nichts als chaotische Unordnung wahr; dort in der Tiefe gibt es etwas, das folgerichtig von Stunde zu Stunde reift, sich aufstaut und einordnet; wir können nur die eisernen Gesetze des astronomischen Jahres nicht von ihren zufallsbedingten flüchtigen Überschneidungen unterscheiden, da diese anderen, uns wenig oder gar nicht bekannten Gesetzen gehorchen. Es gibt keine Grenzpfähle zwischen den einzelnen Lebensphasen; wir errichten sie so, wie wir die Weltkarte verschiedenfarbig kolorieren und künstliche Staatsgrenzen ziehen, die wir alle paar Jahre ändern. »Es wird da schon herauswachsen, das ist ein Übergangsalter, das ändert sich« – und der Erzieher wartet mit nachsichtigem Lächeln, bis ein glücklicher Zufall ihm zur Hilfe kommt. Jeder Forscher liebt seine Arbeit um ihrer qualvollen Bemühungen und um der Wonne des Kämpfens willen; wenn er sich aber seinem Gewissen verpflichtet fühlt, kann er sie auch verabscheuen: aus Furcht vor den Irrtümern, die sie in sich birgt, und vor ihren oft nur scheinbar richtigen Ergebnissen. Jedes Kind durchlebt Phasen von Altersmüdigkeit, aber auch Phasen trunkenen, überschäumenden Lebenswillens; aber das bedeutet nicht, dass man nachgeben und es schonen sollte; das bedeutet aber auch nicht, dass man dagegen angehen und es abhärten müsse. Das Herz kommt mit dem Wuchs des Körpers nicht mit; also muss man ihm Ruhe gewähren. Vielleicht sollte man es aber auch zu einer lebhafteren Tätigkeit anregen, damit es sich kräftigt und größer wird? Diese Frage

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lässt sich nur im Einzelfall und im gegebenen Augenblick entscheiden. Notwendig ist jedoch, dass wir das Vertrauen des Kindes gewinnen; das Kind verdient es, dass wir ihm Glauben schenken. Vor allem aber tut es not, dass die Wissenschaft wirkliche Erkenntnisse schafft. 105. Von Grund auf ist all das zu revidieren, was wir heute der Reifungsperiode zuschreiben; wir betrachten diese ganz zu Recht als ernst zu nehmende Entwicklungsphase. Es ist nur die Frage, ob ihre Bedeutung nicht übertrieben wird, ob sie nicht einseitig und vor allem ohne Differenzierung der zusammenwirkenden Faktoren gesehen wird. Würde nicht erst die Kenntnis der vorausgehenden Entwicklungsetappen eine objektivere Betrachtung dieser Phase ermöglichen – einer Phase, die zwar neu auftritt, im Grunde aber doch nur eine von vielen Phasen der Unausgeglichenheit ist und von ähnlichen Symptomen wie die vorangegangenen begleitet wird? Könnte man diesem Zeitraum damit nicht seine ungesunde, geheimnisvolle Ausnahme­stellung nehmen? Haben wir die Jugend in der Pubertätszeit nicht in die Uniform der »Unausgeglichenheit« und der »Unruhe« gesteckt, die ebenso wenig passte wie die Charakterisierung »heiter« und »sorglos« auf die Kindheit? Wirkt diese Vorstellung nicht geradezu suggestiv auf die Jugend? Beeinflusst unsere Ratlosigkeit nicht den stürmischen Verlauf der Pubertätszeit? Ist nicht allzu oft die Rede vom erwachenden Leben, vom Morgenrot, vom Frühling und von stürmischen Erregungen, zu selten jedoch von den faktischen Gegebenheiten der Wissenschaft? Was überwiegt: das Phänomen eines allgemeinen beträchtlichen Wachstums, oder nur das der Entwicklung einzelner Organe? Was ist von den Veränderungen im System der Blutgefäße und des Herzens, von der verminderten oder qualitativ veränderten Oxydation der Gehirnzellen und ihrer Ernährung und was von der Entwicklung der Drüsen abhängig? Wenn bestimmte Erscheinungen unter Jugendlichen eine Panik hervorrufen, die schwere Verwundungen hinterlässt, viele Opfer kostet, die Reihen lichtet und Verderben mit sich bringt – dann geschieht dies nicht deshalb, weil das so sein muss, sondern weil es unter den gegenwärtigen sozialen Bedingungen geschieht; gegenwärtig begünstigen alle Umstände einen derartigen Verlauf und damit einen Bruch der Lebensbahn. Ein erschöpfter Soldat erliegt leicht einer Panik; leichter aber greift eine Panik um sich, wenn der Soldat seinen Führern misstraut, Verrat wittert und die ­Unentschlossenheit seiner Vorgesetzten bemerkt; noch leichter kommt eine Panik zustande, wenn der Soldat unruhig ist und nicht weiß, wo er sich befindet und was vor ihm, in den Flanken und in seinem Rücken vor sich geht; am leichtesten aber bricht eine Panik aus, wenn er von einem Angriff überrascht wird. Ein-

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samkeit begünstigt eine Panik; in der geschlossenen Kolonne dagegen, wenn der ­Soldat Schulter an Schulter marschiert, wird er von ruhiger Überlegung beherrscht. Genauso stößt die vom Wachstumsprozess strapazierte und einsame Jugend, die ohne verständnisvolle Führung im Labyrinth schwieriger Lebensfragen herumirrt, plötzlich auf einen Feind; es kommt noch hinzu, dass sie eine übertriebene Vorstellung von seiner zermalmenden Gewalt hat, ohne dass sie weiß, woher diese feindliche Macht kommt, wie man sich vor ihr verbergen und wie man sich gegen sie verteidigen kann. Noch eine Frage: Verquicken wir nicht die Pathologie der Pubertätszeit deshalb mit ihrer Physiologie, weil wir nur die maturitas difficilis, den schwierigen Reifungsprozess, im Auge haben und unsere Ansichten darüber durch die Medizin bestimmt sind? Wiederholen wir hier nicht einen Fehler, der hundert Jahre lang gemacht wurde, als man alle unerwünschten Symptome bei einem Kinde bis zu drei Jahren dem Zahnen zuschrieb? Was heute von der Legende über »die Zähnchen« übriggeblieben ist, das wird hundert Jahre später vielleicht ebenso von der »geschlechtlichen Reifung« gelten. 106. Die Forschungen Freuds über das Sexualleben der Kinder haben zwar das Kindheitsalter befleckt – haben sie aber nicht auch das Bild eben dieser Jugend von falschen Vorstellungen befreit? Das Verschwinden der liebgewordenen Illusionen von der unbefleckten Reinheit des Kindes brachte auch die Auflösung einer anderen quälenden Fehlmeinung mit sich: dass plötzlich »das Tier im Kind erwacht und es in den Sumpf schleudert«. Ich habe diese weit verbreitete Phrase hier benutzt, um desto eindringlicher zu betonen, wie fatalistisch unsere Auffassung von der Entwicklung eines Triebes ist, der so eng mit dem Leben verbunden ist wie das Wachstum selbst. Der Nebel diffuser Gefühle, dem nur eine bewusste oder unbewusste Verderbtheit vorzeitig Gestalt verleiht, ist kein Makel, es ist kein Makel und ebensowenig ein nichtiges »Etwas«, das langsam und in jahrelangem Ablauf den Empfindungen der beiden Geschlechter immer kräftigere Farbe verleiht bis hin zu dem Augenblick, da in der Zeit des ausgereiften Triebes und der voll entwickelten Organe die Empfängnis eines neuen Lebewesens erfolgt, des nächsten Gliedes in der Kette der Generationen. Die Geschlechtsreife: Der Organismus ist bereit, ohne Schaden für das eigene Wohlergehen einen gesunden Nachkommen zu schaffen. Die Reife des Geschlechtstriebs: das deutlich akzentuierte Verlangen nach einer normalen Verbindung mit einer Person anderen Geschlechts.

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Bei der männlichen Jugend setzt das Geschlechtsleben manchmal sogar schon vor der Reife des Geschlechtstriebs ein; bei Mädchen ist die Frage komplizierter, da sie vom Zufall der Eheschließung oder einer Vergewaltigung abhängig ist. Ein schwieriges Problem; aber umso unbegreiflicher ist die Sorglosigkeit der Erwachsenen, solange das Kind vollkommen unwissend ist, und ihre Entrüstung, wenn es etwas zu ahnen scheint. Wenn das Kind sich mit seinen Fragen auf verbotenes Gebiet wagt – weisen wir es nicht deswegen so oft rücksichtslos ab, dass es eingeschüchtert wird und auch künftig nicht mehr wagt, darauf zurückzukommen? Tun wir dies nicht auch dann, wenn es nicht mehr nur zu ahnen, sondern bereits zu empfinden beginnt? 107. Die Liebe. Die Kunst hat sie in Pacht genommen, ihr die Flügel gestutzt und ihr die Zwangsjacke übergestreift; abwechselnd hat sie vor ihr das Knie gebeugt und sie ins Gesicht geschlagen, sie auf den Thron erhoben und ihr befohlen, an Straßenecken Passanten heranzuwinken; sie hat hundert Formen unsinniger Verehrung erdacht und sie unzählige Male geschändet. Aber die glatzköpfige bebrillte Wissenschaft hat sie nur dann für bemerkenswert erachtet, wenn sie ihre Eiterbeulen untersuchen konnte. Die Physiologie der Liebe kennt nur das einseitige: »Sie dient der Erhaltung der Art.« Das ist ein bisschen zu wenig, zu armselig. Die Astronomie weiß mehr als dies, dass die Sonne leuchtet und wärmt. Und so geschah es, dass die Liebe oftmals schmutzig und abgerissen, immer aber verdächtig und lächerlich erscheint. Nur die Bindung, die sich nach der Geburt eines legitimen gemeinsamen Kindes einstellt, gilt als achtenswert. Deshalb lachen wir, wenn ein Sechsjähriger die Hälfte von seinem Stück Kuchen einem kleinen Mädchen abgibt; wir lachen, wenn ein Mädchen auf die Verbeugung eines Pennälers hin errötet. Wir lachen, wenn wir einen Buben dabei ertappen, wie er ein Foto von »ihr« anstarrt; wir lachen, wenn sie hinausstürzt, um dem Korrepetitor ihres Bruders die Tür zu öffnen. Aber wir runzeln die Stirn, wenn er und sie ein wenig zu leise miteinander spielen, oder wenn sie ihre Kräfte messen und atemlos zu Boden stürzen; und wir werden zornig, wenn die Liebe der Tochter oder des Sohnes unseren Absichten zuwiderläuft. Wir lachen, wenn alles noch weit entfernt ist, wir machen ein saures Gesicht, wenn die Sache ernst wird, und wir entrüsten uns, wenn unsere Rechnung nicht aufgeht. Wir verletzen die Kinder mit unserem Gespött und unseren Verdächtigungen, und wir entehren ein Gefühl, wenn es uns nichts einbringt. Daher verbergen sie es, dass sie einander lieben. Er liebt sie, weil sie nicht so eine Gans ist wie alle anderen, weil sie lustig ist und sich nicht zankt, weil sie ihr Haar offen trägt, weil sie keinen Vater hat und weil sie so lieb ist.

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Sie liebt ihn, weil er nicht so ist wie alle anderen Jungen, weil er ein Lausbub ist, über den man lachen muss, weil er blitzende Augen hat und solch einen schönen Namen, und weil er so ein lieber Kerl ist. Sie lieben einander heimlich. Er liebt sie, weil sie einem Engel auf dem Bilde eines Seitenaltars ähnlich sieht, weil sie rein ist; er aber ist absichtlich in eine verrufene Straße gegangen, um »so eine« vor einer Haustür stehen zu sehen. Sie liebt ihn, weil er mit der einen Bedingung einverstanden wäre: Nie und nimmer möchte sie sich in seiner Gegenwart ausziehen. Er würde ihr zweimal im Jahr einen Handkuss geben, einen richtigen aber nur einmal. Sie erfahren alle Liebesempfindungen außer der einen, die auf verletzende Weise verdächtigt wird: »Anstatt herumzupoussieren solltest du lieber … Anstatt dass ihr euch mit Liebesgeschichten den Kopf verdreht, wäre es besser …« Warum spionieren sie einem nach, und warum hetzen sie? Ist es denn schlimm, dass er sie liebt? Er liebt sie ja nicht einmal richtig, sondern er mag sie nur sehr gern. Mehr als die Eltern? Vielleicht ist gerade das eine Sünde? Wenn nun jemand sterben müsste? Mein Gott, ich bitte doch um Gesundheit für alle. Liebe in der Pubertät ist ganz und gar nichts Neues. Die einen lieben einander schon, solange sie noch Kinder sind, und die anderen machen sich schon als Kinder über die Liebe lustig. »Ist das deine Freundin? Hat sie dir schon etwas gezeigt?« Und der Junge, der beweisen will, dass sie nicht seine Freundin ist, stellt ihr ein Bein oder zieht sie an den Zöpfen, dass es wehtut. Ob wir nicht vorzeitig Ausschweifungen begünstigen, wenn wir »vorzeitige« Liebesregungen unterdrücken? 108. Die Pubertätszeit ist wie alle vorhergehenden Entwicklungsphasen kein stufenweises Fortschreiten, sondern sie läuft einmal langsamer und dann wieder in einem lebhafteren Tempo ab. Betrachten wir die Gewichtskurve, so verstehen wir Symptome wie Ermattung, Ungeschicklichkeit, Faulheit, Herumdösen, unsichere Halbtöne, Blässe, Verschlafenheit, Willensmangel, launisches Wesen und Unentschlossenheit, die dieses Lebensalter charakterisieren. Nennen wir es das Alter der großen »Unausgeglichenheit«, um es von ähnlichen, vorausgegangenen Phasen zu unterscheiden. Das Wachsen ist eine Arbeit, eine schwere Arbeit des Organismus; die modernen Lebensbedingungen bringen ihr jedoch nicht eine einzige Schulstunde und nicht einen einzigen Arbeitstag in der Fabrik zum Opfer. Wie oft läuft das Wachstum hingegen wie eine Krankheit ab: Sei es, dass es vorzeitig einsetzt oder allzu plötzlich, sei es, dass es von der Norm abweicht.

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Die erste Menstruation ist für ein kleines Mädchen eine Tragödie, weil man es dazu gebracht hat, sich beim Anblick von Blut zu entsetzen. Die Entwicklung seiner Brust macht es traurig, weil es gelernt hat, sich seines Geschlechts zu schämen; die Brust verrät es jedoch, dass es nun ein großes Mädchen ist, und alle können das jetzt sehen. Ein Junge, der physiologisch dasselbe durchmacht, reagiert psychisch ganz anders. Er wartet sehnsüchtig auf den ersten Bartflaum, denn das ist für ihn eine Verheißung, ein Versprechen, wenn er sich auch seiner Krähstimme und der Windmühlenarme schämt; daran sieht er, dass er noch nicht so weit ist, dass er noch warten muss. Ist es nicht so, dass die oft benachteiligten Mädchen die sichtlich bevorzugten Jungen beneiden und ihnen ihre Abneigung deutlich zeigen? Ja, früher, wenn ein Mädchen bestraft wurde, war immer wenigstens ein kleines Schuldgefühl vorhanden; aber es kann doch nichts dafür, dass es kein Junge ist? Mädchen beginnen früher, ihre äußeren Formen zu verändern, und sie sind froh und stolz auf diese ihre einzige »Bevorzugung«. »Ich bin nun schon fast erwachsen, und du bist noch eine Rotznase. Ich kann in drei Jahren schon einen Mann nehmen, und du sitzt immer noch über deinen Büchern.« Die liebe Spielgefährtin aus der Kinderzeit erntete ein verächtliches Lächeln. »Du willst einen Mann nehmen – aber ob dich auch einer nimmt? Ich komme auch ohne Ehe zu meinem Recht.« Sie reift zeitiger zur Liebe heran, er zu Liebschaften, sie zur Ehe, er zu Saufereien, sie zur Mutterschaft, er zum kurzlebigen Zusammensein mit einem Weibchen »nach Art der Fliegen« wie Kuprin20 sagt, »die für eine Sekunde auf dem Fensterrahmen zusammenhaften und sich dann in dümmlicher Verwunderung die Köpfe aneinander reiben und sich für alle Zeit trennen.« Die frühere Abneigung der beiden Geschlechter gegeneinander erhält eine neue Nuance, um sich bald darauf wieder zu wandeln: Sie verbirgt sich, und er stört sie auf; und endlich verhärtet sich dies in einem feindlichen Verhältnis zur eigenen Frau, die für ihn eine Last ist, ihm seine Vorrechte nimmt und diese für sich selbst ausnutzt. 109. Die früher verheimlichte Abneigung gegen die Welt der Erwachsenen erfährt eine verhängnisvolle Wandlung. So etwas geschieht recht oft: Das Kind hat etwas verschuldet, es hat eine Scheibe zerschlagen. Es sollte eigentlich ein Schuldgefühl haben. Wenn wir ihm berechtigte Vorwürfe machen, stoßen wir nur noch selten auf Reue, meist aber auf Empörung, ärgerlich gerunzelte Brauen und finstere Blicke. Das Kind will, dass der Erzieher ihm gerade dann wohlwollend begegnet, wenn es selbst schuldig ist, wenn es böse 20 Alexander I. Kuprin (1870–1918), bedeutender Vertreter des russischen literarischen Realismus.

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ist und wenn es von einem Unglück betroffen wird. Die eingeschlagene Scheibe, die vergossene Tinte, der zerrissene Anzug: Das sind missglückte Vorhaben, die sie trotz aller Warnungen unternommen haben. Wenn Erwachsene jedoch mit einem schlecht berechneten Unternehmen Schiffbruch erleiden – wie ertragen sie Vorwürfe, Ärger und Schimpfen? Dieser Widerwille gegen die strengen und unnachsichtigen Herren besteht, wenn das Kind die Erwachsenen für höhere Wesen hält. Plötzlich ertappt es diese auf frischer Tat. »Aha, so ist das also, das also ist euer Geheimnis, deswegen habt ihr es verheimlicht; da hattet ihr in der Tat Grund, euch zu schämen.« Es hatte auch früher schon manches gehört, es aber nicht geglaubt; es hatte noch Zweifel, und das ging es auch gar nichts an. Jetzt will es so etwas wissen, möchte es von jemandem erfahren; es braucht dieses Wissen für seine Auseinandersetzung mit den Erwachsenen, und schließlich fühlt es sich selbst schon in diese Frage hinein verwickelt. Früher hieß es: »Dies weiß ich nicht, aber das weiß ich ganz sicher«, jetzt aber ist alles ganz offenkundig. »Man kann also Kinder wollen und doch keine haben; darum also kann auch ein Fräulein Kinder kriegen; man braucht also gar keine Kinder zu bekommen, wenn man nicht will; darum also tun es manche für Geld, deswegen gibt es solche Krankheiten, darum tun es alle?« Und die leben so zusammen, als ob nichts wäre, und sie schämen sich auch nicht voreinander. Ihr Lächeln, ihre vielsagenden Blicke, Verbote, Befürchtungen, Verlegenheiten und Andeutungen, alles, was früher undurchsich­tig war, wird nun verständlich und zur erschütternden Wirklich­keit. »Also gut, rechnen wir ab.« Die Polnisch-Lehrerin macht dem Mathematiker schöne Augen. »Komm, ich sag’ dir was ins Ohr.« Ein böses triumphierendes Lächeln, ein Blick durchs Schlüsselloch und die Zeichnung eines flammenden Herzens auf dem Löschblatt oder an der Wandtafel. Die Alte hat sich aber fein gemacht. Der Alte raspelt Süßholz. Der Onkel nimmt den Jungen beim Kinn und sagt: »Du bist ja noch eine Rotznase.« Nein, ich bin keine Rotznase mehr – »Ich weiß.« Noch verstellen sich die Erwachsenen, noch versuchen sie zu lügen; also muss man ihnen nachspüren, die Betrüger entlarven, sich für die Jahre der Unfreiheit, für das gestohlene Vertrauen, für die erzwungenen Zärtlichkeiten, die entlockten Geständnisse und die anbefohlene Achtung rächen. Achten und ehren? Nein, verachten, verspotten und nichts vergessen! Kämpfen gegen die verhasste Abhängigkeit!

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»Ich bin schließlich kein Kind mehr. Was ich denke, das ist meine Sache. Ihr brauchtet mich ja nicht in die Welt zu setzen. Bist du etwa neidisch auf mich, Mama? Die Erwachsenen sind auch keine Heiligen.« Oder man kann so tun, als wüsste man noch nichts, und es ausnutzen, dass sie nicht offen zu reden wagen; dann kann man ohne Worte, nur mit spöttischem Blick und verhaltenem Lächeln, sagen: »Ich weiß schon.« Der Mund dagegen sagt: »Ich weiß nicht, was dabei schlimm sein soll; ich weiß gar nicht, was ihr wollt.« 110. Man sollte immer daran denken, dass ein Kind sich nicht deshalb undiszipliniert und boshaft verhält, weil es »wissend« ist, sondern weil es leidet. Fröhlichkeit und Wohlergehen machen den Menschen nachsichtig, während Gereiztheit oder Überanstrengung ihn angriffslustig und pedantisch werden lassen. Es wäre ein Fehler zu meinen, dass Verständnis allein genüge, Schwierigkeiten zu vermeiden. Wie oft muss ein mitfühlender Erzieher seine guten Empfindungen zurückhalten und Ausschwei­f ungen Einhalt gebieten, um das Kind zu diszipliniertem Tun anzuhalten, obwohl er das gar nicht im Sinne hat. Hier werden gründliche wissenschaftliche Vorbereitung, große Erfahrung und Ausgeglichenheit auf eine harte Probe gestellt. »Ich verstehe und verzeihe, aber die Leute, die Umwelt, die werden nicht verzeihen.« »Auf der Straße musst du dich anständig benehmen, dich von allzu heftigen Heiterkeitsausbrüchen zurückhalten, keinen zornigen Regungen nachgeben, keine kritischen Bemerkungen machen und älteren Menschen Ehrerbietung erweisen.« Das ist bei allem guten Willen und allen guten Vorsätzen manchmal recht schwierig; ob das Kind im Elternhaus wohl die Voraussetzungen für unparteiische Überlegungen vorfindet, die in diese Richtung gehen? Wenn es sechzehn Jahre alt ist, sind seine Eltern ungefähr vierzig, also in einem Alter schmerzlichen Nachdenkens; manchmal kommt es hier zum letzten Protest gegen das eigene Leben, und manchmal tritt der Augenblick ein, in dem die Bilanz der Vergangenheit ein spürbares Defizit aufweist. »Was habe ich vom Leben?«, sagt das Kind. »Und was habe ich schon davon gehabt?«, fragt die Mutter. Wir ahnen wohl, dass das Kind in der Lotterie des Lebens nicht gewinnen wird; wir aber haben bereits verspielt, während ihm noch die Hoffnung lacht, und um dieser trügerischen Zuversicht willen brennt es vor Verlangen nach einem zukünftigen Glück rücksichtslos und ohne wahrzunehmen, dass es unser Grab gräbt. Entsinnt ihr euch noch des Augenblicks, als es euch am frühen Morgen mit seinem Plappern aus dem Schlaf weckte? Damals belohnten wir uns für unsere Mühe mit einem Kuss. Ja, für einen Pfefferkuchen empfingen wir das Kleinod eines dank-

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baren Lächelns. Pantöffelchen, ein Mützchen, ein Lätzchen das war alles so billig, lieb, neu und lustig. Und jetzt ist alles teuer, geht schnell entzwei, und wir empfangen keine Gegengabe, nicht einmal ein gutes Wort. Wie viele Schuhsohlen läuft das Kind auf der Jagd hinter Wunschbildern ab, wie schnell wächst es aus seinen Sachen heraus, denn es will nichts auf Zuwachs tragen. »Hier hast du was für deine kleinen Ausgaben …« Es muss sich zerstreuen, es hat seine kleinen Bedürfnisse. Es nimmt unsere Gaben nur an wie Almosen von einem feindlich gesonnenen Menschen, weil es sie notwendig braucht. Der Schmerz des Kindes trifft empfindlich auf die Schmerzen der Eltern; das Leid der Eltern überfällt die Qual des Kindes ohne Bedenken. Wenn dieses Aufeinanderprallen ohnehin schon so stark ist, um wie viel stärker wäre es erst, wenn sich das Kind nicht gegen unseren Willen, allein für sich und in einsamem Bemühen, allmählich darauf vorbereitet hätte, dass wir nicht allmächtig, allwissend und vollkommen sind. 111. Wenn man die Kinderseele in diesem Lebensalter aufmerksam beobachtet, nicht in der Gemeinschaft, sondern individuell, so trifft man auf zwei diametral entgegengesetzte Organismen. Dort finden wir das Kind, das in der Wiege leise vor sich hin wimmerte, sich sehr langsam mit eigener Kraft aufrichtete, klaglos seinen Zwieback hergab und von fern dem Kreis anderer Kinder beim Spiel zuschaute – und hier das andere, das seine Empörung und seinen Schmerz nachts in unbemerkten Tränen ertränkt. Wir finden das Kind wieder, das beim Schreien blau anlief, das man keinen Augenblick unbesorgt allein lassen durfte, das seinen Altersgenossen den Ball wegriss und kommandierte: »Na, wer spielt mit; los, gebt euch die Hände!« – Jetzt aber zwingt es seine aufrührerische Gesinnung und seine tätige Unruhe seinen Altersgenossen, ja der ganzen Gesellschaft auf. Mühsam habe ich nach einer Antwort auf die schmerzliche Frage gesucht, warum sich das rechtschaffene Denken sowohl im Gemeinschaftsleben der Kinder als auch in dem der Erwachsenen so oft verbergen muss oder genötigt ist, sich unauffällig durchzusetzen, während sich der Hochmut lauthals breitmacht; Güte gilt dagegen als gleichbedeutend mit Dummheit und Unfähigkeit. Wie oft würden überlegt handelnde Männer des öffentlichen Lebens oder gewissenhafte Politiker, wenn sie selbst nicht wissen, wem sie weichen müssen, die Erklärung dafür in Jellentas21 Worten finden: 21 Cezary Jellenta (1861–1935), Pseudonym für Napoleon Hirszband; bekannter polnischer Schriftsteller und Literaturkritiker.

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»Ich habe kein so freches Maul, als dass ich auf ihre Einfälle und Boshaftigkeiten antworten könnte, und ich kann mich nicht mit Leuten unterhalten oder vernünftig auseinandersetzen, die auf alles die großschnäuzige Antwort von Zuhältern parat haben.« Was soll man tun, dass die tätigen und die nachgiebigen Charaktere den gleichen Rang im Kreislauf eines gesellschaftlichen Organismus einnehmen und alle schöpferischen Elemente sich in ihm frei bewegen können? »Das verzeihe ich niemals. Ich weiß schon, was ich tu. Ich hab’ genug von diesem guten Mann«, so spricht die energische Empörung. »Gib lieber Ruhe. Was hast du davon? Vielleicht kommt das nur dir so vor.« Diese einfachen Sätze – Ausdruck rechtschaffenen Bedenkens oder ehrlicher Resignation – wirken beschwichtigend; sie besitzen eine größere Kraft als die kunstvolle Phraseologie der Tyrannei, die wir Erwachsenen entwickeln, wenn wir Kindern unseren Willen aufzwingen wollen. Auf einen Gleichaltrigen zu hören, ist keine Schande, wohl aber, sich von einem Erwachsenen überzeugen oder gar rühren zu lassen; denn das bedeutet, hintergangen und betrogen zu werden und sein eigenes Unvermögen anzuerkennen. Leider haben die Kinder recht, wenn sie uns nicht vertrauen. Aber wie kann man – ich wiederhole es – die Nachdenklichkeit gegen den habgierigen Ehrgeiz schützen, wie ruhige Überlegungen gegen laute Argumente, wie kann man lehren, Ideen von Trugbildern und Karrierismus zu unterscheiden, wie soll man Glaubenssätze vor Verspottung bewahren und wie jugendlichen Idealismus vor routinierter heimtückischer Demagogie? Das Kind dringt Schritt für Schritt ins Leben vor, aber nicht ins Geschlechtsleben; es reift allmählich, aber nicht in sexueller Hinsicht. Wenn du begreifst, dass du keine dieser Fragen allein, ohne die Mitwirkung der Kinder, zu lösen vermagst, wenn du ihnen alles erläuterst, was hier gesagt wurde, und du hörst dann nach Versammlungsschluss: »Na, ihr Passiven, gehen wir nach Hause! Sei nicht so aktiv, sonst kriegst du gleich eins drauf. He, du Dogmatiker, du hast meine Mütze genommen …«, dann glaube nicht, dass sie spotten, und sag nicht, es habe doch keinen Zweck … 112. Träume. Aus den Robinson-Spielen sind Reiseträume geworden, und anstatt Räuber und Gendarm zu spielen, träumt man von Abenteuern. Wieder reicht das tägliche Leben nicht hin, und daher bildet die Flucht aus ihm den Inhalt des Traumes. Da es an Gegenständen mangelt, an denen sich das Denken erproben könnte, nimmt dieses poetische Formen an. Gefühle, die keinen Aus-

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druck finden können, münden in die Traumwelt. Der Traum ist das Programm des kindlichen Lebens. Wenn wir dies zu deuten verstünden, so wüssten wir, dass Träume in Erfüllung gehen. Wenn ein Junge aus dem Volk davon träumt, Arzt zu werden, und er wird Krankenwärter, so hat er sein Lebensprogramm erfüllt. Wenn er von Reichtum träumt, aber auf Stroh stirbt, so sind seine Träume nur scheinbar zunichte geworden: er hat ja nicht von den Mühen des Gelderwerbs, sondern von den Wonnen des Geldverschleuderns geträumt; er träumte, wie er sich mit Champagner betrinken würde, in Wirklichkeit aber betrank er sich mit billigem Schnaps; er träumte von den Salons der großen Welt, in Wirklichkeit aber randalierte er in den Kneipen; er wollte mit Goldstücken um sich werfen, aber schließlich waren es nur Kupfermünzen. Er träumte davon, Pfarrer zu werden, aber er wurde doch nur Volksschullehrer oder sogar nur Hausverwalter; aber er ist doch Pfarrer als Erzieher wie als Hausverwalter. Sie träumte davon, eine gestrenge Königin zu sein; tyrannisiert sie jetzt nicht Mann und Kinder, nachdem sie einen kleinen Beamten geheiratet hat? Sie träumte, sie sei eine vielgeliebte Herrscherin; regiert sie jetzt in ihrer Volksschule nicht wie eine Königin? Sie träumte, eine berühmte Königin zu sein; hat sie jetzt nicht den Ruf einer ungewöhnlich guten Näherin oder einer Buchhalterin, wie es sie kein zweites Mal gibt? Was treibt die Jugend in das Künstlerleben der Boheme? Den einen lockt die Ungebundenheit, den anderen das Exotische, den Dritten sein Ungestüm, sein Ehrgeiz, seine Karriere, aber nur ein Einziger liebt die Kunst wirklich, und unter allen ist er allein jener wahre Künstler, für den seine Kunst nicht käuflich ist; er ist im Elend und in der Vergessenheit gestorben, aber er hat vom Sieg geträumt und nicht von äußeren Ehren und irdischen Gütern. Lest doch einmal Zolas L’Oeuvre durch; das Leben ist viel logischer, als wir meinen. Sie hatte von einem Leben im Kloster geträumt und fand sich später in einem Freudenhaus wieder – sie blieb jedoch eine barmherzige Schwester, die nach ihren »Dienststunden« ihre kranken Kolleginnen pflegt, ihre Kümmernisse und Leiden lindert. Eine andere wollte dem Vergnügen nachgehen, und nun findet sie ihr Vergnügen in einem Asyl für Krebskranke, wo Sterbende lächelnd ihrem Geplauder lauschen und noch mit verlöschendem Blick ihre heitere Gestalt umfassen … Elend … Armut … Der Gelehrte denkt, grübelt nach, macht Entwürfe, stellt Theorien und Hypothesen auf; der Jugendliche träumt, wie er Spitäler errichtet, reichliche Almosen verteilt … In den Träumen der Kindheit lebt Eros, solange Venus noch keinen Platz in ihr beansprucht. Viel Schaden richtet jene einseitige Feststellung an, dass Liebe blo-

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ßer Gattungsegoismus sei. Kinder lieben oft Personen gleichen Geschlechts, alte Leute und sogar Menschen, die sie niemals gesehen haben, ja, die nicht einmal existieren. Selbst wenn sie bereits Gefühle des Begehrens empfinden, lieben sie noch lange das Ideal, nicht den Körper. Das Bedürfnis nach Kampf, nach Stille, nach Lärm, Arbeit und Opfern; der Wunsch zu besitzen, zu genießen, zu suchen; der Ehrgeiz und die passive Nachahmung – das alles findet seinen Ausdruck im Traum, unabhängig von seiner Form und seinen Gestalten. Das Leben macht Träume wahr; aus hundert Traumbildern des Jünglings stückelt es ein Standbild der Wirklichkeit zusammen. 113. Das erste Stadium der Pubertätszeit: Ich bin schon wissend, aber ich empfinde noch nichts, ich spüre etwas, aber ich glaube es nicht, ich beurteile streng, was die Natur mit anderen tut; ich leide, weil ich bedroht bin, aber nicht sicher, ob ich davonkommen werde. Aber ich bin unschuldig, und wenn ich die anderen verachte, habe ich nur Angst um mich selbst. Das zweite Stadium: im Schlaf, im Halbschlaf, im Traum, bei einem aufregenden Spiel taucht trotz allen Widerstands, trotz eigenen Abscheus und fremden Verbots immer öfter und deutlicher ein Gefühl auf, das zu dem schmerzlichen Konflikt mit der Außenwelt auch noch die Last des Konfliktes mit sich selbst bringt. Gedanken, die man von sich weist, drängen sich wie die Ankündigung einer Krankheit, wie ein erster Fieberschauer mit Gewalt auf. Es gibt eine Inkubationsperiode sexueller Empfindungen, die einen zuerst seltsam berühren und verschüchtern und die dann sogar Angst und Verzweiflung auslösen. Die Epidemie kichernd zugeflüsterter Geheimnisse erlischt, die Erregung pikanter Neuigkeiten verliert ihren Reiz, das Kind kommt in die Phase, in der es sein Herz ausschüttet, und Freundschaften vertiefen sich; das ist jene schöne Art von Freundschaft, in der elternlose, im Dickicht des Lebens verirrte Kinder schwören, einander zu helfen, einander niemals zu verlassen und sich im Unglück nicht voneinander zu trennen. Das Kind, selbst unglücklich, neigt jetzt dazu, nicht mehr nach eingelernten Formeln, nicht mehr mit der düsteren Unruhe der Verwunderung, sondern mit warmem Mitgefühl sich jedem Elend, jedem Leid und jeder Zurücksetzung zuzuwenden. Bekümmert und allzu beschäftigt mit sich selbst, kann es nicht allzu lange Mitleid mit anderen empfinden; aber es findet einen Augenblick des Mitleids und Tränen für ein verführtes Mädchen, ein misshandeltes Kind oder einen gefesselten Sträfling. Jede neue Losung, jede Idee und jede starke Phrase finden in ihm einen aufmerksamen Zuhörer und einen begeisterten Parteigänger. Es liest die Bücher nicht mehr, sondern es saugt sie wie ein Süchtiger in sich hinein und betet um ein

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Wunder! Der liebe Gott der Kinderzeit wird später zum schuldbeladenen Gott, zum Urquell allen Unglücks und aller Laster. Er, der wohl kann, aber nicht will, stellt sich als der Gott der geheimnisvollen Macht, als Gott der Vergebung und der übermenschlichen Vernunft wieder ein. Gott wird zur stillen Zuflucht in der Stunde des Orkans. Früher hieß es: »Wenn einen die Erwachsenen zum Beten zwingen, dann ist offensichtlich auch das Gebet eine Lüge; wenn sie einen meiner Freunde aus dem Hause weisen, dann ist niemand mehr da, der mir einen Weg weisen könnte«, denn wie könnte man den Erwachsenen trauen? Jetzt ist das anders: Feindliche Ablehnung macht dem Mitleid Platz. Es genügt nicht mehr, das alles einfach nur eine »Schweinerei« zu nennen; hier ist etwas unendlich Vielschichtiges verborgen. Aber was? Ein Buch zerstreut Zweifel nur scheinbar, nur für den Augenblick, und der gleichaltrige Freund ist selbst schwach und ratlos. Der Augenblick ist gekommen, da man ein Kind wieder für sich gewinnen kann; es wartet und ist bereit, unseren Ruf zu hören. Was soll man ihm sagen? Nur nicht davon sprechen, wie Blumen befruchtet werden und Nilpferde sich vermehren, auch nicht darüber, wie schädlich Onanie ist. Das Kind spürt, dass es hier um Wichtigeres geht als um saubere Finger und ein unbeflecktes Betttuch, dass hier sein seelisches Leitprinzip, sein Wesen und seine Lebensverantwortung in Frage stehen. Ach, wenn man doch wieder ein unschuldiges Kind sein könnte, das glaubt, vertraut und nicht nachzudenken braucht! Ach, wenn man doch endlich erwachsen sein könnte, das »Übergangsalter« hinter sich lassen, wie alle anderen sein könnte! Klosterleben, Stille, fromme Meditationen! Nein, Ruhm und Heldentaten! Reisen, rasch wechselnde Bilder und Gemütsbewegungen – Tänze, Vergnügungen, Meere und Gebirge. Am besten ist der Tod; denn wozu leben, warum sich quälen? Wenn ein Erzieher sich im Laufe vieler Jahre auf diesen Augenblick vorbereitet und das Kind aufmerksam beobachtet hat, dann kann er ihm jetzt mit Rat und Tat beistehen, wie es sich selbst erkennen und überwinden kann, welcher Bemühungen es dazu bedarf und wie es seinen eigenen Lebensweg suchen soll. 114. Heller Übermut, ungebändigtes Lachen, Heiterkeit der Jugend. Ja, die Freude darüber, dass man mit vielen beieinander ist, der Triumph des erträumten Sieges, die noch von keiner bitteren Erfahrung gebrochene Zuversicht, dass wir, der Wirklichkeit zum Trotz, die Welt aus den Angeln heben werden. »Wir sind so viele, rings um uns her so viele junge Gesichter, geballte Fäuste, gesunde Zähne, wir lassen uns nicht unterkriegen.«

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Ein Schoppen Wein oder ein Glas Bier zerstreut die letzten Zweifel. Tod der alten Zeit, hoch das neue Leben, vivat hoch! Sie übersehen den einen, der mit leicht gerunzelter Stirn spottet: »ihr Dummköpfe«, sie übersehen den anderen, der mit traurigen Augen sagt: »die Armen«, und sie sind blind für den Dritten, der den Augenblick nutzen und einen neuen Anfang machen, ein Gelübde ablegen möchte, damit der edle Aufschwung nicht in einer Orgie untergeht oder in inhaltslosen Ausrufen zerstiebt … Oft halten wir gemeinschaftliche Fröhlichkeit für ein Übermaß an Energie, während sie lediglich ein Symptom gereizter Langeweile ist, die sich, ohne ihre Fesseln zu spüren, an Illusionen begeistert. Denk an das fröhliche Kind in der Eisenbahn, das ohne zu wissen, wie lange und wohin es fährt, durch die vielen Eindrücke zuerst zufriedengestellt ist, dann jedoch wegen ihres Übermaßes launisch wird und in Erwartung dessen, was noch alles kommen wird, sein fröhliches Lachen mit bitteren Tränen beendet. Versuche doch einmal zu erklären, warum die Anwesenheit von Erwachsenen »das Spiel verdirbt«, hemmend wirkt und etwas Gezwungenes in das Ganze hineinbringt … Feierlichkeit, Pomp, gehobene Stimmung; die Erwachsenen sind auf verständige Weise gerührt und ganz hingerissen von dem erhabenen Augenblick. Und da sehen zwei von diesen jungen Leuten einander in die Augen und ersticken fast vor Lachen, kämpfen mit den Tränen, um nicht herauszuplatzen, und können doch der Versuchung nicht widerstehen, sich mit den Ellenbogen anzustoßen, boshafte Bemerkungen zu machen und die Gefahr eines Skandals heraufzubeschwören. »Denk bloß daran, dass du nicht lachen darfst. Sieh mich bloß nicht an. Dass du mir bloß nicht lachst.« Und nach der Feierlichkeit: »Was hatte sie bloß für eine rote Nase. Seine Krawatte war ganz verdreht. Fast wären sie vor Lachen geborsten. Mach das mal nach: Du kannst das so gut.« Endloses Geschwätz darüber, wie lächerlich das alles war … Und noch etwas: »Sie denken, ich sei fröhlich. Lass sie doch. Das ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass sie uns nicht verstehen …« Die Jugend arbeitet gern und willig: Einige wenige Vorbereitungen dann eine große Anstrengung und eine Handlung mit deutlich erkennbarem Ziel, bei dem es um flinke Hände und Erfindungsreichtum geht. Hier ist die Jugend in ihrem Element, hier sieht man gesunde Fröhlichkeit und vergnügte Begeisterung am Werk. Planen, beschließen, sich abrackern, durchführen und über misslungene Versuche und überwundene Schwierigkeiten lachen.

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115. Die Jugend ist edelmütig. Wenn ihr es Mut nennt, dass sich ein Kind furchtlos aus einem Fenster im vierten Stockwerk hinauslehnt; wenn ihr es als Güte bezeichnet, dass es einem hinkenden Bettler die goldene Uhr gab, welche die Mama auf dem Tisch hatte liegen lassen; wenn ihr es ein Verbrechen heißt, dass es ein Messer nach seinem Bruder warf und ihm ein Auge ausschlug: Dann bin ich einverstanden. Die Jugend ist edelmütig, solange sie in dem unabsehbaren Bereich der Erwerbstätigkeit, der gesellschaftlichen Hierarchie und der Gesetze des gemeinschaftlichen Lebens noch keine Erfahrungen gesammelt hat. Diese unerfahrene Jugend glaubt noch, sie könne Zuneigung und Widerwillen, Achtung und Abscheu – ihren Gefühlen entsprechend – ganz offen zeigen. Diese unerfahrene Jugend glaubt, sie könne von sich aus Beziehungen anknüpfen oder abbrechen, überkommene Formen beachten oder geringschätzen, mit Gewohnheitsrechten einverstanden sein oder sich ihnen entziehen. »Ich pfeif’ drauf, das kümmert mich nicht, sollen sie doch reden, ich will ganz einfach nicht, was geht mich das an?« Sie können kaum Atem schöpfen, nachdem sie sich der elterlichen Gewalt wenigstens zum Teil entzogen haben – schon gibt es neue Fesseln, o weh! Nur deshalb, weil jemand reich ist oder ein »Hochwohlgeborener Herr«, und nur deswegen, weil irgendwer irgendwo irgendeinen Einfall hat oder irgendetwas zu sagen hat? Wer sagt der Jugend, welche Kompromisse lebensnotwendig sind, welche man vermeiden kann und um welchen Preis, welche zwar schmerzlich sind, aber nicht entehren, und welche verderblich sind? Und wer weist sie schließlich darauf hin, innerhalb welcher Grenzen die Beachtung der Anstandsregel, nicht auf den Fußboden zu spucken und sich die Nase nicht mit dem Tischtuch zu wischen, zwar eine Heuchelei ist – aber kein Laster? Früher haben wir dem Kind gesagt: Man wird dich auslachen. Jetzt müssen wir hinzufügen: Man wird dich aushungern. Ihr sagt: der Idealismus der Jugend. Die Illusion, dass man jemanden immer überzeugen kann und dass sich alles bessern lässt. Und was fangt ihr mit diesem Edelmut an? Ihr treibt ihn euren eigenen Kindern gründlich aus, und ihr amüsiert euch mit ebenso großem Hochgenuss über den Idealismus, den Frohsinn und die Freiheit der »Jugend« schlechthin, wie ihr euch früher über die Unschuld, die Anmut und die Liebe der eigenen Kinder amüsiert habt. Und so kommt der Irrtum zustande, dass Ideale genauso Krankheiten seien wie Röteln oder Windpocken und eine ebenso harmlose Verpflichtung wie der Besuch einer Gemäldegalerie auf der Hochzeitsreise.

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»Auch ich bin Farys22 . Ich habe Rubens gesehen.« Edelmut darf nicht dem Frühnebel gleichen, sondern er muss einem Strahlenbündel gleich sein. Wenn wir uns das noch nicht erlauben können, werden wir einstweilen nur redliche Dutzendmenschen erziehen. 116. Glücklich ist der Verfasser, der bei Beendigung seiner Arbeit gewiss sein kann, gesagt und überprüft zu haben, was er weiß, und der von sich sagen kann, dass er sein Urteil nach den von ihm erarbeiteten Normen abgegeben hat. Wenn er das Manuskript zum Druck gibt, kann er das beruhigende Gefühl haben, dass er ein lebensfähiges Geschöpf geschaffen hat. Oft ist es anders: Oftmals hat er nicht den Leser im Auge, der eine durchschnittliche Belehrung mit einem fertigen Rezept und einer Gebrauchsanweisung verlangt. Hier besteht der Schaffensprozess in angespanntem Lauschen auf die eigenen, noch nicht fest umrissenen, noch unbestätigten und plötzlich auftauchenden Gedanken. Und nun ist die Arbeit abgeschlossen; eine nüchterne Bilanz, ein schmerzliches Erwachen aus einem unruhigen Schlaf. Jedes Kapitel schaut einen vorwurfsvoll an, weil es verworfen wurde, bevor es noch entstand. Ist nicht der letzte Gedanke eines Buches der Abschluss des Ganzen, und erregt es nicht Verwunderung, weil nun nichts mehr folgt? Sollte man noch etwas hinzufügen? Das bedeutete, noch einmal zu beginnen, noch einmal zu verwerfen, was ich weiß, noch einmal auf neue Fragen zu stoßen, die ich kaum ahne, und ein neues Buch zu schreiben, das ebenso unvollendet bleiben wird. Ein Kind schenkt dem Leben der Mutter die wunderbare Melodie des Schweigens. Die Zahl der Stunden, welche die Mutter ihm widmet, obwohl es nichts von ihr fordert, sondern nur lebt, die Gedanken, mit denen sie es unermüdlich umgibt, bedeuten für sie Lebensinhalt, Aufgabe, Kraft und Schaffensfreude; in stiller Beschauung reift sie durch ihr Kind zu jener Inspiration heran, welche die erzieherische Arbeit verlangt. Nicht aus Büchern, sondern aus dir selbst! Dann wird jedes Buch zu einer kleinen Kostbarkeit; auch meine Schrift hat ihre Aufgabe erfüllt, wenn es dich davon überzeugt. Sei wachsam in kluger Einsamkeit …

22 Farys: Gestalt aus dem gleichnamigen Heldengedicht von Adam Mickiewicz.

Das Internat

1. Es ist mein Wunsch, ein Buch über ein städtisches Internat zu schreiben, in dem hundert Waisenkinder – Jungen und Mädchen im schulpflichtigen Alter – von einigen wenigen Erziehern betreut, in einem eigenen Gebäude, von einem wenig zahlreichen Hauspersonal versorgt, erzogen werden. Über Internate gibt es noch keine reichhaltige Literatur. Entweder finden wir Arbeiten, die ausschließlich hygienische Fragen behandeln, oder eine leidenschaftliche Kritik an dem Prinzip selbst, Kinder in einer größeren Gemeinschaft zu erziehen. Ich habe die farbigen und die dunklen Geheimnisse eines Internats in der Rolle eines Aufsicht führenden Erziehers in Schlafsaal, Waschraum, Wohnraum, Speisesaal, Hof und Klosett kennengelernt. Ich kenne keine Kinder in der Galauniform der Schule, ich kenne sie aber wohl in der dürftigen Kleidung ihres Alltags. Dieses Buch mag nicht nur für den Pädagogen in der Gefängnis-­Kaserne, wie sie das Internat ist, aufschlussreich sein, sondern auch für den Erzieher in der Gefängnis-Zelle der Familie, in der sich die Kinder von heute eingesperrt fühlen. Sowohl im Internat als auch in der Familie werden die Kinder geplagt; die lebhafteren versuchen, die Aufsichtspersonen hinters Licht zu führen, sich der wachsamen Kontrolle zu entziehen – hartnäckig und ohne Hoffnung kämpfen sie für ihre Rechte. Ich befürchte, die Leser könnten geneigt sein, mir Glauben zu schenken. Dann würde dieses Buch ihnen zum Schaden gereichen. Deshalb erhebe ich warnend meine Stimme: Der Weg, den ich zu meinem Ziel hin eingeschlagen habe, ist weder der kürzeste noch der bequemste; für mich jedoch ist er der beste, weil er mein eigener Weg ist. Nicht ohne Mühe und nicht ohne Schmerz habe ich ihn gefunden, und auch erst dann, als ich begriffen hatte, dass alle Bücher, die ich studiert hatte, dass die Erfahrungen anderer und fremde Meinungen trügerisch waren. Verleger drucken manchmal goldene Worte großer Geister; wie viel nützlicher wäre es doch, eine Sammlung von irrigen Meinungen zu veröffentlichen, die von den Klassikern der Wahrheit und der Wissenschaft verkündet worden sind. Rousseau beginnt seinen Émile mit einem Satz, dem die gesamte moderne Vererbungslehre widerspricht.

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2. Dieses Buch soll möglichst kurz werden, denn es ist in erster Linie für einen jungen Erzieher bestimmt, der plötzlich in die Strudel der schwierigsten pädagogischen Fragen, der verworrensten Lebensbedingungen gerät und der – halb betäubt und kleinmütig – nach Hilfe verlangt. Dem Ärmsten bleibt nicht viel Zeit für gründliche Studien. In der Nacht ist er zweimal geweckt worden: Ein Kind hatte Zahnweh, es fing an zu weinen – er musste es trösten und behandeln. Kaum war er wieder eingeschlafen, da weckte ihn ein anderes Kind; es hatte einen schrecklichen Traum gehabt: Tote Männer, Räuber – sie wollten es erschlagen und in den Fluss werfen; so musste er es wieder beruhigen und zum Schlafen bringen. Ein schläfriger Mensch kann abends keine dicken pädagogischen Bücher mehr lesen, weil ihm die Augen zufallen und weil er unausgeschlafen ist; gereizt und ungeduldig, wird er unfähig sein, die heilbringenden Grundsätze des gelehrten Werkes in die Tat umzusetzen. Ich werde mich davor hüten, seine Nachtruhe zu stören. 3. Tagsüber hat ein Erzieher keine Zeit, sich in ein Buch zu vertiefen. Kaum hat er sich zum Lesen hingesetzt, da kommt auch schon das erste Kind und beklagt sich: Ein Platznachbar hat es beim Schreiben geschubst; da hat es einen Klecks gegeben und nun weiß es nicht, soll es von vorn anfangen, es einfach so lassen oder vielleicht die Seite herausreißen. Ein anderes Kind hinkt: Es hat einen Nagel im Schuh und kann nicht richtig auftreten. Das dritte fragt, ob es die Dominosteine nehmen darf. Ein viertes bittet um den Schlüssel zum Schrank. Das fünfte gibt ein gefundenes Taschentuch ab: »Hab’ ich gefunden, weiß nicht, wem es gehört.« Ein sechstes gibt dem Erzieher vier Groschen zur Aufbewahrung, die es von seiner Tante bekommen hat. Das siebte kommt angelaufen und möchte das Taschentuch haben: »Das ist meins, ich hab es nur für einen Moment aufs Fensterbrett gelegt, und der hat’s gleich weggenommen.« Da in der Ecke spielt ein kleiner Tolpatsch mit einer Schere: Er wird sich noch etwas tun – wer hat ihm nur die Schere gegeben? Mitten im Zimmer ein lebhafter Streit, gleich wird es zu einer Schlägerei kommen – das muss man verhindern. Das Kind, das in der Nacht Zahnschmerzen hatte, läuft jetzt herum wie toll, stößt gegen die Bank mit den schreibenden Kindern, reißt einen Federhalter herunter, und in der Nacht wird es vielleicht wieder Zahnschmerzen bekommen. Ein Erzieher muss schon sehr willensstark sein, um sich dazu aufzuraffen, ein Buch – und sei es auch nur eine dünne Broschüre – durchzuarbeiten. 4. Aber ihm ist es nicht sehr darum zu tun, denn er glaubt nicht so recht daran, dass ihm das etwas nützt.

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Der Verfasser weist mit vielen Zitaten nach, dass er ein Gelehrter ist. Längst Bekanntes wiederholt er noch einmal. Die gleichen frommen Wünsche, die gleichen barmherzigen Lügen und Ratschläge, die sich nicht verwirklichen lassen. Der Erzieher sollte … sollte … sollte. Aber schließlich muss er alle kleinen und großen Dinge ganz allein entscheiden, so wie er es weiß und kann, und was am wichtigsten ist – so, wie er es vermag. »Das mag in der Theorie gut und recht sein«: So tröstet er sich in seinem Kummer. Und der Erzieher hegt keine guten Gefühle für einen Autor, der da in aller Ruhe an seinem bequemen Schreibtisch sitzt und seine Vorschriften diktiert – ohne es nötig zu haben, mit der lebhaften, lauten, zudringlichen und widerspenstigen kleinen Bande unmittelbar in Berührung zu kommen, deren Sklave jeder ist, der nicht ihr Tyrann sein will, und aus deren Mitte dir tagtäglich ein anderes Kind das Leben so vergällt, dass die Übrigen dich kaum aufzuheitern vermögen. Warum reizt man ihn eigentlich mit dem Trugbild hoher Wissenschaft, bedeutender Aufgaben und erhabener Ideale, während er doch nur ein halbvergessener Tagelöhner ist und es auch bleiben muss? 5. Er fühlt, dass ihm der Schwung verloren geht, der ihn mit frischer Kraft die Arbeit beginnen ließ und ihn trug, auch ohne dass es jemand befahl. Früher hatte es ihm Freude gemacht, daran zu denken, wie er ein kleines Fest veranstalten, eine Überraschung für die Kinder vorbereiten könne. Ihm lag sehr daran, dem grauen eintönigen Leben des Internats neue fröhliche Züge zu verleihen. Jetzt freut er sich schon, wenn er in sein Tagebuch jenes hoffnungslose »Alles beim Alten« eintragen kann. Wenn keinem Kind schlecht geworden ist, wenn keine Fensterscheibe eingeschlagen wurde und wenn es keine harten Worte gegeben hat, dann bedeutet das schon, dass der Tag gut überstanden wurde. Er büßt seine Energie ein: Kleine Vergehen nimmt er absichtlich nicht wahr; er gibt sich alle Mühe, eben nur das zu sehen und zu erfahren, was unbedingt notwendig ist. Er verliert seine Initiative: Früher brauchte er nur ein paar Bonbons oder ein Spielzeug für die Kinder geschenkt zu bekommen, und schon entwickelte er einen Plan, wie dieser gute Zufall am besten genutzt werden könne. Jetzt verteilt er die Leckereien rasch: Nur gleich fort damit, sonst gibt es doch nur wieder Streit, Klagen und Forderungen. Ein neues Gerät, ein neuer Gegenstand – da heißt es wieder aufpassen, damit die Kinder ihn nicht ruinieren. Ein Blumentopf auf dem Fensterbrett, ein Bild an der Wand – so viel ist zu tun, aber er weiß nicht was, er will nicht, oder er kann auch nicht. Schließlich bemerkt er das alles auch nicht mehr. Er verliert den Glauben an sich selbst. Früher gab es kaum einen Tag, an dem er nicht etwas Neues an den Kindern oder an sich selbst entdeckte. Die Kin-

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der waren ihm zugetan – jetzt meiden sie ihn. Liebt er sie wohl noch? Er ist schroff, manchmal sogar brutal. Vielleicht wird er sich bald nicht mehr von jenen unterscheiden, denen er ein Vorbild sein wollte, deren innere Kälte, Passivität und Nachlässigkeit er verabscheute? 6. Er ist sich selber gram, seiner nächsten Umgebung und den Kindern. Vor einer Woche hatte er einen Brief mit der Nachricht von der Krankheit seiner Schwester erhalten. Die Kinder erfuhren davon und achteten seinen Kummer: Leise gingen sie zu Bett. Er war ihnen dankbar dafür. Aber dann kam ein neues Schulkind an. Sie schwatzten ihm alles ab, was die Familie ihm mitgegeben hatte: alle Bonbons und einen Federkasten, auch ein paar Bilderbogen; sie drohten ihm mit Schlägen, falls er sich beklagte; und an dem schmutzigen Handel beteiligten sich auch die Kinder, die er für ganz ordentlich gehalten hatte. Da umarmt ihn ein Kind und sagt zu ihm »Ich hab dich lieb« – und bittet ihn um einen neuen Anzug. Es ist ein und dasselbe Kind: Einmal ist er gerührt und verwundert, welch ein feines Taktgefühl und wie tiefe Empfindungen in ihm stecken, und dann wieder stößt ihn die raubtierhafte Gewalttätigkeit des Kleinen ab. Einmal sagt er sich: Ich will, ich soll, ich müsste; dann wieder das hoffnungslose: Lohnt es sich denn überhaupt? Die theoretischen Grundsätze sind mit der persönlichen Erfahrung des Alltags so sehr durcheinandergeraten, dass er den Faden verloren hat – je länger er nachdenkt, desto weniger versteht er. 7. Er begreift nicht, was um ihn herum vorgeht. Er gibt sich alle Mühe, Weisungen und Verbote auf die geringste, notwendigste Anzahl zu beschränken. Er lässt den Kindern viel Freiheit – damit nicht zufrieden, fordern sie mehr. Er möchte in ihre Kümmernisse Einblick nehmen und geht auf einen Jungen zu, der ganz entgegen seiner Gewohnheit abseits steht, still und teilnahmslos. »Was ist mit dir? Warum bist du so traurig?« – »Gar nichts ist mit mir, ich bin überhaupt nicht traurig«, antwortet er unlustig. Da will ihm der Erzieher begütigend die Hand auf den Kopf legen – der Junge weicht ihr schroff aus. Dort unterhält sich eine Gruppe von Kindern lebhaft. Er nähert sich ihr, sie verstummen. »Wovon habt ihr gesprochen?« »Ooch, von nichts.« Allem Anschein nach haben sie ihn wohl gern. Aber er weiß, dass sie sich über ihn lustig machen. Sie vertrauen ihm wohl – aber sie haben auch immer ihre Geheimnisse vor ihm.

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Sie tun so, als hörten sie auf ihn, aber sie hören auch allzugern auf böse Einflüsterungen. Er begreift das nicht, weiß nicht, was er tun soll; das alles ist ihm fremd, feindlich, und er fühlt sich gar nicht wohl. Du, der du mit Kindern zu tun hast, du solltest dich lieber freuen! Du bist schon dabei, deine Vorurteile, deine sentimentalen Ansichten über Kinder aufzugeben. Du weißt bereits, dass du nichts weißt. Kinder sind nicht so, wie du gemeint hast, sie sind ganz anders. Ohne noch recht zu wissen, wohin es führen soll, suchst du bereits nach einem Weg. Du gehst in die Irre? Vergiss nicht, es ist keine Schande, in dem unermesslich tiefen Wald des Lebens den Weg zu verfehlen. Selbst wenn du dich verirrst – schau dich gut um, und du wirst ein Mosaik aus lauter schönen Einzelbildern erblicken. Du leidest? Unter Schmerzen kommt die Wahrheit zur Welt. 8. Habe Mut zu dir selbst, und such deinen eigenen Weg. Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu erkennen trachtest. Leg dir Rechenschaft darüber ab, wo deine Fähigkeiten liegen, bevor du damit beginnst, Kindern den Bereich ihrer Rechte und Pflichten abzustecken. Unter ihnen allen bist du selbst ein Kind, das du zunächst einmal erkennen, erziehen und ausbilden musst. Es ist einer der bösartigsten Fehler anzunehmen, die Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kind – und nicht zuerst die Wissenschaft vom Menschen. Ein gewalttätiges Kind hat in der Erregung zugeschlagen – ein Erwachsener hat im Affekt einen Totschlag begangen. Einem gutmütigen Kinde hat man sein Spielzeug abgeschwatzt – einen Erwachsenen hat man dazu überredet, eine Wechselunterschrift zu leisten. Ein leichtsinniges Kind hat sich für einen Zehner, den es bekam, um sich ein Heft zu besorgen, Bonbons gekauft – ein Erwachsener hat ein ganzes Vermögen beim Kartenspiel durchgebracht. Es gibt keine »Kinder an sich« – es sind Menschen; aber mit einer anderen Begriffsskala, einem anderen Erfahrungsschatz, anderen Trieben und anderen Gefühlsreaktionen. Denk immer daran, dass wir sie nicht kennen. Sind sie unreif? Frag doch einmal einen Greis – er wird dich noch in deinem vierzigsten Lebensjahr für unreif halten. Ganze Gesellschaftsklassen sind unreif, denn sie sind schwach. Ganze Völker sind auf fremde Hilfe angewiesen – sie sind gleichfalls unreif, denn sie besitzen keine Kanonen. Sei du selbst und sieh dir einmal Kinder aufmerksam in den Augenblicken an, in denen sie sich frei entfalten können. Beobachte, aber fordere nicht. Du kannst ein lebhaftes, aggressives Kind nicht dazu zwingen, gesetzt und leise zu sein; ein

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misstrauisches und verschlossenes wird nicht offen und redselig werden, ein ehrgeiziges und widerspenstiges nicht sanft und nachgiebig. Und du selbst? Wenn du keine Achtung gebietende Statur und keine starke Lunge besitzt, wirst du dich vergeblich bemühen, mit erhobener Stimme den Lärm einer Kinderschar zu übertönen. Du hast ein gütiges Lächeln und Augen, aus denen Geduld spricht – sage nichts: Vielleicht geben sie von sich aus Ruhe. Sie suchen sich ihren eigenen Weg. Verlange nicht von dir selbst, bereits ein gesetzter und vollkom­mener Erzieher zu sein – mit einer psychologischen Buchhaltung im Herzen und einem pädagogischen Gesetzbuch im Kopf. Du besitzest einen wundertätigen Bundesgenossen, einen Zauberer gar – deine Jugend. Und da rufst du die krittelnde, unbeholfene Erfahrung zu Hilfe? 9. Es geht nicht um das, was sein sollte, sondern um das, was sein kann. Du möchtest, dass dich die Kinder lieben; du musst sie aber in die beängstigend beschränkten Formen unseres Lebens mit all seiner Heuchelei und seiner Gewalttätigkeit hineindrängen in gewissenhafter, dir aufgetragener Arbeit, zu der du verpflichtet bist. Sie aber wollen nicht, sie wehren sich; und sie müssen dir einfach böse sein. Du möchtest, dass sie aufrichtig und wohlerzogen seien. Und dabei sind doch die Umgangsformen dieser Welt verlogen, und Aufrichtigkeit wird oft als Unverschämtheit angesehen. Weißt du vielleicht, was der Junge gedacht hat, den du gestern fragtest, warum er traurig sei? »Lass mich in Ruhe«, hat er gedacht. Schon ist er unaufrichtig. Er hat nicht das gesagt, was er dachte, sondern sich nur unwillig abgekehrt; und selbst das hat dich schon verletzt. Es ist nicht richtig, sich zu beklagen; Verleumdungen sind hässlich, aber wie kommst du dazu, in ihre Angelegenheiten, Schmerzen und Vergehen einzudringen? Nicht bestrafen und nicht belohnen. Aber es muss doch eine Ordnung geben und Weisungen, denen sie gehorchen sollen. Die Klingel muss alle um den Mittagstisch versammeln; und wenn sie zu spät kommen, wenn sie überhaupt nicht kommen, wenn sie einfach nicht kommen wollen? Du sollst ihr Vorbild sein; aber wie kannst du dich vor deinen Fehlern, deinen schlechten und lächerlichen Gewohnheiten hüten? Du wirst sie zu verbergen suchen. Gewiss wird dir das gelingen; je sorgsamer du sie verbirgst, umso eifriger werden die Kinder sich so verhalten, als bemerkten sie nichts; aber im leisesten Flüsterton werden sie dich verspotten. Schwierig – sehr schwierig sogar –, das gebe ich zu! Aber Schwierigkeiten hat jeder, und es gibt mancherlei Wege, damit fertig

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zu werden. Eine Antwort auf diese Fragen wird immer nur mit relativer Genauigkeit erfolgen können. Denn das Leben ist keine Sammlung von arithmetischen Aufgaben, wo es immer nur eine Lösung gibt, und höchstens zwei verschiedene Arten, sie abzuleiten. 10. Du willst den Kindern die Freiheit sichern, alle ihre geistig-­seelischen Kräfte harmonisch entwickeln zu können, ihre verborgenen Fähigkeiten voll auszuschöpfen, und du möchtest sie in Ehrfurcht vor dem Guten und Schönen und vor der Freiheit erziehen … O du Einfältiger, versuch es nur! Die Gesellschaft hat dir den kleinen Wildfang anvertraut, damit du ihn zurechtbiegst und dressierst, ihn für die Umwelt genießbar machst, und nun wartet sie ab. Es warten der Staat, die Kirche, der künftige Brotherr. Sie fordern, warten, passen auf. Der Staat verlangt staatszugewandten Patriotismus, die Kirche Kirchengläubigkeit, der Arbeitgeber Redlichkeit – und alle wollen sie Mittelmäßigkeit und ein demütiges Wesen. Ist ein Kind allzu kräftig, dann wird es ausbrechen; ein stilles Kind wird später womöglich ein Herumtreiber, ein ungezügeltes vielleicht zur Bestechlichkeit neigen – dem armen Wesen wird immer der Weg versperrt. Wer ist daran schuld? Niemand, außer dem Leben selbst. Du meinst, ein solches Kind sei nur gering in seinem Wert, ein Waisenkind – ein Gelbschnäbelchen, das aus dem Nest gefallen ist; es stirbt, niemand wird das bemerken, und Gras wird über seinem Grabhügel wachsen. Denk nur einmal nach, dann wirst du dich davon überzeugen und bitterlich weinen. Lies nur die Geschichte des Kinderhortes von Prévost im freien republikanischen Frankreich. Ein Kind hat das Recht zu wollen, zu mahnen, zu fordern – es hat das Recht zu wachsen und zu reifen und, wenn es reif geworden ist, Früchte zu bringen. Das Ziel der Erziehung aber ist: nicht lärmen, die Schuhe nicht zerreißen, gehorchen und Befehle ausführen, nicht kritisieren, sondern glauben, dass alles das nur seinem Wohle dient. Harmonie, ungehemmte freie Entfaltung das ist das Gebot: Liebe deinen Nächsten. Schau dich um in der Welt – und lächle. 11. Ein neuer Zögling. Du hast ihm die Haare geschnitten, die Fingernägel gekürzt, ihn ge­badet und umgezogen, und schon sieht er allen anderen ähnlich. Er kann sich sogar schon verbeugen, er sagt nicht »ich will«, sondern »bitte«; wenn ein Fremder eintritt, so weiß er, dass man grüßen muss. Schon sagt er bei einer kleinen Feier ein paar Verse auf und putzt seine schmutzigen Schuhe ab; er spuckt nicht mehr auf den Fußboden und benutzt ein Taschentuch. Gib dich nicht der

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Täuschung hin, du könntest bereits aus seinem Gedächtnis dumpfe Erinnerungen, schlimme Einflüsse und schmerzliche Erfahrungen getilgt haben. Diese sauber gewaschenen und ordentlich gekleideten Kinder bleiben noch lange verworren, mit Schmerzen behaftet und farblos; da gibt es unsaubere Wunden, die man monatelang geduldig ausheilen lassen muss; und dann bleiben doch noch Narben zurück, die immer wieder aufbrechen können. Ein Waiseninternat ist eine Klinik, wo man alle Beschwerden des Leibes und der Seele vorfindet, und dies bei schwacher Widerstandsfähigkeit des Organismus; wo eine kranke Erbanlage eine Genesung verzögert und behindert. Und wenn ein Internat keine sittliche Heilstätte ist, dann ist es in Gefahr, ein Ansteckungsherd zu werden. Du hast das Tor des Internats ganz fest verschlossen; aber du kannst doch nicht verhindern, dass schlimme Flüsterreden von der Straße eindringen und dass rohe, brutale Stimmen Eingang finden, die sich durch Moralpredigten nicht übertönen lassen. Der Erzieher kann die Augen niederschlagen und so tun, als wisse er von nichts, die Kinder aber werden ihr Wissen umso boshafter hüten. 12. Du sagst: Ich schließe einen Kompromiss und akzeptiere die Kinder so, wie sie sind, wie sie mir das Leben schickt; ich unterwerfe mich den unausweichlichen Arbeitsbedingungen, wenn sie auch sehr erschwerend sind. Aber ich verlange Freiheit in kleinen Dingen, Hilfestellung und Erleichterungen in der rein technischen Erledigung meiner Arbeit. Du Einfältiger, gar nichts kannst du verlangen. Dein Vorgesetzter hält dir vor, dass Papierschnitzel auf dem Fußboden verstreut sind, dass ein kleiner Tolpatsch sich eine Beule geschlagen hat, dass die Schürzen nicht sauber und die Betten nicht gleichmäßig genug gemacht sind. Du möchtest ein Kind ausschließen, weil dir das für das Wohl der anderen notwendig erscheint. Alle bitten sie dich, das doch nicht zu tun: Vielleicht bessert es sich? Es ist kalt in den Räumen, und die meisten deiner blutarmen Kinder haben Frostbeulen an den Fingern. Kohlen, Wärme – sie sind teuer; aber die Kälte lässt sie körperlich und geistig erstarren. Nein, Kinder müssen abgehärtet werden. Du wunderst dich, dass zwei Eier nur einen knappen Eßlöffel Rührei ergeben. Du bekommst die schroffe Antwort, das sei nicht deine Sache. Dein Kollege hat sicherlich gewusst, wo der Schrankschlüssel steckt; vielleicht hat er ihn sogar selbst verwahrt und dich absichtlich suchen lassen. Wenn er abends ausgeht, bleibt der Schlafsaal ohne Aufsicht; aber er lässt es nicht zu, dass man sich »einmischt«, sich um seine Kinder kümmert.

