Medikale Räume: Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit [1. Aufl.] 9783839413791

Mit dem »Spatial Turn« in den Kulturwissenschaften haben sich neue Perspektiven auf die Kategorie des Raumes eröffnet. D

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German Pages 254 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Die Verräumlichung des Medikalen. Zur Einführung in den Band
Medikale Landschaften. Das Sanatorium als gedachte und gelebte Gesundheitsgeographie
Am Ort des Anderen. Raumaneignungen von Frauen in Psychiatrien um 1900
Sanitätsbaracken, Polenstationen und Ausländerkrankenhäuser. Orte der Ausgrenzung erkrankter ausländischer Zwangsarbeiter
Schule und Gesundheit im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts
Personalisierung und Interaktion am Beispiel von Gesundheitsdiskursen im Internet
Körper, Krankheit und Gesundheit im medi(k)alen Raum britischer und deutscher medizinischer Wochenschriften (1919-1948)
Zwischen Forschung, Therapie und Gesundheitsführung. Die fachöffentliche Diskussion um die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten in Großbritannien und Deutschland (1933-1945)
Tierkörper im medi(k)alen Raum deutscher und britischer Medizinischer Wochenschriften (1919-1945)
„Das sind Höllenschmerzen!” Das Sprechen über den Schmerz als kulturelle Bindung
„Wie eine Quelle in der Wüste” Ein religiöser Beziehungsraum als Voraussetzung für Selbstsorge und Fürsorge philippinischer Migranten
Autorinnen und Autoren
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Medikale Räume: Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit [1. Aufl.]
 9783839413791

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Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel, Alois Unterkircher (Hg.) Medikale Räume

2010-04-07 11-09-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8238419884474|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 1379.p 238419884482

2010-04-07 11-09-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8238419884474|(S.

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) T00_02 seite 2 - 1379.p 238419884506

Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel, Alois Unterkircher (Hg.)

Medikale Räume Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit

2010-04-07 11-09-07 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8238419884474|(S.

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) T00_03 titel - 1379.p 238419884570

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Daimer, Joseph, Todesursachen in Oesterreich während der Jahre 1873 bis 1900 (mit 7 Tafeln), in: Das Österreichische Sanitätswesen 14 (1902), Beilagen, S. 83-175, Tafel 13 Lektorat & Satz: Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel, Alois Unterkircher Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1379-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Die Verräumlichung des Medikalen. Zur Einführung in den Band

7

DAGMAR HÄNEL UND ALOIS UNTERKIRCHER Medikale Landschaften. Das Sanatorium als gedachte und gelebte Gesundheitsgeographie

21

EBERHARD WOLFF Am Ort des Anderen. Raumaneignungen von Frauen in Psychiatrien um 1900

43

MONIKA ANKELE Sanitätsbaracken, Polenstationen und Ausländerkrankenhäuser. Orte der Ausgrenzung erkrankter ausländischer Zwangsarbeiter

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BERNHARD BREMBERGER Schule und Gesundheit im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts

81

ANDREAS GOLOB Personalisierung und Interaktion am Beispiel von Gesundheitsdiskursen im Internet

107

CORNELIA BOGEN Körper, Krankheit und Gesundheit im medi(k)alen Raum britischer und deutscher medizinischer Wochenschriften (1919-1948) 133 SIGRID STÖCKEL Zwischen Forschung, Therapie und Gesundheitsführung. Die fachöffentliche Diskussion um die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten in Großbritannien und Deutschland (1933-1945) 141 HEIKO POLLMEIER

Tierkörper im medi(k)alen Raum deutscher und britischer Medizinischer Wochenschriften (1919-1945)

177

WIEBKE LISNER Å'DVVLQG+|OOHQVFKPHU]HQ´ Das Sprechen über den Schmerz als kulturelle Bindung

209

GERNOT WOLFRAM Å:LHHLQH4XHOOHLQGHU:VWH´ Ein religiöser Beziehungsraum als Voraussetzung für Selbstsorge und Fürsorge philippinischer Migranten

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JULIA THIESBONENKAMP Autorinnen und Autoren

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Die Verräumlichung des Medikalen . Zur Einführung in den Band DAGMAR HÄNEL UND ALOIS UNTERKIRCHER

Der Raum ist in Bewegung geraten, aber wohin? Die Raserei auf der Datenautobahn endet immer öfter mit einem Crash in die Feuerwand, sofern TRIGGER-Warntafeln uns nicht schon vorher zum Stehenbleiben gezwungen haben. Außerhalb der virtual reality wohnt die neue Generation längst in Häusern aus Materialien, die nicht mehr für die Ewigkeit gedacht werden: zusammenklappbar und in kürzester Zeit ökologisch abgebaut sind sie perfekt abgestimmt auf die Bedürfnisse des transnationalen und mobilen Menschen, der keine territorialen und nationalstaatlichen Räume für seine Identitätsbildung mehr benötigt. Der Raum soll nicht mehr still und starr ruhen, einem Behälter für Heimatliches gleich, als vielmehr dynamisch sein, fluktuierend und angeeignet in Prozessen. Eben diese Prozesse der Raumbildung geraten seit einigen Jahren vermehrt in den Blick von WissenschaftlerInnen zahlreicher Disziplinen, die unterschiedlichste Raumkonstitutionen einer Analyse unterziehen: die physisch-materiellen und die virtuellen Räume, die sozialen und die ästhetischen. Die Treffpunkte verinselter Lebensweisen werden zu einer neuen, nicht historisch gewachsenen Stadt verknüpft, Körperräume erfahren ihre Verräumlichung durch Metaphern aus der Architektur. Der Mensch als Industriepalast allerdings war gestern, seit die Räume für industriell gefertigte Massengüter in die Vorhöfe der globalen Welt verlegt wurden. Doch wer verräumt eigentlich das Medikale? In einer kürzlich erschienenen Anthologie zu verschiedenen Raumwissenschaften 7

DAGMAR HÄNEL UND ALOIS UNTERKIRCHER

fehlt jedenfalls der Verweis auf die medizinischen Disziplinen (Günzel 2008). Auch in einem für dasselbe Verlagshaus zusammengestellten Kompendium grundlegender raumtheoretischer Texte findet sich kein Beitrag aus der Medizin (Günzel/Dünne 2006), etwa zum epochalen Werk des Anatomen Vesalius, von dem immerhin geschrieben wird, es habe den Menschen neu Åentdeckt´ (Jütte 1998: 241-260). Ist die Medizin demnach nicht zuständig für die Wartung medikaler Räume?

Medikale Räume ± ein Beispiel Für das Jahr 1871 liegt uns die Beschreibung eines Gebäudekomplexes in der unmittelbaren Umgebung von Hall, einer u.a. durch den Salzbergbau zu größerer Bedeutung gelangten Kleinstadt ca. 10 km östlich von Innsbruck, vor (Pircher 1871: 260-264). Von diesem Ensemble heißt es, es bestünde aus einem Hauptgebäude samt zwei kleinen Häuschen (eines davon beherbergt eine Tischlerwerkstätte) und ausladenden Gärten, zudem böte sich von dort aus eine freie Sicht über das Inntal. Der ebenfalls auf dem Gelände angesiedelte zweistöckige Neubau umfasse allein in seinem östlichen Flügel 33 Einzelzimmer. Dieses gediegene Ambiente entfaltet durch die zusätzliche Aufzählung von Treppenaufgängen und Korridoren vollends seinen herrschaftlichen Charakter. Besondere Erwähnung finden auch die ebenfalls in diesem Neubau befindliche .FKHPLWÅODXIHQGH>P@%UXQQHQ´ sowie GLHÅ%DGHORNDOLWlW´. Letztgenannte Räumlichkeit dürfte damalige Salzarbeiter aus Hall angesichts der beschränkten Möglichkeiten zur körperlichen Hygiene im Werksbad der Saline davon haben träumen lassen, mit Sack und Pack und der umfangreiche Familie den eigenen beengten Wohnverhältnisse zu entfliehen und in diese Anlage zu übersiedeln. Vielleicht hat sich auch so mancheR LeserIn im Geiste schon einige der zahlreichen Zimmer als mögliche Arbeitszimmer imaginiert ² Bibliotheksraum inklusive. Wer sich jedoch nicht mit unseren selektiven Ausschnitten aus dem Bericht zufrieden geben sondern lieber den originalen Wortlaut nachlesen will, wird vermutlich rasch von einem Bezug des Gebäudes Abstand nehmen: Denn nun erfährt man, dass die Korridore und Stiegen durch abgeschlossene Türen voneinander getrennt sind ² ein freies Bewegen durch den Gebäudekomplex 8

DIE VERRÄUMLICHUNG DES MEDIKALEN

demnach nur mit der Schlüsselgewalt möglich ist. Und der Merkwürdigkeiten nicht genug, eines der beiden Häuschen wird von einem ÅOberwärter´ bewohnt, und der uns vormals so praktisch erschienenen Tischlerwerkstatt haftet bei näherer Betrachtung gar etwas Morbides an. Diese liegt nämlich unmittelbar neben dem Å/HLFKHQ- XQG6HNWLRQVORNDOH´. Auch die Küche will sich DOV Å$XVVSHLVXQJVNFKH´ plötzlich so gar nicht mehr in das Bild heimeliger Backstuben fügen, ebenso das Badezimmer mit seiner Vielzahl an :DQQHQXQGÅ'RXFKHQ´ All diese zusätzlichen Informationen deuten weniger auf einen feudalen Ansitz hin als vielmehr auf einen Ort, der für die Verwahrung einer großen Gruppe von Menschen geschaffen worden zu sein scheint und der offensichtlich eine klare Grenze zwischen dem Innen und dem Außen markieren will. Man ahnt es, bei dem Gebäudekomplex handelt es sich um eLQH Å$QVWDOW´ wo die 33 (LQ]HO]LPPHU GHV 1HXEDXV Å,UUHQORNDOLWlWHQ´ JHQDQQW ZHUGHQ und wo die Duschen weniger für die persönliche Reinigung verwendet wurden denn für qualvolle Therapien im Namen einer sich im Aufschwung befindenden Å1HUYHQZLVVHQVFKDIW´ Der Verfasser J. Pircher führt uns  LQ VHLQHQ Å0LWWKHLOXngen über die in Tirol und Vorarlberg bestehenden SanitätsanstalWHQ´ also einen spezifischen medikalen Raum vor: Nämlich einen jener IU Å,UUH XQG 1HUYHQNUDQNH´ NRQ]LSLHUWHQ 2UWH mit denen im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein dichtes Netzwerk von Einrichtungen für psychisch Kranke über die gesamte Habsburgermonarchie gespannt wurde (Griessenböck 2007: 131-156). Diese Orte können durch ihre gemeinsame Architektur, ihre ähnliche Organisation und Verwaltung, die übereinstimmenden Konzepte von Å1RUPDO´ XQG Å.UDQN´ sowie die aus diesen Gemeinsamkeiten resultierende analoge Strukturierung des Alltags als miteinander verbunden betrachtet werden. Zudem erzwingen sie geradezu ² vergleichen wir sie mit anderen Formen der Krankenbehandlung ² eine umfassendere Betrachtung. Daher wird von den lokalen 9HUUlXPOLFKXQJHQIUÅ*HLVWHVNUDQNH´LQGHU)RUVFKXQJnicht zu Unrecht als ÅSV\FKLDWULVFKHn /DQGVFKDIWHQ´ gesprochen (Geschichte und Region/Storia e regione 2008).1 Im Anschluss an den 1

Vgl. auch die Homepage des am Institut für Geschichte und Ethnologie der Universität Innsbruck angesiedelten InterregIV-Projektes Å3V\FKLDWULVFKH /DQGVFKDIWHQ3VLFKLDWULD &RQILQL´ XQG KLHUEHL GLH 9

DAGMAR HÄNEL UND ALOIS UNTERKIRCHER

französischen Soziologen Pierre Bourdieu können wir diese Verknüpfung ähnlich gestalteter Räume des medizinischen VersorJXQJVZHVHQV DOV Å,Relationennetz¶ der Fürsorge´ bezeichnen (Bourdieu 1996: 157f).

K u l t u rw i s s e n s c h a f t l i c h e P o t e n t i a l e Pirchers Bericht ist nur ein Beispiel dafür, dass medikale Räume ein wissenschaftlicher Gegenstand sein können, der genaue Betrachtung lohnt. Welche sozialen Güter und Menschen verknüpfen ÄrztInnen und PatientInnen, Kranke und deren Angehörige, Pflegende und Verpflegte zu solchen medikalen Räumen? Mit welchen Praxen agieren die AkteurInnen innerhalb dieser Räume? Welche Strategien von Integration, Segration und Verweigerung werden genutzt? In welchen Objekten, Narrationen, Bildern und Texten repräsentieren sich Konzepte von medikalen Räumen? Eine konsequent angewandte Perspektive des Räumlichen auf das weite und heterogene Feld der medikalen Kulturen erschließt einen Kosmos von Bezügen, Interaktionen und Interdependenzen, die Hinweise auf Formung und Funktion kultureller Strukturen geben. Um diesem Potential nachzugehen, stellten die Organisatoren das 12$UEHLWVWUHIIHQGHV1HW]ZHUNVÅ*HVXQGKHLWXQG.XOWXU LQGHUYRONVNXQGOLFKHQ)RUVFKXQJ´GDVvom 18. bis 20. März 2009 in der Akademie Frankenwarte in Würzburg stattfand, unter den 7LWHOÅ0HGLNDOH5lXPH´$QOLHJHQZDUHVGDEHLZHQLJHUHLQHLnheitliches Konzept von medikalen Räumen zu vertreten oder zu entwickeln, vielmehr ging es um eine spezifisch kulturwissenschaftliche Perspektivierung von Raumkonzepten in Kontexten des Medikalen. Die TeilnehmerInnen der Arbeitstagung versuchten, mit Hilfe von Raum und Räumlichkeit als Analysekategorien und in spezifischen Fallstudien eine Antwort auf die oben angerissenen Fragen zu geben. Getreu dem bisher erfolgreichen Konzept des Netzwerks, zum einen interdisziplinär, zum anderen zwischen erfahrenen und weniger erfahrenen WissenschaftlerInnen einen dialogischen AusYRU GHP +LQWHUJUXQG GHV ÅPDSSLQJ´ EHVRQGHUV LQWHUHVVDQWH 8mVHW]XQJ GHU KLVWRULVFKHQ (QWZLFNOXQJ LQ HLQ UlXPOLFKHV Å3DQRUaPD´ http://www.psychiatrische-landschaften.net. 10

DIE VERRÄUMLICHUNG DES MEDIKALEN

tausch zu fördern, war auch dieses Arbeitstreffen ein produktives wie vielschichtiges. Und somit spiegelt auch dieser Tagungsband die Vielfalt der auf dem Treffen vorgestellten Forschungsarbeiten, die sowohl gegenwartsorientierte als auch historische Zugänge aus den Disziplinen Volkskunde/Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie, Geschichte, Medizingeschichte, Soziologie und Ethnologie repräsentieren.

Ä5lXPHGHV0HGLNDOHQ³ und relationales Raumkonzept Kehren wir noch einmal zurück zu unserem Beispiel. Psychiatrische Anstalten wie die 1871 als Irrenanstalt beschriebene, stellen natürlich äußerst spezielle, nicht alltägliche Räume des Medikalen dar. Deren Platzierung im öffentlichen Raum ist auf mehreren Ebenen als deutliche Grenzziehung zu verstehen: Die innere Raumstruktur liefert für die Insassen Strukturierungen des Alltags, spiegelt Rollenzuschreibungen und Hierarchien. Als geschlossener Raum gegenüber der Außenwelt werden zusätzliche Bedeutungen repräsentiert: Normvorstellungen, Krankheits- und Körperkonzepte, etc. Der Austausch zwischen Innen und Außen unterliegt Regeln und Kontrolle. Einen räumlichen Ausdruck findet dieser Aspekt in dem zitierten Bericht durch das Hervorheben HLQHV Å3RUWLHUKlXVFKHQV´. Dieser spezielle Ort impliziert Handlungspraxen und Kommunikationsmuster und markiert die Grenze zwischen Innen und Außen. Diese ist vor allem eine symbolische, damit wird auch das Portierhäuschen zu einem symbolischen Code für Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen von Innen und Außen. So gesehen ähneln Anstalten vom Raummodell her Behältern oder Containern, womit metaphorisch jene Mauern XPVFKULHEHQZHUGHQN|QQHQPLWGHQHQÅGLV]LSOLQLHUHQGH,QVWLWuWLRQHQ´LQGHUKHUN|PPOLFKHQ$XIIDVVXQJGLHÅLQWHUQH,QWHUDNWLoQHQ YRQ VRQVWLJHQ DOOWlJOLFKHQ ,QWHUDNWLRQHQ´ (Löw 2001: 233) trennen. Allerdings verzichten auch andere, weniger restriktive und geschlossene medikale Räume nur selten auf derartige Zeichen wie die Pforte oder den Portier: Krankenhäuser und Kliniken etwa, (aus historischer Perspektive) Gebär-und Findelhäuser oder Sanatorien und Kurzentren wie sie im Beitrag von Eberhard Wolff an einem Schweizer Fallbeispiel vorgestellt werden. Ja selbst in 11

DAGMAR HÄNEL UND ALOIS UNTERKIRCHER

modernen Arztpraxen signalisiert das Schiebefenster zur Arzthelferin/zum Arzthelfer oder ein entsprechendes Designermöbel im Empfangsbereich, wer in den eigentlichen Behandlungsraum aufgenommen wird und wer nicht (Simon 1995). Um vorherige Anmeldung wird gebeten! ² Aber wird nicht viel eher über eine solche geboten? RaumforscherInnen2 betonen daher, wie stark sich räumliche Arrangements auf das Handeln und das Verhalten von Individuen auswirken, und wie Raum und Räumlichkeit dadurch zu einem zentralen ÅMedium der Durchsetzbarkeit´ (Werlen 2003: 10) werden. Um Machtphänomene zu analysieren, die sich aus speziellen Räumen und Raumordnungen ergeben, eignet sich das Raummodell vom Container daher besonders, wie der Soziologe Markus Schroer ausführlich darlegt (Schroer 2006: 174-181). Räume beeinflussen nicht nur die Kommunikation der sich im Raum Bewegenden: Im ärztlichen Wartezimmer herrscht bis auf das Umblättern der Zeitschriftenseiten für Gewöhnlich Stille, und der Verlauf des Gesprächs zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin ist durch das besondere Setting im Untersuchungszimmer in hohem Grade determiniert: Medikale Räume fordern bestimmte Verhaltensweisen und unterdrücken andere. Å'LH NRPPXQLNDWLYH +Hrstellung eines sozialen Raumes muss nicht, kann aber ein ganz bestimmtes raumphysikalisches Substrat erzeugen, und von diesem ganz bestimmten materiellen Raum gehen ganz bestimmte soziale Wirkungen aus´ (ebd. 177) Diese eher theoretischen Überlegungen erfahren im Beitrag von Bernhard Bremberger in bedrückender Weise eine konkrete Bestätigung. Am Beispiel der untersuchten Sanitätsbaracken für ausländische Zwangsarbeiter im Berlin des Zweiten Weltkriegs wird deutlich, wie fatal sich eine einVHLWLJ EHDQVSUXFKWH Å9HUIJXQJVPDFKW EHU GHQ 5DXP´ (Bourdieu 1991: 27) auf Menschen marginalisierter Herkunft auswirkt. Schroer betont ausdrücklich, dass es durchaus spezifische Räume gibt, die von den AkteurInnen weder selbst geschaffen worden seien noch verändern werden könnten, dass diese somit ein bestimmtes Handeln vorgeben und somit zu einer gewissen

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Vgl. in diesem Zusammenhang den Überblick von Döring und Thielmann 2008 über den im Zuge des Spatial Turn erfolgten Perspektivenwechsel in vielen Wissenschaftsdisziplinen sowie den Beitrag von Soja 2008: 241-262. 12

DIE VERRÄUMLICHUNG DES MEDIKALEN

Ohnmachtserfahrung führen würden (Schroer 2006: 176f). Er relativiert damit jene relationalen Raumkonzepte, die seit einigen Jahren nicht zuletzt aufgrund des einflussreichen Buches der Soziologin Martina Löw die Diskussion um Raumbegriffe und Raumkonzepte bestimmen. )U /|Z EHGHXWHW 5DXP Åeine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten´ (Löw 2001: 224). Diese sozialen Güter umfassen nicht nur materielle Körper wie Tische und Stühle, sondern auch Elemente, denen eine eigene symbolische Wirkmacht eingeschrieben ist, beispielsweise Vorschriften. Menschen (Lebewesen) wirken hingegen ebenfalls raumkonstituierend, indem sich beispielsweise das Positionieren im Raum von Menschen in egalitären sozialen Positionen vollkommen anders gestaltet als von Menschen in hierarchisiertHQ )U GDV 3ODW]LHUHQ GHU HLQ]HOQHQ Å%DXVWHLQH´ LP 5DXP und deren Beziehung zueinander findet die Soziologin den Begriff GHU ÅUHODWLRQDOHQ $Q 2UGQXQJ´ ZRGXUFK VLH GLH +DQGOXQJVGiPHQVLRQEHLMHJOLFKHU.RQVWLWXWLRQYRQÅ5DXP´KHUDXVVWUHLFKW (LQ VROFK ÅUHODWLRQDOHU 5DXPEHJULII´ VROO GLH 7UHQQXQg zwischen physisch-materiellen und sozialem Raum aufheben und vielmehr den Prozess der Konstituierung spezifischer Räume durch das Handeln der AkteurInnen selbst hervorheben. Schroers Relativierung des Löwschen Konzepts meint nun explizit keine Forderung nach Rückkehr zu absoluten Raumvorstellungen in Art des Containerraumes, bei dem soziale, gesellschaftliche und ökonomische Ausformungen an territoriale und nationalstaatliche Grenzen geknüpft werden. Gerade die Fachgeschichte der Volkskunde zeigt die Problematiken, die in absoluten Raumbegriffen liegen.

Ein disziplinärer Raumbegriff Ein derartiger territorialer Raumbegriff wurde gerade im Fach Volkskunde lange Zeit vertreten (vgl. Rolshoven 2003). Für die traditionelle Volkskunde bestand bis in die 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts relativer Konsens darüber, dass ² in den Worten des Kulturgeographen Benno Werlen ausgedrückt ² Å.XOWXUHQ DOV HUGUlXPOLFK JHNDPPHUWH XQG NODU EHJUHQ]EDUH (QWLWlWHQ´ zu betrachten seien (Werlen 2003: 1). Das Großprojekt Atlas der deutVFKHQ 9RONVNXQGH ]HXJW DOV Å.LQG´ GHU .XOWXUUDXPIRUVFKXQJ 13

DAGMAR HÄNEL UND ALOIS UNTERKIRCHER

von der Bedeutung dieses Ansatzes (vgl. u.a. Simon 2003; Wiegelmann 1984; Zender 1958-64). Wie viele Subdisziplinen des damaligen volkskundlichen Kanons sah auch die ältere Volksmedizinforschung Aspekte des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens der Bevölkerung an scheinbar objektivierbare Kulturräume gebunden, die wie Behälter kulturelle Erscheinungen ummantelten und aufbewahrten. Elfriede Grabner beispielsweise, die Grande Dame der älteren Volksmedizinforschung in Österreich, entgegnete in ihrer grundlegenden Studie aus dem Jahre 1985 den Einwänden Rudolf Schendas, der in seinem programmatischen Beitrag von 1972 Forschungen zur Volksmedizin neuen Fragestellungen und Methoden öffnen wollte und für einen Richtungswechsel plädierte (Schenda 1973)PLWGHP6DW]Å,QGHU2VWDOSHnYRONVPHGL]LQOLHJHQGLH3UREOHPHDEHUHEHQGRFKDQGHUV´ (Grabner 1997: 14). Grabner suggeriert mit ihrer Replik, dass es so etwas wie eine subjektiv-unabhängige ÅVolksmedizin´ DOV (QWLWlW gäbe, die sich geographisch-territorial festmachen ließe. Die Vorstellung statischer, räumlich verankerter Kulturen hat sich nicht zuletzt durch die verstärkt ins Blickfeld gerückten Migrationsströme als falsche Annahme erwiesen (Bachmann-Medick 2008: 295-297). Durch diese Neufokussierung wurde deutlich, wie sich die über die ganze Welt verstreuten MigrantInnengruppen Beziehungsräume schaffen, über die sich diese trans- und multilokalen Gemeinschaften vernetzen ² ohne primäre Orientierung an nationale Grenzen. In diesem Sinne untersucht der Beitrag von Julia Thiesbonenkamp Selbstsorge- und Fürsorgekonzepte jener philippinischen MigrantInnen in Frankfurt a.M., die der charismatischen Gruppierung El Shaddei nahe stehen. Ihre Feldstudie zeigt, wie ein ursprünglich auf den Philippinen vor einem spezifisch religiösen Hintergrund entstandener medikaler Raum erfolgreich in ein anderes Land transferiert wurde.

Ä R a u m ³   K D Q G O X Q J V S H U V S H N W L YL V F K  r e v i s i t e d Als Soziologen sehen sowohl Löw als auch Schroer Raum als Produkt sozialer Prozesse. Ihr Erkenntnisinteresse wird daher in erster Linie von der Frage geleitet, wie Räume entstehen und wie diese reproduziert werden. In diesem Sinne wird dem Raum nicht, wie vor dem Hintergrund territorialer Raumkonzepte, eine 14

DIE VERRÄUMLICHUNG DES MEDIKALEN

eigene Realität unterstellt als vielmehr betont, dass Räume erst durch Menschen im alltäglichen Handeln entstehen. Ein solches Raumkonzept rückt das Raumwerden und die Konstituierung von Räumen in den Vordergrund. So zeigt etwa der Beitrag von Andreas Golob auf, wie aus einer Lokalität wie der Schule, die üblicherweise nicht mit medikalkulturellen Belangen assoziiert wird, LP  -DKUKXQGHUW GXUFK VSH]LHOOH Å6HWWLQJV´ GHU EHWHLOLJWHQ AkteurInnen zeitweilig durchaus zu einem medikaler Ort werden konnte. Welche Potentiale der Blick auf die AkteurInnen gerade im Bezug auf Raumgestaltung und Raumkonstruktion in medikalen Institutionen innehat, zeigt der Beitrag von Monika Ankele. Am Beispiel von Patientinnen in Psychiatrien des späten 19. Jahrhunderts arbeitet sie überzeugend heraus, wie es Frauen selbst in überwachten Räumen, wie sie totale Institutionen (Goffman 1973) GDUVWHOOHQ HUIROJUHLFK JHOLQJW VLFK Åam ÄOrt des Anderen¶ einen Raum des Eigenen zu schaffen´$QNHOHV%HLWUDJYHUGHXWOLFKWHinerseits den Erkenntnisgewinn, wenn die Vorstellung von der strukturierenden Wirkung institutionalisierter Räume um die Perspektive der jeweiligen sozialen AkteurInnen erweitert wird. Anderseits würde, wie Bachmann-Medick betont, durch diese Blickverschiebung aktuellen kulturpessimistischen Debatten über das Verschwinden von Räumen ihre Schärfe genommen, indem das Veränderliche und das Wandelbare von Räumen stärker sichtbar werden. Raum würde aus dieser Perspektive geradezu zu einer Å0HWDSKHU IU NXOWXUHOOH '\QDPLN´ (Bachmann-Medick 2008: 297).

Spacing und Syntheseleistung als raumkonstituierende Prozesse In den Überlegungen Löws gibt es zwei zentrale Prozesse, mittels derer Menschen diese Elemente zu Räumen verknüpfen: Spacing, das Positionieren von Menschen und Gütern zu Arrangements in Relation zu anderen Platzierungen, und Synthese, das Zusammenfassen von Elementen zu Räumen durch Wahrnehmungs- und Vorstellungsprozesse (Löw 2001: 158-230). Die im eingangs angeführten Bericht erwähnten Wannen und Duschen können in diesem Sinne abseits ihrer Materialität als Symbole gelesen werden, 15

DAGMAR HÄNEL UND ALOIS UNTERKIRCHER

die von allen beteiligten AkteurInnen zu einem gesonderten medikalen Raum innerhalb des allgemeinen Gebäudekomplexes verknüpft werden, der seinerseits nach außen hin einen spezifiVFKHQ Åmedikalen $QVWDOWVUDXP´ UHSUlVHQWLHUW )U GLH $QDO\VH von Räumen bedeutet dieses relationale, prozessuale und stark handlungstheoretisch ausgerichtete Raumkonzept, dass AkteurInnen als raumkonstituierend in den Blick der Analyse geraten, die ansonsten in medizinhistorischen oder in auf Gesundheit und Krankheit fokussierten kulturwissenschaftlichen Studien nur selten als aktiv und kreativ Handelnde identifiziert werden. So synthetisiert Pircher in seiner Zusammenschau der Sanitätsanstalten KLQVLFKWOLFKGHU+DOOHU$QVWDOWDX‰HUGHQÅGLQJOLFKH*WHUQ´XQG GHQ Å,UUHQ´ QLFKW QXU GDV lU]WOLFKH 3HUVRQDO GDV :DUWSHUVRQDO XQG GLH $QJHVWHOOWHQ LQ GHU 9HUZDOWXQJVHEHQH ]XP ÅPHGLNDOHQ $QVWDOWVUDXP´ Vondern auch den Hauskaplan, den Portier, den Hausknecht und den Heizer. Alle diese Personen sind Bestandteile einer Raumkonstruktion, die im Allgemeinen als repräsentativer Typus einer psychiatrischen Anstalt gilt. Begriffe wie jener der totalen Institution im Sinne eines nach außen hin abgeschlossenen Å0DFKWEHKlOWHUV´EOHQGHQKLQJHJHQV\PEROLVFKH$QHLJQXQJVVWUategien und Prozesse des Aushandelns, mit Hilfe derer sich InsassInnen ihren eigenen Raum aktiv konstituieren, aus. Raum wird in erster Linie als Territorium, als lokalisierbarer Ort oder als immer schon existierendes materielles Substrat gedacht; gefragt wird danach, wer innerhalb ist und wer außerhalb. Derartige Raumkonzepte und Raumbegriffe unterscheiden nur vordergründig zwischen einem physischen und einem sozialen Raum. Aspekte der Entstehung oder des Aushandelns spezifischer Räume geraten auf Grundlage eines derartigen Raumbegriffes nur selten in den Blick. Löw begründet dies damit, dass viele Untersuchungen unbewusst einen Raum als natürlich gegeben bzw. einen Ort als immer schon vorhanden voraussetzen ² also eher das Ergebnis einer Raumkonstituierung sehen, wo eigentlich der Prozess der Raumentstehung in den Fokus der Analyse gerückt werden sollte (ebd. 14-16). Von einem solchen prozessualen Raumverständnis ausgehend erscheint der menschliche Körper durch die Metaphern, mit denen Personen ihr individuelles Schmerzerleben schildern, plötzlich selbst in einer eigentümlichen Räumlichkeit, worauf der Literaturwissenschaftler Gernot Wolfram in seinem Beitrag hinweist. In einer für seine Analyse herangezo16

DIE VERRÄUMLICHUNG DES MEDIKALEN

genen Krankengeschichte wird das im Körper-Raum verortete Schmerzgefühl des Drehens mit dem Drehen in einer Waschmaschine gleichgesetzt. Raumerfahrungen werden als sprachliche Metaphern genutzt, um Schmerzerlebnisse zu verbalisieren und im Bild das intrasubjektive Fühlen nachvollziehbar zu machen. Das Sprechen über Schmerz- und Krankheitserfahrung nutzt nicht nur Raummetaphern, sondern konstitutiert im Medialen ganz neue Kommunikations- und Ausdrucksräume. Cornelia Bogen zeigt in ihrem Beitrag das Potential von virtuellen Räumen im Internet für unterschiedliche AkteurInnen. Am Beispiel von Depressionserkrankungen stellt Bogen entsprechende Foren, Netztagebücher, Blogs, u.a. als Ausdrucksräume für PatientInnen vor, die von Institutionen, MedizinerInnen und TherapeutInnen ebenfalls in unterschiedlicher Funktion genutzt werden. Dass Medien auch Räume konstituieren, zeigen die drei aufeinander bezogenen Beiträge der Hannoveraner Medizinhistoriker Heiko Pollmeier, Wiebke Liesner und Sigrid Stöckel. Sie präsentieren Ergebnisse des DFG-Projektes ÅÄPolitik¶ in deutschen und britischen medizinischen Fachjournalen von der Zwischenkriegszeit bis in die 1950er Jahre´ unter der Leitung von Sigrid Stöckel und Brigitte Lohff. Dieses Projekt untersucht systematisch im binationalen Vergleich medizinische Wochenzeitschriften in ihren Funktionen als spezifische Medien der Informationsvermittlung, Selbstrepräsentation und ²reflexion einer Berufsgruppe und als Diskursraum einer Wissenschaft.

Medikale Räume ± ein Fazit? Sowohl die ertragreiche und anregende Tagung als auch der vorliegende Sammelband, der leider nur einen Teil der Würzburger Vorträge und Diskussionen repräsentiert, haben uns, den Herausgebern, deutlich vor Augen geführt, dass der spatial turn in den Kulturwissenschaften als äußerst konstruktiver Impulsgeber in verschiedensten Diskursen zu wirken vermag. Raum als Analysekategorie und Perspektive eröffnet neue Fragen in etablierten Feldern disziplinärer wie interdisziplinärer Provenienz und bietet zudem Potential für methodologische wie theoretische Konzepte. Gerade im Bereich der Medikalkulturforschung erweist sich die sensible Wahrnehmung, Beschreibung und Interpretation von 17

DAGMAR HÄNEL UND ALOIS UNTERKIRCHER

Räumen, ihren dinglichen Repräsentationen wie sozialen Praxen des Spacing als aussagestarker Indikator für kulturelle Konzepte von Körper, Gesundheit/Krankheit, Normalität und Devianz wie auch ihrer Nutzung in spezifischen Machtstrukturen. Explizit sei auch hier auf die Bedeutung volkskundlich-kulturanthropologischer Methoden, Perspektiven und Konzepte verwiesen, die den bisher stark soziologisch dominierten Diskurs des spatial turn gewinnbringend erweitern.

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DAGMAR HÄNEL UND ALOIS UNTERKIRCHER

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Medikale Landschaften. Das Sanatorium als gedachte und gelebte Gesundheitsgeographie EBERHARD WOLFF

Das Untersuchen medikaler Räume ist keine Erfindung des jüngsWHQ ÅVpatial tXUQ´ 'LH KLVWRULVFKH *HRJUDSKLH YRQ .UDQNKHLWHQ um nur ein Beispiel zu nennen, stellt einen Teilbereich der traditionellen Medizingeschichtsforschung dar (vgl. Ackerknecht 1963). Im Zusammenhang mit der neueren geistes- und sozialwissenVFKDIWOLFKHQ )RUVFKXQJ ZXUGHQ Å5DXP´ XQG Å*HVXQGKHLW´ YRU allem im angloamerikanischen Bereich seit den 1990er Jahren unWHUGHP%HJULIIGHUÅ7KHUDSHXWLF/DQGVFDSHV´]XVDPPHQJHEUDFKW (Gesler 1992). Unter diesem Terminus hat sich eine bunte Mischung unterschiedlichster Ansätze aus dem breiten Feld der Å0HGLFDO $QWKURSRORJ\´ ]XVDPPHQJHIXQGHQ ]% :LOOLDPV 2007a; Gesler 2005; Williams 1999). Der originäre Ansatz war indes eher restriktiv. Es ging zunächst vornehmlich um das Entdecken gesundheitsförderlicher Orte. Mittlerweile sind die Ansätze wesentlich breiter. In den Fokus gerieten etwa auch Wartezimmer oder Yoga-=HQWUHQ DOV Å7KHUDSHXWLF /DQGVFDSHV´ 1LFKW JDQ] ]X Unrecht wurde das Forschungsfeld bereits als anekdotisch kritisiert (Williams 2007b: 9). Was es m. E. vor allem vermissen lässt, ist eine Auseinandersetzung mit dem von Williams verwendeten %HJULII GHU Å/DQGVFKDIW´ 'DEHL GUIWH JHUDGH GLHVHU %HJULII IU die kulturwissenschaftliche Forschung einiges Potential besitzen. 8QG PHKU QRFK ,Q GHU )RUVFKXQJ ]X GHQ Å7KHUDSHXWLF /DQGVFDSHV´JLEWHV]ZDUYLHOH(LQ]HODQDO\VHQVROFKHUWKHUDSHXWi21

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scher Landschaften, aber selten exemplifizieren sie explizit, wie ein bestimmtes Konzept von Landschaft als Instrumentarium für konkrete kulturwissenschaftliche Analysen eingesetzt werden kann, um die häufig zu beklagende Diskrepanz zwischen der Theorie und ihrer empirischen Umsetzung etwas zu überbrücken. Der vorliegende Beitrag versucht, diese Lücke ein Stück weit zu schließen. Im Zusammenhang mit der derzeitigen immensen Konjunktur der Untersuchung von sozialen und kulturellen Phänomenen unWHUGHP$VSHNWGHV 5DXPVLVWDXFKGHU%HJULIIGHUÅ/DQGVFKDIW´ mehr in den Vordergrund getreten (vgl. Kaufmann 2005). Nicht zuletzt die Volkskunde/Kulturwissenschaft unternimmt neue $QVlW]H /DQGVFKDIW DOV ÅNXOWXUZLVVHQVFKDIWOLFKH .DWHJRULH´ ]X verwenden (Seifert/Krebs 2010; Fischer 2008).1 Einer der innovativeren Aspekte dabei ist, dass sich GDV.RQ]HSWGHUÅ/DQGVFKDIW´ immer mehr vom zwangsweisen Zusammenhang mit dem NaturUDXPO|VWÅ/DQGVFKDIWHQ´PVVHQLQGLHVHU6LFKWQLFKWQRWZHQGiJHUZHLVHDXFK1DWXUUlXPH LP6LQQHHWZDYRQÅGLH/DQGVFKDIW´  VHLQÅ6WDGWODQGVFKDIWHQ´HWZDN|QQHQJHQDXVRDOs kulturwissenschaftliche Landschaften betrachtet werden, die grundsätzlich nichts mehr mit einem Naturraum zu tun haben müssen. Noch deutlicher wird die Abstrahierung des Landschaftsbegriffs in 7HUPLQL ZLH Å0HGLHQODQGVFKDIW´ RGHU Å%LOGXQJVODQGVFKDIW´ GLH mehr als nur metaphorisch verstanden werden, sich damit letztlich vom konkreten Ortsbegriff lösen und von virtuellen Räumen bzw. ebensolchen Landschaften ausgehen. Als Folge dieser Ausweitung setzt sich die schon länger bekannte Einsicht nun konsequenter GXUFK GDVV Å/DQGVFKDIW´ QLFKW JHJHEHQ VRQGHUQ LP Grunde einerseits produziert ist, etwa durch soziale Strukturen, andererseits aber auch subjektiv konstruiert ist, etwa durch kulturelle Wahrnehmungsformen (Löw 2001, exemplarisch Kaufmann 2005). In diesem Sinne spricht der amerikanische Kulturgeograph und Landschaftstheoretiker Denis Cosgrove sinngemäß und erfrischend abstrakt von Landschaft als an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich konzeptualisierter, konstruierter, erfahrener und symbolisierter Umwelt (nach Hoey 2007: 300). Selbst eine Naturlandschaft wird in diesem Sinne erst 1

Siehe auch den Arbeitskreis Landschaftstheorie (www.landschaftstheorie.de). 22

MEDIKALE LANDSCHAFTEN

durch Wahrnehmungsformen und Aufladung mit einer Bedeutung, etwa durch Touristen oder Tourismus-Marketing, zu einer VROFKHQNXOWXUHOOHQÅ/DQGVFKDIW´/Dndschaft ist in diesem Sinne, so eine weitere definitorische Annäherung, ein Symbol, das von einem Subjekt hergestellt oder verwendet wird, um damit Sinn in einem Raum zu vergegenwärtigen.2 'DV .RQ]HSW Å/DQGVFKDIW´ lässt sich damit für jegliche Ausformung von Raum anwenden. Es spiegelt in besonderer Weise die Perspektive, in der Räume heute geisteswissenschaftlich untersucht werden.

Das Sanatorium als medikale Landschaft Dieser Beitrag möchte sich dem analytischen Potential nähern, das ein solches Verständnis von Landschaft für die Forschung im BeUHLFKGHU0HGLNDONXOWXUKDEHQN|QQWHXQGYHUVXFKWÅ/DQGVFKDIW´ als Instrument des Verstehens einzusetzen. Er untersucht mit einem einzelnen Sanatorium das historische Beispiel einer mediNDOHQÅ0LNURODQGVFKDIW´XQGIUDJWZHOFKH9RUVWHOOXQJHQYRQJesunder Lebensweise sich in dieser Landschaftskonstellation spiegeln. Der Beitrag wendet verschiedene analytische Perspektiven an, die nicht nur als Instrumentarium zur Untersuchung dieser speziellen medikalen Landschaft dienen, sondern auch Vorschläge für die Untersuchung anderer medikaler Landschaften machen sollen. Bei dem hier untersuchten Beispiel handelt es sich um das  LQ =ULFK HU|IIQHWH 6DQDWRULXP Å/HEHQGLJH .UDIW´ GHV $Uztes, Naturheil-Anhängers, Ernährungsreformers und RohkostPropagandisten Max Bircher-Benner, auf den auch das internatioQDO EHNDQQWH Å%LUFKHUPHVOL´ ]XUFN]XIKUHQ LVW $EE   :ROII 2010a, Wolff 2010b, dort weiterführende Literatur). Nach der Gründung entwickelte sich das Sanatorium schnell zu einem Å5RKNRVW´-Mekka mit internationalem Renommee. In der Einrichtung mussten die Patientinnen und Patienten nach den Vorstellungen von Bircher-%HQQHUVÅ2UGQXQJVWKHUDSLH´OHEHQGLHQHEHQ vegetarischem Essen, häufig Rohkost, auch viel Umgang in frischer Luft, :DVVHUDQZHQGXQJHQ HWF YRUVDK Å*HQXVVJLIWH´ ZLH 2

In Anlehnung an eine Definition in www.wikipedia.de, Artikel Å/DQGVFKDIW´=XJULII2NWREHU  23

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Tabak, Kaffee oder Zigaretten waren geächtet. Der Tagesablauf war nach einem strengen, beinahe zwinglianischen Ordnungssystem strukturiert mit frühem Aufstehen, einem Morgenspaziergang noch vor dem Frühstück und einer frühen Bettruhe.