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Despotische Launen und Unwissenheit der Leitung, Unredlichkeit der Verwaltung, böser Wille und mangelnde Gewissenhaftigkeit deines Mitarbeiters. Füge noch hinzu: ordinäres Personal, Zusammenstöße mit der Waschfrau wegen eines angeblich durch dich abhanden gekommenen Bettlakens, mit der Köchin, weil sie die Milch hat anbrennen lassen, und mit dem Hausmeister wegen der schmutzigen Treppen. Wenn ein Erzieher günstigere Arbeitsbedingungen vorfindet – umso besser. Wenn sie aber so sind, wie ich sie beschrieb, dann darf er sich nicht wundern, sich nicht empören; sondern er soll seine Kraft und seine Energie vernünftig einteilen – sie muss für eine längere Zeit als die ersten paar Monate reichen. 13. Ein Internat aus der Vogelperspektive. Geplapper, Bewegung, Jugend, Fröhlichkeit! So eine liebe kleine Gemeinschaft unbefangener kleiner Menschen! So viele Kinder! Und so sauber ist es! Die Harmonie der uniformierten Bekleidung, der Rhythmus des Chor­gesangs. Ein Wort, und alle schweigen. Das Tischgebet, und alle setzen sich. Kein Zank, kein Streit. Das liebe kleine Mäulchen, ein lus­tiges Augenzwinkern. Das eine dort sieht so elend aus, das arme Kerlchen. Der Erzieher ist heiter und von ruhigem Wesen. Da kam eines gelaufen und hatte etwas zu fragen – er antwortete, drohte einem anderen scherzhaft von Weitem mit dem Finger –, man verstand ihn und gehorchte. Eine Schar Getreuer umgibt euch. »Gefällt es euch hier?« »Gut.« »Habt ihr euren Lehrer lieb?« Sie lachen und senken dabei kokett ihre Köpfe. »Es ist aber nicht schön, dass ihr nicht antwortet, wenn man euch fragt. Habt ihr ihn lieb?« »Ja, wir haben ihn lieb.« Eine schöne Arbeit, eine dankbare Aufgabe. Kleine Sorgen, geringe Bedürfnisse – eine reizende kleine Kinderwelt. »Nehmt, das sind Pfefferkuchen für euch.« Sie haben sich artig bedankt, keines hat zuerst seine Hand ausgestreckt. 14. Der du als Gast zufällig daherkommst, sieh dir einmal die Kinder an, die abseits stehen. Irgendwo im Schatten eines, das finster dreinblickt, einen Finger mit einem Läppchen umwickelt. Zwei ältere, die ironisch lächelnd miteinander flüstern und euch mit aufmerksamen Blicken verfolgen. Einige sind so beschäftigt, dass sie den frem-

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den Besuch gar nicht bemerken. Ein anderes tut absichtlich so, als lese es, damit man es nicht mit den üblichen Fragen belästigt. Wieder ein anderes benutzt die Gelegenheit, wenn der Erzieher beschäftigt ist, und macht sich aus dem Staub, um ungestraft etwas anstellen zu können. Da ist auch eines, das wartet ungeduldig, bis du kommst, denn es möchte den Erzieher etwas fragen. Ein anderes kommt gerade deswegen näher heran, weil es gesehen werden will. Ein Drittes lauert darauf, um als Letztes ganz allein bei euch zu sein; denn es weiß, dass der Erzieher dann wieder einmal sagen wird: »Das hier ist unser Sänger, das unsere kleine Hausfrau und das ein Opfer einer tragischen Geschichte.« Unter dem gleichen Kittel schlagen hundert verschiedene Herzen, und jedes einzelne ist für dich schwierig, bedeutet andere Mühen, andere Sorgen und Befürchtungen. Hundert Kinder – hundert Menschen, die nicht irgendwann einmal, sondern schon jetzt, schon heute Menschen sind. Keine Liliputwelt, sondern eine richtige Welt mit ihren Werten, Tugenden, Lastern, Bestrebungen und Wünschen, die durchaus nicht klein und gering, sondern wichtig sind, und nicht unschuldig, sondern eben menschlich. Anstatt zu fragen, ob sie einen lieb haben, frag lieber, woher es kommt, dass sie gehorchen, Ordnung halten, den Stundenplan beachten und miteinander auskommen. »Es gibt keine Strafen …« »Das ist gelogen.« 15. Was sind deine Pflichten? Wachsam sein. Wenn du Aufseher sein willst, brauchst du nichts zu tun. Wenn du Erzieher bist, dann hast du einen sechzehnstündigen Arbeitstag, ohne Pause, ohne Feiertage – einen Tag, der aus Arbeiten besteht, die sich weder beschreiben noch wahrnehmen noch kontrollieren lassen, und aus Worten, Gedanken und Gefühlen besteht, die tausend Namen haben. Äußere Ordnung, dem Anschein nach gutes Benehmen, Disziplin, die sich sehen lassen kann – dazu bedarf es nur einer harten Hand und zahlreicher Verbote. Und die Kinder sind immer Märtyrer der Besorgnis um ihr angebliches Wohlergehen; das schlimmste Unrecht hat hier seinen Ursprung. Ein Erzieher weiß genauso gut wie ein Aufseher, dass ein Kind durch einen Schlag ins Auge erblinden kann, dass ihm immer die Gefahr droht, sich eine Hand zu brechen oder den Fuß zu verstauchen; aber er erinnert sich auch an die zahlreichen Fälle, da ein Kind beinahe ein Auge verloren hätte, um ein Haar aus dem Fenster gestürzt wäre, sich hart stoßen oder ein Bein hätte brechen können. In Wirklichkeit kommen Unglücksfälle verhältnismäßig selten vor; aber – und das ist noch wichtiger –, man kann sie nicht verhindern.

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Je dürftiger das geistige Niveau, je verschwommener das sittliche Profil, je größer die Sorge um die eigene Ruhe und Bequemlichkeit sind, desto zahlreicher begegnen dir Weisungen und Verbote, die von angeblicher Fürsorge für das Wohl der Kinder diktiert sind. Ein Erzieher, der keine peinlichen Überraschungen erleben, keine Verantwortung für das, was alles passieren kann, übernehmen will, ist für die Kinder ein Tyrann. 16. Zum Tyrannen wird auch der Erzieher, der um die Sittlichkeit der Kinder allzusehr besorgt ist. Krankhaftes Misstrauen kann so weit gehen, dass wir nicht allein Kinder verschiedenen Geschlechts, nicht nur zwei Kinder, die sich zurückziehen, sondern sogar die eigenen Hände des Kindes für eine Gefahr halten. Irgendein Ungenannter hat irgendwo und irgendwann einmal katego­risch verboten, die Hände unter der Bettdecke zu halten. »Wenn mir kalt ist, wenn ich Angst habe, kann ich nicht einschlafen.« Wenn es im Zimmer warm ist, dann deckt ein Kind nicht nur die Hände, sondern den ganzen Körper auf. Wenn es müde ist, schläft es nach fünf Minuten ein. Solch ein gedankenloser Argwohn ist in ähnlichen Formen weit verbreitet; er entspringt der mangelnden Kenntnis vom Wesen des Kindes … Ich beobachtete einmal, wie ältere Jungen mit geheimnisvollem Flüstern ein paar kleinere Kerlchen ins Klosett mitnahmen. Nach einiger Zeit kamen die Kleinen – offensichtlich verlegen – wieder zurück Es ist mir sehr schwer gefallen, sitzen zu bleiben und weiterzuschreiben. Und dann handelte es sich um ein unschuldiges Vergnügen. Da hatte einer von den größeren Jungen (er arbeitete bei einem Fotografen) eine Zigarrenkiste in eine Schürze gehüllt; dann ließ er die Kleinen, die sich fotografieren lassen wollten, unter einem Wasserhahn an der Wand Aufstellung nehmen. Als sie freundlich lächelnd auf die Aufnahme warteten, traf auf das Stichwort »drei« ein kalter Wasserstrahl ihre Köpfe. Eine gute Lehre für die kleinen Jungen, in Zukunft besser aufzupassen; einmal mit Wasser begossen, werden sie kein zweites Mal auf ein geheimnisvolles Flüstern hin mit ins Klosett gehen. Erzieher, der du allzu einseitig um die Sittlichkeit der Kinder besorgt bist – ich fürchte, bei dir selbst ist etwas nicht ganz in Ordnung. 17. Ein Theoretiker teilt die Kinder nach Temperamenten, geistigen Typen, Neigungen in Kategorien ein – ein Praktiker unterscheidet vor allem bequeme und unbequeme Kinder – mittelmäßige, mit denen man sich nicht besonders zu befassen braucht, und Ausnahmefälle, die viel Zeit in Anspruch nehmen. Unbequem sind die Jüngsten unter dem Durchschnittsalter; dann auch die Äl-

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testen, die kritisch und widersetzlich sind, andere sind tol­pat­schig, plump und schwächlich, gewalttätig und aufdring­lich. Anstrengend ist auch ein Kind, das bereits der Disziplin des Internats entwachsen ist, das die Ordnungsregeln im Schlafraum, im Speisesaal bei Frühstück, Gebet, Spiel und Spaziergang als demütigend empfindet. Ein Kind, aus dessen Ohr Eiter fließt, das einen Fingernagel verliert, dem die Augen tränen, das Kopfschmerzen hat, fiebert oder hustet. Ein Kind, das sich ganz langsam anzieht, wäscht, kämmt und isst. Sein Bett ist zuletzt gemacht, sein Handtuch hängt als Letztes wieder an seinem Haken, auf seinen Teller oder Becher muss man lange warten; es verzögert das Aufräumen des Schlafsaals, das Abräumen des Tisches, das Wegräumen des Geschirrs in die Küche. Ein Kind, das immerfort etwas zu fragen hat, das sich oft beklagt und sein Verlangen unter Tränen vorbringt, das die Gesellschaft der anderen Kinder nicht liebt, das sich dir aufdrängt, andauernd etwas nicht weiß, um etwas bittet, was es gerade braucht, und immer etwas Wichtiges vorzubringen hat. Ein Kind, das ungehörig geantwortet, das Personal beleidigt, sich gezankt und herumgeschlagen hat, das mit Steinen geworfen, das mutwillig etwas zerbrochen oder zerrissen hat, das einen wissen lässt, dass es nicht will. Ein empfindsames und launisches Kind, dem eine kleine Rüge, ein unfreundlicher Blick schmerzlich sind, und das kühle Gleichgültigkeit als Strafe empfindet. Ein liebenswerter Lausbub, der dir den Ausguss mit Steinchen verstopft, an der Türklinke schaukelt, den Wasserhahn abdreht, den Ofenschieber schließt, die Wand mit Buntstiften vollkritzelt, mit einem Nagel die Fensterbretter zerkratzt und Buchstaben in die Tischplatte schneidet. Unglaublich erfinderisch, aber unberechenbar. Das sind die Räuber deiner Zeit, die Tyrannen deiner Geduld und die Gärstoffe in deinem Gewissen. Du kämpfst gegen sie an, aber du weißt, es ist nicht ihre Schuld. 18. Um sechs Uhr stehen die Kinder auf. Du hast ihnen nur zu sagen: »Steht auf, Kinder!« – nicht mehr. Wenn du nun hundert Kindern sagst, sie sollen aufstehen, dann erheben sich achtzig, die keinerlei Schwierigkeiten machen; sie kleiden sich an, waschen sich und warten auf den Ruf zum Frühstück. Aber acht Kindern musst du es zweimal sagen, fünfen dreimal, dass sie aufstehen sollen. Drei musst du anschreien, zwei aus dem Schlaf wecken. Eines hat Kopfschmerzen: Es ist krank, aber vielleicht täuscht es das nur vor. Neunzig Kinder ziehen sich an, aber zweien musst du helfen, denn sie kommen allein nicht zurecht. Einem ist ein Strumpfband abhandengekommen, eines hat Frostbeulen an den Fingern und kann sich nicht ankleiden.

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Ein anderes hat sich seinen Schnürsenkel verknotet. Eines stört das andere beim Bettenmachen. Da will jemand die Seife nicht hergeben; ein anderer drängt sich vor und spritzt beim Waschen; jemand hat ein Handtuch vertauscht oder gießt Wasser auf den Fußboden. Ein rechter Schuh sitzt am linken Fuß, das Handtuch lässt sich nicht aufhängen, weil der Aufhänger abgerissen ist; jemand hat die Bluse fortgenommen – eben war sie noch da. Einer heult: Das ist seine Schüssel, in der er sich immer wäscht; aber der andere ist heute früher dagewesen. Für achtzig Kinder hast du fünf Minuten deiner Zeit gebraucht, zehn haben je eine Minute für sich in Anspruch genommen, und mit zweien warst du fast eine halbe Stunde beschäftigt. Morgen wird es wieder so sein; nur wird ein anderes Kind etwas verlieren, nicht zurechtkommen, sein Bett unordentlich zurücklassen. Das gleiche Lied einen Monat, ein Jahr, fünf Jahre lang. 19. Du hattest nur zu sagen: »Kinder, steht auf!« – nichts sonst. Und dennoch hättest du es nicht geschafft. Du hättest es nicht geschafft, wenn nicht eines von den Kindern das verlegte Strumpfband oder die Bluse gefunden, ein anderes den passenden Pantoffel für den erfrorenen Fuß geholt und das Dritte den Knoten gelöst hätte. Das Strumpfband lag nämlich so verborgen, dass man zuerst unter das Bett kriechen musste; der Pantoffel musste aus einem anderen Zimmer geholt werden; mit dem Knoten hat dein Vertreter viel Mühe gehabt, ihn zuerst mit den Fingernägeln, dann mit den Zähnen und mit einem Nagel bearbeitet, den er gestern gefunden hatte, und schließlich noch mit einem zu diesem Zwecke ausgeborgten Häkel­haken. Es kann dir nicht verborgen bleiben, dass ein Kind öfter etwas verliert, das andere eher etwas findet, dass das eine Knoten macht, das andere sie auflöst. Eines kränkelt oft, das andere ist immer gesund. Dieses braucht deine Hilfe, jenes lässt sie anderen zuteilwerden. Angenommen, du bist dem einen nicht gram; dem anderen bist du aber auch nicht dankbar. Aber nun fällt heute gerade dem Kinde·das Aufstehen schwer, das sich abends im Schlafsaal noch lange unterhalten hat. Der Hals tut heute demjenigen weh, das Wasser direkt aus der Leitung getrunken hat, obwohl du es davor gewarnt hattest – denn das Wasser ist kalt, und das Kind war verschwitzt. Denk immer daran, was du in solchen Fällen sagst, obwohl du ja Bescheid weißt, verstehst, einsichtig bist und verzeihst. Denn je größer die Zahl der Unbequemen ist, umso mehr Zeit von deinem sechzehnstündigen Arbeitstag vergeht mit dem Hin und Her und der ganzen Krittelei, und immer weniger bleibt für das übrig, was sich so bedeutend und erhaben liest: »Ein Erzieher sollte …« Weniger Zeit und weniger Kraft.

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20. Die Hilfe, die die Kinder dem Erzieher leisten, kann ganz uneigennützig sein. Ein Kind hilft, weil es helfen will, aber es hilft heute, weil es das heute will; für morgen kann es noch nichts versprechen. Jedoch – ein solcher Helfer, ein launischer, ehrgeiziger, aber auch ein redlicher, nimmt nicht jede Arbeit an. Er verliert auch leicht die Lust, wenn er auf unerwartete Schwierigkeiten stößt, er ist beleidigt, wenn der Erzieher unzufrieden scheint, er hat seine Zweifel, fragt also nach, braucht Aufsicht und Anweisungen. Er drängt sich nicht auf mit zudringlicher Hilfe; man muss ihn schon ausfindig machen, ermutigen, ermuntern; wenn man ihn bittet, tut er es gern; befiehlt man es ihm, so mag er nicht. Man kann sich nicht auf ihn verlassen, denn er kann versagen, wenn man ihn am nötigsten braucht. Ein Aufseher findet ohne Schwierigkeiten einen anderen Helfer unter den Kindern. Gerissen, energisch, unverschämt, falsch und eigennützig drängt dieser sich mit seiner Hilfeleistung auf. Weist man ihn zurück, so taucht er bald wieder auf; braucht man ihn, so ist er plötzlich da wie aus dem Boden gewachsen, liest einem jeden Wunsch von den Augen ab, führt jeden Auftrag aus und erledigt alles. Wenn ihm etwas misslingt, findet er viele Ausreden und Schwindeleien. Wenn man ihn tadelt, spielt er den Zerknirschten. Immer wieder macht er die Meldung: »Alles in Ordnung.« Wenn ein gewissenloser, unfähiger oder erschöpfter Erzieher den »kleinen« Dingen und Kümmernissen der Kinder nicht selbst nachgeht, so gibt er seine Machtbefugnisse an das Kind vom Tagesdienst ab. Ein solcher Helfer weiß immer Rat; er vertritt den Erzieher mühelos. Aus dem Kind, das sucht, herbeiruft, holt, aufräumt, beaufsichtigt, erinnert, weiß, gehört hat, sagt – wird in kurzer Zeit tatsächlich ein Stellvertreter des Erziehers. Das ist kein harmloser Musterknabe mehr, wie man ihn in der Schule antrifft, sondern ein grimmiger Feldwebel23 der Internatskaserne. 21. Dem Kind vom Tagesdienst fällt es leichter, mit der ganzen Schar fertig zu werden als einem Erwachsenen. Denn wenn ein erwachsener Aufseher einmal Schläge austeilt, dann tut er das nicht mit aller Kraft; wenn er droht, droht er mit einer gewissen Zurückhaltung; und er bestraft nur wirkliche Vergehen. Ein Aufsicht führendes Kind jedoch schlägt nicht auf den Rücken, sondern auf den Kopf oder in den Bauch, weil das am meisten weh tut; es droht nicht mit der Strafe, sondern 23 Der Autor benutzt hier das russische, aus der deutschen Militärsprache entnommene Lehnwort feldfebel.

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mit etwas nur scheinbar Naivem: »Wart’ nur, wenn du schläfst, jag ich dir mein Messer in den Leib«; skrupellos klagt es ein unschuldiges Kind an und zwingt es, eine Untat zu gestehen, die dieses gar nicht begangen hat. »Sag, dass du das aufgegessen, weggenommen, zerbrochen hast« – und der Kleine sagt zitternd: »Ich hab das kaputt gemacht, ich hab gestohlen.« Die Allgemeinheit der Kinder fürchtet ihn mehr als den Erzieher, denn der Junge vom Tagesdienst weiß alles, er ist immer unter ihnen. Seine Widersacher hassen ihn; aber sie rächen sich selten, sondern versuchen vielmehr, ihn zu bestechen. Jetzt hat dieser Kindertyrann also bereits Gehilfen, Stellvertreter. Er braucht selbst nichts mehr zu tun, er befiehlt nur, zeigt die Widersetzlichen an und verantwortet alles bei der Internatsleitung. Man muss da genau unterscheiden: Das ist kein Protektionskind, kein Liebling, das ist ein wirklicher Gehilfe, ein Kalfaktor, ein Ohrenbläser. Er sorgt dafür, dass sein Herr ein bequemes Leben führen kann, und der hinwiederum lässt alles zu, auch wenn er weiß, dass er belogen, hinters Licht geführt und ausgenutzt wird; er selbst kann ohne diese Hilfskraft nicht auskommen, und außerdem wartet er ja doch auf eine bessere Stelle. 22. Hinterhältige und verstohlene Drohungen treten an die Stelle der Prügeleien, die zwar verboten sind, aber in aller Offenheit und mit viel Geschrei ausgetragen werden: »Wart nur, das sag ich dem Lehrer. Dir werd ich’s geben heute Nacht« – das sind die magischen Beschwörungsformeln, mit denen ein gewitzter und durchtriebener Bengel die jüngeren, schwächeren, dümmeren, ehrlichen Kinder zum Schweigen und zum Nachgeben zwingt. Das Klosett und der Schlafsaal – das sind die beiden nicht beaufsichtigten Plätze, wo Geheimnisse ausgetauscht werden und wo sich das konspirative Leben eines Internates konzentriert. Und die Erzieher, die da meinen, auf Schlafsaal und Klosett müsse man nur von jener bereits erwähnten Seite her ein wachsames Auge haben, irren sich gewaltig. Ich kenne einen Fall, wo ein Junge sich in der Nacht zum Bett eines Feindes schlich und ihn kniff, ihm die Ohren lang zog, ihn an den Haaren riss und ihm dabei warnend zuzischte: »Sei bloß ruhig; wenn du schreist und den Lehrer aufweckst, wirst du rausgeschmissen.« Ein weiterer Fall: Man schüttete einem Jungen während der Nacht Wasser ins Bett, damit ihm der Aufseher eine Gummiunterlage geben sollte, ein Zeichen der Schmach. Weiter erinnere ich mich an einen Fall, bei dem ein Kind vom Tagesdienst seinen unbeliebten Kameraden die Fingernägel so kurz beschnitt, dass sie bluteten. Ein

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anderes Kind vom Tagesdienst ließ für einen Jungen, über den es sich geärgert hatte, kaltes Wasser zum Baden einfließen. Der Terror bösartiger Kräfte kann in einem Internat Wurzel schlagen, die Atmosphäre vergiften und eine moralische Epidemie mit Verletzungen und Verwüstungen verbreiten. Erst in einer Atmosphäre der Lüge, der Erpressung, des Heimlichtuns, der Unterdrückung, der Gewalt, der stummen Auseinandersetzungen, der falschen Anschuldigungen, der Angst und des Schweigens, in einer Atmosphäre, die von den Miasmen moralischer Fäulnis gesättigt ist, greifen Selbstbefleckung und kriminelles Verhalten um sich. Wenn ein Erzieher in solchen Unflat gerät, so wird er ihm entfliehen oder, wenn er das nicht kann, das Schlimmste verheimlichen. 23. Die Kinder bemerken es bald, wenn der Aufseher vor der Internats-Obrigkeit etwas verbirgt, wenn diejenigen Kinder sein Wohlwollen genießen, die ihm ein Lob eingebracht haben; diejenigen jedoch sind seinem Unwillen ausgesetzt, die ihm eine Rüge zugezogen haben. Zwischen den Kindern und dem Aufseher kommt ein stillschwei­gendes Abkommen zustande: gemeinsam so zu tun, als stünde alles zum Besten, und zu verheimlichen, wenn »so etwas« vorkommt. Zu den Ohren des Internats-Leiters in seiner stillen Kanzlei gelangt nicht eben viel, aber durch die Mauern der Anstalt dringt gar nichts hindurch. Die Kinder begehen eine Reihe von unerlaubten und strafwürdigen Taten, er aber toleriert dies durch unbedachte oder manchmal auch bösartige Nachlässigkeit. Vielleicht sind Internatskinder deshalb so schüchtern und schweigsam, und vielleicht antworten sie freiwillig nur auf so banale Fragen wie: »Geht es dir gut, gehorchst du auch immer?«, und sie schweigen vorsichtshalber, wenn sie meinen, sie könnten »sich verraten«. Vielleicht steht ein Internat deshalb in dem Ruf, schlimme Geheimnisse zu bergen, und ein Gespräch mit einem Kinde, das sich wiederholt mit seinem Erzieher durch Blicke verständigt, ist darum so peinlich und ungut. Im dritten Teil dieses Buches berichte ich, wie wir uns bei der Organisation unseres Waisenhauses ohne Furcht vor bösen Folgen der Mithilfe der Kinder versicherten und wie wir die Öffentlichkeit in das Leben eines Internats einbezogen. 24. Am grauen Alltag mit seinen Sorgen und seiner mühseligen Geschäftigkeit gibt es bequeme und unbequeme Kinder; und am Tage einer Besichtigung, so eines feierlichen Jahrmarktes, ist es nicht anders. Für den Erzieher, der den Chor leitet, ist ein Kind mit einer guten Singstimme angenehm, dem Gymnastiklehrer dagegen ist ein körperlich gewandtes Kind sym-

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pathisch. Der Erste denkt an eine Darbietung seines Chores, der Zweite an ein öffentliches Sportfest. Begabte, muntere Kinder mit guten Manieren sind bei einem Galabesuch die Freude des Hauses, sie machen der Anstalt und ihrem Erzieher Ehre; und ein hübsches Kind überreicht dem würdigen Gast einen Blumenstrauß. Kann der Erzieher es übers Herz bringen, den Kindern nicht dankbar zu sein? Was besagt es schon, dass ein Kind gesungen, auf der Geige gespielt oder seine Rolle in dem kleinen Lustspiel mit einiger Fantasie gespielt hat? Das ist nicht sein Verdienst. Ein redlicher Erzieher aber ist voller Skrupel, tut sich Gewalt an und unterdrückt jegliche Äußerung seiner Dankbarkeit. Ob das wohl richtig ist? Ist diese gespielte Gleichgültigkeit nicht irreführend? Für ein Kind ist das ein wichtiger, ein feierlicher Tag, der sich ihm einprägt. Ein bisschen betäubt, mehr noch erschrocken inmitten der zahlreichen fremden Würdenträger, läuft es zu dem hin, der ihm nahesteht, denn es möchte vor allem von diesem gelobt werden, es verlangt danach, es hat ein Recht darauf. Lass nicht zu, dass die Kinder sich deswegen aufspielen; aber du musst Unterschiede machen … Was wird dann aber wieder aus dem Grundsatz von der abso­luten Gleichheit aller Kinder? Dieses Prinzip ist unwahrhaftig in sich. 25. Ein Erzieher kennt in seiner praktischen Arbeit Kinder, die mit ihrer Art sein Herz und sein Gemüt ansprechen, die einen für alle Mühen belohnen. Es sind die Sonntagskinder seiner eigenen Seele – denen er herzlich zugetan ist, wo er nicht nach Wert und Nützlichkeit fragt. Sie sind ihm lieb, weil sie hübsch sind, heiter, fröhlich, anmutig und freundlich; er hat sie gern, weil sie schweigsam, ernst, gesammelt und von gesetztem Wesen sind; er fühlt sich zu ihnen hingezogen, weil sie klein, tolpatschig und zerstreut sind; er mag sie, weil sie kritisch, mutig und eigenwillig sind. Je nach dem geistigen Gesicht und den Idealen eines Erziehers gibt es hier beträchtliche Unterschiede: Dem einen sind diese, dem anderen jene Kinder lieb und vertraut. Das eine Kind imponiert durch seine Energie; das andere rührt einen wegen seiner Gutherzigkeit; ein drittes weckt Erinnerungen an die eigene Kindheit; um die Zukunft des vierten muss man sich Sorgen machen; das fünfte gibt wegen seiner hochfahrenden Art, das sechste wegen seiner demütigen Bangigkeit Anlass zur Besorgnis. Aber unter den vielen, die du gern magst, liebst du eines als das dir am nächsten stehende Wesen: Ihm wünschst du das Beste, seine Tränen schmerzen dich am tiefsten, um seine Zuneigung bemühst du dich am meisten, und bei ihm ist es dir darum zu tun, dass es dich nicht vergisst. Wie ist es dazu gekommen, und wann? Du weißt es nicht. Es kam plötzlich, ohne besonderen Grund, unerwartet, wie die Liebe.

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Verbirg diese Vertrautheit nicht: Dein Lächeln, der Klang deiner Stimme, dein Blick verraten dich. Und die anderen Kinder? Sei unbesorgt, sie werden nicht traurig sein; denn sie haben auch jemanden, der sie besonders gern hat. 26. Junge und warmherzige Erzieher neigen dazu, jenes ganz stille Kind dort liebzugewinnen, das sich verschüchtert, mit traurigen Augen und sehnsüchtigem Herzen in der großen Gemeinschaft bewegt. Diesen Vergessenen im Schatten wenden sie sich mit all ihren warmen Gefühlen zu, möchten gern ihr Vertrauen gewinnen, und sie warten darauf, dass sie ihnen ihr Herz ausschüt­ten: Was empfindet, was denkt dieser »Engel mit den matten Flü­geln«? Die anderen Kinder sind verwundert. Weshalb soll man denn gerade den liebhaben, wo er doch so dämlich ist? Jetzt wird der zum Liebling, den man zuvor wie eine Null behandelte, dem man höchstens einen Stoß versetzte, wenn er im Wege stand, der ganz bewusst und absichtlich aufs Korn genommen wurde. So sind sie eifersüchtig, denn die Wahl war wenig glücklich. Der Erzieher beginnt nun den ungleichen Kampf um »sein Kind« – und er verliert ihn. Wenn er seinen Fehler erkannt hat, versucht er, sich unmerklich von dem Kinde zu distanzieren. Es begreift, geht beiseite und sieht traurig aus, wie wenn es einen Vorwurf in seinen feuchten Augen hätte. Der Erzieher leidet: Er ist mit sich selbst und mit den Kindern nicht im Reinen. Mein lieber Poet, wenn du wüsstest, dass dieses »poetische« Kind in seinen großen Augen mit den langen Wimpern nur ein einziges Geheimnis birgt – das Geheimnis einer erblichen Belastung durch Tuberkulose –, du würdest nicht darauf warten, dass es sich dir anvertraut, sondern auf seinen Husten achten und ihm keine Küsse geben, sondern Lebertran mit Guajakol24 . Dem Kinde, dir selbst und deinen anderen Schützlingen erspartest du viele peinliche Augenblicke. 27. Es kann sein, dass du ein Kind liebst, ohne je seine Gegenliebe zu gewinnen. Es will lieber Fußball spielen, um die Wette laufen, sich mit den anderen herumschlagen; du möchtest es liebkosen und ans Herz drücken. Das ist ihm peinlich, lästig und demütigend, und so wird es sich entweder dem Bereich solch überflüssiger Gefühlsäußerungen entziehen oder dich umarmen und dabei um einen neuen Anzug bitten. Das ist deine Schuld, nicht seine. Es kommt vor, dass sich gleich mehrere Hausangestellte um die Zuneigung desselben Kindes bemühen; dann laviert der kleine Favorit geschickt, um niemanden zu verletzen. Denn du erlaubst ihm, später schlafen zu gehen; die Haushälterin 24 Guajakol – organische Verbindung, die im Buchenholzteer auftritt.

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tauscht ihm die zerrissenen Strümpfe um, und die Köchin steckt ihm Äpfel oder Rosinen zu. Manchmal fühlt sich ein sinnlich veranlagtes oder verdorbenes Kind von Liebkosungen befriedigt. Es streichelt gern deine Hand, denn sie ist so sammetweich; es sagt, dass dein Haar duftet, küsst dich aufs Ohr oder auf den Hals oder der Reihe nach auf jeden Finger. Gib acht: Das sind wollüstige Zärtlichkeiten. Erotische Empfindungen leben in jedem Kinde. Die Natur verlangt vom Leben Wachstum und Vermehrung; diesem Gesetz sind Mensch, Tier und Pflanze unterworfen. Sexuelle Gefühle erwachen nicht plötzlich und von ungefähr; sie schlummern noch, aber du verspürst bereits ihren leisen Atem. Solche Regungen, Umarmungen und Küsse, solche versteckten und offenen sinnlichen Spiele gibt es auch bei Kindern. Der Erzieher sollte dann jedoch weder die Augen zum Himmel erheben noch vor Erstaunen die Hände zusammenschlagen und sich schon gar nicht empört abwenden. Gib dem Kinde genügend Auslauf, damit es sich nicht langweilt, lass es herumtoben und lärmen, lass es nur so lange schlafen, wie es mag. Dann wird das sexuelle Gefühl sich ruhig entwickeln, ohne Schmutz aufzurühren und Schaden anzurichten. 28. Das forschende Auge der Wissenschaft hat das Grundelement des Sexus im elterlichen Empfinden entdeckt. Die Mutter, die das Kleine nährt, unterliegt seinem Einfluss in gleichem Maße wie der Vater, wenn er die erkalteten Hände seines toten Kindes an die Lippen drückt. Wenn man harmlos Gesicht und Haar eines Kindes streichelt, wenn man es zudeckt und, wenn es ruhig schläft, am Kopfende seiner Wiege um sein Glück betet, so ist das ein normaler Ausdruck gesunder erotischer Gefühle; wenn man jedoch sein Kind der Obhut eines Dienstboten anvertraut und eine größere Befriedigung in leerem Kaffeehausgeschwätz findet, so ist das bereits eine Entartung dieser Empfindungen. Für entartete und abgestumpfte Sinne sind solche Gefühle allzu fein und nicht mehr spürbar. Hier muss die Mutter Füßchen, Schultern und den kleinen Bauch ihres Kindes mit Küssen bedecken, um das zu empfinden, was eine gesunde Mutter bereits bei der ganz leichten Berührung verspürt. Natürliche Sinnenfreude bedeutet ihr nichts mehr; sie sucht Wollust. Du wunderst dich, du willst das vielleicht nicht glauben? Vielleicht habe ich nur das ausgesprochen, was du bisher dunkel geahnt, argwöhnisch vermutet oder aber ärgerlich von dir gewiesen hast? Du bist dir nämlich nicht bewusst, dass der Fortpflanzungstrieb in seinen verschiedenartigsten Schwingungen zwischen erhabenster schöpferischer Begeisterung und schmählichstem Verbrechertum sich bewegt.

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Du musst über dein Gefühl den Kindern gegenüber Klarheit gewinnen; und du musst wachsam sein; denn die Kinder, die du nicht nur erziehst, sondern von denen du selbst ebenfalls erzogen wirst, können dich auch verderben. Die vier Wände des Elternhauses, der Schule, des Internates bergen düstere Geheimnisse. Manchmal werden sie für einen Augenblick durch das Blitzlicht eines Skandals sichtbar. Und dann herrscht wieder Dunkelheit. In der gesetzlich sanktionierten Vergewaltigung, die unsere Erziehung an den Seelen der Kinder begeht, in der Unfreiheit und der unanfechtbaren Herrschaft der Erwachsenen sind notwendigerweise auch Willkür und Verbrechen verborgen. 29. Der Erzieher als Apostel. Die Zukunft der Nation. Das Glück zukünftiger Generationen! Aber wo bleiben in dem allem mein eigenes Leben, meine eigene Zukunft, mein eigenes Glück und mein eigenes Herz? Ich verschenke meine Einfälle, Ratschläge, Warnungen und Gefühle, ohne damit zu geizen. Wenn alle Augenblicke ein anderes Kind dahergelaufen kommt und etwas haben will, um etwas bittet oder eine Frage stellt und deine Zeit, dein Denken und Fühlen damit ganz und gar ausfüllt, dann empfindest du schmerzlich, dass du, der du die wärmende Sonne dieser Kinderschar bist, selbst erstarrst, dass du, der du für sie ein Licht bist, selbst Strahl um Strahl deiner Leuchtkraft verlierst. Alles für die Kinder – und was bleibt für mich? Sie wachsen an Wissen, Erfahrung und moralischer Einsicht; sie sammeln Vorräte – ich verschwende sie. Wie soll man nur auf weite Sicht mit den vorhandenen eigenen geistigen Kräften haushalten, um nicht eines Tages mit leeren Händen dazustehen? Nehmen wir an, dass ein Erzieher keine eigenen Kinder hat, die ihr Recht fordern, keine Familie, die ihn fesselt, keine materiellen Sorgen, die ihn beunruhigen, keine körperlichen Beschwerden, die an ihm zehren. Ganz der einen heiligen Sache der Erziehung hingegeben, muss er Reichtümer an Gefühl besitzen. Wie soll er es davor bewahren, dass es zerbricht? Und wenn er in das Haus zurückkehrt, das sein Haus sein soll, und es geht über seine Kräfte, alle herzlich zu begrüßen, hat er dann nicht das Recht, wenigstens einem zuzulächeln? Wenn er abends den Schlafsaal verlässt, ohne allen zärtlich »Gute Nacht« sagen zu können, darf er dann nicht manchmal dieses eine Kind oder auch zwei mit einem besonderen: »Schlaf ein, mein Sohn, schlaf gut, kleiner Lausbub« auszeichnen? Wenn er wegen kleiner Vergehen schimpft und bittere Vorwürfe macht, sollte er dann nicht auch mit einem Blick einem Kinde spürbar verzeihen dürfen? Selbst wenn er sich irrt und seine Wahl nicht gerade auf ein Kind fällt, das es am meisten verdiente – was macht das schon aus? Die freundliche Regung, die es aus-

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löst, deckt viele ungute Erfahrungen zu; das Lächeln, das es von dem geliebten Menschen empfängt, kommt vielen anderen zugute. Vielleicht gibt es Erzieher, denen die Kinder eines wie das andere gleichgültig oder verhasst sind; aber keinem sind alle in gleicher Weise lieb. 30. Nehmen wir einmal an, es herrsche absolute Gleichheit, es gäbe keine bequemen und unbequemen, keine geliebten und ungeliebten Kinder mehr. Für alle das gleiche Stück Brot und die gleiche Suppenportion, die gleiche Stundenzahl an Schlaf und Wachsein, die gleiche Strenge und Nachsicht – eine absolute Gleichheit hinsichtlich der Kleidung, der Essensportionen, der Hausordnung und der Gefühlsbekundungen. Wenn das auch offenkundig unsinnig klingt – nehmen wir einmal an, dass es eigentlich so sein sollte. Keine Privilegien, keine Ausnahmen, keine Auszeichnungen, denn das verdirbt den Charakter. Sogar dann sollte ein Erzieher das Recht haben, falsch zu handeln, wenn er gleichzeitig die Konsequenzen der begangenen Fehler auf sich nimmt. Pestalozzis Briefe über seinen Aufenthalt in Stanz sind das schönste Bekenntnis eines Erziehers aus seiner Praxis »… einer von meinen liebsten Zöglingen hat meine Liebe missbraucht und sich erlaubt, ein anderes Kind ungerechtfertigt zu bedrohen; das hat mich empört; ich ließ ihn meine Unzufriedenheit recht hart spüren.« O Wunder: Sogar der große Pestalozzi hatte seine Lieblinge, konnte zornig werden … Er war entweder aus einem Übermaß an Vertrauen oder einem Mangel an Anerkennung fehlgegangen, und er wurde selbst in erster Linie dafür bestraft: Er hatte sich geirrt. Es ist erstaunlich, wie bald und wie schmerzlich manchmal ein Erzieher seine Fehler büßen muss. Möge er sie aufmerksam korrigieren. Manchmal kann er es leider gerade bei den wichtigsten Fragen nicht. 31. Keinen Lärm machen! Kinder lassen nur einem Teil der Energie, die sie in der Kehle, in den Lungen, in ihrer Seele haben, und nur einem Teil ihrer Muskelkraft freien Lauf. Gehorsam versuchen sie sich zu bezwingen, bis an die Grenzen des Möglichen. Ruhe – so lautet die Parole in der Schulklasse. Es ist nicht erlaubt, beim Mittagessen laut zu sein. Im Schlafsaal darf kein Lärm gemacht werden. Die Kinder »lärmen« so leise, dass es einen rührt, sie laufen so vorsichtig, um den Tisch nicht zu verrücken, dass man weinen könnte; sie weichen einander aus, geben nach, nur damit kein Streit entsteht, damit nichts passiert. Denn immer wieder würden sie dieses verhasste: »Macht nur keinen Lärm« zu hören bekommen.

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Auch auf dem Hof darf man nicht schreien, weil es die Nachbarn stört. Ihre einzige Schuld ist die, dass jeder Quadratmeter Boden in der Stadt so teuer ist. »Ihr seid hier nicht im Wald« – eine zynische Bemerkung, eine brutale Quälerei für ein Kind, das nicht dort sein kann, wo es eigentlich sein sollte. Lasst sie sich einmal auf einer Wiese tummeln: Es wird kein lautes Geschrei geben, sondern das kleine Menschenvolk wird fröhlich zwitschern wie die Vöglein. Wenn auch nicht alle – die meisten Kinder haben Bewegung und Getümmel gern; von der Freiheit, sich zu tummeln und laut zu sein, hängt ihre physische und mora­ lische Gesundheit ab. Aber du musst, obwohl du das genau weißt, immer wieder mahnen: »Sitzt ruhig und seid leise.« 32. Du begehst immer wieder und konsequent den Fehler, den berechtigten Widerstand des Kindes zu bekämpfen. »Ich will nicht!« Ich will nicht schlafen gehen! Wenn auch die Uhr schon die Stunde geschlagen hat – der Abend ist voller Duft, und er lächelt mit dem Saum des sternübersäten Himmels. Ich mag nicht zur Schule gehen, denn in der Nacht ist der erste Schnee gefallen, und es ist so lustig auf der Welt. Ich will nicht aufstehen, weil es kalt und traurig ist. Ich möchte kein Mittagessen, sondern lieber eine Partie Schlagball zu Ende spielen. Ich will die Lehrerin nicht um Verzeihung bitten: Sie hat mich zu Unrecht bestraft. Ich will keine Schularbeiten machen; ich lese gerade im Robinson. Ich will keine kurzen Hosen anziehen: Man wird mich auslachen. Aber du musst! Es gibt Befehle, die du nur erteilst, weil man auch dir befohlen hat; du tust es ärgerlich und ohne Überzeugung; aber es geht nicht an, sie nicht zu erteilen. Schau einmal nicht auf mich, der ich jede Weisung abwäge, ehe ich sie verkünde, sondern auf jene vielen namenlosen, deren Gesetze grausam und ungerecht sind. Lerne, sei ehrfürchtig, glaube! »Ich will nicht!« – Das ist ein Aufschrei der kindlichen Seele, aber du musst ihn ersticken, denn der Mensch unserer Zeit lebt nicht im Wald, sondern in der Gesellschaft. Je sanfter du den Trotz besiegst, desto besser ist es; je rascher und gründlicher es geschieht, desto·schmerzloser gewinnst du die notwendige Disziplin deiner Kinderschar, erreichst du das erforderliche Minimum an Ordnung. In loser Gruppierung ohne feste Organisation vermögen nur wenige außergewöhnliche Kinder zu gedeihen und sich zu entwickeln; aber Dutzende verkümmern dabei.

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33. Es gibt Fehler, die du immer wieder begehen wirst, denn du bist ein Mensch und keine Maschine. Traurig, niedergeschlagen, angegriffen und verbittert bemerkst du bei einem Kinde Charakterzüge, die die Erwachsenen böse und schädlich finden: Unaufrichtigkeit, kalte Berechnung, hässliche Überheblichkeit, gemeine Hinterlist, gierige Unersättlichkeit; gehst du dabei nicht allzu impulsiv vor? Die Rechnung, so scheint mir, geht nicht auf. So kommt beispielsweise jeden Augenblick ein anderes Kind in die Kanzlei herein, obwohl den Kindern der Eintritt dort verboten ist. Als Letztes kommt ein Bub und bringt mir einen kleinen Blumenstrauß als Geschenk: Ich werfe den Strauß aus dem Fenster, packe den Kleinen bei den Ohren und setze ihn vor die Tür. Man braucht keine weiteren Beispiele solch unvernünftigen und rohen Verhaltens anzuführen … Aber ein Kind ist nicht nachtragend. Es ist beleidigt und gerät in Zorn; aber dann denkt es nach und schreibt sehr oft sich selbst die Schuld zu. Ein paar empfindsamere Kinder werden dich zwar meiden, wenn du böse oder beschäftigt bist; aber sie verzeihen, wenn sie bemerken, dass du ihnen wohl willst. Es ist keine übernatürliche Intuition des Kindes, die es wissen lässt, wer es liebt, sondern die Wachsamkeit des abhängigen Wesens, das gründliche Erfahrungen sammeln muss; denn in deinen Händen liegt sein Wohlergehen. In ähnlicher Weise beobachtet ein Beamten-­Sklave seinen Chef und macht sich so lange Gedanken über ihn, bis er seine Gebräuche, Neigungen und Launen, das Zucken seiner Mundwinkel, seine Handbewegungen und ein Funkeln seiner Augen erkannt und zu deuten gelernt hat. Und dann weiß er, wann er um eine Gehaltserhöhung oder um Urlaub bitten kann, und er wartet manchmal geduldig lange Wochen auf den entsprechenden Augenblick. Gesteht den Kindern Unabhängigkeit zu, und sie werden diese Beobachtungsgabe verlieren. Ein Kind verzeiht den Mangel an Takt und die Ungerechtigkeit; aber es verschließt sich dem Erzieher, der ein Pedant oder ein kalter Despot ist. Unwillig weist es jede Falschheit zurück, oder es macht sich darüber lustig. 34. Keinem bleiben die Fehler erspart, die ihren Ursprung in dem gewohnten Zwang herkömmlicher Begriffe haben, in der Annahme allgemeingültiger Verhaltensweisen, in dem üblichen Verhältnis zu Kindern als zu niederen Wesen, die unzurechnungsfähig sind und uns in ihrer naiven Unerfahrenheit belustigen. Geringschätzig, spöttisch oder gönnerhaft wirst du dich ihren Sorgen, Wünschen und Fragen gegenüber verhalten und damit immer irgendein Kind empfindlich verletzen. Ein Kind hat das Recht, zu verlangen, dass man seinen Kummer ernst nimmt, und

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sei es den um ein verlorenes Steinchen; seine Wünsche müssen beachtet werden, auch wenn es sich dabei nur darum handelt, dass es ohne Mantel spazierengehen will, obwohl es draußen friert; ebenso muss seine Frage beachtet werden, die anscheinend nicht zur Sache gehört. Aber du nimmst keinen Anteil an seinem Verlust; mit einem kurzen »Das geht nicht« weist du seine Bitte zurück; seine zweifelnden Fragen schneidest du einfach ab: »Bist noch zu dumm.« Weißt du, warum der Junge an jenem heißen Tag seinen Umhang tragen wollte: Weil sein Strumpf vorn am Knie gestopft war – und im Garten war ein Mädchen, das er verehrt … Du hast keine Zeit; du kannst nicht ständig achtgeben und nachdenken, um die verborgenen Gründe offensichtlich unsinniger Wünsche aufzuspüren, kannst nicht immer in die unerforschlichen Gebiete kindlicher Logik, Fantasie und Wahrheitssuche eindringen – dich nicht immer mit seinem Sinnen und Trachten beschäftigen. Du wirst all diese Fehler begehen; denn nur der allein begeht keine Fehler, der überhaupt nichts tut. 35. Ich bin von heftiger Gemütsart. Weder olympische Ruhe noch philosophischer Gleichmut sind mein Teil. Das ist nicht gut. Aber was soll ich tun? So ist es nun einmal. Wenn ich, als der Verwalter, von meinem Herrn, dem Leben, gescholten werde, ärgere ich mich darüber, dass das Kind, der Sklave, nicht begreift, welche Mühe es mich kostet, seine Fesseln um ein Glied zu lockern, sie um ein Gramm leichter zu machen. Ich spüre Widerstand, wo ich nicht nachgeben darf; und als Beamter sage ich mir: Du musst; als Naturforscher jedoch: Du kannst nicht. Bin ich Knecht, so werde ich böse, weil das Vieh Flurschaden anrichtet; bin ich Mensch, so freue ich mich darüber, dass die Kinder – lebendig sind. Ich bin abwechselnd ein Gefängniswärter, der streng darüber wacht, dass die in Zirkularen befohlene Ordnung eingehalten wird; dann wieder rebelliere ich, ein Gleicher unter Gleichen, ein Gefangener unter Schicksalsgefährten, gegen die Gesetzes-Despotie. Wenn ich mit dem Kopf gegen ein Problem anrenne, dem gegenüber ich machtlos bin, wenn sich Bedrohliches ankündigt, das ich – obzwar ich schon ängstliche Vorsorge und Voraussicht in Person bin – nicht verhüten kann, wenn ich ihre Sorglosigkeit und ihr Vertrauen sehe, verspüre ich schmerzlichen Zorn hier und herzliches Wohlwollen dort. Wenn ich im Kinde den unsterblichen Funken des den Göttern entwendeten Feuers wahrnehme, den Glanz frei sich entfaltender Gedanken, die Würde seines Zorns, den Schwung seines Eifers, herbstliche Trauer, opferbereite Anmut, ängstliche Hoheit, und ferner mutiges, fröhliches, vertrauendes, zupackendes Suchen nach Ursachen und Wirkungen sowie unendlich mühevolle Versuche, beunruhigende Ge-

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wissensregungen – dann knie ich demütig nieder, denn ich bin geringer, schwach und ein Feigling. Was bin ich euch, wenn nicht Ballast für euren freien Flug, Spinnweb auf euren bunten Flügeln, die Schere, die der blutigen Pflicht genügt, eure keimenden Triebe zu beschneiden. Ich bin ein Hindernis auf eurem Weg, der ratlos hin und wieder Schwankende, der Krittler, der euch zusetzt, der Unaufrichtige, Verschweigende, farblos und lächerlich, wenn ich euch überzeugen möchte. 36. Die guten Erzieher unterscheiden sich von den schlechten nur durch die Anzahl der begangenen Fehler, des begangenen Unrechts. Es gibt Fehler, die ein guter Erzieher nur einmal begeht, die er, wenn er sie kritisch überdacht hat, nie wiederholt. Ein solcher Fehler bleibt ihm lange im Gedächtnis. Wenn er unbillig handelt, taktlos oder übermüdet ist, dann wird er alle Mühe darauf wenden, die kleinen, aber zeitraubenden Tätigkeiten zu mechanisieren, denn er weiß, dass etwas deshalb nicht in Ordnung ist, weil er zu wenig Zeit hat. Ein schlechter Erzieher gibt den Kindern die Schuld am eigenen Versehen. Ein guter Erzieher weiß, dass es sich lohnt, auch über winzige Episoden nachzudenken; es sind Probleme in ihnen verborgen – darum achtet er sie nicht gering. Er weiß auch, was zu tun ist, wenn die triumphierende Staatsmacht oder die herrschende Kirche etwas fordern (die sich ja für Tradition und Sitte allein zuständig halten) und wie man sich unter dem eisernen Zwang der äußeren Bedingungen verhalten muss. Er weiß, dass eine Anordnung nur in dem Sinne das »Wohl« der Kinder zum Ziel hat, als sie die Kleinen lehrt, sich dann zu beugen, nachzugeben, zu berechnen und zu Kompromissen für die Zukunft bereit zu sein, wenn sie erwachsen sind. Ein schlechter Erzieher glaubt, dass die Kinder schon von sich aus keinen Lärm machen und ihre Kleidung nicht beschmutzen dürften, dass sie von sich aus gewissenhaft grammatikalische Formeln lernen sollten. Ein verständiger Erzieher wird nicht unwillig, wenn er ein Kind nicht versteht, sondern er denkt nach, forscht und fragt bei den Kindern an. Sie lehren ihn, sie nicht allzu empfindlich zu kränken – wenn er nur lernen will. 37. »Bei mir gibt es keine Strafen« – sagt ein Erzieher, und manchmal ahnt er selbst gar nicht, dass es sie bei ihm nicht nur gibt, sondern dass sie sogar sehr streng sind. Es gibt zwar keinen Dunkelarrest, aber doch Isolierung und Freiheitsberaubung. Das Kind wird nur in die Ecke gestellt, an einen separierten Tisch gesetzt und bekommt keine Erlaubnis, seine Eltern zu besuchen. Ball, Magnet, Bilderchen, ein Parfümfläschchen werden ihm weggenommen – also Konfiskation seines

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Eigentums. Es darf nicht mehr zusammen mit den älteren Kindern schlafen gehen, am Feiertag seinen neuen Anzug nicht anziehen – es wird also einzelner Rechte und Privilegien beraubt. Und endlich – ist es denn keine Strafe, wenn der Erzieher sich frostig verhält, sich von ihm abwendet und es seine Unzufriedenheit spüren lässt? Du wendest also Strafen an, nur in gemilderter und veränderter Form. Kinder fürchten sich davor, ob es sich nun um eine große oder eine kleine Strafe handelt oder vielleicht nur um eine symbolische. Verstehst du: Die Kinder fürchten sich – es herrscht Disziplin! Man kann die eigene Liebe geißeln, so wie man früher den Leib gegeißelt hat, aber auch das Empfinden des Kindes. 38. Es gibt keine Strafen – ich mache dem Kinde nur klar, dass es böse gehandelt hat. Wie tust du das? Du sagst: Wenn es sich nicht bessert, bist du gezwungen, es aus dem Internat zu weisen. Einfältiger, du drohst ihm die Todesstrafe an. Du wirst es ja gar nicht ausweisen: Jenes andere, das vor einem Jahr fortgeschickt wurde, war krank, war nicht normal; aber dieses hier ist gesund, ein lieber kleiner Lausbub, aus dem später einmal ein tüchtiger Mensch wird; du willst es nur einschüchtern. Schau, auch eine Kinderfrau schenkt das Kleine nicht dem Bettler auf der Straße, sie führt es nicht in den Wald, damit die Wölfe es fressen – auch sie droht nur. Den Vormund wirst du rufen, um mit ihm zu sprechen: Das ist eine Drohung von noch größerem Raffinement. Du drohst, es werde auf dem Gang schlafen und auf der Treppe essen müssen; ein Lätzchen wirst du ihm umbinden; immer suchst du eine um eine Stufe härtere Strafe aus, als sie gerade gebräuchlich ist. Manchmal sind es keine fest umrissenen, sondern nicht näher bestimmte Strafen: »Ich sag es dir zum letzten Mal! – Du wirst schon sehen, das nimmt ein böses Ende. – Du bringst es gewiss noch so weit. – Mehr sag’ ich dir nicht: Mach nur, was du willst. – Jetzt nehm ich dich aber allen Ernstes vor.« Allein schon die Vielzahl solcher Redewendungen beweist, wie weit Strafen dieser Art verbreitet sind – und wie sie missbraucht werden. Ein Kind nimmt das nicht selten ernst, immer aber wenigstens teilweise. »Was wird jetzt mit mir geschehen?« Er hat mich jetzt nicht bestraft; wenn er es aber noch tut, wann geschieht es dann und wie? Angst vor dem Ungewissen, Überraschenden. Wenn du es aber gleich bestraft hast, so hat es sich über den anderen Tag schon von dem schmerzlichen Erlebnis entfernt und ist der Versöhnung und dem Vergessen nähergekommen. Wenn es aber zwei Tage nach einer Strafandrohung mor-

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gens erwacht, dann ist vielleicht schon der Augenblick einer schwerwiegenden »Abrechnung« nahe. Kinder lassen sich durch Drohungen in harter Zucht halten; man könnte bei mangelndem kritischem Vermögen annehmen, dies sei ein behutsames Vorgehen – im Gegenteil: Die leere Drohung ist eine viel härtere Strafe. 39. Oberflächliche Beobachtungen führen zu dem weit verbreiteten, aber falschenSchluss, ein Kind vergesse seinen Kummer, seinen Groll und seine guten Vorsätze rasch. Eben hat es noch geweint – schon lacht es wieder. Kaum ist der Streit beendet – schon spielen sie wieder zusammen. Vor einer Stunde erst hat es Besserung versprochen – und schon stellt es wieder etwas an. So ist es nicht: Kinder haben ein gutes Gedächtnis für ihren Groll; ein Kind kann dich leicht an ein Unrecht erinnern, das es vor Jahresfrist erlitten hat. Es hält ein erzwungenes Versprechen nicht, weil es das einfach nicht vermag. Es läuft herum und spielt, weil es sich von der allgemeinen frohen Stimmung hat hinreißen lassen; dann aber, in der Stille, bei seinem Buch, am Abend vor dem Einschlafen, kehren ihm die kummervollen Gedanken wieder. Manchmal bemerkst du auch, dass ein Kind dir ausweicht. Es kommt nicht mehr mit Fragen zu dir, lächelt nicht mehr im Vorübergehen und betritt dein Zimmer nicht mehr. »Ich dachte, Sie sind immer noch böse auf mich«, klagt es, wenn man es fragt. Du selbst kannst dich kaum noch daran erinnern, dass du ihm vor einer Woche wegen eines kleinen Vergehens mit erhobener Stimme etwas Unerfreuliches gesagt hast, das keinesfalls im rechten Verhältnis zu seinem Fehler stand. Und ein ehrgeiziges oder empfindsames Kind hat, ganz in der Stille und von dir unbemerkt, inzwischen manche bedrückte Stunde verbracht. Das Kind hat ein gutes Gedächnis. Eine trauernde Witwe wird durch ein Gespräch abgelenkt, das eine scherzhafte Wendung nimmt, und sie lacht herzlich; sofort besinnt sie sich jedoch wieder und seufzt: »Ach, da lach’ ich nun und mein armer, seliger Mann.« Sie weiß, dass sich das so gehört. Früh schon lehrst du die Kinder diese »Kunst«; verweise es einem Kinde streng, dass es fröhlich ist, wo es doch traurig und zerknirscht sein sollte – es wird dir folgen. Oft konnte ich beobachten, wie ein Kind, das sich lebhaft am Spiel beteiligte, plötzlich eine bekümmerte Miene aufsetzte, nachdem es meinem finsteren Blick begegnet war. »Natürlich, es schickt sich nicht, fröhlich zu spielen, wo man doch böse auf dich ist.« Denk auch daran: Es gibt Kinder, die so tun, als sei ihnen alles gleichgültig: Der soll nur nicht meinen, dass ich Angst habe, mich gräme, daran denke! Wenn die Strafe zu dem Zweck verhängt worden war, sie zu beschämen und zu demütigen, so

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verlangt es das Ehrgefühl, sich nun erst recht nichts daraus zu machen. Gerade die Kinder sind es, die am lebendigsten empfinden und ein langes Gedächtnis haben. 40. Es gibt also keine Strafen, sondern nur Tadel, Ermahnungen und Zureden. Aber wenn sich darin der Wille zur Herabsetzung verbirgt? »Schau her, wie sieht dein Heft wieder aus? Wem siehst du wohl ähnlich? Da hast du aber was Schönes angerichtet. Seht mal, was der gemacht hat!« Das Publikum – seine Kameraden – sind nun verpflichtet, spöttisch zu lachen und ihr Erstaunen, ja sogar ihre Verachtung auszudrücken. Alle tun das nicht; je anständiger sie sind, desto zurückhaltender zeigen sie sich – auch wenn es gilt, ein wenig schmeichelhaftes Urteil abzugeben. Es gibt noch eine andere Art zu strafen: ständige Geringschätzung und erniedrigende Resignation. »Hast du noch nicht aufgegessen? Wieder einmal der Letzte? Wieder einmal etwas vergessen?« Ein vorwurfsvoller Blick, eine Handbewegung, ein Seufzer der Verzweiflung. Der Delinquent lässt schuldbewusst den Kopf hängen; manchmal betrachtet er auch finster, voller Empörung und Abscheu die Meute, die ihn hetzt, um in einem unbeobachteten Augenblick mit den Richtigen abzurechnen. »Gib mir das.« – Das war von einem bestimmten Jungen öfter als von den anderen Kindern zu hören. In recht scharfer Form rügte ich diese üble Gewohnheit. Ein Jahr später, als die Spitznamen notiert wurden, welche die Kinder erhalten hatten, bekam ich das Echo meiner taktlosen Anrede zu hören: Von allen anderen hatte der Junge den peinlichsten Spitznamen: »Bettler – Gibmirdas«. Auslachen ist eine schwere, empfindliche Strafe. 41. Du sprichst das Gefühl an. »So also liebst du mich? Du hast es versprochen, und so hältst du dein Versprechen?« Eine behutsame Bitte, ein herzlich gemeinter Vorwurf, ein Kuss als Anzahlung auf die begehrte Besserung, schließlich wieder ein erzwungenes Versprechen. Und dann überlässt du das Kind sich selbst, dem bedrückenden Gefühl in seiner Seele: Es hat sein Versprechen, verpflichtet durch deine Güte und dein großmütiges Verzeihen, im Gefühl seiner Ratlosigkeit erneuert, oft ohne an die Möglichkeit einer Besserung zu glauben; es entschließt sich dazu, noch einmal den entscheidenden Kampf gegen seine jähe Art, seine Faulheit, sein zerstreutes Wesen aufzunehmen – und damit gegen sich selbst. »Aber was geschieht, wenn ich wieder etwas vergesse, zu spät komme, zuschlage, frech antworte, etwas verliere?«

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Manchmal legt ein Kuss schwerere Fesseln auf als die Zuchtrute. Hast du nicht bemerkt, dass man zu einem Kinde, wenn es Besserung versprochen hat und trotzdem etwas anstellt, sehr feinfühlig sein muss? Sonst folgt dem ersten das zweite oder gar das dritte Vergehen nach. Dann kommt der Schmerz über die erlittene Niederlage und die Abneigung gegen den Erzieher – denn er hat den ungleichen Kampf durch das abgelistete Versprechen erzwungen. Du erneuerst den aufreizenden Appell an sein Gewissen, an sein Gefühl – das Kind jedoch wird dich heftig von sich stoßen. Seinem Unwillen begegnest du mit einem ungestümen Zornesausbruch, du schreist es an. Das Kind hört nicht auf dich; es spürt nur, dass du es aus deinem Herzen verbannst, dass du ihm dein Wohlwollen entziehst. Du bist ihm fremd, es ist allein – ringsum ist alles leer. Aber du wendest in deiner Erregung alle möglichen Strafen an: Drohungen, Vorwürfe, Spott und auch wirkliche Strafmaßnahmen. Sieh nur, mit welchem Mitgefühl die anderen Kinder es anschauen, wie liebevoll sie es zu trösten versuchen: »Der Lehrer hat nur so gesagt. Hab keine Angst – das ist nicht schlimm, gräm dich nicht, das vergisst er wieder.« Ganz vorsichtig geschieht das alles, um den Erzieher nicht aufzubrin­gen, ihn nicht mit seinem aufgebrachten Opfer zu entzweien. So oft ich selbst eine »große Szene« gemacht habe, so oft gab es da neben dem Unbehagen auch eine beglückende Erfahrung: Einem Kinde hatte ich Unrecht getan, aber viele hatte ich eine große Tugend gelehrt – die Solidarität im Unglück. Die kleinen Gefangenen wissen, wie Schmerz tut. 42. Manchmal, wenn du ein Kind hart anfährst, liest du in seinen Augen aufrührerische Gedanken. »Du meinst vielleicht, ich habe das vergessen. Ich weiß das alles noch ganz gut.« Das Kind, das Reue nicht zu heucheln vermag, sagt dir mit seinen unwilligen Blicken: »Da kann ich doch nichts dafür, dass du so ein gutes Gedächtnis hast.« Ich: Ich bin geduldig gewesen. Ich habe darauf gewartet, dass du dich besserst. Das Kind: »Sehr schade. Du hättest nicht warten sollen.« Ich: Ich habe gedacht, dass du endlich einmal zur Vernunft kommen würdest. Ich habe mich geirrt. Das Kind: »Wenn du wirklich so klug bist, dann solltest du dich nicht irren.« Ich: Du denkst wohl, weil ich dir verzeihe, könntest du dir alles erlauben? Das Kind: »Ich denke überhaupt nicht so. Wann ist das alles endlich vorbei?« Ich: Mit dir ist es nicht länger auszuhalten.