Abbildung 'DV6DQDWRULXPÅ/HEHQGLJH.UDIW´DXIGHP=ULFKEHUJLP Zustand des Gründungsjahrs 1904 (Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich). Wodurch aber wurde das Sanatorium zu mehr als einer naturheilkundlichen Kureinrichtung, nämlich zu einer medikalen Mikrolandschaft im skizzierten Sinne? Allgemeiner formuliert: Was PDFKW HLQHQ PHGLNDOHQ  5DXP ]XU Å/DQGVFKDIW´ LP DEVWUDNWHQ kulturwissenschaftlichen Sinn? Im Folgenden sollen in mehreren Schritten unterschiedliche Perspektiven an dieses Beispiel angelegt werden, um das Sanatorium als eine medikale Landschaft zu analysieren. Es geht dabei nicht um eine erschöpfende Untersuchung dieses Beispiels, dieses dient vielmehr als exemplarischer Raum zur Herausstellung charakteristischer Aspekte dieser kulturellen Landschaft, um abstraktere Merkmale von kulturellen Landschaften herauszuarbeiten. Dabei wird zusätzlich eine Reihe YRQ ZHLWHUHQ UDXPEH]RJHQHQ%HJULIIHQ ZLH ]% Å=LHO´ RGHU Å/aJH´ EHZXVVW KHUDQJH]RJHQ und kursiv hervorgehoben), da auch

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MEDIKALE LANDSCHAFTEN

sie helfen, den Landschaftscharakter des Sanatoriums deutlicher hervortreten zu lassen.

Das Sanatorium als Ort 8P]XHLQHUÅPHGLNDOHQ/DQGVFKDIW´]XZHUGHQPXVVWHGDV6anatorium zunächst ein definierter konkreter Ort (im Sinne eines Raums zunächst ohne Binnendifferenzierung) werden. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, war aber ein komplexerer Vorgang. Zu ihm gehörte unter anderem der Neubau des Sanatoriumsgebäudes. Das Sanatorium setzte sich architektonisch zunächst allerdings nur teilweise von der Umgebung ab. Der Heimatstil des Hauptgebäudes war zur Gründungszeit in diesem Quartier verbreitet. Zum Ort wurde das Sanatorium etwa durch die Herrichtung des ihn umgebenen Grundstücks, aber auch durch die Benennung mit einem speziellen Namen, der sich durch Anzeigen und Prospekte gedanklich festsetzen konnte. Auf Karten und Plänen wurde dieser Name räumlich festgelegt. Indem an diesem Ort eine ganz spezifische Therapiemethode durchgeführt wurde mit einer Lebensweise, die sich vom mehrheitlichen Alltagsverhalten der Umgebung unterschied, wurde das Sanatorium zu einem spezifischen Ort etwa als vegetarischer RGHUÅ5RKNRVW´-Raum, der sich von der Umgebung in dieser Hinsicht unterschied, etwa von den Restaurants der Umgebung, in denen Fleisch und Alkohol serviert wurde. Gerade ein solches Erscheinungsbild als Insel (ähnlich Hoyez 2007) einer bestimmten Lebensweise half mit, seinen Charakter als spezifischer Ort zu stärken. Zu einem Ort wurde das Sanatorium auch dadurch, dass es zunehmend zum (ersehnten oder realisierten) Ziel von Anhängern der Ordnungstherapie wurde, die dort wiederum eine Art Å&RPPXQLW\´ ELOGHWHQ 'HU 2UW ZDU GDPLW JOHLFK]HLWLJ 7UHIfpunkt.

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Abbildung 2: Lageplan des Sanatoriums mit eingezeichneten Straßenbahnlinien aus einem Sanatoriumsprospekt von 1907. (BircherBenner-Archiv, Universität Zürich).

Landschaft als Verdichtungszone einschlägiger Merkmale Eine kulturelle Landschaft konstituiert sich, das ist zunächst ebenso selbstverständlich, durch spezifische Merkmale, die dort in geKlXIWHU )RUP DXIWUHWHQ 8P ]X HLQHU ÅPHGLNDOHQ /DQGVFKDIW´ ]X werden, bedurfte das Sanatorium einer ebensolchen Verdichtung

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MEDIKALE LANDSCHAFTEN

spezifischer Merkmale. Erkennbar waren diese Merkmale z.B. an einer Ansammlung sichtbarer gesundheitsrelevanter Orte auf dem Sanatoriumsgelände, innerhalb wie außerhalb der Gebäude. Besonders auffällig waren die letzteren. Das gesamte Gelände war eine konstruierte Naturlandschaft, nicht zuletzt mit den Lufthütten für regelmäßige Luftbäder. (Abb. 3). Eine wichtige Rolle spielten die Spazierwege, die nicht allein für die Frischlufttherapie angelegt wurden, sondern auch Leitbahnen für die bewusste Rezeption der inszenierten Natur darstellten. Selbst die auf dem Gelände angelegten Gemüsebeete hatten mehr als die praktische Funktion, Rohstoffe für die Rohkost-Küche zu liefern. Sie waren ebenso öffentliche symbolische Repräsentationen des Rohkostgedankens wie auch der Bewegung im Freien, wenn Patienten in ihnen arbeiteten. Auch das Innere der Gebäude war eine Ansammlung gesundheitsrelevanter Orte, seien es der Vortragssaal oder die Bibliothek für die intellektuelle Vermittlung der Ordnungstherapie oder die Räume für Wasser-, Licht- oder elektrotherapeutische Anwendungen (Abb. 4). Eine zentrale Funktion als Ort der Gesundheit hatte der Speisesaal (Abb. 5), in dem der Kern der Ordnungstherapie, die vegetarische bzw. Rohkost-Ernährung, praktiziert wurde.

Abbildung 3: Gartenarbeit von Patienten auf dem Gelände des Sanatoriums um 1910 (Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich).

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Abbildung 4: Naturheilkundliche Anwendung (Ganzkörperwickel) im Sanatorium um 1910 (Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich).

Abbildung 5: Der Speisesaal des Sanatoriums um 1910 (Bircher-BennerArchiv, Universität Zürich).

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L a n d s c h a f t a l s s p e z i f i s c h e An o r d n u n g einschlägiger Merkmale Zu einer kulturellen Landschaft wurde das Sanatoriumsgelände nicht allein durch die bloße Häufung gesundheitsrelevanter Merkmale. Wesentlich war zudem ihre Struktur. So waren viele der gesundheitlichen Orte wie auch Praktiken von innen nach außen, also in Richtung auf die zentralen naturheilkundlichen Elemente Licht, Luft und Sonne, gerichtet, nicht nur die diversen Gesundheitspraktiken wie der ritualisierte morgendliche Spaziergang. Die Hauszeitschrift Å'HU :HQGHSXQNW LP /HEHQ XQG /HiGHQ´ PDFKWH GLH JHVXQGKHLWOLFKH 'HQNULFKWXQJ ÅDXV GHP +DXV LQV)UHLH´EHUPHKUHUH-DKUHLP7LWHOVLJQHWH[SOL]LW $EE 

Abbildung 6: Titelblatt deU+DXV]HLWVFKULIWÅ:HQGHSXQNW´ BircherBenner-Archiv, Universität Zürich). Ein weiteres wesentliches Strukturmerkmal ist die Anordnung von Architekturstilen auf dem Klinikgelände. Dies erschließt sich allerdings erst auf den zweiten Blick. Während das ursprüngliche Haupthaus in dem für das gehobene städtische Randquartier des Zürichbergs typischen schweizerischen Heimatstil gehalten ist,

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sind die beiden ersten Folgebauten, zwei Gästehäuser, im alpinen Å&KDOHW´-6WLO JHEDXW $EE   (LQ GULWWHV Å&KDOHW´ VROOWH VSlWHU hinzukommen, so dass sie zusammen eine stilistisch einheitliche Häuserflucht bildeten. Diese Anordnung ist ein Abbild der Lage des Sanatoriums innerhalb seiner Umgebung. Die Lage, also die räumliche Beziehung des Ortes zu anderen Orten, zeichnete sich nämlich ebenfalls durch Zweigleisigkeit aus.

Abbildung 7: Das Haupthaus und die beiden Chalets des Sanatoriums. Aus einem Prospekt des Sanatoriums von 1907 (Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich). Das Klinikgelände hatte eine doppelte Anbindung. Die erste war diejenige an die Stadt. Vom Haupthaus ging es auf die Straße und von dort in einem kurzen Fußweg zur Endhaltestelle der Straßenbahn, einem zu dieser Zeit eindeutigen Symbol moderner Stadtkultur und Mobilität (siehe Abb. 2). Die Anbindung der Klinik an das moderne Nahverkehrssystem war mehr als die Pragmatik, den Patientinnen und Patienten die Anreise leichter zu machen. Diese Anbindung war auch in konzeptueller Hinsicht wichtig. Das Sanatorium war nicht wie manche lebensreformerischen Kolonien als antizivilisatorischer Rückzug in die Natur gedacht, sondern als Nutzung natürlicher Heilkräfte in einem modernen Ambiente. Entsprechend waren die Patienten keine gesellschaftlichen 30

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Aussteiger, sondern bürgerliche, meist städtische Sanatoriumsgäste bei einer Kur, die sich nicht einfach von ihrem kulturellen Hintergrund trennen, sondern in ihm gesund und naturgemäß leben wollten. Die nahe Straßenbahn bedeutete eine Anbindung an die Stadt und damit gleichzeitig eine Bindung an die bürgerliFKH/HEHQVUHDOLWlWGHU3DWLHQWHQ$XFKGDV6DQDWRULXPÅ/HEHQGiJH .UDIW´ VHOEVW ERW Gie Möglichkeit zu normalem bürgerlichem Wohnen mit modernem Komfort. Bircher-Benner verstand seine Å2UGQXQJVWKHUDSLH´ QLFKW DOV DQWL]LYLOLVDWRULVFKHQ 5FN]XJ 6R hatte er keine Probleme damit, dass die Heliotherapie mit elektrischen Lichtbädern praktiziert wurde.

Abbildung 8: Ölgemälde eines nicht näher bekannten Patienten der Klinik (ca. 1910) (Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich). Die zweite Anbindung des Geländes über seine Lage war optischer Art. Die Chalets lagen vom Haupthaus aus hangabwärts in Richtung See und Alpen. Die Sicht auf die Natur war ein wesentliches Merkmal der Lage des Sanatoriums. (Abb. 8). Der oft bewunderte Ausblick auf die typisch schweizerische Naturlandschaft war ein deutlicher Verweis auf die ursprüngliche Natur und ihre gesundheitliche Bedeutung. Zum einen lieferte die Natur Therapieelemente wie reine, frische Luft, Licht und Wasser. Zum anderen waren die Alpen für Bircher-Benner und viele Naturheiler der ideelle Ort der rückwärtsgewandten Utopie einer absoluten Gesundheit im Naturzustand. So kolportierte Bircher-Benner DOV8UVSUXQJVP\WKRVVHLQHVÅ0HVOL´GLH%HNDQQWVFKDIWDXIHLQHU Bergwanderung mit einem Bergbauern, der sich vornehmlich mit

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Äpfeln, Milch und Getreide ernährte und gleichzeitig behauptete, in seinem Leben nie krank gewesen zu sein.3 Besonders wichtig ist, dass sich das Sanatorium nicht in den Bergen befand, sondern auf einem stadtnahen Hügel im Angesicht der Berge. Es ging um die Möglichkeit einer ästhetischen, VLQQOLFKHQ 5H]HSWLRQ GHU Å8UQDWXU´ 'DV ]X EHVtaunende Hochgebirge war für den Durchschnittsmenschen des frühen 20. Jahrhunderts auch nicht einfach zugänglich. In diesem Sinne handelt es sich nicht um einen real erreichbaren Ort, sondern einen Idealzustand von Natürlichkeit, eine Utopie im wörtlichen Sinne des %HJULIIHV HLQHQ Å1LFKW-2UW´ 'LH %HUJH DOV XQHUUHLFKEDUH 8WRSLH von Natürlichkeit müssen fern bleiben. Das Hochgebirge hat hier eine ästhetische Funktion. Die Berge sind Staffage, Hintergrund einer Projektionsfläche für Empfindungen im Sinne der klassischen ästhetischen Naturlandschafts-Rezeption der Neuzeit (vgl. Fischer 2008: 22f). Der Architekturstil der Chalets ist ein Zitat dieser Vorstellung. So repräsentierten einzelne Merkmale dieser speziellen medikalen Landschaft des Sanatoriums, seine Architektur und seine Lage, dessen doppelte medizinisch-kulturelle Ausrichtung. Das Sanatorium steht als räumliches Bindeglied zwischen dem zivilisierten Stadtleben sowie der emotionalen Naturüberhöhung und vereint beides in sich. In der Raumanordnung der medikalen Landschaft spiegelten sich so die Vorstellungen des Betreibers sowie der Gäste. Eine ganz ähnliche doppelte Raumbeziehung konstruierte Bircher-Benner nochmals auf privater Ebene. Er wählte Braunwald im Kanton Glarus als Ort des Ferienhauses für sich und seine Familie. Braunwald ist von Zürich aus einer der nächstgelegenen Orte am Fuße des Hochgebirges. Bircher-Benner, ein Liebhaber großer und kräftiger Limousinen, konnte Braunwald per Straße oder Schiene leicht erreichen, indem er ans andere Ende des Zürichsees fuhr und dann durch das Tal der Linth, einem Zufluss des Zürichsees. Eine Standseilbahn (eröffnet 1907) brachte ihn schnell und bequem die letzten 600 Höhenmeter hinauf nach

3

Bircher-Benners Sohn Ralph verlegte mit seinem Buch über die Å+XQVD'DV9RONGDVNHLQH.UDQNKHLW NHQQW´%HUQGHQ2UW der Gesundheitsutopie noch weiter weg, nämlich in den Hindukusch. 32

MEDIKALE LANDSCHAFTEN

Braunwald, wo er zwar nicht in, aber doch in nächster Nähe und im Angesicht des Hochgebirges war. In einem Foto ist dieses Verhältnis zur Natur paradigmatisch festgehalten. (Abb. 9). Es zeigt Bircher-Benner im Garten seines Ferienhauses inmitten der Natur, einem lichten Gehölz, selbst aber mit den zivilisatorischen Insignien eines weißen Anzuges, weißer Schuhe, eines eigens aufgestellten Tisches und Stuhls sowie einer Schreibmaschine ausgestattet.

Abbildung 9: Max Bircher-Benner vor seinem Ferienhaus in Braunwald (undatiert) (Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich).

Landschaft als Einheit Noch in einem weiteren Sinn konstituiert sich das Sanatorium durch die Struktur bestimmter Merkmale als kulturelle LandVFKDIW 6SlWHVWHQV PLW GHP =XEDX HLQHV UHSUlVHQWDWLYHQ Å3ULYDtKDXVHV´ELOGHWHQGLH*HElXGH]XVDPPHQHLQ(QVHPEOHGHUHLQH Art Mikrokosmos der gesunden Lebensweise und Selbstsorge (vgl. Wolff 2010c) um den eigenen Körper wurde. Schon früher kommt diese Idee des Mikrokosmos in einer vedoutenähnlichen Darstellung des Klinikgeländes zum Ausdruck, die in einem Sanatoriumsprospekt abgebildet wurde (Abb. 10). Das Sanatorium wird darin idealisiert als ein eigener Gesundheitskosmos abgebildet, indem die Nachbarhäuser in den Hintergrund gerückt sind und stattdessen die in Wirklichkeit entferntere Naturlandschaft das Sanatorium direkt umgibt, ja einbettet. Die Übergänge von der Naturlandschaft zur Sanatoriumslandschaft sind fließend. Das eigentliche Sanatoriumsgelände ist gegenüber der Realität extrem vergrößert. Es vereint Spazierwege, Parkanlagen, Lufthütten, ein 33

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Luftbad, Beete und einen Turnplatz. Die Abbildung erinnert an einen Landschaftsgarten, der ja selbst eine gesamte Lebenswelt (und nicht nur eine Naturlandschaft) in idealisierter Form abbilden soll. Gehen wir davon aus, dass ein Landschaftsgarten in seiner Konstruiertheit ein Paradebeispiel für eine kulturelle Landschaft darstellt, findet sich in dieser Darstellung die Idee des Sanatoriums als medikaler Landschaft am deutlichsten repräsentiert.

Abbildung 10: Darstellung des Klinikgeländes aus einem Sanatoriumsprospekt des Jahres 1913 (Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich).

L a n d s c h a f t a l s P r o d u k t v o n Wa h r n e h m u n g Landschaft im kulturwissenschaftlichen Sinn existiert nicht aus sich selbst heraus. Zum einen ist sie, wie gezeigt, konkret gemacht. Zum anderen entsteht eine spezifische Landschaft erst durch eine bestimmte Wahrnehmungsweise dieses Ausschnittes der Umwelt, ähnlich wie eine Naturlandschaft nicht per se romantisch und eine Stadtlandschaft erst durch eine spezifische WahrQHKPXQJ XQG %HZHUWXQJ ]XU Å+lXVHUZVWH´ ZLUG ,Q GLHVHP Sinne könnte man die zuletzt genannte Darstellung des Sanatoriums als Landschaftsgarten nicht nur als einen propagandistischen Trick für einen Werbeprospekt interpretieren, sondern darin auch VR]XVDJHQHLQHÅ0HQWDO0DS´HQWGHFNHQDXIGHUQLFKW:LUNOLFh34

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keit abgebildet ist, sondern eine Art der Empfindung dieser Wirklichkeit. Wie und warum auch immer diese Abbildung entstanden sein mag, zielt sie doch auf eine spezifische Vorstellung von diesem Sanatorium, nämlich der als Landschaftsgarten, als eingebettet in die Naturlandschaft, als idealer Ort, als Ort des Wohlergehens und der Gesundung etc. Das bereits erwähnte Ölgemälde eines unbekannten Patienten (Abb. 8) zeigt diesen Umstand ebenfalls. Die Perspektive mit dem Hauptgebäude im Vordergrund und Stadt, See und Alpen im Hintergrund ist nicht die naheliegendste, weil sie von einem Punkt außerhalb des Sanatoriums auf der anderen Seite der Straße ausgeht. Die auf dem Gemälde erscheinende enge Verbindung zwischen den Hauptgebäuden, den Chalets und der Naturlandschaft ist also mehr oder weniger bewusst hergestellt, und es ist anzunehmen, dass diese Einheit so von der malenden Person auch wahrgenommen wurde. Auf Sanatoriumsprospekten dominierte lange eine entgegengesetzte Perspektive auf die Frontseite der Gebäude (z.B. Abb. 7). Fotos mit See und Alpen tauchen in der Eigenwerbung erst in den 1980er Jahren auf.

D i e L a n d s c h a f t a l s s ym b o l i s c h e Repräsentation einer Idee durch G L H  $X I O D G X Q J  P L W  Ä 6 L Q Q ³ Zur kulturellen Landschaft wird ein Raum letztlich erst dadurch, dass ihm aus dieser spezifischen Wahrnehmung auch eine spezifische Bedeutung, ein Sinn zugesprochen wird, wie es in den definitorischen Passagen zu Beginn bereits angesprochen worden war. Die medikale Landschaft des Zürcher Sanatoriums war in diesem 6LQQH KRFKJUDGLJ PLW JHVXQGKHLWVEH]RJHQHP Å6LQQ´ DXIJHODGHQ Das Sanatorium wurde so Identifikations- und Repräsentationsort einer spezifischen Idee von Gesundheit durch Naturnähe.

Mehrdeutigkeiten kultureller Landschaften Dass eine Bedeutungszuweisung der medikalen Landschaft in dieser Form nicht zwangsläufig ist, zeigen alternative Sinngebungen. Für Thomas Mann, im Jahre 1909 selbst Patient des Sana35

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toriums, war die Naturnähe eher fremd, er fühlte sich dort zum Å*UDV HVVHQGHQ 1HEXNDGQH]DU´ JHPDFKW ÅGHU LP /XIWEDGH DXI DOOHQ 9LHUHQ JHKW´ 'LH %HGHXWXQJ GHV 6DQDWRULXPV ODJ IU LKQ eher - und typisch für ihn selbst ² in der intensiven Selbstsorge um den eigenen Körper sowie seiner Selbstüberwindung zu einem Leben im Rahmen der Ordnungstherapie. Mann bezeichnete das 6DQDWRULXP DXIJUXQG GHV VWUHQJHQ 7DJHVUHJLPHV DOV ÅK\JLHQiscKHV=XFKWKDXV´(VVHLHLQ2UW ÅZR PDQ XP  8KU DXIVWHKHQ XP  8KU GDV /LFKW O|VFKHQ PXVV XQG den Tag unter Luft- und Sonnenbädern, Wasseranwendungen und Gartenarbeit verbringt. Das ist hart, zu Anfang und während der ersten fünf Tage stand ich beständig mit trotzigen Entschlüssen ringend vor meinem Koffer (...). Aber obgleich ich mehr für Voltaire als für JeanJacques (Rousseau, E.W.) bin, bereue ich es doch gar nicht, durchgehalten zu haben. Meine störrische Verdauung besserte sich dann ins ErVWDXQOLFKH1LHGDJHZHVHQH´ 9LUFKRZ

R e l a t i o n a l e K on s t i t u i e r u n g vo n L a n d s c h a f t Räume können ihren Charakter als kulturelle Landschaften auch dadurch erhalten, dass sie sich von Räumen mit gegenteiligen 0HUNPDOHQ VR]XVDJHQ Å*HJHQ-/DQGVFKDIWHQ´ DEVHW]HQ XQG Gamit deutlicher hervortreten. Im Falle des Sanatoriums von BircherBenner war etwa das nahe gelegene Hotel Dolder partiell eine solche Gegenlandschaft. Was die rigide Lebensführung und vor allem den Speisezettel betraf, war das Luxushotel das blanke Gegenteil und aus rohköstlerischer Sicht die Inkarnation einer Ungesundheits-Landschaft. Gerade kontrastiv wird es somit zum konstitutiven Teil der medikalen Landschaft von Bircher-Benners Sanatorium.

Landschaften als unscharfe Räume Das mögliche Gegenüber von Landschaft und Gegenlandschaft darf nicht zu der Annahme verleiten, dass (medikale) Landschaften grundsätzlich scharfe Grenzen haben müssen. Im Gegenteil, sie können Zonen des fließenden Übergangs zu ihrer Umgebung

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KDEHQ$XFKKLHUELHWHWGDV6DQDWRULXPÅ/HEHQGLJH.UDIW´HLQDnschauliches Beispiel. Seine Absetzung von der Umwelt war nicht absolut. Es dürfte nur teilweise durch einen Zaun von den umliegenden Grundstücken getrennt gewesen sein, vor allem ging es an einer Seite fließend in den Tobel des Wolfbachs über (Abb. 7), also einen viel deutlicheren Naturraum. Der obligate Morgenspaziergang der Patienten bedeutete zudem, dass diese die im Sanatorium repräsentierte Lebensweise täglich auf die Umgebung ausdehnten. Dass es hier zum Aufeinandertreffen unterschiedlicher Gesundheitskulturen (und mithin zur Überschneidung medikaler Landschaften) kommen konnte, ist in der Karikatur eines Patienten aus den 1970er Jahren festgehalten (Abb. 11).

Abbildung 11Å0RUJHQ-6SD]LHUJDQJ´.DULNDtur eines Klinikgastes von 1973 (Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich).

Landschaften als Netzwerke Das Rohkost-Sanatorium Bircher-Benners war kein singuläres Phänomen, selbst in seiner direkten Umgebung. In der Nähe fanden sich zumindest teilweise ähnlich strukturierte GesundheitsOrte wie das bereits eingeführte Grand Hotel Dolder, das sich, ganz ähnlich dem Bircher-Sanatorium, als gesundheitlich wertvolOHUÅ+|KHQNXURUW´XQGWRXULVWLVFKHV=LHOPLW6HH- und Alpenblick 37

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verkaufte. Mehrere Mikro-Landschaften konnten und können sich somit als Netzwerke zu Makro-Landschaften formieren (Hoyez 2007), z.B. zur größeren Zürcher oder schweizerischen Sanatoriums- bzw. Kurort- oder gar Gesundheits-Landschaft (Graf/Wolff 2010). Unterschiedliche Landschaftsarten können sich damit auf verschiedenen Ebenen konstituieren. Oder sie überschneiden sich mit anderen, z.B. Tourismuslandschaften.

L a n d s c h a f t e n m i t h i s t o r i s c h e r D yn a m i k a l s ÄVHGLPHQWLHUWH*HVFKLFKWH³ Es darf dabei auch nicht übersehen werden, dass Landschaften nicht per se stabil sind, sondern einem historischen Wandel unterOLHJHQ 'DV (QVHPEOH GHV 6DQDWRULXPV Å/HEHQGLJH .UDIW´ ZXFKV nicht nur. Es veränderte auch seine Funktion ein Stück weit. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte sich der 1DPHLQÅ3ULYDWNOLQLN%LUFKHU-%HQQHU´GLH(LQULFKWXQJZXUGHVR ein Stück weit vom Sanatorium zur Klinik, in der zunehmend unterschiedliche alternative Heilweisen angeboten und eher kranke Patienten therapiert wurden als dass Menschen mit angeschlagener Gesundheit hier die Ordnungstherapie einübten. 1994 schließlich wurde die Klinik geschlossen, verkauft, umgebaut und 2000 als Tagungszentrum eines Finanzdienstleisters wiedereröffnet.4 Die abstrakte (medikale) Landschaft änderte sich damit inhaltlich, einmal graduell, einmal grundlegend. Dies schlug sich teils auch in der konkreten Landschaft wider. Ein Therapietrakt wurde gebaut, die Lufthütten und Gemüsebeete verschwanden. Gleichzeitig verblieben alte Elemente auch in der veränderten Landschaft. Wer das Gelände heute betrachtet, sieht diese Elemente wiederum in veränderter Funktion. Der Therapietrakt beherbergt heute Tagungsräume. Gleichwohl scheint aus ihnen zum Teil noch die alte Funktion hervor. Aktuelle konkrete Landschaften können somit DXFKÅVHGLPHQWLHUWH*HVFKLFKWH´GDUVWHOOHQ

4

S. www.zurichdevelopmentcenter.com. 38

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Fazit Die vorangegangenen Überlegungen sollten zeigen, wie sich Ideen in konkreten Räumen abbilden und dass sich die spezifischen Erscheinungsformen dieser Räume zu einer Struktur formieren können, die einen gewissen inneren Zusammenhang haben, welche den Raum zu einer kulturellen Landschaft machen. Im gegebenen Beispiel heißt das, dass sich die spezifische Vorstellungswelt eines Sanatoriums von gesunder Lebensführung auch räumlich abbilGHW ZDV GDV *HOlQGH ]X HLQHU ÅPHGLNDOHQ /DQGVFKDIW´ ZHUGHQ lässt. Umgekehrt formuliert kann die konkrete Form dieser Landschaft Hinweise auf die hinter ihr stehenden Vorstellungen und Ideen geben. Ein weiter kulturwissenschaftlicher, relativ abstrakter Landschaftsbegriff, der sich von der engen Verbindung mit Naturlandschaften löst, hat auf diese Weise ein interessantes heuristisches Potenzial. Andere Aspekte einer Raumanalyse blendet der Landschaftsbegriff allerdings eher aus. So ließen sich z.B. auch Wege bzw. Routen fruchtbar analysieren, etwa diejenigen der Patienten zum, LP XQG YRP 6DQDWRULXP DOV ÅWUDQVLWRULVFKHP 5DXP´ ZREHL =usammenhänge zwischen der symbolischen Ortsveränderung der Kur und der angestrebten gesundheitlichen Verhaltensänderung untersucht werden könnten. Wenn mit dem vorgeschlagenen Instrumentarium einzelne Landschaften herausgearbeitet werden können, bedeutet dies nicht, dass hier einem essentialistischen Landschaftsbegriff einer singulären, abgeschlossenen, eindeutigen, konstanten Landschaft das Wort geredet wird. Die Methode soll keinesfalls über die vielen gegenwärtigen Prozesse der Veränderungen von Raumstrukturen hinweggehen, GLH XQWHU GHP %HJULII GHU Å9HUIOVVLJXQJ´ von Räumen zusammengefasst werden. Im Gegenteil: Kulturelle Landschaften, auch medikale, können immer als vieldeutige, veränderliche, unscharfe und plurale oder auch zunehmend virtualisierte Phänomene betrachtet werden. Auch dies bedarf eines analytischen Instrumentariums.

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Am Ort des Anderen. Raumaneignungen von Frauen in Ps ychiatrien um 1900 MONIKA ANKELE

Raum ordnen Die Frage, ob nicht nur körperlich, sondern auch psychisch Erkrankte das Bett hüten sollten, wurde in medizinischen Fachkreisen des ausgehenden 19. Jahrhunderts rege diskutiert. Im Rahmen eines Vortrages, den der Arzt Clemens Neisser 1890 auf dem Å=HKQWHQLQWHUQDWLRQDOHQPHGLFLQLVFKHQ&RQJUHVV´LQ%HUOLQKLHOW forderte dieser die Ärzteschaft dazu auf, der Bettbehandlung in der psychiatrischen Alltagspraxis mehr Aufmerksamkeit als bisher zu schenken: Diese Form der Behandlung hätte sich in Allgemeinen Krankenhäusern bereits durchgesetzt, sei jedoch von PsyFKLDWHUQ ELV KHXWH ÅQLFKW KLQOlQJOLFK JHNDQQW XQG JHZUGLJW´ (Neisser 1890: 863). Im Sinne der Bettbehandlung sollten in psychiatrischen Anstalten und Kliniken ÅDXIJHUHJWH*HLVWHVNUDQNHVRZRKOPHODQFKROLVFK%HlQJVWLJWHDOVKDOOXcinatorisch Verwirrte und ganz besonders maniakalisch Erregte auf ärztliche Anordnung und bei geeigneter Wartung ruhig im Bett liegen bleiben´ (ebd.).

Mit Nachdruck verwies Neisser auf die Notwendigkeit des Liegenbleibens und ergänzte seine Ausführungen mit den WorWHQÅUXKLJRGHUOlUPHQGHVVHLZLHHVVHLDEHUVLHEOHLEHQOLHJHQ und das ist die Hauptsache! Das ist gewissermaßen das Ei des CoOXPEXV´ 43

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Vor allem frisch erkrankten und aufgeregten PatientInnen sollte Bettruhe verordnet werden: Diese könne die für eine Genesung notwendig erachtete Krankheitseinsicht fördern, denn, so Neisser, Å%HWWOLHJHQ und Kranksein bildet in unserem Bewusstsein eine GXUFK KXQGHUWIlOWLJH (UIDKUXQJ IHVWJHIJWH $VVRFLDWLRQ´ HEG   =XP DQGHUHQ VHL GLH %HWWEHKDQGOXQJ GDV ÅVRXYHUlQH 0LtWHO´ XP (UUHJXQJV]XVWlQGHQ YRQ 3DWLHQW,QQHQ HQWJHJHQ]XZLrken. Isolierungen in EinzeO]HOOHQ N|QQWHQ GDGXUFK ÅLQ ZHLWHP 8PIDQJHHQWEHKUOLFKJHPDFKW>ZHUGHQ@´ HEG $XFKGDV9HUKDlten der Betroffenen würde sich durch die Unterbringung im Bett DOVHLQZLHHV 1HLVVHUIRUPXOLHUWHÅPHKU FRPSRQLUWHVGHPQRrPDOHQ lKQOLFKHUHV´ JHVWDOWHQ ,Q Giesem Sinne könne die BettbeKDQGOXQJÅGHU,UUHQDQVWDOWYROOHQGVGHQ:HUWKXQG>@lXVVHUOLFK das Ansehen eines Krankenhauses [verschaffen], das sie sein soll XQGZLOO´ HEG $XFK9RUXUWHLOHQZLHVLHVLFKLP=XJHGHU medizinkritischen Bewegung der Jahrhundertwende mit Blick auf Psychiatrien mehrten, sollte damit entgegengewirkt und psychiatrische Anstalten und Kliniken in der Öffentlichkeit als medizinische Versorgungsstätten ² und nicht als Orte der Verwahrung ² wahrgenommen werden. Was die Durchführung der Bettbehandlung anbelangte, so sei ² wie Neisser ausführte ² folgendes notwendig: ÅJXWH %HWWHQ P|JOLFKVW JXW JHSROVWHUWH 5RVVKDDUPDWUDW]HQ .HLONLVVHQ von verschiedener Stärke, den individuellen Gewohnheiten angepasst, möglichst saubere weiße Bettwäsche, welche immer wieder von dem Wärter glatt zu streichen und von Falten, Brotkrumen und dergleichen zu befreien ist, und eine sehr sorgfältige Hautpflege mit täglichen spirituösen Einreibungen! Das Zimmer selbst soll einen behaglichen Eindruck gewähren [...]´ Hbd.: 865).

Die Bettbehandlung, die Neisser um 1890 in dem eben kurz skizzierten Vortrag einforderte, sollte um 1900 ² gemeinsam mit dem Dauerbad ² bereits zu den zentralen Behandlungsmethoden in psychiatrischen Anstalten und Kliniken gehören. PatientInnen, denen aus therapeutischen oder disziplinären Gründen Bettruhe verordnet wurde, verbrachten nicht nur Tage und Nächte, sondern oft Wochen und Monate im Bett, wie Krankenakten belegen. Wer nicht über das nötige finanzielle Kapital für ein Einzelzimmer oder für eine Unterbringung in einer privaten Anstalt verfügte,

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wurde mit mehreren anderen bettlägerigen Männern bzw. Frauen in einem Raum ² den so genannten Bett- oder Wachsälen ² untergebracht, wo sich Bett an Bett reihte (Abb. 1). Die WärterInnen hatten die Aufgabe, die PatientInnen stets zu überwachen. In der Å:lUWHU ,QVWUXFWLRQ´ GHU +HLGHOEHUJHU .OLQLN ZXUGH IROJHQGHV ausdrücklich festgehalten: Å'D GLH .UDQNHQ VWHWV EHREDFKWHW VHLQ P‰HQ GDUI NHLQ :lUWHU NHLQH Wärterin die ihnen anvertraute Abteilung verlassen, ohne daß andere an ihre Stelle getreten. [...] Während der Nachtwache hat das Wartpersonal auf das sorgfältigste alle Vorgänge in den Schlafsälen zu beobachten. Bei besonderen Vorgängen ist der Oberwärter bzw. Oberwärterin oder der Arzt sofort zu benachrichtigen. (und ausserdem sind besondeUH(UHLJQLVVHLQGDV:DUWEXFKHLQ]XWUDJHQ ´1

Abb. 1: Bettsaal im Haus VIII, Provinzialanstalt Merxhausen (in: Johannes Bresler, Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild, Halle an der Saale 1910).

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Wärter Instruction/Instruktion für das Wartpersonal genehmigt durch den Erlaß des Ministeriums der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 4. October 1882 No. 15888 (Historisches Archiv der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, Verwaltungsakten). 45

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F r a g e s t e l l u n g e n u n d An s ä t z e Unter diesen Gegebenheiten waren die Möglichkeiten der PatientInnen für Rückzug, Abgrenzung oder Privatsphäre schwindend klein. Zugleich stellt sich bei all den von Clemens Neisser als ideal beschriebenen Ausführungen zur Bettbehandlung die Frage, wie die PatientInnen dieses therapeutische Hilfsmittel wahrnahmen, das den psychiatrischen Raum seine Struktur gab und denselben ordnete: Wie empfanden die Betroffenen die gemeinsame Unterbringung mit anderen Menschen auf einen begrenzten Raum? Wie erlebten sie die Reduzierung ihrer Tätigkeiten und Handlungen auf diesen Mikrokosmos, den das Bett beschrieb? Welche Beziehungen entwickelten die Internierten im Laufe einer Bettbehandlung zu dem sie unmittelbar umgebenden Raum? Und auf welche Art und Weise ² mit Hilfe welcher Gegenstände, Materialien oder Praktiken ² eigneten sie sich denselben an? Mit Hilfe welcher Gesten und Handlungsweisen versuchten sie räumliche Abgrenzungen vorzunehmen? Zwangen die Gegebenheiten psychiatrischer Anstalten die PatientInnen nicht dazu, sich einen Raum im Raum zu schaffen ² HLQHQ ÅSUR[HPLVFKHQ 2UW´ Barthes 2007: 187), ein Å7HUULWRULXPGHV6HOEVW´ Goffman 1982: 54)? Und wie lassen sich diese Räume, die oft nur für wenige Momente entstehen, erfassen und beschreiben? $OVHLQHQ2UWÅPLWGHPPDQHWZDVPDFKW´GHILQLHUWGHU+Lstoriker Michel de Certeau den Raum und erläutert seine Definition mit folgenden Beispielen: Å6RZLUG>@GLH6WUD‰HGLHGHU8UEDQLVPXVIHVWOHJWGXUch die Gehenden in einen Raum verwandelt. Ebenso ist die Lektüre ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht, den ein Zeichensystem ² etwas Geschriebenes ² ELOGHW´ GH&HUWHDX

Certeaus handlungsperspektivischer Ansatz ² der für die eben genannten Fragestellungen produktiv gemacht werden soll ² fokussiert die Bedeutung von Praktiken und Handlungsweisen für die Konstitution von Räumen. Folgt man Certeaus Definition, so kann der psychiatrische Raum als solcher erst sichtbar werden, wenn man die Aktivitäten und Bewegungen der AkteurInnen in den Blick nimmt, die innerhalb dieser Institution stattfinden. Im Tun und Handeln werden Räume erfahren, angeeignet, verändert,

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hergestellt. Ein relationaler Raumbegriff, wie ihn Certeau nahelegt XQGGHULP.RQWH[WGHVÅ6SDWLDO7XUQ´]XQHKPHQGDQ3RSXODULWlW gewonnen hat, betont die aktive Entstehung von Raum und forGHUW GD]X DXI GHQ Å0HKUHEHQHQFKDUDNWHU XQG GLH 3OXUDOLWlW UlXPOLFKHU %H]JH´ ZDKU]XQHKPHQ Schroer 2008: 131). Mit Raum sei, sR GHU 6R]LRORJH 0DUNXV 6FKURHU ÅVWHWV PHKU JHPHLQW als nur ein Territorium oder ein physisch-PDWHULHOOHV *HELOGH´ (ebd.: 135). Dies bedeutet nicht, dass Strukturen für die Analyse von Raumkonstitutionen obsolet werden: Strukturen eines Raumes prägen das Handeln der AkteurInnen, zugleich wirken die Handlungen und Umgangsweisen derselben auf den Raum zurück und greifen in dessen Strukturen ein. Daher gelte es vielPHKU GHQ 5DXP DOV HLQH Å:HFKVHOZLUNXQJ ]ZLVFKHQ 6WUXNWXU XQG +DQGHOQ´ ]X EHJUHLIHQ ZLH GLH 6R]iologin Martina Löw in ihrer Theorie zur Raumsoziologie hervorhebt (Löw 2001). Um diesen Ansätzen mit Blick auf die zuvor gestellten Fragen Rechnung tragen zu können, muss der psychiatrische Raum von einer anderen als der eingangs beschriebenen Perspektive in den Blick genommen werden. Als Quellen, die einen solchen Perspektivenwechsel ermöglichen, werden Krankenakten und Selbstzeugnisse von Patientinnen psychiatrischer Anstalten herangezogen.2 Diese Dokumente wurden in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg eingesehen. Die historische Lehrsammlung der Psychiatrischen Universitätsklinik ist nach dem Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn (1886-1933) benannt, der 1919 von der Klinik beauftragt wurde, die bestehende Sammlung mit unterschiedlichen Erzeugnissen von PsychiatriepatientInnen zu erweitern. Diese beiden Quellengruppen geben auf unterschiedliche Art XQG:HLVH(LQEOLFNLQMHQHÅ.XQVWGHV+DQGHOQV´GLH&HUWHDXLQ VHLQHP JOHLFKQDPLJHQ %XFK EHVFKUHLEW 0LW GHU Å.XQVW GHV +DnGHOQV´YHUZHLVW&HUWHDXDXIGHn Stellenwert alltäglicher Praktiken und Handlungsweisen, mit Hilfe derer sich die von ihm beschrieEHQHQÅDQRQ\PHQ+HOGHQ´GLH*HJHEHQKHLWHQGLHVLHMHZHLOVYRrfinden, auf vielfältige und kreative Art und Weise aneignen.