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Das Kind: »Auch Quatsch, du bist heute böse und scharf wie Meerrettich, deshalb hast du es auf mich abgesehen …« Manchmal bewahrt ein Kind bei einem solchen Sturm eine sto­ische Ruhe, die erstaunlich ist. »Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass man nicht auf den Betten herumspringen darf!«, wettere ich. »Die Betten sind nicht zum Spielen da. Zum Spielen sind Bälle da oder ›Kopfzerbrecher‹.« »Was sind ›Kopfzerbrecher‹?«, fragt es neugierig. Als Antwort gab ich ihm eins auf die Finger … Ein anderes Mal wurde ich nach einem erregten Gespräch gefragt: »Ach bitte, Herr Lehrer, warum wird jemand so rot, wenn er sich ärgert?« Während ich also meine Stimme und mein Gehirn strapazierte, um den Jungen auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, beobachtete er das Spiel der Farben, die der Affekt in meinem Gesicht hervorbrachte, mit größter Aufmerksamkeit. Ich gab ihm einen Kuss – denn er war bezaubernd. 43. Zu Recht verabscheuen Kinder kollektive Beschuldigungen. »Mit euch kann man nicht im Guten auskommen … Wieder habt ihr … Wenn das nicht besser wird mit euch …« Warum auch soll die Schuld eines einzigen Kindes oder einiger weniger unter die Verantwortlichkeit der Allgemeinheit fallen? Wenn ein kleiner Zyniker den Sturm verursacht hat, dann wird er befriedigt sein; er wird, wenn sich die volle Schale des Zorns über den Kindern insgesamt entleert, nur einige Spritzer abbekommen. Ein Rechtschaffener fühlt sich dagegen hart betroffen, wenn er so viele schuldlose Opfer seines Vergehens sieht. Manchmal fallen die Donnerschläge auf eine bestimmte Gruppe nieder: Die Jungen taugen nichts – oder umgekehrt: Die Mädchen sind ausnehmend lasterhaft; am häufigsten heißt es »die Älteren, anstatt ein Beispiel zu geben … seht nur, wie ordentlich die Kleinen sind«. Damit rufen wir neben der berechtigten Empörung der Schuldlosen auch die Verlegenheit der Belobigten hervor, da diese ihre zahlreichen Sünden kennen und sich gut daran erinnern, dass sie selbst einmal am Pranger gestanden sind. Wir erreichen lediglich, dass die kleinen Spötter triumphieren: »Aha, seht ihr wohl, bääh.« Einmal wollte ich auf einen unaufgeklärten Diebstahl besonders feierlich reagieren. Ich betrat den Schlafsaal der Jungen, als sie bereits eingeschlafen waren, schlug im Takt auf einen Bettpfosten und sagte dabei mit vernehmlicher Stimme: »Wieder ist ein Diebstahl vorgekommen. Das muss ein Ende haben. Es ist schade um die Arbeit, wenn man dabei Diebe aufzieht …«

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Dieselbe Ansprache, die übrigens recht weitschweifig war, wiederholte ich im Mädchenschlafsaal. Am nächsten Tag führten die Jungen mit den Mädchen folgendes Gespräch: »Hat er bei euch auch so geschrien?« »Und wie.« »Hat er gesagt, er werde alle herausschmeißen?« »Ja, das hat er gesagt.« »Hat er auch mit der Faust aufs Bett gehauen?« »Mit aller Kraft.« »Und auf welches Bett? Bei uns hat er auf das von Mania gehauen.« So oft ich kollektive Beschuldigungen vorbrachte, kränkte ich die bravsten Kinder, reizte alle gegen mich auf und machte mich in den Augen der kritischen lächerlich: »Das macht nichts, soll er sich doch ein bisschen ärgern, das ist gesund.« 44. Ob denn ein Erzieher nicht begreift, dass ein großer Teil aller Strafen ungerecht ist? Eine Schlägerei. »Er hat mich zuerst gehauen.« »Weil er mich gereizt hat … Er hat mir etwas weggenommen und dann nicht wiedergegeben.« »Ich hab doch nur Spaß gemacht … Er ist ein Spielverderber.« »Ich habe ihn nicht gestoßen, aber er mich.« Und nun hast du entweder beide bestraft (warum wohl?) oder vielleicht den Älteren, der dem Jüngeren hätte nachgeben sollen (weshalb eigentlich?), oder auch den, der rein zufällig die schmerzhafteren oder gefährlicheren Schläge ausgeteilt hat. Du hast sie bestraft, weil es verboten ist, einander zu schlagen. Aber ist es vielleicht erlaubt, sich zu beklagen? Er hat etwas ausgegossen, umgeworfen, zerbrochen. »Ich habe es aber nicht absichtlich getan.« Er wiederholt deine eigenen Worte: Du heißt ihn verzeihen, wenn ihm die anderen unabsichlich einen Schaden zufügen. »Ich hab nicht gewusst … Ich dachte, man dürfe.« Er ist zu spät gekommen, denn … er kann, aber … Triftige Gründe verwirfst du als Ausreden. Das ist eine doppelte Beeinträchtigung: Du glaubst ihm nicht, obwohl er die Wahrheit sagt, und du bestrafst ihn auch noch ungerecht. Manchmal wird ein sachlich bedingtes Verbot zu einem unbedingten. Manchmal hört ein solches Verbot auch auf, es zu sein. Im Schlafsaal darf man keinen Lärm machen, aber es ist erlaubt, sich mit gedämpfter Stimme zu unterhalten. Wenn du gut aufgelegt bist, lachst du selbst über einen unschuldigen Streich; wenn du dich aber abgespannt fühlst, rügst du

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das übliche Schlafsaalgeschwätz im besten Falle immer noch mit der barschen Bemerkung: »Genug mit dem Gequassel … Kein Wort mehr … Wer noch einmal schwatzt …« Es ist nicht erlaubt, die Kanzlei zu betreten; aber die Kinder halten sich nicht daran. Heute hast du gerade die Monatsabrechnung zu machen und brauchst Ruhe. Das Kind hat das nicht gewusst, ist also hereingekommen und hat dich gestört. Indessen auch dann, wenn du ihn nicht bei den Ohren genommen und ihn nicht herausgesetzt, sondern zu ihm nur gesagt hast: »Was kommst du hier reingekrochen? Mach, dass du rauskommst, aber sofort.« – Auch dann ist dein Ärger eine unverdiente Strafe für ihn. 45. Beim Ballspiel hat einer eine Fensterscheibe zerbrochen – du hast das entschuldigt, weil das nur selten vorkommt, weil du nicht weißt, wer wirklich Schuld hat, und weil du nicht strafen magst. Wenn es aber bereits die vierte Fensterscheibe ist, und wenn sie von so einem Lausbuben eingeschlagen worden ist, der auch noch schlechte Noten im Unterricht hat – dann schreist du ihn an, dann drohst du ihm und bist wütend. »Das war unabsichtlich«, antwortet er freimütig (deiner Überzeugung nach aber frech). Die vierte Fensterscheibe … dieser Lausbub … ein schlechter Schüler … ein Faulpelz … er gibt auch noch freche Antworten … Erzieher, ich versichere dir, du wirst ihm auf die Finger klopfen. Und doch – ein Kind kann dies nicht begreifen; es bringt kein Verständnis dafür auf, dass du es um des Beispiels willen bestraft hast, dass es (weil es als weniger empfindlich gilt) für die Anwendung einer wirkungsvollen Strafe geeignet sein soll, dass du ihm die Strafe nicht für diesen einen Fall, sondern für sein gesamtes Tun und Lassen zugemessen hast. Es weiß, dass du drei anderen Kindern gegenüber nachsichtig warst; ihm aber hast du eine ungerechte Strafe auferlegt. In einem anderen Falle bist du so vorgegangen: Du hast den Ball an dich genommen. »Ballspielen verboten.« Dies ist ungerecht: Die Strafe trifft ein gutes Dutzend schuldloser Kinder. Du bist ein wenig nachsichtiger: Du kündigst an, du nähmest den Ball weg, wenn noch eine Scheibe eingeschlagen würde; damit wendest du aber eine Strafandrohung allen gegenüber an, obwohl nur vier daran Schuld haben würden. Aber auch von diesen Vieren sind nicht alle schuld; denn der eine hat eine Fensterscheibe zerschlagen, die bereits einen Sprung hatte, der Zweite hat sie nicht ganz zerschlagen, sondern nur ein kleines Eckchen, der Dritte hat sie wirklich eingeschlagen, aber er wurde gestoßen: Wirklich schuld ist aber nur jener Vierte, der ständig etwas anstellt, was den Erzieher gegen ihn aufbringt.

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46. Du hast verziehen, ganz allgemein ohne jeden Vorbehalt. Du glaubst, du seiest richtig verfahren. Du irrst dich. »Wenn ich das gemacht hätte«, denkt der eine. »Der darf das alles«, denkt ein anderer, »den hat der Lehrer gern.« Wieder warst du ungerecht. Es gibt Kinder, für die ein Stirnrunzeln, ein hartes Wort oder ein behutsames »Du machst mir Kummer« eine ausreichende Strafe ist. Wenn du Verzeihung üben willst, so müssen die Kinder verstehen, warum du das tust, und auch das Einzelne soll begreifen, dass ihm nicht mehr als den Übrigen erlaubt ist. Andernfalls wirst du es verwöhnen, wirst du ihm zu viel Freiheit lassen, und du wirst es einer Kindergemeinschaft überantworten, die sich in ihrem Rechtsempfinden beeinträchtigt sieht. Du wirst einen Fehler begehen; und sowohl das betreffende Kind als auch die anderen Kinder werden dir ihrerseits eine Strafe zumessen. Vergiss für einen Augenblick die vier zerschlagenen Fensterscheiben (eigentlich sind es ja nur zwei, denn die eine hatte bereits einen Sprung, und von der anderen ist nur eine kleine Ecke eingedrückt). Vergiss einmal den Schaden und sieh dich dafür um, wie viele Gruppen den Vorfall besprechen oder kommentieren. In jeder Gruppe ist es ein anderer, der die »öffentliche Meinung« zu deinen Gunsten oder Ungunsten beeinflusst. Die »Rechtspartei« kommt zu der Feststellung, dass Fensterscheiben teuer sind, dass der Erzieher Unannehmlichkeiten mit dem Vorstand haben wird; denn die Vorsteher werden sagen, er sei zu gutmütig, und die Kinder gehorchten ihm nicht, und es herrsche keine Ordnung: Eine härtere Strafe sei also am Platz. Die »Linkspartei« (die begeisterten Fußballspieler): »Mit nichts darf man spielen, alles wird verboten. Wenn nur ein Einziger etwas anstellt, gibt es gleich Geschrei, Drohungen oder ein großes Theater. Wir können doch nicht den ganzen Tag dasitzen wie gemalte Puppen.« Nur das »Zentrum« nimmt alles vertrauensvoll und ergeben hin. Lächle nicht so nachsichtig: Das ist kein Scherz, keine Bagatelle; das ist das wirkliche Leben von Kindern in Kasernen. Also ein für allemal – soll man grundsätzlich und in allen Fällen auf Strafen verzichten, und soll man den Kindern volle Freiheit zubilligen? Aber wenn nun die Willkür eines kindlichen Individuums die Rechte der Allgemeinheit beeinträchtigt? Ein zügelloses Kind lernt nicht von selbst; es stört die Übrigen, es macht sein eigenes Bett nicht und bringt andere Betten in Unordnung, es verbummelt seinen eigenen Mantel und nimmt einen fremden – ja, und was dann? 47. »Sich zu beschweren ist hässlich, ich erlaube das nicht.« Aber was soll ein Kind machen, wenn man es bestohlen hat, wenn man es selbst, Vater oder Mutter be-

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schimpft und ihm in Gegenwart seiner Kameraden Übles nachsagt, wenn es bedroht wird oder zu Bösem überredet werden soll? Sich zu beklagen ist hässlich. Wer hat diesen Grundsatz wohl geheiligt? Haben Kinder ihn von fragwürdigen Erziehern oder Erzieher von missratenen Kindern übernommen? Dieser Grundsatz ist allein für die schlechten und die allerschlimms­ ten Kinder bequem. Die Stillen und Hilflosen werden benachteiligt, ausgenutzt und beraubt – aber um Hilfe rufen, Gerechtigkeit fordern dürfen sie nicht. Die Unrecht tun, triumphieren – die jedoch Unrecht erleiden, haben es zu erdulden. Für einen gewissenlosen oder unfähigen Erzieher ist es bequem, nicht zu wissen, was unter den Kindern vorgeht; er nimmt ihre Streitigkeiten nämlich gar nicht ernst, und er vermag sie nicht vernünftig zu beurteilen. »Sie sollen am besten selbst einig werden.« Und hier, wo es um seine eigene Bequemlichkeit geht, reicht sein Vertrauen in die Kinder so weit, dass er an ihre Vernunft glaubt, an ihre Erfahrung und ihren Gerechtigkeitssinn, und ihnen auf einem so wichtigen Gebiet Handlungsfreiheit zugesteht. Freiheit? Aber nein: Es ist verboten, sich herumzuschlagen, und verboten ist es auch, sich zu zanken; du erlaubst es nicht einmal, ein Kind vom Spiel auszuschließen, und du lässt es nicht zu, dass sich ein Kind absondert. Da hat sich ein Junge über einen anderen geärgert, will nun nicht neben ihm schlafen, nicht neben ihm am Tisch sitzen und nicht mit ihm zusammen in einer Reihe gehen. Das ist eine vollkommen berechtigte und natürliche Forderung – ihre Erfüllung aber ist verboten. Die Kinder sind zänkisch? Das ist unwahr – sie sind sowohl verträglich als auch nachsichtig. Sieh dir die Bedingungen für ihre Arbeit und ihr Zusammenleben genau an. Versuch doch einmal, vierzig Beamte in einem Raum auf unbequemen Bänken unter ständiger Kontrolle eines Vorgesetzten zu halten – sie werden einander die Augen auskratzen. Hör dir die Klagen der Kinder genau an und geh ihnen auf den Grund, und du wirst Mittel und Wege finden, manchem Übelstand abzuhelfen und manchen Klägern Genugtuung zu verschaffen. Der Nachbar ist gegen die hervorstehende Ecke meines Heftes gestoßen – nun ist ein hässlicher Strich mitten über die Seite entstanden, oder die Stahlfeder hat das Papier zerkratzt und dabei Tinte verspritzt. Eine Klage, die in einer Klasse sehr oft zu hören ist. 48. Von besonderer Art sind die Klagen während der Unterrichtspause. »Er lässt uns nicht spielen, er redet uns immer drein …« Die Pause versetzt manche Kinder in den Zustand einer wilden Raserei. Sie rennen, springen, schubsen einander hin und her: sinnloser Lärm, inhaltleere Bewegungen, unverantwort-

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liches Tun. Ziellos läuft ein Kind herum, rennt fast die anderen um, schlenkert mit den Armen, stößt wilde Schreie aus und fällt schließlich den ersten besten an. Gib einmal Acht, wie oft ein so attackiertes Kind sich ärgerlich abwendet, gar nichts sagt und weitergeht. Es gibt Kinder, die ein einmal attackiertes Kind ohne Grund immer wieder anrempeln. »Hau ab, lass sein«, das ist für sie nur das Signal, ihr Opfer nun erst recht nicht in Ruhe zu lassen. Kinder mögen diese Rüpel nicht, und sie halten wegen ihres mangelnden Ehrgefühls und ihrer Taktlosigkeit nichts von ihnen – aber gerade sie geben den meisten Anlass zu Klagen. »Wir spielen so schön, und er … immer er … Wie wir zu spielen anfangen, da kommt er gleich …« Der Kläger bebt vor Zorn, seine Stimme klingt verzweifelt. Die Pause ist kurz, und es ist schade um jeden kostbaren Augenblick; aber der da vergällt, stiehlt einem den kurzen Moment der Freiheit. Denk daran, dass ein Kind nur dann, wenn seine Geduld erschöpft ist, wenn es ratlos ist und sich nicht prügeln will, sich im äußersten Notfall an dich wendet. Es verliert vielleicht nutzlos seine Zeit, und es setzt sich eventuell einer achtlos hingeworfenen oder schroffen Antwort aus. Du musst einen gängigen Satz parat haben, das erspart dir die Arbeit des Nachdenkens. »Er belästigt euch? Ruf ihn mal her«, sage ich. Oft ist damit die Angelegenheit erledigt. Es geht ja darum, den Zudringlichen zu verjagen: Wenn er sieht, dass der andere sich beklagen will, versteckt er sich – also ist der Zweck erreicht. Wenn nun der Kläger wiederkommt und meldet: »Er will nicht kommen«, dann sage ich drohend: »Sag ihm, er hat sofort zu erscheinen.« Im Allgemeinen beklagen sich Kinder selten und sehr ungern. Wenn sich eine bestimmte Gruppe von Kindern oft beschwert, dann muss man den Ursachen nachgehen. Du wirst Kinder niemals wirklich kennenlernen, wenn du ihre Klagen nicht ernst nimmst. 49. »Ach bitte, Herr Lehrer, darf man das, ist das erlaubt, haben Sie nichts dagegen?« Mir scheint, dass ein Erzieher, der Klagen nur ungern entgegennimmt, auch Bitten nicht duldet. Indessen stützt er sich in dem Bestreben, ein überzeugendes Motiv für sein Verhalten zu finden, gerne auf die Grundsatz-Formel: »Alle Kinder sind in ihren Rechten gleich. Es gibt keine Ausnahmen und keine Privilegien.« Ist das richtig? Vielleicht ist es nur bequem? Der Zwang, oft mit »das darf man nicht – das geht nicht« antworten zu müssen, ist für einen Erzieher peinlich. Wenn wir Verbote und Gebote offenkundig auf eine Mindestzahl beschränkt haben, dann ist es ärgerlich für uns, wenn weitere Zu­

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geständnisse gefordert werden. Manchmal erfüllen wir eine Bitte auch dann nicht, wenn wir sie als berechtigt anerkennen, weil dann viele andere Kinder mit neuen Bitten kommen. Wir möchten den Idealzustand erreichen, dass die Kinder die einmal gezogene Grenze als notwendig anerkennen und nicht mehr verlangen. Wenn du dich aber der harten Pflicht unterwirfst, Wünsche nicht von vornherein zurückzuweisen, sondern sie geduldig anzuhören, wenn du sie notierst und ordnest, dann wirst du dich davon überzeugen, dass es sehr oft alltägliche Wünsche gibt, aber auch durchaus ungewöhnliche. Bitten um einen Platzwechsel bei Tisch kamen immer wieder vor und waren lästig. Wir erlaubten den Kindern, einmal im Monat den Platz zu wechseln. Über diese geringfügige Reform ließe sich eine umfangreiche Monographie schreiben, so viele positive Seiten hat sie; wir aber verdanken sie ausschließlich den aufdringlichen Bitten der Kinder. Wehe den Kindern und dem Erzieher, der es fertigbringt, jede nicht im Reglement enthaltene Bitte zu unterdrücken. Diesen Bitten hast du es nämlich ebenso wie den Beschwerden zu verdanken, dass du die meisten Geheimnisse der Kinderseele kennenlernst. 50. Außer den Kindern, die sich direkt an den Erzieher wenden, gibt es auch noch Sendboten, die Bitten anderer Kinder vorbringen. »Er fragt, ob man das darf, ob Sie ihm das erlauben.« Lange Zeit ärgerte mich diese Sorte von Bittstellern, und zwar aus vielen Gründen: Sendboten sind meistens Kinder, die viele eigene Fragen haben, und deren häufige Vorsprachen dir schon lästig geworden sind; sie kommen gewöhnlich zur Unzeit, wenn du es eilig hast, wenn du beschäftigt bist oder bei schlechter Laune; die Anliegen sind oft von der Art, dass die Antwort eindeutig ablehnend lauten muss; ferner könnte es so aussehen, als sei hier ein Protektionssystem wirksam – so als ob der Abgesandte sich selbst das Verdienst eines günstigen Entscheides zuschreiben würde, endlich spricht daraus so etwas wie Geringschätzung: »Komm selbst, sei so gnädig, dich selbst zu bemühen, und bringe deine Bitte nicht durch einen Advo­katen vor.« Die Fruchtlosigkeit des Vorgehens gegen derartige Bitten ließ vermuten, dass dieser Erscheinung tiefere Ursachen zugrunde lagen. Ich habe sie gefunden. Ich entdeckte eine seelische Subtilität, die allen Menschen gemein ist, nicht nur Kindern. Eine schroffe Antwort ist nicht beleidigend für den, der in fremder Angelegenheit bittet. Der Bittende, der nicht der Interessent ist, fühlt sich durch das unwillige Gesicht, die peinliche Verdrießlichkeit, die ungeduldige Handbewegung nicht betroffen. Er erhält nur die Absage.

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Ich konnte einmal sehen, wie der eigentliche Petent von Weitem beobachtete, welchen Eindruck seine Bitte hervorrief; er war bereit, sich auf die erste Aufforderung hin zu stellen, um nähere Erklärungen abzugeben. Als wir in unserem Waisenhaus das System einer schriftlichen Verständigung mit den Kindern einführten, wurde die Anzahl von Bitten durch Vermittlung von Sendboten bedeutend geringer. Und wir hatten von nun an gewöhnlich die Antwort parat: »Er soll aufschreiben, was er haben will, und warum.« 51. Bis zum Überdruss wird ex cathedra die Weisung wiederholt, Kindern auf ihre Fragen zu antworten. Und der arme Erzieher, der das unkritisch für wahr hält, gerät in Konflikt mit seinem Gewissen; denn er ist nicht imstande, ständig gefragt zu werden und immer zu antworten, und er besitzt auch nicht die Geduld dazu. Und er ahnt nicht einmal, dass er ein umso besserer Erzieher ist, je öfter er sich gezwungen sieht, mit einem kurzen »Red nicht« den kleinen Aufdringling abzufertigen. »Habe ich gut geschrieben, die Schuhe schön geputzt, die Ohren gewaschen?« Wenn der Erste fragt, weil ihm tatsächlich manches nicht klar ist, so wollen die näch­ sten nur beachtet werden, ihre Arbeit unterbrechen oder ein Lob einheimsen. Es gibt schwierige Fragen, auf die man besser gar nicht antwortet als mit einer oberflächlichen, unverständlichen Erklärung. Schon der wird das verstehen, der Unterricht in Physik, in Kosmographie oder in Chemie nimmt. Erst recht wird er das verstehen, wenn er Physiologie lernt. Die Antwort aber auf diese Fragen weiß niemand, auch die Erwachsenen nicht, und nicht einmal der Lehrer – keiner weiß das. Man muss sich in das Wesen des Kindes selbst hineinversetzen, ob es nachdenklich ist oder oberflächlich, und was es mit seinen Fragen beabsichtigt: Ist es inhaltsleere Neugier, die es treibt, oder der Wille, ein quälendes Problem zu lösen? Ist es ein Geheimnis der Natur, ein ethisches Problem – oder will es schließlich nur die Möglichkeit einer Antwort erkunden? Und mein Bescheid »Sieh mal im Buch nach, das verstehst du noch nicht – Ich weiß nicht, frag mich in einer Woche wieder« oder »Mach mich nicht verrückt« wird das Ergebnis vieler Einsichten sein. Verdächtig erscheint mir ein Erzieher, der behauptet, er antworte geduldig auf die Fragen der Kinder. Wenn er nicht die Unwahrheit sagt, dann ist er vielleicht den Kindern so fremd, dass sie sich selten und nur ausnahmsweise mit ihren Fragen an ihn wenden. 52. Wenn Klagen, Bitten und Fragen ein Schlüssel sind, um die Seele des Kindes kennenzulernen, so ist eine flüsternd abgelegte Beichte eine breite Landstraße zu ihr hin.

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Hier ein freiwilliges Geständnis, einige Monate nach dem Vor­fall: »Wir waren sehr böse auf Sie; er und ich. Da haben wir uns verabredet, dass einer von uns beiden in der Nacht durchs Fenster in Ihr Zimmer einsteigt, die Brille mitnimmt und sie ins Klosett schmeißt; aber dann haben wir gedacht, es ist schade um die Brille, und wir werden sie nur verstecken. Wir sind nicht eingeschlafen, wir haben nur immer gewartet bis zwölf Uhr nachts. Wie ich schon aufstehen wollte, um zu gehen, wachte ein Junge auf und ging zum Abort. Aber später bin ich wieder aufgestanden. Ich bin durchs Fenster gestiegen – das Herz hat mir so geklopft – die Brille lag auf dem Tisch. Sie haben geschlafen. Da hab‘ ich die Brille schnell genommen und unter meinem Kopfkissen versteckt. Dann haben wir Angst bekommen. Wir wussten nicht mehr, was wir machen sollten. Dann hat er gesagt, dass man sie wieder zurückbringen soll. Da hab ich gesagt, er soll das machen. Aber er wollte nicht. So bin ich wieder aufgestanden, aber durchs Fenster bin ich nicht mehr gestiegen, ich hab’ die Brille nur raufgelegt und ihr einen Schubs gegeben.« Da ich die beiden kannte, wusste ich, woher die Initiative kam, wie langsam der Aus­ führungsplan entstand und warum der Racheakt nicht zu Ende geführt wurde. Über dieses eine Ereignis könnte man einen ganzen Vortrag halten, so viel bedenkenswerte Einzelheiten enthält er. 53. Wenn du einem Kinde zulachst, so sollte die erwartete Antwort ein Lächeln sein. Du erzählst etwas Interessantes und erwartest Interesse. Du ärgerst dich, denn das Kind sollte Reue zeigen. Das bedeutet, dass du auf eine Anregung hin eine normale Reaktion erwartest. Es pflegt anders zu sein: Das Kind reagiert meistens unbegreiflich. Du hast das Recht, dich zu wundern, du solltest darüber nachdenken; ärgere dich jedoch nicht, sei nicht empfindlich. Wohlwollend näherst du dich einem Kind, aber es zieht sich trotzig zurück, und manchmal weicht es dir auch sichtlich aus: Vielleicht hast du ihm etwas angetan, vielleicht auch fühlt es sich selbst schuldig, hat es etwas angestellt, und sein Ehrgefühl erlaubt es ihm nicht, eine unverdiente Zärtlichkeit anzunehmen. Notiere dir das, frag in einer Woche, einem Monat wieder nach: Vielleicht hat es vergessen, vielleicht sagt es, was damals war, vielleicht auch gibt es durch ein verlegenes Lächeln zu verstehen, dass es sich erinnert, aber nichts sagen möchte. Achte sein Geheimnis. Einmal habe ich Kinder streng gerügt: »Was soll das Flüstern in den Ecken, das Heimlichtun in der Klasse; ihr wisst doch, dass ich das nicht liebe.« Die Antwort: stoische Resignation, bösartiger Trotz, mutwillige Heiterkeit. Der sichtliche Mangel an Reue hätte mich aufmerken lassen sollen. Ich begriff nicht

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und vermutete abwegige Umtriebe unserer Widerspenstigen. Aber sie probten insgeheim eine kleine Komödie, mit der sie uns erfreuen wollten. Heute noch werde ich rot bei dem Gedanken, wie lächerlich ich in meinem Jähzorn gewirkt haben muss. 54. »Mein Kind hat keine Geheimnisse vor mir, es vertraut mir alle seine Gedanken an«, sagt eine Mutter. Ich glaube nicht, dass es so ist; aber ich glaube, dass sie danach verlangt und damit einen Fehler macht. Ein Beispiel: Das Kind sieht auf der Straße ein Leichenbegängnis. Ein feierlicher Zug, Laternen, ernste Mienen. Hinter dem Sarg – ein Kind in Trauerkleidung: In einem mit schwarzem Krepp benähten Kleidchen nimmt es teil an einer geheimnisvoll-poetischen Zeremonie. Und ein flüchtiger Gedanke stellt sich ein: Das müsste aber schön sein, wenn die Mama sterben würde … Beklommen sieht es die Mutter an: Oh, es will doch nicht, dass die Mama stirbt, woher kommen nur solche Gedanken? Darf und kann man einem anderen wohl so etwas anvertrauen? Haben wir das Recht, Kinder in Augenblicken schwerer Gewissenskonflikte zu bedrängen? Wenn ein Kind dir ein Geheimnis anvertraut, dann sei froh; denn sein Zutrauen ist die größte Belohnung, das beste Zeugnis. Aber erzwinge nichts, denn das Kind hat ein Anrecht auf sein Geheimnis, erzwinge nichts, weder mit Bitten noch mit List oder Drohungen; alle diese Methoden sind gleichermaßen unwürdig, denn sie bringen dich deinem Erziehungsbefohlenen nicht näher, sondern sie lassen ihn von dir abrücken. Man soll Kinder davon überzeugen, dass wir ihre Geheimnisse respektieren, dass die Frage »Kannst du mir das sagen?« nicht bedeutet »Du musst«. Auf meine Erwiderung »Warum nicht« sollte es nicht mit einer Ausrede, sondern mit einem offenen »Ich kann das nicht sagen« antworten. »Später einmal werde ich darüber sprechen. Niemals sag ich das.« 55. Einmal bemerkte ich, dass ein elfjähriger Junge sich einem Mädchen, das er liebte, näherte und etwas im Flüsterton zu ihr sagte. Ihre Antwort: Sie errötete, ließ schamvoll den Kopf sinken und zuckte verneinend die Achseln. Ein paar Tage später fragte ich, was er von ihr gewollt habe. Keinerlei Verwirrung, sondern der ehrliche Wille, sich zu erinnern: »Ach, ich habe sie gefragt, ob sie weiß, wie viel sechzehn mal sechzehn ist.« Ich war ihm sehr dankbar, denn er hat so viele gute und herzliche Gedanken in mir ausgelöst. Ein anderes Mal erfuhr ich, dass ein Mädchen irgendein geheimnisvolles Abenteuer gehabt hatte, als sie abends durch den Garten ging. Unsere Kinder gehen al-

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lein und einzeln in die Stadt; das ist Bestandteil unseres pädagogischen Programms, und es wäre sehr schmerzlich, wenn wir auf diesen Grundsatz verzichten müssten. Wachsamkeit war geboten. Das Abenteuer im Garten beunruhigte mich. Also bestand ich darauf, dass sie es erzählte, ich drohte, sie werde andernfalls nicht mehr allein ausgehen dürfen. Sie erzählte: Als sie durch den Garten ging, hatte ein vorüberfliegender Vogel ihren Hut verunreinigt: »Er hat mir auf den Kopf gemacht.« Von uns beiden war sicherlich ich weit mehr beschämt. Wenn wir nicht so wenig zartfühlend Kindern gegenüber wären, wie oft müssten wir brennen vor Scham über die Unflätigkeit des Lebens, der die Kinder ausgesetzt sind, und vor der sie zu bewahren wir machtlos sind. 56. Das leise Flüstern eines Geständnisses ist manchmal auch der wispernde Laut einer Denunziation. Tu nicht so entrüstet: Du wirst den Denunzianten anhören, denn das ist deine Pflicht. »Er schimpft auf Sie, er hat ein hässliches Wort über Sie gesagt.« »Woher weißt du das?« »Viele Jungen haben es gehört.« Also zufällig aufgeschnappt und nicht bewusst erlauscht. »Na gut, aber warum sagst du mir das?« Ratlosigkeit: Er hat das nur so gesagt. »Weißt du, warum er auf mich geschimpft hat?« »Er war böse, weil Sie …« Eine Bagatelle, keine bestimmte Absicht. Gewiss hat er auf das Interesse des Erziehers gerechnet, vielleicht hat ihn auch der Gedanke beeindruckt, dass er den Besitz eines wichtigen Geheimnisses mit einem Erwachsenen teilen könnte. »Und du schimpfst nicht, wenn du böse bist?« »Manchmal ja.« »Tu das nicht, dass ist eine hässliche Angewohnheit.« Halt ihm keine Moralpredigt – vielleicht hat er sich wirklich von einer freundlichen Anteilnahme leiten lassen; und wenn nicht – so sind ein paar peinliche Fragen und mangelndes Interesse für die übermittelte Neuigkeit eine ausreichende Strafe. 57. Eine sträfliche Absicht: der Wunsch nach Rache. »Die älteren Jungen führen schweinische Reden, sie haben unanständige Bilder und Verse.«

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»Was sind das für Bilder und Gedichte?« Er weiß es nicht. Er hat sich versteckt, damit sie ihn nicht sahen, und er hat absichtlich gelauscht. Er sagt es, weil es verboten ist, solche Bilder zu besitzen, und er will, dass sie bestraft werden. »Hast du sie vielleicht gebeten, sie sollten dir die Bilder zeigen?« Das hat er getan, aber sie wollten nicht und sagten ihm, er sei noch zu klein. »Und kann ich sagen, von wem ich das weiß?« Nein, das möchte er nicht: Sie würden ihn verhauen. »Wenn du nicht willst, dass ich sage, von wem ich das weiß, dann kann ich ihnen nichts tun. Denn sie werden einen anderen verdächtigen und ihn verprügeln.« Jawohl, er hat keine Angst: Machen Sie es nur, wie Sie wollen. »Ich danke dir, dass du es mir gesagt hast. Bei Gelegenheit werde ich mit ihnen reden und sie bitten, das zu lassen.« Ich bin ihm dankbar: Er hat bemerkt, was zu bemerken ich verpflichtet gewesen wäre. Wenn ich aber noch darauf hinweisen will, wie hässlich Rache ist, so muss ich mir die Moral für später aufheben. Für heute ist es genug: Er ist enttäuscht, er hat einen anderen Effekt erwartet – das Geschoss hat sein Ziel verfehlt. 58. Die Angelegenheit kann wichtig sein und die Absicht rein: Er war in einem Haus, in dem Scharlach herrscht. – Die Kleinen kommen in der Kleiderkammer zusammen, rauchen Zigaretten und können dabei das Haus anzünden. – X überredet Y zum Stehlen. – Z bringt dem Pförtner Essen und bekommt dafür einen Apfel. – Gestern hat ein Herr auf der Straße einem Mädchen einen Besuch in der Konditorei und eine Spazierfahrt im Auto angeboten. Das Kind weiß, warum es davon spricht. Als es die Gefahr oder die Straftat wahrgenommen hatte, schwankte es und wusste nicht, was es tun sollte. Es kommt, um sich Rat zu holen, wie es sich zu verhalten hat, denn es vertraut dir. Die andern werden sich ärgern, gewiss, sie werden ihm aus dem Wege gehen – was hilft es – da ist nichts zu machen. Das Kind hat seine Pflicht getan: Es hat gewarnt. Ich muss es als Berater bei der Lösung einer schwierigen Frage behandeln. Es hat mir einen großen Dienst erwiesen. Und jetzt überlegen wir gemeinsam, was weiter zu tun ist. Gib Acht; so oft ein Kind mit einem fremden Geheimnis zu dir kommt, so ist damit immer ein ungewollter Vorwurf verbunden: »Du hast deine Pflicht nicht erfüllt: Du weißt nicht Bescheid. Und das ist so, weil man dir zwar vertraut, aber nur bedingt – du besitzest das Vertrauen der Kinder, aber keineswegs aller.«

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59. Von dem Augenblick an, da du Bescheid weißt, übereile dich nicht. Gönne dem gewissenlosen Denunzianten nicht den Triumph: »Ich habe aufgepasst, ich habe eine wichtige Mission erfüllt.« Das anständige Kind aber musst du vor der Rache seiner Widersacher behüten – indem du die Aussprache über den fraglichen Sachverhalt verschiebst, kannst du selbst bei erhöhter Wachsamkeit deine Beobachtungen machen. Weiterhin: Wenn du ein Vergehen bemerkst und sofort Alarm schlägst, gibst du den Kindern die Gewissheit, dass du nicht Bescheid weißt, so oft du schweigst. »Woher wissen Sie das, wann haben Sie das erfahren, warum haben Sie es nicht gleich gesagt?«, das sind die häufigsten Fragen, wenn du an eine weit zurückliegende Untat erinnerst. Und weiter: Wenn du nicht übereilig vorgehst, kannst du die Sache zum passenden Zeitpunkt besprechen, wenn das Kind gut aufgelegt ist, wenn die ganze Angelegenheit durch die Zeit an Bedeutung und an Aktualität verloren hat. Ach, das ist lange her: vor einem Monat. Es wird dir ganz offen erzählen, was damals in ihm vorgegangen ist, wie es die Untat ausgeführt hat, und was es vorher, währenddem und danach empfunden hat. Noch ein Vorteil: Du erregst dich nicht, hast Zeit zu erwägen, zu bedenken und dich vorzubereiten. Von einer vernünftigen Lösung hängt manchmal dein ganzes weiteres Verhältnis zu einem Kind oder einer Gruppe von Kindern ab … Ein Junge möchte von deiner guten Stimmung profitieren und bittet dich um eine verschließbare Schublade. »Sehr gern. Dann kannst du deine unanständigen Bilder besser aufbewahren, damit die Kleinen sie nicht finden.« Er ist beschämt, verblüfft, verwundert. Jetzt wird er mit dir reden wollen. Nimm dir Zeit! Wenn er wieder zu sich kommt, wird er dir gern die Bilder geben (sie haben den Reiz des Neuen verloren), er wird sagen, von wem er sie hat und wen er sie hat ansehen lassen. Je ruhiger du sprichst, desto banaler wird die ganze Sache – je verständiger du dich verhältst, desto näher kommst du ihm. 6o. Ein wichtiger Grundsatz. Das Kind soll ruhig Unrecht tun. Geben wir uns doch keine Mühe, jeder Untat zuvorzukommen, bei jedem Schwanken sofort den rechten Weg zu weisen, auf jeder abschüssigen Bahn zur Hilfe zu eilen. Denken wir daran, dass wir in Augenblicken harten Ringens vielleicht nicht da sein können. Soll es nur Unrecht tun. Wenn der noch schwache Wille gegen Leidenschaften angeht, mag er im Kampf ruhig einmal erliegen. Denken wir daran, dass seine moralische Widerstandskraft im Gefecht mit dem eigenen Gewissen üben und wachsen soll.

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Soll es nur Unrecht tun. Denn wenn es in der Kindheit keine Irrwege geht, sondern – stets bewacht und behütet – nicht lernt, der Versuchung zu widerstreiten, dann wird aus ihm, mangels Gelegenheit, ein moralisch passiver Mensch, kein durch die Kraft der Selbstzucht tätiger. Sage nicht: »Ich verabscheue unrechtes Tun.« Sondern lieber: »Es wundert mich nicht, dass du Unrecht getan hast.« Denke daran: Ein Kind hat das Recht, jemanden zu belügen, einem etwas abzulisten, einem etwas abzunötigen, einen zu bestehlen. Es hat indessen nicht das allgemeine Recht, zu lügen, abzulisten, zu erzwingen, zu stehlen. Wenn es kein einziges Mal als Kind Gelegenheit hatte, Rosinen aus dem Kuchen zu klauben und sie heimlich zu naschen, ist es nicht ehrlich; dann wird es auch nicht ehrlich sein, wenn sein Charakter gereift ist. »Ich bin empört.« Du lügst. »Ich verachte.« Du lügst. »Von dir hätte ich das niemals erwartet … Also auch dir kann man nicht trauen?« Es ist schlimm, dass du das nicht erwartet, und es ist schlecht, dass du vorbehaltlos vertraut hast. Ein armseliger Erzieher bist du: Du weißt nicht einmal, dass ein Kind ein Mensch ist. Du bist nicht deswegen empört, weil du eine Gefahr für das Kind wahrnimmst, sondern weil es den Ruf deiner Anstalt gefährdet, deiner pädagogischen Linie, deiner Person: Du bist ausschließlich um dich selbst besorgt. 61. Lass die Kinder Fehler machen, und lass sie frohen Mutes versuchen, sich zu bessern. Kinder wollen lachen, herumtollen, ihren Mutwillen treiben. Erzieher, wenn das Leben für dich ein Friedhof ist, so lass doch wenigstens sie es als eine Wiese betrachten. Selbst wenn du dich in ein härenes Gewand hüllst, Bankrotteur deines zeitlichen Glücks oder opferbereiter Büßer bist – hab doch für sie ein kluges und nachsichtiges Lächeln. Hier soll und muss eine Atmosphäre allergrößter Nachsicht für Späße, Streiche, Schabernack, für Finten, Falschheit und naive Versündigungen herrschen. Hier ist kein Platz für die eiserne Pflicht, den steinernen Ernst, das harte Muss und die bedingungslose Überzeugung.

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Sooft ich auch in den Ton einer Klosterglocke verfiel, beging ich einen Fehler. Glaub mir, das Leben im Internat ist deswegen so trübe, weil wir sein ideelles Niveau allzu hoch ansetzen. Zum hundertsten Mal im Kasernenleben eines Internats wirst du weder wunderbar einheitliche Rechtschaffenheit noch ängstliche Reinheit heranbilden, noch auch jene unbefleckte Unschuld der Gefühle, die nichts von der Existenz des Bösen weiß. Und schließlich, liebst du deine rechtschaffenen, opferbereiten, sanftmütigen Kleinen nicht gerade deshalb so sehr, weil du weißt, wie übel es ihnen ergehen wird? Und endlich, kann denn die Wahrheitsliebe auf die Kenntnis der Wege verzichten, auf denen die Falschheit wandelt? Kannst du es wollen, dass die Ernüchterung plötzlich hereinbricht, wenn die Welt mit brutaler Faust die Ideale zertrümmert? Wird das Kind, wenn es deine erste Lüge bemerkt, nicht von einem Tag auf den anderen aufhören, an alle deine Wahrheiten zu glauben? Schließlich, wenn das Leben Krallen erfordert, haben wir dann das Recht, die Kinder nur mit Schamröte und leisem Seufzen auszurüsten? Deine Pflicht ist es, Menschen großzuziehen, nicht Schäfchen, und Arbeiter, keine Prediger, sondern physisch und moralisch gesunde Menschen. Und Gesundheit ist weder zart besaitet noch opferwillig. Ich möchte gern erreichen, dass mich die Heuchler wegen Unmoral anklagen. 62. Kinder lügen. Sie lügen, wenn sie Angst haben und wissen, dass die Wahrheit nicht herauskommt. Sie lügen, wenn sie sich schämen. Sie lügen, wenn du sie zwingst, die Wahrheit zu sagen, die sie nicht sagen wollen oder sagen können. Sie lügen, wenn sie meinen, es sei notwendig. »Wer hat das vergossen?« »Ich«, gibt ein Kind zu und versucht sich zu rechtfertigen, wenn es weiß, dass du ihm nur sagst: »Nimm den Lappen und wisch auf« oder höchstens hinzufügst: »Tolpatsch.« Auch ein ernsteres Vergehen wird es zugeben, wenn es weiß, dass der Erzieher angelegentlich nachforschen wird und die Wahrheit rücksichtslos aufzudecken beschlossen hat. Ein Beispiel: Einem unbeliebten Jungen hatte man Wasser ins Bett gegossen. Niemand wollte sich dazu bekennen. Ich sagte an, dass keiner den Schlafsaal verlassen dürfe, solange sich der Schuldige nicht melde. Die Stunde, da die älteren Jungen zur Arbeit müssen, vergeht, die Zeit des Frühstücks für alle rückt heran. Das Frühstücksbrot werden sie im Schlafraum essen. Der Unterricht fällt für sie aus, zur Beschäftigungsstunde ist es ohnehin zu spät. Im Schlafsaal ein Gemurmel vertraulicher Beratungen. Es gibt eine Gruppe von vollkommen

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Schuldlosen und andere Gruppen von mehr oder weniger Verdächtigen. Sicherlich ahnen sie schon etwas, vielleicht wissen sie es bereits – vielleicht reden sie auf einen ein, damit er es zugibt. »Bitte …« »Du warst es?« »Ja.« Eine Strafe erübrigt sich: Übertretungen dieser Art werden sich nicht wiederholen … Lass das Kind sein Geheimnis bewahren, du räumst ihm damit das Recht ein, zu sagen: »Ich weiß es, aber ich sage es nicht«, und es wird nicht lügen und sagen, dass es nichts weiß. Lass Kinder offen ihre Gefühle bekunden, auch wenn sie nicht den heiligen Geboten entsprechen. 63. »Wie die Kinder Sie doch lieben« – Ausruf einer sentimen­talen Person. Man sagt, es gäbe Gefangene, die nachsichtige Gefängnis­wärter lieben. Aber ob es wohl ein Kind gibt, das seinem Erzieher nichts nachzutragen hätte? Oft gibt es ein ärgerliches Verbot, ein scharfes Wort, einen verschwiegenen Wunsch, den es nicht offenbart, weil doch »nichts daraus wird«. Wenn Kinder zu lieben meinen, so deshalb, weil das so sein muss, weil die Älteren ihnen das gesagt haben; andere wieder wollen nicht ins Hintertreffen geraten; einige wissen selbst nicht recht Bescheid: Einmal scheint es zu stimmen, ja, sie lieben – aber dann hassen sie ihn wieder; aber alle möchten mich angesichts meiner Fehler ein bisschen »umarbeiten«, besser machen. Die Armen, sie wissen nicht, dass es meine schwerste Schuld ist, kein Kind mehr zu sein. »Wie die Kinder Sie doch lieben.« Wie liefen sie herbei, schmiegten sich an, drängten sich um mich, als ich aus dem Krieg zurückkam. Aber hätten sie sich nicht noch mehr gefreut, wenn plötzlich, überraschend – weiße Mäuse oder Meerschweinchen im Saal erschienen wären? Mutter, Vater, Erzieher, wenn dir ein Kind in einer tiefen, gleichbleibenden, uneigennützigen Liebe zugetan ist – mache ihm leichte Wadenumschläge und gib ihm sogar ein wenig Brom. 64. Es gibt Momente, da liebt ein Kind dich grenzenlos, weil es dich so nötig braucht wie den Herrgott im Unglück; ein krankes Kind und ein Kind, das durch einen entsetzlichen Traum in der Nacht aufgeschreckt ist. Ich erinnere mich an eine Nacht, die ich im Spital am Bett eines kranken Mädchens verbrachte. Von Zeit zu Zeit gab ich ihr Sauerstoff einzuatmen. Im Halbschlaf hielt sie meine Hand ganz fest, und sowie ich die Hand bewegte, flüsterte sie halb bewusstlos und ohne die Augen zu öffnen: »Mama, geh nicht weg.«

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Ich weiß noch, wie – bebend von hoffnungsloser Verzweiflung ein Junge in mein Zimmer kam, der von Toten geträumt hatte und ganz verstört war. Ich nahm ihn in mein Bett. Er erzählte den Traum, sprach von seinen verstorbenen Eltern und dem Leben bei seinem Onkel nach ihrem Tode. Er sprach in einem herzlich-bewegten Flüsterton, sei es, um mich für die unterbrochene Nachtruhe zu entschädigen, sei es in der Furcht, ich könnte einschlafen, noch bevor die bösen Gespenster endgültig von ihm abließen. Ich besitze den Brief eines Jungen, voll von bitteren Vorwürfen gegen mich und das Waisenhaus. Er hatte ihn zum Abschied geschrieben und beklagte sich darüber, dass ich ihn nicht verstanden und schlecht und ungerecht behandelt habe. Zum Beweis, dass er auch Güte zu schätzen weiß, dies Beispiel: Niemals werde er vergessen, dass, als er einmal in der Nacht Zahnschmerzen hatte, ich nicht ärgerlich wurde, weil er mich geweckt hatte, und dass ich nicht davor zurückscheute, ihm arzneigetränkte Watte auf den Zahn zu legen. Diese eine Begebenheit hielt er aus seiner zweijährigen Internatszeit einer herzlicheren Erwähnung würdig. Eigentlich muss ein Erzieher aber ein krankes Kind aus dem Internat entfernen, und nach einem vollen Arbeitstag muss er in der Nacht schlafen. 65. Wir sollten von Kindern weder einzelne noch gemeinsame Opfertaten verlangen. Ein Vater, der schwer zu arbeiten hat, eine Mutter, die unter Kopfschmerz leidet, ein erschöpfter Erzieher – das vermag einmal oder auch noch öfter zu Herzen zu gehen; auf die Dauer wirkt es ermüdend, langweilig und ärgerlich. Wir können Kinder so dressieren, dass sie auf unsere erste schmerzliche oder unzufriedene Geste hin flüstern und auf den Zehenspitzen gehen; aber sie werden sich ungern und lediglich aus Furcht so verhalten, nicht aus Anhänglichkeit. Artig werden sie sein und ein wenig feierlich, denn der Erzieher hat ein Leiden zu tragen. Aber das sollte nur selten vorkommen, eine Ausnahme sein. Und wir Erwachsenen, sind wir immer bereit, den Launen der Alten nachzugeben, ihren ehrwürdigen Ansichten und Altersgrillen? Ich meine, viele Kinder wachsen mit einer Abscheu vor der Tugend heran, weil man sie ihnen unaufhörlich einzuprägen versucht und sie mit guten Worten überfüttert. Mag ein Kind doch selbst allmählich entdecken, wie notwendig, schön und beglückend Selbstlosigkeit ist. Sooft ich Kinder auf ihre Verpflichtungen Eltern und jüngeren Geschwistern gegenüber hinweise, befürchte ich, Fehler zu bege­hen. Sie bringen selbst Bilderchen nach Hause, die sie in einer Lotterie gewonnen haben, und Bonbons, weil ihnen die Freude des kleinen Bruders Vergnügen macht; aber vielleicht ist es auch nur Ehrgeiz, weil sie auch etwas zu bieten haben wie die Erwachsenen.

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Ein Kind hebt von der Sparkasse einen Rubel ab und gibt ihn der kleinen Schwester für ein Paar Stiefelchen. Eine gute Tat. Aber ob es sich wohl des Geldwertes bewusst war – vielleicht ist es nur Leichtsinn? Nicht die Tat, sondern das Motiv ist kennzeichnend für ein Kind, für sein sittliches Profil und für seine mögliche zukünftige Entwicklung. 66. Wir haben die Kinder mit der Verpflichtung zur Dankbarkeit und Ehrerbietung belastet – durch unsere Autorität. Ein Kind empfindet das alles lediglich anders – jedes auf seine Art. Sie achten dich, weil du eine Uhr besitzt, weil du einen Brief mit einer ausländischen Marke bekommen hast, weil du Streichhölzer bei dir tragen darfst und spät schlafen gehst, weil du mit roter Tinte unterschreibst, weil du eine verschlossene Schublade besitzt und alle Privilegien der Erwachsenen. Viel weniger achten sie dich wegen deiner Bildung, in der sie immer wieder Mängel entdecken: »Können Sie chinesisch sprechen, können Sie bis zu einer Milliarde zählen?« Der Erzieher erzählt ganz hübsche Märchen, aber noch schönere wissen die Köchin oder der Hausmeister zu erzählen. Der Erzieher spielt Geige, aber der Altersgenosse schlägt den Ball beim Schlagballspiel höher und weiter. Gutherzigen Kindern imponieren wir alle, kritische senken den Kopf weder vor unserem Verstand noch vor unseren moralischen Qualitäten. Die Erwachsenen lügen, betrügen, sind falsch und benutzen hässliche Ausflüchte. Wenn sie nicht heimlich Zigaretten rauchen, so nur deshalb, weil sie öffentlich rauchen dürfen, weil sie tun können, was sie wollen. Je angelegentlicher du auf die Erhaltung deiner Autorität bedacht bist, desto mehr geht sie dir ab, und je vorsichtiger du dich beträgst, desto leichter entgleitet sie dir. Wenn du nicht bis zum Äußersten lächerlich bist und nicht vollkommen unfähig, wenn du dich nicht in törichter Weise durch Schmeichelei und falsche Nachsicht in die Gunst der Kinder einzuschleichen versuchst – werden sie dich auf ihre Weise achten. Auf ihre Weise – Wie? – Ich weiß es nicht. Sie werden lachen, weil du mager oder weil du dick bist, weil du eine Glatze hast und eine Warze auf der Stirn, weil deine Nase wackelt, wenn du dich ärgerst, und weil du den Kopf zwischen die Schultern ziehst, wenn du lachst. Und sie werden dich nachahmen, sie werden mager oder dick sein wollen und mit der Nase wackeln, wenn sie sich ärgern. Lass es in einer freundschaftlichen Ausnahmesituation, in einem seltenen kameradschaftlichen Gespräch zu, dass sie sagen, was sie über dich denken. »Sie sind so sonderbar. Manchmal habe ich Sie lieb, aber manchmal, da könnte ich Sie vor Wut totschlagen.« »Wenn Sie etwas sagen, dann meint man, das sei alles wahr. Aber wenn man nachdenkt, dann sieht man, dass Sie das alles nur so sagen, weil wir Kinder sind.«

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»Niemals weiß man, was Sie wirklich von uns denken.« »Auch auslachen kann man Sie nicht; denn Sie sind nur selten komisch.« 67. Niemand hat dagegen protestiert, dass ich in meiner für Kinder bestimmten Erzählung Ruhm einem der Helden zu stehlen erlaubt habe. Lange habe ich gezögert, aber ich konnte nicht anders: Dieser Junge mit kräftig entwickeltem Wollen und lebhafter Fantasie musste ganz einfach einmal stehlen. Denn ein Kind stiehlt, wenn es etwas so heftig begehrt, dass es nicht widerstehen kann. Ein Kind stiehlt, wenn von einer Sache sehr viel vorhanden ist, wenn man also einen Teil davon nehmen kann. Es stiehlt, wenn es den Besitzer nicht kennt. Es stiehlt, wenn man ihm etwas gestohlen hat. Es stiehlt, weil es etwas dringend braucht. Es stiehlt, weil es dazu angestiftet wurde. Gegenstand des Diebstahls kann ein Steinchen sein, eine Nuss, ein Bonbonpapier, ein Nagel, eine Streichholzschachtel oder ein Scherben von rotem Glas. Es kommt vor, dass alle Kinder stehlen, dass Diebstahl toleriert wird. Diese kleinen wertlosen Gegenstände sind teils persönliches, teils Gemeineigentum. »Da habt ihr den Plunder, spielt damit.« Und wenn sie sich streiten, was dann? »Hört auf, euch zu zanken: du hast so viel, gib ihm auch was ab.« Er hat eine zerbrochene Schreibfeder gefunden und gibt sie dir. »Da nimm, wirf sie weg.« Er hat ein zerrissenes Bild, einen Bindfaden, eine Glasperle gefunden. Wenn es ohnedies weggeworfen wird, dann kann man es auch aufbewahren. Und allmählich kommt es so, dass die Schreibfeder, die Nadel, das Stück Gummi oder der Bleistift, der Fingerhut und endlich jeder Gegenstand, der auf Fensterbrett, Tisch und Fußboden herumliegt, gleichsam Gemeineigentum wird. Wenn schon in einer Familie daraus hundert Streitigkeiten entstehen, dann werden es in einem Internat täglich tausende sein. Es gibt nun zwei Methoden: Die eine – nichtswürdige – erlaubt es den Kindern nicht, »Gerümpel« aufzubewahren; die andere, richtige, bestimmt: Jeder Gegenstand hat seinen Besitzer, alles, was gefunden wird, muss wiedergegeben werden, ob es nun einen geringen oder gar keinen Wert besitzt. Jeder verlegte Gegenstand muss sofort gesucht werden. So besitzt das Kind klare Richtlinien, und es bleibt nur die eine, die erste Art von Diebstahl übrig; es sind nicht die schlechtesten Kinder, die manchmal der Versuchung erliegen. 68. Betrug ist nur eine andere, eine maskierte Form des Diebstahls. Das Erbetteln von kleinen Geschenken, die offensichtlich unsinnigen Wetten, die Hasard-Spiele oder andere Glücksspiele, und schließlich der Tausch von wertvollen

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Gegenständen (Taschenmesser, Federkasten, Schokoladenschachtel) gegen wertlose. Endlich noch das unbefristete Ausborgen. Meistens verbietet der Erzieher aus Bequemlichkeitsgründen das Tauschen, Geschenkemachen und alle Spiele, denen die Absicht zugrunde liegt, dem Gewinner einen materiellen Vorteil zu verschaffen. Dieses Verbot versperrt dem Benachteiligten ein für allemal den Weg der Klage, die ohnedies schon verfemt ist. Hunderte von höchst lebensechten, interessanten und eigentümlichen Begebenheiten kommen nicht zur Kenntnis des Erziehers; das eine Aufsehen erregende, aufgedeckte Ereignis aber gibt ihm Gelegenheit zu einer rhetorischen Glanzleistung, einer Predigt voller Lebensunwahrheit. Ein noch strikteres Verbot und wieder Stille bis zum nächsten Skandal. Denn ein Verbot wirkt nur für kurze Zeit, weil es vor dem Leben nicht bestehen kann. Was gibt es nicht alles an hässlichen, demoralisierenden und abträglichen Dingen – wegen leichtsinnig übernommener Verpflichtungen, ergaunerter Geschenke und bewusst betrügerischer Transaktionen. Ein Kind, das ein geliehenes Taschenmesser verloren hat, kann zum Sklaven werden. 69. Ein Erzieher, der von der süßen Illusion ausgeht, er werde eine Miniaturwelt reiner, empfindsamer und aufrichtiger kleiner Seelen betreten, deren Gunst und deren Vertrauen so leicht zu erwerben seien, wird bald enttäuscht sein. Und anstatt denen zu grollen, die ihn irregeführt haben, und seine eigene Gutgläubigkeit zu bedauern, wird er sich gegen die Kinder stellen; denn sie haben nicht gehalten, was er von ihnen glaubte. Aber sind sie denn schuld daran, dass man dir den Reiz deiner Arbeit gezeigt, ihre dornenvollen Seiten aber verschwiegen hat? Unter Kindern gibt es ebenso viel böse Menschen wie unter Erwachsenen; für sie ist es freilich weder nötig noch möglich, das zu zeigen. In der Kinderwelt ereignet sich alles, was auch in der verderbten Welt der Erwachsenen geschieht. Du findest hier Vertreter aller Menschentypen und Muster aller ihrer nichtswürdigen Taten. Kinder ahmen nämlich das Leben, die Gespräche und die Bestrebungen des Milieus nach, in dem sie aufgewachsen sind, denn deren Leidenschaften sind alle bereits in ihnen angelegt. Wenn ich morgen eine Gruppe von Kindern treffen werde, dann sollte ich bereits heute wissen, wer sie sind. Es wird unter ihnen Sanftmütige, Nachgiebige, Gutherzige und Vertrauensvolle geben – bis hin zu den ganz Boshaften, offensichtlich Feindlichen, die voller umstürzlerischer Initiative sind, oder bis zu den heuchlerisch nachgiebigen, konspirativ Bösartigen – Intriganten und Kinder mit verbrecherischen Anlagen. Ich sehe voraus, dass es notwendig werden wird, um die Einhaltung der Grundregeln und um die Sicherheit der Armseligen und Braven zu kämpfen. Ich rufe die

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positiven Werte der Kinderschar zur Mitwirkung auf, und ich setze sie den bösen Kräften entgegen. Dann erst beginne ich mit einer planvollen pädagogischen Arbeit, wobei ich mir über die Grenzen erzieherischer Einflüsse in dem fraglichen Bereich ganz klar bin. Ich kann den Grund zu einer Tradition der Wahrheit, der Ordnung, des Fleißes, der Rechtschaffenheit und der Aufrichtigkeit legen, aber ich werde kein Kind zu etwas anderem umformen, als es ist. Birke bleibt Birke, Eiche bleibt Eiche, Ackerrettich bleibt Ackerrettich. Ich vermag zu wecken, was in der Seele schlummert, aber ich kann nichts neu schaffen. Lächerlich würde ich wirken, wollte ich mir oder dem Kind Vorwürfe deswegen machen. 70. Ich habe bemerkt, dass gediegene Erzieher eine Abneigung gegen unaufrichtige Kinder haben. Ich möchte sie darauf hinweisen, dass die Unfreiheit, in der wir die Kinder halten, sowohl Falschheit wie Durchtriebenheit groß werden lässt, sowohl heuchlerische Liebedienerei wie das eigennützige Komödienspiel angeblicher Anhänglichkeit, weil unsere Neigungen ausgenutzt werden. Von dieser Schwäche sind in unterschiedlichem Ausmaß alle betroffen. Sieh hinein in die Seele deiner kleinen Heuchler. Das sind arme Kinder. Manchmal ehrgeizig, aber nicht eben gediegen, vielleicht verkannt, manchmal schwächlich und unansehnlich, verwahrlost, manchmal von dritter Seite aufs Heucheln abgerichtet, verdorben und zum Krüppel gemacht; das gilt ebenso von dir, der du sie nicht magst, wie auch von anderen, die nicht gemerkt haben, dass ihre Anhänglichkeit, ihre Dankbarkeit und Musterhaftigkeit unecht sind und ihnen Vorrechte zugestehen. Wenn so ein gefühlskaltes und boshaftes Kind sich dir nähert und sich an dich schmiegt, dann hast du nicht das Recht, es zurückzuweisen, auch wenn du weißt, dass es sich um ein berechnendes Vorgehen handelt. Vielleicht ist es nicht so gewandt, vielleicht führen dich andere geschickter hinters Licht, mit mehr Anmut, noch verlogener, weil sie dem Bann des eigenen Spiels erliegen? Unter denen, die sich öfter in deiner Nähe zu schaffen machen, als dir lieb ist, befinden sich vielleicht schwache und unbeliebte Kinder, die deine besondere Fürsorge für sich in Anspruch nehmen und erreichen wollen, dass du sie gegen Benachteiligungen in Schutz nimmst. Vielleicht hat ihm jemand eingeflüstert: Sei lieb, bring ihm ein Sträußchen, gib ihm einen Kuss und bring dann deine Bitte vor. Vielleicht kommt das Kind dieser Anweisung nach, ohne Überzeugung, gegen seine aufrichtige, aber frostige Natur, also auf Geheiß, ungeschickt und schwerfällig. Ich war verwundert, als ein zurückhaltender, gefühlsarmer Junge, ein greisenhafter, in sich selbst verschlossener Misanthrop, mir plötzlich Herzlichkeit entgegenbrachte, als Erster über meine Scherze lachte, mir Platz machte und meinen

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Wünschen zuvorkam. Er tat das recht ungeschickt, in dem offensichtlichen Bestreben, auf sein Tun aufmerksam zu machen. So ging das eine gute Weile, und ich gab nicht zu erkennen, wie peinlich mir das war. Als er endlich darum bat, seinen jüngeren Bruder ins Waisenhaus aufzunehmen, spürte ich, dass mir die Tränen kamen: Der arme Kerl, wie viel Mühe hatte es ihn gekostet, über so lange Zeit hin zu sein, was er in Wirklichkeit nicht war. 71. Kinder, die bei den anderen und ihren Rädelsführern unbeliebt sind. Ein wichtiges Thema; Untersuchungen darüber könnten uns vielleicht den Schlüssel liefern zur Lösung manches rätselhaften Erfolgs im Leben, der sich nicht aus einer Skala der Werte ableiten lässt, sondern von unwägbaren, bisher unbekannten Faktoren bestimmt wird. Hübsche, gesunde, heitere Kinder mit Initiative, waghalsig und talentiert, haben immer Freunde, Bundesgenossen und Bewunderer; allzu ehrgeizige haben auch Feinde. So entstehen verschiedene Lager. Es kommt vor, dass Kindergemeinschaften für kurze Zeit einen aus ihren eigenen Reihen begünstigen und an ihre Spitze stellen, um sich später über seinen Sturz zu freuen. Was Wunder, dass ein Kind, das gemeinsame Spiele organisieren kann, Märchen kennt und selbst überall mitmacht, ein gern gesehener Kamerad ist: Es gibt von seinem heiteren Wesen und seinen fantasievollen Einfällen den anderen reichlich ab, so wie ein anderes geschenktes Obst mit seinen Kameraden teilt. Und schließlich, was könnte schöner für Kinder sein, als reichlich vorhandenes Naschwerk oder geistiger Überfluss, von dem sie profitieren können. Kinder mögen keine unbeholfenen Plagegeister unter sich leiden; was sind sie anders als arm an Leib und schwach an Geist? Sie sind auf ihren Erzieher angewiesen und wenden sich an ihn; denn da sie den anderen Kindern nichts zu bieten haben, empfangen sie auch nichts dafür. Es muss so sein, dass jene Kinder dich am meisten in Anspruch nehmen und deine Nähe suchen, die nicht die hochwertigsten sind. Fordere für sie nicht die vollen Rechte, sie selbst verlangen nur wenig. Aber weise sie nicht zurück. 72. Das Kind gibt sich alle Mühe – und ich füge hinzu, es ist dazu berechtigt –, alle Vorzüge, die es besitzt, alle positiven Werte, über die es verfügt, einzusetzen, um auf sich aufmerksam zu machen: also sein angenehmes Äußeres, seine Geschicklichkeit, sein Gedächmis, seine Redegewandtheit, seine klangvolle Stimme und seine Herkunft. Wenn wir es ohne einsichtigen Grund daran hindern, wecken wir seine Missgunst, und es wittert eine boshafte Schikane, vielleicht sogar Neid. »Das ist unser Sänger, unser Vorturner.«