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Bei den Krankenakten wie auch Selbstzeugnissen handelt es sich um Quellen, die von der Autorin in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg eingesehen wurden. 47

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Raum erfahren Å:LHKDUWLVWHs, fern von daheim / In einem fremden Hause, krank zu sein. Ohne eines von seinen Lieben um sich zu haben. / An deren Kraft PDQVLFKNDQQHUODEHQ´3

Mit diesen Zeilen begann die 22-jährige Anna Schönstein ein Gedicht, das sie 1911 in der psychiatrischen Anstalt Werneck verfassWH LQ GHU VLH HLQ -DKU ]XYRU PLW GHU 'LDJQRVH Å(SLOHSVLH´ HLQJewiesen worden war. Anna Schönstein formuliert darin eine für PatientInnen psychiatrischer Anstalten zentrale Erfahrung ² den Schmerz des Getrenntseins von Familie und FreundInnen sowie das Fehlen einer vertrauten Umgebung, das Sehnen nach dem eigenen Zuhause. Seit nun bald einem Jahr hätte sie, so Marta Kalchreuter in einem Brief an ihren Ehemann, den sie in der PsyFKLDWULVFKHQ 8QLYHUVLWlWVNOLQLN 7ELQJHQ YHUIDVVWH ÅNHLQH geVFKPDFNVYROOH :RKQXQJVHLQULFKWXQJ >PHKU@ JHVHKHQ´4 In der Fremde und Trostlosigkeit der neuen Umgebung sehnte sie sich, ZLHVLHVFKULHEQDFKHLQHPÅ+HLP´LQGHPVLHÅVFKDOWHQXQGEeKDJOLFKPDFKHQGDUI´5 Das Zimmer, in dem Marta Kalchreuter in der Klinik untergebracht war, schien ihren Vorstellungen von Behaglichkeit so gar nicht zu entsprechen. In ihren Briefen bezeichQHWH VLH GDVVHOEH GDV HLQH 0DO DOV Å$V\O´6, das andere Mal als Å.ODXVH´7 RGHU Å/RFK´8 ZR VLH ÅLQ *HVWlQNHQ OHEHQ´ PX‰ XQG VLFK ÅVR]XVDJHQ OHEHQGLJ EHJUDEHQ´9 fühlt ² eine Formulierung, die sich des Öfteren in Selbstzeugnissen von AnstaltsinsassInnen 3

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Anna Schönstein (1889-1919), Krankenakte der Kreis Irren-Anstalt Werneck, Königreich Bayern, Fotokopie in der Sammlung Prinzhorn, Original im Nervenkrankenhaus des Bezirks Unterfranken, Schloss Werneck: undatierter Brief (vermutlich März 1911). Marta Kalchreuter (1887-?), Krankenakte der Universitätsklinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten Tübingen, Königreich Württemberg, Fotokopie in der Sammlung Prinzhorn, Original im Universitätsarchiv Tübingen No. 669/1537. Brief an den Ehemann vom 8.9.1919. Ebd., Brief an die Großmutter, undatiert. Ebd., Brief an den Professor vom 12.10.1919. Ebd., Brief an den Ehemann, undatiert. Ebd., Brief an die Großmutter, 1920. Ebd., Brief an Frl. Lydia Ernst, undatiert. 48

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finden lässt (vgl. Maier/Bernet/Dubach/Germann 2007: 121-129). Auch für die Patientin Marie-Louise M. schien das Zimmer, in dem sie untergebracht war, etwas Bedrohliches und BeklemmenGHV]XKDEHQ,QGHUÅ/HW]WZLOOLJHQ9HUIJXQJ´GLHVLHZlKUHQG eines Anstaltsaufenthalts verfasste, hielt sie fest, dass sie sich QLFKWV VHKQOLFKHU ZQVFKH ÅDOV QLFKW LQ GLHVHP =LPPHU EHJ>U@DEHQ]XZHUGHQ´10 Die gemeinsame Unterbringung mit fremden Menschen in einem Saal, wie sie die Bettbehandlung vorsah, sowie die ständige Kontrolle und Beobachtung durch Wärterinnen und Ärzte war für viele der internierten Frauen eine neue und oft befremdliche Erfahrung. Es sHL ÅHLQ HLJHQHV *HIKO VR LQ HLQHU ,UUHQDQVWDOW ]X VHLQ´ WHLOWH GLH -MlKULJH 0HWD $QGHUHV LKUHP Å3DSD´ LQ HLQHP Brief mit, den sie um 1900 in der Anstalt Münsterlingen schrieb. Und Emma Hauck, Patientin der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, appellierte in einem Brief an ihren Ehemann MiFKDHO GDVV HU GRFK ZLVVHQ PVVH GDVV LKUH Å1DWXU QLFKW GD]X DQJHWKDQ >VHL@ VR ODQJH XQWHU IUHPGHQ /HXWHQ ]X VHLQ´11 Die Arztgattin Helene Kreiss konstatierte, wie in ihrer Krankenakte vermerkt wurde, dass VLH ÅGHQ 9HUNHKU PLW GHQ .UDQNHQ QLFKW HUWUDJHQ N|QQH´ GHQQ HLJHQWOLFK PVVH VLH VLFK ÅDXVUXKHQ XQG GDEHLTXlOHVLHMHGHUPDQQ´12 Wie die gemeinsame Unterbringung mit anderen Patientinnen erlebt wurde, hing in vielen Fällen auch von der jeweiligen sozialen Schicht ab, der diese angehörten (vgl. Nolte 2003: 87-91). Frauen aus dem Bürgertum waren in ihren bisherigen Lebensverhältnissen meist ein größeres Maß an Privatsphäre gewohnt. In der Anstalt sehnten sie sich oft nach sozialer Distinktion und in diesem Sinne nach räumlicher Separierung. Im Gegensatz dazu war es für Dienstmädchen oder Fabrikarbeiterinnen meist selbstverständlich, ihren Schlafplatz mit anderen teilen zu müssen und keinen Raum für sich alleine zu haben.

10 Marie-Louise M., Letztwillige Verfügung, Sammlung Prinzhorn, Inv. Nr. 2549 verso; Abbildung und Transkription des Textes finden sich bei Brand-Claussen/Michely 2004: 220f. 11 Emma Hauck (1878-1920), Krankenakte der Großherzoglichen Universitäts-Irren Klinik Heidelberg, Großherzogtum Baden, Original in der Sammlung Prinzhorn: Brief an den Mann vom 7.7.1909. 12 Krankenakte Kreiss (Heil- und Pflegeanstalt Illenau), Eintrag vom 22. 4.1900. 49

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Doch nicht nur die gemeinsame Unterbringung, auch der Lärm in den Anstalten wurde von den Patientinnen immer wieder beklagt. Theresa Stehbeck beschwerte sich in der Anstalt Eglfing bei München über den Lärm, den die Pflegerinnen in der Nacht machten, sowie über das Schnarchen ihrer Mitpatientinnen.13 Und die bereits erwähnte Anna Schönstein, die ihre Unterbringung in HLQHP%ULHIDQLKUHQ9DWHUDOVÅMDJDQ]VFK|Q´EHVFKULHEWHLOWHLKP ]XJOHLFKPLWGDVVÅGDV*HVFKUHLYRQGHQ9HUUFNWHQ$EHQGXQG EHL7DJ>@HQWVHW]OLFK´VHL14 Auch der um 1900 populären Bettbehandlung konnten einige der betroffenen Frauen nichts abgewinnen. Aus ihren bisherigen Lebens- und Arbeitszusammenhängen gerissen, empfanden sie die Tage, die sie im Bett verbringen mussten, als ein Vergeuden ZHUWYROOHU =HLW Å>:@R]X VRll ich denn noch länger hir [sic] bleiben, den lieben langen Tag herum stehen oder liegen, hat doch in NHLQHU +LQVLFKW HLQHQ =ZHFN´15 ² so formulierte es Anna Louise Köhler in einem Brief an ihre Eltern, den sie in der Heidelberger Klinik verfasste.

Raum aneignen Helen Pragers Bett ² Ein proxemischer Ort

Unter den eingangs beschriebenen Gegebenheiten nahm das Bett für die Patientinnen im Anstaltsalltag eine zentrale Funktion ein, da es in vielen Fällen der ihnen vertrauteste Ort in der Fremde der neuen Umgebung war. Einen Großteil der Zeit verbrachten viele von ihnen im Bett: dort schliefen und aßen sie, dort beschäftigten sie sich mit ihren Handarbeiten, schrieben Briefe, lasen Bücher; 13 Theresa Stehbeck (1869-?), Krankenakte der Oberbayerischen Heilund Pflegeanstalt Eglfing bei München, Königreich Bayern, Fotokopie in der Sammlung Prinzhorn, Original im Bezirkskrankenhaus Haar, Kreis München Nr. 967.1416.1720. 14 Krankenakte Schönstein (Kreis-Irren-Anstalt Werneck), Brief an den Vater vom 20.3.1910. 15 Anna Louise Köhler (1882-?), Krankenakte der Großherzoglichen Universitätsirrenklinik Heidelberg, Großherzogtum Baden, Original in der Sammlung Prinzhorn: Brief an die Eltern, ohne Datum (ca. 1904/05). 50

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von dort aus beobachteten sie das Geschehen, kommunizierten mit Mitpatientinnen, Ärzten und Wärterinnen oder versuchten in dem Raum, der für alle einsehbar war und in dem alles beobachtet werden konnte, ein Stück Intimität und Privatheit für sich zu gewinnen. Mit dem französischen Philosophen Roland Barthes kann das Bett durch all die Tätigkeiten, die von diesem Ort aus getan werGHQ N|QQHQ DOV Å0LWWHOSXQNW GHUSKDQWDVPDWLVFKHQ (UZHLWHUXQJ GHV6XEMHNWV´EHVFKULHEHQZHUGHQ %DUWKHV 188). Bei Barthes sind diese Tätigkeiten das Lesen, das Beobachten und das Ausschweifen der Fantasie. Das Bett stellt dabei alles andere als ein Å6\PEROGHU7UlJKHLW´GDUZLH%DUWKHVDQPHUNW HEG )U3DWientinnen, die über Tage und Wochen Bettruhe halten mussten, wurde das Bett notwendigerweise zu einem Ort ihres Tuns und +DQGHOQV0LWGHP%HJULIIGHU3UR[HPLHEHVFKUHLEW%DUWKHVÅGHQ sehr bHJUHQ]WHQ5DXPGHUGDV6XEMHNWXQPLWWHOEDUXPJLEW´XQG führt weiter aus: Å5DXPGHVYHUWUDXWHQ%OLFNVGHU2EMHNWHGLHPDQPLWGHP$UPHUUHichen kann, ohne sich sonst zu bewegen; bevorzugter Raum des Schlafes, der Ruhe, der Arbeit am Schreibtisch zu HauVHGLH6SKlUHGHUÄXQPLtWHOEDUHQ· *HElUGH GHU .XELNPHWHU 5DXP GHU GHP VRQVW XQEHZHJWHQ Körper in Reichweite liegt: der Mikroraum´ (ebd.).

Der proxemische Ort entspricht einem Ort der SelbstidentifikatiRQ 'DV 6XEMHNW NDQQ VLFK GRUW ÅEOLQG´ RULHQWLHUHQ und zurechtILQGHQ'DEHLEHVFKUHLEW%DUWKHVGDV.UDQNHQEHWWDOVÅVWlUNVWHDP LQWHQVLYVWHQ HUOHEWH RIWPDOV EHVWRUJDQLVLHUWH 3UR[HPLH´ Hbd.: 187). Das Bett vergleicht er in seinen Ausführungen mit einem Å.|USHUWHLO´ ÅHLQH>U@ .|USHUSURWKHVH JOHLFKVDP >GDV] fünfte der *OLHGPD‰HQ GDV *OLHG GDV 2UJDQ GHV UXKHQGHQ .|USHUV´ HEG 187). Anhand eines Beispiels erläutert Barthes das Charakteristikum des Bettes als proxemischem Ort: Å$EHQGLFKJHKH]X%HWWO|VFKHGDV/LFKWYHUJUDEHPLFK]XP6FKODIHQ unter der Decke. Doch ich möchte mir die Nase putzen. Ich strecke im Dunkeln den Arm aus, erreiche zielsicher die oberste Nachttischschublade und finde in der Schublade, nicht minder unfehlbar, auf der rechten Seite ein Taschentuch. Ich lege es wieder hin und schließe die Schublade mit der gleichen Sicherheit´ Hbd.: 184).

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In Bettsälen psychiatrischer Anstalten reichte der proxemische Ort RIWQLFKWVRZHLWZLHÅPDQPLWGHU+DQGODQJHQZDVPDQEHUhUHQ NDQQ´ JHVFKZHLJH GHQQ ÅVR ZHLW GHU %OLFN UHLFKW RGHU GHU *HUXFK RGHU GDV *HUlXVFK ´ Hbd.: 185). Allerdings war der proxemische Ort in den Anstalten oft das, was Barthes als drittes &KDUDNWHULVWLNXP GLHVHV 2UWHV DQIKUWH QlPOLFK HLQ 2UW ÅZR PDQ HWZDV KLQEULQJW RGHU YHUVWHFNW´ 8QG DOV VROFKHQ QXW]WH LKQ die Patientin Helen Prager. Als Pensionärin der Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein bei Dresden standen ihr besondere Möglichkeiten der Aneignung und Ausweitung des sie umgebenden Raumes zur Verfügung, da sie als solche in einem Einzelzimmer untergebracht war. Nach einem Sturz im September 1923, bei dem sich die 69-jährige Frau das Bein gebrochen hatte, musste sie auf Anraten der Ärzte das Bett hüten. Dieses wollte sie ² auf Grund der bestehenden Schmerzen im Bein ² auch in den darauf folgenden Jahren nicht mehr verlassen. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1929 verbrachte sie den Großteil ihrer Zeit im Bett, das seit dem Sturz zusehends zu ihrem Lebensmittelpunkt wurde. So notierten GLHbU]WHLP-DKULQLKUHU.UDQNHQDNWHÅ+DXVWLPPHUQRFK LP%HWW´16 Schon vor ihrem Sturz nutzte Helen Prager das Bett als Versteck. Es erschien ihr als ein geeigneter Ort, der vor dem Zugriff der Wärterinnen und Ärzte sicher war. Im September 1923 wurde in ihrer Krankenakte von einem Siebenschläfer berichtet, den sie ÅGXUFK LKUH .QVWH XQG /HFNHUELVVHQ IHVW]XKDOWHQ ZHLVV´ $XV Angst, dass ihr der Siebenschläfer vom Anstaltspersonal abgenommen werden könnte, versteckte Helen Prager das Tier ² sofern sie es beim Verlassen ihres Zimmers nicht mit sich mitnahm ² unter ihrer Matratze, wo VLH Å)XWWHUSOlW]H´ IU LKQ HLQJHULFKWHW hatte.17 Im Bett widmete sich Helen Prager verschiedensten Tätigkeiten, wie in ihrer Krankenakte dokumentiert wurde: Sie nutzte die Zeit zum Ausbessern oder Umarbeiten ihrer Kleidungsstücke,

16 Helen Prager (1854-1929), Krankenakte der Landes Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna, Königreich Sachsen, Fotokopie in der Sammlung Prinzhorn, Original im Sächsischen Staatsarchiv Dresden, 10823 Landesanstalt Sonnenstein Nr. 10144 und 10156: Eintrag vom Mai 1927. 17 Ebd., Eintrag vom 8.9.1923. 52

AM ORT DES ANDEREN

zum Lesen und Handarbeiten, zum Verfassen von Briefen und Berichten an die Anstaltsdirektion. Helen Pragers Bett kann im 6LQQH %DUWKHV DOV ÅSUR[HPLVFKHU 2UW´ EHVFKULHEHQ ZHUGHQ ² ein Ort der Vertrautheit und Selbstidentifikation, den Helen Prager in Folge auch nicht mehr verlassen, geschweige denn aufgeben wollWH 'HQ bU]WHQ WHLOWH 3UDJHU LP )HEUXDU  PLW GDVV VLH ÅJDQ] ]XIULHGHQ´ VHL XQG VLFK ÅNHLQH bQGHUXQJ LKUHU /DJH´ ZQVFKH18 Auf Grund der Vielzahl an Tätigkeiten, die Prager im Bett verrichtete, sammelten sich im Laufe der Zeit auch mehr und mehr GeJHQVWlQGHGDULQDQVRGDVVHVVFKOLH‰OLFK ŁEHUXEHUPLW'LnJHQ EHOHJW LVW GLH VLH WlJOLFK EUDXFKW´ 0DFKWHQ GLH :lUWHULQQHQ den Versuch, das Bett reinigen zu wollen, wehrte Prager dies ² unter Einsatz ihres Körpers ² vehemHQW DE Å/l‰W LKU %HWW QLFKW PDFKHQ >@ 6FKOlIW DXI LKUHQ $NWHQ´ ZXUGH LP -XQL  YHrmerkt.19 Aber Helen Prager wehrte sich nicht nur gegen Veränderungen, die in ihrem Zimmer bzw. an ihrem Bett vorgenommen werden sollten. Sie wehrte sich auch dagegen, dass ihr Zimmer durch das Öffnen des Fensters vom Anstaltspersonal gelüftet wurde. Um ihr Bett nicht verlassen zu müssen, zweckentfremdete die Patientin einen Schirm bzw. einen Stock: mit diesem gelang es ihr, das vom Personal geöffnete Fenster von ihrem Bett aus wieder zu schließen ² in diesem Sinne erweiterte bzw. überschritt sie die Grenzen des ihr zugewiesenen Raumes. Doch Helen Prager konnte nicht permanent ihr Bett hüten und über ihr Zimmer sowie über ihre lieb gewonnenen Dinge wachen: Zum Waschen und Baden war Prager gezwungen, ihre Räumlichkeiten zu verlassen. Diese Momente nutzten die Wärterinnen, um überhaupt in das Zimmer der Patientin gelangen zu können. Sobald die Wärterinnen dieses betraten, offenbarte sich ihnen der ganze Kosmos an Objekten, die zum Inventar dieses proxemischen Ortes gehörten. Der Prozess der Konstitution und steten Erweiterung desselben lässt sich anhand eines Eintrages in GHU .UDQNHQDNWH YRP 6HSWHPEHU  QDFK]HLFKQHQ Å6WDSHOW immer mehr Papiere, Lebensmittel, Nähmaterial, Wäsche etc. im Bett und ihrer nächsten Umgebung auf Stühlen, Nachttischchen

18 Ebd., Eintrag vom 10.2.1924. 19 Beide Zitate ebd., Eintrag vom 18.6.1928. 53

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HWF´20 Durch die Verteilung der Gegenstände in ihrem und um ihr Bett herum, nahm Helen Prager mehr und mehr Raum in Besitz, den sie damit als den ihren markierte. Die Dinge übernahmen im 3UR]HVVGHU.RQVWLWXWLRQGLHVHVÅSUR[HPLVFKHQ2UWHV´HLQH]HQWUale Funktion: Über die Aneignung respektive Platzierung derselben formierte sich im Laufe der Zeit dieser spezifische Ort. In ihrer Funktion als Aktanten sicherten die platzierten Dinge zugleich den Raum, indem sie auf ihre Besitzerin verwiesen, auch wenn GLHVHOEH QLFKW DQZHVHQG ZDU Å'D PHLQW MHPDQG QLFKW EOR‰ HLQ 'LQJ VRQGHUQ GDV 9HUKlOWQLV ]X VLFK VHOEVW´ Selle/Boehe 1986: 253).

Ein Leintuch ² Raum auf Zeit

Unter anderen Gegebenheiten, aber in ähnlicher Weise nutzte Marie Lieb, Patientin der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, ihr Bettzeug ² wie zwei Fotografien aus dem Jahr 1894 belegen, die sich heute in der Sammlung Prinzhorn befinden.