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Vielleicht ist das nicht richtig? Vielleicht wirkt sich das auf ein Kind verderblich aus? Aber es ist auch möglich, dass es dadurch ermutigt wird, offen auszusprechen, was es denkt: Ja, es ist stolz darauf, dass es am besten singt, dass es körperlich am gewandtesten ist. Ist es nicht taktloser, einem Kind unverbindlich zu sagen: »Du meinst wohl, wenn du schön singst und wenn dein Vater Bezirksvorsteher ist, dass du dir dann alles erlauben kannst?« Oder: »Du denkst, du kannst mich mit einem Lächeln irreführen? Du gibst mir wohl deshalb einen Kuss, weil du was haben willst?« Das ist richtig; aber auch du verhältst dich so. Ersetzest du nicht den Mangel an eigenen Gedanken durch dein Gedächtnis oder dein mangelndes Gedächtnis durch Intelligenz? Versuchst du nicht, die Kinder mit einem Lachen fügsam zu machen, weil du nicht drohen kannst oder es nicht magst? Willst nicht auch du mit einem Kuss erreichen, dass ein Kind sich bessert? Verheimlichst du etwa nicht deine Fehler und Mängel? Warum willst du einem Kind ein Recht absprechen, aus dem du selbst deinen Nutzen ziehst, der du dazu noch das erhebliche Privileg von Alter und Stellung besitzest? Weitaus die meisten Kinder besitzen noch keine Vernunft. Sie bedienen sich eines Scharfsinns, den Locke ›Affenverstand‹ nennt. Je günstigere Reifebedingungen du für deine Zöglinge schaffst, umso eher werden aus diesen deinen possierlichen Äffchen Menschen. 73. Kinder, die immer die Letzten sind und oft zu spät kommen – sie sind der Prüfstein für die Geduld des Erziehers. Es läutet – die Uneingeweihten wissen nicht, welcher Anstrengungen es seitens des Erziehers bedarf, wie viel guten Willen die Kinder aufbringen müssen, damit die einhundert auf ein gegebenes Zeichen hin vollzählig antreten. Nur noch eine Zeile der unbeendeten Abschrift, eine Nummer der Zahlenlotterie, ein Wort des begonnenen Gesprächs, und wenigstens bis zum nächsten Punkt, wenn schon nicht bis zum folgenden Abschnitt in dem vorgelesenen Märchen. Beim Verlassen des Zimmers wartest du, um die Tür schließen zu können. Lärmend und einander drängend laufen alle Kinder allzu eilig hinaus, außer einem oder zweien, auf die du warten musst, weil sie im letzten Augenblick noch etwas hineinzustecken oder herauszuholen haben. Du gibst Schuhe oder Mäntel aus – wieder dasselbe. Und du wartest am geöffneten Schrank, bei der Lampe, um sie zu löschen, bei der Badewanne, um das Wasser ablaufen zu lassen, nach Tisch, um das Geschirr ab-

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zuräumen – du wartest beim Beginn oder am Ende einer Tätigkeit auf dieses eine oder auf zwei. Sie haben immer ihre Mütze verlegt, wenn sie ausgehen sollen, und ihre Schreibfeder ist zerbrochen, wenn du mit einem Diktat beginnst. »Schneller! … Beeilt euch! … Geht das noch lange so?  … Bist du endlich so gnädig?« Ärgere dich nicht: Es muss auch solche geben. 74. Ein Verbot, allem Anschein nach nicht beschwerlich, es zu beachten. Du setzt dich vergebens dafür ein, die Kinder gehorchen nicht. Murre nicht. Wir hatten den Kindern verboten, sich abends im Schlafsaal zu unterhalten. »Den ganzen Tag hattet ihr Zeit zum Schwatzen. Jetzt heißt es schlafen.« Offensichtlich ist da etwas, das den Kindern Schwierigkeiten macht, der berechtigten Forderung nachzugeben, denn sie unterhalten sich halblaut, mit gedämpfter Stimme, leisem Flüstern. Ein Gemurmel geht durch den ganzen Schlafsaal. Du hast sie angeherrscht – Stille, aber nicht für lange. Heute, gestern, morgen – immer dasselbe. Es bleibt also nichts anderes übrig, als zum Stock zu greifen, Gewalt anzuwenden oder das Ganze zu untersuchen. »Wovon hast du gestern im Schlafsaal gesprochen?« »Ich habe ihm erzählt, wie es zu Hause war, als der Vater noch lebte. Ich habe ihn gefragt, warum die Polen wohl die Juden nicht mögen. Ich sagte, er soll sich zusammennehmen, dann werden Sie sich nicht immer über ihn ärgern. Ich sagte, wenn ich groß bin, dann fahre ich zu den Eskimos und lehre sie schreiben und Häuser bauen.« Mit einem brutalen »Ruhe da« hätte ich diese vier Gespräche abgeschnitten. Anstatt eines Vergehens wird hier eine der tiefen Herzenssorgen deiner Kinder offenbar. Im Lärm und im Jahrmarktsgetümmel des Tages ist kein Platz für eine vertrauliche Mitteilung, eine trübe Erinnerung, einen herzlichen Rat, eine diskrete Frage. Das Getöse den ganzen Tag über ermüdet dich, du möchtest vor dem Einschlafen noch einen ruhigen Augenblick finden, danach verlangt es auch sie … Du verbietest, dass sie sich am frühen Morgen unterhalten, bevor die festgesetzte Stunde schlägt? Und was macht derjenige, der früher aufwacht, der jeden Tag früher aufwacht? Wieder ließ der zwecklose Kampf um die Morgenruhe im Schlafsaal die Kinder als Sieger hervorgehen, und ich gewann eine Erkenntnis von zwar nicht entscheidendem, aber auch nicht zweitrangigem Gewicht. 75. Ein anderes Beispiel. Oft passierte es mir, dass ich den Kindern Fragen stellte: »Was machst du, was gibt es bei dir Neues, warum bist du traurig, wie gehts deinen Leuten zu Hause?«

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Oft bekam ich die Antwort: »Nichts Neues, alles in Ordnung, ich bin gar nicht traurig.« Dann war ich zufrieden. Um einem Kind mein Interesse, mein Wohlwollen zu bezeugen, hatte ich den Bruchteil einer Minute gebraucht. Oft streichelte ich auch ein Kind im Vorübergehen. Nach einiger Zeit wurde ich darauf aufmerksam, dass die Kinder weder die Fragen noch die Zärtlichkeiten mochten. Manche antworteten widerwillig, gleichsam ein bisschen geniert, sie antworteten kühl, reserviert, manchmal mit einem spöttischen Lächeln. Einmal wandte sich ein Junge mit einer ziemlich wichtigen Frage an mich, kurz nachdem er meine Frage mit einer banalen Redewendung beantwortet hatte. Manche Kinder, die an sich empfindsam und feinfühlig waren, entzogen sich merklich jeder zärtlichen Geste. Ich gebe zu, dass mir das auf die Nerven ging, und ich ärgerte mich; schließlich begriff ich. In diesen gewohnheitsmäßigen, leichthin gestellten Fragen erblickt ein Kind weder ein aufrichtiges Interesse, noch eine Möglichkeit, eine Bitte vorzubringen. Es hat recht: Wenn du eine ganze Schachtel mit Bonbons anbietest, dann rechnest du damit, dass der Gast ein Bonbon und nicht gerade das größte nimmt. Du bietest dem Kinde den Bruchteil einer Minute an, und es gibt dir die gewünschte Antwort: »Alles in Ordnung«; aber während es den Tribut seiner guten Erziehung zahlt, ist es dir gram wegen der Unwahrhaftigkeit deines vorgeblichen Interesses an seiner Person, und es will nicht so im Vorbeigehen abgefertigt werden. »Na, wie gehts, besser?«, fragt der Arzt beim Rundgang im Krankensaal. Aus der Stimme, den Bewegungen entnimmt der Kranke, dass es der Arzt eilig hat, und er antwortet resigniert: »Danke, besser.« 76. Kinder sind noch unerfahren in der Unwahrhaftigkeit gesellschaftlicher Formen, und – ich füge es hinzu – in den üblichen Lügen der Umgangssprache: »Da fallen einem ja direkt die Hände ab.  – Es sollte still sein wie in der Kirche. – Alles verbrennt an ihm. – Was er in die Pfoten nimmt, macht er zunichte. – Hundertmal habe ich das gesagt; jetzt ist aber Schluss.« Für ein Kind sind das Lügen. Ist es denn nicht schamlos zu sagen, dass einem die Hände abfallen, wo man sie doch noch ganz ungeniert bewegt? In der Kirche ist es durchaus nicht so still. Die Hosen hat der Junge sich zerrissen, als er über den Zaun kletterte, und man kann sie flicken, sie sind gar nicht verbrannt. Sehr viele Dinge nimmt er in die Hand, ohne sie entzweizubrechen; dass der eine Gegenstand zerbrochen ist, kann ja nun einmal vorkommen. Hundertmal ist das nicht gesagt worden, höchstens fünfmal, und man wird es ihm noch manches Mal wiederholen. »Bist du taub geworden – oder was?«

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Nein, er ist nicht taub geworden. Diese Frage ist schon an sich eine Lüge. »Lass dich nicht mehr blicken!« Auch dieser Befehl ist eine Lüge, denn beim Mittagessen wird er am Tisch sitzen müssen. Wie oft benimmt sich ein Kind rebellisch, denn es will lieber ein paar Rippenstöße in Kauf nehmen, wenn nur dieser abscheuliche Sermon einmal zuende ist. Vielleicht leidet ein Kind, das von der Notwendigkeit überzeugt ist, dem Erzieher Achtung entgegenzubringen, wenn es sieht, wie diese Ehrerbietung in Trümmer geht? Denn um wie viel leichter fällt doch das Nachgeben, wenn man von der moralischen Überlegenheit der Erzieher überzeugt sein kann. 77. Wir haben in unserem Waisenhaus eine Neuerung eingeführt: Beim Frühstück, Mittag- und Abendessen erhalten die Kinder außerplanmäßig so viel trockenes Brot, wie sie haben wollen. Aber man darf es nicht verschwenden oder übriglassen. Jedes soll so viel nehmen, wie es essen kann. Die Kinder haben nicht sofort das rechte Maß, denn für viele ist frisches Brot ein Leckerbissen. Das Abendbrot ist beendet, die Kleinen werden in den Schlafsaal gerufen: In diesem Augenblick wirft eines von den älteren Mädchen, nachdem es nur einen kleinen Brocken abgebissen hat, sein Stück Brot demonstrativ auf den Tisch, an dem ich sitze, und geht mit schleppenden Schritten weiter. Ich war so verwundert, dass ich nichts anderes herausbrachte als nur: »Du bist aber ein abscheuliches, freches Geschöpf.« Als Antwort darauf ein nicht achtendes Achselzucken, Tränen, und beleidigt begab es sich in den Schlafsaal. Ich wunderte mich, als ich es bald darauf bereits schlafend in seinem Bett vorfand. Einige Tage später begriff ich die Ursache seines eindeutig unsinnigen Tuns, als dasselbe Mädchen ankündigte, es wolle früher schlafen gehen, zusammen mit den Kleinen. Ehrgeizig wie es war, hatte es sich nicht sofort zu dem erniedrigenden Schlafengehen zusammen mit den Kleinen entschließen können. Und nun hatte es, halb bewusst oder unbewusst, damals meinen Zorn provoziert, um einen Grund zu haben, beleidigt zu sein, zu weinen und endlich – zu einem Schlafengehen vor der Zeit … Ein paar Worte noch über den schlürfenden Gang. Sie hob beim Gehen nicht die Beine, sondern zog sie hinter sich her über den Fußboden. Manchen Kindern gefiel das, und sie ahmten sie nach. Dieser Greisengang erschien mir bei einem Kind unnatürlich, lächerlich, hässlich, und ich füge hinzu – respektlos. Ein wenig später entdeckte ich, dass er nicht nur natürlich, sondern eigentümlich ist für Kinder in einem fortgeschrittenen Entwicklungsalter. Es ist der Gang der Ermattung.

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In meiner Privatpraxis pflegte ich oft zu fragen: »Haben Sie nicht bemerkt, dass sich der Gang des Kindes verändert hat?« »Aber gewiss: Sie geht einher wie eine beleidigte Prinzessin. Das bringt mich zur Verzweiflung, manchmal bis zur Raserei. Sie schleppt die Beine hinter sich her, als sei sie hundert Jahre alt oder Gott weiß wie sehr abgearbeitet.« 78. Beweist dieses Beispiel nicht, wie eng die Welt der geistigen Erschei­nungen mit ihrer physiologischen Grundlage verwachsen ist? Es irren sich jene, die da meinen, ich wäre, als ich das Krankenhaus um des Internates willen im Stich ließ, der medizinischen Wissenschaft untreu geworden. Nach acht Jahren Krankenhausarbeit hatte ich ausreichend begriffen, dass alles, was nicht so zufällig ist wie das Überfahrenwerden durch ein Auto oder das Verschlucken eines Nagels, bei einem Kind nur durch eine mehrjährige klinische Beobachtung erkannt werden kann; diese darf nicht sporadisch sein, wie bei einer Krankheitskatastrophe, sondern täglich, wie in den lichten Zeiten seines Wohlergehens. Das Krankenhaus in Berlin und die deutsche medizinische Literatur lehrten mich, darüber nachzudenken, was wir gesichert wissen, und langsam, systematisch vorzugehen. Paris lehrte mich, darüber nachzusinnen, was wir nicht wissen, aber zu wissen verlangen, wissen müssen und werden. Berlin, das war ein Arbeitstag voller kleiner Sorgen und Bemühungen, Paris war der Feiertag des Morgens mit seinen faszinierenden Ahnungen, seiner machtvollen Hoffnung und seinem unerwarteten Triumph. Die Kraft des Wollens, der Schmerz des Nichtwissens und die Lust des Forschens schenkte mir Paris; die Technik der Vereinfachung, die Erfindungsgabe um die kleinen Dinge, die Ordnung der Details – das nahm ich aus Berlin mit. Die große Synthese des Kindes – das war es, wovon ich träumte, als ich in der Pariser Bibliothek mit vor Erregung gerötetem Gesicht die wunderbaren Werke der klassischen französischen Kliniker las. 79. Der Medizin verdanke ich die Technik des Untersuchens und die Disziplin wissenschaftlichen Denkens. Als Arzt stelle ich Symptome fest: Ich sehe Ausschlag auf der Haut, höre Hustengeräusche, ich fühle das Ansteigen der Temperatur und stelle mit dem Geruchssinn fest, dass das Kind aus dem Mund nach Azeton riecht. Das eine nehme ich sofort wahr, nach dem latenten Anzeichen suche ich. Als Erzieher habe ich gleichfalls Symptome vor mir: Lächeln, Lachen, Erröten, Weinen, Gähnen, Schreien, Seufzen. Wie ein Husten trocken, feucht und erstickend sein kann, so gibt es ein Weinen unter Tränen, ein Weinen unter Schluchzen und ein fast tränenloses Weinen. Die Symptome stelle ich ohne Hast und Zorn fest. Das Kind fiebert, das Kind ist launisch. Ich senke das Fieber, indem ich seine Ursache nach Möglichkeit beseitige,

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ich setze die Spannung des launischen Affekts herab, soweit sich das ohne seelischen Schaden für das Kind machen lässt. Ich weiß nicht, warum mein ärztliches Bemühen nicht den erwünschten Erfolg hat, aber ich werde deshalb nicht ärgerlich, sondern suche weiter. Ich bemerke, dass meine Verordnung ihren Zweck verfehlt, dass mein Befehl von vielen Kindern oder auch nur von einem nicht befolgt worden ist – ich nehme das nicht übel, sondern forsche weiter. Manchmal gibt ein anscheinend geringes und ganz unbedeutendes Anzeichen Kunde von einem großen Gesetz, und eine scheinbar isolierte Einzelheit ist im Grunde mit einem wichtigen Problem verbunden. Als Arzt und Erzieher kenne ich keine Nichtigkeiten, und ich verfolge auch das aufmerksam, was zufällig und wertlos zu sein scheint. Eine kleine Verletzung richtet manchmal die kräftigen, geordneten, aber anfälligen Funktionen eines Organismus zugrunde. Das Mikroskop lässt in einem Wassertropfen die Seuche erkennen, die eine ganze Stadt entvölkert. Die Medizin wies mir die Wunderdinge der Therapie, und sie ließ mich die erstaunlichen Bemühungen erkennen, den Geheimnissen der Natur auf die Spur zu kommen. Ihr verdanke ich es, dass ich gesehen habe, wie ein Mensch stirbt, und mit welcher erbarmungslosen Gewalt das Kind, den Schoß der Mutter zerreißend, sich auf diese Welt ins Leben hineinzwängt, um ein Mensch zu werden. Ihr habe ich es zu danken, dass ich es lernte, verstreute Einzelheiten und widersprüchliche Symptome mühsam zu einem logischen Bild der Erkenntnis zu verbinden. Und nun stehe ich, obschon reich an erfahrener Einsicht in die Macht der Naturgesetze und in den Genius menschlichen Forschens, vor einer unbekannten Größe: dem Kind. 80. Der unwillige Blick des Erziehers, Lob, Ermahnung, ein Scherz, ein Ratschlag, ein Kuss, ein Märchen zur Belohnung, ein ermunterndes Wort – das sind Bemühungen, die der Heilung dienen, die man in kleineren oder größeren Dosierungen verabfolgen kann, öfter oder seltener, angepasst an den Einzelfall oder auch entsprechend den individuellen Eigenheiten des Organismus. Es gibt Abweichungen, Verbildungen des Charakters, die man geduldig mit den Mitteln der Heilpädagogik beseitigen kann. Es gibt eine angeborene oder eine vorübergehende geistige Anämie, und es gibt auch eine von Geburt her schwache Widerstandskraft gegen moralische Ansteckung. Das alles kann man erkennen und heilen. Eine übereilt gewonnene, fehlerhafte Erkenntnis, eine ungeeignete und allzu energisch betriebene Behandlung führen zu einer Verschlimmerung des Zustandes. Hunger und Übersättigung sind im Bereich des geistigen Lebens ebenso materiell bedingt wie im physischen Dasein. Ein Kind, das nach einem guten Rat, nach einem

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Hinweis für sein Handeln hungert, wird ihn aufnehmen, verdauen und sich zu eigen machen; einem mit Moralpredigten überfütterten Kind aber wird übel werden. Der Zorn des Kindes – das ist einer der wichtigsten, interessantesten Bereiche. Du erzählst ihm ein Märchen, und es hört nur mit einem halben Ohr zu. Du weißt nicht, warum, aber anstatt dich zu wundem, wie das ein Naturforscher tut, wirst du ungeduldig und böse. »Wenn du nicht zuhören willst, dann eben nicht; dann werde ich aber auch nicht mehr erzählen, wenn du mich darum bittest.« »Wenn nicht, dann nicht«, antwortet das Kind – rücksichtslos. Wenn es nichts sagt, dann denkt es doch so: Du erkennst es an seinen Bewegungen, am Gesichtsausdruck, dass ihm das Märchen ganz gleichgültig ist … Einmal gab ich einem kleinen Taugenichts einen Kuss, zog ihn zu mir heran und bat ihn, er solle sich doch bessern. Er fing an zu weinen und sagte verzweifelt und unter Tränen: »Ach, ist es denn meine Schuld, dass Sie gerade die Lausbuben nicht leiden mögen, sondern allein die Ungeschickten? Sagen Sie so einem doch einmal, er soll ein Lausbub sein, dann wird er Ihnen auch nicht gehorchen.« Seine Tränen waren durchaus kein Anzeichen der Reue. Er protestierte nicht gegen meine Zärtlichkeiten und mein gutes Zureden, denn er sah sie als verdiente strenge Strafe für seine zahlreichen Sünden an. Er dachte nur ohne Hoffnung an seine Zukunft: »Dieser brave, aber dumme Erzieher kann nicht begreifen, dass ich nicht anders sein kann. Warum bestraft er mich so streng mit einem Kuss, den ich nicht leiden kann; soll er mir doch lieber eins hinter die Ohren geben und mich den ganzen Sommer lang in zerrissenen Hosen herumlaufen lassen.« 81. Wenn ich die gewaltige Zahl von Ergebnissen zusammenzähle, die die klinische Beobachtung des Kindes im Krankenhaus erbracht hat, und dann frage, was denn das Internat an Ergebnissen gezeigt hat, dann lautet die Antwort: nichts. Ich frage beim Internat an, wie viel Stunden Schlaf ein Kind braucht. Hygiene-Handbücher bringen Tabellen, die von einem Buch ins andere abgeschrieben worden sind, und die von wer weiß wem einmal aufgestellt wurden. Eine solche Tabelle gibt an, dass ein Kind desto weniger Schlaf braucht, je älter es ist: Das ist eine Lüge. Insgesamt brauchen Kinder weniger Schlaf, als wir meinen; und ich füge hinzu: als wir es haben möchten. Die Anzahl der für den Schlaf benötigten Stunden schwankt je nach der Entwicklungsetappe, in der ein Kind sich befindet, und oft kommt es vor, dass Dreizehnjährige mit den Kleinen zusammen schlafen gehen, während die Zehnjährigen höchst munter sind und nicht auf die papierenen Vorschriften hören. Dasselbe Kind kann heute gar nicht das Wecksignal erwarten, um aus dem Bett zu hüpfen, unabhängig vom Wetter und von der Temperatur im Schlafsaal, und

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nach einem Jahr wird es plötzlich schwerfällig, erhebt sich mit großer Mühe, rekelt sich lange, und der kalte Schlafsaal bringt es zur Verzweiflung. Der Appetit des Kindes: Es isst nicht, es will nicht essen, es erbricht sich, macht Ausflüchte, schwindelt, nur um nicht essen zu müssen. Ein Jahr vergeht: Es isst, was es bekommen kann – es stiehlt die Semmeln aus dem Speiseschrank. Und wie steht es mit den Lieblingsspeisen und den unbeliebten Gerichten? Auf die Frage, was seine beiden größten Kümmernisse seien, antwortet ein Junge: »Einmal, dass meine Mama gestorben ist, zum andern, dass ich Erbsensuppe essen muss.« Es gibt Kinder, die gleich drei Portionen Erbsensuppe verschlingen. Aber kann man von individuellen Eigenschaften sprechen, wenn man die allgemeinen Gesetze nicht kennt? Was hat es auf sich, wenn Kinder eine schlechte Haltung haben, sich einige Zeit später wieder gerade halten und dann sich erneut hängen lassen? Blasse bekommen frische Farben und werden wieder blass. Seelisch Ausgeglichene werden plötzlich launisch, widerspenstig, undiszipliniert – um nach einiger Zeit wieder ins Gleichgewicht zu kommen – sich zu »bessern«. Wie viel Arsenik-Missbrauch und wie viel orthopädischer Schwindel verflüchtigte sich aus der Medizin, wenn wir die Frühlings- und Herbstzeiten der Entwicklung des Kindes kennen würden. Wo anders sollte man sie erforschen, wenn nicht in einem Internat? Ein Krankenhaus hat die Aufgabe, Krankheiten, brutale Veränderungen, krasse Symptome zu studieren; die ganze Feinmechanik der Hygiene, die Mikrobeobachtungen unmerklicher Veränderungen sollten im Internat ausgearbeitet werden. 82. Wir kennen das Kind nicht, schlimmer noch: Wir kennen es aus Vorurteilen. Es ist beschämend, dass sich alle Autoren bis zum Überdruss auf die zwei oder drei Bücher berufen, die wirklich an der Wiege geschrieben worden sind. Es ist beschämend, dass der erste beste Bearbeiter dieses weiten Feldes, sofern er gewissenhaft ist, zur Autorität für fast alle Probleme wird. Dem kleinsten Detail in der Medizin ist eine reichhaltigere Literatur gewidmet als hier ganzen Gebieten. Der Arzt ist nur Ehrengast eines Internates, nicht sein Hausherr. Was Wunder, wenn jemand ironisch festgestellt hat, die Internatsreform sei eine Reform der Mauern des Internats, nicht seines Geistes. über das Internatskind herrscht noch immer die Moral, nicht die Forschung. Wenn man in alten Arbeiten klinischer Ärzte liest, dann findet man dort einen Hang zur Bagatellforschung, der manchmal zum Lachen reizt, immer aber Bewunderung erweckt: Man zählte die Anzahl der Pusteln auf der Haut bei Aus-

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schlägen, und der Arzt wich tage- und nächtelang nicht vom Lager des Kranken. Die Medizin darf heute die klinische Arbeit etwas in den Hintergrund stellen und neue Hoffnungen auf die Forschungsstätten setzen. Aber die Pädagogik hat das klinische Stadium, Internat genannt, übers­prungen und sofort die Arbeit im Laboratorium aufgegrif­fen. Kaum drei Jahre habe ich im Internat verbracht, nur so viel Zeit, um mich umzusehen, und ich wundere mich nicht, dass ich wahre Schätze an Beobachtungen, Projekten und Hypothesen erworben habe; denn noch war niemand in diesem goldenen Land, man weiß nicht einmal von seiner Existenz. 83. Wir kennen das Kind nicht. Das Kind im vorschulpflichtigen Alter, das schulpflichtige Alter – diese polizeiliche Einteilung gilt dort, wo Schulzwang herrscht. Die Zeit des Zahnens, des Zahnwechsels, der Reife. Es ist nicht zu verwundern, dass wir unter den Voraussetzungen der gegenwärtigen Beobachtung des Kindes nur seine Zähne und die Haare in den Achselhöhlen wahrgenommen haben. Wir können uns nicht einmal Klarheit verschaffen über die Gegensätze, die uns im kindlichen Organismus so deutlich entgegentreten: einerseits die Lebenskraft der Zellen, andererseits ihre Anfälligkeit. Einerseits Temperament, Ausdauer, Kraft, andererseits Zerbrechlichkeit, Unausgeglichenheit, Ermüdungserscheinungen. Weder der Arzt noch der Erzieher wissen, ob das Kind ein »nicht umzubringendes« oder ein chronisch erschöpftes Wesen ist. Das Herz des Kindes? Ich weiß. Ein Kind besitzt zwei Herzen: das überarbeitete Zentralherz und das periphere, mit elastischen Gefäßen ausgestattete. Darum verschwindet der Pulsschlag auch so leicht, darum gleicht er sich aber auch ebenso leicht wieder aus. Aber warum haben die einen Kinder unter dem Einfluss von Gemütsbewegungen einen verlangsamten und ungleichmäßigen Pulsschlag, und die anderen einen raschen, gleichmäßigen? Warum werden die einen blass, während die anderen erröten? Wer hat einmal das Herz von Kindern abgehorcht, von denen jedes hundertmal über das Seil gesprungen ist? Hat die scheinbare Lebenskraft des Kindes nicht darin ihren Ursprung, dass es über den Verbrauch seiner Energien bis zu den äußersten Grenzen keine Erfahrung besitzt? Warum ist der Pulsschlag von Mädchen unter dem Einfluss von Gemütsbewegungen rascher als bei Jungen, was bedeuten kann, dass ein Junge unter Umständen eine »mädchenhafte Pulsreaktion« hat, und das Mädchen eine jungenhafte? Das alles sind Fragen nicht des Arztes, sondern des Erzieher-Arztes im Internat. 84. Der Erzieher sagt: »Meine Methode, meine Ansicht.« Wenn er auch theoretisch höchst unzureichend

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vorbereitet wäre, und wenn er auch nur eine geringe Anzahl an Arbeitsjahren hinter sich hätte, so wäre er dennoch berechtigt, so zu sprechen. Aber er soll immer daran denken, dass diese Methode, diese Ansicht ihm unter bestimmten Umständen, in einer bestimmten Landschaft und mit spezifisch gearteten Kindern durch seine Arbeitserfahrung vermittelt worden ist. Er sollte seinen Standpunkt begründen, Beispiele anführen und sie durch besondere Einzelfälle belegen. Dann mag er – und ich würde das jederzeit befürworten – dazu berechtigt sein, sich auf das schwierigste und riskanteste Feld zu begeben: Mutmaßungen anzustellen oder Voraussagen zu treffen, was aus einem Kind werden wird. Aber er soll immer daran denken, dass er sich irren kann. Keine Ansicht sollte zur absoluten Überzeugung oder zu einer stets gültigen Überzeugung werden. Möge der heutige Tag immer nur ein Übergang von der Summe der gestrigen Erfahrungen zu dem höheren Stande der Erfahrungen von morgen sein. Jedes Problem sollte unabhängig von der allgemeinen Auffassung behandelt werden, ebenso jeder einzelne Tatbestand. Denn die Fakten widersprechen einander, und nur aus ihrer numerischen Verteilung auf diese oder jene Seite lassen sich allgemeine Gesetze erahnen. Nur unter diesen Bedingungen wird die Arbeit des Erziehers weder monoton noch hoffnungslos werden. Jeder Tag wird ihm etwas Neues, Überraschendes, Ungewöhnliches bringen, jeder Tag wird um einen neuen Beitrag reicher sein. Das Außergewöhnliche oder Seltene einer Klage, einer Lüge, eines Streits, einer Bitte, eines Vergehens, der Symptome von Ungehorsam, Falschheit oder Heldentum werden für ihn so wertvoll werden wie für den Sammler die Seltenheit einer Münze, einer Versteinerung, einer Pflanze oder der Stand der Gestirne am Himmel. 85. Nur dann wird er jedem Kind mit einer verständigen Liebe zugetan sein, nur dann wird er sich für seinen geistigen Gehalt, seine Bedürfnisse, sein Schicksal interessieren. Je näher er dem Kinde kommt, umso mehr an beachtenswerten Eigenschaften nimmt er wahr. Im forschenden Suchen findet er sowohl Belohnung als auch Ansporn zum weiteren Suchen, zu weiteren Bemühungen. Ein Beispiel: Da ist ein böses, hässliches, aufdringliches Mädchen. Wenn es sich am Spielen beteiligt, dann nur, um zu stören. Hinterhältig sucht es Streit, und es will den Kürzeren ziehen, um sich beklagen zu können. Trittst du ihm wohlwollend entgegen, wird es frech. Es ist von schwacher Intelligenz, ohne ein erkennbares Streben, gefühlsarm, ohne Ehrgeiz, fantasielos. Ich liebe es, wie ein Naturforscher, der ein elendes, boshaftes Wesen betrachtet – da ist nun so ein armes, hässliches Ding zur Welt gekommen, so ein Aschenbrödel der Natur. Einem Jungen sagte ich mit aller Strenge an:

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»Denk dran, dass du dich nicht unterstehst, aus dem Bett zu steigen.« Und ich machte mich nach dieser Unterbrechung wieder daran, kleine Wunden zu versorgen. Als kurz darauf ein furchtsames »Ach bitte, kommen Sie« im Schlafsaal zu hören war, wusste ich, was das zu bedeuten hatte. Er hatte nicht gehorcht, war aus dem Bett gestiegen, um eine unbeglichene Rechnung mit einem Kameraden zu erledigen. Schweigend versetzte ich ihm ein paar Klapse auf die Hand, warf ihm eine Decke über die Schultern und nahm ihn in mein Zimmer mit. Früher, ein halbes Jahr zuvor noch, hätte er sich gesträubt, losgerissen, hätte sich an der Bettlehne, dem Fensterrahmen, der Tür festgeklammert. Heute besaß er bereits die Erfahrung einiger misslungener Versuche, kam also mit. Sonderbar abgemessen war sein Schritt: Ein wenig schneller würde bedeuten, dass er nachgibt, ein bisschen langsamer wäre bereits Widerstand. Ich schiebe ihn mit der flachen Hand, ganz leicht, gerade so viel, dass ich merke, dass er unter Zwang geht. Er geht, und auf seinem Gesicht lässt sich ein dunkler Schatten nieder; man könnte sagen: Aus der Seele ist eine schwarze Wolke aufgestiegen, die sich in einem Unwetter entladen muss. Er steht da, gegen die Wand gelehnt, lässt den Kopf hängen, ohne zu zittern. Ich beende meine kleinen Eingriffe: Jod auf einen verletzten Finger, Vaseline auf gesprungene Lippen, ein Tropfen Glyzerin auf die Hand, ein Löffel Hustensaft. »Du kannst gehen.« Ich gehe hinterher, denn vielleicht schlägt er auf dem Rückweg zu? Nein, er hat zu seinem Gegner nur hingesehen, seinen Schritt verlangsamt; vielleicht hat er darauf gewartet, dass der nur anfangen und sagen soll: »Aha, in der Ecke musstest du stehen.« Er hat sein Bett erreicht, sich hingelegt und die Decke über den Kopf gezogen, vielleicht lag er auf der Lauer und will, dass ich in mein Zimmer zurückkehre. Ich gehe zwischen den Bettreihen hin und her. Er war bereits auf dem Wege, sich zu bessern; heute aber hatte er wieder einen schlimmen Tag. Wütend warf er die Tür zu; die Tür war verglast, die Scheibe zersprang. Er sagte, es sei der Wind, der Durchzug gewesen – und ich hatte ihm geglaubt. Beim Springen über das Seil wollte er sich nicht an die Reihenfolge halten, war beleidigt, sprang nicht mit und störte. Die Kinder beklagten sich. Sein Abendbrot aß er nicht: Seine Semmel gefiel ihm nicht, und der Tagesdienst wollte sie nicht umtauschen. Schwierig ist es, den Kindern zu erklären, dass man ihm mehr verzeihen muss als den anderen. Die Geräusche verstummen im Schlafsaal, die Kinder schlafen ein. Ein eigenartiger Augenblick; jetzt denkt es sich wunderbar leicht und gut.

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Meine wissenschaftliche Arbeit. Wiegekurven, Entwicklungsprofile, der Wachstumsindex, die Prognosen der physischen und psychischen Evolution. So viele Hoffnungen, wie wird das Ergebnis aussehen? Und wenn es nun kein Ergebnis gibt? Aber ist es nicht genug, dass ich freudige Dankbarkeit empfinden darf, weil sie wachsen und stark werden? Ist das nicht Belohnung genug für alle Arbeit? Habe ich nicht das Recht dazu, die Natur um ihrer selbst willen zu verehren; wie schön, dass die Büsche grünen. Da ist der murmelnde Bach, das Kornfeld, der Garten, der mit seinen Blättern rauscht. Soll ich an die Körner der wogenden Ähren Fragen stellen, die Tropfen nach ihrer Bestimmung fragen? Wozu die Natur bestehlen – mag sie ihre Geheimnisse für sich bewahren. Da schlafen sie nun, und jedes hat ein Vergehen auf dem Gewissen, und sei es auch nur ein abgerissener Knopf, den es nicht angenäht hat. Wie ist das alles geringfügig unter der Perspektive des bedrohlichen Morgen, wo ein Fehler sich manchmal mit der Vernichtung eines ganzen Lebens rächen kann. So ungefährdet liegen sie da und so still. Wohin soll ich euch führen? Zu großen Ideen, bedeutsamen Taten? Oder soll ich euch lediglich den Weg weisen zur Erfüllung notwendiger Pflichten, ohne die die Gesellschaft euch ausschließt, damit ihr wenigstens eure Würde bewahren könnt? Habe ich wohl das Recht, für dieses bisschen Nahrung und Betreuung einiger weniger Jahre euch zu befehlen, von euch etwas zu fordern oder gar zu wollen? Vielleicht ist für jeden von euch der eigene Weg – und wenn es auch der allerschlimms­ ­te wäre – der einzig richtige? Mitten in der Stille schlafender Atemzüge und meiner ängstlichen Gedanken ein Schluchzen. Ich kenne dieses Weinen, das ist er. So viele Kinder, so viele verschiedene Arten von Klagelauten gibt es – vom leisen, zurückhaltenden Weinen über launisches, unaufrichtiges Heulen bis hin zu dem gellenden Lamentieren der nackten Unverschämtheit. Es tut mir leid, wenn ein Kind weint; aber nur das Schluchzen dieses einen, das tränenerstickte, hoffnungslose, Unheil verkündende, erweckt das Gefühl grauenvoller Beklommenheit. Ein nervöses Kind – das sagt wenig. Wie so oft, wenn wir die Wirklichkeit nicht kennen, begnügen wir uns mit einem Namen für den unbekannten Inhalt. Es ist nervös, weil es im Schlafe spricht, es ist nervös, weil es zart, lebhaft, verschlafen ist, weil es schnell müde wird, weil es über sein Alter hinaus entwickelt ist, progénére, wie die Franzosen sagen. Es gibt bisweilen Kinder, die noch nicht einmal zehn eigene Lebensjahre zählen, aber das Gewicht vieler Generationen mit

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sich schleppen. In ihren Gehirnwindungen staut sich die blutige Qual vieler schmerzensreicher Jahrhunderte, und aus unmerklichem Anlass entlädt sich die in ihrer Veranlagung verborgene Gewalt von Schmerz, Leid, Zorn, Empörung, und man gewinnt den Eindruck, dass zwischen dem geringfügigen Anlass und der stürmischen Reaktion ein beträchtliches Missverhältnis besteht. Das ist nicht das Kind, das hier weint, das sind Schmerz und Sehnsucht von Jahrhunderten, die hier wehklagen – nicht weil das Kind in der Ecke hat stehen müssen, sondern weil es unterdrückt, gejagt, schnöde behandelt und verbannt war. Poetisiere ich? Nein, ich finde nur keine Antwort, und ich frage weiter. Sein Gefühlsleben muss unter einer hohen Spannung stehen, wenn eine Kleinigkeit es so aus dem Gleichgewicht bringen kann. Seine Gefühlswelt muss ungünstig bestimmt sein, denn es gelingt nur mit Mühe, ein Lächeln oder einen freundlichen Blick hervorzurufen – niemals aber ein lautes Anzeichen kindlicher Freude. Ich näherte mich ihm und flüsterte mit entschiedener, aber sanfter Stimme: »Weine nicht, denn du weckst die anderen.« Es wurde still. Ich ging in mein Zimmer zurück. Es schlief nicht ein. Dieses eine Schluchzen in der Stille, auf Befehl unterdrückt, ist allzu schmerzlich, allzu einsam. Ich kniete an seinem Bett nieder, und meine Ausdrucksweise und deren Betonung hatte ich in keinem Handbuch gesucht. Ich sprach eintönig mit halber Stimme: »Du weißt, dass ich dich liebhabe. Aber ich kann dir nicht alles erlauben. Nicht der Wind hat die Scheibe zerschlagen, allein du warst es. Die Kinder hast du beim Spielen gestört. Dein Abendbrot hast du nicht gegessen. Im Schlafsaal wolltest du dich prügeln. Ich bin dir nicht böse. Du hast dich schon gebessert: du bist allein gegangen, hast dich nicht losgerissen. Du bist schon ein bisschen artiger geworden.« Wieder lautes Weinen. Beruhigendes Einreden übt manchmal eine entgegengesetzte Wirkung aus: Anstatt zu lindern, regt es auf. Unterdessen wird der Ausbruch zwar stärker, verliert aber an Dauer. Es schluchzt laut, um nach einer Weile still zu werden. »Vielleicht hast du Hunger? Soll ich dir eine Semmel geben?« Die letzten krampfhaften Zuckungen des Kehlkopfs. Es weint nur noch, beklagt sich bitterlich, aus erschüttertem, schmerzvollem, verletztem Herzen. »Soll ich dir einen Gute-Nacht-Kuss geben?« Eine verneinende Kopfbewegung. »Na dann schlaf gut, schlaf, mein Söhnchen.« Leicht berührte ich seinen Kopf mit meiner Hand. »Schlaf.« Er schlief ein. Mein Gott, wie wirst du diese empfindsame Seele schützen, dass das Leben sie nicht in den Sumpf versinken lässt? …

Sommerkolonien »Sage lieber, welche Hoffnungen du selbst hegtest, welchen Täuschungen du erlagst, auf welche Schwierigkeiten du gestoßen bist, wie sehr du gelitten hast, als du der harten Wirklichkeit begegnetest, welche Fehler du begingst, und, als du sie korrigiertest, wie du dich gezwungen sahst, von geheiligten Grundsätzen abzugehen, auf welche Kompromisse du eingegangen bist.«

1. Den Sommerkolonien habe ich viel zu verdanken. Hier begegnete ich zum ersten Mal einer Kinderschar und lernte in selbstständiger Arbeit das ABC der pädagogischen Praxis. Reich an Illusionen, arm an Erfahrung, sentimental und jung, glaubte ich, vieles schaffen zu können, weil ich viel erreichen wollte. Ich glaubte, es sei leicht, Liebe und Vertrauen der Kinderwelt zu erwerben, man müsse Kinder auf dem Lande gänzlich in Freiheit leben lassen, meine Pflicht sei es, allen gegenüber derselbe zu sein, und Wohlwollen wecke bei jedem unmündigen Sünder reuige Gedanken. Den vierwöchigen Aufenthalt in der Kolonie wollte ich den Kindern »aus Souterrain und Dachkammer« zu einem »flatternden Bande von Freude und Fröhlichkeit« machen, ohne eine einzige Träne. Ihr Armen, liebe Berufskollegen, die ihr, wie ich damals, den Augenblick nicht erwarten könnt, da es endlich soweit ist. Ihr tut mir leid, wenn ihr, gleich zu Beginn in eurem Eifer abgekühlt, in euren Grundfesten erschüttert, euch selbst die Schuld zuschreibt und nicht so bald das Gleichgewicht wiederzugewinnen vermögt. Und euch versucht die Stimme fremder Erfahrungen: »Siehst du, es lohnt sich nicht. Mach es so wie ich: Sorg dafür, dass du bequem leben kannst. Andernfalls holt dich der Teufel zur Freude deiner Neider, ohne jeden Nutzen für die Kinder, denen du dienen willst. Es lohnt sich nicht!« Du bist von den Erfahrungen derer abhängig, die sich immerhin zu helfen wissen, während du, gib es nur offen zu, verwundert und ratlos dastehst. Ihr Armen, wie ist es mir leid um euch! 2. Eine so leichte und dankbare Aufgabe! Du hast dreißig von insgesamt einhundertfünfzig Kindern zu betreuen und kein festes Programm. Du kannst tun, was du willst. Spielen, Baden, Ausflüge, Märchenerzählen – die Initiative steht dir gänzlich frei. Die Wirtschaftsleiterin sorgt für das Essen, die anderen Erzieher stehen dir helfend zur Seite, die zum Dienst eingeteilten Kinder achten auf Ordnung – die schöne ländliche Umgebung kommt euch zustatten, und etwas die freundlich lachende Sonne.

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In ungeduldiger Erwartung des Abreisetages überdachte ich drittrangige und weitab liegende Einzelheiten, ohne die nächsten und wichtigen Aufgaben auch nur zu ahnen. Ich bemühte mich also um ein Grammophon, eine laterna magica, besorgte Feuerwerkskörper, was mit einigen Schwierigkeiten verbunden war, kaufte Dame-Spiele und Dominosteine ein, einen ganzen Vorrat, denn vielleicht mangelte es unter dem vorhandenen Spielzeug gerade daran. Ich wusste, dass man die Kinder in die für die Zeit in der Sommerkolonie bestimmte Kleidung zu stecken, sie im Schlafsaal und in der eigenen unmittelbaren Umgebung unterzubringen hatte, und dass ich mir vor allem aber Namen und Gesichter meiner dreißig und vielleicht sogar aller einhundertfünfzig Kinder einprägen musste. Daran aber hatte ich überhaupt nicht gedacht, das würde sich schon von selbst machen: Mit meinen Gedanken an die Kinder verband sich nicht die sorgenvolle Frage, wer sie wohl seien. Während ich naiv daran glaubte, es werde mir alles leicht von der Hand gehen, ließ ich mich von dem Reiz der Aufgabe, die mich erwartete, einfach gefangen nehmen. 3. Wie soll man sich dreißig manchmal recht schwierige und ähnlich klingende Namen und dreißig verschiedene Gesichter merken? Das wird in keinem Handbuch erwähnt, aber ohne dieses Wissen ist die Autorität des Erziehers fragwürdig, wird jede Initiative eines zielbewussten Anfangs gehemmt. Hier drängen sich verschiedene Fragen auf: Welche Namen und welche Kinder merkt man sich sehr bald? Welches sind die individuellen Eigenheiten des optischen Gedächtnisses eines Erziehers? Wie wirkt sich das auf das Los der Kinder und die Gesamtarbeit in sehr vielen Anstalten aus? Die Erfahrung lehrt, dass es Kinder gibt, die man sich leicht merkt, spontan, und andere, deren Bild man sich mit einiger Mühe einprägen muss. Man darf dies nicht der Zeit überlassen, sonst wird man zahlreiche Fehler machen und sich oft bloßstellen, bis man endlich alle kennt. Am schnellsten lernt man gebrechliche Kinder kennen, Kinder mit besonderen Kennzeichen, Kinder, die wegen ihres ungewöhnlich kleinen oder hohen Wuchses auffallen, die ältesten, bucklige, rothaarige, ausnehmend hübsche oder hässliche. Noch ehe der Erzieher ein Kind gesehen hat, wird seine Aufmerksamkeit durch den Namen geweckt. Wenn für den Erfolg einer Zigarettenmarke oder eines Spezialmittels oft Name und Verpackung entscheidend sind, so ist das auch mit Menschen, leider, nicht viel anders. Aus der großen Fülle von Eindrücken greifen wir die bemerkenswertesten heraus und prägen sie unserem Gedächtnis ein, und bei einer Beurteilung halten wir uns an die Werte, die zu erkennen die geringste Mühe macht.

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4. Es versteht sich von selbst, dass es für ein Kind, das bestimmte vorteilhafte Züge aufweist oder sich entsprechend zu geben weiß, wichtig ist, auch beachtet zu werden. Wir wenden uns doch vorwiegend an Kinder, die wir kennen, ihnen erteilen wir Aufträge, geben ihnen Gelegenheit, sich uns zu nähern, sich mit uns zu verständigen und sich auszuzeichnen. Und sie gewinnen an Selbstsicherheit, fühlen sich uns näher, ja bereits ein wenig bevorzugt. Für ein Kind ist es angenehmer, sich an einen Erzieher zu wenden, den es kennt, ob nur mit einer Bitte oder einer Frage, und der Erzieher wird ein Kind umso lieber anhören, wenn er sich wissend seiner erinnert und es wiedererkennt. Ein Kind von leicht einprägsamem Äußeren oder mit einem rasch geläufigen Namen erhält ohne Schwierigkeiten, was für ein anderes mit einigen Bemühungen verbunden ist. Die im Schatten Verharrenden ziehen sich im Gefühl ihnen angetanen Unrechts oder in der Überzeugung ihrer geringen Bedeutung noch mehr zurück, und jetzt musst du dir bereits Mühe geben, wenn du sie kennenlernen willst. Sonst sind sie in den Auseinandersetzungen mit der ganzen Schar und den eigenen Erlebnissen auf ihre eigenen Kräfte angewiesen, ohne Hilfe und Rat. In jedem Büro, in jeder Fabrik und in allen Kasernen gibt es Menschen, die nur deshalb benachteiligt sind, weil der Vorgesetzte nichts von ihnen weiß, sie nicht kennt oder sich ihrer nicht erinnert. So gehen manchmal wertvolle Kräfte verloren. Die Kinder, die rasch ihre Erfahrungen gemacht haben, warten ab, bei der ersten Begegnung mit dir ist ihre Aufmerksamkeit aufs Höchste gespannt, und so ein kleiner Mickiewicz oder Sobieski25 weiß, dass nur bald die unvermeidliche scherzhafte Frage an sie gerichtet wird, hübsche Kinder erwarten ein wohlwollendes Lächeln, während der hässliche Rotkopf oder ein Baran26 misstrauisch damit rechnen, dass in der neuen Umgebung neue Unannehmlichkeiten auf sie warten. Und wenn du ein hübsches, liebes, selbstsicheres Kind nur ein wenig länger und aufmerksamer betrachtest und einen fatalen Namen leiser und rascher vorgelesen hast, dann hast du bereits die Hoffnungen des ersten und die Befürchtungen des zweiten Kindes bestätigt. 5. Wegen ihrer inneren Fehler und Vorzüge erkennst du am schnellsten die gewalttätigen und aufdringlichen, die verwahrlosten und die überdurchschnittlich wohlerzogenen Kinder. Die schlimmen Streiche der Rüpel, das weinerliche Gewinsel der Quengler geben von ihrer Existenz alarmierende Kunde, die Ärmsten bereiten 25 Mickiewicz, Adam – bedeutendster polnischer Dichter (1798–1856); Sobieski, Jan – König von Polen (1674–1696); beide Namen als Familiennamen in Polen auch heute noch vertreten. 26 Baran = Schafbock. Baran, Baranowski polnischer Familienname.

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einem durch ihre verwilderten Sitten Ungelegenheiten; die Wohlhabenderen und Falschen machen durch ihre guten Manieren auf sich aufmerksam. Schließlich gibt es auch noch die Raffinierten und Betriebsamen, die dir mit Gewalt ihre Hilfe, ihren Rat und mancherlei Informationen aufdrängen. Und alle diese Hübschen mit angenehm klingenden Namen, die aus wohlhabendem Hause Stammenden, die Zudringlichen verlangen von dir, du sollst rasch mit ihnen Bekanntschaft machen und sie auf Kosten der grauen Masse, die im Schatten zu bleiben hat, hervorheben; sie wundern sich, wenn du das nicht tun willst, und sie wenden sämtliche Kampfmethoden an, deren sich auch die Erwachsenen bedienen. Ein junges Prinzlein in einer Schule für Kinder aus reichen Häusern, der kleine Sohn eines Bezirksvorstehers in einer Volksschule: Wenn er es von sich aus nicht verlangt, so flüstert ihm jemand ein, dass er es fordern soll, und wenn er es nicht bekommt, dass er sich dafür rächen soll: »Sag, dass er ein Schläger ist, dass er das Vaterunser nicht mitgesprochen, dass er sich ablehnend über die Regierung geäußert hat, dass er schlecht unterrichtet und sich mit uns gar nicht befasst.« Oder sie beschmieren dir deinen Stuhl mit Kreide, verunreinigen das Klosett, rufen bei einer Visitation Unruhe hervor, wiegeln die Farblosen und Gleichgültigen auf, verwickeln die Unschuldigen in eine hässliche Sache – also gerade diejenigen, die du vor allem gegen jede Benachteiligung schützen willst. In freudiger Erwartung des Abreisetages hatte ich naiverweise gar nicht geahnt, wie viel vorsichtigen Taktes es bedarf, um einer verwegenen Kinderschar Herr zu werden. 6. Ich verspürte keinerlei Angst, als ich sah, dass ich manche Kinder mehrmals ermahnen musste, sich nicht aus dem Waggonfenster zu lehnen und nicht auf den Gang hinauszulaufen. Schon bot sich mir ein Junge an, an der Tür Posten zu stehen und aufzupassen, ein anderer wollte die Namen derer aufschreiben, die nicht gehorchten. Beide Vorschläge lehnte ich mit einer scharfen Bemerkung ab: »Pass nur auf dich selbst auf; schämst du dich denn gar nicht, deine Kameraden aufzuschreiben?« »Das sind nicht meine Kameraden«, erwiderte er verächtlich. Ich hatte mich in kindischer Weise aufgeregt. Es gab auch einige, die vor Durst fast umkamen; ihnen erklärte ich ebenso geduldig wie erfolglos, dass sie sofort nach unserer Ankunft Milch genug zu trinken bekämen. Unnötig besorgt beruhigte ich einen kleinen Kerl, der bitterlich weinte, weil man ihn von seiner Mutter getrennt hatte; allzu fürsorglich achtete ich darauf, dass kein Kind aus dem Fenster fiel; in dem Bestreben, meiner Gruppe durch die Bande der Sym­pathie möglichst nahezukommen, verlor ich außerdem kostbare Zeit mit

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nichtigen Gesprächen: »Warst du schon einmal auf dem Lande, grämst du dich, weil dein kleines Brüderchen nicht mitgekommen ist?« Schnell erledigte ich das banale Geschäft, Geld und Postkarten einzusammeln, schalt mit ein paar launigen Bemerkungen diejenigen aus, die ihre Karten zerknittert und nicht mehr ganz sauber abgegeben hatten, beruhigte unwillig diejenigen, die, als sie sahen, wie leichthin ich mit ihrem Eigentum umging, mir schon zuvor kundtaten, dass ihre Postkarte einwandfrei sauber sei und das zur Aufbewahrung abgegebene Goldstück neu und glänzend. Was ich mit den Zahnbürsten anfangen sollte, die sie auch abgeben wollten, wusste ich nicht: »Behaltet sie einstweilen noch.« 7. Mit einem Gefühl der Erleichterung verließ ich den Zug und stellte voll Stolz fest, dass die Kinder vollzählig waren und alles glücklich überstanden war. Der übrige Teil des Weges sollte im Wagen zurückgelegt werden. Bei einem Minimum an Erfahrung hätte man voraussehen können, dass sich die Kinder ohne vorherige Anweisung wild auf die Wagen stürzen, dass sie behende und unternehmungslustig die vordersten Plätze einnehmen und dass sie in ihrer Zerfahrenheit die Kleiderbeutel und ihre unglückseligen Zahnbürsten verlieren würden, dass man sie anders setzen müsste und dass ein lärmendes Durcheinander die Szene beherrschen würde. Um Ordnung zu halten, bedarf es in erster Linie der Voraussicht. Wenn ich mit Vorbedacht handle, kann ich alle steuern. Wenn ich zu einem längeren Spaziergang durch die Stadt aufbrechen möchte, sollte ich die Kinder dazu anhalten, zuvor ihre Notdurft zu verrichten, damit sie mir später in der Straßenbahn oder unterwegs nicht geheimnisvoll anvertrauen, dass es soweit ist … Beim Spazierengehen nähern wir uns einem umfriedeten Brunnen. Ich lasse Halt machen: »Stellt euch paarweise auf. Zu viert werdet ihr an den Brunnen herantreten.« Ich warne sie also nicht nur, denn es wäre vergeblich, Ordnung halten zu wollen. Und wenn eine Schlägerei entstünde, wenn die Wildlinge den Schöpfbecher zerschlügen, die Anlagen zertrampelten, die Umfriedung einrissen – sie wären nicht schuld, sondern die mangelnde Erfahrung des Erziehers. Das sind Baga­tellen, diese Erfahrung lässt sich bei gutem Willen rasch erwerben; aber sie ist beim ersten Zusammentreffen sofort von entscheidender Bedeutung, und das beeinflusst oft das ganze künftige Verhältnis des Erziehers zu den Kindern. Der Weg in die Kolonie war eine Qual für mich. Als das erste Kind vom Wagen stieg, weil es Fahren langweilig fand, hätte man es sofort wieder aufsitzen lassen sollen. Ich tat das nicht. Und so trafen die Kinder mit wildem Geschrei, ohne jede Ordnung, teils

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zu Wagen, teil zu Fuß, unterwegs Kleiderbeutel und Gebetbücher verlierend, einander drängend und stoßend, aufgeregt und halb betäubt auf der Veranda ein. 8. Kein pädagogisches Handbuch spricht davon, dass es unter dreißig Kindern, die Institutskleidung zugeteilt bekommen, auch einige gibt, denen alle Hemden entweder zu lang, zu eng am Hals oder zu schmal in den Schultern sind. Stöße von Wäsche und Anzügen – eine lebhafte aufgeputzte Horde Kinder und eine Aufsichtsperson ohne alle Erfahrung. Das Umkleiden einiger von ihnen überzeugte sowohl mich als auch die Kinder, dass guter Wille allein die Übung nicht zu ersetzen vermag. Mit unverhohlener Dankbarkeit nahm ich die Hilfe der Hausmutter an, die ohne große Mühe und Eile, aber flink, nicht nur mit den Kindern, sondern auch mit der Wäsche fertig wurde, die ich bereits heillos durcheinandergebracht hatte. Ein paar Unzufriedene, die mit allzu langen Ärmeln, fehlenden Knöpfen oder zu breiten Hosen gar nicht einverstanden waren, beruhigte und vertröstete sie mit dem Hinweis, morgen werde das alles in Ordnung gebracht. Das Geheimnis ihres Erfolges und meiner Niederlage beruhte darauf, dass ich haben wollte, es sollte gleich passen, gut anliegen und zudem auch noch schön aussehen, während sie wusste, dass dies gar nicht sein konnte, dass ich mich mit einigen wenigen befasste und die Übrigen ungeduldig warteten, während sie von vornherein die Hemden zur Hälfte austeilte, wobei die kleinen Jungen die kleinsten Nummern, die mittelgroßen und ganz langen die großen Nummern erhielten und es ihrer eigenen Initiative überlassen blieb, ein genaueres Zupassen durch Tausch zu erreichen. Ebenso ging es mit Hosen und Blusen. Das Ergebnis war, dass die geschickten und emsigen Kinder maßgerecht angezogen waren, und die unpraktischen und ungeschickten aussahen wie kleine Clowns aus einem Jahrmarktszirkus; was aber das Wichtigste war – als die Glocke zum Abendbrot rief, waren sie alle umgezogen und ihre eigenen Kleidungsstücke, in Beutel verpackt und mit Nummern versehen, in der Packkammer deponiert. 9. Wie haben Kinder am Tisch Platz zu nehmen? Auch diese Frage hatte ich nicht vorausgesehen. Im letzten Augenblick entschloss ich mich in aller Eile, sie – entsprechend dem leitenden Grundsatz der Freizügigkeit – sitzen zu lassen, wie sie wollten. Ich hatte jedoch nicht bedacht, dass es nur vier von den anderen unterschiedene Plätze gibt – die Eckplätze, alle übrigen sind gleich; um diese vier Plätze wird es also immer Streit geben, und zwar umso härter, je mehr Anwärter sich finden. Ich hatte nicht geahnt, dass der Streit um diese vier Plätze sich bei jeder Mahlzeit wiederholen würde und dass diejenigen, die als Erste dort gesessen hatten, nach dem Grundsatz der Priorität, die anderen nach dem der

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Gleichheit Anspruch auf die Plätze erheben würden. Ich hatte nicht vorausgesehen, dass bei einem ständigen Wechsel der Plätze und der Freundschaften die Kinder täglich andere Nachbarn haben würden; also wieder Streitereien beim Verteilen von Milch und Suppe, mit der Begleiterscheinung, dass Gefäße dabei ihr Gleichgewicht verlieren, ihr Inhalt verschüttet wird und sie selbst zerbrechen. Ich hatte ferner nicht vorausgesehen, dass es bei einem ständigen Plätzewechsel für mich schwieriger werden würde, die Kinder kennenzulernen. Ich war sogar so unklug, den Kindern freie Auswahl ihrer Bettplätze im Schlafsaal zuzugestehen: Jeder sollte schlafen können, wo er wollte. Wirklich, wenn man mir selbst die Wahl freigestellt hätte, ich hätte nicht gewusst, welchem Platz der Vorzug zu geben sei. Die Anordnung war jedoch offensichtlich so unsinnig, dass ich sie schnell wieder zurückzog – jedoch nicht so, dass es nicht auch hierbei viel Tumult und Lärm gab. Ich legte die Kinder nach den laufenden Nummern meiner Liste und fühlte mich sehr erleichtert, als endlich halbwegs Ruhe herrschte. Verschwommen zunächst wurden mir meine erlittenen Niederlagen bewusst, ich war jedoch wie betäubt und nicht in der Lage, nach ihren Ursachen zu suchen. 10. Die Hausmutter rief mich schon zum dritten Mal zum Abendbrot, die anderen Gruppenleiter hatten bereits ihre Räume verlassen. Ich glaubte, die Kinder am ersten Abend nicht allein lassen zu sollen: Sie könnten sich fürchten und weinen; aber die erfahrene Hausmutter behauptete, sie würden erschöpft einschlafen; warum hätte ich ihr nicht glauben sollen? Die meisten schliefen in der Tat bereits. Ich ging also ein wenig spazieren, aber nicht lange; ich musste bald und sehr eilig zurückkehren, um einem Jungen, dessen Stirn von einem Hieb mit einer Gürtelschnalle aufgerissen war, einen Verband anzulegen; der andere Kämpfer hatte ein aufgeschlagenes Auge, das im Verlauf von einigen Tagen seine Farbe änderte, von Rot zu Gelb, Schwarz und Schmutzig-Grau. »Die Saison fängt gut an«, sagte die Hausmutter. Ich hielt das für eine bittere und verletzende Bemerkung, die ich als umso ungerechter empfand, als ich doch auf ihr Zureden hin den Schlafsaal verlassen hatte. Man hätte voraussehen müssen, dass, wenn ein Teil der Kinder einschläft, andere, von den wechselnden Eindrücken erregt, nicht würden einschlafen können und in ihrer Gereiztheit anfangen, sich zu zanken und zu schlagen. Ich war eher darauf vorbereitet, heimwehkranke und betrübte Kinder freundlich zu trösten und nicht zerstrittene miteinander zu versöhnen, während doch, welch ein Wunder, der Bub, der unterwegs so sehr geweint hatte, jetzt tief und fest schlief. Das Wichtigste nahm ich nicht wahr: Die Schlägerei, ein so schweres Vergehen, war eine bedrohliche Ankündigung, sie war der Beweis dafür, dass meine Autorität am ersten Tage meiner unglückseligen Tätigkeit erschüttert war.

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In Parenthese füge ich hinzu, dass einer der beiden Kampfhähne das Gesicht voller Pockennarben hatte; gewiss hat das eine gewisse Rolle bei der Schlägerei gespielt, die so tragisch für meine himmelblauen Hoffnungen endete: »Keine einzige Träne« – das stand in meinem Programm; aber nun hatte es bereits auf dem Weg in die Ferienkolonie Tränen gegeben – und jetzt sogar Blut. 11. In der Nacht schlief ich schlecht. Ein Kind, nicht gewohnt, allein auf einem schmalen Bett zu liegen, rutschte von dem frisch gestopften Strohsack und fiel polternd zu Boden. Ein anderes stöhnte im Schlaf und redete wirres Zeug; dann wieder bildete ich mir ein, der Junge, der den Schlag ins Auge bekommen hatte, könnte vielleicht das Augenlicht verlieren. Die Nerven vibrierten. Zehn Arbeitsjahre als Korrepetitor hatte ich hinter mir – ich war weder ein grüner Jüngling noch ein Novize auf dem pädagogischen Gefilde; ich hatte viele Bücher über Kinderpsychologie gelesen. Aber trotzdem stand ich ratlos vor dem Geheimnis der Kollektivseele einer Kindergemeinschaft. Dass sie mir unbekannte neue Forderungen stellte, dass ich schmerzlich überrascht war, unterlag keinem Zweifel. Mein Ehrgeiz war getroffen, ein Gefühl des Überdrusses befiel mich; wie denn, so bald schon? Vielleicht gab ich mich noch der Illusion hin, dass dem ersten Tage, der doch wohl als Ausnahmetag anzusehen war, die erwarteten bunten und heiteren Tage folgen würden; was aber zu tun war, um ein ungefährdetes Morgen zu garantieren, das wusste ich nicht. 12. Ein grundsätzlicher Fehler war es, die Hilfe des Jungen vom Tagesdienst aus dem vergangenen Jahr unwillig abzulehnen; er hätte während der ersten Tage in der Kolonie ein unschätzbarer Gehilfe sein können. Mochte er doch an der Waggontür stehen und aufpassen, ja sogar die Ungehorsamen aufschreiben, falls das immer so gewesen war. Mochte er angeben, wie man verhindern konnte, dass die Kinder ihr Geld versteckten, wie sie üblicherweise bei Tische sitzen, wie sie im Schlafsaal untergebracht sind und wie man ins Bad geht. Eine Analyse aller begangenen Fehler wäre unendlich lehrreich. Leider habe ich, selbst wenn ich mir Notizen machte, die Misserfolge ausgespart; die Wunden waren noch allzu frisch und schmerzhaft. Heute, vierzehn Jahre später, entsinne ich mich nicht mehr an Einzelheiten. Ich weiß, die Kinder beklagten sich darüber, dass sie Hunger hatten, dass ihnen vom Barfußlaufen die Füße schmerzten, die Gabeln sandig waren, und es ohne Pelerinen zu kalt sei; ich weiß, dass ein erfahrener Gruppenleiter die Unordnung und Laxheit in meiner Gruppe entrüstet zur Kenntnis nahm; dass die Hausmutter mir gute Ratschläge gab, die mein eigenes Wohlergehen betrafen, weil ich mich durch allzu großen Eifer selbst gefährdete, wie sie

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meinte. Ich weiß, dass der Hausmeister sich wegen Verunreinigung des Wäldchens beklagte, und wegen der Beschädigung der Veranda durch die Jungen, die Ziegelsteine aus den Pfeilern entfernten, dass meine Gruppe am meisten Waschwasser verbrauchte, das man mühsam in das Sammelbecken pumpen musste. Bis auch noch das Schlimmste eintrat, am fünften oder sechsten Abend. 13. Als die Jungen in den Betten lagen, setzte im halbdunklen Schlafsaal eine Katzenmusik ein. Einer begann spitz zu pfeifen, einer krähte, andere bellten und muhten, wieder pfiff einer, mit Unterbrechungen, in verschiedenen Ecken des Saales. Ich begriff. Gewiss besaß ich unter den Kindern bereits einige Anhänger. Ich redete auf sie ein, erklärte, bat, und ich verspürte sowohl Verständnis als auch Zuneigung. Aber ich hatte die guten Kräfte meiner Gruppe weder herauszufinden noch gar zu organisieren vermocht. Also hatten die Ehrgeizigen und Falschen, deren Hoffnungen ich enttäuscht und deren Hilfswilligkeit ich geringschätzig abgelehnt hatte, sich rasch unter Ausnutzung meiner Unerfahrenheit miteinander verständigt und mich herausgefordert, bei richtiger Einschätzung meiner Schwäche. Ich ging langsam zwischen den Betten auf und ab; die Jungen lagen musterhaft da mit geschlossenen Augen, manche hatten die Bettdecke über den Kopf gezogen, sie quälten und beschimpften mich und setzten dabei alles auf eine Karte. Wir hatten im Gymnasium einen Lehrer, dessen einziges Verschulden darin bestand, dass er, nachsichtig wie er war, die Klasse nicht zu beherrschen verstand. Mit Grausen entsinne ich mich wahrer Orgien boshafter Streiche, mit denen wir ihn verfolgten. Sich so zu rächen, das bringen nur Sklaven fertig, wenn sie angesichts des verhassten Machthabers ihre Kräfte spüren. Jede despotische Schule hat unter ihrem Lehrpersonal ein solches Opfer, das leidet und sein Leiden verbirgt und sich vor seinen Vorgesetzten wie vor den Kindern fürchtet. In diesen wenigen Minuten, die eine Ewigkeit währten, durchlitt ich viel. 14. Das war also die Antwort auf mein Wohlwollen, meinen Eifer, meine Mühe? Anfangs empfand ich einen brennenden Schmerz. Das gesamte Kristallgebäude meiner Träume stürzte ein, fiel in Trümmer. Zorn und beleidigter Ehrgeiz: Ich werde zum Gespött derer, die ich an Gemütswerten weit überrage, die ich überzeugen, durch mein Beispiel hinanziehen, denen ich vielleicht auch imponieren wollte. In der Mitte des Schlafsaales blieb ich stehen und sagte mit ruhiger, aber halb erstickter Stimme an, wenn ich einen erwischte, würde ich ihn verhauen. Das Herz

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schlug mir bis zum Hals, meine Lippen bebten! Ein Pfeifen unterbrach mich. Ich packte einen, zog ihm die Ohren lang, und als er protestierte, drohte ich ihm, ihn auf die Veranda rauszuschmeißen, wo nachts der freigelassene Kettenhund herumstreunte. Wisst ihr, wen ich verprügelt hatte? Einen, der zum ersten Mal, einmal nur, gepfiffen hatte. Warum er das getan hatte, wusste er nicht zu erklären. Was war das für eine vortreffliche Lektion, die mir die Kinder da erteilt hatten! Ich war ausgegangen, in weißen Handschuhen, mit einer Blume im Knopfloch, um erfreuliche Eindrücke und liebliche Erinnerungen einzuheimsen bei den Hungrigen, Missachteten und Enterbten. Ich hatte mich herauslügen wollen aus meinen Verpflichtungen mit ein paar freundlichen Gesten und billigen Feuerwerkseffekten, ich hatte es nicht einmal fertiggebracht, mir ihre Namen einzuprägen, die Wäsche richtig auszugeben und für die Sauberkeit des Klosetts zu sorgen. Ich hatte darauf gewartet, dass sie mir ihre Sympathie entgegenbrächten, und ich wollte ihre in den Winkeln des Großstadtlebens großgezüchteten Fehler nicht zur Kenntnis nehmen. Nicht an die Arbeit, sondern an das Vergnügen hatte ich gedacht; diese Meuterei der Kinder öffnete mir die Augen für die Schattenseiten einer fröhlichen Ferienzeit. Was sollte man dazu sagen: Anstatt eine Rechnung über die begangenen Fehler aufzustellen, brauste ich auf und hetzte die Hunde auf die Übeltäter. Meine Kollegen waren nicht freiwillig, sondern des Verdienstes wegen hergekommen; mir ging es – um die Idee; vielleicht hatten die Kinder diese Heuchelei gespürt und bestraft? 15. Am nächsten Tage erhielt im gegen Abend von einem Jungen die Vorwarnung, der Tumult werde sich wiederholen, und wenn ich einen schlagen sollte, dann würden die anderen Widerstand leisten und sich wehren – dazu hätten sie sich mit Stöcken bewaffnet. Nun musste schnell und energisch gehandelt werden. Im Schlafsaalfenster stellte ich eine helle Lampe auf, nahm den Jungen an der Eingangstür die Stöcke ab und brachte sie in mein Zimmer – morgen würde ich sie ihnen zurückgeben. Ob sie begriffen, dass man sie verraten hatte, ob der hell erleuchtete Schlafsaal ihnen den Mut nahm oder ob der Mangel an Verteidigungswaffen ihre Pläne durchkreuzte – ich blieb jedenfalls Sieger. Verschwörung, Meuterei, Verrat und Repressionen – das war die Antwort des Lebens auf meine Schwärmereien. »Morgen reden wir miteinander« – so lautete die drohende Ankündigung anstelle des sentimentalen »Gute Nacht, Kinder«, mit dem ich sie an den ersten Abenden bedient hatte, was aber ganz und gar überflüssig gewesen war. Ich erwies mich als ein taktvoller Sieger.

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Und wieder einmal lehrte mich das Leben, dass manchmal gerade dort eine günstige Entwicklung einsetzt, wo wir meinen, es habe uns eine Katastrophe betroffen, dass eine stürmische Krise oft der Beginn einer Genesung ist. Ich hatte nicht nur die Sympathien der Kinder nicht verloren, sondern im Gegenteil, das gegenseitige Vertrauen wuchs. Für die Kinder war die ganze Sache eine kleine Episode, für mich – ein umstürzendes Ereignis. Ich hatte begriffen, dass Kinder eine Macht sind, die man zur Mitwirkung ermuntern und durch Geringschätzung verletzen kann, mit der man aber auf jeden Fall rechnen muss. Diese Wahrheiten hatte mich, wenn auch durch einen eigentümlichen Gang der Ereignisse, der Stock gelehrt. Am nächsten Tage, bei einer Unterhaltung im Walde, sprach ich zum ersten Mal nicht zu den Kindern, sondern mit ihnen, und ich sprach nicht davon, wie sie nach meinem Wunsche sein sollten, sondern darüber, was sie selbst sein wollten und könnten. Vielleicht überzeugte ich mich damals zum ersten Mal davon, dass man von Kindern viel lernen kann, dass auch sie ihre Forderungen und Bedingungen stellen, und dass sie das Recht haben, auch Vorbehalte anzumelden. 16. Die Uniformität der Kleidung ist den Kindern nicht deswegen eine Last, weil Schnitt und Farbe einheitlich sind, sondern weil einige von ihnen physisch darunter leiden, dass einzelne Kleidungsstücke nicht richtig passen. Der Schuster berücksichtigt nicht die Eigenart des Kinderfußes, wenn der Erzieher dafür kein Verständnis aufbringt und keine Hinweise gibt. Passt einem Langweiler bequemes Schuhwerk an, vielleicht wird er lebhaft und fröhlich. Wenn die Hausordnung einer Sommerkolonie vorschreibt, die Kinder sollten im Sommer barfuß gehen, so wird das eine Freude für diejenigen sein, die auch in der Stadt barfuß gegangen sind, aber eine Tortur für einige mit besonders empfindlicher Haut. Blutarme und nicht so lebhafte Kinder brauchen wärmere Kleidung. Wie soll man in einem Internat Launen von wirklichen Bedürfnissen unterscheiden, wo das doch schon in einer Familie so schwierig ist? Wie lässt sich bestimmen, bis zu welcher Grenze ein Kind sich leicht anpasst und was eine vorübergehende Unbequemlichkeit zur Folge hat, und wo die Eigentümlichkeiten seines Organismus, die individuellen Unterschiede des Einzelnen in der Masse beginnen. Im Internat ist eine einheitliche Schlafenszeit verpflichtend. Auch hier ist das Maß nach dem durchschnittlichen Schlafbedürfnis des Kindes berechnet, aber es gibt beträchtliche Abweichungen. So kommt es, dass du chronisch unausgeschlafene Kinder hast und solche, mit denen du, und zwar vergeblich, um die Morgenruhe im Schlafsaal kämpfen musst. Denn es ist eine Qual für ein Kind, nicht schlafen zu können und im Bett liegen zu müssen, ebenso wie es quälend ist, aufzustehen, wenn man müde und schläfrig ist.

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Schließlich noch die einheitliche Ernährung, die das Lebensalter allzu wenig berücksichtigt und den unterschiedlichen Appetit einzelner Kinder bzw. eines Lebensalters gänzlich außer Acht lässt. So kommt es, dass wir in Internaten so viele bedrückte Kinder vorfinden, weil sie unbequem oder nicht warm genug gekleidet, schlafbedürftig oder undiszipliniert im Schlafen, halb gesättigt oder hungrig sind. Das sind vorrangige Fragen von entscheidender Bedeutung für die Erziehung. 17. Es gibt keinen schmerzlicheren Anblick, als wenn sich hungrige Kinder auf eine zusätzliche Essensportion oder auf eine Extrakelle Suppe stürzen, nichts ist peinlicher als Streitereien um ein etwas größeres Stück Brot; es gibt keinen demoralisierenderen Faktor als den Handel mit Esswaren. Hier kommt es zu den schärfsten Zusammenstößen zwischen einem gewissenhaften Erzieher und einer sparsamen Wirtschaftsleiterin. Ein Erzieher wird nämlich bald einsehen, dass man ein hungriges Kind nicht erziehen kann, weil Hunger ein schlechter Ratgeber ist. Eltern können unbeschadet sagen: »Es ist kein Brot mehr da« – sie werden weder die Liebe noch die Achtung ihrer Kinder verlieren; ein Erzieher darf das nur ausnahmsweise sagen, wirklich nur im Sonderfall und auch nur dann, wenn er selbst hungrig ist. Die Differenz zwischen einer durchschnittlichen, normalen Kinderration und einem größeren Appetit sollte man mit Brot ausgleichen, von dem eines so viel essen kann, wie es will. Ich weiß, die Kinder werden Brot in ihren Hosentaschen mit sich tragen, sie werden es unter ihren Kopfkissen verstecken, auf den Fensterbrettern herumliegen lassen oder im Klosett versenken. So wird das eine Woche gehen, bei unverständigen Erziehern auch einen Monat, aber nicht länger. Man darf ein Kind, das so verfährt, wohl bestrafen, aber man darf ihm nicht drohen: »Es wird kein Brot mehr ausgeteilt.« Denn dann werden die Vorsichtigeren aus Furcht vor den angekündigten Strafmaßnahmen Vorräte anlegen. Ich weiß, die Kinder werden sich mit Brot vollstopfen, und die normalen Essensportionen werden in die Abfalleimer wandern. Gewiss, wo ein ohne Sorgfalt zubereitetes, wenig schmackhaftes Essen Kindern vorgesetzt wird, die nicht gänzlich ausgehungert sind, dort wird Brot bevorzugt werden, das den Gaumen zwar nicht reizt, das aber auch nicht Ekel erregend ist. Ich weiß, der eine oder andere Trottel wird sich vollfressen. Aber glaubt mir, er wird das nur ein- oder zweimal tun; nur ängstlich kontrollierte Kinder haben keine Erfahrung. 18. Es wird sogar dort Reibereien geben, wo sonst zwischen der Hausmutter und dem Erzieher volle Übereinstimmung besteht. Wenn die Kinder satt sind, wird es

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manchmal vorkommen, dass ein guter Teil des zubereiteten Essens übrigbleibt. Der Tag ist heiß, des Ausfluges wegen geht es eilig zu, die Milch ist leicht angebrannt, und die Hausmutter kommt mit dem Vorwurf: »Die Grütze ist zur Hälfte übriggeblieben, und da ist auch noch Brot unter der Veranda gefunden worden.« Mag der Erzieher des guten Beispiels wegen einen Becher angebrannte Milch austrinken und ankündigen, dass der Spaziergang ausfällt, wenn die Suppe nicht aufgegessen wird, mag er das Brot in vielen, aber kleinen Portionen ausgeben und den Kummer der Hausmutter nicht leichtnehmen; aber das Brot muss bleiben, hier darf er nicht nachgeben, keinen einzigen Tag. Erzieher sind geneigt, die Sorgen einer Hausmutter nicht ernst zu nehmen, und die Hausmutter glaubt, auch dort Geringschätzung wahrnehmen zu können, wo sie gar nicht vorhanden ist. Wo auf beiden Seiten guter Wille herrscht, pflegt es gerade zu derartigen Zusammenstößen zu kommen, wie sie sich zwischen Menschen abspielen, die auf demselben Gebiet in verschiedenen Bereichen tätig sind. Man muss sich taktvoll verhalten, und ich darf einem Erzieher, der sich dazu hinreißen lässt, in der Erregung zu äußern: »Bleiben Sie lieber bei Ihren Kochtöpfen und mischen Sie sich nicht in die Erziehungsarbeit an den Kindern ein« ganz offen sagen, dass die Hausmutter ganz recht hat, wenn sie darauf erwidert: »Und wischen Sie lieber den Kindern den Hintern richtig ab, denn die Waschfrau wird ja gar nicht mit der Wäsche fertig.« Denn wenn es in der Sache selbst Aufgabe der Hausmutter ist, für die Sauberkeit der Küche zu sorgen, so ist es Pflicht des Erziehers, sich um das Sauberhalten der Wäsche zu kümmern. Guter Wille wird ihnen das Gesetz taktvoller Zusammenarbeit diktieren und ihr Verständnis dafür wecken, dass sie gemeinsam einer guten Sache dienen. Ich betone: Wo guter Wille herrscht. 19. Die Kinder sind bereits satt, und du meinst, den Widerstand erfolgreich bekämpft zu haben – aber nein, das stimmt nicht, er hält sich nur verborgen. Vielleicht ist die Suppe heute absichtlich versalzen, der Reis zu Kleister verkocht. Vielleicht sind die Fleischportionen willentlich so groß geraten, außerdem gibt es Kartoffeln, so viel jeder will, und Sauerkirschen zum Nachtisch: »Sollen sie ihm doch krank werden, damit er einmal sieht, wie das ist.« Der ganze Reis kommt in die Abfalltonnen, nach der salzigen Suppe trinken die Kinder Wasser wie nicht gescheit, grüne Stachelbeeren und dicke Milch geben ihnen den Rest. Junger Erzieher, merke es dir gut: Wenn ein Kind schon raffiniert grausam sein kann, dann geschieht das unbewusst, auf fremde Einflüsterungen hin; die ausgeklügelte Falschheit eines erwachsenen Menschen jedoch, den du in seinen Kreisen störst, kennt keine Hemmungen.

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Die Zukurzgekommenen, die vom Leben stiefmütterlich Behandelten – hier rächen sie sich für widerfahrenes Unrecht. Enttäuscht in ihren ehrgeizigen Wünschen, gefallen sie sich in der Ausübung einer Macht ohne Verantwortung, lassen sich ehrerbietig behandeln, erlauben gnädigst, dass man ihnen dient, und geben despotisch ihre Befehle. Die Farblosen und Untüchtigen, Demütigen und Heuchlerischen, hier finden sie ihr Brot um den Preis der allerschmutzigsten Arbeit – und des Schweigens. Wenn du sie störst, dann lass dich nicht täuschen, wenn sie dir ohne lange, erbitterte, leidenschaftliche Auseinandersetzung nachgeben; ein allzu leichter und rascher Sieg trägt den Keim der Niederlage in sich: Sie warten ab, bis du ermüdest, und trachten derweil danach, deine Wachsamkeit einzuschläfern oder Beweise gegen dich zu sammeln. Wenn so eine junge Hausgehilfin spät abends noch in dein Zimmer kommt, um dir im Auftrag der Hausmutter etwas zu bringen oder dich um etwas zu bitten, so könnte das wohl ein Zufall sein, aber es wäre auch denkbar, dass ein Hintergedanke mitspielt. Je jünger du bist und je unerfahrener, desto bedachtsamer sei in deinen Handlungen, vorsichtiger mit deinen Worten und misstrauischer, wenn dir etwas allzu leicht glückt. 20. Wenn du mit dem Strom schwimmen, deinen Vorgesetzten nachgeben, dich denen fügen willst, die das große Wort führen, wenn du deinen Rückhalt bei den Gewitzten und Betriebsamen suchen, die graue Masse links liegen lassen und die Widerspenstigen und Disziplinlosen unterdrücken willst, wenn dir schließlich daran liegt, dich um alles zu kümmern, jede berechtigte Forderung zu erfüllen, Missbrauch zu verhindern, Klagen anzuhören, dann ist es unausbleiblich, dass du Feinde hast, als Minister wie als Erzieher. Wenn du allzu selbstherrlich, unbesonnen und zuversichtlich den Kampf beginnst, wirst du dir ein über das andere Mal die Finger verbrennen, und vielleicht vergeht dir die Lust, auf Kosten von Ruhe und Frieden, manchmal auch deiner Existenz und deiner Zukunft, weiter zu experimentieren. Je unbedachter der Aufschwung, umso bedrohlicher der Absturz. Aber glaube nur nicht, ich sei ein verlogener alter Nörgler. Handle so, wie es dir dein Gefühl eingibt, ungestüm, kompromisslos, wähle stets den kürzesten Weg … Man wird dich schon hinausbeißen, andere werden kommen, deinen Platz einnehmen und die Sache weiterführen. Keine Zugeständnisse an die Unlauteren, fort mit den Untüchtigen, den Lumpen eins aufs Maul. Du hast noch keine Erfahrung, umso besser; wenn sie dir einen Weg weist, auf dem du dich dein Leben lang kriechend fortbewegen würdest, so lehnst du das ab: Du möchtest lieber durch die Luft dahin segeln, und sei es auch nur für eine Stunde … Ein Besiegter wird Kahlköpfigen und Grauhaarigen nicht gerade verehrungswürdig erscheinen, für die Jungen wird er zum Helden.

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Sei nicht erbittert, du wolltest es nicht anders … Sag nicht, man hätte dich nicht gewarnt, man habe dich getäuscht und belogen … 21. Meine Rede über den großen Tumult hatte ungefähr folgenden Inhalt: »Ich habe einen Jungen verhauen, das war nicht recht von mir. Ich habe ihm gedroht, ihn auf die Veranda hinauszuschmeißen, wo ihn der Hund beißen würde; das war sehr hässlich. Aber wer ist schuld daran, dass ich zwei hässliche Dinge getan habe? Schuld sind jene Kinder, die absichtlich Krach gemacht haben, um mich in Wut zu bringen. Vielleicht habe ich einen Unschuldigen bestraft. Aber wer hat das verschuldet? Doch diejenigen, die die Dunkelheit ausnutzten, um sich zu verstecken. Warum war es gestern still im Schlafsaal? Weil die Lampe brannte. Es ist eure Schuld, wenn ich ungerecht war. Ich schäme mich sehr, aber auch ihr müsstet euch schämen. Ich habe meine Schuld eingestanden, nun tut ihr das auch. Es gibt gute und böse Kinder; jedes böse Kind kann sich bessern, wenn es nur will, ich helfe ihm gern dabei. Aber auch ihr müsst mir helfen, damit ich gut bleiben kann und nicht herunterkomme bei euch. Es ist mir sehr unangenehm, dass ein Junge ein aufgeschlagenes Auge hat, dass ein anderer einen Verband um den Kopf tragen muss, dass sich Herr X über euch beklagt und dass der Hausmeister dauernd etwas an euch auszusetzen hat.« Danach erzählte jeder, ob er gut sei, ordentlich, so gerade noch erträglich, oder ob er es selbst nicht wisse; dann sagten alle, ob sie sich sehr bessern wollten, oder nur ein bisschen oder überhaupt nicht. Das alles wurde niedergeschrieben. So lernte ich die Rechte, das Zentrum und die Linke meiner Gruppe kennen … Es gibt gesammelte politische Reden, gedruckte Anklage­und Vcrteidigungsplädoyers und Predigtsammlungen. Warum werden Ansprachen von Erziehern an ihre Kinder nicht gedruckt? Weil es so leicht zu sein scheint, die zarten Kinderseelen anzusprechen. Manche Ansprachen an die Kinder habe ich eine Woche und länger vorbereitet. 22. Gemeinsam haben wir darüber beraten, was man tun müsse, damit die Kinder den Wald nicht verunreinigten, damit bei Tisch keine Unruhe herrschte, dass kein Brot herumgeworfen werde und sich alle auf ein Signal hin zum Baden oder zum Essen einstellten. Ich habe auch weiterhin alle Fehler gemacht, vor denen ich euch bewahren möchte, aber ein Teil meiner Gruppe hat mir versprochen, mir zu helfen. Was ich falsch machte, rächte sich von selbst an mir in der Zwecklosigkeit meiner Bemühungen und in einem unfruchtbaren Energieverlust. Die Kinder zuckten die Achseln, manchmal versuchten sie, mich zu überzeugen, oft gab ich nach. Ich erinnere mich an ein Gespräch über Betragensnoten; ich wollte keine Noten

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geben: Alle verdienten sie eine Fünf, denn jedes gab sich Mühe, gut zu sein; wenn es ihm nicht glückte, so sollte man es deshalb nicht bestrafen. »Wenn ich meinem Vater nicht schreibe, dass ich eine Fünf habe, dann denkt er noch, dass ich mich schlecht betrage.« »Bei den anderen Erziehern ist ein Lümmel, der hat wenigstens eine Drei, und ich bin artig und habe gar nichts.« »Wenn ich etwas Böses tue und Sie geben mir eine Note, dann weiß ich, dass es nun vorbei ist.« »Wenn es keine Noten gibt, dann will man irgendwie nicht gehorchen, ich weiß selbst nicht, warum.« »Auch ich nicht. Wenn Sie Noten geben und ich was Schlimmes anstelle, dann denk’ ich: Soll er mir doch eine Drei geben. Aber wenn es keine Noten gibt, dann ist mir das unangenehm.« Überlegt euch einmal jeden Hinweis, und ihr werdet sehen, wie ernst sie solche Fragen behandeln und wie deutlich sich in diesem Licht die Verschiedenheiten jedes einzelnen Kindes gegeneinander abheben. Ich gab nach: Jedes bestimmte selbst die Note, die es verdiente; einige äußerten verdrossen: »Ich weiß selbst nicht.« 23. Lange Zeit unterlag ich dem Vorurteil, durch eine Nummer werde ein Kind erniedrigt. Hartnäckig lehnte ich es ab, Kinder paarweise aufzustellen und sie bei Tisch nach Nummern zu setzen. Aber Kinder freuen sich an ihren Nummern: Eines ist neun Jahre alt und hat Nummer 9, ein anderes hat die Nummer 20, und das ist auch gerade die Hausnummer seiner Tante. Erniedrigt es denn einen Theaterbesucher, dass eine Nummer auf seiner Eintrittskarte steht? Ein Erzieher sollte seine Kinder kennen und sie im vertrauten Gespräch mit dem Kosenamen anreden, den die Mutter gebraucht. Er sollte auch die Familie seines Schützlings kennen, nach der kleinen Schwester fragen, die so schwächlich war, nach dem Onkel, der seine Stelle verloren hat. Wenn die Betten den Nummern nach stehen, werden fünf Kinder von dreißig ihren Platz wechseln wollen: weil eines gern bei seinem kleinen Bruder schlafen möchte, weil der Nachbar im Schlaf redet, weil ein drittes näher am Zimmer des Erziehers sein will und das fünfte in der Nacht Angst hat. Ins Bad gehen sie paarweise nach ihren Nummern; aber wenn eines tauschen will mit einem anderen, um mit seinem Freund zu gehen, wenn sich ein Paar allzu langsam fortbewegt, wenn eins sich den Fuß verletzt hat, sollte die Nummer nicht hinderlich sein, es soll ruhig das Zweigespann oder die Nummer wechseln. Schon während der ersten Tage kann eine Nummer zum Namen werden, durch den hindurch die Persönlichkeit des Kindes transparent wird, bis seine sittliche und in-

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tellektuelle Gestalt voll hervortritt. In diesem Fall wird die unentbehrliche Nummer keinen Schaden stiften. 24. Ich ließ meine Gefühle Kindern zukommen, die sie verschmäh­ten, sie nicht ausstehen konnten und sich vor ihnen fürchteten. Naiv wie ich war, meinte ich, man könne innerhalb von vier Wochen jedes Leiden heilen, jede Wunde schließen. Ich vergeudete meine Zeit. Meine besondere Fürsorge ließ ich den am wenigsten wertvollen Kindern angedeihen, anstatt sie in Ruhe zu lassen. Mit einiger Rührung muss ich daran denken, wie die Kinder auf meine Bitten hin in ihrem Spielkreis auch solche aufnahmen, die als Spielverderber galten, wie sie sich den Aufdringlichen gegenüber nachgiebig verhielten, die nun erst recht frech wurden, weil man ihnen mit der anempfohlenen Nachsicht entgegenkam. Einen Ball gebe ich einem Dummkopf, der nichts mit diesem wahren Spielzeug-Wunder anzufangen weiß und ihn in die Tasche steckt; denn jeder hat das gleiche Anrecht auf den Ball, den ich der Reihe nach »gerechterweise« allen zukommen lasse. Unter Ausnutzung ihres guten Willens entlockte ich ein paar ehrlichen Kerlchen, die keine unmöglichen Verpflichtungen übernehmen wollten, das Versprechen, sich zu bessern. Ich war erfreut, weil alles immer reibungsloser klappte, und zählte weder die schlaflosen Stunden, noch die nutzlos vertane Kraft. Ich achtete die Kinder, ihre Spiele, ihre Streitereien und ihre Interessen gering, denn sie waren damals für mich noch »belanglos«. 25. Sommerkolonien sind mit einem schwierig zu leitenden Internat vergleichbar, gleichwohl aber eine dankbare Aufgabe. Dir wird auf einmal eine größere Anzahl von Kindern anvertraut, während in jedem anderen Internat zu den bereits vorhandenen, an eine bestimmte Ordnung gewöhnten Kindern Einzelne oder kleinere Gruppen hinzukommen. Auch die Bedingungen für die Beaufsichtigung sind auf einem großen Terrain nicht einfach. Die erste Woche, wenn sich alles erst einspielen muss, ist schwierig, die letzten acht Tage erfordern erhöhte Wachsamkeit, weil die Kinder sich dann mit ihren Gedanken und Gewohnheiten bereits wieder dem Stadtleben zuwenden. Ein gewissenhafter, aber unerfahrener Erzieher hat hier Gelegenheit, seine Kräfte am schmerzlosesten zu erproben; in lebendiger Arbeit lernt er die pädagogischen Fragen der Internatserziehung kennen und kann Fehler und Unzulängliches objektiv beurteilen, ohne für die zukünftige Entwicklung verantwortlich zu sein. Wenn er sich über Irrtümer und Fehlentscheidungen Rechenschaft ablegt, hat er in der folgenden Saison die Möglichkeit, mit einer neuen Kindergruppe einen neuen Arbeitsabschnitt auf neuen Grundlagen zu beginnen, ohne Zeugen für seine früheren Fehler zu haben und ohne die Konsequenzen dafür tragen zu müssen.

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Er braucht seine Kräfte nicht zu schonen und Elan und Energie nicht für einen langen Zeitraum zu berechnen und zu verteilen. Er quält sich wohl ab, aber der Sommer vergeht, und er kann sich erholen. Erfahrungen, die er im ersten Monat machte, geben ihm im zweiten das befriedigende Gefühl bestätigter Fortschritte, rasch erkennt er den Unterschied, was ihn zu weiteren Anstrengungen ermutigt. Die Arbeit des ersten Zeitraums geht nur dem Anschein nach verloren: In der zweiten Ferienperiode wirst du es mit Bekannten, Verwandten und Kameraden von Kindern aus dem ersten Abschnitt zu tun haben. Frag nur einmal, und du wirst erfahren, dass sie dich bereits kennen und wissen, welche Anforderungen du stellst: Bevor sie dich noch zu sehen bekommen haben, sind sie dir bereits wohlgesonnen und wünschen, deine Autorität anzuerkennen. 26. Der zweite Zeitabschnitt hatte unter einem glücklicheren Stern begonnen. Am Vorabend der Abreise war mir die Liste der Kinder zugestellt worden, und ich hatte mir ihre Namen der Reihe nach eingeprägt. Manche Namen waren Vertrauen erweckend, andere gaben zu Befürchtungen Anlass. Das ist kein Scherz: Denkt nur einmal daran, wie ein Maler namens Kurzawa (Staubwolke), ein Bauer Ślimak (Schnecke) und ein Schuster Niedola (Missgeschick)27 aussieht. Mit einem kleinen Diarium und einem Bleistift bewaffnet, notierte ich mir alles, was mir bei der ersten Begegnung an einem Kind auffiel. Ein Plus, ein Minus oder ein Fragezeichen hinter dem Namen gaben den ersten Eindruck wieder. Ein kurzes »lieber Kerl, Lümmel, Tolpatsch, vernachlässigt, frech« – das war die erste Charakterisierung; sie konnte sich bestätigen oder auch nicht – aber sie vermittelte einen Gesamteindruck. So durchstöbert ein Bibliothekar eine neue wertvolle Büchersendung und überfliegt Einband und Format. Das ist eine willkommene Arbeit, da wird es etwas zu lesen geben! Ich notierte mir die meiner Obhut besonders empfohlenen, die zahlreichen in Begleitung erschienenen, die für unterwegs reichlich beschenkten und die verspätet eintreffenden Kinder. Schon gibt es die ersten Fragen, Bitten und Ratschläge der Kinder, die gerade deswegen so interessant sind, weil es sich um die ersten Äußerungen handelt. Wenn einer seine Meldekarte verliert und sein Nachbar hebt sie rasch auf und gibt sie ihm lachend, wenn einer flink und laut antwortet »Hier«, wenn sein Name nach der Liste aufgerufen wird und für einen anderen die Mutter antwortet, wenn einer einen anderen knufft, der seinen Platz eingenommen hat und der sich beklagt, wenn der eine sich manierlich verbeugt und der andere finster um sich blickt, so ist das alles für den Erzieher von ungemeiner Bedeutung; wahrgenommen und 27 In Polen verbreitete Familiennamen.

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im Gedächtnis oder im Notizbuch festgehalten, ist es für ihn ein wertvolles, der Erkenntnis dienendes Material. 27. Wenn ich die Postkarten einsammle, lege ich sie in nummerierte und zur Hälfte gefaltete Blätter, denn einige sind liniiert, andere haben Fettflecke oder sind zerknittert. Ganz zu Recht waren die Kinder der ersten Ferienperiode unzufrieden, dass sie nicht ihre eigenen Karten wieder erhielten, um nach Hause zu schreiben. Das Geld wickelte ich in Papier ein, das mit Nummern versehen war, und legte es in ein am Vortag bereitgelegtes Taschentuch. Das war ein Depositum, ein umso unverletzlicheres Eigentum, weil es sich um ein Zwangs-Depositum handelte. Ein Kind, das zehn Groschen abgibt, vertraut dir sein ganzes Vermögen an: Du bist verpflichtet, achtsam damit umzugehen. An der Waggontür stand ein Aufpasser, ebenso an jedem Fenster. Ich hatte Zeit, mit jedem Kind ein paar Worte zu wechseln, und wieder kam einiges zu meinen Notizen hinzu. Ich notierte mir diejenigen, die sich nach Wasser rissen, die sich beklagten und die sich am Fenster zankten. Ein drittes Mal zog die ganze Gruppe an mir vorbei, als ich mit Tintenstift die Nummern auf ihre Kleiderbeutel schrieb. Auch hier kamen die einen beim Namensaufruf schnell herbei, andere musste man mehrmals aufrufen. Es gab auch eine Gruppe von Kindern, die, anstatt aus dem Fenster zu gucken, sich um mich scharten und mir neugierig bei der Arbeit zusahen. Dann wieder fing ein Kind zu weinen an: Ich schickte einen Jungen hin, es zu trösten, er würde das besser machen als ich, und wenn das nichts nutzte, so sollte es ruhig ein bisschen heulen. 28. Ich gab bekannt, dass Fuhrwerke an der Bahnstation sein würden und dass sie jetzt, im Zuge, ihre Notdurft verrichten sollten; dass sie nicht wie die Wilden auf die Wagen klettern und kein Gedränge machen sollten, dass es verboten sei, unterwegs abzusteigen, dass, wer nicht gleich einen passenden Anzug bekam, ihn morgen werde umtauschen können. Zwei Jungen, die schon im vergangenen Jahr mit dabei waren, sollten bei der Milchausgabe helfen, drei andere bei der Verteilung der Anzüge. Ein sachliches Gespräch, nicht eitler Flirt bot Anknüpfungspunkte für eine künftige Freundschaft. Ich notierte mir, wer unsaubere Ohren, lange Fingernägel, ein schmutziges Hemd hatte; denn wenn eine Mutter ihr Kind vor der Abreise nicht richtig versorgt und ausstattet, dann ist sie nicht nur arm, sondern auch nachlässig; manchmal ist ein Kind aber auch bereits selbstständig, auf sich allein gestellt, oder es hat keine Mut-

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ter mehr. Wenn ich die Kinder erst umgezogen und gewaschen habe, geht mir dieses wichtige Detail verloren. Auf jeden Vorschlag, mir zu helfen oder mich zu vertreten, ging ich ein; denn ich wusste, meine Aufgabe war es, zu organisieren und eine wachsame Aufsicht auszuüben, ich war mir darüber im Klaren, dass ich nicht alles allein schaffen könnte, dass ich nur dann das Tauglichkeitsexamen als ein guter Erzieher bestehen würde, wenn ich ausreichend Zeit für die wichtigsten Dinge und die fürsorgliche Betreuung der Sonderfälle unter den Kindern finden würde, ob es sich dabei nun um Gesundheit, Temperament, Verwahrlosung, Gebrechlichkeit oder um besonders hervorragende geistige Begabung Einzelner handelte. Als sich nun die Kinder umgezogen und an den Tischen Platz genommen hatten, prägte ich mir ihre Gesichter ein. Ich kannte jetzt bereits meine Gruppe besser als im vergangenen Ferienabschnitt nach mehreren Tagen. 29. Das eine erkenne ich an seinen Sommersprossen, das andere an seinen Augenbrauen, das Dritte an den Leberflecken auf einem Nasenflügel, das Vierte an der Schädelform. Immer sind da noch einige, bei denen man nicht vorhandene Ähnlichkeiten wahrnimmt, und andere, die man eine längere Zeit hindurch nicht wiedererkennt. Solche Schwierigkeiten hat kein Lehrer in der Klasse, der die Kinder täglich vor sich hat, bewegungslos in die Bänke gezwängt. Aber ein Pedell, ein Inspektor, ein Schuldirektor kann auch ein Lied davon singen. Und es ist für einen Unbekannten nicht schwierig, unbemerkt etwas anzustellen, wenn ein paar Sündenböcke für sich und andere verantwortlich gemacht werden. »Ach, dich kenn ich schon. Das ist nicht das erste Mal, du bist immer dabei.« Aber der wirkliche Übeltäter lacht sich ins Fäustchen. Deshalb trete ich so nachdrücklich dafür ein, alle Kinder rasch kennenzulernen, weil alle schädlichen Vorurteile zugunsten wie auch zuungunsten eines Kindes ihren Ursprung darin haben, dass man die Kinder nicht kennt. Ich bin wohl nicht weit von der Wahrheit entfernt, wenn ich behaupte, dass ein hübsches Kind mit einem lieben anmutigen Gesichtchen alle Voraussetzungen besitzt, für gut gehalten zu werden, ein hässliches oder mit einem körperlichen Defekt belastetes aber für böse. Daher kommt auch das ebenso ungerechtfertigte Vorurteil mancher Erzieher gegenüber hübschen Kindern. Ich wiederhole noch einmal: Wer nicht wenigstens einen von seinen Schützlingen kennt, wird zwangsläufig und in jedem Fall ein schlechter Erzieher sein. 30. Abends, als die Kinder schlafen gingen, erzählte ich ihnen von ei­nigen Jungen, die im vorigen Ferienabschnitt hier gewesen waren. »Es waren die vier, die in den Betten Nummer 5, 11, 20 und 30 schliefen.

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Einer von ihnen erwies sich als ein sehr lieber Kerl, der Zweite war immer und mit allem unzufrieden, der Dritte hat sich in den Wochen hier sehr gebessert, dem Vierten passierte etwas sehr Peinliches, er machte ins Bett, und die anderen Jungen lachten ihn anfangs in abscheulicher Weise aus, aber später überzeugten sie sich davon, dass er arm, schwach und unbeholfen war. Also nahmen sie ihn in ihren Schutz. Wo mögen die vier jetzt sein, und woran denken sie wohl?« In diesen vier Gestalten aus dem Leben waren sowohl eine moralische Nutzanwendung als auch ein Tagesplan und kompliziertere Fragen des Lebens in der Ferienkolonie enthalten. Ich sagte ihnen noch, was sie tun sollten, wenn sie in der Nacht Angst haben sollten, und wie sie sich zu verhalten hätten, wenn sie morgen sehr früh aufwachten. Und sie schliefen alle ein, außer Zweien. Ein Junge hatte einen kranken Großvater zu Hause und musste an ihn denken, der andere war daran gewöhnt, dass ihm die Mutter vor dem Einschlafen Gute Nacht sagte. Diesem Letzteren, einem unter Achtunddreißig, fehlte der abendliche Kuss, ohne den er nicht einschlafen konnte. Ich dachte daran, dass vielleicht gerade er, einer der empfindsamsten, im vergangenen Jahr bei dem damaligen Tumult und in der Erregung gescholten und irrtümlich an den Ohren gepackt worden wäre. Schon am ersten Abend hatte ich Zeit, mir Notizen zu machen: In einem besonderen Heft über den ersten Tag in der Ferienkolonie und in einem anderen über jedes einzelne Kind. Schon hatte ich über die Hälfte aller Kinder irgendetwas, eine kleine Einzelheit zu berichten. 31. Am nächsten Tag, kaum dass der Morgen dämmerte, war ich bereits im Schlafsaal, um die Kinder meiner Gruppe kennenzulernen, bevor sie auseinanderliefen und sich mit den anderen vermischten. Im Laufe des ganzen Tages wendete ich mich immer wieder an ein anderes Kind mit der Frage nach seinem Namen. »Und ich, bitte, wie heiße ich?« Kinder, die einander ähnlich sahen, und solche, die mir ähnlich zu sein schienen, ließ ich neben mir Aufstellung nehmen und betrachtete sie genau, während die Jungen mich auf Einzelheiten aufmerksam machten, an denen man sie unterscheiden und erkennen konnte. Von Stunde zu Stunde kamen Einzelheiten hinzu, die mir einen Einblick in das persönliche Leben oder das eine oder andere Gebiet des geistigen Interesses eines Kindes vermittelten. Unter dem Einfluss der ländlichen Umgebung und wohltätiger erzieherischer Einwirkungen wenden sich die verworrenen Seelen, zunächst verwundert und furchtsam, dann aber immer vertrauensvoller und fröhlicher dem zu, was schön und harmonisch ist. Das geht rasch vor sich und erscheint wie ein Wunder.

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Aber es gibt eine Begrenzung der pädagogischen Möglichkeiten, die kein Wunder zu ändern vermag. Eine sensible und reich begabte, nur durch die äußeren Bedingungen ermattete Seele wird zum vollen Leben erwachen; aber eine armselige und zerschlagene wird sich kaum zu einem schmerzlich verzerrten Lächeln aufschwingen. Es ist dir leid darum? Du hast nur vier kurze Wochen. Angeborene, eigenständige Rechtschaffenheit wird sich den neuen Formen eines lichteren Daseins anpassen, krankhafte Unnatur wird sich widerstrebend abwenden. Es gibt Büsche, die ein einziger Regenguss belebt, und es gibt kranke und gänzlich abgestorbene; es gibt Unkräuter, die die Nutzpflanzungen mit aller Zähigkeit durchdringen. 32. Ich habe mir aufmerksam angesehen, wie sich eine Kindergemeinschaft orga­ nisiert, und ich begriff die Schwierigkeiten der ersten Saison in der Sommerkolonie. Während die gut veranlagten Kinder sich noch in der neuen Umgebung umschauen, sich ein wenig ängstlich und zurückhaltend miteinander bekannt machen und einander näherkommen, ist es den weniger wertvollen Kräften bereits gelungen, sich einzurichten, den Ton anzugeben und sich Gehör zu verschaffen. Ein Kind, das einsieht, wie notwendig Hausordnung, Beschränkungen und Rücksichten sind, ist dem Erzieher in seiner Arbeit passiv behilflich, indem es jede Störung vermeidet und Anweisungen befolgt, die dem allgemeinen Wohl dienen. Ein Kind, das bestrebt ist, den guten Willen, Skrupel, Bedenken, Wohlwollen oder Schwäche des Erziehers auszunutzen, tritt von vornherein aktiv und angriffslustig auf. Es ist erstaunlich, wie ein zwölfjähriger Junge, von seiner Familie getrennt, in einer ihm fremden Umgebung, unter fremder Aufsicht, mitten zwischen neuen Altersgenossen weder Hemmungen verspürt noch verlegen ist und schon am ersten Tage Forderungen stellt, sich widersetzt, protestiert, kon­ spiriert, sich seine Spießgesellen aussucht, die Passiven und Energielosen auf seine Seite herüberzieht, sich selbst zum Diktator ernennt und seine demagogischen Losungen verkündet. Du hast keine Zeit zu verlieren, du musst ihn schnell entdecken und in Verhandlungen mit ihm eintreten. Du bist von vornherein ein Feind für ihn, wie jede Macht, die fordert und nicht erlaubt; überzeuge ihn davon, dass du eine andere Macht verkörperst, als sie ihm bisher begegnet ist. 33. Ein Beispiel: In der Eisenbahn mache ich einen Jungen darauf aufmerksam, dass es verboten ist, auf den Bahnsteig hinauszugehen. Er tut es doch und kümmert sich nicht darum,

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dass man ihn ruft. Auf heftige Vorwürfe hin die geringschätzige Antwort: »Was ist denn los, ich war durstig.« Ich frage nach seinem Namen. »Den haben Sie ja aufgeschrieben.« »Ist ja nicht so wichtig.« Schon erntet er neugierige Blicke, hat bereits seine Parteigänger und imponiert nicht wenigen. Manchmal genügt ein »Ist schon gut« und ein Achselzucken, um ihn kennenzulernen. Wenn das am ersten Tage schon so ist, was, meinst du wohl, wird es morgen oder gar in einer Woche geben? Ich sprach noch an demselben Abend mit ihm. Das Gespräch war ernst und sachlich, wie unter Gleichen: Wir vereinbarten die Bedingungen für seinen weiteren Aufenthalt in der Kolonie. In der Stadt verkauft er Zeitungen auf der Straße, spielt Karten, trinkt Schnaps und kennt sich in seinem Bezirk aus. »Willst du hier bleiben?« »Mal sehen.« »Gefällt es dir bei uns?« »Weiß ich noch nicht recht.« »Warum bist du denn hergekommen?« »Eine Dame hat mich dazu überredet.« Er gab mir ihren Namen und, für alle Fälle, eine falsche Adresse an. »Hör mal zu, mein Junge: Ich möchte, dass du den ganzen Monat über hierbleiben kannst und dass es dir hier gefällt. Um eins bitte ich dich aber: Wenn es dir zu langweilig wird, dann sag es mir. Du bekommst dann von mir eine Fahrkarte und fährst nach Warschau zurück. Lauf nicht von dir aus weg, und tu nicht so, als hätte ich dich gegen deinen Willen weggeschickt. Du kannst machen, was du gern möchtest, ich erlaube dir das, nur stör mir die Ordnung nicht und lass die anderen Kinder in Ruhe. Gute Nacht.« Ich gab ihm die Hand. Versuche nicht, ihn als Kind zu behandeln, sonst wird er dir frech ins Gesicht lachen oder dich mit geheuchelter Reue hinters Licht führen und, nachdem er kehrtgemacht hat, etwas Bissiges, etwas gewitzt Aufgeschnapptes sagen, um dich lächerlich zu machen. Alles, nur keine fade Sentimentalität, weil er dich dann missachten, ausnutzen und zum Gespött machen wird. 34. Da war noch ein anderer: Im stimmungsvollen Zwiegespräch, wenn die dumme, untertänige, feige Bande, die er verachtete, ihn nicht anstarrte, schüttete er sein Herz aus, war gerührt und gelobte Besserung. Auf solche Gespräche darf man sich nicht berufen und nicht verlangen, dass dabei gemachte Zusagen eingehalten werden. Als derselbe Junge ein paar Tage später einem anderen, der ihn beim Essen gestoßen hatte, den Essnapf über den Schädel schlug, erinnerte ich taktlos und in scharfer Form an das mir gegebene Versprechen, und er antwortet mit einem hasserfüllten Blick. Ein

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paar Tage später besorgte er sich heimlich seinen eigenen Anzug aus der Packkammer, zog sich im Wald um und ging zum Bahnhof. Meine jungen Kollegen, die Kinder aus den ärmeren Schichten nicht kennen, möchte ich auf eins aufmerksam machen: Unter diesen Kindern gibt es sehr sorgfältig erzogene und gänzlich vernachlässigte. Kinder der einen Art gehen denen der anderen nicht nur aus dem Weg, sondern sie können beide einander auch nicht leiden, und die einen missachten die anderen. Kinder, die aus einem geordneten Leben kommen, fürchten sich geradezu vor den mit ihnen benachbarten Straßenkindern. Ein unaufmerksamer Sozialfürsorger erkennt den riesigen Unterschied zwischen einem anständigen und einem unanständigen Jungen nicht, weil beide arm sind, in der Vorstadt im Arme-Leute-Viertel wohnen und derselben »Sphäre« angehören. Gerade deshalb fürchtet sich der Erste vor dem Zweiten, deswegen ist jener für diesen gefährlich. Niemand hat das Recht, sie zur Kameradschaft zu zwingen. »Wart nur, wenn wir wieder in Warschau sind, dann werd’ ich’s dir heimzahlen!« Diese Drohung hört man oft während der letzten Wochen in der Sommerkolonie vonseiten der aufgezwungenen unglücklichen Kameraden. 35. Ich war Zeuge von verzweifelten Anstrengungen, in Warschau Kinderklubs zu gründen. Ich bekam eine Broschüre mit einem Bericht von ähnlichen Versuchen in Moskau in die Hand. Derselbe Fehler ließ es zu den gleichen Schwierigkeiten kommen. Wenn Schulkinder die Entfernung eines frechen Bengels forderten, sagte die Leiterin eines solchen Klubs vorwurfsvoll: »Mein kleiner Sohn spielt mit ihm, und ihr wollt nicht; das ist aber hässlich von euch.« Ihr Söhnchen konnte das auch unbeschadet tun; ihn wird man nicht verhauen, wenn er abends von der Arbeit nach Hause zurückkommt, niemand wird ihn anschreien: »Du da, mit was für einer gehst denn du«, wenn er am Sonntag mit seiner Cousine zur Kirche geht; keiner wird ihn anhauen: »Borg mir mal einen Zehner für Zigaretten.« Wenn ihr Söhnchen mit Mama und Tantchen spazieren geht und so ein kleiner zerlumpter Kerl kommt auf ihn zu und die Tante fragt entsetzt: »Wie kommt dein Toni zu solchen Bekanntschaften?«, antwortet die Mama im Ton der Überlegenheit: »Das ist sein Vereinskamerad aus dem Settlement.« Und sie wird sich über die gottesfürchtige Rückständigkeit der alten Tante köstlich amüsieren. Aber eine Mutter aus dem Arbeiterstand wird mit Recht gegen eine solche Kameradschaft Bedenken haben und davor warnen.

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Wenn ein ausgewachsener Arbeiter das Recht hat, freundschaftlichen Umgang mit Trinkern und Ganoven abzulehnen, weil ihn das kompromittiert, selbst wenn es weiter nicht bedrohlich für ihn ist – so hat ein Arbeiterkind das Recht, ja die Pflicht, schlechte Gesellschaft zu meiden. Aber wenn so ein Bengel gutes Benehmen nur vortäuscht, um dank einer zufälligen Begegnung in die Gesellschaft Gleichaltriger zu kommen, die ihm sonst verschlossen bliebe? Um diese Bekanntschaft auszunutzen, von ihr zu profitieren? … Kameradschaft zu stiften zwischen Kindern, die hinsichtlich ihres sittlichen Wertes und ihrer Lebenserfahrung gänzlich voneinander verschieden und nur durch die materielle Armut in der gleichen Sphäre gebunden sind – das bedeutet, sie in schlechte Gesellschaft hineinzuziehen und ihre moralische Widerstandskraft leichtfertig auf die Probe zu stellen. 36. Ich drang in sie: »Spielt doch mit denen da.« Ich packte sie bei der Ehre: »Ihr seid dreißig, und er ist doch nur einer. Ihr könnt also alle zusammen einen Einzigen nicht bessern, aber er soll euch alle verderben können?« »Was sollen wir denn machen, damit er sich bessert? Er will nicht mit uns spielen; wenn er mitmacht, dann verdirbt er uns das Spiel.« Nicht ich, sondern die Kinder hatten recht. Sehr viel später erst begriff ich, dass ein Erzieher die volle Verantwortung dafür trägt und ihm die ganze Aufsichtspflicht zukommt, wenn es ihm darum geht, unter seinen durchschnittlich veranlagten Kindern auch ausgesprochen unmoralische zu haben. Das ist eine Last, für die die Kräfte von Kindern nicht ausreichen. Die allem Anschein nach schönsten Grundsätze müssen überprüft werden. Die einsichtigste Wahrheit, die in ihrer praktischen Anwendung schwer zu realisieren ist, sollte gewissenhaft und kritisch untersucht werden. Wir sind weit erfahrener als Kinder, wir wissen sehr vieles, was Kinder nicht wissen, aber was sie denken und fühlen, das wissen sie besser als wir. Wenn ein Kind etwas will, aber nicht weiß, warum, verbirgt es vielleicht die eigentlichen Gründe oder ist sich ihrer nicht sicher. Es ist die Kunst des Erziehers, diese halb bewussten Motive zu erfahren, manchmal nur zu vermuten und oftmals, nach langem Suchen, zu entdecken. »Dahinter steckt doch etwas!« Je öfter ein Erzieher so denkt, desto rascher wird er sich vervollkommnen, desto sicherer wird er hartnäckige Fehler vermeiden, die in falschen Grundsätzen ihren Ursprung haben. 37. Ich habe Kindern die Gesellschaft von unbeholfenen, minderbegabten oder unausstehlichen anderen Kindern aufgezwungen. Das war ein Nonsens.

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Sie spielen zusammen Berek. Der Tolpatsch ist weder flink genug, um davonzulaufen, noch kann er andere fangen. Ist er durchtrieben, so wird er sich absichtlich so verhalten, dass er bald gefangen wird, weil er selbst der Berek sein will. Wenn du Kinder zwingst, mit solchen Duckmäusern zu spielen, werden sie ihnen aus dem Wege gehen und sich keine Mühe geben, sie zu fangen. Welcher Erwachsene würde sich denn wohl mit einem Falschspieler oder einem, der keine Ahnung vom Spielen hat, an den Kartentisch setzen? Du gibst einen Ball heraus, aber unter der Bedingung, dass auch er mitspielen wird. Ist es wohl verwunderlich, dass sie diese harte Bedingung nur sehr ungern akzeptieren? Kann man es ihnen übelnehmen, dass sie unwillig sind? Werden sie ihn nicht verhauen, wenn sie seinetwegen das Spiel verlieren – und wer ist dann schuld daran? Viel Takt ist erforderlich, um diesen Typ von Kindern richtig zu betreuen. Man muss darauf achten, dass sie nicht gekränkt und zurückgesetzt werden, und muss aufpassen, dass auch sie nicht stören. »Auf den muss man immer warten. Er ist ein Spielverderber. Seinetwegen sind Sie wieder böse auf uns, wieder hat er etwas angestellt, etwas weggenommen und uns gedroht.« Während der ersten Saison in der Sommerkolonie kämpfte ich noch für die Unbeholfenen und Zurückgebliebenen, in der zweiten sah ich nicht ohne Rührung zu, wie einer der größten Raufbolde einen ganz stillen Jungen dieser Art unter seine Obhut nahm – von sich aus, aus eigenem gutem Willen. 38. Nichts unterschätzen und gering achten: Die Jungen spielten ein Spiel, das sie Tschupy oder Strulki nennen. Schon die Kinder der Armen im alten Rom kannten es. Der Spieler wirft fünf Steinchen auf den Tisch oder auf den Fußboden. Dann wirft er ein Steinchen in die Luft, und bevor er nun den herabfallenden Stein fängt, muss er flink einen von den vier übrigen vom Tisch nehmen. Es gibt mehrere Schwierigkeitsgrade. Zu diesem Spiel braucht man eine geschickte Hand und fünf Steine oder Tschupy. Sehr oft beklagten sich die Kinder darüber, dass jemand einen oder alle Tschupy stibitzt hatte. Ich war damals gegen alle derartigen Beschwerden. »Hier gibts doch wohl Steinchen genug. Such dir ein paar andere.« Drei Fehler. Zunächst, jeder hat das Recht auf Eigentum, mag der Gegenstand noch so gering und wertlos sein. Dass der Verlust leicht zu ersetzen war, was bewies das? Soll doch der andere, der meine Tschupy genommen hat, sich welche suchen. Der da so flink zugepackt hatte, hatte eindeutig eine Verfehlung begangen, zumindest aber unrecht gehandelt. Er hatte sich fremdes Eigentum angeeignet.

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Als ich selbst begann, Tschupy zu spielen, überzeugte ich mich davon, dass nicht alle kleinen Steine in gleicher Weise geeignet sind. Allzu runde kullern zu weit; wenn man sie auf den Tisch wirft, sind sie zu kantig, dann bleiben sie zu nahe beieinander liegen. Die fünf nach Form und Farbe ausgesuchten Steinchen sind für einen Spieler wie fünf Pferde von einheitlichem Wuchs und gleich getöntem Fell, wie fünf Perlen in einem Halsband, fünf zur Jagd abgerichtete Hunde. Es gibt Zeugen, die gesehen haben, sich erinnern und bestätigen, wem die Tschupy gehören. Die Kinder hatten recht. 39. »Er hat meine Mutter beleidigt.« Nach längerem Zögern: »Er hat mich Hurensohn genannt.« Als Erzieher muss ich wissen, dass mancher Vater in ähnlicher Weise seinen Meister benennt, der ihn in der Fabrik schikaniert hat, oder den Hausbesitzer, wenn der ihm einen Ofen nicht reparieren lassen will. »Ihr wisst doch, was das für ein Zornnickel ist. Früher hat er sich mit allen herumgeschlagen, jetzt schimpft er nur noch, er hat sich also schon gebessert. Das stimmt wohl, den Ausdruck ›Hurensöhne‹ benutzen manche Menschen, wenn sie einander empfindlich beleidigen wollen, dann sprechen sie auch von Schurken, Halunken und Spitzbuben. Meistens geschieht das im Zorn, manchmal denken sie gar nicht so. Denn könnte wirklich jemand meinen, ein Junge sei ein Halunke, nur weil er seinen Ball nicht ausborgen wollte oder weil er beim Klippspiel einem Mitspieler unabsichtlich einen Stoß versetzt hat? Es gibt nun einmal ungestüme und ruhige Menschen …« Ich bemerkte das Erstaunen der Jungen darüber, dass ich ganz laut und deutlich dieses verpönte Wort aussprach; ich hatte es so laut gesagt, weil Flüsterworte wie Gärstoffe wirken, weiterschwären und aufreizen, weil es in der Erziehung nichts Schädlicheres gibt, als den falschen Schein einer geheuchelten Wohlerzogenheit. Wenn es schon Ausdrücke gibt, die auszusprechen du dich fürchtest, wie wirst du dich erst Untaten gegenüber verhalten, die sie begehen können? Ein Erzieher darf sich nicht fürchten, weder vor Worten noch Gedanken oder Taten von Kindern. Wer Erzieher der Armen sein will, sollte daran denken, dass die Medizin zwischen der praxis pauperum und der praxis aurea unterscheidet, er sollte wissen, dass es Lüstlinge von feinster Ausdrucksweise gibt und Tugendhelden mit einem schlimmen Schandmaul. Du musst die Umwelt kennen, aus der deine Schützlinge herkommen … 40. Allzu riskant wäre die Behauptung, dass arme Kinder sittlich höher stehen als Kinder aus wohlhabendem Hause. Es gibt alarmierende Beobachtungen hinsicht-

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lich der einen wie der anderen. Eins scheint mir sicher zu sein: Die Beobachtungen wurden in käfig-engen Stadtwohnungen gemacht, wo Raummangel, das Verbot, laut zu sein und herumzulaufen, Langeweile und dumpfe Trägheit die Kinder dazu zwingen, sich intensive Eindrücke und heftige Erregungen zu verschaffen, die das Ruhebedürfnis ihrer Umgebung nicht stören. Auf Grund von Beobachtungen an Kindern in einer Sommerkolonie behaupte ich ganz entschieden, dass ein normal veranlagtes Kind es immer vorzieht, Ball zu spielen, um die Wette zu laufen, zu baden und auf Bäume zu klettern, als sich heimlich in eine Ecke zu drücken, um schwülen Träumen nachzuhängen. Man kann es Jungen und Mädchen ruhig erlauben, ohne große Beaufsichtigung durch den Wald zu streifen, weil das Sammeln von Beeren und Pilzen sie so in Anspruch nimmt, dass man eher mit Schlägereien um die Beute in Gestalt eines Pilzes und mit einem Raubüberfall seitens der Stärkeren rechnen muss, als mit Zärtlichkeitsbekundungen. Der verschwiegene Winkel eines Hinterhofes in einem Armenviertel und der Raum zwischen den Schränken in der weitläufigen Wohnung eines Spießers bergen Geheimnisse, für die es in Wiese und Feld keinen Platz gibt. Nur haltet die Kinder nicht eurer Bequemlichkeit wegen elf Stunden lang im Bett, denn sie schlafen nicht länger als acht, neun Stunden, besonders im Sommer. 41. Zu meinem Erstaunen konnte ich mich in der Kolonie davon überzeugen, dass Kinder keinen Widerwillen gegen Gebote und Verbote empfinden, die dazu dienen, den Plan einzuhalten und Disziplin und innere Ordnung zu bewahren, und dass sie sich ihnen gerne fügen. Wenn eines ausbricht, gibt es seine Verfehlung offen zu und bereut sie, oder es sagt höchstens: »Ich weiß, aber was soll ich da machen, wo ich dies doch nicht kann.« Es gibt Kinder, die einen verzweifelten Kampf gegen angeborene Veranlagungen zugunsten eben dieser allgemeinen Ordnung führen. Man sollte diesen Kampf nicht durch übermäßige Anforderungen erschweren, sonst verlieren sie den Mut und verwildern. Ein Erzieher muss sich klar darüber sein, welche Gebote und Verbote absolut sind und welche Zugeständnisse zuträglich sind. Absolut verboten ist es, allein im Fluss zu baden, aber auf Bäume zu klettern ist nur bedingt unzulässig. Zum Mittagessen zu spät zu kommen, ist absolut verboten; aber nur relativ unerwünscht ist es, sich beim Antreten zum Spazierengehen zu verspäten: Die Verspäteten werden uns einholen, wenn wir bereits ein Werst hinter uns gebracht haben. Ein lebhaftes Kind will nämlich nicht gern auf der Stelle stehen und warten, bis sich alle versammelt haben. Die Sonderfälle unter den Kindern, die mit Billigung der Allgemeinheit Sonder-

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gesetzen unterliegen, stellen die schwierigste und dankbarste Aufgabe für einen Erzieher dar. Wenn von einhundertfünfzig ein Junge so gut schwimmen kann, dass ihm keine Gefahr droht – er wohnt an der Weichsel, verbringt den halben Tag im Wasser und schwimmt ohne Mühe über den Fluss –, und wenn es die anderen Kinder zulassen, kannst du ihm sogar erlauben, allein baden zu gehen. Du musst eben den Mut aufbringen, ein bisschen Angst um sein Leben auf dich zu nehmen. 42. Ein sozialer Instinkt ist Kindern eigentümlich. Sie mögen eine bestimmte Einwirkung zunächst misstrauisch aufnehmen, weil sie sich nicht auf die Erwachsenen verlassen und weil sie nicht begriffen haben, worum es geht, aber bald werden sie mitmachen, wenn sie selbst einbezogen werden. Was soll man tun, damit die Kinder kein Brot im Wald herumwerfen, damit sie nicht zu spät zum Mittag kommen, damit es keine Schlägereien und kein Fluchen gibt? Selbst wenn Beratungen das fragliche Übel nicht beheben, so heben sie doch das moralische Niveau der Kindergemeinschaft und festigen das Gefühl der solidarischen Verantwortung und der sozialen Verpflichtung. Schreibt einmal auf, wie viel Kinder vor einer solchen Beratung zu spät gekommen sind und wie viel Schlägereien an einem Tag notiert wurden. Nach der Beratung wieder Notizen zum gleichen Sachverhalt; in ein Koordinatensystem übertragen – du wirst dich davon überzeugen, dass diese Vorfälle seltener geworden sind. Dann steigt ihre Anzahl wieder – eine weitere Beratung muss folgen. 13 12 11 10 8 7 6 5

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Am 5. Juli unter dreißig Kindern zwölf Schlägereien; eine Versammlung, um dem zu steuern; am Tag darauf nur drei Schlä­gereien; dann wieder acht, zehn und sechs Zusammenstöße. Die zweite Versammlung im Wald, Thema ›Verträglichkeit‹. Am nächsten Tag nur zwei Schlägereien. Und erneut sieben, fünf, drei Prügeleien. Eine Beratung unter der Losung »Einen Tag ohne Keilerei«. Als Resultat dieser gemeinsamen Bemühung am nächsten Tag nur eine Schlägerei. Die schönste Rede kann nur der Aufgabe dienen, Eifer und Initiative zu wecken, aber niemals dazu, etwas zu fixieren. Die einen legen dem Wort ein allzu großes Gewicht bei, erwarten allzu viel, die anderen achten es gering, weil sie enttäuscht worden sind. Die einen wie die anderen irren sich. Mit Worten wirst du nichts ausrichten können, aber ohne das Wort kannst du es nicht schaffen. Das Wort ist ein Bundesgenosse, kein Stellvertreter. Nur einen solchen Effekt darfst du erwarten. 43. Eine Sitzung zur Frage der mangelhaften Ordnung und Sauberkeit in den Aborten. »Wenn ein Feuer ausbricht oder eine Überschwemmung eintritt, eilen die Besten zur Hilfe unter Gefährdung des eigenen Lebens. Wenn es gilt, etwas Schwieriges oder Unangenehmes zu erledigen, so treten immer die Besten vor. Wir haben eine vertrackte und peinliche Arbeit zu verrichten und wenden uns an unsere Besten … Also wer übernimmt freiwillig die Aufsicht, jeder für einen halben Tag?« Es versteht sich von selbst, dass sich viele melden. Aber das ist erst der Anfang. Für die ersten beiden Tage wirst du energische, leicht zu gewinnende, aber weniger stetige Helfer auswählen: Denn die Aufsicht wird in den ersten paar Tagen am schwierigsten sein; aber da die Sache neu ist, werden sie mit umso größeren Eifer herangehen. Sag mir doch, warum gerade diese als Erste in Frage kommen? Das Angebot eines zänkischen Jungen wirst du nicht annehmen, weil du Streitereien befürchtest, weil die anderen ihn nicht mögen und ihm zum Trotz das tun werden, was verboten ist. Du weist auch einen gewalttätigen Jungen ab: »Weil du gleich zuschlägst; es ist besser, wenn du die Finger davon lässt.« Die Gesetzteren wirst du für die darauffolgenden Tage bestimmen: Du vertraust darauf, dass sie in ihrem Eifer nicht erlahmen. Einen Stillen merkst du für noch später vor: »Dann wird es schon leich­ter sein, morgen würdest du dir noch nicht zu helfen wissen.« Du machst von vornherein darauf aufmerksam, dass schon jemand kommen wird, der ihn einen »Scheißkerl«, einen »Abort-Wächter« nennen wird. Seid dann nicht beleidigt, das ist ein Dummkopf! Du rätst, was der Aufsichtsführende tun soll, wenn ein kleiner Tolpatsch das Klosett ohne Absicht verunreinigt, und wie er sich

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verhalten muss, wenn es absichtlich, zum Trotz geschieht; und was geschehen muss, wenn er den Schuldigen nicht entdeckt. Du musst ihn mit Besen und Aufwischlappen ausrüsten und im Laufe des Tages, während des größten Andrangs, frühmorgens oder nach dem Mittagessen, hingehen und ihn selbst eine Viertelstunde beaufsichtigen und im Zweifelsfall auch selbst einmal den Wischlappen in die Hand nehmen und aufwischen. Vergeblich dein ärgerlicher Ausruf: »Wie oft soll man das noch sagen.« Das nützt nichts und wird niemals etwas nützen. Warum also davon reden? Einige Kinder nämlich begreifen durchaus die Verpflichtung eines freiwillig gegebenen Versprechens, und einem unzuverlässigen sage ich: »Warum hast du es versprochen?« Das ist ein ernsthaftes Argument; denn ein Kind kennt den Zynismus von Erwachsenen nicht, die auf eine solche Frage antworten: »Aber muss man denn Verpflichtungen auch einhalten?« 44. Die Mithilfe der Kinder ist für einen Erzieher unentbehrlich – freilich unter der Voraussetzung einer beständigen Kontrolle und eines häufigen Wechsels. Nur so lässt es sich vermeiden, dass sich die jungen Mitarbeiter wichtigmachen. Macht verdirbt den Charakter! Geduldig und behutsam muss man es ihnen klarmachen, dass ein solcher Aufsichtsdienst keinerlei Privilegien verleiht, sondern ein Ehrendienst ist. Die Jungen, die bei Tisch beim Aufgeben halfen, wechselte ich täglich aus, weil sich der Brauch herausgebildet hatte, dass sie größere Portionen bekamen. Das war für die Hausmutter beschwerlicher, aber ich hielt es für notwendig. Es gab Aufsichthabende für das Bettenmachen, einen für jede Reihe, für die Ausgabe der Händewasch-Schüsseln, für das Einsammeln der Spielsachen, einen, der dafür sorgte, dass die Handtücher gleichmäßig an den Bettlehnen aufgehängt wurden. Eine Aufsicht, deren Aufgabe es war, zerschlagenes Glas aufzusammeln, damit sich die Kinder beim Herumlaufen nicht die Füße verletzten. Bei kleinen Tätigkeiten lernt man Kinder besser kennen als beim Schulunterricht. Bei diesen kommen Fähigkeiten, Vorbereitungen des Schülers und der Zufall ins Spiel. Bei jenen aber nimmt man sofort das impulsive, in seinen Neigungen jedoch unstete Kind wahr, das ehrgeizige, aggressive, gewissenhafte oder unredliche. 45. Wenn man während der ersten Tage aufmerksam beobachtet, wie die Kinder einander kennenlernen, kann man sich unschwer davon überzeugen, dass die guten Kräfte Hilfe und Unterstützung erfordern, aber vor allem eine wachsame und zurückhaltende Abschirmung gegen die wenigen, für die dein System unbequem ist.