Abbildung 2: Marie Lieb (1894), mit gerissenen Leinenstreifen ihres Bettzeugs gestalteter Zellenfußboden, Fotografie 11.0 x 16.0 cm (Sammlung Prinzhorn, Inv. Nr. 1771/1). 20 Ebd., Eintrag vom 29.9.1928. 54

AM ORT DES ANDEREN

Aus den beiden Aufnahmen der Zelle von Marie Lieb lässt sich schließen, dass die internierte Frau in der Heidelberger Klinik mehrmals von ihren Mitpatientinnen isoliert wurde. Die Praxis der Isolierung von PatientInnen war gegen Ende des 19. Jahrhunderts in psychiatrischen Anstalten nicht unüblich, auch wenn sich die Anstaltsleiter in ihren Jahresberichten gerne damit rühmten, dass Isolierungen ² auf Grund der Einführung der Bäder- und Bettbehandlung ² kaum bis gar nicht mehr vorkämen.21 Dennoch wurde in der Praxis isoliert und in den Augen der WärterInnen und Ärzte konnten unterschiedlichste Gründe zu einer Isolierung IKUHQEHL0DULH/LHEZDUHVYHUPXWOLFKMHQHVÅWREVFKWLJH´9Hrhalten gewesen, das der Psychiater Wilhelm Weygandt bezugnehmend auf die fotografisch dokumentierte Praktik von Lieb in VHLQHP %XFK Å$WODV XQG *UXQGULVV GHU 3V\FKLDWULH´ Weygandt 1902: 302) beschrieb und das von ihm und seinen Kollegen als Symptom einer psychischen Krankheit wahrgenommen wurde. In den Anstalten und Kliniken gab es meist eigens für Isolierungen vorgesehene Räumlichkeiten. Diese waren ² wenn überhaupt ² äußerst spärlich eingerichtet. In der Krankenakte von Katharina Detzel ² einer weiteren Anstaltsinsassin, deren Arbeiten in die Sammlung Prinzhorn gelangten ² findet sich 1914 ein Eintrag, der davon berichtet, dass ihr während ihrer Isolierung fast alle Materialien aus der ZellH HQWIHUQWZXUGHQÅ0DWUDW]H6HJHOWXFK.OHider (auch Hemd) wurde Patientin genommen, sie hat nur noch +lFNVHOLQGHU=HOOH´22 Detzel gebrauchte die Materialien, die sie vorfand, regelmäßig für andere Zwecke. So gestaltete sie eines Nachts aus Segeltuch und Stroh in ihrer Zelle eine lebensgroße

21 Vgl. z.B. Jahresbericht der Großherzoglich Badischen Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen für die Jahre 1901/1902. Karlsruhe 1903, S. 10; Jahresbericht der Großherzoglich Badischen Irrenklinik Heidelberg für die Jahre 1901/02. Karlsruhe 1903, S. 6. Die um 1900 in der Psychiatrie propagierte Bäder- und Bettbehandlung sollte eine Reduktion der Isolierungen mit sich bringen ² vgl. dazu Jahresbericht Heidelberg 1901/02; Neisser 1890. 22 Krankenakte Katharina Detzel (1872-?) aus der Kreis-Irren-Anstalt Klingenmünster, Eintrag vom 20. 4.1914. Fotokopie der Akte in der Sammlung Prinzhorn, Original in der Pfalzklinik Landeck Nr. 2554. 55

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männliche Puppe ² ein Foto derselben findet sich in der Sammlung Prinzhorn.23 Ob Marie Lieb außer dem Bettzeug noch andere Dinge in der Zelle hatte, lässt sich aus den erhaltenen Aufnahmen nicht rekonstruieren. Es ist allerdings anzunehmen, dass ihr das Bettzeug zum Schlafen mit in die Zelle gegeben wurde und ihr dort als einziges Material zur Verfügung stand. Auf einer der in der Sammlung Prinzhorn erhaltenen Aufnahmen kann man mehrere nebeneinander platzierte Stoffballen erkennen, die aus den gerissenen Streifen des Leintuchs zusammengerollt wurden. Aus den Stoffstreifen kreierte Lieb sternartige Muster am Boden, in deren Mitte sich ein aus schmalen Streifen gelegtes Dreieck befindet. In dasselbe legte sie Knäuel aus sehr dünnen Stoffstreifen oder Fäden. Im Vordergrund der Aufnahme kann man Formen erkennen, die wie Schriftzeichen anmuten, die sich einer Lesbarkeit allerdings verwehren. Durch das Auslegen der Stoffstreifen eignete sich Marie Lieb ² ähnlich wie Helen Prager ² den sie umgebenden und für sie unvertrauten Raum an: In ihrem Tun manifestiert sich eine Å$XVZHLWXQJ GHU HLJHQHQ 3HUVRQ´ YJO McLuhan 2001) auf den ursprünglich fremdbestimmten Raum. Zugleich kennzeichnete Marie Lieb durch die Art der Gestaltung den Ort als den ihren, sie machte sich denselben zu Eigen. Mit den Stoffstreifen ihres Bettzeugs schuf sie sich einen Raum im Raum und griff damit in die Struktur des gegebenen Raumes ein, besetzte denselben neu. Das Bettzeug, zum Schlafen vorgesehen, diente Marie Lieb nicht länger dazu, den Körper zu bedecken und zu schützen. Sie zerriss es und legte den Boden damit aus ² sie nutzte das Leintuch als Material, jedoch möglicherweise ohne es seiner ursprünglichen Bedeutung zu entheben, die im Schutz des ruhenden oder kranken, des schlafenden oder frierenden Körpers lag. Vielleicht lässt sich in Liebs Praktik auch der Versuch sehen, den schützenden Aspekt einer Decke auf den fremden Raum auszuweiten. Die Zelle hätte dann nicht mehr in erster Linie den Zweck, die anderen vor Liebs Tobsucht zu schützen, sondern über die spezifische Form der GeVWDOWXQJ ZLUG GLHVHOEH IU 0DULH /LHE ]X HLQHP Å7HUULWRULXP GHV

23 Katharina Detzel mit selbstgefertigter männlicher Stofffigur (April 1914), Fotografie 16.0 x 11.0 cm (Sammlung Prinzhorn Inv. Nr. 2713a). Ausführungen dazu sowie eine Abbildung finden sich in einer Forschungsarbeit der Autorin publiziert (Ankele 2009). 56

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6HOEVW´ GDV LP *HJHQ]XJ QXQ GHU $NWHXULQ 6FKXW] ELHWHQ NDQQ Zugleich ist der Gestaltung des Raumes etwas sehr Flüchtiges und Vergängliches eigen: ein Windzug, ein schnelles Vorbeigehen, eine unachtsame Handlung und der Raum, der sich aus den auf dem Boden verteilten Stoffstreifen zusammensetzt, wird zerstört, löst sich auf: Es ist ein Raum auf Zeit.

Unter der Decke

Nicht immer war es für die Patientinnen ² wie im Fall von Helen Prager oder Marie Lieb ² möglich oder von Interesse, sich auf den sie umgebenden Raum auszuweiten oder sich diesen anzueignen. Diejenigen, die einer permanenten Überwachung durch die Wärterinnen ausgesetzt und mit fremden Menschen in einem Saal untergebracht waren, in dem ein Bett an das andere grenzte, bedurften anderer Taktiken der Aneignung und der Ausbildung eines ÅURRP RI RQH·V RZQ´ VR GHU JOHLFKQDPLJH  HUVWPDOV YHU|ffentlichte Essay von Virginia Woolf). In Schlaf- oder Wachsälen psychiatrischer Anstalten kam der Bettdecke eine besondere Bedeutung zu, wie sich aus zahlreichen Einträgen in den Krankenakten schließen lässt. Die Bettdecke ermöglichte es den Patientinnen, sich einen Raum im Raum zu schaffen: Dieser war vor dem Zugriff und vor den Blicken der Außenwelt geschützt. Zugleich erODXEWHHUQLFKWVXQGQLHPDQGHQVHKHQ]XPVVHQ,QGLHVHVÅ5eIXJLXP GHU ,QWLPLWlW´ YJO Ranum 2000) konnte man sich jederzeit zurückziehen: Die Stimmen von außen drangen nur gedämpft in diese schützende Höhle ein. Der vertraute Geruch des eigenen Körpers sowie der eigene Atem konzentrierten und sammelten sich an diesem abgeschlossenen Ort, der ² einem Nest ähnlich ² Wärme und Geborgenheit spenden konnte. Viele der internierten Frauen ² so berichten die Einträge in den Krankenakten ² sollen nicht nur Stunden, sondern ganze Tage und Nächte unter ihrer Bettdecke zugebracht haben. Auguste Opel, Patientin der Anstalt Leipzig-'|VHQ VROO ÅWDJH XQG ZRFKHnlang regungslos, untätig XQWHUGHU'HFNHJHOHJHQ´24 haben. Ein anderes Mal findet sich der

24 Auguste Opel (1883-?), Krankenakte der Königlich Sächsischen Landes-Anstalt Dösen, Königreich Sachsen, Original im Bundesarchiv Berlin, Sig. R179/9265: Eintrag vom 23.3.1919. 57

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Verweis, dass Opel unter der Bettdecke ihren AlltagsgewohnheiWHQQDFKJLQJ6RD‰XQGVFKOLHIVLHXQWHUGHU'HFNHXQGÅVWRSIW>H@ VRJDUELVZHLOHQGDUXQWHU6WUPSIH´25 Auf Fragen von außen reagierte sie mit Schweigen. Unternahmen Wärterinnen und Ärzte den Versuch, ihr die Bettdecke wegzuziehen, wurde Opel missmutig, wollte sie doch mit dieser Form des Rückzugs demonstrieUHQ GDVV VLH ÅQLFKW JHVW|UW VHLQ >ZLOO@´26 ² einer Geste, der sich auch andere Patientinnen im Anstaltsalltag bemächtigten. Auch Katharina Detzel, Patientin der Anstalt Klingenmünster, blieb an manchen Tagen unter der Decke liegen und ließ sich nicht blicken. Diese Form der nonverbalen Kommunikation hatte zur Folge, GDVVVLHYRQGHQbU]WHQDOVÅDEZHLVHQG´XQGÅXQ]XJlQJOLFK´Eeschrieben wurde.27 Die Patientin Emma Hauck nutzte die Möglichkeiten der Bettdecke, um sich den ärztlichen Untersuchungen zu entziehen. Traten die Ärzte an ihr Bett, so schlüpfte Hauck ÅJDQ] XQWHU GLH 'HFNH´28 RGHU ]RJ VLFK GLH 'HFNH ŁEHU GHQ .RSI´29 Um auf die erwartbaren Fragen der Ärzte nicht antworWHQ ]X PVVHQ ULHI VLH LKQHQ ÅYRQ XQWHQ KHUDXI ÄHV LVW DOOHV LQ 2UGQXQJ·RGHUÄLFKELQJHVXQG·´30 entgegen. Für eine andere Form der nonverbalen Kommunikation nutzte die Schneiderin Hedwig Wilms ihre Bettdecke. Als Patientin der Anstalt Berlin-Buch lag sie viel zu Bett, hielt die Augen geschlosVHQVSUDFKNDXPXQGUHDJLHUWHZLHGLHbU]WHQRWLHUWHQÅDXIJDU QLFKWV´31 In ihrer Krankenakte wurde ein Gespräch zwischen der Patientin und einem Arzt beschrieben, das von Seiten Wilms ohne Worte verlief. Die Bettdecke wurde dabei als Medium der Kommunikation genutzt: Die Antworten, die Wilms dem Arzt gab, schrieb sie mit ihrem Finger auf dieselbe.32 Wie die Ausführungen deutlich machen, sollten das Bett, die Decke und der Raum unter der Decke als Orte der Intimität und 25 26 27 28 29 30 31

Auguste Opel (Untergöltzsch), Eintrag vom 26.12.1918. Ebd., Eintrag vom 24.10.1924. Katharina Detzel, Einträge vom 13.7.1920, 24.12.1921, 20.3.1922. Emma Hauck, Eintrag vom 20.3.1909. Ebd., Eintrag vom Juli 1909. Ebd. Hedwig Wilms (1874-1915), Krankenakte der Irren-Anstalt Berlin zu Buch, Königreich Preußen Nr. 3656, Original in der Sammlung Prinzhorn, Einträge vom Jänner 1913. 32 Vgl. ebd., Eintrag vom 18.3.1913. 58

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des Rückzugs von den Wärterinnen und Ärzten im Anstaltsalltag respektiert werden. Wie es Emma Hauck treffend formulierte: Å,FKPDJNHLQHQ%HVXFKZHQQLFKLP%HWWELQ´33

Geschlossene Augen ² Erinnerte Räume

Eine andere Form des Rückzugs, die ebenfalls in der Abwendung des eigenen Blickes von der Außenwelt gründete, allerdings keine materiellen Gegebenheiten wie Dinge oder eine Decke voraussetzte, konnte sich für die Patientinnen auch im Schließen der Augen finden. Einträge in der Krankenakte der Malerin Bertha Gertrud Fleck, die in der Anstalt Pirna-Sonnenstein untergebracht war, erzählen davon, dass sie tagsüber ² ohne zu schlafen, wie angemerkt wurde ² die Augen geschlossen hielt. Diese geschlossenen Augen konnten ein Abtauchen in imaginäre und fantastische WelWHQ HLQ Å$EVFKZHLIHQ GHU )DQWDVLH´ Barthes 2007: 188), ein Zurückerinnern vergangener Orte oder Menschen erlauben. Die ÄrzWH HUNDQQWHQ GDULQ MHGRFK OHGLJOLFK HLQ 1DFKKlQJHQ ÅNUDQNKDfWH>U@ 9RUVWHOOXQJHQ´34 ² was dem Heilungsprozess nicht dienlich sein konnte. Für die Patientin Marta Kalchreuter, die ² so lässt sich aus den Einträgen in der Krankenakte schließen ² vermutlich in Bettbehandlung war, stellten diese imaginären Reisen die einzige Erholung im Anstaltsalltag dar. 1919 schrieb sie in einem Brief an LKUHQ (KHPDQQ Å(LQH %HZHJXQJ LQ JHLVWLJHU $WPRVSKlUH RKQH Regung der physischen Gliedmassen ist alles, was ich als ErholuQJKLHUKDEH>@´35 'DEHLNDPVLH]XGHP6FKOXVVÅ>'@DVHLQ]LJ &RPSDNWH VLQG /XIWVFKO|VVHU´ $EVHLWV GHU 5lXPH GHU VLH XPJebenden Realität imaginierte sich Marta Kalchreuter in ihren Träumen und Gedanken Räume der Erinnerung. In einem Brief an ihren Ehemann schilderte sie diesem, wie sehr sie das gemeinsa33 Krankenakte Hauck: Eintrag vom Juli 1909. 34 Bertha Gertrud Fleck (1870-1940), Krankenakte der Landes Heilund Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna, Königreich Sachsen, Fotokopie in der Sammlung Prinzhorn, Original im Bundesarchiv Berlin, Sig. R179/12087: Eintrag vom 9.5.1904. 35 Marta Kalchreuter (1887-?), Krankenakte der Universitätsklinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten Tübingen, Königreich Württemberg, Fotokopie in der Sammlung Prinzhorn, Original im Universitätsarchiv Tübingen: Brief vom 15.12.1919 59

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me Leben mit ihm vermisse. In ihren Ausführungen nimmt der Raum, der dieses gemeinsame Leben prägte, definierte und umschloss, eine zentrale Stellung ein: Å>,@Q EHKDJOLFKHU %HOHXFKWXQJ HUVFKHLQW PLU GDQn die heimische Wohnung ² unser Esszimmer und die braunen Möbel, mein stummgewordenes Klavier, das ich so gerne zum Wiedererklingen bringen würde und der Klang der Wanduhr. So schätterig wie sie manchmal getönt, klingt auch meine Stimme. Ich weine viel über mein so vergeudetes Leben´36

Auch Eugénie P., Patientin der Anstalt Préfagier bei Neuchatel in der Schweiz, erinnerte sich während ihrer Internierung an einen 5DXP DXV LKUHU 9HUJDQJHQKHLW DQ LKUH ÅSHWLWH FKDPEUH´ 37 Mit Tinte sowie mit Blei- und Kopierstift gab sie auf einem Blatt Papier, das sich heute in der Sammlung Prinzhorn befindet, Einblick in das Interieur ihres kleinen Zimmers. Minutiös zeichnete sie Küche und Küchengeräte, eine Waschgelegenheit, einen Schreibtisch, auf dem sich Papier, Stift sowie ein Körbchen und Nähzeug befinden, gerüschte Gardinen an den Fenstern, ein Tischchen aus Marmor, das Bett, eine Kommode und ein Nachtkästchen sowie viele weitere kleine Gegenstände, die dem Zimmer ihre individuelle Handschrift gegeben hatten und es zu einem Zuhause ² zu (XJpQLH3VÅSHWLWHFKDPEUH´² hatten werden lassen. Mit Erinnerungen an die Art und Weise des Gebrauchs ihrer Möbel und Habseligkeiten füllte Eugénie P. ihre Zeichnung aus. Vielleicht konnte das Imaginieren vergangener Welten und einstmals sicherer Räume für einen flüchtigen Moment ein Verlassen oder Vergessen der Gegenwart ermöglichen. Der Kern der Sehnsucht JUQGHWHDOOHUGLQJVDXIGHUVFKPHU]OLFKHQ(UIDKUXQJMHQHUÅIUHmGHQ 8PJHEXQJ´ LQ GHU VLH HV ² wie Marta Kalchreuter einmal schrieb ² ÅHLQIDFKQLFKWPHKUDXVKDOWHYRU+HLPZHK´38.

36 Ebd., Brief an den Mann vom 12.2.1920. 37 (XJpQLH 3 ÅPD SHWLWH FKDPEUH -´ 6DPPOXQJ 3ULQ]KRUQ Inv. Nr. 1657 fol. 1 recto; für biografische Informationen zu Eugénie P. sowie für Transkriptionen und Abbildungen siehe Karin Luchsinger (Luchsinger 2004: 164-167 u. 259). 38 Marta Kalchreuter, Brief an die Mutter, undatiert. 60

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Resümee Ein handlungsperspektivischer Ansatz, wie ihn Certeau beschreibt und wie er in den vorliegenden Ausführungen Anwendung fand, setzt der Wirkmächtigkeit räumlicher Strukturen die Eigenmächtigkeit gewöhnlicher Praktiken entgegen. Ohne die real begrenzenden Strukturen institutioneller Räume auszublenden, treten Fragen nach individuellen Raumerfahrungen, nach Prozessen der Aneignung sowie nach Umgangsweisen mit Räumen in den Vordergrund. Diese Blickverschiebung dynamisiert statisch konzipierte Raummodelle und wertet die Handlungsweisen von AkteurInnen auf. Sie ermöglicht es, Räume in ihrer Pluralität und Veränderbarkeit wahrzunehmen: Räume sind nicht mehr absolut ² im Sinne geschlossener Behältnisse ² zu denken; sie bilden sich durch Praktiken und Umgangsweisen; sie können sich ² wie im Fall der angeführten Beispiele ² das eine Mal über Dinge des Gebrauchs, das andere Mal über Gesten konstituieren; als Erinnerung oder Imagination prägen sie gegenwärtige Erfahrungen; sie zeichnen sich durch Relationalität und zeitliche Begrenzung aus XQG VLQG ZLH 0DUNXV 6FKURHU IRUPXOLHUW ÅQLFKW PHKU LP 6LQJuODUVRQGHUQQXUQRFKLP3OXUDO]XGHQNHQ´ 6FKURHU2008: 131). So scheint es im Fall der vorliegenden Ausführungen sinnvoller zu sein, von sich überschneidenden Raumbeziehungen anstatt allgemein von Räumen zu sprechen. Certeaus Ansatz folgend, können die Handlungsweisen der 3DWLHQWLQQHQ PLWWHOV GHUHU VLFK GLHVH Å7HUULWRULHQ GHV 6HOEVW´ schaffen, auf Grund der strukturellen Gegebenheiten psychiatriVFKHU $QVWDOWHQ DOV Å7DNWLNHQ´ EHVFKULHEHQ ZHUGHQ 'LHVH *HJebenheiten bringen die Handlungsweisen der Akteurinnen auf je VSH]LILVFKH $UW XQG :HLVH KHUYRU $OV Å7DNWLN´ EH]HLFKQHW Certeau ÅHLQ.DONOGDVQLFKWPLWHWZDVEigenem rechnen kann und somit auch nicht mit einer Grenze, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie dringt teilweise in ihn ein, ohne ihn vollständig erfassen zu können und ohne ihn auf Distanz halten zu können. [...] Sie muß mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt orgaQLVLHUW´ (de Certeau 1988: 23 u. 89).

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Die entmächtigenden Verhältnisse psychiatrischer Anstalten um 1900 ² dem Paradigma der Sichtbarkeit unterstellt ² schienen auf Seiten der Akteurinnen taktisches Handeln notwendig zu machen und selbstermächtigende Praktiken zu evozieren: Auf sich selbst zurückgeworfen, nutzten die Patientinnen die spärlichen MögOLFKNHLWHQ XP VLFK DP Å2UW GHV $QGHUHQ´ HLQHQ 5DXP GHV (LJenen zu schaffen, der Abgrenzung, Intimität und Rückzug ermöglichen sollte. Wie aus den Selbstzeugnissen der Patientinnen herYRUJHKW ZDU GHU :XQVFK QDFK HLQHP Å5HIXJLXP GHU ,QWLPLWlW´ für die Betroffenen im Anstaltsalltag ein zentrales Bedürfnis (vgl. Ankele 2009: 130-159). Unter Einsatz ihres Körpers, ihrer Hände, ihrer Augen schufen sie so innerhalb des medikalen Raumes eine Vielzahl an individuellen, an materiellen und immateriellen Raumbeziehungen, die mit Blick auf ihre Handlungsweisen eindrücklich zu Tage treten.

Literatur Ankele, Monika (2009): Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn, Wien/Köln/Weimar: Böhlau. Barthes, Roland (2007): Wie zusammen leben. Simulationen alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976-1977 (frz. Orig. 2002), Frankfurt am Main: Suhrkamp. Brand-Claussen, Bettina/Michely, Viola (Hg.) (2004): Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900, Heidelberg: Wunderhorn. de Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns (frz. Orig. 1980), Berlin: Merve. Goffman Erving (1982): Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung (engl. Orig. 1971), Frankfurt am Main: Suhrkamp. Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luchsinger, Katrin (2004): Eugénie P. In: Brand-Claussen, Bettina/Michely, Viola (Hg.): Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900, Heidelberg: Wunderhorn, S. 259.

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Maier, Marietta/Bernet, Birgit/Dubach, Roswitha/Germann, Urs (2007): Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich 1870-1970, Zürich: Chronos. McLuhan, Marshall (2001): Das Medium ist die Botschaft. (Engl. Orig. 1967), Dresden: Verlag der Kunst. Neisser, Clemens (1890): Die Bettbehandlung der Irren. In: Berliner Klinische Wochenschrift 27, S. 863-866. Nolte, Karen (2003): Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt am Main: Campus. Ranum, Orest (2000): Å5HIXJLHQ GHU ,QWLPLWlW´ ,Q $ULqV, Philippe/Chartier, Roger (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. Von der Renaissance zur Aufklärung (frz. Orig. 1986), Augsburg: Bechtermünz, S. 213-267. Schroer, Markus (2008): Å%ULQJLQJVSDFHEDFNLQ´ ² Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie, in: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: Transcript, S. 125-148. Selle, Gert/Boehe, Jutta (1986): Leben mit den schönen Dingen ² Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Weygandt, Wilhelm (1902): Atlas und Grundriss der Psychiatrie. (Lehmanns Medizinische Bildatlanten 27), München: J. F. LeKPDQQ·V.