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Wenn es Pflicht des Staates ist, die Gesellschaft gegen Gewalttaten und Anmaßung schädlicher Elemente zu schützen, so ist es Pflicht des Erziehers, Kinder vor Faustschlägen, Drohungen und Beleidigungen zu bewahren, ihr Eigentum gegen Aneignungsversuche zu sichern (ob das nun ein Steinchen oder ein Hölzchen ist), und ihre organisierte Gemeinschaft zu schützen (ihr Ballspiel oder das Burgenbauen im Sand). Hat man einmal diese große Arbeit geleistet, dann genügt eine leichte Hand, um Abweichungen und Ablenkungen zu verhindern. Die dank der Mithilfe der Kinder eingesparte Zeit und einen großen Teil der erforderlichen pädagogischen Bemühungen können wir den Ausnahmefällen zukommen lassen, mit denen wir uns einzeln und individuell beschäftigen wollen; denn dies ist notwendig, weil sie besonders wertvoll oder gefährlich sind oder sich ganz einfach nur nicht in die Durchschnittsnorm fügen. Wir haben nicht nur Ausnahmefälle unter den Kindern, sondern auch Ausnahmesituationen, die viel Zeit in Anspruch nehmen. Ein Kind ist plötzlich erkrankt, die Dämmerung bricht herein, und vier Kinder sind noch nicht aus dem Wald zurückgekehrt, es wird Klage darüber geführt, dass man einen Bettler mit Steinen oder mit Kien­äpfeln beworfen hat, dass ein Diebstahl vorgekommen ist. Je größer die Zahl, desto mehr Ausnahmesituationen und Sonderfälle unter den Kindern. Hier nutzt es nichts, sich darüber zu ärgern: Das muss so sein. Die gesamte Ratio der organisierten Gemeinschaft beruht darauf, dass trotzdem alles seinen Gang geht, dass die kleinen Dinge sich von selbst erledigen, dass du immer sagen kannst: »Tu das mal selbst, ich bin beschäftigt …« 46. Selbstsicherheit und verständige Voraussicht sind heiter und voller Nachsicht; mangelnde Erfahrung ist unfreundlich und unausgeglichen. Auf dreißig, vierzig Kinder muss es ein unnormales oder unmoralisches geben, ein sehr vernachlässigtes, ein boshaftes und asoziales, unverträgliches und ungeliebtes, ein gewalttätiges, von wild wuchernder ungewöhnlicher Individualität, ein tolpatschiges oder schwächliches. Das muss so sein! Du organisierst einen Ausflug: Es muss ein schwaches dabei sein, eines, das beleidigt ist, eines, das ungern mitgeht, gerade weil alle andern sich munter auf den Weg machen: »Er ist doch wichtig, dieser Ausflug!« Eines wird seine Mütze suchen, das andere sich gereizt herumprügeln, das Dritte im letzten Augenblick auf den Abort rennen, und vom Vierten weiß man nicht, wo es geblieben ist. Unterwegs tut dem einen der Kopf weh, oder die Füße schmerzen, ein Junge hat sich verletzt, ein anderer fühlt sich beleidigt, einer wird unbedingt trinken wollen.

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Du erzählst ein Märchen, schon muss dich eins unbedingt unterbrechen: »Ach bitte, was ist das für eine Raupe?« Ein Zweiter: »Der bohrt sich mit einem Strohhalm im Ohr!« Ein Dritter: »O, da kommen Schafe!« Jugendliche Verdrießlichkeit sagt drohend: »Wenn mich noch einmal jemand unterbricht …« Erfahrene Nachsicht wartet mit einem Lächeln ab. Ist sich denn ein Erzieher, der sich über eine Ausnahmesituation ärgert, darüber klar, dass ohne sie seine Arbeit leblos, eintönig und langweilig wäre; dass Ausnahmekinder uns das reichhaltigste Material für Überlegungen und Erwägungen bieten, dass sie uns lehren, besser zu werden und weiter zu forschen? Wenn sie nicht wären, wie leicht würden wir der Illusion verfallen, dass wir das Ideal erreicht haben. Aber wer ist so unverständig, nicht zu wissen, dass über dem relativ Guten immer das erreichbare Bessere existiert? 47. Eine geringfügige, aber nicht wertlose Bemerkung. Wenn du als Erzieher arbeitsamer, gewissenhafter und befähigter bist als deine Kollegen, dann beurteile sie nachsichtig. Lasse sie ihre Inferiorität nicht spüren. Wenn du den Kindern um ihrer selbst willen Gutes wünschst, so musst du alle Zusammenstöße mit deinen Kollegen vermeiden. Ich war der Eifrigste von allen Erziehern in der Kolonie, das konnte gar nicht anders sein. Ich sehnte mich nach der Arbeit mit den Kindern, während sie ihrer überdrüssig waren. Zufrieden fügte ich mich in die einfachen Bedingungen des Landlebens, während sie weder an den prallgefüllten Strohsäcken noch an der dicken Milch irgendetwas reizvoll fanden. Als einmal einem Jungen etwas Peinliches passierte und sich deshalb ein Streit mit der Waschfrau ergab, wusch ich unter der Pumpe das verschmutzte Hemd und das Laken. Und ich sah die Verwirrung der Waschfrau, die Verlegenheit der Hausmutter und das Erstaunen meiner Kollegen, womit ich von vornherein gerechnet hatte. Wenn das ein anderer gemacht hätte, vielleicht hätte er verächtlich zu hören bekommen: »Sehr gut. Soll er doch mal sehen, wie das tut. Schließlich ist das ja einer von seinen Bengeln.« Man sollte sich vor schönen Gesten hüten, die nur auf den Effekt berechnet sind. Wenn sich in scheinbar sehr anerkennenswerten Taten Falschheit verbirgt, wirken sie aufreizender als Worte. Indessen sollte man weder den Eifer noch kleine, im Laufe der ersten Tage oder Wochen auf einem neuen Tätigkeitsfeld eingeführte

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Verbesserungen jemals jemandem als Verdienst anrechnen. Im Gegenteil – wäre es nicht so, wie sehr würde das gegen den neuen Mitarbeiter sprechen: Gerade er sollte der Eifrigste sein und die Mängel wahrnehmen, die ein ermüdetes und daran gewöhntes Auge nicht mehr bemerkt. 48. Einleitend habe ich es gesagt, und ich wiederhole es noch einmal und mit allem Nachdruck: Ein Erzieher muss auch Krankenpfleger sein, und er darf diese Verpflichtung weder gering achten noch sich ihr entziehen: Ein Kind, das sich nachts nass gemacht hat, ein Kind, das sich erbricht, dem Eiter aus den Ohren fließt, ein Kind, das sich vollgemacht hat, dessen Körper mit Ausschlagpusteln und dessen Kopf mit Grind bedeckt ist – er muss es auf den Topf setzen, waschen und verbinden. Und er muss dies alles ohne jedes Anzeichen von Ekel tun. Wie er das erreicht, ist seine Sache; er muss sich darin üben: Im Kran­kenhaus, in Abteilungen für Krebskranke, auf Säuglingsstationen – aber er muss sich gegen den Ekel unempfindlich machen. Ein Erzieher für die Kinder der Armen muss sich außerdem an physische Unsauberkeit gewöhnen. Pediculosa28 ist eine endemische Krankheit der armen Kinder in der ganzen Welt, und der Erzieher wird von Zeit zu Zeit eine Laus in seiner Kleidung finden. Über diese Krankheit darf er weder entrüstet noch von Ekel geschüttelt sprechen, denn Eltern und Geschwister der Kinder verhalten sich dieser Krankheitserscheinung gegenüber ruhig und sachlich, und so muss er denn auch ebenso ruhig und sachlich auf die Sauberkeit der Kinder achten. Ein Erzieher, dem schmutzige Kinderfüße Übelkeit verursachen, der keine unangenehmen Gerüche ertragen kann und der für den ganzen Tag seine Seelenruhe verliert, weil er, wie schrecklich, eine Laus auf seinem Mantel gefunden hat, sollte möglichst seinen Beruf wechseln; er sollte in ein Ladengeschäft oder in ein Büro eintreten oder gehen, wohin er will, aber er sollte seine Arbeit in der Volksschule, im Internat aufgeben: Denn es gibt keine erniedrigendere Rolle im Leben, als sein Brot mit Widerwillen zu verdienen. »Ich hasse den Schmutz, aber ich bin ein guter Erzieher«, sagst du und zuckst die Achseln. Du lügst: Im Munde, in deinen Lungen und im Blut ist Luft, die die Kinder mit ihrem Gestank erfüllt haben. Von einer der Todsünden, die ein Erzieher begehen kann, hat mich meine Tätigkeit als Arzt zum Glück ein für allemal befreit. Ich kenne kein »Pfui«. Vielleicht lieben meine Schutzbefohlenen gerade deshalb die Sauberkeit.

28 Läusekrankheit.

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49. Der geniale französische Insektenforscher Fabre29 rühmte sich, er habe seine epochemachenden Beobachtungen an Insekten gemacht, ohne ein Einziges zu töten. Er erforschte ihren Flug, ihre Gewohnheiten, Sorgen und Freuden. Er sah ihnen aufmerksam zu, wie sie sich in den Strahlen der Sonne vergnügten, wie sie miteinander kämpften und dabei umkamen, Nahrung suchten, Unterkünfte bauten und Vorräte anlegten. Es war ihm nie zu viel, mit klugem Blick verfolgte er die mächtigen Naturgesetze in ihren kaum wahrnehmbaren Vibrationen. Er war Volksschullehrer. Er forschte mit bloßem Auge. Erzieher, sei du ein Fabre der Kinderwelt!

29 Jean Henri Fabre (1823–1915), bedeutender französischer Entomologe; Hauptwerk: Erinnerungen (1879/89).

Das Waisenhaus

Die Kunst, ein Internat zu führen, ist in ihren kleinen, aber entscheidenden Einzelheiten von dem Gebäude abhängig, in dem es untergebracht ist, und von dem Gelände, auf dem es erbaut wurde. Wie viel bittere Vorwürfe werden den Kindern und dem Personal wegen der Fehler des Baumeisters gemacht, wie viel überflüssige Anstrengung, Arbeit und Plage ergeben sich aus Unzulänglichkeiten im Bauplan. Wenn ein Umbau überhaupt noch möglich ist – wie viel Mühe kostet es, dies herauszufinden und die betreffenden Stellen von dessen Notwendigkeit zu überzeugen. Es gibt Fehler, die nicht mehr gutzumachen sind. Das Waisenhaus wurde im Zeichen des Misstrauens gegenüber Kindern und Personal erbaut. Alles, aber auch alles sehen und allem vorbeugen. Der riesige Speisesaal – das ist ein offener Platz, ein Marktplatz. Eine wachsame Person kann alles überblicken. Ebenso die großen kasernenmäßigen Schlafräume. Ein solches Gebäude hat sicherlich große Vorzüge, es ermöglicht das rasche Kennenlernen eines Kindes; geeignet als Unterkunft für Sommerkolonien und als Zentrale, von der aus die Kinder in andere und anders gebaute Internate hinüberwechseln, strapaziert es seine Bewohner dadurch, dass es hier keinen »ruhigen Winkel« gibt. Lärm, Getümmel, gegenseitiges Drängeln – die Kinder beklagen sich, und zwar mit Recht. Wenn man das Gebäude später einmal aufstocken könnte, so würde ich mich für eine Hotelbauweise aussprechen: ein Korridor und zu beiden Seiten kleine Zimmer … Außer dem Isolationsraum für kranke Kinder bedarf es eines Platzes für Kinder mit kleineren Beschwerden. Da hat sich eines den Fuß gequetscht, einem anderen tut der Kopf weh, es hat nachts nicht geschlafen, ein drittes ist zornig erregt – dafür sollte ein stiller Winkel vorhanden sein, wo es allein oder mit einem Kameraden eine gewisse Zeit verbringen kann. So ein Einzelnes, das verwirrt ist und zwischen den anderen heiteren Kindern herumgestoßen wird, ein in Trauer versunkenes, vereinsamtes Kind erregt Mitleid und ist manchmal für seine Umgebung ein Ärgernis … Das Nachtklosett und das Pissoir müssen mit einem großen Schlafsaal ein bauliches Ganzes bilden, wenn sie sich nicht sogar im Schlafsaal selbst befinden soll-

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ten. Ihre Abtrennung durch Vorräume und Korridore ist sinnlos. Je versteckter ein Klosett angelegt ist, umso unsauberer wird es sein … Die stille Wohnung des Anstaltsdirektors, von den Unterkünften der Kinder abgetrennt, schaltet ihn aus seiner wirklichen erzieherischen Wirksamkeit aus. Er ist wohl in der Lage, die Kanzlei und die Buchhaltung zu kontrollieren, die Institution zu repräsentieren und mit den Behörden zu korrespondieren; aber er wird ein Fremder sein, ein Gast, und nicht der Hausherr des Internates. Ein Internat nämlich, das sind die »vielen kleinen Einzelheiten«, die man nicht vergessen darf. Der Baumeister ist dazu verpflichtet, den Leiter der Anstalt so unterzubringen, dass er Erzieher sein muss, und dass er ein Kind nicht nur dann sieht und hört, wenn es in sein Büro gerufen wird und erscheint. Ich habe irgendwo einmal den Satz gefunden, dass Philanthropie zwei wichtige Aufgaben erfüllt, auch wenn sie keine sozialen Übelstände beseitigt und keines der dringenden Bedürfnisse befriedigt: Sie findet Missstände heraus, die der Staat noch nicht wahrgenommen oder unterschätzt hat. Sie prüft, setzt den Anfang, und wenn sie bemerkt, dass sie machtlos ist, fordert sie Unterstützung, schließlich bürdet sie diese Verpflichtung der Gemeinde oder dem Staat auf, die in vollem Umfang Hilfe bringen können. Die zweite Aufgabe besteht darin, Neuerungen einzuführen, neue Wege für die Vorhaben zu entdecken, die der Staat schematisch, routiniert und auf billige Weise erledigt. Neben der staatlichen gibt es überall auch eine private Waisenfürsorge, die besser zu sein pflegt: Die Gebäude sind ansehnlicher, die Verpflegung ist reichlicher, der Haushaltsplan hat mehr Spielraum, und prinzipielle Richtungsfragen werden elastischer behandelt. Hier können jedoch an die Stelle der Tyrannei eines bürokratischen Reglements unberechenbare und gefährliche Launen eines großmächtigen Wohltäters treten. Wenn wir uns einmal Rechenschaft darüber ablegen, dass oftmals die gesamte Initiative und alle Bemühungen der leitenden Kräfte darauf zurückzuführen sind, die Geschmacksrichtungen unerfahrener Gönner zu befriedigen, die weder die Schwierigkeiten noch die Geheimnisse einer kollektiven Kindererziehung kennen, dann werden wir verstehen, warum sich zu der Arbeit in Wohltätigkeitseinrichtungen nur wenige wertvolle Menschen bereitfinden, Ausschuss und Versager sich jedoch geradezu danach drängen. Wenn die großmächtigen Protektoren wüssten, wie schädlich ein ungeeigneter Mitarbeiter für eine solche Einrichtung ist, so würden sie vielleicht ein für allemal darauf verzichten, ihr Personen aufzudrängen oder auch nur zu empfehlen, die zwar nicht geeignet sind, es aber »verdient haben, unterstützt zu werden«. Das

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System der Protektion ist ein Frevel, ein Vergehen. Auch über die Protegés unter den Kindern ein paar Worte: »Dies Kind muss aufgenommen werden. Es handelt sich um einen Sonderfall.« Ein unzutreffend beurteiltes Kind wird selbst keinen Gewinn davon haben, da es allen Beteiligten Schwierigkeiten macht. Jeder Druck, ganz zu schweigen von einem Machtwort, das den Erzieher dazu zwingt, gegen seine Überzeugung ein Kind aufzunehmen, ist unzulässig. Ein Erzieher muss das Recht haben, zu sagen: »Dieses Kind ist nicht geeignet.« Wir müssen ihm vertrauen. Ein Erzieher muss viele Befugnisse haben, denn die Arbeit im Internat ist schwierig. In Erziehungsfragen gibt seine Stimme den Ausschlag. Ein Erzieher sollte monatlich eine bestimmte Summe zur Verfügung haben: Denn es gibt Gegenstände, die überflüssig zu sein scheinen, es gibt kostspielige Ausgaben, die man scheinbar auf später verschieben kann, die aber für den Erzieher notwendig und unaufschiebbar sind. Ein wichtiger Punkt: Wenn ein Internat mehrere Gönner hat, sollte ein Buch aufliegen, in das sie ihre Bemerkungen, Wünsche und Fragen eintragen. Diese werden dann nicht mehr so zahlreich sein und überlegter formuliert werden. So ist es möglich, einander widersprechende Anordnungen zu vermeiden. Einige Bemerkungen über ehrenamtliche Mitarbeiter. Sie sind von großem Nutzen, und sie gestatten einer Institution den Aufwand einer zusätzlichen Betreuung, für die das von aufreibender Alltagsarbeit ganz in Anspruch genommene Personal weder Zeit noch Fantasie aufzubringen vermag. Da kommt jemand, um ein Märchen zu erzählen, ein anderer holt eine Gruppe zum Spazierengehen ab, ein Weiterer erteilt einigen Kindern zusätzlichen Unterricht. Aber er sollte durch seine Anwesenheit das Personal nicht belasten, sich sehr genau an die Hausordnung halten, sich selbst zu helfen wissen, keine unnötigen Fragen stellen und nichts verlangen. Das Baujahr des Waisenhauses war ein sehr bemerkenswertes Jahr. Niemals habe ich das Gebet der Arbeit und die Schönheit einer sachlichen Tätigkeit besser verstanden. Was heute noch als kleines Viereck auf dem Bauplan zu sehen war, nahm morgen die Gestalt eines Saales, eines Zimmers, eines Korridors an. Gewohnt an Auseinandersetzungen über Ansichten, Grundsätze und Überzeugungen sah ich hier mit eigenen Augen, wie ein Bauwerk entstand. Jede leichthin getroffene Entscheidung war eine Anweisung für den Handwerker, der sie auf Dauer verwirklichte. Jede Idee muss genau erwogen, auf die entstehenden Kosten hin berechnet und auf ihre Möglichkeit und Zweckmäßigkeit überdacht werden. Mir will scheinen, dass ein Erzieher für seinen Beruf nicht vollwertig ausgebildet ist, wenn er nicht weiß, dass man aus Holz, Blech, Pappe, Stroh und Draht eine Vielzahl von

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Gegenständen herstellen kann, die einem die Arbeit erleichtern und vereinfachen, wertvolle Zeit und manche Überlegung sparen. Ein kleines Regal, eine Platte, ein Nagel, an der richtigen Stelle angebracht, werden gravierende Fragen lösen können … Das Haus hätte im Juli fertig sein sollen, es war im Oktober noch nicht vollendet. Und dann kamen an einem dämmrigen, regnerischen Nachmittag mit großem Tumult, erkältet, erregt, müde, mit Stöcken und Knüppeln bewaffnet, die Kinder aus ihrer ländlichen Umgebung in das noch von Handwerkern angefüllte Gebäude. Sie bekamen ihre Abendessen und wurden schlafen gelegt. Ihr früheres Asyl war in einem ungeeigneten Mietshaus untergebracht gewesen, mit einer Möbelausstattung, die der Zufall zusammengebracht haben mochte. Ihre Bekleidung war ganz abgerissen, und ihre Betreuung durch eine törichte Wirtschafterin und eine gewitzte Köchin ebenso unzulänglich. Ich rechnete damit, dass die Kinder in der neuen Unterkunft, unter den neuen Lebensbedingungen und einer verständnisvollen Betreuung sofort auch die neuen Regeln ihres Zusammenlebens annehmen würden. Aber sie sagten mir den Kampf an, noch bevor ich mir über die Situation klarwerden konnte. Ich hatte geglaubt, meine Erfahrungen aus den Sommerkolonien würden mich vor Überraschungen schützen. Ich hatte mich geirrt. Zum zweiten Male begegneten mir Kinder als eine bedrohliche Horde, der ich machtlos gegenüberstand, und zum zweiten Mal ergaben sich aus schmerzlichen Erfahrungen allmählich handfeste und einleuchtende Wahrheiten. Meinen Forderungen begegneten die Kinder mit bedingungslosem Widerstand, den man mit Worten nicht zu brechen vermochte, und Zwang konnte ihre Abneigung nur noch verstärken. Das neue Haus, von dem sie ein ganzes Jahr lang geträumt hatten, wurde ihnen verhasst. Viel später erst begriff ich die Empfindung der Kinder für ihr früheres Leben. In der mangelnden Ordnung, in dem zigeunerhaften Elend ihrer Lebensbedingungen und bei der Dürftigkeit der vorhandenen Mittel war ein Betätigungsfeld für ihre freie Initiative vorhanden gewesen: Es hatte den Aufschwung von einzelnen Anstrengungen, allerdings nur für kurze Dauer, gegeben, die Fantasie eines überschäumenden Mutwillens, die Bravour eines Kraftaktes, die Notwendigkeit kameradschaftlichen Verhaltens und die Sorglosigkeit im Blick auf den morgigen Tag. Dank der Autorität einiger weniger hatte es hin und wieder Ordnung für kurze Zeit gegeben. Hier nun sollte eine dauerhafte Ordnung kraft einer unpersönlichen Notwendigkeit herrschen. Deshalb also waren die Kinder, auf deren Mithilfe ich am meisten gerechnet hatte, erlahmt und hatten versagt. Mir will scheinen, dass ein Erzieher, der gezwungen ist, in ungeordneten Verhältnissen und unter ärmlichen Bedingungen arbeiten zu müssen, sich nicht allzu sehr nach Ordnung und Komfort sehnen sollte – denn darin sind große Schwierigkeiten und beträchtliche Gefahren verborgen.

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Worin äußerte sich der Widerstand der Kinder? In Kleinigkeiten, die nur ein Erzieher begreifen kann. Sie sind geringfügig, nicht zu fassen, aber umso lästiger, weil sie so zahlreich auftreten. Du sagst an, dass es verboten sei, Brot vom Tisch mitzunehmen, ein Kind fragt, warum das so sein solle, einige verstecken Brot, eines steht demonstrativ auf: »Ich hab nicht aufessen können.« – Unter Kopfkissen und Strohsäcken darf nichts aufbewahrt werden: »Aber aus der Schachtel verschwindet es.« – Du findest unter einem Kopfkissen ein Buch – der Junge hat gedacht, »ein Buch ist erlaubt«. – Einer schließt sich im Waschraum ein: »Mach schnell.« Die Antwort: »Ich komme gleich.« – Warum hängt es sein Handtuch nicht ordentlich auf? »Ich musste mich doch so beeilen.« – Ein Kind ist beleidigt, drei andere machen es ihm nach. – Beim Mittagessen verbreitet sich das Gerücht, in der Suppe seien Maden – und schon herrscht Einverständnis: Sie wollen keine Suppe essen. Du bemerkst ein paar offenkundige Anführer bei all den Widersetzlichkeiten und ahnst das Vorhandensein mehrerer heimlicher Meuterer. Du siehst, wie alles das hinterhältig verdorben wird, was du schon für gefestigt gehalten hast, du stößt auf unvorhergesehene Schwierigkeiten bei jedem Beginnen. Schließlich weißt du nicht mehr, was eine Zufallserscheinung oder ein Missverständnis ist und was als Symptom eines bewusst bösen Willens angesehen werden muss. Ein Schlüssel ist verschwunden, kurz darauf findet er sich wieder, und du bekommst die ironische Bemerkung zu hören: »Sie haben sicherlich gedacht, dass ich ihn versteckt habe?« So ist es, du hast es dir gedacht … Auf die Frage: »Wer hat das gemacht?« – erhältst du die stets gleichbleibende Antwort: »Das wissen wir nicht.« – Wer hat etwas vergossen, zerschlagen, zerbrochen? Du erklärst, das sei ja nicht weiter schlimm, du bittest, einer von ihnen sollte es doch zugeben. Schweigen – aber nicht aus Furcht, sondern aus dem Schweigen der Verschwörung. Es kam vor, dass mir die Stimme versagte, wenn ich zu ihnen sprach, dass mir in meiner Ratlosigkeit die Tränen kamen. Solche schweren Stunden muss jeder junge Erzieher, jeder neue Erzieher durchmachen. Er sollte sich dann nicht abschrecken lassen und vorschnell sagen: »Ich kann nicht.« Nur dem Anschein nach haben Worte keine Wirkung; fast unbemerkt aber regt sich das gemeinschaftliche Gewissen, und von Tag zu Tag wird die Zahl derer größer, die den guten Willen des Erziehers und die verständigere Richtung bejahen; das Lager der Anhänger des »neuen Kurses« wird stärker. Rückblick. Einer unserer größten Lümmel hatte beim Aufräumen ein recht teures Fayence-Pissoir zerschlagen. Ich wurde nicht böse. Ein paar Tage später zerschlug derselbe Junge eine Flasche mit fünf Litern Lebertran. Auch diesmal machte ich ihm nur einen gelinden Vorwurf.

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Es half. Er wurde mein Bundesgenosse … Wie einfach ist es, eine bestimmte Richtung einzuhalten, wenn der Erzieher die Schar beherrscht, zu welcher Hölle kann die Arbeit werden, wenn sich der Erzieher ohnmächtig herumschindet, und die kleine Bande weiß das, spürt es und zettelt gehässig Verschwörungen an. So sehr bedroht sie ihn, dass er der eigenen Sicherheit wegen ein System brutalster Gewalt einführt. Die fünfzig Kinder, die man aus ihrem früheren Asyl in das Waisenhaus überführt hatte, wussten jedenfalls recht genau, wer von ihnen durch gemeinsame Erlebnisse und Hoffnungen mit uns verbunden war, wer sich zu Frau Stefania, einer Erzieherin des Waisenhauses, hingezogen fühlte und welche Kinder sich der Organisation widersetzten, aber doch fähig waren, mitzutun. In kurzer Zeit wurden weitere fünfzig Kinder aufgenommen, es gab also neue Schwierigkeiten. In unserem Hause wurde eine Schule für externe Kinder eingerichtet, was mir zu der Feststellung Anlass gab, welch ein Abgrund den Lehrer-Aristokraten von dem ArmeLeute-Erzieher der Kinder trennt. Das Aufbaujahr endete mit einem Triumph für uns. Eine Hausmutter, eine Erzieherin, Hausmeister und Köchin für hundert Kinder. Wir hatten uns von einem x-beliebigen Personal und seiner Tyrannei unabhängig gemacht. Hausherr, Mitarbeiter und Leiter des Hauses wurde das Kind. Alles, was im weiteren Verlauf beschrieben wird, ist ein Werk der Kinder, nicht das unsrige. Die Tafel An einer sichtbaren Stelle, nicht allzu hoch, hängt eine Wandtafel, an der du mit Reiß­ zwecken alle Anordnungen, Mitteilungen und Bekanntmachungen befestigst. Ohne Tafel ist das Leben eine Qual; du hast laut und deutlich gesagt: »Die Kinder a, b, c, d gehen, nehmen, tun das und das.« Sofort kommen e, f, g. »Ich auch? – Und ich? – Und er?« Du wiederholst es, aber es nützt nichts. »Und ich bitte?« Du sagst: »Geht nur, geht; ihr werdet schon sehen …« Wieder Fragen, Lärm, Tumult. »Wann, wohin, wozu?« Die vielen Fragen, Forderungen und das Drängeln sind quälend und machen einen ungeduldig. Aber es konnte nicht anders sein; denn nicht alle Kinder hatten zugehört, nicht alle hatten begriffen, nicht alle sind sicher, dass sie genau wissen, worum es geht, und schließlich konnte ja auch der Erzieher in dem Durcheinander etwas übersehen. Im Wirrwarr der Alltagsereignisse muss ein Erzieher plötzlich nicht genau durchdachte, nicht überarbeitete und daher fehlerhafte Anordnungen treffen und schnell

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entscheiden. Also kommt, je nach seiner Veranlagung und Geistesgegenwart, im letzten Augenblick immer etwas Unvorhergesehenes heraus. Die Tafel zwingt ihn anfangs dazu – und später wird es zur Gewohnheit –, den Plan jeden Vorhabens zeitgerecht zu bedenken. Erzieher verstehen es meistens nicht, sich mit den Kindern durch das geschriebene Wort zu verständigen. Das ist ein großer Fehler. Sogar dort, wo die meisten Kinder nicht lesen können, würde ich eine Mitteilungstafel aufhängen: Auch ohne die Buchstaben zu kennen, lernen die Kinder ihren Namen erkennen und empfinden das Bedürfnis, lesen zu lernen, und spüren ihre Abhängigkeit von den Kindern, die bereits lesen können. Bekanntmachung »Morgen um 10 Uhr werden neue Anzüge ausgegeben. Da nicht alle Anzüge fertig geworden sind, bekommen a, b, c, d keinen Anzug … Die alten Anzüge nehmen f und g entgegen …« Bekanntmachung »Wer hat einen kleinen Schlüssel an einem schwarzen Riemchen gefunden oder gesehen?« »Wer die Scheibe im Waschraum zerschlagen hat, soll sich melden.« Mitteilung »Gestern war es im Jungenschlafsaal wieder unsauber.« »Die Kinder ruinieren ihre Bücher und werfen ihre Schreibfedern herum.« »Es heißt nicht Jord, sondern Jod.« »In einem Monat ist Ostern. Wir bitten euch, Vorschläge zu machen, wie wir die Feiertage angenehm verbringen können.« »Wer seinen Platz im Schlafsaal (bei Tisch) wechseln will, soll sich morgen um 11 Uhr melden.« Mitteilungen, Warnungen und Bitten hängen jetzt nicht nur die Erzieher, sondern auch die Kinder aus. Was es da nicht alles gibt. Die Tafel lebt. Du wunderst dich, wie du einmal ohne sie hast auskommen können. »Ich, bitte, ich auch? …« »Guck auf die Tafel!« »Ich kann aber nicht lesen.« »Dann bitte einen, der es kann …« Die Tafel eröffnet Erziehern und Kindern ein Feld für ihre Initiative. Der Kalender, das Thermometer, eine wichtige Zeitungsmeldung, ein Bild, eine Scharade, die Kurve der Schlägereien, eine Liste der angerichteten Schäden, die Sparsamkeit der

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Kinder, ihr Gewicht, ihre Größe. Wie vor einer Schaufensterauslage steht das Kind davor, wenn es Zeit hat, und schaut und schaut. Man kann auch die wichtigsten Städte, die Bevölkerungszahl der Stadt und die Preise von Nahrungsmitteln anschlagen. Du kannst gar nicht alle Möglichkeiten voraussehen. Der Briefkasten Ein Erzieher, der den Nutzen einer schriftlichen Verständigung mit Kindern erkannt hat, wird sich auch bald von der Notwendigkeit eines Briefkastens überzeugen. Die Tafel ermöglicht es dem Erzieher, gewohnheitsmäßig, also ohne besondere Anstrengung, zu antworten: »Lies dir das durch.« Der Briefkasten gestattet es ihm, jede Entscheidung zu vertagen mit der Antwort: »Schreib das mal auf.« Es ist oft leichter, etwas niederzuschreiben als etwas auszusprechen. Es gibt wohl keinen Erzieher, der nicht schon Briefe mit Fragen, Bitten, Klagen, Entschuldigungen und Geständnissen erhalten hätte. Das war immer so, und der Briefkasten macht diese Gewohnheit zur ständigen Einrichtung. Abends nimmst du eine Handvoll Zettel heraus, ungelenk beschrieben, und nun liest du sie in Ruhe und Frieden umso aufmerksamer und denkst darüber nach, was du aus Mangel an Zeit und an Nachdenken den Tag über vernachlässigt haben könntest. »Ob ich wohl morgen ausgehen darf? Mutters Bruder ist gekommen.« »Die anderen Kinder setzen mir zu.« »Sie sind ungerecht: Allen anderen spitzen Sie die Bleistifte an, nur bei mir wollten Sie es nicht tun.« »Ich will nicht so nahe an der Tür schlafen, weil ich in der Nacht immer denken muss, es kommt jemand herein.« »Ich bin Ihnen böse.« »Die Lehrerin in der Schule hat gesagt, dass ich mich schon besser benehme.« »Ich möchte gern in einer sehr wichtigen Angelegenheit mit Ihnen sprechen.« Manchmal findest du auch ein kleines Gedicht, ohne Unterschrift: Das war ihm so eingefallen und er hatte es aufgeschrieben, und da er nicht wusste, was er damit anfangen sollte, war der Zettel im Briefkasten gelandet. Manchmal findest du auch eine anonyme Zuschrift mit anstößigen Beschimpfungen und Drohungen. Es gibt alltägliche, gewöhnliche Briefe und seltene Zuschriften von besonderer Art. Manches wiederholt sich ständig, und wenn nicht heute, dann wirst du morgen darüber nachdenken, wie man das ordnen, wie man hier Rat schaffen kann. Über den Inhalt eines außergewöhnlichen Briefes wirst du längere Zeit nachsinnen.

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Der Briefkasten bringt den Kindern Folgendes bei: 1. Auf eine Antwort zu warten; sie nicht sofort, nicht auf Zuruf zu erhalten. 2. Geringfügige und vorübergehende Kümmernisse, Sorgen, Wünsche und Zweifel von wichtigen zu unterscheiden. Es bedarf eines Entschlusses, um sich hinzusetzen und zu schreiben (und auch dann noch möchten die Kinder oft einen bereits eingeworfenen Brief wieder zurückziehen). 3. Er lehrt sie denken und begründen. 4. Er lehrt zu wollen und zu können. »Schreib das auf und wirf es in den Kasten.« »Ich kann aber nicht schreiben.« »Dann bitte jemand darum, der es kann.« Am Anfang beging ich einen Fehler, vor dem ich warnen möchte: Chronische Langweiler verwies ich nicht ohne Ironie auf den Briefkasten. Als sie die Schikane bemerkten, waren sie mit Recht auf mich und auf den Briefkasten böse. »Man kann jetzt überhaupt nicht mehr mit Ihnen sprechen.« Derartige Vorwürfe bekam ich auch von Erziehern zu hören: Ob eine schriftliche Verständigung mit den Kindern nicht allzu förmlich sei? Ich behaupte, dass ein Briefkasten eine mündliche Verständigung mit den Kindern nicht erschwert, sondern erleichtert. Ich suche mir die Kinder aus, mit denen ein längeres, vertrauliches, herzliches oder ernstes Gespräch notwendig ist, und ich wähle dazu einen für mich und für das Kind günstigen Augenblick. Der Briefkasten hilft mir, Zeit einzusparen, und so wird mein Tag länger. Unzweifelhaft gibt es Kinder, die nicht schreiben mögen, aber manchmal auch ausschließlich solche, die fest auf ihren persönlichen Einfluss und auf die Wirkung ihres Lächelns, eines Kusses, ihres Charmes, auf besondere Rücksichten und einen glücklich gewählten Moment rechnen. Sie wollen nicht bitten, sie wollen erzwingen. Wer sich seiner selbst gewiss ist, setzt nur auf die Billigkeit und Rechtmäßigkeit seines Anliegens, stellt seinen Antrag und erwartet in Ruhe eine Entscheidung. Das Regal Ein Regal kann die Tafel ergänzen. Wir haben im Waisenhaus noch kein Regal, aber wir halten es für notwendig. Auf dem Regal sollten ihren Platz haben: ein Wörterbuch, eine Sprichwörtersammlung, eine Enzyklopädie, ein Stadtplan, Anthologien, ein Kalender, eine Sammlung von Spielen (Handbücher für Tennis, Fußball usw.), ein paar Mühle- und Dame­-Spiele zum allgemeinen Gebrauch. Unbedingt erforderlich ist auch eine Handbibliothek; die Ausgabe der Spiele zu festgesetzten Stunden und an bestimmten Tagen, durch den Tagesdienst kontrolliert, bewahrt sie vor Beschädigung; es sollte jedoch eine derartige Lehrstätte und eine

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derartige Experimentierstelle für den nicht kontrollierten gesellschaftlichen Instinkt der Kinder geben. Sie werden Schaden anrichten und manches ramponieren – aber das muss man in Kauf nehmen. Auf dem Regal ist Platz für Hefte, die von den Kindern geführt werden. Eines trägt hübsche Lieder ein, das andere notiert Scherzfragen, das dritte Rätsel, das vierte Träume; ein Heft für Raufereien und Zank, für Zuspätkommen, Beschädigungen und verlorene Gegenstände. Von Kindern redigierte Eintagszeitungen und naturkundliche, literarische, soziale und Reisemonatsschriften. Hier können die Berichte und Aufzeichnungen der Tagesdiensthabenden niedergelegt werden. Hier kann auch das Tagebuch des Erziehers liegen. Nicht jede Chronik muss unbedingt unter Verschluss gehalten werden. Mir will scheinen, dass ein Tagebuch, dem der Erzieher seine Enttäuschungen, die Schwierigkeiten, auf die er gestoßen ist, seine Fehler, seine angenehmen und fröhlichen, wie auch seine schmerzlichen Erlebnisse anvertraut, eine große Rolle spielen kann. Hier ist Platz für das Kontrollbuch, in das eingetragen wird, wer, wann und zu welchem Zweck in die Stadt geht und wann er zurückkehrt, und für das Notariatsverzeichnis. Kinder tauschen, treten ab und verkaufen gern Gegenstände ihres geringen Eigentums. Wir sollten das nicht unwillig betrachten oder es gar verbieten. Wenn das kleine Taschenmesser oder Riemchen einem Kind gehört, warum soll es das dann nicht gegen einen Federkasten, einen Magneten oder ein Vergrößerungsglas eintauschen? Sollten wir betrügerische Transaktionen, Streitereien und Zank befürchten, dann lasst uns ein Notariatsverzeichnis einführen, das Missbräuche verhindern wird. Wenn die Kinder leichtsinnig und unerfahren sind, dann wollen wir ihnen die Möglichkeit verschaffen, die notwendigen Erfahrungen zu gewinnen. Da ich das Tagebuch eines Erziehers für bedeutsam halte, gebe ich ein paar Fragmente aus meinen eigenen Aufzeichnungen wieder: »Heute habe ich mich ungerechterweise über einen Jungen geärgert. Ungerechterweise, denn er hatte nicht anders handeln können. Aber was soll ich machen, wenn es doch meine Pflicht ist, darüber zu wachen, dass alle Kinder gleiche Rechte haben. Was würde man wohl sagen, wenn ich den einen erlauben wollte, wofür ich die anderen bestrafe? …« »Die älteren Kinder haben sich gestern abend in meinem Zimmer versammelt. Wir sprachen über ihre Zukunft. Warum haben sie es so eilig, sind so sehr darauf erpicht, bald schon erwachsen zu sein? Naiv wie sie sind, meinen sie, älter zu sein bedeute, machen zu können, was man will. Sie nehmen nicht die Ketten wahr, die unseren mündigen Willen niederhalten.« »Wieder ein Diebstahl. Ich weiß, dass unter hundert Kindern auch ein unredliches sein muss (wirklich nur eines?). Aber trotzdem kann ich mich nicht darein fügen. Es ist mir so, als empfinde ich allen gegenüber Bitterkeit.«

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»Nun hat er sich doch gebessert. Ich habe nicht vorzeitig daran glauben wollen – aber schon seit ein paar Wochen beobachte ich ihn genau, vielleicht hat er einen guten Freund für sich gefunden. Wenn es doch so bliebe.« »Wieder habe ich von einer bestimmten, sehr scheußlichen Sache erfahren. Ich tue so, als wüsste ich nichts. Es ist so unangenehm, fortwährend herumzunörgeln, jemanden zu verdächtigen, sich zu ärgern und Nachforschungen anzustellen.« »Ein merkwürdiger Junge. Wir alle schätzen ihn sehr. Er könnte großen Einfluss haben, aber er hält sich fern von allen unseren Unternehmungen. Sonderbar fremd und in sich verschlossen. Das ist kein Egoismus, kein böser Wille seinerseits; er kann nicht anders, aber es ist doch schade darum.« »So ein schöner Tag. Alle sind gesund, aktiv, fröhlich. Irgendwie ging alles gut, harmonisch, zügig. Wenn es doch viele solche Tage gäbe.« Der Schrank für Fundsachen Mit verdrießlichen Blicken betrachtet ein Erzieher den Inhalt von Hosentaschen und Kinderschubfächern. Was gibt es da nicht alles: Abziehbilder, Postkarten, Bindfäden, kleine Nägel und Steinchen, Läppchen, Glasperlen, Schächtelchen, Fläschchen, bunte Glasscherben, Spielmarken, Vogelfedern, Tannenzapfen, Kastanien, Bändchen, getrocknete Blätter und Blumen, Papierfiguren, Straßenbahnfahrkarten, Bruchstücke von Dingen, die einmal etwas waren, und Ansätze zu Neuem, das erst etwas werden soll. Jede Kleinigkeit hat ihre oft sehr verwickelte Geschichte und unterschiedliche Herkunft, und ihren gemütsmäßig manchmal sehr hohen Wert. Hier gibt es Erinnerungen an Vergangenes und sehnsüchtiges Verlangen, das sich auf Zukünftiges richtet. Die kleine Muschel ist der Traum von einer Reise an die See, das Schräubchen und einige Drähte – ein Flugzeug, die Vision eines Fliegerlebens; das Auge einer längst zerbrochenen Puppe – die einzige Erinnerung an ein geliebtes Wesen, das nicht mehr ist und nie mehr sein wird. Du findest sowohl die Fotografie der Mutter als auch, in rosa Papier eingewickelt, zwei Groschen von dem verstorbenen Großvater. Neue Gegenstände kommen dazu, die alten verlieren zum Teil ihren Wert. Also wird getauscht und verschenkt, später bedauern sie es wieder und fordern zurück. Ich fürchte, dass ein brutaler Erzieher, ohne Verständnis für diese Dinge und deshalb voller Nichtachtung, ärgerlich darüber, dass die Hosentaschen zerreißen und sich die Schubläden verklemmen, aufgebracht über Streitereien und Krach – denn hier verschwindet etwas, dort liegen Dinge unordentlich herum – in einer Anwandlung von schlechter Laune diese Schätze zusammenscharrt und den ganzen Plunder in den Ofen wirft. Er macht sich damit eines unerhörten Missbrauchs schuldig, begeht ein barbarisches Verbrechen. Was wagst du es, du Unmensch, über fremdes Eigentum zu verfügen? Wie kannst du dann erwarten, dass die Kin-

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der irgendetwas respektieren oder jemanden lieben? Du verbrennst keine Papierchen, sondern die Liebe zur Tradition und die Träume von einem schönen Leben. Es ist die Aufgabe des Erziehers, dahin zu wirken, dass jedes Kind etwas besitzt, was nicht namenloses Eigentum der Institution ist, sondern ihm allein gehört, und dass es für dieses sein Eigentum einen sicheren Aufbewahrungsplatz hat. Wenn ein Kind etwas in seine Schublade legt, muss es sicher sein, dass niemand daran rührt: Denn diese beiden Korallen – das sind seine kostbaren Ohrringe, das Schokoladenpapier – das ist der Pfandbrief eines Rentiers, das Tagebuch – ein im Archiv niedergelegtes Geheimdokument. Das ist aber nicht alles: Die Pflicht gebietet, dem Kinde das Wiederfinden verlorener Dinge zu erleichtern. Also sollte ein Glasschrank für die Fundsachen aufgestellt werden. Jeder kleinste Gegenstand hat seinen Eigentümer. Ob etwas unter dem Tisch liegt, auf dem Fensterbrett vergessen wurde oder halb im Sande verschüttet auf dem Hof – es muss in den Schrank kommen. Je weniger Gegenstände es in einem Internat gibt, die keinem gehören, aber umso mehr Klein-Eigentum, desto stärker empfindest du die Plage des unaufhörlichen Abgebens und Abnehmens gefundener Kleinigkeiten und der Klagen darüber, dass etwas verloren gegangen ist. Wie bewahrst du auf, was man dir als gefunden übergibt? Steckst du es in die Tasche, dann ist das schlimmes Beispiel unredlichen Verhaltens. Im Waisenhaus gibt es einen Kasten für Fundsachen. Der ihn zu beaufsichtigen hat, bringt seinen Inhalt in den Glasschrank und übernimmt zur festgesetzten Stunde die Rückgabe der Sachen. In einer Zeit, als ich um die Durchsetzung bestimmter Ordnungsprinzipien hart zu kämpfen hatte, wanderte jede herrenlose Mütze, jede Schürze, die nicht an ihrem Platz hing, und jedes auf dem Tisch zurückgelassene Buch zu den Fundsachen. Der Kramladen Eine wahre Plage, diese durchaus gerechtfertigten Wünsche der Kinder: ein Heft, ein Bleistift, eine Stahlfeder. Schnürsenkel, Nadeln, Fingerhut, Knöpfe, Seife – so geht das von früh bis spät. Ewig ist ihnen etwas ausgegangen, zerbrochen, abgerissen, immer wird etwas gebraucht – keinen Augenblick gibt es Ruhe. Also eine Verkaufsstelle – ein Zimmerchen genügt oder ein Schränkchen, vielleicht sogar nur eine Schublade. Aber die Ausgabe findet täglich einmal, zur festgesetzten Stunde statt. Wer zu spät kommt oder es vergessen hat, muss bis zum nächsten Tag warten. Muss man das übrigens erst begründen? Bei der Ausgabe wird notiert, wer was wann erhalten hat. Wenn du einem Kinde vorwirfst, dass es seine Stahlfedern zerbricht, so ist es dir auf diese Weise möglich, dies mit Tatsachen, mit Zahlen zu

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belegen und mit anderen Kindern zu vergleichen. Bestimmte Gegenstände werden kostenlos abgegeben, andere zu einem geringen Preis. Aufhängevorrichtung für Kehrbürsten Hier hätte die Überschrift lauten müssen: Tagesdienste. Ich zog es vor, von einer Aufhängevorrichtung für Kehrbürsten zu sprechen, um zu unterstreichen, dass die Tagesdienste keinen Wert haben, wenn es nicht gleichzeitig gelingt, der Gemeinschaft Achtung beizubringen für Kehrbürsten, Wischlappen, Kübel und Müllschaufel. Geräte für die physische Arbeit haben sich bereits eine gewisse Achtung erworben. Und wenn auch das Buch weiterhin einen bevorzugten Platz einnimmt, so sind doch schon Hammer, Hobel und Zange aus ihrem Versteck im dunklen Winkel, aus dem Kasten unter dem Bett hervorgekommen, und die Nähmaschine ist sogar ins hochherrschaftliche Zimmer zugelassen worden. Im Waisenhaus haben wir Kehrbürste und Wischlappen aus ihrem Schlupfwinkel unter der Treppe herausgeholt und sie nicht nur sichtbar, sondern an einem Ehrenplatz untergebracht: an der Haupteingangstür zum Schlafsaal. Welch Wunder, im hellen Tageslicht hat dieser Pöbel edle, durchgeistigte Züge angenommen und erfreut den Blick durch sein ästhetisches Aussehen. Zwei Schlafsäle besitzen sechs Kehrbürsten. Wären es weniger, wie viel Streit, Zank und Tätlichkeiten würden wir dann wohl erleben. Wenn wir auf dem Standpunkt stehen, dass ein gut abgewischter Tisch ebenso viel bedeutet wie eine sorgfältig abgeschriebene Seite, wenn wir nicht darum besorgt sind, dass die Arbeit der Kinder die Lohnarbeit des Personals ersetzt, sondern den Kindern als Erziehungs- und Bildungsfaktor zugutekommt, dann müssen wir jede Tätigkeit nicht leichthin, sondern gründlich untersuchen, ausprobieren, unter alle verteilen und kontrollieren, auch einen Wechsel eintreten lassen und alles immer wieder überdenken. Hundert Kinder – hundert Mitarbeiter, die für Ordnung sorgen und in der Hauswirtschaft mittun, hundert verschiedene menschliche Ebenen, hundert verschiedene Stufen der körperlichen Kräfte, der Gewandtheit, der Temperamente, der Charaktereigenschaften, des guten Willens und der Gleichgültigkeit. Die Tagesdienste zu regeln, das steht nicht am Anfang, sondern am Ende der organisatorischen Arbeit, das ist keine einmalige »Besprechung« mit den Kindern, sondern eine Arbeit der Hände und wachsamer schöpferischer Überlegungen über mehrere Monate hin. Vor allem muss man die Arbeit und die Kinder kennen. Ich habe in Internaten schon derartig unwahrscheinliche Schlampereien bei der Einteilung der Arbeit erlebt, dass die Obliegenheiten der Tagesdienste die Kinder demoralisierten, von ihnen als quälend empfunden wurden und sie jede Hilfeleistung hassen lehrten.

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Es gibt leicht zu erfüllende, sich täglich wiederholende Dienste, die weder körperliche Kräfte noch Gewandtheit noch moralische Eigenschaften erfordern, die einfach zu kontrollieren und ohne Geräte auszuführen sind. Zum Beispiel das Aufstellen von Stühlen und das Aufsammeln von Papierschnitzeln. Wer Staub wischt, hat bereit einen Staublappen, für den er verantwortlich ist. Schulklassen, die je vier Tagesdienste eingerichtet haben, machen eine friedliche Koordination der einzelnen Tätigkeiten notwendig. Es gibt Morgen- und Abenddienste, täglich oder wöchentlich zu erfüllende Obliegenheiten (Wäscheausgabe, Baden, Haareschneiden), einmalige (Matratzenklopfen), sommerliche (die Klosetts im Garten) und winterliche (Schneeschippen usw.). Jeden Monat wird eine neue Liste von Diensthabenden aufgestellt und ausgehängt. Vorher reichen die Kinder schriftliche Eingaben ein. Also: »Ich will Diensthabender für den Schlafsaal werden.« »Ich will den Klassenraum auskehren und auf die Badelaken achtgeben.« – »Ich will im Waschraum Dienst machen, und wenn nicht dort, dann in der Kleiderkammer.« – »Ich will für Ordnung im Klosett sorgen und am achten Tisch Essen aufgeben.« Jeder Dienst hat seine Anwärter, die sich vorher bereits für frei werdende Stellen vormerken lassen, sich untereinander besprechen, Einverständnisse erzielen; zahlreiche Vereinbarungen werden getroffen. Ein schlechter Diensthabender muss sich die Beine ablaufen, sich demütigen, zahlreiche Versprechungen machen, bis er sich eine Stelle sichert. »Ich will nicht mit dir zusammen sein, denn du zankst dich immer, kommst zu spät und bist faul.« Nicht der zehnte Teil dieser großen erzieherischen Arbeit kommt zu unserer Kenntnis. Jedes Amt hat seine guten und schlechten Seiten, jede Arbeit erfordert ein einträchtiges Zusammenleben. In dem neuen Dienst erlebt das Kind eine Reihe von neuen und angenehmen Gemütsbewegungen, aber es stößt auch auf unerwartete Schwierigkeiten. Dass es etwas Neues tut, spornt es dazu an, sich besonders anzustrengen; es kommt kaum dazu, in seinem Eifer nachzulassen, es sieht sich der Notwendigkeit gegenüber, alle Kräfte anzuspannen, um das Recht auf die einmal gewählte Stelle zu erlangen oder sich auf dem begehrten Platze zu bewähren. Hier wird eine vollkommene Gleichberechtigung von Alter und Geschlecht erreicht: Ein Jüngerer, aber Umsichtiger avanciert rasch, ein Junge hört auf ein Mädchen. Wenn es auf einem gemeinsamen Gebiet mehrere Diensthabende gibt, übt einer von ihnen die Oberaufsicht aus. Jedes Stockwerk hat seinen verantwortlichen Diensthabenden. Diese Einteilung ist durchaus natürlich. Über die Arbeit anderer zu verfügen, ist eine beschwerliche Pflicht, die Verantwortung ist lästig. Wer nicht in unsere

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Organisation eingeweiht war, hat wegen dieser Einstufung Vorwürfe gegen uns erhoben. Jeder habe sich selbst zu kontrollieren; jedoch, nicht immer und nicht alles geht im Leben so, wie es sein sollte. Nachlässige, gewissenlose und leichtsinnige Mitarbeiter sind auch unter Kindern zu einem gewissen Prozentsatz anzutreffen; im Übrigen genügt Kontrolle allein nicht, sondern es muss auch jemand da sein, der unterweist und hilft. Auch hier sollte der Erzieher, wenn er für längere Gespräche mit einzelnen Kindern Zeit gewinnen will, sich in besonderen Fällen mit der Mehrzahl der Kinder schriftlich verständigen. Die Diensthabenden für die einzelnen Stockwerke und die Aufsichtsführenden für die Hauptzweige der Hauswirtschaft geben jeden Abend über ihren Dienst in den aufliegenden Tagebüchern Bericht. Obwohl es im Waisenhaus nur für einen Teil der Tagesdienste eine Vergütung gibt, bin ich der Meinung, dass es für alle eine Entlohnung geben sollte. In dem Bestreben, gute Staatsbürger heranzubilden, haben wir es nicht nötig, Idealisten zu züchten. Das Waisenhaus verteilt keine Gnadengaben, wenn es sich der Kinder annimmt, die keine Eltern mehr haben; und wenn es die verstorbenen Eltern in der materiellen Fürsorge vertritt, so ist es nicht berechtigt, etwas dafür zu verlangen. Warum sollten wir ein Kind nicht möglichst früh lehren, was Geld ist, nämlich eine Entlohnung für eine Arbeitsleistung; damit es den Wert der Unabhängigkeit verspürt, die verdientes Geld verschafft, und damit es die guten und schlechten Seiten des Besitzes kennenlernt. Kein Erzieher wird hundert Kinder zu hundert Idealisten machen können, einige wenige werden sich aus eigener Kraft formen, und wehe ihnen, wenn sie nicht zu rechnen verstehen. Denn Geld gibt alles außer Glück; sogar Glück und Verstand, auch Gesundheit und Sittlichkeit kann es dem Menschen geben. Lehre das Kind, dass Geld auch Unglück und Krankheit bringen, dass es einem den Verstand rauben kann. Mag es für sein selbst verdientes Geld Eis essen, so viel es will, und danach Bauchweh bekommen; soll es sich doch um einen Zehner mit seinem Freunde streiten; mag es Geld verspielen, verlieren oder auch erleben, dass es ihm gestohlen wird; mag es ihm auch leid tun, dass es etwas gekauft hat, soll es nach einem einträglichen Tagesdienst trachten und sich davon überzeugen, dass es sich nicht gelohnt hat; soll es schließlich auch für einen Schaden bezahlen. Die Betreuungskommission An Stelle von Erklärungen gebe ich hier das Tagebuch von einem unserer Plagegeister wieder. Es ist an ein Mädchen gerichtet, das ihn betreute. Auch ihre Bemerkungen sind wiedergegeben: Am 16. April »Ich möchte gern Tischler werden. Denn wenn ich einmal auf Reisen gehe, werde ich mir eine Kiste machen können und in der Kiste verschiedene Sachen, auch

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meinen Anzug und etwas zum Essen unterbringen, und ich kaufe mir einen Säbel und ein Gewehr. Wenn mich wilde Tiere überfallen, dann werde ich mich wehren können. Ich liebe die Hela heiß, aber ich werde kein Mädchen aus dem Waisenhaus heiraten.« Anmerkung der Betreuerin: »Hela mag dich auch, aber nicht so sehr, weil du ein Rüpel bist. Warum willst du kein Mädchen aus unserer Anstalt heiraten?« »Ich will keine von uns, weil ich mich sonst schämen muss. Wenn ich mich auf die Reise vorbereite, um einen Teil der Welt zu entdecken, dann lerne ich erstmal richtig schwimmen, sogar im Ozean. Ich werde nach Amerika fahren, schwer arbeiten und Geld verdienen, dann kaufe ich mir ein Auto und fahre mit meinem Auto durch ganz Amerika. Aber zuerst werde ich zu den Wilden fahren und drei Wochen dort bleiben. Gute Nacht.« Anmerkung der Betreuerin: »Gute Nacht. Und wirst du an mich schreiben?« »Ich und R. haben uns darüber unterhalten, wie es uns gegangen ist, als wir noch zu Hause waren. Ich habe erzählt, dass mein Vater Schneider war, und der Vater von R. war Schuster. Und jetzt sind wir hier wie im Gefängnis, denn wir sind nicht bei uns daheim. Aber wenn einer keinen Vater und keine Mutter mehr hat, dann ist das Leben nichts mehr wert. Ich habe erzählt, dass mein Vater mich nach Knöpfen geschickt hat, und R. hat sein Vater nach Schusternägeln geschickt. Und so weiter. Denn ich hatte das schon vergessen.« Anmerkung der Betreuerin: »Schreib deutlicher.« »Das soll nun so sein: Wenn ich von meiner Reise zurückkomme, dann heirate ich. Bitte rate mir, ob ich mich mit Dora, Hela oder Mania verheiraten soll. Ich weiß nämlich nicht, wen ich zur Frau nehmen soll. Gute Nacht.« Anmerkung der Betreuerin: »Dora hat gesagt, dass du eine Rotznase bist. Mania ist dagegen, und Hela hat nur gelacht.« »Ich habe ja nicht darum gebeten, dass du fragen sollst, sondern nur geschrieben, wen ich liebe. Jetzt gräme ich mich und muss mich schämen; ich habe doch nur geschrieben, wen ich lieb habe. Was wird jetzt daraus? Ich schäme mich ja, zu ihnen zu gehen. Bitte sag mir, an welchem Tisch ich sitzen soll, damit ich mich gut betrage, und schreib mir irgendein langes Märchen auf. Und bitte, keinem zeigen, denn ich habe Angst davor, viel zu schreiben. Und ich möchte sehr gern wissen, wie ein Australier aussieht, wie sie da überhaupt aussehen.« Anmerkung der Betreuerin: »Wenn die Mädchen sich nicht schämen, dann schäme du dich auch nicht. Märchen kann man in einem so kleinen Heftchen nicht aufschreiben. Wenn die andern dich aufnehmen, dann setz dich an den dritten Tisch. Ich werd mich bemühen, dir einen Australier zu zeigen. Dein Tagebuch werde ich keinem zu sehen geben.« »Ich denke, es wird ein großes Glück für mich sein, wenn ich erst mal zwölf Jahre

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alt bin. Wenn ich wegfahre, dann werde ich allen Adieu sagen. Ich weiß nicht, was ich weiter schreiben soll.« Anmerkung der Betreuerin: »Du hast gesagt, du hättest so viel zu schreiben, dass du nicht weißt, ob dir der Platz reicht, und jetzt weißt du nichts mehr zu schreiben.« »Ich bitte um Rat, denn ich habe einen großen Kummer und kein reines Gewissen. Das mit dem Kummer ist so: Beim Unterricht – ich weiß nicht, warum – muss ich immerzu an einen Fehler denken; ich habe Angst, diesen Fehler zu machen, nämlich zu stehlen. Aber ich will nicht allen Kummer bereiten, und ich gebe mir alle Mühe, mich zu bessern. Damit ich nicht immer an diesen Fehler denke, ist es wohl am besten, denke ich, wenn ich wegfahre. Gute Nacht.« Anmerkung der Betreuerin: »Sehr gut, dass du mir geschrieben hast. Ich werde mit dir sprechen und dir raten. Aber du darfst nicht beleidigt sein, über das, was ich dir sage.« »Ich hab mich schon gebessert, ich werde mich mit G. anfreunden, er hat mich schon gebessert. Und ich bemühe mich sehr. Aber warum darf ich nur alle zwei Wochen ausgehen? Ich bin doch ebenso wie die anderen, warum sollen sie besser sein als ich? Und sie gehen jede Woche aus, aber ich nur jede zweite. Ich will ebenso sein wie alle Kinder. Großmutter hat darum gebeten, ich soll jede Woche zu ihr kommen, und ich schäme mich zu sagen, dass ich nicht darf.« Anmerkung der Betreuerin: »Du weißt, warum du nicht ausgehen darfst wie alle andern. Ich werde darum bitten, aber ich bezweifle, ob es gelingt.« »Ich hatte auch so schon Kummer genug, denn als ich aus der Schule rausflog, sollte ich auch aus dem Waisenhaus rausgeschmissen werden, wenn ich nicht in die Schule aufgenommen werde. Aber jetzt gehe ich wieder zur Schule. Ich kenne schon 35 Völker. Ich habe ein Buch über Reisen. Ein richtiges Buch. Ich möchte gern eine Schachtel haben. Bitte um Antwort.« Anmerkung der Betreuerin: »Ich such dir eine Schachtel oder sehe zu, wie ich eine bekommen kann, dann gebe ich sie dir. Kannst du mir wohl schreiben, wozu du diese Schachtel brauchst?« »Ich brauche sie sehr nötig, denn ich habe viele Sachen. Briefe und Bücher und sehr viele andere notwendige Dinge. Jetzt werde ich mich schon mit keinem mehr befreunden, denn ich habe keinen, mit dem ich mich befreunden kann. Wenn dieses Heftchen voll ist, bekomme ich dann ein neues? Ich schreibe nicht schön, weil ich auf zwei Linien schreibe. Ich werde alles aufschreiben, meinen Kummer, was ich Schlechtes getan habe, woran ich denke, und verschiedene, sehr viele interessante Dinge habe ich zu schreiben …« Der Junge war neun Jahre alt, seine Betreuerin zwölf.

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Die Versammlung Ein Kind denkt nicht weniger, nicht ärmlicher, nicht schlimmer als die Erwachsenen, es denkt nur anders. In unserem Denken sind die Bilder verblichen und zerrissen, die Gefühle dumpf und verstaubt. Ein Kind denkt mit dem Gefühl, nicht mit dem Verstand. Darum ist es so schwierig, sich mit ihm zu verständigen, deshalb gibt es keine schwerere Kunst, als zu Kindern zu sprechen. Lange meinte ich, Kinder müsse man leicht verständlich, unterhaltsam, bildhaft und überzeugend anreden. Heute glaube ich, dass wir kurz und von Herzen sprechen sollten, ohne lange nach passenden Ausdrücken und Redewendungen zu suchen – ganz einfach aufrichtig. Ich möchte lieber sagen: »Meine Forderung ist unbillig, abträglich, unausführbar, aber ich muss das von euch verlangen«, als eine lange Begründung vorzubringen und darauf zu bestehen, dass sie gebilligt wird. Kinder zusammenzurufen, sich vor ihnen zu beschweren und sie zurechtzuweisen und dann ihre Zustimmung zu erzwingen – das ist keine Versammlung. Kinder zu versammeln, ihnen eine rührende Ansprache zu halten, einige auszuwählen, damit sie Pflichten und Verantwortung übernähmen – das ist keine Versammlung. Kinder zusammenzurufen und ihnen zu sagen, dass ich mir keinen Rat weiß, sie soll­ten sich etwas ausdenken, damit es besser werde – das ist keine Versammlung. Lärm, Tumult eine Abstimmung nur der Form halber – das ist das Zerrbild einer Versammlung. Häufige Ansprachen und zahlreiche Versammlungen entwerten die Methode, eine gemeinsame Beeinflussung zu erreichen mit dem Ziel, eine Sache in Angriff zu nehmen oder einen schwierigen Punkt zu klären. Eine Versammlung soll sachlich sein, die Bemerkungen der Kinder müssen aufmerksam und redlich angehört werden – keine falschen Töne und kein Druck – die Entscheidung muss bis zu dem Augenblick offen bleiben, in dem der Erzieher den Plan seines Vorgehens ausarbeitet. Wenn ein Erzieher etwas nicht weiß, nicht kann oder nicht zu tun vermag, haben auch die Kinder das Recht, etwas nicht zu wissen und nicht zu können. Und keine Versprechungen, die man nicht einhalten kann! Törichte und gedankenlose Kinder versprechen leicht etwas, verständige und ehrliche ärgern sich darüber und machen spöttische Bemerkungen. Die Fähigkeit, sich mit Kindern zu verständigen, will erarbeitet sein. Das kommt nicht von selbst! Ein Kind muss wissen, dass es erlaubt ist und dass es sich lohnt, aufrichtig seine Meinung zu sagen, dass es weder Ärger noch Unwillen erregt und dass es verstanden wird. Aber das ist noch nicht genug: Es muss sicher sein, von seinen Kameraden weder ausgelacht noch verdächtigt zu werden, sich einschmeicheln zu wollen. Eine Versammlung erfordert eine saubere und würdige moralische Atmosphäre. Es

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gibt kein zweckloseres Theaterspiel, als Wahlen und Abstimmungen zu veranstalten, die zu einem für den Erzieher günstigen Ergebnis zu führen haben. Außerdem müssen Kinder es lernen, Versammlungen abzuhalten. Es ist nicht leicht, etwas ordnungsgemäß in der ganzen Gemeinschaft zu beraten. Noch eine Bedingung: Es ist nicht richtig, die Teilnahme an Beratungen und Abstimmungen zu erzwingen. Es gibt Kinder, die sich an solchen Erörterungen nicht beteiligen wollen – soll man sie dazu zwingen? »Da wird geredet und geredet, aber Ordnung ist nicht.« »Warum zusammenkommen, wenn Sie doch alles so machen, wie Sie es wollen.« »Was ist das für eine Versammlung, wenn keiner etwas sagen kann, weil die anderen dann lachen oder sich ärgern.« Diese Kritik darf man nicht unterschätzen noch meinen, sie sei Ausdruck eines bösen Willens. Mit Recht beklagen sich kritischer veranlagte Kinder … Wenn ich heute Versammlungen kritisch beurteile, dann geschieht das, weil ich zu Beginn meiner Arbeit im Waisenhaus ihren Wert überschätzt und durch den Missbrauch des Wortes Fehler begangen habe. Wie dem auch sei, Versammlungen rühren das kollektive Gewissen der Gemeinschaft an, sie stärken das Gefühl einer gemeinsamen Verantwortlichkeit und hinterlassen ihre Spuren. Hier gilt es jedoch, vorsichtig in der Beurteilung zu sein. Es gibt in einer Kinderschar keine absolute Kameradschaftlichkeit und Solidarität, und es kann sie auch nicht geben. Mit dem einen verbindet mich nur das gemeinsame Dach über dem Kopf und das Glockenzeichen zum Aufstehen am Morgen, mit einem anderen die gemeinsame Schule, mit dem Dritten gleiche Neigungen, dem Vierten Freundschaft, mit dem Fünften Liebe. Kinder haben das Recht, in Gruppen oder für sich allein zu leben, nach eigenem Bemühen und eigenem Denken. Die Zeitung Eine pädagogische Einrichtung ohne Zeitung scheint mir ein ungeordneter und hoffnungsloser Leerlauf und ein Herumgeschimpfe des Personals, ein Sich-imKreise-Drehen der Kinder ohne Richtung und Kontrolle zu sein, etwas Sporadisches und Zufälliges, ohne jede Tradition, ohne Erinnerungen und ohne Entwicklungslinie für die Zukunft. Eine Zeitung ist ein festes Band, das die eine Woche mit der nächsten verknüpft und Kinder, Personal und Dienstboten zu einer untrennbaren Einheit verbindet. Die Zeitung wird in Anwesenheit aller Kinder vorgelesen. Jede Veränderung, Verbesserung, Reform, jeder Missstand und jede Beschwerde finden in der Zeitung ihren Ausdruck.

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Man kann das alles in den wenigen Zeilen einer kurzen Notiz der Chronik, in einem kleinen Bericht oder im Leitartikel behandeln. Man braucht nur zu notieren: »A hat sich mit B geschlagen.« Oder: »Immer häufiger kommen Schlägereien vor. Da haben wir wieder ein Handgemenge zwischen A und B zu notieren. Wir wissen nicht, weshalb sie sich geprügelt haben, aber muss denn jeder Streit notwendigerweise mit einer Schlägerei enden?« Oder: »Lasst die Fäuste aus dem Spiel!« »Das muss einmal ein Ende haben.« Unter diesen sensationellen Schlagzeilen wird der Fall besprochen. Die Zeitung ist für einen Erzieher, der das Kind und sich selbst verstehen soll, ein ausgezeichnetes Regulativ für seine Worte und Taten. Sie ist eine lebendige Chronik seiner Arbeit, seiner Bemühungen, seiner Fehler und Schwierigkeiten, die er bekämpft hat. Sie ist eine Legitimation seiner Fähigkeiten, ein Zeugnis für sein Tun, eine Abwehr gegen mögliche Vorwürfe. Die Zeitung ist ein dokumentarisches Lehrmittel von unschätzbarem Wert. Vielleicht führen Seminare schon bald Vorlesungen über pädagogischen Journalismus ein. Das Kameradschaftsgericht Wenn ich dem Gerichtswesen unverhältnismäßig viel Platz einräume, dann in der Überzeugung, dass es zum Ausgangspunkt für die Gleichberechtigung des Kindes werden kann, zu einer verfassungsmäßigen Regelung führt und zur Verkündung einer Deklaration der Rechte des Kindes zwingt. Das Kind hat ein Recht darauf, dass seine Angelegenheit ernsthaft behandelt und gebührend bedacht wird. Bis jetzt hing alles vom guten Willen und von der guten oder schlechten Laune des Erziehers ab. Das Kind war nicht berechtigt, Einspruch zu erheben. Dieser Despotismus muss ein Ende haben. Das Gesetzbuch des Kameradschaftsgerichtes Wenn jemand etwas Böses getan hat, so ist es am besten, ihm zu verzeihen. Wenn er es getan hat, weil er es nicht besser wusste, so weiß er es jetzt. Wenn er unabsichtlich etwas Böses getan hat, so wird er in Zukunft vorsichtiger sein. Wenn einer etwas Böses getan hat, weil es ihm schwerfällt, sich anzupassen, wird er sich nun damit Mühe geben. Wenn es geschehen ist, weil jemand ihn dazu überredet hat, so wird er dem in Zukunft nicht mehr folgen. Wenn einer etwas Böses getan hat, so ist es am besten, ihm zu verzeihen und zu warten, bis er sich bessert. Aber das Gericht muss die Stillen beschützen, damit die Starken ihnen nicht das Leben schwermachen; das Gericht muss die Gewissenhaften und Arbeitsamen gegen die Nachlässigen und Faulpelze in Schutz nehmen, das Gericht muss um

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Ordnung besorgt sein – denn Schlamperei beeinträchtigt vor allem die guten, stillen und gewissenhaften Menschen. Das Gericht ist nicht die Gerechtigkeit selbst, aber es sollte nach Gerechtigkeit streben, das Gericht ist nicht die Wahrheit, aber es ist um Wahrheit bemüht. Richter können sich irren. Richter können Taten bestrafen, die sie selbst begehen, und sagen, das, was sie selbst tun, sei schlecht. Aber es ist eine Schmach, wenn ein Richter bewusst ein unehrliches Urteil fällt. Wie macht man eine Anzeige ans Gericht? An einer sichtbaren Stelle hängt eine Tafel. Jeder hat das Recht, auf dieser Tafel seine Sache einzutragen: den eigenen Namen und den Namen dessen, den er dem Gericht anzeigt. Man kann bei Gericht die eigene Person, jedes Kind und jeden Erzieher, jeden Erwachsenen anzeigen. Jeden Abend trägt der Sekretär die Anzeigen in ein Buch ein, und am Tage darauf sammelt er die Aussagen ein. Aussagen können mündlich oder schriftlich gemacht werden. Die Richter Das Gericht tritt einmal wöchentlich zusammen. Die Richter werden durch das Los aus dem Kreise derer bestimmt, gegen die im Laufe einer Woche keine Streitsache anhängig war. Zur Verhandlung von je fünfzig Rechtssachen werden fünf Richter ausgelost. Es kann vorkommen, dass einhundertzwanzig Klagesachen zur Verhandlung anstehen. Fünfzehn Richter werden gebraucht. Aber es gibt nicht so viele, die im Verlaufe einer Woche keine einzige Rechtssache hatten. Liegen die Dinge so, dann erfolgt die Auslosung aus der ganzen Gemeinschaft; aber die Kollegien werden so zusammengestellt, dass keiner in eigener Sache zu Gericht zu sitzen hat. Die Urteile werden in Übereinstimmung mit dem Gesetzbuch gefällt, wobei der Sekretär das Recht hat, im Einverständnis mit den Richtern manche Rechtsfälle zur Überprüfung an den Gerichtsrat oder zur öffentlichen Verhandlung zu überweisen, damit alle zuhören und jede Einzelheit erfahren können. Der Sekretär des Gerichts ist ein Erzieher. Die Urteilssprüche werden in ein Buch eingetragen und vor allen Kindern verlesen. Wer mit seinem Urteil unzufrieden ist, kann seinen Rechtsfall zur erneuten Verhandlung stellen lassen, jedoch nicht vor Ablauf eines Monats. Der Rat des Gerichts Der Rat des Gerichts setzt sich aus einem Erzieher und zwei Richtern zusammen, die in geheimer Abstimmung für drei Monate gewählt werden. Der Gerichtsrat arbeitet außer den Urteilen Gesetze aus, die für alle verbindlich sind.

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Da die Richter des Rates auch Streitsachen haben können, werden fünf Richter in den Gerichtsrat gewählt, von denen nur drei zu Gericht sitzen. Der Sekretär Der Sekretär ist nicht als Richter tätig, er sammelt nur die Aussagen und verliest sie während der Sitzungen. Der Sekretär ist für die Gerichtstafel verantwortlich, er führt das Buch mit den Aussagen und Urteilssprüchen, die Tafel, auf der die Schadensfälle verzeichnet werden, er verwaltet den Verlustfonds, legt die Urteilskurve an und redigiert die Zeitung. Das Gericht als Ordnungshüter Wenn jemand zu spät kommt, Krach macht, stört, seine Sachen nicht auf ihren Platz legt, die Reihenfolge nicht einhält, alles verdreckt und das Haus verunreinigt, dort hineingeht, wohin der Eintritt verboten ist, anderen zusetzt, sich zankt und herumprügelt, der untergräbt die Ordnung. Man muss bedenken, was man dagegen tun kann. Das Gericht kann ihm verzeihen und erklären, er habe schlecht gehandelt, oder den Rat bitten, ihm doch zu gestatten, einige Male im Monat von der Hausordnung abzuweichen. Der Rat kann ihm Zeit geben, über sich selbst nachzudenken. Er kann dem einen erlauben, was keiner sonst darf: Soll er ruhig eine Ausnahme bilden. Sorge für die Erfüllung natürlicher Pflichten Wer nicht lernen oder arbeiten will, wer alles nachlässig macht, der schadet sich selbst und nutzt keinem. Wenn das Gericht nichts dagegen tun kann, muss man sich an den Rat wenden. Vielleicht ist der Betreffende krank, vielleicht muss man ihm Zeit geben, sich einzugewöhnen, möglicherweise muss man ihn ganz von der Arbeit befreien? Sorge um die Menschen Unterschiedliche Menschen leben hier zusammen. Dieser ist klein, jener groß; der eine ist kräftig, der andere schwächlich; dieser ist klug, jener weniger gescheit; der eine ist fröhlich, der andere traurig; einer ist gesund, dem anderen tut etwas weh. Das Gericht wacht darüber, dass der Große dem Kleinen nichts antut und der Kleine den Älteren nicht stört. Dass der Gescheite den Dümmeren nicht ausnutzt und sich nicht über ihn lustig macht. Dass der Zänkische die anderen nicht quält, aber dass auch er nicht schikaniert wird. Dass der Fröhliche keine dummen Witze über die Traurigen macht.

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Das Gericht muss darauf bedacht sein, dass jeder hat, was er braucht, dass es keine Unglücklichen und Verärgerten gibt. Das Gericht kann verzeihen, aber es kann auch erklären, dass einer unrecht gehandelt hat, schlecht, sogar sehr schlecht. Schutz des Eigentums Garten, Hof, Haus, Wände, Türen, Fenster, Treppen, Ofen, Fensterscheiben, Tische, Bänke, Schränke, Stühle, Betten – wenn man sie nicht sorglich behandelt, verkommen sie, werden ruiniert, schmutzig und unansehnlich. Ebenso Mäntel, Anzüge, Mützen, Taschentücher; Teller, Becher, Löffel, Messer – wenn man sie verliert, verschleißt, zerbricht, zerschlägt, dann ist es doch schade darum. Auch auf Bücher, Hefte, Federn, Spielzeug muss man achten und sie nicht verderben. Manchmal ist der Verlust gering, manchmal größer, einmal ist der Kummer klein, dann wieder groß. Wer einen Schaden angerichtet hat, meldet sich beim Gericht, das abwägt, ob er den Verlust selbst zu tragen hat oder ob der Schaden aus dem Gerichtsfonds gedeckt werden soll. Das betrifft auch das private Eigentum der Kinder. Schutz der Gesundheit Krankheit, Gebrechen und Tod – das sind schlimme Schicksalsschläge. Eine neue Fensterscheibe kann man einsetzen, einen verlorenen Ball wieder kaufen; aber was soll man tun, wenn einem ein Auge ausgeschlagen wird? Selbst wenn sich kein Unglück ereignet hat, ist es erforderlich, dass alle daran denken, wie notwendig es ist, vorsichtig zu sein. Der Gerichtsrat beschließt, wie lange eine Bekanntmachung über einen Unglücksfall oder eine Krankheit, die durch Unvorsichtigkeit verursacht worden sind, an der Gerichtstafel aushängen soll. Man weiß nicht, wer … Man weiß nicht, wer das gemacht hat. Niemand will es zugeben. Wenn man sich sehr bemüht, kann man es immer herausbekommen. Aber wie unangenehm ist es, zu fahnden, nachzuforschen, zu verdächtigen. Wenn etwas passiert ist, und man weiß nicht, wer es getan hat, erfolgt eine Anzeige gegen Unbekannt bei Gericht, ein Verfahren findet statt, die Richter beraten, und das Urteil wird an der Gerichtstafel ausgehängt. Wenn es sich um eine Tat handelt, die für die ganze Anstalt schmachvoll ist, beschließt der Rat, einen schwarzen Flicken zum Zeichen der Trauer auf die Anstaltsfahne zu heften.

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Alle machen es so … Wenn sich eine Sache oft wiederholt und man kann nicht alle vor Gericht stellen, muss man bedenken, was zu tun sei. »Alle kommen zu spät. Niemand hängt seine Mütze auf.« Das stimmt nicht, nicht alle, sondern viele. Einer macht das ein paarmal in der Woche, ein anderer einmal im Monat. Aber es trifft zu, es herrscht Unordnung. Der Rat beschließt, eine graphische Darstellung auszuhängen, oder er unternimmt etwas anderes, um der Schlamperei ein Ende zu setzen. Ausnahmen Einer kann sich nicht einfügen, einer stellt sich außerhalb von Gesetz und Recht. Man hat alles versucht, nichts hat geholfen. Was soll man tun? Wenn wir einem gestatten, was allen verboten ist, oder wenn wir ihn von dem befreien, was alle tun müssen, wird sich das nicht schlimm auswirken? Der Rat des Gerichts kann einen zum Ausnahmefall erklären, bis er selbst darum bittet, es nicht mehr sein zu wollen. Der Rat befindet darüber, ob diese Ausnahmefälle an der Gerichtstafel ausgehängt werden sollen. §§ l–99 Es gibt neunundneunzig freisprechende Paragraphen oder solche, die besagen: Das Gericht hat den Fall nicht behandelt. Danach ist alles so, als hätte es diesen Rechtsfall nie gegeben, oder aber der Schatten einer Schuld verpflichtet den Angeklagten, sich Mühe zu geben, damit dies nicht wieder vorkommt. § 100 Das Gericht erklärt nicht, dass einer etwas verschuldet hat, es erteilt keinen Tadel und ist nicht böse auf ihn; da es aber den Paragraphen 100 für die geringste Strafe hält, bezieht es diese in die graphische Darstellung der Gerichtsurteile ein. § 200 Der Paragraph 200 verkündet: »Er hat unrecht gehandelt.« »Es ist nun mal nicht anders, es ist passiert. Jedem kann das unterlaufen. Wir bitten darum, das nicht wieder zu tun.« § 300 300 besagt: »Er hat schlecht gehandelt.« Das Gericht spricht seine Missbilligung aus. Wenn bei den Paragraphen 100 und 200 das Gericht bittet, das eine oder das andere zu unterlassen, hier fordert und verlangt es, dass so etwas nicht wieder vorkommt.

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§ 400 400 – ein großes Verschulden. 400 besagt: »Das hast du sehr schlecht gemacht.« oder: »Du handelst sehr übel.« Paragraph 400 – das ist der letzte Versuch, die letzte Willensanstrengung, dem Schuldigen Schande zu ersparen, die letzte Warnung. § 500 Paragraph 500 besagt: »Wer eine solche Tat begeht, wen unsere Bitten und Forderungen so wenig angehen, der hat keine Selbstachtung, oder er macht sich nichts aus uns. Also können auch wir ihn nicht schonen. Das Urteil wird mit voller Namensnennung in der Zeitung auf Seite 1 bekanntgemacht.« § 600 Das Gericht lässt das Urteil an der Gerichtstafel aushängen und gibt es in der Zeitung bekannt. Wenn Paragraph 600 angewandt wurde, weil einer ständig das gleiche Unrecht tut, kann seine Vergehenskurve für längere Zeit in den Aushang kommen, aber anstelle des vollen Namens werden nur die beiden Anfangsbuchstaben genannt. § 700 Außer den Folgen, die Paragraph 600 nach sich zieht, wird der Inhalt des Urteils der Familie bekanntgegeben. Es kann nämlich sein, dass man den Verurteilten aus der Anstalt verweisen muss. Die Familie muss also vorher benachrichtigt werden. Wenn man kurzerhand mitteilt: »Nehmt ihn wieder zu euch«, dann kann die Familie es übelnehmen, dass man ihr nicht früher etwas gesagt, sondern den Fall verheimlicht hat. § 800 Paragraph 800 verkündet: »Das Gericht kann nichts mehr tun. Vielleicht würden Strafen etwas ausrichten, die früher einmal in Erziehungsanstalten angewendet wurden, aber bei uns gibt es diese Strafen nicht. Wir geben eine Woche Bedenkzeit. In dieser Woche kann er weder eine Anzeige an das Gericht einreichen, noch werden wir ihn bei Gericht anzeigen. Wir werden sehen, ob und für wie lange er sich bessert.« Das Urteil wird in der Zeitung bekanntgemacht, an der Tafel ausgehängt und der Familie mitgeteilt.

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§ 900 Paragraph 900 verkündet: »Wir haben alle Hoffnung verloren, dass er sich aus eigener Initiative bessern könnte.« Dieses Urteil besagt: »Wir glauben ihm nicht mehr.« Oder: »Wir haben Angst vor ihm.« Schließlich: »Wir wollen nichts mit ihm zu tun haben.« Mit anderen Worten, Paragraph 900 verweist von der Anstalt. Er kann jedoch bleiben, wenn ihn jemand auf seine eigene Verantwortung nimmt. Der Verwiesene kann zurückkehren, wenn er einen Betreuer findet. Der Betreuer verantwortet vor Gericht alle Vergehen seines Schützlings. Betreuer kann ein Erzieher oder eines von den Kindern sein. § 1000 Paragraph 1000 besagt: »Wir verweisen ihn von der Anstalt.« Jedem so Bestraften steht das Recht zu, nach Ablauf von drei Monaten um Wiederaufnahme zu bitten. Die Urteilskurve So wie im Krankenhaus jeder Kranke eine Fieberkurve hat, eine Tafel, die Krankheit und Gesundheit anzeigt, so hängt an der Gerichtstafel die Kurve der sittlichen Gesundheit der Anstalt – man kann also wissen, ob es gut oder schlimm damit steht. Wenn das Gericht bei einer Sitzung vier Urteile nach Paragraph 100 gesprochen hat (100 x 4 = 400), sechs Urteile nach Paragraph 200 (200 x 6 = 1200) und eines nach Paragraph 400, dann beträgt das zusammen: 400 + 1200 + 400 = 2000, und auf der Kurve nehmen wir zur Kenntnis, dass in dieser Woche die Schuldsprüche die Zahl 2000 ergeben haben.

Das Gesetzbuch Das Gericht fällt in dieser Sache kein Urteil. § 1: Das Gericht verkündet, dass A seine Klage zurückgezogen hat. § 2: Das Gericht hält die Anklage für sinnlos.

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§ 3: Das Gericht weiß nicht, wie sich die Sache wirklich verhält, verzichtet also darauf, in dieser Streitsache ein Urteil zu fällen. § 4: Das Gericht ist davon überzeugt, dass etwas Ähnliches nicht mehr vorkommen wird; also fällt es in dieser Sache kein Urteil. (Anmerkung: Diesem Paragraphen muss der Angeklagte seine Zustimmung erteilen.) § 5: In dieser Frage verzichtet das Gericht auf einen Urteilsspruch in der Annahme, dass diese Vergehen in nicht allzu langer Zeit von selbst aufhören. § 6: Das Gericht stellt diese Rechtssache auf eine Woche zurück. § 7: Das Gericht hat die Benachrichtigung über dieses Verschulden zur Kenntnis genommen. § 8: … § 9: … Das Gericht belobigt – dankt – drückt sein Bedauern aus. § 10: Das Gericht sieht in der Tat von A keine Vergehen, sondern ein Beispiel von Zivilcourage (von Tüchtigkeit, Rechtschaffenheit, Redlichkeit, edler Begeisterung, Aufrichtigkeit und Herzensgüte). § 11: Das Gericht bedankt sich dafür, dass A ihm seine Schuld mitgeteilt hat. § 12: Das Gericht bittet um Nachsicht dafür, dass es mit seiner Vorladung lästig gefallen ist. § 13: Das Gericht drückt sein Bedauern darüber aus, dass so etwas geschehen konnte, ohne jedoch A zu beschuldigen. § 14: … § 15: … § 16: … § 17: … § 18: … § 19: … Das Gericht kann keine Schuld feststellen. § 20: Das Gericht erkennt, dass A seine Pflicht erfüllt hat (er hat so gehandelt, wie es sich gehört). § 21: Das Gericht hält dafür, dass A recht hatte, so zu handeln (sich so zu äußern). § 22: Das Gericht ist der Auffassung, dass A recht hatte. § 23: Das Gericht meint, dass A den B nicht beleidigt hat. § 24: Das Gericht ist der Auffassung, dass A die Wahrheit gesagt hat.

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§ 25: Das Gericht hält dafür, dass A nichts Böses getan hat. § 26: … § 27: … § 28: … § 29: … Das Gericht gibt den äußeren Umständen – dem Zufall – vielen gemeinsam – einem anderen die Schuld. § 30: Das Gericht erkennt, dass A nicht anders handeln konnte. § 31: Das Gericht gibt den äußeren Umständen – dem Zufall – die Schuld, ohne A für das, was geschehen ist, zu beschuldigen. § 32: Da viele das Gleiche getan haben, wäre es unbillig, einen zu verurteilen. § 33: Das Gericht spricht die Verantwortung für das, was A getan hat, B zu. § 34: … § 35: … § 36: … § 37: … § 38: … § 39: … Das Gericht ersucht um Nachsicht. § 40: Das Gericht ist der Auffassung, dass B dem A nicht böse sein sollte. § 41: Das Gericht bittet darum, dass verziehen wird. § 42: … § 43: … § 44: … § 45: … § 46: … § 47: … § 48: … § 49: … Das Gericht verzeiht, denn es kann keine böse Absicht bemerken. § 50: Das Gericht verzeiht A, der nicht wissen konnte oder nicht begriffen hat, und es gibt der Hoffnung Ausdruck, dass so etwas nicht wieder vorkommt.

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§ 51: Das Gericht verzeiht A, der nicht ganz richtig verstanden hat, und drückt die Hoffnung aus, dass sich das nicht wiederholt. § 52: Das Gericht verzeiht A, der nicht wusste, dass es so kommen würde (er hat es unabsichtlich getan, aus Unvorsichtigkeit, weil er sich geirrt hat, aus Vergesslichkeit). § 53: Das Gericht verzeiht A, denn er hatte nicht die Absicht, B zu beleidigen (er hat ihm Verdruss bereitet). § 54: Das Gericht verzeiht, denn es handelt sich um einen Scherz (einen dummen Scherz). § 55: … § 56: … § 57: … § 58: … § 59: … Das Gericht verzeiht, nachdem es die schuldmildernden Umstände erwogen hat. § 60: Das Gericht verzeiht dem A, weil er es (wie er sagte) im Zorn getan hat, er von jäher Art ist – aber er wird sich bessern. § 61: Das Gericht verzeiht A, weil er es aus Eigensinn gemacht hat, aber sich bessern wird. § 62: Das Gericht verzeiht A, weil er es aus falschem Ehrgeiz getan hat, aber er wird sich bessern. § 63: Das Gericht verzeiht A, denn er ist zänkisch, aber er wird sich bessern. § 64: Das Gericht verzeiht A, denn er hat aus Furcht so gehandelt, er will mutiger sein. § 65: Das Gericht verzeiht A, weil er schwach ist. § 66: Das Gericht verzeiht A, denn er hat unter Druck so gehandelt. § 67: Das Gericht verzeiht dem A, denn er hat unüberlegt gehandelt. § 68: … § 69: … Das Gericht verzeiht, denn eine Bestrafung ist bereits erfolgt, es bemerkt, dass es dem Angeklagten leidtut. § 70: Das Gericht verzeiht, denn A ist für seine Tat bereits bestraft worden. § 71: Das Gericht verzeiht, denn A bedauert es, dass er so gehandelt hat. § 72: … § 73: …

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§ 74: … § 75: … § 76: … § 77: … § 78: … § 79: … Das Gericht verzeiht bedingt. § 80: Das Gericht verzeiht A, denn es ist der Meinung, dass nur Güte ihn bessern kann. § 81: Das Gericht versucht es mit einem Freispruch. § 82: Das Gericht verzeiht und gibt die Hoffnung nicht auf, dass A sich bessern wird. § 83: … § 84: … § 85: … § 86: … § 87: … § 88: … § 89: … Außergewöhnliche Freisprüche § 90: Das Gericht verzeiht, nachdem es erwogen hat, dass A so sehr von seinen Wünschen bestimmt war, dass es ihm an Kraft fehlte, um sich zu bezwingen. § 91: Das Gericht verzeiht, denn A ist erst seit kurzer Zeit bei uns und kann eine Ordnung ohne Strafanwendung noch nicht begreifen. § 92: Das Gericht verzeiht, weil A uns bald verlassen wird und das Gericht es vermeiden will, dass er im Zorn von uns geht. § 93: Das Gericht verzeiht dem A, weil es der Auffassung ist, dass ihn übertriebenes Wohlwollen und übermäßige Nachsicht seitens aller anderen verdorben haben; das Gericht weist A nachdrücklich darauf hin, dass vor dem Gesetz alle gleich sind. § 94: Das Gericht berücksichtigt die inständige Bitte des Freundes (des Bruders, der Schwester) und verzeiht A. § 95: Das Gericht verzeiht A; denn es war unter den Richtern eine Stimme, die dies nachdrücklich verlangte. § 96: Das Gericht verzeiht A, denn A will etwas, das zu seiner Rechtfertigung dienen könnte, nicht sagen. § 97: … § 98: … § 99: …

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§ 100: Ohne zu verzeihen, stellt das Gericht fest, dass A das getan hat, was ihm in der Anklage vorgeworfen wird. § 200: Das Gericht erkennt, dass A unrecht gehandelt hat. § 300: Das Gericht erkennt: A hat schlecht gehandelt. § 400: Das Gericht erkennt, dass A sehr schlecht gehandelt hat. § 500: Das Gericht erkennt: A hat sehr schlecht gehandelt. Das Urteil ist in der Zeitung bekanntzugeben. § 600: Das Gericht erkennt, dass A sehr schlecht gehandelt hat. Das Urteil ist in der Zeitung bekanntzumachen und an der Tafel auszuhängen. § 700: Das Gericht erkennt, dass A sehr schlecht gehandelt hat. Das Urteil ist in der Zeitung bekanntzugeben, an der Tafel auszuhängen und der Familie mitzuteilen. § 800: Das Gericht entzieht A die Rechte der Gemeinschaft auf die Dauer einer Woche und lädtt die Familie vor, um sich mit ihr zu verständigen. Das Urteil wird in der Zeitung und durch Tafelaushang bekanntgegeben. § 900: Das Gericht sucht einen Betreuer für A. Wenn sich im Verlaufe von zwei Tagen kein Betreuer findet, wird A von der Anstalt verwiesen. Das Urteil wird in der Zeitung bekanntgegeben. § 1000: Das Gericht verweist A aus der Anstalt. Das Urteil wird in der Zeitung bekanntgemacht. Urteilszusätze a) Das Gericht dankt für wahrheitsgemäße Aussage. b) Das Gericht wundert sich, dass A nicht selbst Anzeige erstattet hat. c) Das Gericht bittet darum, dass so etwas nicht wieder vorkommt. d) Das Gericht appelliert an den Rat und bittet darum, so etwas in Zukunft zu verhüten. e) Das Gericht bittet den Rat um die Genehmigung, die Vollstreckung des Urteils aussetzen zu dürfen. f) Das Gericht drückt die Befürchtung aus, A könnte einmal ein schlechter Mensch werden. g) Das Gericht gibt der Hoffnung Ausdruck, dass aus A einmal ein tüchtiger Mensch wird.

Gerichtszeitung Nr. 1 Über das Kameradschaftsgericht Die Erwachsenen haben ihr Gerichtswesen. Diese Gerichte der Erwachsenen sind nicht gut. Deshalb werden sie im Verlaufe von einigen Jahren immer wie-

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der ein wenig umgeändert. Die Erwachsenengerichte setzen verschiedene Strafen fest: Geldstrafen, Arrest, Gefängnis, Zwangsarbeit, sogar Todesstrafe. Diese Gerichte sind nicht immer gerecht: Manchmal zu mild, manchmal zu streng, manchmal irren sie sich. Da sagt einer, er sei unschuldig, aber man glaubt ihm nicht; ein anderer ist schuldig, aber er redet sich heraus. Und immer noch denken die Menschen darüber nach, was man tun könnte, damit die Gerichte wirklich Gerechtigkeit üben. Aber es gibt auch Menschen, die sinnen darüber nach, was zu tun sei, damit Gerichte überflüssig werden und damit die Menschen nichts Böses tun. In den Schulen sitzt der Lehrer zu Gericht, in den Schulen setzt er die Strafen fest: Er stellt einen in die Ecke, weist einen hinaus, sperrt einen ein, oft brüllt er, manchmal schlägt er auch. Es gibt Strafen, da bekommt man kein Mittagessen und darf seine Familie nicht besuchen. Auch hier sind Zorn und Strafe nicht immer berechtigt. Also denken auch hier die Menschen darüber nach, was zu tun sei, was man ändern müsse. Es hat schon verschiedene Versuche gegeben, und es wird immer wieder neue Anstrengungen geben. Ein solcher Versuch ist auch unser Kameradschaftsgericht. Das Kameradschaftsgericht befindet, ob einer Recht hat oder Unrecht, das Gericht verzeiht ihm, oder es verzeiht ihm nicht, ist erzürnt und wendet den Paragraphen 100 an – das bedeutet, dass das Gericht verstimmt ist – oder die Paragraphen 200, 300, 400. Das Gericht ereifert sich nicht, es schreit nicht, schimpft nicht und beleidigt niemanden; in aller Ruhe erklärt es: »Du hast Unrecht getan, du hast schlecht, sehr schlecht gehandelt.« Manchmal versucht das Gericht auch, einen zu beschämen: Vielleicht wird der Beschämte sich besser in Acht nehmen. Unser Gericht hat schon fünfmal getagt. Es tritt jede Woche zusammen und hat zweihunderteinundsechzig Fälle beraten. Und wenn man auch schwerlich sagen kann, ob der Versuch gelungen ist, so kann man doch bereits einiges darüber berichten. Die erste Woche hat uns vierunddreißig Rechtssachen gebracht. Alle Angeklagten hatten sich selbst bei Gericht angezeigt. Dreimal haben wir einen Zettel ausgehängt. Auf dem ersten stand geschrieben: »Wer gestern zu spät gekommen ist, wird gebeten, sich beim Gericht zu melden.« Dreizehn Kinder meldeten sich. Auf dem zweiten Zettel, ein paar Tage später, war zu lesen: »Wer ausgegangen ist, ohne davon Kenntnis zu geben, möge sich bitte beim Gericht melden.« Es meldeten sich sechs Kinder.

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Auf der dritten Karte wieder einige Tage später stand folgende Aufforderung: »Wer gestern im Schlafsaal laut war, soll sich bitte beim Gericht melden.« Diesmal meldeten sich fünfzehn Kinder. Auf diese Weise kamen vierunddreißig Fälle zusammen, die das Gericht bei seiner ersten Sitzung behandelte. Das Gericht verzieh allen. In der einleitenden Erklärung zur Einrichtung des Kameradschaftsgerichts heißt es: »Wenn jemand etwas Böses tut, so ist es am besten, wenn man ihm verzeiht.« Und das Gericht verzieh. Nur neunzehnmal erklärte das Gericht: »Schuldig.« Nur zehnmal sagte das Gericht: »§ 100.« Nur sechsmal: »§ 200.« Nur zweimal: »§ 300.« Nur einmal: »§ 400.« Wir wissen, da gibt es einige, denen es missfällt, dass das Gericht zu vieles verzeiht. In unserem Kodex gibt es den Paragraphen 1. Der erste Paragraph besagt: »Die Klage wurde zurückgezogen.« Das bedeutet, dass derjenige, der Anzeige gemacht hat, von sich aus verzeiht. Von allen Paragraphen kommt dieser am häufigsten vor. Es gab einhundertzwanzig Fälle, wo der eine einen anderen angezeigt hatte. Auch hier hat in zweiundsechzig Fällen der Anzeigende später selbst verziehen. Es gibt einige, die da sagen: »Was ist denn das für eine Strafe – Paragraph 100 oder 200?« Für die einen ist es wirklich eine Strafe, für die anderen nicht. Wenn man einem böse ist, dann ist das auch keine Strafe: »Was soll das? Sie haben mich ausgeschimpft und sind böse auf mich, aber was geht mich das an?« Es gibt einige, die so sprechen. Oft ist es auch so, dass einer, wenn er hinausgeworfen, in der Klasse eingeschlossen, ja sogar geschlagen wird, gleichfalls sagt: »Was ist schon dabei? Ich habe hinter der Tür gestanden – war eine Stunde eingesperrt – es hat mir gar nicht wehgetan.« »Wer da behauptet, § 100 sei keine Strafe, der soll einmal ganz ehrlich sagen, ob er ein Gerichtsverfahren haben und § 100 oder 200 bekommen will oder nicht? Wenn § 100 auch keinen großen Verdruss bereitet, wir wollen ja gerade, dass sich alle gut benehmen, in dem Bestreben, auch geringe Strafen, kleine Unannehmlichkeiten zu vermeiden.« Uns geht es sogar darum, dass sich alle ohne Furcht, ohne Ärger, ohne Gericht einwandfrei benehmen. Vielleicht wird es einmal in Zukunft so sein.

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§ 100 – Das ist wirklich eine Strafe, jeder wird das verstehen. Und wer etwas anderes sagt, der hat sich das weder richtig überlegt, noch will er die Wahrheit sagen. Je länger das Gericht bestehen wird, desto mehr werden wir es uns abgewöhnen, böse zu werden, zu schimpfen und zu bestrafen; umso größere Bedeutung wird nicht nur der Paragraph 100 haben, sondern auch jene Paragraphen, die Verzeihung gewähren.“ Es gibt solche, die sagen: »Wegen jeder Dummheit gleich beim Gericht Anzeige erstatten …« Auch das stimmt nicht ganz. Wir wissen nicht immer, ob jemand sich selbst oder einen anderen nicht nur zum Spaß angezeigt hat. Es gibt den Paragraphen 2, der besagt: »Das Gericht ist der Auffassung, dass es sich nicht lohnt, sich mit der Erörterung solcher Fälle zu befassen.« In zweihunderteinundsechzig Fällen hat das Gericht es nur viermal für richtig erachtet, keinen Urteilsspruch in der Sache zu fällen, wegen Geringfügigkeit. Nur viermal! Auch in diesen Fällen können wir nicht sagen, ob es sich nicht um einen Scherz, einen törichten Scherz gehandelt hat. Manchmal ist auch eine geringfügige Sache sehr schmerzlich. Die Menschen sind nun einmal verschieden. Einer weint über Dinge, die einen anderen zum Lachen bringen. Ein Verfahren wegen des Gebrauchs von Spitznamen – ist das nun eine Lappalie oder nicht? Dem Anschein nach ja, aber wie viele Tränen sind deshalb nicht schon vergossen worden. Wir hatten uns in dreiundvierzig Verfahren damit zu beschäftigen. Und es gab einige, die sehr darunter litten – denn es ist schwierig zu bestimmen, was nun ein harmloser Spitzname ist oder wo hier die Intrige oder schlimmer noch die Hetze beginnt. Ist es eine Bagatelle, wenn man einen zum Spaß mit Wasser begießt oder ihm etwas wegnimmt und ihn reizt und es nicht mehr abgeben will? Wenn ich bei guter Laune bin, werde ich selbst mitlachen; aber wenn ich einen Kummer habe, ärgern mich solche Scherze und tun mir weh, ich habe schließlich ein Recht darauf, heute nicht dazu aufgelegt zu sein oder mich jedenfalls nicht mit jedem herumzuärgern. Das Gericht existiert erst seit einem Monat. Nicht alle haben bereits seinen Sinn verstanden. Wir sind sicher, dass es immer weniger Verfahren geben und dass sich das Gericht Achtung verschaffen wird. Es gibt da welche, die sagen: »Was soll da so ein Knirps über mich zu Gericht sitzen.« Zunächst, es gibt fünf Richter und unter ihnen ist immer auch ein Älterer. Und dann, nicht jeder kleine

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Kerl ist dumm. Zum Dritten, um Recht sprechen zu können, bedarf es der Rechtschaffenheit, und rechtschaffen kann auch ein kleiner Junge sein. Vielleicht ist es für einen Älteren peinlich, wenn ein Kleiner über ihn zu urteilen hat. Aber das Gericht ist nun einmal nicht zum Vergnügen da. »Es ist misslich, Richter zu sein«, so ließen sich einige Stimmen vernehmen. Wir glauben, dass dem so ist. Und gerade deshalb werden die Richter durch das Los bestimmt. Diese Methode ist besser als eine Abstimmung. Wenn einer oft und lange Zeit zu richten hat, dann kann er leicht Schaden leiden, dann lernt er fremde Schuld so zu betrachten, als sei er selbst ohne Sünde. Aber wenn jemand einmal Richter ist, dann kann er auch vieles lernen: Er sieht, wie schwierig es ist, gerecht zu sein, und wie lebenswichtig die Gerechtigkeit ist. Erst seit fünf Wochen haben wir ein Gericht. Man kann noch nicht allzu viel sagen, aber es will uns scheinen, dass das Gericht schon manches Gute bewirkt hat. Wenn man zu einem sagt: »Lass das bleiben oder ich melde dich dem Gericht«, und er hört auf, so hat das Gericht, ohne es selbst zu wissen, doch etwas Nützliches bewirkt, nämlich einen Schutz und eine Sicherung. Wir wissen, dass unter Lachen oft geäußert wird: »Ich melde dich bei Gericht.« Wer ist wohl so dumm, dass er Scherz und Ernst voneinander nicht unterscheiden könnte? Oft ist es auch so, dass jemand lachend sagt: »Du kannst mich ja dem Gericht melden.« Das kann manchmal ein harmloser Scherz, aber manchmal auch eine zornige Aufwallung gegen das Gericht sein, das ernsthaft, ruhig und untadelig jeden Fall überprüft, keinem Hilfe verweigert, wenn er darum bittet – immer Zeit aufbringt für Nachfragen oder um Anklage oder Verteidigung anzuhören, das sich nicht übereilt und auch die geringfügigste Angelegenheit, in der immer ein Kummer oder ein Ärgernis verborgen sind, nicht mit einem Scherz abtut. Ja, das Gericht ist unbequem für jene, die man »Speichellecker« nennt, und für die anderen, von denen man sagt, sie seien »stille Wasser« (die die Uferböschung einreißen), und für die Gewitzten, die viel Schlimmes anrichten, dabei aber Vorsicht walten lassen. Der Speichellecker weiß, dass er beliebt ist, also hat er keine x-beliebige Scheußlichkeit angestellt, er kann sich viel mehr erlauben. Ein Stiller setzt einem bisweilen mehr zu als einer, der herumschreit und auf andere einschlägt. Und der Gewitzte bringt es fertig, sich aus einer unguten Angelegenheit herauszuwinden. Und deshalb ist es für sie bequemer ohne Gericht, darum wollen sie es lächerlich machen und seine Autorität untergraben. Aber das Gericht ist nicht empfindlich, es wird weiterhin aufmerksam nach Verbesserungen und Abhilfen suchen und inzwischen seine Aufgaben erfüllen, nach bestem Wissen und Gewissen.

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So ist das nun, und so wird es immer bleiben, dass einer zehn Verfahren in einem Monat hat, während ein anderer nur einmal im Jahr vor Gericht geladen wird. Dagegen ist nichts zu machen, aber das ist auch gar nicht notwendig. Mag es sich jeder selbst einrichten, wie er es mit dem Gericht halten will. Groß war die Befürchtung, ob das Gericht sich würde zu helfen wissen, wenn es allzu viele Verfahren gäbe. Jetzt gibt es dieses Bedenken nicht mehr. Das Gericht vermag in einer oder in höchstens zwei Stunden die Verfahren der ganzen Woche zu erledigen, wenn es auch einhundert oder mehr wären. Aber bekanntlich ist aller Anfang immer schwer. Wenn das Gericht eine solche Ordnung einführen könnte, dass man sich überhaupt nicht mehr zu ereifern und strikte Kontrollen auszuüben brauchte, sondern nur einmal wöchentlich in einer Stunde alles Übel der letzten acht Tage erledigen, zusammenkehren müsste, so wie man abends oder am Morgen ein Zimmer auskehrt – das wäre wohl sehr bequem und gut. Überprüfen wir doch jetzt einmal einige Fälle, über die in den letzten Wochen verhandelt wurde: Vielleicht werden wir uns auf diese Weise davon überzeugen können, dass der Nutzen des Gerichtes eben darin liegt, dass es friedfertig ist, dass es weder schlechte noch gute Laune hat, dass es niemanden gern mag oder nicht gern mag, dass es sich in Ruhe Erklärungen anhört. Fall Nr. 21. Im Schlafsaal darf nicht gelärmt werden. Aber man hatte ihm das Bettzeug durcheinandergeworfen, also hat er wütend und laut herumgeschimpft: § 5.· Fall Nr. 42. Sie hatten ihn zum Spaß mit Wasser begossen. Was sollte er machen? Auch zur Wasserkanne greifen, dreinschlagen, sich streiten? Man könnte auch Nachsicht üben, verzeihen. Gewiss wird er das auch tun, aber nicht jetzt, nicht sofort. Er wird verzeihen, aber man soll ihm das nicht wieder antun. Fall Nr. 52. Da geht ein Mädchen auf Stelzen. Ein Junge kommt dazu. »Gib mir die Stelzen.« Sie will nicht. Der Junge haut auf sie ein, reißt ihr die Stelzen weg, schubst sie, schlägt ihr ins Gesicht. Das Mädchen weint; anstatt fröhlich zu spielen, muss sie nun traurig sein. Warum, weswegen? Sie meldet den Jungen dem Gericht, aber dann verzeiht sie ihm: § 1. Fall Nr. 63. Alle verlachen ihn und geben ihm Spottnamen. Anfangs hat er sich sehr gegrämt, später gewöhnte er sich daran. Was hilft’s – man kann sich ja nicht mit aller Welt herumschlagen und zanken. Plötzlich ist da das Gericht – Ankündigung einer neuen, besseren Ordnung. Er sucht sich also einen heraus, der ihn am häufigsten, zudringlichsten verspottet – und meldet ihn dem Gericht. Wir

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laden ihn einen Monat später wieder vor. »Setzen sie dir jetzt nicht mehr so zu?« Ja, aber es ist nicht mehr so schlimm. Ein dankbares Lächeln für das Gericht, das ihn in Schutz genommen hat. Fall Nr. 67. Bei der Rückkehr von einem Familienbesuch hat sie sich verspätet. Weshalb? Sie hat nur eine Tante und sonst keinen Menschen mehr. Zu ihrer Tante ging sie nicht, denn sie mochte sie nicht. Warum, das ist nicht unsere Sache. Schließlich ging sie doch hin, söhnte sich mit der Familie aus und ging mit einer Cousine spazieren; sie setzten sich ins Gras nieder und unterhielten sich, und sie vergaß dabei, dass es längst Zeit war, nach Hause zurückzukehren. Das Gericht verzieh ihr. Fall Nr. 82. Das diensthabende Mädchen will ihm die Fingernägel beschneiden: Er behauptet, er könne bei der Pflanzarbeit nicht auskommen ohne sie (er arbeitet bei einem Gärtner). In vier Tagen ist diese Arbeit beendet, dann hat er nichts gegen das Abschneiden. Hat er recht? § 61. Fall Nr. 96. Die alte Namensliste für das Bettenlüften ist abgelaufen, eine neue noch nicht aufgestellt. Das diensthabende Mädchen fragt: »Wer will das Lüften übernehmen?« Keiner will. Sie wendet sich an zwei Jungen: »Dann macht ihr das mal.« Die beiden wollen nicht, sie waren erst kürzlich dran. § 1. Fall Nr. 107. Sie hat ein Buch aus dem Lesezimmer mit auf den Hof genommen, wo sie Kartoffeln schälte. Sie hat das vergessen und das Buch auf einer Bank liegen gelassen. Da kam ein zweijähriges Kind und hat das Buch zerrissen. § 70. Fall Nr. 120. Ein Reifen war in den Nachbarhof geflogen. Sie gingen, ihn zu suchen. Den Reifen hatte ein kleiner Junge gefunden und wollte ihn nicht abgeben. Ein Streit entstand. Man beklagte sich bei uns, weil die Jungen sich ungehörig benommen hatten. § 3. · Fall Nr. 127. Er hatte sich versehentlich eine fremde Jacke angezogen. Durch solche Irrtümer kann Krätze übertragen werden. § 31. Fall Nr. 144. Er hat einen Gürtel weggenommen und wollte ihn nicht abgeben. Er hat ihn zum Spaß genommen, zum Spaß abgeben will er ihn nicht. Er läuft weg und lacht. »Gib sofort her!« »Da hast ihn.« – Und er läuft weg und macht sich über ihn lustig. Gewiss keine so wichtige Angelegenheit. Aber dieser und ähnliche Fälle lehren, dass nicht jeder derartige Scherze liebt, und wer sie liebt, der ist nicht immer dazu aufgelegt und will sich nicht mit jedem herumzanken oder balgen. § 54.

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Fall Nr. 153. Er hat die Tür zugeknallt und sich selbst angezeigt. Was tut’s, dass nicht jeder, der die Tür zuschlägt, das auf der Gerichtstafel vermerkt. Was hat es zu besagen, dass ein anderer wirklich etwas Schlimmes anstellt und es verheimlicht. Interessant sind gerade diese Bagatellsachen, denn sie sind Ausdruck der Wachsamkeit des Gewissens. Derartige Fälle sind recht zahlreich, und wir nehmen an, dass es noch mehr werden. Es gibt Menschen, denen es unerträglich ist, etwas Böses zu tun und dafür nicht bestraft zu werden. § 31. Fall Nr. 160. Den vorderen Hof darf man nur zu bestimmten Stunden betreten. Ein älteres Mädchen geht hinaus, der Diensthabende, ein kleinerer Junge, verbietet es ihr. Ihr gefällt das nicht, sie will nicht auf den Jüngeren hören. Was soll er tun? Er meldet sie bei Gericht. Das Gericht wird ihr den Kopf nicht abreißen. Es verzeiht, spricht aber die Hoffnung aus, dass so etwas nicht wieder vorkommt. Und diese Hoffnung des Gerichtes verpflichtet. Fall Nr. 165. Eine Klagesache wegen einer ungerechtfertigten Verdächtigung. Wir hatten einige solcher Fälle. Eine zu Unrecht ausgesprochene Verdächtigung wird oft schmerzlicher empfunden als ein Schlag. Ein Mädchen zählt ihre Groschenstücke. Ein Junge kommt hinzu: »Zeig mal her.« Sie antwortet: »Ich will nicht.« – »Du willst sie mir nicht zeigen, weil du sie gestohlen hat.« – Er hat gestern einen Groschen verloren und nach ihm gesucht. Sie weiß nichts davon, aber selbst, wenn sie es wüsste, wie kann er seinen Groschen wiedererkennen, und mit welchem Recht beleidigt er sie? § 1. Fall Nr. 167. Einem Mädchen ist die Korallenkette zerrissen, sie sammelt die Perlen und fädelt sie auf und quält sich dabei. Sie bückt sich und da legt man ihr Kirschkerne auf den Hals. – »Hör auf«, sagt sie verärgert. – »Und was kannst du mir machen, wenn ich nicht aufhöre?« – »Ich melde dich dem Gericht.« – »Das mach du nur.« Der Gerichtstag ist da: Die Klage wurde zurückgezogen. § 1. Wir haben bereits erwähnt, dass mehr als ein halbes Hundert derartige Fälle zu verzeichnen waren. Vielleicht irren wir uns, aber uns will scheinen, dass die einen auf diese Weise Achtung vor dem Nächsten und die andern Nachsicht zu üben lernen. Fall Nr. 172. Er war auf einen Baum geklettert, um einem Kameraden zu zeigen, was er kann, und er hatte sich selbst angezeigt, weil er wusste, dass es verboten war. § 51. Fall Nr. 206. Ohne zu wissen, dass es verboten sei, hatte er seinen Napf in der Garderobe ausgewaschen. Er erfuhr es und schrieb an das Gericht. § 51.

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Fall Nr. 218. Man hatte ihn dazu überredet, dem Gericht eine Anzeige zu erstatten. Er hat das getan, sieht jetzt aber, dass er eine Dummheit begangen hat: Derjenige hätte die Anzeige erstatten müssen, der sich ereifert hatte. § 1. Fall Nr. 223. Vier Jungen hatten an einem Tisch Schularbeiten gemacht. Danach war der Tisch mit Tinte beschmiert. Das Gericht stellte ein Verhör an, und es zeigte sich, dass nur einer auf den Tisch 36 : 3 geschrieben hatte und einem war Tinte ausgetropft. Ohne das Gericht wäre man auf alle erbost gewesen. § 4. Fall Nr. 237. Sie machten Unsinn und jagten einander, bis ein Junge einem anderen einen starken Stockschlag versetzte. Die Hand schmerzte sehr – er schrieb an das Gericht, der Schmerz ließ nach – § 1 trat in Kraft. Fall Nr. 238. Vielleicht erscheint manchem auch dieser Fall lächerlich. Zwei Jungen hatten im Klosett ihr Geschäftchen besorgt. Der eine hatte irrtümlich und unabsichtlich den andern nass gemacht, worauf jener absichtlich auf ihn zielte. § 200. Fall Nr. 252. Die Stockwerk-Aufsicht hat viel Ärger mit ihm. Einmal vergisst er etwas, dann wieder muss man ihn suchen, oder er fegt unsorgfältig. Sie hatte ihm oft gedroht, ihn dem Gericht zu melden. Es hatte nichts geholfen. Schließlich verlor sie die Geduld und meldete ihn. Aber dann verzieh sie ihm wieder. Vielleicht wird er sich bessern. Fall Nr. 254. Die Diensthabenden fegen abends den Hof. Einer von ihnen hat das Klosett in Ordnung zu bringen. Beide haben sich vor dem Schlafengehen noch die Füße zu waschen. Da werden sie zum Spaß auf dem Hof eingeschlossen und niemand will ihnen öffnen. § 100. Fall Nr. 258. Immer kommt sie zu spät. Die Diensthabende fordert sie auf, den Waschraum zu verlassen, aber sie ist erbost und will nicht hören und schreit: »Ich will aber, du bist nur wütend auf mich!« Auch hier wird nach ein paar Tagen Verzeihung gewährt, aber zunächst ersetzt eine Meldung an das Gericht den Streit. § 1. Fall Nr. 260. Er hatte morgens vor dem Wecken Krach gemacht und sich selbst beim Gericht angezeigt. Das Gericht verzeiht und bittet sich aus, dass so etwas nicht mehr vorkommt. § 32.

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Gerichtszeitung Nr. 9 »Ich habe keine Angst« Das Gericht kann nichts tun. Vor dem Gericht hat keiner Angst – solche Meinungen hört man oft. Also wollen die einen keine Meldung an das Gericht machen, und vertuschen, was eigentlich vor das Gericht gehörte. Die anderen gewähren von vornherein den § 1, weil das Gericht ja doch keinem etwas antut. Die Dritten schließlich sagen: »Melde mich nur, ich habe ja doch keine Angst.« Und so kommen immer mehr Fälle dem Gericht gar nicht erst zur Kenntnis. Bis schließlich H., als Diensthabender abgesetzt, es weder selbst für notwendig hielt, diesen Fall dem Gericht zu melden, noch einer von denen, die davon wussten. Nicht nur H., sondern auch die älteren Mädchen und später auch die Jungen stellten ihre Meldungen gegen sich selbst ganz ein. Umso interessanter ist es, dass es dennoch einige gab, die bis zum letzten Augenblick Meldung gegen sich selbst erstatteten. Das beweist, dass es überall Menschen gibt, die nicht tun, was »alle« machen, sondern sich nach ihrem Gewissen richten und von ihrem Verstand leiten lassen. Das Gericht kann nichts tun. Immer ist es leichter zu sagen, etwas taugt nichts, als nachzudenken. Zum Schwatzen finden sich immer Zungen genug, nur zum Denken sind Köpfe schwer zu finden. Da hat einer gesagt: »Das Gericht kann nichts tun«, und alle anderen stimmen wie die Hammel im Chore ein: »Es kann nichts tun.« Aber am lautesten schrien diejenigen, für die das Gericht unbequem, beschwerlich und bedrohlich war. Denn das Gericht gewährte das Recht, Klage zu erheben und ihre Berechtigung zu überprüfen. »Er wird den § 4 oder auch 54 bekommen.« Für den einen genügt sowohl § 1 als auch § 4 und § 54, bei einem anderen bleibt auch § 8oo wirkungslos. Aufgabe des Gerichts ist es, Ordnung unter Menschen einziehen zu lassen, aber es kann weder Wunder bewirken noch liegt das in seiner Absicht. Es wäre ein Wunder, wenn ein Faulpelz, nachdem er nach § 100 bestraft worden ist, plötzlich arbeitsam werden würde, oder ein Hitzkopf von lautem und zänkischem Wesen ruhig wird und gut zu leiden ist. Ebenso ist es in der Schule: Keiner verwandelt sich von einer Minute zur andern vom Ignoranten zum Musterschüler, nachdem er empfindlich bestraft worden ist oder eine Zwei bekommen hat. Aber das Gericht ermöglicht es jedem, zu sagen: »Ab morgen werde ich mich in Acht nehmen. Ich nehme mir vor, so etwas nicht mehr zu machen. Ich will mich vorsehen.«

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Und wenn ihn jemand darin behindern wollte, so kann er diesen dem Gericht melden. Ein Beispiel. Ein zänkischer Geselle nimmt sich vor, nicht mehr so jähzornig zu sein. Gewiss wird man ihn absichtlich reizen, denn es gibt solche, die es nicht gern sehen, wenn sich jemand bessern will, und er meldet diejenigen, die Streit mit ihm suchen. Was hat es schon zu bedeuten, dass auch sie ihn wegen ungerechtfertigter Anzeige melden. Das Gericht wird schon wissen, was es davon zu halten hat. Das Gericht kann keine Wunder tun, aber solche Wunder werden weder durch Bitten noch durch Drohungen, weder durch Unwillen noch durch den Stock vollbracht. Auch dort, wo man hart bestraft, gibt es einige, die sagen: »Nun, was macht’s! Hat mir ja gar nicht weh getan.« Und sie bessern sich nicht, sondern verschlechtern sich eher, werden gemein. »Es hilft nichts. Also was ist zu tun – soll ich ständig dem Gericht Meldung machen?« Aber wie sonst? Ist das wirklich eine so große Mühe? Ch. wurde anfangs ständig und von allen attackiert, er meldete das, sie lachten ihn aus, reizten ihn, aber er erstattete immer wieder Anzeige. Schließlich hörten sie auf, ihn auf’s Korn zu nehmen, und so stellte auch er seine Anzeigen ein. Ich bin sicher, dass ein unzulänglicher Diensthabender sich schließlich würde bessern müssen, wenn man ihn im Verlauf von zwei Wochen täglich dreimal dem Gericht meldete. Die Stockwerk-Aufsichten waren nur zu träge, um eine schriftliche Meldung abzugeben, es war für sie bequemer, sich zu entrüsten, zu schimpfen und die Hände zu ringen, weil sie sich nicht zu helfen wussten. Denn wenn sie dem Gericht Meldung machten, setzten sie sich der Gefahr aus, selbst nicht Recht zu bekommen. Sie halten sich nämlich für unfehlbar, und anstatt etwas freundlich zu sagen, fangen sie oft zu streiten an und haben keine Geduld, ein paar Tage zu warten. Es gibt zu viel Bosheit in der Kindergemeinschaft, und deswegen wurde das Gericht zum Instrument der Rache. Diese Bösartigkeit verlangte, den Gemeldeten zumindest sofort aufzuhängen und deswegen erschienen § 4 und § 100 keinem genug. Als wir im Sommer einmal über den Jähzorn gesprochen hatten, schrieb ein Junge: »Wenn ich böse bin, dann würde ich einen totschlagen!« Das Gericht hat keinen totgeschlagen, also machte man ihm Vorwürfe. Es gab aber auch andere Klagen: »Das Gericht hört eine Seite an, aber nicht die andere.« Wenn ein Kleiner einen Älteren gemeldet hatte, stellte sich der Ältere nicht, obwohl er geladen war. Da war nichts zu machen. Die Älteren betraten überhaupt nicht den Klassenraum, obwohl man sie darum gebeten hatte.

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Die Missachtung des Gerichts war ein Beweis dafür, dass man es in seiner Aufgabenstellung überhaupt nicht verstand. Was noch schlimmer war: Man machte sich darüber lustig. Zu Gericht zu sitzen war für die einen ein Spiel, für die andern eine unangenehme Pflicht, derer man sich gern entledigen wollte. »Absichtlich melde ich dem Gericht etwas, um nicht Richter sein zu müssen.« Das stimmte entweder nicht, oder es war ein hässlicher Betrug. Anstatt der Wahrheit zu dienen, verleitete das Gericht zum Lügen, anstatt Aufrichtigkeit zu lehren, unterwies es im Schwindeln, anstatt die Zivilcourage auszubilden, erzog es zur Feigheit, anstatt das Denken anzuregen, machte es die Kinder träge. Es gab immer mehr unaufgeklärte Fälle, niemand bekannte sich zu einem Vergehen. Warum? Wenn sie das Gericht schon nicht fürchteten, weshalb verheimlichten sie solche Dinge? Da hat einer in fremden Kassetten herumgestöbert, aber er hat nicht den Mut, zu sagen: »Das war ich.« Einer hat eine Feder genommen; er fürchtet das Gericht nicht, aber er gibt auch nicht zu: »Ich habe das getan.« Schlimmer war noch, dass sie böse auf jene waren, die behaupteten, dass ihnen etwas verschwunden sei. Es kam soweit, dass sich jeder fürchtete, seinen Verlust zu nennen, wenn man ihm etwas weggenommen hatte; denn er wusste, dass er es nicht wiederfinden, sondern nur vermeidbare Unannehmlichkeiten haben würde. Also machen die einen, anstatt nachzuforschen, Anzeige gegen Unbekannt, und die anderen, die Anständigen, melden überhaupt nichts, weil sie Angst haben. Und der § 1? Einer hat dem Gericht eine Meldung gemacht und vergessen, worum es sich handelte. Ein denkender Mensch wird sich sagen: »Wenn ich nicht einmal mehr weiß, was in der Meldung stand, dann sollte ich § 1 anwenden. Wozu soll ich anderen die Zeit stehlen und ihnen unnötige Mühe machen?« Sie kommen erst gar nicht. Warum wenden sie nicht den § 1 an? Weil sie nicht begreifen, dass niemand da ist, der befiehlt und kontrolliert und droht, sondern dass es eben so gehen soll. Und die Aussagen vor Gericht? Oft war es schändlich, sich das anzuhören und es notieren zu müssen. Und doch wäre es leicht gewesen, einfach zu sagen: »Ich habe unrecht gehandelt.« Das war nur dreimal vorgekommen, nur dreimal bei eintausendneunhundertundfünfzig Fällen. Es hatte den Anschein, als ob die Erwachsenen durch die Tätigkeit des Gerichtes vor den Kindern hätten Achtung bekommen können; das Gegenteil trat ein, selbst jene, die Achtung hatten, verloren sie. Es kam noch schlimmer: Die Richter kamen überein, entweder gar nicht zu verurteilen oder ganz milde Urteile zu sprechen. Denn das war bequemer. Schließ-

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lich kam es dazu, dass ein Richter einen andern schlug, weil der so geurteilt hatte, wie es ihm das Gewissen befahl. Länger konnte man nicht warten: Das Gericht nutzte nichts, im Gegenteil, es schadete nur; das Gericht brachte keine Ordnung zustande, im Gegenteil, es richtete ein Chaos an; das Gericht besserte niemanden, im Gegenteil, es verdarb auch die wertvolleren. Ein solches Gericht durfte keinen Tag länger bestehn. Ein halbes Jahr Arbeit war vertan. Wenn jemand in Zukunft einer ernsthaften Arbeit nachgeht, wird er erkennen, wie schmerzlich das ist und wie traurig es macht. Leider wird das Gericht nicht gefürchtet und deswegen auch nicht geachtet; und weil die Kinder es nicht achten, lügen sie nicht nur vor Gericht, sondern auch vor sich selbst. Denn sie wollen nicht nachdenken und sich selbst beurteilen, noch sich anstrengen, sich zu bessern. Ich weiß, das Gericht ist notwendig, und in fünfzig Jahren wird es keine einzige Schule und keine pädagogische Anstalt geben ohne Gericht. Aber für unser Waisenhaus ist das Gericht schädlich, denn hier wollen die Kinder nicht freie Menschen, sondern Sklaven sein. H. Ich nehme nur ein paar von seinen Fällen heraus. Zwanzig Fälle wegen Hänselei, neunmal bekam er § 1 – neunmal wurde ihm verziehen, es nutzte nichts. Zweimal § 6o. Zweimal § 4, weiter § 63 und § 82. Dreimal § 100, einmal § 200, einmal § 300. Elf Fälle wegen verschiedener Attacken, wegen Anrempeleien und Verhöhnung. Zweimal § 1; viermal § 54; zweimal § 82; einmal § 41; § 100 und § 200. Ein Fall wegen Behinderung bei der Arbeit – § 300. Zwölf Fälle wegen Schlägerei – dreimal § 1, zweimal § 54, §§ 32, 60, 80, 81, zweimal § 100, einmal § 200. Zehn Fälle wegen verschiedener Vergehen beim Tagesdienst, zweimal § 1, einmal § 4, § 32, § 82, je zweimal § 100 – § 400, § 500, § 700. Dreimal wegen schlechten Benehmens im Unterricht §§ 80, 82 und 200. Dreimal wegen unsauberen Kopfes § 1, § 54, § 200. Hat die Hände nicht gewaschen. § 100. Hat einen Federhalter zerbrochen. § 81. Hat einen Becher zerschlagen. § 31. Hat sein Essen weggegeben. § 4.· Hat unredlich gespielt. § 100. Hat Böses nachgeredet. §§ 60 und 200. Ist zu spät gekommen. §§ 70 und 82. Hat sich eingemischt. § 100. Ein Unverbesserlicher also; und dennoch gab es keinen, der es gewagt hätte, ihm

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§ 8oo zu geben und ihm damit das Recht zu nehmen, das Gericht in Anspruch zu nehmen. Gerichtszeitung Nr. 19 Der Rat des Gerichts Ein halbes Jahr hatten wir ein Gericht ohne Rat. Man musste zunächst das Gericht erproben und dann erweitern und verbessern. Der Gerichtssaal reichte nicht aus. Bei hundert Fällen wöchentlich musste es die wichtigeren Verfahren wegen Zeitmangel ohne die notwendige Sorgfalt erledigen. Der Gerichtsrat ist nun schon neun Wochen tätig und hat siebzig Fälle behandelt oder sieben Fälle wöchentlich. Folgende Fälle werden an den Rat des Gerichts überwiesen: 1. Alle Verspätungen bei der Rückkehr von Familienbesuchen. 2. Fragen, bei denen es über die Anwendung der Paragraphen hinaus notwendig ist, allgemeingültige Rechtsbestimmungen zu erlassen. 3. Fälle wegen geldlicher Entschädigung (zerbrochene Scheiben u. a.). 4. Klagesachen, bei denen ein Urteil über § 500 hinaus droht. 5. Wenn jemand in einer Woche so viele Verfahren hat, dass man sie alle zusammen behandeln muss. 6. Schwierigere Fälle, bei denen eine genaue und längere Befragung beider Seiten notwendig ist, um zu erfahren, wer recht hat. Der Sekretär des Gerichts erklärt: »Wir wollen diesen Fall an den Rat abgeben.« Meistens stimmen die Richter zu. In einigen Fällen erklären die Richter, dass sie selbst entscheiden können. Es kommt vor, dass diejenigen, gegen die ein Verfahren läuft, von sich aus darum bitten, dass ihr Fall vom Rat behandelt wird. Der Sekretär stimmt im Allgemeinen zu, aber nicht immer. Einstweilen ist das noch nicht ausreichend geregelt, aber man denkt darüber nach. Erster Fall H., ein kleiner Junge, hatte schon sehr viele Verfahren. Alle Urteile helfen nichts. Er machte sich öffentlich über das Gericht lustig, äußerte sich in unmöglicher Weise und bestätigte damit eindeutig, dass sogar das Gericht, und nur das Gericht überhaupt keine Bedeutung hatte.