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Sanitätsbaracken, Polenstationen und Au sländerkrankenhäuser . Orte der Ausgrenzung erkrankter ausländischer Zw angsarbeiter BERNHARD BREMBERGER

Abbildung 1: Bericht des Finanzbevollmächtigten Dr. von Bahrfeldt vom 26. August 194 ( ELAB, Bestand der Jerusalems und Neuen Kirchengemeinde 518). 65

BERNHARD BREMBERGER

Das hier wiedergegebene Schreiben enthält ein Datum, den 19. März 1945, es war zu diesem Zeitpunkt absehbar, dass der Krieg in wenigen Wochen ganz verloren ist, es ist das Datum des so geQDQQWHQ Å1HUR-%HIHKOV´ Es enthält ferner Angaben zu verschiedenen Orten, anhand derer GHU %HJULII ÅPHGLNDOH 5lXPH´ LOOXstriert werden soll. Das Dokument stammt aus Berlin, und zwar ² wie aus der Funktion des Unterzeichnenden ersichtlich ist ² aus einem Lager. Konkret: aus einem Ausländerlager in Berlin-Neukölln, auf einem Friedhof, wo rund 100 Zwangsarbeiter untergebracht waren, die für eine Arbeitsgemeinschaft von einigen Dutzend evangelischen Kirchengemeinden als ÅODQGZLUWVFKDIWOLFKH$UEHLWHU´² sprich: als Totengräber und zum Schutträumen ² tätig waren (vgl. Oehm 2003 und Krogel 2005). 'LH 5HGHLVWYRQEHWDJWHQXQGVFKZHUNUDQNHQÅ2VWDUEHLWHUQ´ (so wurden Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion genannt). Diese sind so krank, dass sie von den Orten, an denen sie arbeiten solOHQÅVRIRUW]XUFNJHZLHVHQ´ZHUGHQ:LUN|QQHQYHUPXWHQGDVV ihr Zustand aus der Arbeit an eben diesen Orten resultiert. Vermutlich gibt es hier einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Einsatzorten (dem zerbombten Berlin, den Gräbern), dem was dort zu arbeiten ist und dem Gesundheits- bzw. dem Krankheitszustand der Personen. Wie ÅPHGLNDO´ VLQG GLHVH 2UWH HLJHQWOLFK" :ROOHQ ZLU PLW ÅPHGLNDO´ OHGLJOLFK 5lXPH ]XU Wiederherstellung der Gesundheit bezeichnen oder alle, die die Gesundheit beeinflussen, positiv oder negativ? Immerhin beinhaltet unser 7DJXQJVPRWWR GLH Å,QWHUGHSHQGHQ] YRQ Raum, Körper, .UDQNKHLWXQG*HVXQGKHLW´1 Von einem weiteren Ort ist die Rede, an dem die Kranken liegen. Es ist zu vermuten, dass es ihre Bettstelle in der Mannschaftsbaracke des Friedhofslagers ist. Für die Kranken soll das Bett in ihrem Zustand als Ort der Ruhe, Erholung und Genesung fungieren. Die Betten sind jedoch nicht als Krankenlager gedacht ² für die Betreiber dienen die Plätze im Lager nur der Unterbringung arbeitsfähiger Männer. Die Betten werden in ihren Augen durch die Schwerkranken zweckentfremdet. Sind diese Betten medikale Räume? 1

Ich bin Eberhard Wolff sehr dankbar für den bei der Würzburger Tagung in die Diskussion eingebrachten Begriff Ungesundheitsraum. 66

SANITÄTSBARACKEN, POLENSTATIONEN UND AUSLÄNDERKRANKENHÄUSER

6FKOLH‰OLFKLVWQRFKHLQZHLWHUHUÅPHGLNDOHU5DXP´DQJHVSUoFKHQ HLQH ÅHQWVSUHFKHQGH 6DPPHOVWHOOH´ 'LH ([LVWHQ] HLQHU VRlFKHQ6DPPHOVWHOOHIUGLHÅ(QWVRUJXQJ´YRQ unbrauchbar gewordenen Zwangsarbeitern und vor allem ihre Funktion war also dem Lagerleiter bekannt. Wir können lediglich vermuten, welcher Art diese Stelle war und was Schwerkranke erwartete, die an diesen Ort kamen. Als dieses Dokument vor zehn Jahren aus den Archiven das Licht der Öffentlichkeit erblickte, hat die Evangelische Kirche in Berlin eine Arbeitsgruppe zur Erforschung der Zwangsarbeit für die Kirche eingerichtet. Trotz intensivster Recherche, die andere höchstwichtige und aufschlussreiche Ergebnisse zutage brachte, konnte das Schicksal der Genannten nicht aufgeklärt werden.2

E r z w u n g e n e Ar b e i t s k r a f t Während des Zweiten Weltkriegs basierte die Wirtschaft des Deutschen Reiches auf der Ausbeutung erzwungener Arbeitskraft verschiedener Gruppen: Der gnadenlose Einsatz von Häftlingen der Konzentrationslager ist schon lange Bestandteil des deutschen Geschichtsbewusstseins wie auch die Tatsache, dass Zwangsarbeit für Juden oft eine Etappe auf dem Weg in die Vernichtungslager war. Dass Kriegsgefangene in großem Umfang zu verschiedensten Arbeiten herangezogen wurden, ist auch hinlänglich bekannt, wenn auch lange nicht in allen Dimensionen. Erst vor einem Jahrzehnt richtig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt sind aber die rund zehn Millionen ausländischen Zivilisten, die aus allen Teilen des besetzten Europas ins Deutsche Reich deportiert worden waren und hier als Sklavenarbeiter ihren Dienst tun mussten. Von diesen ausländischen Zwangsarbeitern ist hier die Rede.

2

Besonders dankbar bin ich Gerlind Lachenicht, die mir in einer Mail vom 14. Juli 2009 bestätigte, dass immer noch unbekannt sei, was aus den Männern wurde und dass die Sammelstelle unbekannt blieb. Gleichzeitig konnte ich beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen nochmals nach ihnen recherchieren, doch auch dort gibt es keine Informationen zu ihrem Verbleib. 67

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Z u r G e s u n d h e i t s s i t u a t i o n d e r Zw a n g s a r b e i t e r Um die prekäre gesundheitliche Situation der Zwangsarbeiter zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass sie x oft schutzlos härtesten Arbeitsbedingungen ausgesetzt waren und dass dabei neben der gesundheitlichen Belastung auch ein sehr hohes Unfallrisiko bestand, x in Lagern untergebracht waren, wo sich die hygienischen Missstände potenzierten, x nur mangelhaft ernährt waren und dass die für sie bestimmten Lebensmittel oft verdorben waren. Die Klage über Hunger kommt konstant in fast allen Berichten der Überlebenden zur Sprache. x Sowohl auf der Arbeitsstelle wie auch in den Lagern waren sie Misshandlungen und Gewalt ausgesetzt. x Schließlich darf die traumatische Erfahrung nicht vergessen werden: Ihre Heimat wurde vom Krieg überzogen, sie selbst wurden meist versklavt und kamen in ein feindliches Land unter Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Sie sich selbst nicht wünschten. Dort wurden sie ² insbesondere Osteuropäer - rassistisch behandelt und waren überdies schutzlos dem Krieg und Bombenterror ausgesetzt. Auf einen weiteren Aspekt sei hingewiesen, der direkt zum TaJXQJVWKHPDÅPHGLNDOH2UWH´ zurückführt: Zwangsarbeiter waren als Arbeitssklaven nach Deutschland geholt worden, also achtete man auch darauf, möglichst arbeitsfähige junge Leute zu bekommen. Den überwiegenden Anteil machten Jugendliche von 16 bis 24 Jahren aus. Es verwundert also nicht, wenn viele Zwangsarbeiterinnen schwanger wurden und Kinder bekamen. Hier gab es verschiedene Regelungen: Zunächst konnten Schwangere in ihre Heimat zurückgeschickt werden. Dies wurde eingestellt aufgrund der Vermutung, dass Schwangerschaft eventuell genutzt wurde, um der Zwangsarbeit zu entgehen (vgl. Vögel 1989: 9f). Daneben gab es Zwangsabtreibungen bei Ausländerinnen (ebd.: 39ff; Sawtschenko 2009: 273f). Häufig jedoch blieben die Babys auch nach der Geburt bei den Müttern, die ihr Bestes versuchten, auch das Überleben ihrer Kinder zu ermöglichen. Wie wenig dies tatsächlich gelang, konnte anhand der im Krankenhaus Mahlow ge68

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borenen Kinder ansatzweise untersucht werden (Bremberger/Hummeltenberg/Stürzbecher 2009: 254ff). Ab Mitte 1943 wurden Entbindungseinrichtungen für Ausländerinnen geschaffen, in denen ihnen die Kinder nach der Geburt weggenommen und zu Tode gepflegt wurden. Wieder andere Entbindungen fanden in regulären Krankenhäusern statt, andere unter erbärmlichen Bedingungen in einer Ecke der Lagerbaracken. Häufig kamen die Kinder wenige Wochen nach der Geburt um. 'LH 7RGHVXUVDFKH KHL‰W GDQQ Å/HEHQVVFKZlFKH´ E]Z Å(UQlhUXQJVVW|UXQJ´ =X GLHVHQ VSH]LHOOHQ ÅPHGLNDOHQ 2UWHn´ GHQ Ecken der Lagerbaracken RGHU GHQ VR JHQDQQWHQ Å$XVOlQGHUNLnGHUSIOHJHVWlWWHQ´VHLYHUZLHVHQDXIGLH6HLWHYRQ Bernhild Vögel www.krieggegenkinder.com, die deutschlandweit Informationen zu solchen Orten zusammenträgt.3

Möglichkeiten zur ärztlichen Behandlung Welche Möglichkeiten existierten für Zwangsarbeiter im Krankheitsfalle? Zweck des Ausländereinsatzes war primär die Ausbeutung von Arbeitskraft. Wenn sie diese dem Betrieb nicht mehr zur Verfügung stellten, konnte dies ² konnte Krankheit ² als Arbeitsverweigerung JHGHXWHW ZHUGHQ DOV Å$UEHLWVYHUWUDJVEUXFK´ 'afür war die gängige Strafe, dass man für sieben Wochen in ein so JHQDQQWHVÅ$UEHLWVHU]LHKXQJVODJHU´ $(/ JHVWHFNWZXUGH. 4 Wenn man dies überlebte, wurde man als gebrochener Mensch zurück in den Betrieb bzw. ins Lager geschickt, um als abschreckendes Beispiel zu dienen. Theoretisch stand ausländischen Zwangsarbeitern eine durch die Krankenkassen finanzierte medizinische Versorgung zur Ver3

4

In den Jahren 1944 und 1945 verstarben in Finsterwalde zahlreiche 6lXJOLQJH LP '$) *HPHLQVFKDIWVODJHU Å:LHVHQKDLQ´ ² Kinder von französischen Müttern, die in Berlin lebten und arbeiteten. (Vielen Dank an Frau Reichardt, Stadtarchiv Finsterwalde, für Ihren Brief vom 21. Juni 2009 mit diesem hochinteressanten Hinweis auf GDVELVODQJQLFKWHUIRUVFKWHÅ.LQGHUKHLP´ Zu den Arbeitserziehungslagern für Berliner Zwangsarbeiter siehe GDV .DSLWHO Å'DV $UEHLWVHU]LHKXQJVODJHU :XKOKHLGH´ ,Q +HLPDtmuseum Lichtenberg (2001): 11-63, ferner Neufert (2004) sowie Berliner Geschichtswerkstatt (2004). 69

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fügung. Die Arbeitgeber ² zumindest die größeren Betriebe ² hatten Betriebsärzte, deren Aufgabe es war, den Ausfall der Arbeitskraft auf ein Minimum zu reduzieren. Auch war für jedes Lager ein Lagerarzt benannt, der oft für zahlreiche Lager zuständig war und seine Praxis weit entfernt hatte (vgl. Pagenstecher 2004). Wie es einem Patienten, der tatsächlich zu einem Arzt kam, letzten Endes erging, das hing durchaus von der Berufsauffassung des jeweiligen Arztes ab, schließlich vertrat er die Interessen des Betriebs und war nicht dazu engagiert, Anwalt der Arbeiter zu sein. Bei Daimler-Benz in Berlin-Marienfelde beispielsweise war der Arzt Dr. Speck, der auch Schwerkranke nicht krankschrieb, sondern weiterarbeiten ließ. Es gab dort ebenfalls einen niederländischen Mediziner, der verhaftet wurde und in ein Straflager kam, weil er zu viele Patienten krankgeschrieben hatte (Hopmann 1994: 207-209).

Krankenstuben und Krankenbara cken in Lagern In Ausländerlagern mit mehr als 50 Personen sollte ein Krankenzimmer eingerichtet werden. Mir liegen Berichte aus dem Gesundheitsamt Berlin-Kreuzberg vor, das bei Inspektionen durchweg das Fehlen der Krankenstuben monierte (Bremberger 2004). Für größere Barackenlager war auch eine Krankenbaracke vorgesehen. Der Niederländer Henk van Uitert war Zwangsarbeiter in Wildau bei der Berliner Maschinenbau AG. Eines Tages hatte er Halsschmerzen und Fieber. Å$P0RQWDJELQLFK]XGHPVSDQLVFKHQ$U]WJegangen und habe ihm auf Französisch so gut wie möglich meine Beschwerden geschildert. Man sagte, er spräche und verstünde kein Deutsch, das schien er nur mit seinen deutschen Freundinnen zu können. Nachdem er mir in den Hals geguckt hatte, wurde ich in die Krankenbaracke eingewiesen, wo ]ZHLIUDQ]|VLVFKH6DQLWlWHUIUGLH.UDQNHQVRUJWHQ´ 8LWHUW 

In diesem Lager eines großen Betriebes stand also eine Krankenbaracke mit medizinischem Personal für dringendste Versorgung bereit.

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Krankenhäuser Als sich sein Zustand verschlechterte, wurde Henk van Uitert mit Diphtherie in das entfernt liegende Achenbach-Krankenhaus in Teupitz geschickt. Bei der Aufnahme äußerte sich die Schwester über den Arzt, der ihn in Wildau behandelt hatte Å'RUW LVW HLQ spanischer Pferdedoktor, der die Leute immer zu spät weiterVFKLFNW´ =XU 8QWHUEULQJXQJ LP .UDQNHQ]LPPHU schreibt van Uitert: Å:LUZDUHQLQGHP6DDODXVVFKOLH‰OLFK$XVOlQGHU)UDQ]RVHQ%HOJier, 1 Tscheche, 1 Serbe und meine Person ² alle mit verschiedenen .UDQNKHLWHQ´

Er blieb dort einige Wochen, fand, dass ein gutes Bett mit guter Matratze und Schlafen in sauberer weißer Bettwäsche ein Luxus sei, der seinetwegen bis Kriegsende dauern könne. In seinen Erinnerungen stellen die Wochen in der Klinik einen besonderen +|KHSXQNW GDU $OV HU JHVXQG HQWODVVHQ ZXUGH QDKP HU Å$bschied vom Krankenhaus und vom guten Leben´ 8LWHUW35). )U GHXWVFKH Å9RONVJHQRVVHQ´ PDJ GLHVHU ÅPHGLNDOH 5DXP´ ein Horror gewesen sein ² ein Krankenzimmer voll mit Fremden, mit Ausländern. Der niederländische Patient berichtet über positive Erlebnisse mit den Mitpatienten. Deutschen mag ein solcher mehrwöchiger Krankenhausaufenthalt lästig gewesen sein, herausgerissen aus der gewohnten Umgebung, getrennt von Familie und Freunden. Der Niederländer Henk van Uitert lebte in Deutschland, herausgerissen aus seiner gewohnten Umgebung, getrennt von Freunden und Verwandten, er lebte und arbeitete gezwungenermaßen unter unzumutbaUHQ%HGLQJXQJHQ$XFKGDKHUNRQQWHGLHVHUÅPHGLNDle 5DXP´IU LKQSRVLWLYEHVHW]WZHUGHQ(UKDWWHJHZLVVHUPD‰HQÅ8UODXE´YRQ der Fabrik und vom Lager. Das Krankenzimmer war für ihn letzten Endes ein Raum der Erholung, eine Gelegenheit zu Gesundung und Regeneration. 'LHV ZDU VHLQ Å3ULYLOHJ´ DOV Å:HVWDUEHLWHU´ 'DYRQ NRQQWHQ andere Zwangsarbeiter ² Polen oder so genannte Å2VWDUEHLWHU´ ²

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nur träumen. Sie bekamen auch in der Gesundheitsversorgung gezeigt, was man von ihnen hielt. Über allem stand die Maxime, dass man sie zwar nach Deutschland geholt hatte, um ihre Arbeitskraft auszubeuten, dass man aber den deutschen Volksgenossen einen Kontakt mit ihnen ² den artfremden Rassen oder gar Å8QWHUPHQVFKHQ´- nicht zumuten wollte. Mit Henk van Uiterts Bericht über das AchenbachKrankenhaus ist die Darstellung der Krankenversorgung ausländischer Zwangsarbeiter in einer nächsten Phase gekommen: Was geschah, wenn die Patienten den tendenziell geschlossenen Kreis der Zwangsarbeiter (lokalisiert im Betrieb oder Lager) aus medizinischen Gründen überschritten ² wenn sie so schwer krank waren, dass sie in ein Krankenhaus mussten?

Die Polenstation im Krankenhaus Neukölln Unmittelbar nach dem Einmarsch in Polen, am 3. September 1939, war im schlesischen Rybnik das erste Arbeitsamt eröffnet. Die Arbeitsverwaltung folgte den kämpfenden Truppen unmittelbar hinterher (Herbert 1999: 77). Noch im Herbst 1939 begann die Planung für den Masseneinsatz polnischer Arbeiter im Deutschen Reich. Daher stand auch bald die Frage im Raum, was man mit schwer erkrankten Polen tun sollte, deren Arbeitskraft wiederherstellbar schien und die man daher nicht in ihre Heimat zurückschicken wollte. Das Berliner Hauptgesundheitsamt richtete im Herbst 1940 ² ein Jahr nach Kriegsbeginn ² eine Polen-Station im Städtischen Krankenhaus des Berliner Bezirks Neukölln ein. Ziel war, kranke 3ROHQ ÅWXQOLFKVW JHWUHQQW YRQ GHXWVFKHQ 6WDDWVDQJHK|ULJHQ´ Xnterzubringen. Damit waren nicht nur Patienten mit ansteckenden Krankheiten gemeint, sondern auch normale polnische Patienten, die von den Deutschen separiert werden sollten. Kranke Polen aus ganz Berlin aus dem umliegenden Brandenburg sollten ausschließlich in GLHVHU Å3ROHQ-6WDWLRQ´ EHKDQGHOW ZHUGHQ ZDV DEHU de facto nicht über längere Zeit konsequent durchführbar war. Auch das Krankenpflegepersonal sollte aus polnischen Landsleuten rekrutiert werden.5 5

Landesarchiv Berlin, A Rep 003-04-03 Nr. 103, unpaginiertes Blatt. 72

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Au s l ä n d e r k r a n k e n b a r a c k e n i n K r a n k e n h ä u s e r n Nun ist ein zeitlicher Sprung notwendig vom Herbst 1940 in den Sommer 1942. In etlichen städtischen Kliniken wurden Krankenbaracken für die Behandlung ausländischer Arbeiter aufgestellt.6 Deren Verortung soll verdeutlicht werden anhand des Lageplans für die Ausländerkrankenbaracke in den Heilstätten Wittenau (später: Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik), einer psychiatrischen Einrichtung (Abb. 2).7 Innerhalb einer großen Grünfläche, bestehend aus Park, (Eingang rechts unten) und landwirtschaftlich genutztem Gelände (oben), bilden die Krankenhausgebäude wie so häufig ein Karree. Auch das Verwaltungsgebäude findet sich rechts unten, in der Nähe des Eingangs. Nördlich der Gebäude steht ² im Original rot eingezeichnet, hier grau schattiert ² die Krankenbaracke für 36 Ausländer. Sie ist außerhalb des inneren Krankenhauskomplexes angesiedelt, direkt neben der schon vorhandenen Isolierstation. Dieser Plan zeigt sehr schön pars pro toto, wie peripher die Gesundheitsversorgung ausländischer Zwangsarbeiter angesiedelt war. Er illustriert die von Christof Beyer auf der Tagung anJHVSURFKHQH Åräumliche Definition, wofür man zuständig sein P|FKWH´. Ausländer gehören partout nicht dazu. (Die Zahl der Ausländer in den Wittenauer Kliniken lässt übrigens vermuten, dass sie auch in anderen Häusern behandelt wurden, insbesondere nachdem die Psychiatrie-Patienten aus einigen Häusern ÅDbWUDQVSRUWLHUW´ ZRUGHQ ZDUen, um hier ein Behelfs-Krankenhaus für die vom Krieg betroffene Zivilbevölkerung einzurichten.)