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Zwei Wege boten sich an: Entweder zu erklären, das Gericht sei nichts wert und müsse geschlossen werden, oder diesen einen aus dem Wirkungsbereich des Gerichtes auszuschließen. Erneut angezeigt, beleidigte er das Gericht in gemeiner Weise und wurde wegen Beleidigung des Gerichts an den Rat verwiesen. H. sagte aus, das Gericht bringe ihn in Wut, und er werde ständig mit der Drohung gereizt, ihn dem Gericht zu melden; überall, wo er sich nur rühre und etwas sage, bekäme er sofort zu hören: »Ich melde dich dem Gericht!« Schließlich habe er die Geduld verloren und sich über A. und das Gericht so gemein ausgelassen. »Ich will kein Gericht, ich will lieber eins hinter die Ohren und auf die Pfoten bekommen.« Gänzlich verständlich, er möchte sich lieber straflos herumschlagen und einmal anstatt hundertmal Prügel beziehen, als sich zu bessern und sich an die Vorschriften zu halten, die für alle verpflichtend sind. Die Richter des Rates teilten sich in zwei Lager. Die einen wollten dieses eine Mal noch verzeihen, die anderen forderten § 900. Schließlich erhielt H. § 800: Er wurde für eine Woche vom Gericht ausgeschlossen und hatte in dieser Zeit, was er sich wünschte: 1. Am Sonnabend erhielt er keine Strümpfe, weil er zur Strumpfausgabe zu spät kam. 2. Am Sonntag bekam er eins auf die Pfoten, weil er nicht kehren wollte. 3. Am Dienstag bekam er ein paar hinter die Ohren wegen einer Schlägerei beim Kartoffelschälen. Dafür hatte er, da er ja vom Gericht ausgeschlossen war, kein einziges Verfahren. Außerdem war H. noch in eine andere Sache verwickelt: Weil er vor Gästen ein älteres Mädchen laut und lange mit einem ordinären Spitznamen gerufen hatte. Da er schon § 8oo hatte, verzieh ihm das Gericht und gab ihm § 6o. Zweiter Fall Ein disziplinloser zänkischer Faulpelz. Immer hat er nach seiner Überzeugung recht, wegen jeder Bemerkung ist er beleidigt. Ein unzuverlässiger Diensthabender und nicht eben gewissenhafter Mitarbeiter. Seinetwegen war die Suppe dünn, es fehlten zwanzig Pfund Kartoffeln. § 90. Er hat bereits eine Stellung. Und schon kam die Klage, dass er faul sei. Dritter Fall Ein älteres Mädchen. Ohne um Erlaubnis zu fragen, hatte sie eine Schere genommen, Privateigentum

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einer Erzieherin, sie verlegt und innerhalb von vier Wochen sich nicht gerechtfertigt, ja nicht einmal nach der Schere gesucht. § 400. Der Rat behandelte auf seiner ersten Sitzung weitere drei Fälle. 1. Der Diensthabende J. wollte keinen Müll wegräumen. § 55. 2. Im Kesselraum waren Kartoffeln gebraten worden. § 51. 3. Einer war zur Übernahme seines Tagesdienstes zu spät gekommen. § 30. Die zweite Woche Nur einen Fall hatte der Rat in der zweiten Woche zu behandeln. Ein Junge liest Bücher während des Mittagessens und beim Abendbrot, reagiert nicht auf Bemerkungen über die Unzulässigkeit seines Verhaltens. Vom Gerichtsrat befragt, ob er ein Ausnahmefall sein möchte, damit ihm der Rat das Lesen während der Mahlzeiten erlaubt, antwortet er, dass er das nicht will. § 4. Die dritte Woche Da es wegen Unregelmäßigkeiten bei den Eigentumskassetten der Kinder einige Verfahren gegeben hatte, machte der Sekretär folgenden Vorschlag: I. Die Kassettenschlüssel einzuziehen, da sie überflüssig seien, weil sie das Geheimnis der in den Kassetten enthaltenen Gegenstände nicht ausreichend sichern, oder: II. verantwortliche Diensthabende zu bestimmen, die in der Nähe des Schrankes an einem besonderen Tischchen vom Morgen bis zum Abend sitzen müssten, oder III. den Schrank abzuschließen und täglich ein paarmal für eine Stunde zu öffnen, oder IV. den frechen Schädling ausfindig zu machen. Der Rat verwarf das Projekt. Gegen Unbekannt wurde auf § 3 erkannt, denn: 1. Viele Kinder erlauben anderen, in ihrer Abwesenheit an die Kassetten zu gehen. 2. Die Kinder haben Bücher im gemeinsamen Besitz und holen sie sich ohne Wissen des Eigentümers. 3. Manchmal gehen sie irrtümlich an fremde Kassetten. Ohne den Gerichtsrat hätte man vielleicht den Schrank verschlossen, was sehr unbequem gewesen wäre. B. allein hat acht Verfahren. Acht Fälle in einer Woche. 1. Ein Mädchen steht ganz ruhig da, und er fängt an, es zu schubsen und zu schlagen. »Ich melde dich dem Gericht.«

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»Mach das nur.« Und weiter stößt und schlägt er drauflos. § 63. Ein Mädchen hält einen Brief in der Hand, B. reißt ihn ihr weg und droht, er werde ihn zerreißen. § 63. Da sitzt ein Junge. B. zerrt an ihm herum, stößt und zaust ihn. § 63. Ein Mädchen steht neben dem Papierkorb. B. stülpt ihr den Korb über den Kopf. § 63. Am frühen Morgen spielt ein Junge mit ihm, abends will er aber nicht mehr. B. folgt ihm überall hin, attackiert ihn und gibt keine Ruhe. »Ich wusste mir gegen ihn nicht zu helfen.« § 63. Er geht auf ein Mädchen zu: »Soll ich dich verprügeln?« »Hau ab.« Er will nicht von ihr ablassen, schlägt zu und wirft sie vom Stuhl. § 63. Er geht auf ein Mädchen zu: »Hattest du Krätze?« Er sitzt ihr auf den Fersen und sagt, dass sie Krätze gehabt habe. § 63.

Außerdem wurde gemeldet, dass er sich bei der Arbeit schlecht aufführt. »Er drückt sich vor jeder Arbeit, weiß hundert Antworten auf jede Bemerkung, mischt sich in alles ein, ist ungehorsam.« § 93· B. ging ungeschoren aus seinen Verfahren hervor, weil die Ankläger für ihn eintraten. »B. ist kein schlechter Junge, aber er setzt den anderen zu, ist aufdringlich, ohne Ehrgeiz. Wenn man ihm sagt: ›Mach, dass du wegkommst‹, dann denkt er gar nicht daran, lacht und trollt sich. Dumm ist er eigentlich nicht, manchmal ist es ganz interessant, sich mit ihm zu unterhalten. B. sagt, dass ihm traurig zumute sei, denn er habe keinen, der ihn wirklich gern hat und der ihm helfen wollte, anders zu werden. Im Laden sind sie zu nachsichtig gegen ihn, also ist er liederlich geworden, aber er wird sich schon bessern.« Andere Fälle Der Fall zweier kleiner Jungen wegen schlechten Benehmens bei Tisch. § 81. Zwei größere haben mutwillig den Unterricht verlassen. § 41–50. Eine Stockwerkaufsicht, ein Mädchen, hat einem Diensthabenden ein ungerechtes Zeugnis ausgestellt. Der Rat entschied, dass ihm eine Rehabilitierung werden soll.

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Die vierte Woche Die vierte Woche brachte nur drei Verfahren. Darunter ein Verfahren wegen eines in der Nähstube abhanden gekommenen Taschentuchs. Verbrannte Stiefel Im Kesselraum haben zwei Jungen zwei Paar Holzschuhe und ein Paar Stiefel verbrannt, auf Weisung der Hausmutter. »Das war nicht richtig. Man hätte sie reparieren können.« »Sie waren nichts mehr wert.« »Selbst die schlechtesten Stiefel kann man reparieren.« § 33: Die Jungen hatten einen Auftrag erfüllt – es war nicht ihre Schuld. Die Nähstube Am Sonntag gingen die Jungen in die Nähstube, um u. a. Knöpfe anzunähen. Einer nahm Baumwolle, die man dazu nicht nehmen darf, ein anderer wollte sich eine Tasche machen, obwohl er eine intakte Tasche hatte, was vollkommen genügt. Er soll rauskommen, aber er antwortet: »Nun seht einmal an. Da will sie mir was befehlen, wo ich mir gerade was annähe.« »Was kannst du mir denn schon tun?« »Sie wollte mich rausjagen wie einen Hund. Manche haben zwei Taschen.« Schließlich bekam der Erste § 40, der Zweite § 200, und es wurde bestimmt, dass Reparaturen im Esssaal, nicht in der Nähstube, ausgeführt werden. Die Nähstuben-Älteste soll ein Kontrollbuch führen, wie die Stockwerk-Aufsicht, und es muss geprüft werden, ob es nicht wirklich besser ist, mit Baumwolle zu nähen als mit schlechtem Garn. Die fünfte Woche Fünf Fälle. Es fand sich noch jemand, der das Gericht hasst. G. hat fünf Verfahren. Im Schlafsaal macht er Krach, er will sich nicht ausziehen, geht zu verschiedenen Betten hin und unterhält sich laut. Wenn man ihm das verweist, macht er sich nichts daraus. Im Waschraum singt und pfeift er, wenn man ihm sagt: »Lass das«, dann antwortet er: »Melde mich doch dem Gericht.« Als Diensthabender tut er, was er will, nimmt übel, kehrt nicht aus, oder wenn er es tut, dann geschieht es nachlässig. Er benimmt sich so, wie es ihm gefällt. Er lügt: Er hat gesagt, dass er den Staub unter den Öfen vorgefegt hat, aber das stimmt nicht. Dem Gericht gemeldet, kommt er nicht, um eine Aussage zu machen: »Wenn es mir passt, dann werde ich kommen.«

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Ein Junge liegt krank im Bett. »Warum bleibst du liegen, was ist dir?« Er erhielt keine Antwort, schlug also auf ihn ein. Und so erklärt G. sein Verhalten: »Ich kann das Gericht nicht leiden, ich hasse es, und will nichts mit ihm zu tun haben. Ich will mich weder mündlich noch schriftlich entschuldigen, denn ich weiß, dass ich oft unrecht habe. Alle jagen mir Angst ein mit dem Gericht. Das ärgert mich am meisten. Sie sollen mich meinetwegen melden, abr mir nicht drohen.« § 700. Das Gericht ist keine erfreuliche Einrichtung – das stimmt. Aber es ist auch nicht zum Vergnügen entstanden. Seine Aufgabe ist es, Recht und Ordnung zu wahren und dafür zu sorgen, dass der Erzieher nicht gezwungen wird, wie ein Hirt oder Pferdeknecht mit Knüppel und Geschrei Gehorsam zu erzwingen, sondern ruhig und verständig, gemeinsam mit den Kindern, erwägen, beraten und beurteilen kann, mit den Kindern, die oft besser wissen, wer recht hat, oder auch inwieweit einer nicht recht hat. Aufgabe des Gerichtes ist es, wilde Szenen durch Gedankenarbeit zu ersetzen, Zornesausbrüche in pädagogische Einwirkungen zu verwandeln. Der Fall B. wieder im Rat des Gerichts Faul, ungehorsam und nachlässig als Küchendiensthabender, verhält er sich jetzt ebenso seinem neuen Dienst gegenüber. Dort hat er keine Kartoffeln geschält, hier kehrt er nicht die Treppen. Es macht ihm nichts aus, dass alle Kinder eine dünne Suppe vorgesetzt bekommen, es rührt ihn nicht, dass man mit dem Treppenscheuern auf ihn warten muss, weil man ja ungekehrte Treppen nicht aufwischen kann. »Nun werde ich gerade nicht gehen. Ich habe keine Lust.« Dreimal fordert man ihn auf – ohne Erfolg. »Wenn ich ihn melden wollte, so müsste das jeden Tag geschehen. Er bringt das Kehrblech nicht zurück, wirft den Kehricht aus dem Fenster oder fegt ihn unter den Ofen. Wenn er schon mal die Handschaufel zurückbringt, dann stellt er sie nicht auf ihren Platz. Die Bürsten und die Wischlappen bringt er nicht weg. Und wenn man ihm das vorhält, dann hat er immer recht.« »Er ist ein guter Junge, aber jähzornig. Er ist leicht beleidigt und antwortet im Zorn. Später besinnt er sich wieder, nur muss man ihm alles in die Hand geben. Er ist unpünktlich!« § 82. Das sind diejenigen, die den Ruf des Waisenhauses verderben. Es wird immer schwieriger für unsere Jungen, eine gute Stelle zu finden. Wie wir erfahren haben, gibt es über B. auch in seiner Berufsarbeit Klagen.

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Eine wilde Szene In der Küche. M. kommt herein und sagt: »Hör mal, ich hab deine Schwester getroffen, sie lässt dich grüßen.« »Ist aber auch schon wichtig!« »Du bist mir eine schöne Schwester, willst nicht einmal wissen, dass dich deine Schwester grüßen lässt.« »Hab ich ja schon gehört.« Die anderen fangen zu lachen an. M. wendet sich an ein anderes Mädchen: »Würdest du auch so reagieren, wenn ich deine Schwester getroffen hätte?« Gelächter. D. nimmt ein Gewicht und schleudert es einem Mädchen an die Brust. Wenn D. böse ist, macht er oft derartige Szenen. § 200. Beim Dominospiel Wenn man früher jemanden als »Gauner« bezeichnete, wussten wir eigentlich nicht, warum. Jetzt, wo es erlaubt ist, um Bonbons und Geld zu spielen, laufen immer öfter Anzeigen wegen unredlichen Spielens ein. Was früher heimlich praktiziert wurde, findet jetzt öffentlich und unter der Kontrolle des Gerichtes statt. Warum sollte man es auch allen verbieten, wo es doch nur drei oder vier Falschspieler gibt? Und was nutzt ein Verbot, wenn man nicht kontrollieren kann, ob Domino oder Dame nur so gespielt wird oder um Bonbons? Und ob nun einer Glasmurmeln verspielt, die er kaufen muss, oder Geld – das ist doch alles eins. Die einen geben ihr Geld für nützliche Dinge aus, weil sie vernünftig sind, sie spielen selten und lernen, vorsichtig zu sein; aber Leichtsinnige und Dummköpfe geben es in törichter Weise aus und verspielen es auf dumme Tour. Vielleicht lernt jemand, wenn er im Spiel mit einem Schwindler eine Siegelmarke verliert, vorsichtig zu sein, und wird, wenn er erwachsen ist, nicht sein ganzes Vermögen oder gar fremde Gelder verspielen, was ja bisweilen vorkommen soll. Das erste Verfahren wegen unehrlichen Spielens endete damit, dass ein kleiner Junge für einen Monat Spielverbot erhielt, aber weil das zu lange war, wurde die Verbotszeit auf seine Bitten hin auf vierzehn Tage beschränkt. § 3. Es kam nicht heraus, wie es wirklich gewesen war. Diese Fälle sind immer sehr schwierig zu beurteilen.

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Die sechste Woche Zwei wichtige Fragen wurden geregelt: das Hinaufschaffen der Wäsche auf den Dachboden und die Ausgabe von Spielzeug. Der erste Schritt wurde getan, um die Sache mit dem Tischgebet in Ordnung zu bringen. Mangelnde Gefälligkeit Immer habe ich Unannehmlichkeiten, wenn es drum geht, die Wäsche wegzubringen. Die Jungen wollen nicht recht, oder sie tun es ungern. Der eine ist müde, der andere hat keine Zeit, der Dritte redet sich auf später heraus. Leider hatte es sich so ergeben, dass ich den Jungen meldete, der sich öfter an dieser Arbeit beteiligt als die anderen. Das war jedoch deswegen so gekommen, weil ich diejenigen, die immer alles abschlagen, gar nicht mehr auffordere. Mich ärgerte es, dass er sagte, er sei müde, aber ich wusste genau, dass es nicht stimmte, denn er war bereits seit einer halben Stunde aus der Schule zurück. »Warum soll ich etwas zu meiner Entschuldigung vorbringen? Die sagen doch, dass ich schuld bin; denn es wird immer nur den Mädchen geglaubt. Ich mag nicht auf den Dachboden gehen, denn da muss ich mit Lesen aufhören oder das Spiel abbrechen, und dabei setzt sie dann auch noch so eine Miene auf, die mich ärgert. Ich werde es schon übernehmen, die Jungen zusammenzuholen zum Wäschetragen, wir machen das schon von uns aus. Die soll ja nicht denken, dass ich das mache, weil sie mich dem Gericht gemeldet hat.« § 5. »Sie spielten Domino. Ich sage zu ihnen: ›Kommt, wir wollen die Joppen ausklopfen.‹ Sie antworten, das hätten sie schon getan, nur er nicht, weil er zu müde ist. Zehn Minuten später kam er, aber es war schon zu spät.« »Ich war mit einem Brief auf der Marszalkowska 99. Ich habe Domino gespielt und wollte die Partie beenden. Ich werde schon tun, was ich soll, damit ich nicht als Faulpelz gelte.« § 4. Die Sache mit dem Spielzeug »Ich habe es dem Gericht gemeldet, denn ich weiß mir nicht anders zu helfen. Sie nehmen das Spielzeug und geben es nicht ab. Lassen es auf dem Tisch liegen, verlieren die Lottonummern und die Steine zum Damespiel. Ich habe deswegen viele Unannehmlichkeiten.« »Wenn man etwas zum Spielen nimmt, ist gleich jemand da, der es auch haben will. Während ich die Klasse aufräumte, überließ ich für die Zeit dem anderen das Spiel. Ich wusste ja nicht, dass der es verlieren würde.« »Ich hatte das Bilderlotto genommen, da wurde ich plötzlich zum Baden gerufen. Ich musste es also in die Kassette stecken, denn es war keiner da, dem ich es abgeben konnte.« §§ 40 und 50.

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Auf Bitten des Gerichtsrates stellte der Kreis für Unterhaltungsspiele folgende Spielordnung auf: I. Um Bonbons, Postkarten und Geld darf Lotto und Domino nur am Sonnabend und Freitag ab 4½ Uhr gespielt werden. II. Man kann zu spielen aufhören, wenn man 30 Groschen verloren hat. III. Man darf höchstens 50 Groschen verspielen. IV. Spielschuldner sollen ihre Schulden spätestens im Laufe einer Woche zahlen. V. Gekennzeichnete Dominosteine müssen eingezogen werden. VI. Wer das Bilderlotto nimmt, hat dafür zu sorgen: a) dass keine Deckblättchen unter dem Tisch liegen bleiben, b) dass das Lottospiel rechtzeitig zurückgegeben wird, c) dass abgesprochen wird, ob man um 4 oder 5 spielt, d) dass die verlorenen Nummernplättchen ersetzt werden. Anmerkung: Nach sechs Uhr werden die Damespiele ausgegeben. Fünfzehn Minuten vor der Rückgabezeit dürfen keine Spiele mehr genommen werden. Die Rückgabe soll fünf Minuten vor der Mahlzeit erfolgen. Die Sache mit dem Tischgebet »Er macht immer Unsinn bei Tisch, und während des Tischgebetes schneidet er solche Grimassen, dass alle lachen müssen. Er ist ein lieber und lustiger Kerl, aber beim Gebet sollte er sich benehmen, wie es sich gehört.« Der Sekretär schlug dem Rat vor, eine Bestimmung zu erlassen, nach der diejenigen, die sich dabei ungehörig benehmen, für eine Woche während des Tischgebetes aus dem Esssaal ausgeschlossen werden. Der Rat beschloss, diese Angelegenheit zurückzustellen bis zu der Zeit, da das Tischgebet von einem andern Jungen gesprochen wird. Der Angeklagte erhielt § 4.· Ein Richter vor Gericht Er wurde ausgelost und sollte Richter sein. Er kam nicht. Er hatte keine Lust. Warum wohl? 1. Weil es später Vorwürfe geben würde, dass man zu strenge oder ungerechte Strafen ausgesprochen hätte. 2. Weil er das Gericht nicht möge und nichts damit zu tun haben wolle. Der Sekretär schlägt § 50 vor und Ausschluss vom Auslosen bis zu drei Monaten … Er begreift das nicht! Er versteht nicht, dass es keine angenehme Sache ist, zu Gericht zu sitzen, sondern eine gesellschaftliche, vielleicht sogar eine peinliche Verpflichtung.

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Er begreift nicht, dass das Gericht nur dann existieren kann, wenn es Richter gibt. Er versteht nicht, dass ein »Ich mag nicht – ich will nicht«, nicht bedeutet »Ich werde nicht«. Jeder Mensch nämlich muss oft etwas tun, was er nicht tun will und nicht tun mag. Wenn es gänzlich wertlos wäre, dann würde sich niemand an das Gericht wenden. Wenn man es aber tut, dann hat das zu bedeuten, dass das Gericht nützlich ist und es daher Pflicht eines jeden ist, ihm die Arbeit zu erleichtern und nicht zu erschweren. Es wird gesagt, das Gericht sei streng und ungerecht, aber man kann seine Sache ja ein zweites Mal vorbringen und appellieren. Auf 3000 Fälle, die seit Beginn behandelt wurden, hat es erst vier Berufungen gegeben. Wer nicht nur daherschwatzt, was ihm gerade einfällt, sondern um die Gerechtigkeit eines Urteils besorgt ist, der kann sich nach vier Wochen erneut mit seiner Angelegenheit an das Gericht wenden. Die Nachlässigen und Unklugen tun das nicht, sie wollen sich lieber entrüsten. Das erste Probejahr Den effektiven Wert des Gerichtes und den Nutzen des Gesetzbuches konnte ich während der einjährigen Probezeit beurteilen. Es hatte 3500 Fälle gegeben: in einer Woche wenigstens fünfzig, höchstens einhundertdreißig. In einem Jahr kamen fünfundzwanzig Hefte der Gerichtszeitung heraus. Das erste Heft, das hier in vollem Umfang wiedergegeben ist, erschien nach dem ersten Probemonat. Heft 9 kam ein halbes Jahr später heraus, als das Gericht für vier Wochen suspendiert wurde. Nach dieser Pause wurde der Gerichtsrat eingeführt, von dessen Tätigkeit Nr. 19 der Gerichtszeitung berichtet. Mir scheint es am zweckmäßigsten zu sein, einfach zu erzählen, wie es war: Gleich in den ersten Wochen überzeugte ich mich davon, dass der Erzieher viele kleine Dinge, die den Kindern peinlich sind und die Ordnung stören, nicht erfährt und auch gar nicht erfahren kann. Ein Erzieher, der behauptet, er wisse alles, sagt bewusst die Unwahrheit. Ich habe mich davon überzeugt, dass ein Erzieher sich in Fragen der Kinderwelt nicht auskennt; ich habe mich davon überzeugt, dass die Macht des Erziehers größer ist als seine Kompetenz, dass eine ganze Hierarchie besteht, wo jeder Ältere das Recht hat, jeden um zwei Jahre Jüngeren gering zu achten oder auch nur mit ihm nicht zu rechnen braucht, und dass es eine Willkür gibt, die genau nach dem Alter der Zöglinge dosiert ist. Wächter dieses Gebäudes der Rechtlosigkeit ist der Erzieher. Sic volo, sic jubeo. Was nützt es schon, dass ein Erzieher nicht schlägt oder nur in den seltensten Fällen einen Rippenstoß verpasst, wenn ein durch Straflosigkeit ermutigter Frech-

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ling ein jüngeres und schwächeres Mädchen ins Gesicht schlägt und ihm die Stelzen wegreißt. Es war so Brauch, ja Tradition, dass Dreizehnjährige von den Kleinen Federn oder Löschblätter ausborgten, aber wenn so ein kleiner Kerl die Rückgabe verlangte, bekam er die höfliche Antwort zu hören: »Hau doch ab, mach mich nicht verrückt.« Diese »kleinen« Dinge kamen zu Dutzenden vor. Man musste sie einmal genau studieren, ihnen nachgehen und sie verstehen. Viele Fälle wurden weiterhin außerhalb des Gerichtes entschieden. Die Überzeugung, »dass man lieber darüber reden sollte«, als wegen jeder Kleinigkeit einen Prozess anzustrengen, war so eingewurzelt, dass es keinen Sinn hatte, sie zu bekämpfen. Das minderte die Autorität des Gerichts. Wenn die älteren Kinder das Gericht nicht anerkennen, wenn eine Reihe von wichtigen Fällen das Gericht nicht erreichte – dann war es selbst nur ein Mittelding zwischen Spiel und abwehrender Erledigung von Fragen, mit denen man nichts anzufangen wusste. Anstatt des bisherigen »Lass mich in Ruhe«, lautete die neue Formel »Meld mich doch dem Gericht«. Der Vorwurf, das Gericht könne nichts bewirken, weil man es nicht fürchte und sich nichts aus ihm mache, verbreitete sich überall und war bedrängend und vernichtend zugleich. Hervorgehoben werden muss, dass das in einem Internat geschah, wo es offiziell keine Strafen gab. Wenn von Strafen die Rede ist, dann denken wir immer an Ruten, Einsperren, Essensentzug u. Ä. und verkennen dabei, dass ein Anschreien, zorniges Loswettern, Drohen oder die Änderung meines bisherigen freundschaftlichen Verhaltens dem Kind gegenüber eine empfindliche Strafe ist. Fatal für das Gericht war die »Prozesssucht« der ganz Kleinen. Wegen jeder Kleinigkeit machten sie Meldung. Die Hälfte aller Fälle waren geringfügige Streitereien des kleinen Grüppchens der Allerjüngsten. Weil man darüber lachen musste, dass der kleine X. oder der kleine Y. feste Klienten des Gerichts waren, geriet es in eine Atmosphäre ständigen Spottes. »Melde mich doch dem Gericht« hieß die stereotype Antwort auf gerechtfertigte Forderungen. Die Anzahl der Fälle zu begrenzen, schien offenbar notwendig zu sein. Aber wie? Sollte man sagen, es sei nicht erlaubt, dem Gericht »Dummheiten« zu melden? Mit aller Entschiedenheit behaupte ich, dass man so nicht vorgehen darf. Es war verwunderlich: Wenn die Richter anfänglich dazu neigten, alle Streitfälle der Kleinen gering zu achten, sogar wenn es darum ging, dass man sie geschlagen, verspottet und gestört hatte, so erkannten sie doch bald, dass der Prüfstein für die Wichtigkeit eines Falles die Widerwärtigkeit ist, die man selbst erlebt, und das Gefühl erlittenen Unrechts, das der Klageführende hat.

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Warum ist eine zerbrochene Fensterscheibe eine wichtige Angelegenheit, und die Zerstörung des privaten Eigentums eines Kindes soll eine »Dummheit« sein? Ist Betrug im Spiel um Kastanien nur deswegen keine strafwürdige Unredlichkeit, weil es um Kastanien und nicht um Geld geht? Das Kastanienspiel war Ursache von zahlreichen Verfahren und unzähligen Streitereien. Was tut ein Erzieher in solchen Fällen? Er verbietet das Spiel! Wenn er so handelt, begeht er eine Gewalttat und erschwert es sich selbst, die Kinder beim Glücksspiel kennenzulernen, wo diejenigen Charaktereigenschaften am leichtesten hervortreten, die im Leben von so übergroßer Bedeutung sind, wie Leichtsinn, Habgier, Jähzorn, Unredlichkeit u. Ä. Ein Spielverbot wäre, wie ich meine, ein gleich großer Nachteil für Erzieher und Kinder. Den Kleinen vermittelte das Kastanienspiel die ersten Begriffe einer Rechtsordnung. Anfangs taten sich unerhörte Dinge: Er hatte hundert Kastanien verspielt und erklärte zynisch, er werde sie nicht hergeben. Warum? Weil er ganz einfach nicht will. Sie schließen sich zu einer Gemeinschaft zusammen: Gemeinsam werden sie sich Kastanien halten, dann zanken sie sich, und schon heißt es: »Ich geb’ dir keine Kastanien.« Manche Aussagen konsternierten mich. Am hellichten Tag und vor zahlreichen Zeugen reißt ein Junge einem Mädchen Kastanien weg und macht sich frech über sie lustig. »So macht mir das Spaß, was kannst du mir tun?« Die einzige Zuflucht besteht darin, sich an einen älteren Kameraden zu wenden, der zur Hilfe kommt, aber fragt nicht wie. Er haut ihm eins ins Genick, zaust ihn an den Haaren und wirft ihn zu Boden. Sitten wie bei den Singhalesen in einem ordentlich geführten Internat der Hauptstadt eines zivilisierten Staates. Und doch war auch ich kürzlich nicht nur einverstanden mit einem ähnlichen Sachverhalt, sondern – das hatte sogar einen gewissen Charme – ich war geneigt, die Sache zu bagatellisieren, weil der kleine fröhliche Lümmel mir näher stand als das ein bisschen dümmliche Mädchen. Dass jedoch dieser liebenswürdige Bengel eine bestimmte Gruppe von Kindern tyrannisiert und mich dabei gleichzeitig für sich zu gewinnen versucht, dass der kleine Räuber im Gefühl seines Anrechts auf Anarchie aufwächst, blieb von mir unbemerkt, unterhalb der Schwelle meines pädagogischen Bewusstseins. Oft vermittelte mir ein einziger Fall eine zutreffendere Charakterisierung eines Kindes als ein Zusammenleben von vielen Monaten. Manchmal gewann ich auf diese Weise einen besseren Einblick in einen Kreis als durch eine mehrmonatige lockere Beobachtung. Als Sekretär des Gerichtes lernte ich das Alphabet, vervollkommnete mich dann und wurde schließlich zum Experten in diesen Fragen. Ein Haufen lästigen Mülls – verschrumpelter, zerkratzter Kastanien – gewinnt Leben. Da gab es neutrale Kastanien, zum Spielen hervorragend geeignete, Ge-

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denkkastanien und besondere Glücksbringer. »Mit dieser Kastanie gewinne ich immer – ich hab mir ausbedungen, nicht um diese Kastanie zu spielen.« Ich frage, welcher Erzieher bringt die Zeit dafür auf, solche Fragen zu bedenken, wer ist geneigt, sie unter dem Gesichtspunkt von Recht und Billigkeit zu untersuchen und sie nicht mit einem nachsichtigen Lächeln abzutun? Diesen »Bagatellsachen« habe ich es zu verdanken, dass ich dazu gezwungen war, alle verwickelten Fragen des Zusammenlebens einer Kinderschar zu durchdenken. Der asoziale, antisoziale Typ, das Individuum, das seine Gewohnheiten und Neigungen nicht einordnen will, sie traten hervor und verlangten mit unerhörtem Nachdruck eine Antwort auf die resolute Frage: Was tun? »Ich hasse das Gericht; lieber will ich eins auf die Pfoten und hinter die Ohren haben, alles will ich ertragen, nur nicht das Gericht. Ich hasse es, ich kann das Gericht nicht leiden. Ich selbst will keinen melden und will auch nicht gemeldet werden.« Es gab mehrere Kinder, die so dachten. Das Gericht überfiel sie als ein unerwarteter und sehr bedrohlicher Feind, der alles registriert und an das Licht der Öffentlichkeit bringt. Er will sich nicht erklären müssen, Recht und Billigkeit gehen ihn weniger an, er denkt nicht daran, sich Zwang anzutun. Ihm kann etwas nur gelingen oder nicht gelingen – und in diesem Hasardspiel findet er Befriedigung, Zufälligkeiten setzen ihn in Erregung, er lebt von Abenteuer zu Abenteuer, sein Steuer ist die Stimmung des Augenblicks, Zornesausbrüche sind nach seinem Geschmack. Sollte sich einmal der Glückliche finden, dem es möglich sein wird, die pädagogische Bedeutung der Gerichte wissenschaftlich zu erforschen, dann empfehle ich ihm nachdrücklich gerade diese Kinder zur Beobachtung. Und es ist bezeichnend, dass diese kleine Handvoll das Gericht zu Fall brachte. Als ich das Gericht suspendierte, zweifelte ich nicht daran, dass es sich nur um eine Pause von einigen Wochen handelte zur Einführung bestimmter Änderungen und Ergänzungen. Trotzdem empfand ich diese Pause als eine schmerzliche Niederlage. Ich hatte nämlich begriffen, unter welchen Schwierigkeiten das Gericht sich in anderen pädagogischen Anstalten, die von anderen Menschen geleitet wurden, den Weg zu ebnen haben würde. Ich weiß, dass sich alle qualifizierten Erzieher von dem unausstehlichen Zwang, zu nörgeln, zu höhnen, herumzuschnauzen und sich sinnlos aufzuregen, freimachen wollen, soweit sie es nicht vorziehen, nach dem Vorbild deutscher Schulen ohne Erregung und mit Würde mit dem entsprechenden Instrument den im Reglement vorgesehenen Körperteil zu verprügeln. Ich weiß jedoch, dass das Gericht ihre Hoffnungen auf eine einfache, grundsätzliche, und – was das Wichtigste ist – rasche Erledigung jener zahllosen kleinen Übertretungen, Versehen und Zusammenstöße enttäuschen muss, die im Leben einer Kinderschar vorkommen,

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wenn sie zu einer rechtschaffenen Gesellschaft geformt werden soll. Das Gericht kann einen Erzieher nicht ersetzen, ja nicht einmal vertreten, aber es erweitert den Bereich seiner Verwendung, erschwert, kompliziert seine Arbeit, vertieft sie und fasst sie in ein System. Man kann Kindern Hefte, Bleistifte und Stahlfedern zu verschiedenen Zeiten ausgeben und das nur im Gedächtnis registrieren – und es wird Unordnung herrschen; man kann die Ausgabe an bestimmten Tagen zu bestimmter Stunde vornehmen und dabei das Datum notieren, und es wird Ordnung sein und sogar eine gewisse Gerechtigkeit. Ja, es haben sich vielleicht auch Internate erhalten, wo es keine festgesetzten Stunden für die Mahlzeiten gibt, und die Kinder essen, wann sie wollen, die gewitzteren mehr und öfter als die stillen und untertänigen. Man kann ohne Gericht Strafen, Rügen, Ermahnungen und Tadel erteilen und überwachen. Es herrscht Unordnung, aber sie weicht nicht von der allgemeinen Norm ab. Der Erzieher weiß sich irgendwie Rat und die Kinder auch. Es ist erstaunlich, wie jede unerledigte Frage, jedes dilettantisch zusammengebastelte Gebot oder Verbot, jedes Versehen in der Institution des Gerichtes sichtbar werden und sich rächen. Die abendliche Unruhe, der Lärm im Schlafsaal – die vielen lästigen Fälle in unterschiedlicher Gestalt schlugen unaufhörlich während des ganzen Jahres mit mathematischer Genauigkeit Alarm und wiesen darauf hin, dass die Frage der Schlafstunden für die Kinder nicht gelöst sei und auf ihre Regelung warte. Das Gericht war hier effektiv machtlos, denn in diesem Fall war entweder Gewaltanwendung – der Stock – notwendig, oder es musste eine mit den physio­psychologischen Bedürfnissen der Kinder übereinstimmende Lösung dieses schwierigen Problems getroffen werden. Jede unausführbare, also pädagogisch-stümperhafte Forderung, jenes unermüdliche »Klopfen, damit ­aufgetan wird«, feilscht um Konzessionen und Möglichkeiten, sich breitzumachen. Jedes Kind, das sich den allgemeinen Gesetzen nicht unterordnen lässt, muss rechtlich zu einer Ausnahme werden. Auch hier ist das bewusste, schöpferische und opferwillige Denken des Erziehers notwendig. Ein unbeholfener Lehrer weiß sich mit seiner Klasse nicht zu helfen. Das Gericht erscheint – und nun arbeiten die Schüler fleißig und benehmen sich manierlich –, das wäre jedoch ein Wunder, und noch dazu ein sehr schmeichelhaftes für den Erzieher, aber es wäre mörderisch für die Kinder. Bevor ich den Entschluss fasste, das Gericht zu suspendieren, durchlebte ich viele schwere Stunden. Die Kinder, und zwar eine bestimmte, nicht sehr zahlreiche, aber aufdringliche Gruppe, hatten das Gericht für ihre Zwecke ausgenutzt. Sie achteten das Gericht, wenn es ihnen beliebte, und sie verhöhnten es, wenn es

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ihnen lästig wurde. Unordnung machte sich breit, anfangs nur in unbedeutenden Einzelheiten was würde jedoch werden, wenn sich das Gefühl der Straflosigkeit auf Dauer etablierte? Nicht mit allen Fragen kann man eine ganze Woche warten. »Ich werde nicht Kartoffeln schälen, ich werde nicht ausfegen.« Es wurde dem Gericht gemeldet, er schält nicht Kartoffeln. Was sollte man tun? Es pflegte noch schlimmer zu kommen: »Wenn ich schon dem Gericht gemeldet bin, dann brauche ich nicht auszufegen; ich werde deshalb nicht auskehren, weil ich bereits dem Gericht gemeldet bin.« Und die Urteile waren mild. Kein Richterkollegium wagte es, über § 400 hinauszugehen. Die Opposition hielt diesen Widerstand gegen die Anwendung höherer Paragraphen mit aller Wachsamkeit aufrecht. Zwischen einem Geschworenen­ Gericht und einem Richterkollegium besteht der grundsätzliche Unterschied, dass hier Richter und Angeklagte einander kennen, dass sie durch tausend Fäden wechselseitiger Beziehungen miteinander verbunden sind und dass man sich durch ein härteres Votum Unannehmlichkeiten aussetzt. Wir wissen ja doch, mit welchen Peinlichkeiten und Misshelligkeiten manchmal Ehrengerichte zu tun haben. Und was die Hauptsache ist, wozu soll man sich Gewalt antun und sich unangenehmen Sticheleien aussetzen, wenn ein hoher Paragraph auch so nichts hilft? Die Meinungen über das Gericht waren geteilt. Neben wenigen Gegnern und Anhängern des Gerichts stand die ansehnliche Mehrheit auf dem Standpunkt, das Gericht sei nützlich, müsse aber reformiert werden. »Das Gericht ist notwendig, bringt aber keinen Nutzen. – Für einen Teil der Kinder ist das Gericht gut, dem anderen nützt es nichts. – Mit der Zeit wird unser Gericht sehr nützlich sein. – Wenn das Gericht anders wäre, könnte es sehr notwendig sein.« Diese wenigen Sätze aus einer Umfrage illustrieren gut das Verhältnis der Kinder zu der neuen Institution. Indem ich das Gericht als einen Versuch behandelte, der enttäuschend enden kann, bemühte ich mich in erster Linie um eine möglichst genaue Auswertung des riesigen Materials an Fakten, das hier gegeben war. Aus Zeitmangel skizzierte ich wenigstens die Konturen jeden Falles. Interessant waren auch die Statistik, die Kasuistik, die allgemeinen und die Ausnahme­Fälle, das gegenseitige Verhältnis von Klägern und Angeklagten und Richtern; meine Einsicht festigte sich, dass in Zukunft der leitende Erzieher (und nicht ein Erzieher und Administrator in einer Person) Gerichtssekretär sein müsse. Das Gericht ist unbedingt notwendig und lässt sich durch nichts ersetzen. Das Gericht muss einen bedeutenden Platz in der Erziehung einnehmen. Wir waren, leider, dieser Aufgabe noch nicht gewachsen. Noch nicht, oder noch nicht in unserem Bereich.

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Das Gericht hatte bei uns keinen feierlichen Einzug gehalten, es war kein erhabener, gesetzgeberischer Akt, sondern es schlich sich gefügig und furchtsam ein. Aber dennoch spürte ich deutlich, als ich das Gericht suspendierte, dass ich einen Staatsstreich vollführt hatte, und vielleicht irre ich mich, aber so empfanden es auch die Kinder. Manche Kinder atmeten auf, denn sie waren eine wachsame Kontrollinstitution los. Einige besserten sich in ihrem Benehmen, um so zu beweisen, dass das Gericht unnötig gewesen war. Eine bestimmte Gruppe fragte immer wieder nach, ob und wann das Gericht erneut in Funktion treten wird. Außerdem gab es dann noch eine Handvoll Kinder, die sich wenig für das Gericht interessierten, so wie sie überhaupt für alle Fragen des Zusammenlebens kaum Interesse zeigten. Von allen Vorwürfen, die man dem Gericht von außen her theoretisch machte, tritt einer am häufigsten auf: »Das Gericht erzieht die Kinder zur Prozesssucht.« Für mich und gewiss für jeden Erzieher gibt es keine »Kinder«, sondern nur Einzelwesen, so unterschiedlich, so extrem verschieden, so anders und eigentümlich in der Art ihrer Reaktion auf ihre Umgebung, dass ein allgemeiner Vorwurf nur ein nachsichtiges Lächeln hervorrufen muss. Während des ganzen Jahres hatte es keinen einzigen Hinweis gegeben, der zu dem Vorwurf berechtigte, das Gericht trage zur Entwicklung der Prozesssucht bei. Dagegen scheinen mir viele Tatsachen dafür zu sprechen, dass das Gericht die Kinder lehrt, wie unbequem, schädlich und gedankenlos Prozesssucht ist. Unter dem Einfluss und in der Atmosphäre des Gerichts vollzog sich meiner Meinung nach der tiefgreifende Prozess, sich selbst die Bedingungen und die Gesetze des Zusammenlebens bewusst zu machen. Wer die Kindergemeinschaft nicht gering achtet, wer begreift, dass es sich hier um eine Welt und kein kleines »Weltchen« handelt, den wird die Ziffer »3500 Fälle« davon überzeugen, dass ich mich nicht in die Einzelheiten begeben kann, weil eine solche Arbeit mehrere dicke Bände umfassen würde. Nur eines möchte ich hervorheben: Unter hundert Kindern wurde nur ein einziger Junge nicht von der Prozesssucht geheilt, aber sehr viele Kinder wurden davon kuriert. Nach der Pause wurden drei wichtige Ergänzungen in die Gerichtsverfassung eingefügt. 1. Wer mit seinem Urteil nicht einverstanden ist, hat das Recht, einen Monat später zu appellieren. 2. Einige Fälle werden aus dem Gerichtsgang herausgenommen und an den Gerichtsrat überwiesen. 3. Die Kinder haben das Recht, auch Erwachsene, das Personal, dem Gericht zu melden.

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Ich kann hier keine Einzelheiten bringen. Ich selbst habe mich im Verlaufe eines halben Jahres fünfmal dem Gericht gestellt. Einmal, weil ich einem Jungen eins hinter die Ohren gegeben hatte, einmal, weil ich einen Jungen aus dem Schlafsaal hinausgeworfen hatte, einmal, weil ich einen in die Ecke gestellt hatte, einmal wegen Beleidigung eines Richters und einmal, weil ich ein Mädchen des Diebstahls beschuldigt hatte. In den ersten drei Fällen erhielt ich § 23, im vierten § 71, im letzten § 7.·Jedesmal legte ich eine umfangreiche schriftliche Aussage vor. Ich behaupte mit aller Entschiedenheit, dass diese wenigen Fälle Grundstein meiner eigenen Erziehung zu einem neuen »konstitutionellen« Pädagogen waren, der den Kindern kein Unrecht tut, nicht weil er sie gern hat oder liebt, sondern weil eine Institution vorhanden ist, die sie gegen Rechtlosigkeit, Willkür und Despotismus des Erziehers schützt. Das Parlament (der Sejm) des Waisenhauses Die Tagesdienste haben im Waisenhaus bereits eine siebenjährige Geschichte und in vielen Internaten ihre Feuerprobe bestanden. Küche, Wäscherei, Inventar, Heimpflege und Aufsicht über die jüngeren Kinder sind den Zöglingen anvertraut, wobei aus zehnjährigen Diensthabenden ein Hauspersonal im Alter von vierzehn bis fünfzehn Jahren geworden ist. Die Heimzeitung erscheint regelmäßig, das Gericht ist seit zwei Jahren ununterbrochen tätig. »Wir sind herangereift, um es mit der Selbstverwaltung zu versuchen.« Auf diese Weise entstand der Sejm, von dem noch nichts Bestimmtes gesagt werden kann. Der Sejm zählt zwanzig Abgeordnete. Fünf Kinder bilden einen Wahlkreis; wer vier Stimmen auf sich vereinigt, wird Abgeordneter. An der Abstimmung nehmen alle Kinder teil, Abgeordneter kann aber nur jemand werden, gegen den kein einziges Gerichtsverfahren wegen Unredlichkeit stattgefunden hat; Unehrlichen (Diebstahl, Betrug) steht das Recht auf Rehabilitation zu. Der Sejm bestätigt die vom Rat des Gerichts erlassenen Gesetze oder er lehnt sie ab. Der Sejm fasst Beschlüsse über besondere Kalendertage und billigt das Recht auf Erinnerungspostkarten zu. Wenn das Gericht bevollmächtigt ist, über die zwangsweise Entfernung eines Zöglings zu beschließen, so sollte der Sejm bestrebt sein, die Aufnahme neuer und das Ausscheiden älterer Kinder, ja auch des Personals, von seiner Entscheidung abhängig zu machen. Dabei ist Vorsicht geboten. Die Befugnisse des Parlaments dürfen nur allmählich erweitert werden. Es mag ruhig zahlreiche Einschränkungen und Ermahnungen geben, aber sie sollten eindeutig und offen genannt werden. Andernfalls sollten wir keine Wahlen veranstalten, keine Spielerei mit einer Selbstverwaltung inszenieren und weder uns noch die Kinder irreführen. Denn ein solches Spiel wäre abgeschmackt und schädlich zugleich.

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Der Kalender Ich gebe hier einige Paragraphen des Projektes bekannt: § 6. Der Sejm setzt über die religiösen Feiertage hinaus entweder auf Vorschlag eines Abgeordneten oder im Zusammenhang mit der Zubilligung einer Erinnerungspostkarte besondere feierliche Tage fest. § 9. Der 22. Dezember. Losung: »Es lohnt sich nicht aufzustehen« (denn der Tag ist kurz). Wer will, kann schlafen und braucht nicht aufzustehen. Wer will, braucht sein Bett nicht zu machen. Einzelheiten werden von der Verfassungskommission des Sejm erarbeitet. § 10. Der 22. Juni. Losung: »Es lohnt nicht, sich hinzulegen.« Wer will, kann die ganze Nacht wach bleiben. Bei schönem Wetter Nachtmarsch durch die Stadt. § 12. Tag des ersten Schnees. Losung: »Schlittentag«. Als Tag des ersten Schnees wird der Tag angesehen, an dem Schneefall eintritt bei einer Temperatur unter 1 ° Kälte. Schneeballschlacht, Ausflug, für die durch Abstimmung ausgewählten Kinder mit Schlitten. § 18. Tag der Toten. Während des Morgengebetes wird der verstorbenen Erzieher namentlich gedacht. § 19. Tag des dreihundertfünfundsechzigsten Mittagessens. Die Hauswirtschafterin bekommt für ihre Mühe Bonbons, ebenso der Küchendiensthabende. Losung: »Namenstag der Küche«. Anmerkung: Erwünscht sind Vorschläge für die Ehrung der Wäscherei. § 22. Tag des Schmutzbartels. Losung: »Sich zu waschen, ist verboten.« Wer sich an diesem Tage waschen will, (muss) eine Gebühr zahlen, deren Höhe der Sejm beschließt. § 24. Tag der Uhr. Der unpünktliche Schuster hat sich, nachdem er es versprochen hatte, gebessert und ein ganzes Jahr die reparierten Schuhe am richtigen Tag zur festgesetzten Stunde geliefert. Der Sejm hat ihm eine Postkarte für Pünktlichkeit zuerkannt. Zur Erinnerung daran dürfen die Kinder am Tag dieses Sejmbeschlusses eine Stunde länger in der Stadt bleiben. § 27. Tag des Liederjans. Wer durch Abstimmung zum Liederlichsten in seinem Äußeren erklärt wird, erhält etwas an Bekleidung, damit er an Feiertagen nicht aussieht wie ein Dreckfink. § 28. Tag des Kochkessels. Da einer von den älteren Jungen es in ungefälliger Weise abgelehnt hatte, beim Herübertragen des Kessels zu helfen, als der Aufzug aus der Küche in den Speisesaal defekt war, werden an diesem Tage zwei ausgeloste ältere Jungen das Frühstück hereintragen, auch wenn der Aufzug intakt ist. § 32. Tag der Ermutigung. Wer in einem Jahr die meisten Schuldparagraphen hatte, erhält freisprechende Urteile für die Vergehen einer ganzen Woche. Falls er will,

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kann er Richter sein. Dieser Tag wird eingeführt zur Erinnerung daran, dass einer der größten Lümmel eine Woche lang kein einziges Verfahren hatte. § 40. Der Sejm beschließt, wie lange der betreffende Tag im Kalender aufgeführt werden soll. Erinnerungspostkarten Das vom Sejm noch nicht beschlossene interimistische Statut über Erinnerungspostkarten umfasst unter anderen folgende Paragraphen: § 3. Die Aufschrift auf der Rückseite des Bildes lautet: »Durch Sejmbeschluss vom … wurde dem, der … (Name) eine Erinnerungspostkarte für … zuerkannt.« Das Zuerkennungsdatum kann zum Feiertag erklärt und in den Kalender aufgenommen werden. § 4. Wer sich um eine Postkarte bewirbt, ist gehalten, eine Eingabe auf einem nicht zerknitterten Bogen Papier zu machen, wo er eigenhändig in sorgfältiger und leserlicher Schrift die Taten und Ereignisse aufzählt, die er festhalten möchte. Es kann sich um gute und um schlechte Taten handeln, ebenso um nützliche wie um schädliche, sie können lobens-, aber auch tadelnswert sein. Die Postkarte kann eine liebe, aber auch eine unangenehme Erinnerung sein, eine Ermutigung oder eine Warnung. § 5. Wenn der Sejm ein erinnerungswürdiges Ereignis besonders hervorheben will, nimmt er es in den Kalender auf, der Siege und Niederlagen, lobenswerte Anstrengungen oder auch Nachlässigkeiten, Beweise eines starken oder schwach entwickelten Willens festhält. § 7. Der Inhalt des Postkartenbildes sollte dem entsprechen, wofür die Postkarte ausgegeben wurde; das hätte so auszusehen: Für sofortiges Aufstehen nach dem Morgenwecken wird in der Winterzeit eine Winterlandschaft, in den Frühjahrsmonaten eine Frühlingsansicht usw. gewählt. Für das Schälen von 2000 Pfund Kartoffeln eine »Blumenpostkarte«. Für Schlägereien, Zank, Widersetzlichkeiten gegen Bestimmungen und Beschlüsse eine »Tigerpostkarte«. Für die Betreuung kleiner und neu hinzukommender Kinder eine Karte mit Pflegemotiv. § 10. Wer länger als ein Jahr gewissenhaft den gleichen Dienst versieht, hat Anrecht auf eine Postkarte mit einer Ansicht von Warschau. Der Sejm betrachtet das Waisenhaus als ein kleines Teilchen von Warschau und möchte vielen ein Andenken mitgeben, das denen besonders teuer sein dürfte, die in Zukunft einmal ihre Heimatstadt verlassen sollten. § 12. Der Sejm berät, ob man außer den Erinnerungs- auch Jubiläumspostkarten ausgeben sollte. Wer z. B. immer früh aufsteht, also bereits Erinnerungskarten aller vier Jahreszeiten besitzt, könnte eine Karte des »Starken Willens« erhalten.

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§ 14. Allmählich sollte auch eine »Gesundheitskarte« eingeführt werden (wer kein einziges Mal krank wird, rasch größer wird, Sport treibt), ebenso Erinnerungskarten für Teilnahme an Theateraufführungen, Vergnügungen, für Arbeit an der Zeitung und beim Gericht. § 17. Die Abschiedspostkarte Vergissmeinnicht ist die letzte Karte mit der Unterschrift der Kinder und der Erzieher. Die Karte ist keine Belohnung, sondern ein Erinnerungsstück. Manche Kinder verlieren sie auf ihrem Lebensweg, andere bewahren sie für lange Zeit auf.

Zeittafel zum Leben und Schaffen des Janusz Korczak

22. Juli 1878 oder 1879  Henryk, Sohn des Advokaten Jozef Goldszmit und der Cäcilie, geb. Gętbicki, in Warschau geboren. 1898

Eintritt in die medizinische Fakultät der Universität Warschau.

1899

Unter dem Pseudonym Janusz Korczak verfasst er ein Drama in vier Akten unter dem Titel Wohin des Weges? für einen literarischen Wettbewerb des Kurier War­ szawski und erhält eine Auszeichnung.

1900

Auf seine Initiative veröffentlicht die illustrierte humoristische Wochenzeitung Kolce (Stacheln) eine sensationelle Sittenerzählung unter dem Titel Der Lakai. Aus dem Tagebuch eines Entgleisten. Es handelt sich um einen Gemeinschaftsroman, der abschnittsweise geschrieben wird. Für jede Ausgabe schreibt ein anderer Mitarbeiter die Fortsetzung. Die Verfasser sind, wie Korczak, vorwiegend Studenten und literarische Anfänger.



Er betreut ein Häuflein Kinder in einem Armen-Viertel von Warschau, unterrichtet und erzieht sie.



Aktiv beteiligt am geheimen Schulunterricht und an der Tätigkeit der Fliegenden Universität, wobei in immer anderen Privatwohnungen, vor den Augen der Polizei verborgen, die bedeutendsten polnischen Wissenschaftler Vorlesungen halten.

1901

Die ersten feuilletonistischen Veröffentlichungen in der Wochenzeitung Kolce, die Korczak so viel Anerkennung und Popularität einbringen, dass sie später unter dem Titel Koczałki opałki (Albernheiten) in Buchform herausgegeben werden.



Korczaks erster Roman erscheint unter dem Titel Dzieci ulicy (Kinder der Straße).

1904

Er beendet sein medizinisches Studium und nimmt seine Tätigkeit in einem Kinderkrankenhaus in Warschau auf.



Die politisch-literarische Wochenzeitung Glos (Die Stimme) beginnt mit der Veröffentlichung des nächsten Romans von Janusz Korczak Dziecko salonu (Das Salonkind). Dieser Roman wird zum literarischen Ereignis und macht den Namen Korczak in der polnischen Literatur zu einem festen Begriff.

1905/1905 Russisch-japanischer Krieg. Als Arzt zur Armee einberufen, arbeitet er in einem Feldlazarett in einem chinesischen Dorf in der Mandschurei. 1906/1910 Als stellvertretender Primarius ist er in einem Kinderkrankenhaus im Arbeiterviertel von Warschau tätig. Drei Auslandsreisen: Er praktiziert ein Jahr in Berliner Kliniken, ein halbes Jahr in Paris, einen Monat in London.

Er ist geschätzt und gesucht als guter Kinderarzt. Zweimal benutzt er seinen Urlaub, um als Erzieher in Ferienkolonien mitzuarbeiten, die von einem Wohl­ tätigkeitsverein für die ärmsten Kinder eingerichtet worden sind.

281

Zeittafel

1911/1914 Er gibt seine glänzend gehende Praxis als Kinderarzt auf und tut den Schritt von der pädagogischen Problematik in literarischen Arbeiten zur unmittelbaren Erziehungsarbeit. Er übernimmt das nach seinem Entwurf 1911 neu errichtete Dom Sierot (Waisenhaus), in dem er bis zum Schluss bleibt. Hier begründet er eine organisierte Kindergemeinschaft und entwickelt dabei eine eigene Selbstverwaltungsmethode.

In dieser Zeit schreibt er Bobo, eine Studie über ein Neugeborenes, Spowiedź motyla (Schmetterlingsbeichte), Tagebuchblätter eines Jugendlichen in der Pubertätszeit, Feralny tydzień (Eine Unglückswoche), eine Erzählung aus dem Schulleben.

1914/1918 Erneut zur Armee einberufen als Arzt im Rang eines Hauptmanns nutzt er in Feldlazaretten, im Chaos und im Grauen des Frontgebietes jede freie Minute aus und schreibt sein Hauptwerk Jak kochać dziecko (Wie man ein Kind lieben soll), ein Werk zwischen Studie und Poesie.

Während seiner Tätigkeit im Militärspital in Kiew kommt er mit einem Internat für polnische Jungen in Berührung; das von Maryna Falska geleitet wird, und er unterstützt sie in ihrer Erziehungsarbeit. Gegen Jahresende 1918 schlägt er sich nach Warschau durch.

1919/1925 Weitere Vertiefung und Festigung seiner Erziehungsmethode im Haus der Waisen. In Pruszków bei Warschau entsteht Nasz Dom (Unser Haus), ein zweites nach dem System Korczaks geführtes, von Maryna Falska geleitetes Haus.

Korczak beginnt mit seinen Vorlesungen im Institut für Spezielle Pädagogik in Warschau, die er über viele Jahre hin fortsetzt.



Er veröffentlicht die fantastische Erzählung Kiedy znów będę maly (Wenn ich wieder klein sein werde), deren Ich wieder zum Kind wird und sich dabei das volle Bewusstsein seines früheren Erwachsenenlebens erhält. In dieser Konfrontation zwischen Reife und Kindheit erweist sich Korczak als unvergleichlicher Kenner des Kinderlebens und seiner Psychologie und führt den Leser zurück in die längst vergessene Welt der ersten Vorstellungen, Erfahrungen und Sachen.

1923

Eines seiner besten Werke wird veröffentlicht, der Roman Król Maciuś Pierwszy (König Hänschen I.), die Tragödie eines empfindsamen, gescheiten Jungen, der das Unglück hatte, als König geboren zu werden, und der die Welt verbessern wollte. Von der ungeminderten Popularität dieses Romans zeugt untrüglich die Tatsache, dass Leser in Stettin ihrem Lieblingshelden, König Hänschen I., ein Denkmal er­ richtet haben.

1926

Er gründet und redigiert die Wochenzeitung Maly Przegląd (Kleine Rundschau), an der ausschließlich Kinder und Jugendliche mitarbeiten.



Er wird zum Sachverständigen für Fragen der Minderjährigen beim Landgericht in Warschau ernannt. Veröffentlichung seines Romans Bankructwo malego Dzeka (Der Bankrott des kleinen Jack).

1928

Das Erziehungsinstitut Nasz Dom zieht von Pruszków in das schöne eigene Gebäude in Bielany um, einen Villenvorort von Warschau. Korczak arbeitet auch weiterhin mit diesem Institut zusammen und verbringt dort zwei Tage in der Woche.



Er beginnt mit seinen Vorlesungen an der Freien Polnischen Hochschule und veröffentlicht die Schrift Prawo dziecka do szacunku (Das Recht des Kindes auf Achtung).

282

1930

Zeittafel

Das Warschauer Theater Ateneum führt das Stück von Janusz Korczak Senat Szaleńców (Der Senat der Wahnwitzigen) auf, mit dem Untertitel Makabre Humoreske.

1031/1939 Außer seiner pädagogischen Arbeit im Dom Sierot und in Nasz Dom führt Korczak seine Vorlesungen an zwei höheren Lehranstalten in Warschau fort.

Die Gespräche Korczaks mit Kindern vor dem Mikrofon des Polnischen Rundfunks, die sogenannten Radio-Plaudereien des Alten Doktors lockten nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene an die Lautsprecher und werden ungemein populär. Einige von diesen Plaudereien erscheinen später in Buchform unter dem Titel Pedagogika żartobliwa (Fidele Pädagogik).



Von den literarischen Arbeiten dieses Zeitabschnitts sind die wichtigsten: Prawidła życia (Lebensregeln), eine Pädagogik für Kinder und Erwachsene, der Roman Kajtuś Czarodziej (Kajtus, der Zauberer) und eine belletristische Biografie von Ludwig Pasteur unter dem Titel Uparty chlopiec (Der eigensinnige Junge).

1939/1942 Während der Belagerung Warschaus hält der Alte Doktor wieder Rundfunkansprachen, redet den Menschen gut zu und erklärt den Kindern, wie man sich angesichts von Gefahren zu verhalten hat, um die Zahl der Opfer möglichst gering zu halten.

Nach der Einnahme Warschaus durch die deutsche Armee zieht er die Uniform eines Majors der Polnischen Armee nicht aus. Weil er die gelbe Armbinde nicht anlegt, die zu tragen der jüdischen Bevölkerung von den neuen Machthabern befohlen worden war, wird er ins Gefängnis gesteckt. Ehemalige Zöglinge tun sich zusammen, um ihn aus dem Gefängnis freizukaufen, und es gelingt ihnen schließlich, ihn zu befreien. Er kehrt in das Dom Sierot zurück. Überführung ins Ghetto. Schreckliche Zeiten des Hungers, der Verachtung und der Vernichtung. Freunde von der anderen Seite der Mauer bemühen sich darum, Korczak aus dem Ghetto herauszuholen, er lehnt jedoch alle Rettungsversuche für seine Person ab und betreut weiterhin die Kinder aus dem Dom Sierot. Er verfasst seine Erinnerungen, die in Band IV der Ausgewählten Schriften von Janusz Korczak im Verlag Nasza Księgarnia (Unsere Buchhandlung) in Warschau veröffentlicht worden sind.

5. August 1942   200 Zöglinge des Waisenhauses, mit Korczak und dem Personal in den ersten Reihen, ziehen durch die Straßen des erstorbenen Warschau auf den »Umschlagplatz« in der Nähe des Danziger Bahnhofs. Über dem Zug die Fahne des Waisen­hauses: ein goldenes vierblättriges Kleeblatt auf grünem Grund, wie es sich der Held aus Korczaks Roman König Hänschen I. erträumt hatte, weil grün die Farbe der Hoffnung ist. Der Zug fährt ab in Richtung auf das Vernichtungslager Treblinka.

Sachregister

Achtung 85, 258 Antithese 51 Arzt 6, 10–14, 18 f., 29–31, 44, 98, 172, 214, s. a. Erzieher Ausschluss aus dem Waisenhaus 241, 247, 276 Autorität 81, 85, 163, s. a. Gericht Beeinflussung, erzieherische 50 Beobachtung der Kinder 53 Beobachtungsgabe des Kindes 64 Betreuer 231–233, 242 Betreuungskommission 231–233 Briefkasten 224 f. Diebstahl 164 f., 226, 258, 276 Dienstleistungen, Diensthabende, Tagesdienst 130, 188, 210–212, 225 f., 228–231, 253 f., 256 f., 261 f., 264 f., 276 Disziplin 128, 142, 208 Eigentum 206, 239, 271 Fundsachen 227 f. Entwicklung 28, 36, 52–54, 95 f., 174 f., 179 Kleinkind 26, s. a. Kleinkind Kurve 20, 52 Pubertät 101 f., s. a. Pubertät Säugling 20 Schulzeit 96 Erbmasse, Erblichkeit, Vererbungslehre 46–48, 117, 166 Erzieher 172–177 Erziehungsmilieu 48–51 Essen, Ernährung 17–19, 55, 171, 175, 192 f. Eugenik 6 Familie 1–115 Ferienlager s. Sommerkolonien Geburtenkontrolle 5 Gericht, Kameradschaftsgericht 236–276 Gesetzbuch 236 f., 242–247, 269 Gerichtssekretär 238, 260, 271, 274

Gerichtsurteil 242 Gerichtszeitung 247, 256, 260, 269 Rat des Gerichts 273 f., 260, 275 Richter 237, 251, 268 Gewicht 15–17, 20, 55, 104, 179, 223 f. Instinkt 58, 209 Intelligenz-Untersuchung 8 Internat 117–180 Kalender 223, 277–279 Kind Andersartigkeit 34, 55–58, 81, 121, 176, 234 Bitten 151–153 Egozentrismus 39, 62 f. Fragen 41 f., 80–87, 92, 95 f., 153 Gang 172 Geheimnisse 2, 154–156 Gleichberechtigung 122, 139 f., 167, 236 Klagen 149–151 Lügen 160, 170 f. Spiel 31, 68 f. Typen des Rechts 7 f., 20, 42–44, 49, 70, 81 f., 127, 165 f., 206 f., 271 f. Vorrecht der Jungen 94 Kinderklub 204 Kinderpsychologie 187 f. Kinderzimmer 32, 70 Kleinkind 6–44 Kontrollbuch 226 Krankheit 11–14, 19 f., 214 Langeweile 66 Liebe 103–105 Lohn 231 Mädchen 94, 104–106 Märchen 65, 81–87, 91, 181 Medizinmethoden 81 f., 172–176 Notariatsverzeichnis 226

284 Onanie 112, 127, 131 f. Pädagogik 9, 31, 117–122, 174–177, 179 Heilpädagogik 173 Methoden 52, 81 f., 121–123, 172–177, 205 Parlament 276–279 Pfadfinder 35 Philanthropie 218 f. Postkarten 276, 278 f. Psychosomatik 20, 172–176 Pubertät, Reifungsperiode 34, 101–105, 111 Regal 225–227 Schlaf 55 f., 138, 169, 174 f., 191 f., 273 Schlägerei 45, 187, 209 f., 223, 236 Selbstverständnis, Selbstbewusstsein 40 f. Selbstverwaltung 276 Settlement s. Kinderklub Sexualität 102, 135 Sommerkolonien 19, 44, 65, 181–215, 220 Organisation 202, 210–214 Versammlung 209 f. Spiel 67–76, 267 Sprache 23, 28–30 Kindersprache 89 Muttersprache 88

Sachregister

Strafe 126, 141–144, 147–149, 248–250, 269, 273 Tafel 222–224, 237–242 Tagebuch Diensthabende 231 Erzieher 225–227 Kind 228, 231–233 Tagesdienste s. Dienstleistungen Tauschen 164 f., 226 Tod 34, 112 Recht des Kindes auf seinen Tod 31 Träume, Traumwelt 109–111 Verkaufsstelle, Kramladen 228 f. Wachstum, 52–54, 97, 100, 104, 179, s. a. Entwicklung Waisenhaus 58, 217–279 Bauweise 58, 217 Organisation 132, 220–222, 229–231 Versammlung 234 f. Wille 26, 32, 39, 41 Zeitung 226, 235, 241, 247, 256, 269, 276

Namenregister

Aladin, Märchenfigur aus 1001 Nacht 41 Berlin 172 Bismarck, Otto von (1815–1898), deutscher Politiker, erster Reichskanzler des Deutschen Reiches 20 Brzozowski, Stanislaw Leopold (1878–1911), polnischer Publizist und Kritiker 52 Brudzinski, Józef, Arzt 19 Charcot, Jean Martin (1825–1893), französischer Neurologe 54 Colette, Sidonie-Gabrielle (1873–1954), französische Schriftstellerin 32 Fabre, Jean Henri (1823–1915), französischer Entomologe 215 Freud, Sigmund (1856–1939), österreichi­ scher Neurologe, Begründer der Tiefenpsychologie 102 Jellenta, Cezary (Pseudonym für Hirszband, Napoleon) (1861–1935), polnischer Schriftsteller 108 Kamienski, Stanislaw (1860–1913), polnischer Arzt 18 Krakus, polnischer Sagenheld 83 Kuprin, Aleksander Iwanowitsch (1870– 1938), russischer Schriftsteller 105 Locke, John (1632–1704), englischer Philosoph 168 Mickiewicz, Adam (1798–1855), polnischer Dichter 86, 115, 183 Mirbeau, Octave (1848–1917), französischer Schriftsteller 51 Moskau 204

Napoleon I. (1769–1821), Kaiser der Franzosen 9, 20, 58 Paris 57, 172 Pestalozzi, Johann Heinrich (1746–1827), Schweizer Pädagoge 137 Prévost, Marcel (1862–1941), französischer Schriftsteller 123 Robinson Crusoe, Hauptfigur des Romans von Daniel Defoe 39, 82, 138 Rom 206 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778) 117 Rubens, Peter Paul (1577–1640) 115 Shakespeare, William (1564–1616), englischer Schriftsteller 25 Slowacki, Juliusz (1809–1849), polnischer Dichter 1 Sobieski, Jan (1624–1696), König von Polen 183 Stefania s. Wilczyńska, Stefania Tolstoi, Lew Nikolajewitsch (1828–1910), russischer Schriftsteller 78 Warschau 203 f., 278 Witkiewicz, Stanislaw (1851–1915), polnischer Schriftsteller 37 Wilczyńska, Stefania (1186–1942), leitende Erzieherin in Dom Sierot 222 Zeromski, Stefan (1864–1925), polnischer Schriftsteller 5 Zola, Émile (1840–1902), französischer Schriftsteller 110