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In einem Schreiben vom 20. August 1943 an den GBI listete das Reichsbauamt weitgehend fertiggestellte Krankenhausbaracken in folgenden Berliner Kliniken auf: 1) Krankenhaus Spandau, 2) Krankenhaus Wuhlgarten, 3) Krankenhaus Am Urban, 4) Kaiser- u. Kaiserin Friedrich Krankenhaus, 5) Rudolf Virchow-Krankenhaus, 6) Krankenhaus Herzberge, 7) Dr. Heim-Krankenhaus, Buch, 8) Städtisches Krankenhaus, Buch Wiltbergstraße, 9) Oscar ZiethenKrankenhaus, Abt. Lindenhof, 10) Heilstätten-Krankenhaus, Wittenau; siehe Bundesarchiv, R 4606, Nr. 4935. Bundesarchiv, R 4606, Nr 4935, II 5 ² 1621 g, o. P. 73

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Abbildung 2: Plan Wittenauer Heilstätten (Bundesarchiv, R 4606, Nr. 4935, II 5 ² 1621 g, o. P.).

D a s Au s l ä n d e r k r a n k e n h a u s M a h l ow Südlich von Berlin liegen die Dörfer Mahlow und Blankenfelde. Dort, außerhalb der Stadt, an der Grenze zwischen beiden Gemarkungen, eine Viertelstunde Fußweg von den Dörfern entfernt, hinter dem Friedhof, am Ende eines Wäldchens, wurde im Sommer 1942 das Ausländerkrankenhaus Mahlow eingerichtet (Abb. 3).

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Abbildung 3: Luftbild Mahlow (Landesvermessungsamt Brandenburg, Film-Nr. 0011, Bild-Nr. 3040, Aufnahmedatum 25. März 1945, Gebiet Mahlow-Blankenfelde, LBB - XXXIV/97 vom 17. Januar 1997). In diesem von der Berliner Gesundheitsverwaltung betriebenen Barackenkrankenhaus sollten ÅDOOH VFKZHUNUDQNHQ XQG VHXFKHQNUDQNHQ $XVOlQGHUGHU 5HLFKVKDXStstadt und des Kreises Teltow sowie solche Kranken (Vagabunden und andere Asociale) [aufgenommen werden], die in den öffentlichen Krankenhäusern zu einer Belästigung und Beunruhigung der ZivilbevölkeUXQJIKUHQZUGHQ´8

$XFKKLHUZXUGHGHUÅPHGLNDOH5DXP´]XU Behandlung von Ausländern in die Peripherie verlegt, nach außen verlagert, und zwar mit der Begründung, Rücksicht auf die deutsche Zivilbevölkerung zu nehmen. Auch diese Einrichtung sollte dafür sorgen, dass die VWlGWLVFKHQ.UDQNHQKlXVHUIUHLE]ZÅUHLQ´YRQ Å5XVVHQ´VLQG'H

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Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep 2 A, Regierung Potsdam, 1 Pol 2894, Bl. 140 r. 75

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facto reichte natürlich auch die Kapazität des auf rund 800 Betten angelegten Krankenhauses dafür bei weitem nicht. Wenige Wochen nach Einrichtung des Ausländerkrankenhauses wehrte sich der für den Landkreis zuständige Amtsarzt dagegen, dass ausgerechnet in seinem Territorium eine solche Einrichtung installiert worden war. Er machte dies fest am Transport von über 120 Ruhrkranken aus einem Berliner Arbeitserziehungslager nach Mahlow, wobei schon bei der Ankunft die ersten Patienten tot vom Auto fielen: Å'LH (UNUDQNWHQ >ZXUGHQ@ EHUZLHJHQG LQ GHVRODWHP =XVWDQG LQ Lastwagen verfrachtet und in ein weit entferntes Krankenhaus transportiert, das zur ZHLW VHLQHU %HVWLPPXQJ JHPlVV >«@ ]XU $XIQDKPH YRQ infektiösen Kranken nicht geeignet ist. Sieht man von der Tatsache ab, dass es sich um KZ-Insassen handelt ² also wohl um minderwertige Menschen, überwiegend sogar Ausländer ², so erhebt sich doch die Frage, ob ein Transport so hochinfektiöser Kranker über eine solche EntIHUQXQJVHXFKHQK\JLHQLVFK]ZHFNPlVVLJEH]ZVWDWWKDIWLVW´9

Die Standesamtsbücher verzeichnen in den knapp drei Jahren bis Kriegsende, während denen das Ausländerkrankenhaus in Betrieb war, fast 1.500 dort verstorbene Patienten (rund zwei Drittel von ihnen an verschiedensten Formen der Tuberkulose) sowie 345 Kinder, die dort das Licht GHU:HOWHUEOLFNWHQ'DEHLLVWÅ/LFKWGHU :HOW´ HLQ Y|OOLJ IDOVFKHU $XVGUXFN (LQH GHXWVFKH Ärztin, die einmal als Famulantin nach Mahlow gekommen war, erinnert sich rund 60 Jahre später daran: ein Barackenlazarett mit dunklen großen und schmutzigen Krankensälen mit meist schwer kranken Patienten. Sie habe so schwere Fälle von Tuberkulose nie wieder gesehen (Bremberger/Hummeltenberg/Stürzbecher 2009: 243). Eine Ukrainerin, die als siebzehnjährige nach Deutschland deportiert worden war und im Krankenhaus Mahlow als Sanitäterin arbeitete, formulierte es so: Å(V ZDU NHLQ ULFKWLJHV .UDQNHQKDXV HKHU HLQ /DJHU XQWHU brutalsten %HGLQJXQJHQ(VZXUGHPLW+XQGHQEHZDFKW´(Petrilka 2009: 279)

Erste Ergebnisse zum Ausländerkrankenhaus Mahlow sind mittlerweile veröffentlicht, doch alleine in Berlin gab es drei weitere 9

Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep 2 A, Regierung Potsdam, 1 Pol 2894, Bl. 136-137. 76

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Ausländerkrankenhäuser: das Krankenhaus Kaulsdorf (betrieben von der Berliner Behörde von Albert Speer, dem GBI), das Siemens-Krankenhaus Å=HQWUDO-.UDQNHQODJHU´  DP %DKQKRI -XQgfernheide sowie das Siemens-Hilfskrankenhaus Å,QGHQ=HOWHQ´ ² alle bislang nicht untersucht. Zumindest bei Siemens ging es nicht darum, GLH PHGL]LQLVFKH 9HUVRUJXQJ GHV ÅHLJHQHQ´ 3HUVonals auch wirklich in eigenen Händen optimal gewährleisten zu können. Nein, es diente Å]XU $XIQDKPH HUNUDQNWHU DXVOlQGLVFKHU $UEHLWVNUlIWH GLH LQ |IIHQWOichen Krankenhäusern keine Aufnahme finden.´10.

Auch aus anderen Städten ist mir mittlerweile die Existenz von Ausländerkrankenhäusern bekannt ² hier harrt noch ein weites Feld der Forschung.

Finale Lösungen Abschließend seien kursorisch zwei Einrichtungen angesprochen, in denen die Ausgrenzung HUNUDQNWHQ DXVOlQGLVFKHQ Å0HnVFKHQPDWHULDOV´ ELV ]XU EUXWDOVWHQ .RQVHTXHQ] GXUFKJHIKUW ZXUGHGHUÅ(QWOHGLJXQJ´ Weit im Norden Berlins liegt ebenfalls ein Ort namens Blankenfelde, der seinen dörflichen Charakter bis heute bewahrt hat. Dort existierte ein Å'XUFKJDQJVODJHU´GHV$UEHLWVDPWHV(V diente der Sammlung von Ausländern, die meist krankheitsbedingt in ihre Heimat zurück transportiert werden sollten. Es war also ein Å.UDQNHQVDPPHOODJHU´ ,P 9HUODXI GHV .ULHJHV kam der Rücktransport aus verschiedenen Gründen zum Erliegen: Kriegsverlauf, mangelnde Transportkapazität, mangelnder Wille, etwas in die Schwerkranken zu investieren oder auch mit gezielter Absicht: Die Transporte unterblieben jedenfalls, Blankenfelde wurde zum Sterbelager. Dies ist nur eines von vielen bekannten Sterbelagern, andere sind besser untersucht (vgl. Schäfer 2004). Eine lokale Arbeitsgruppe am ehemaligen Stadtgut Blankenfelde engagiert sich

10 Bundesarchiv, R 4606, Nr. 4914 o. P., Schreiben an den GBI vom 19. Juni 1942. 77

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derzeit in Verbindung mit dem Museum Pankow für eine Erforschung des Lagers Blankenfelde. Einen weiteren Komplex werde ich mangels eigener Forschung nur anreißen: Å16-.UDQNHQPRUG´DQ $XVOlQGHUQ ,QGHQ Wittenauer Heilstätten selbst starben rund 20 Prozent der behandelten ´2VWDUEHLWHU´² eine auffallend hohe Todesrate. Auch wurden sie von dort tendenziell eher in andere Anstalten im Osten verlegt als andere Ausländer. Was die mögliche gezielte Ermordung von aufgrund körperlicher Krankheiten nicht mehr arbeitsfähigen zivilen Ausländern angeht ² nicht durch unterlassene Hilfeleistung wie in den Sterbelagern, sondern aktiv ², so existieren zwar Hinweise, doch habe ich aus Berlin keine belastbaren Fakten. Das lasse ich als offene Frage für die Zukunft im Raum stehen ² eine mögliche Antwort erwarte ich von nunmehr endlich zugänglichen Akten beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen.

Schlussbemerkung Die Positionierung medikaler Räume zur Behandlung von kranNHQ DXVOlQGLVFKHQ =ZDQJVDUEHLWHUQ ÅGUDX‰HQ´ ² also außerhalb des eigentlichen Krankenhauskomplexes, außerhalb der Stadt ² hatte keine medizinischen Gründe. Schon bei der Planung und Realisierung dieser Einrichtungen manifestiert sich der herrVFKHQGH 5DVVLVPXV 'LH 'LVNULPLQLHUXQJ YRQ Å)UHPGUDVVLJHQ´ fand auch in der Raumgestaltung ihren Niederschlag.

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Schule und Gesundheit im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ANDREAS GOLOB Das Raumparadigma, das hier in Anlehnung an Martina Löw (Löw 2001) zugrunde gelegt wird, erfreut sich einer beachtlichen Konjunktur (vgl. Czáky/Leitgeb 2009; Günzel 2008). Im Juni 2009 fanden sich im Online-Forum H-Soz-u-Kult beispielsweise ein einschlägiger Call for Papers1 des an der Technischen Universität 'DUPVWDGW DQJHVLHGHOWHQ *UDGXLHUWHQNROOHJV Å7RSRORJLH GHU 7HFKQLN´VRZLHHLQUHOHYDQWHU&DOl for Articles2 für die Zeitschrift TRANSEO. Im Kontext der Sozialgeschichte der Medizin hat etwa Martin Dinges unter anderem die räumlich-soziale Einordnung von Arztpraxen postuliert (vgl. Dinges 2008: 25, Dietrich-Daum 2008: 10f). Im Folgenden wird der RDXP Å6FKXOH´ DOV 2UW YRQ *HVXQdheitshandeln im ausgehenden 18. Jahrhundert diskutiert. Dabei wird Schule als Lernraum zunächst als konkreter Ort betrachtet. Die spezifische Ausgestaltung des Schulraumes eröffnet wiederum die Perspektive auf Schule als sozialen Raum, in dem Hierarchien, Rollen und Konzepte repräsentiert werden. Von besonderer Bedeutung für Schule als Ort medikalen Lernens ist der menschliche Körper, der in zeitgenössischer pädagogischer und medizini1

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http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11751&count= 603&recno=48&sort=datum&order=down, zuletzt aufgerufen am 13.11.2009). http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11743&count =603&recno=37&sort=datum&order=down, zuletzt aufgerufen am 13.11.2009). 81

ANDREAS GOLOB

VFKHU /LWHUDWXU WKHPDWLVLHUW ZLUG 'LH Å/DQGNDUWH GHV .|USHUV´ weist dabei weiße Flecken auf, die sich als Indikatoren für moralische Kategorien und normative Tendenzen lesen lassen.

Zur Gestaltung des Schulraumes 'LH (UVFKOLH‰XQJ GHV 5DXPHV Å6FKXOH´ IRUGHUW GHQ (LQEH]XJ Vowohl materieller als auch immaterieller ² id est sozialer und kultureller ² Parameter. Die Beschreibung der 1773 erbauten Musterschule in Reckahn (Riemann 1788: 154-156) vermittelte einen idealen, jedoch wohl keineswegs dem üblichen zeitgenössischen niedrigeren Standard entsprechenden Einblick in die materiellen Grundlagen, die bereits auf die Gesundheit Rücksicht nahmen.3 'LHÅUHJHOPlVVLJDQJHOHJWHJHUlXPLJHKHOOHXQGJHVXQGH6FKXlVWXEH´ELOGHWHGDV+HU]VWFNGHVVROLGHQ6WHLQEDXVGHUDX‰HUGHP die Lehrendenwohnung beherbergte. Drei Fenster, die mit SchatWHQ VSHQGHQGHQ ÅOHLQHQH>Q@ 6HLWHQURXOOHDXV´ DXVJHVWDWWHW ZDUHQ öffneten sich in den Schulgarten, sodass äußere Störfaktoren fern EOLHEHQ =XU 9HQWLODWLRQ GLHQWHQ ÅGUH\ =XJO|FKHU´ XQG UHJHOPäßiges Lüften. Für die Reinlichkeit sorgten die Kinder selbst, indem VLH]ZHLPDOSUR:RFKHNHKUWHQ'LHÅIHVWXQGQLFKW]XKRFKVWeKHQ>GH@´ 6FKXOEDQN RULHQWLHUWH VLFK HUJRQRPLVFK DQ GHQ %HGUfnissen der Lernenden. Mädchen und Jungen saßen in getrennten Reihen, die im rechten Winkel zueinander arrangiert waren. Die 0lGFKHQElQNH ZXUGHQ ]XGHP ÅGHU $QVWlQGLJNHLW ZHJHQ YRUQH PLW /HLQHZDQG ]XJHVFKODJHQ´ ]XU 6LFKHUKHLW ZDU GHU 6WRII DEHU QLFKWEHVRQGHUVVWUDIIJHVSDQQWÅVRGD‰VLHXQWHQGXUFKNRPPHQ N|QQHQ´ 'DV /HKUHQGHQSXOW ZDU GHQ .QDEHQElQNHQ gegenüber aufgestellt. Die kleinste essentielle materielle Einheit der Schule, das einklassige Schulzimmer, stand also in Beziehung zum unmittelbar angrenzenden privaten Lebensraum der Lehrenden und zum naturnahen Außenraum des Schulgartens. Die Kinder waren aktiv in die Instandhaltung jenes Raumes, der zum Zweck ihres Unterrichts gestaltet und mit geeigneten Möbeln strukturiert

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Vgl. für ein konkretes Fallbeispiel der 1970er Jahre zum Problem 6FKXOUDXP DXFK GDV .DSLWHO Å*HJHQNXOWXUHOOH 6FKXOUlXPH´ EHL Martina Löw (2001: 231-  =X Å5DXP XQG 5lXPOLFKNHLW´ LQ GHU Erziehungswissenschaft zuletzt Christian Reutlinger (2009: 98-100). 82

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worden war, eingebunden. Die Hierarchie spiegelte sich in der Positionierung des Lehrenden, die Übersicht über das Klassenzimmer offerierte, wider. Allerdings bestimmte abgesehen von dieser Relation auch die sokratische Methode, die von den Lehrenden verlangte, sich freundschaftlich sowie liebevoll zu den Kindern herabzulassen und sich ² räumlich relational betrachtet ² eher in ihre Mitte zu begeben statt sie lediglich zu observieren, die Atmosphäre des Schulraumes. Die zitierten sittlichen Bedenken leiten zu den soziokulturellen und sozialpolitischen Bedingungen über. Insbesondere die Institutionen Staat, Kirche und Elternhaus ² letztere durchaus auch sozusagen als relevantester Teil einer rudimentären öffentlichen Meinung ² standen in enger Verbindung mit den Akteuren des schulischen Innenlebens und bestimmten in verschiedener Weise Dotierung, Schulbesuch sowie formale und inhaltliche Richtlinien. Der Unterrichtsstoff orientierte sich nicht zuletzt an den Vorgaben einer moderaten Aufklärung, die im geschilderten lichten Schulraum metaphorisch ihre Heimstatt fand. Auch wenn die Gegebenheiten in Reckahn sicherlich nicht repräsentativ für die Schulrealität des ausgehenden 18. Jahrhunderts stehen, so sind sie doch symptomatisch für die Begründung des praktischen Interesses an der Schnittstelle zwischen Schule und Gesundheitspflege.

Z u m D i s k u r s u m d i e D i s z i p l i n S c h u l h yg i e n e im Spannungsfeld zwischen Medizin und Pädagogik Die akademische Disziplin der Schulhygiene, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte und von ärztlicher Seite den Führungsanspruch stellte, wenn es galt, das Schulkind vor gesundheitlichen Gefahren zu behüten beziehungsweise bereits bestehende Schäden zu diagnostizieren und einer Therapie zuzuführen, sah den Ursprung ihres Diskurses ebenfalls in den programmatischen Schriften ihrer fachmedizinischen Vorläufer des vorangegangenen Jahrhunderts. In Hugo Selters Handbuch der Deutschen Schulhygiene von 1914 stand die historistische Reflexion als Einleitung an prominenter erster Stelle. Der Autor dieser knappen Geschichte der Schulhygiene, der Mediziner Georg Leubuscher, 83

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würdigte insbesondere zwei Ärzte des 18. Jahrhunderts als Initiatoren (Leubuscher 1914: 2-5). Die wissenschaftliche Grundlage der Schulhygiene erkannte Leubuscher bereits bei Johann Peter Frank, dessen zwischen 1779 und 1819 formulierte Ausführungen zu sämtlichen Zweigen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge ausführlich referiert wurden. Zudem befasste sich Leubuscher eingehender mit Bernhard Christoph Faust und dessen allgemein belehrendem Gesundheits-Katechismus von 1794. Bezeichnenderweise markierte bereits Ignaz Lorinsers kontrovers diskutierter Aufsatz Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen von 1836 die nächste Stufe ärztlicher Intervention, die einer ausschließlich akademisch-medizinischen Führerschaft das Wort redete. Die schulisch-pädagogisch-philosophische Perspektive wurde nicht erst in diesem historischen Kontext gegenüber der positiv wirkenden wissenschaftlichen Medizin vernachlässigt, respektive der Gegnerschaft der Schulgesundheitspflege zugeordnet. Wohlwollende Worte ² etwa über die Philanthropen ² blieben verhältnismäßig marginal. Wenn der Kontext des späten 18. Jahrhunderts näher ausgeleuchtet wird, können freilich weder Franks noch Fausts Verdienste bestritten werden. Sie vermitteln grob gesprochen auch die Bandbreite ärztlicher Intervention zwischen staatlicher Observanz einerseits und allgemein zugänglicher Bildung andererseits. Die Pädagogik, die sich im Gegensatz zur anerkannten akademischen Medizin ihren Platz in der Wissenschaft erst erarbeiten musste, hatte auf den ersten Blick insbesondere einem Opus Magnum wie Franks System einer vollständigen medicinischen Polizey wenig entgegenzusetzen. Allerdings bereitet es wenig Mühe, die Sorge um die Gesundheit in Versatzstücken der pädagogischen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu identifizieren, und auch die Historiographie hat das Engagement der Pädagogik in diesem Spezialgebiet bereits gewürdigt (Stroß 2000).4 Die oben explizierte Gestaltung schulischer Räumlichkeiten, das adäquate Alter des Schulbeginns, die zumutbare intellektuelle Anstrengung, ausgleichende Spielphasen und Leibesübungen, die Strafpraxis, die Verletzungs- und Seuchenprävention, die Bekämpfung der Masturba4

Für das Medium der sokratischen Erzählung als Vehikel der medizinischen Volksaufklärung vgl. die Studie von Heidrun AlzheimerHaller (2004: 280-331). 84

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tion und nicht zuletzt die Vermittlung von Wissen um Gesundheit, Krankheit und Körper kamen in beiden Wissenskontexten, also sowohl im medizinischen als auch im pädagogischen, wahrnehmbar vor. Aus diesem reichen Repertoire soll in weiterer Folge nur eine Fragestellung herausgegriffen werden, nämlich die der Grenzen der anatomisch-physiologischen Wissensvermittlung5 und ihrer Strategien vornehmlich auf dem Niveau der Grundschule.

W i s s e n u n d W i s s e n s ve r m i t t l u n g ü b e r K ö r p e r , Krankheit und Gesundheit: Körper-Raum im Lern-Raum Schule Anhand der Frage nach im Urteil der Zeitgenossen vorzeitigem und/oder zu ausgedehntem Wissen können vor allem die allgemeinbildenden Licht- und sozial disziplinierenden Schattenseiten der Aufklärung ausgelotet werden (vgl. Horkheimer/Adorno 1991: 39-42). Zur Prüfung der Grenzen bietet sich als Ausgangspunkt Peter Villaumes6 Praktisches Handbuch für Lehrer in Bürgerund Land-Schulen (Villaume 1787b) an. Anders als die meisten Werke der Philanthropen konzentrierte es sich auf die kommunale Grundschulbildung abseits der gesellschaftlichen Eliten. Überdies sind die sechs Jahrgänge mit exemplarischen Bildungsinhalten7 getrennt dargestellt und erlauben einen präziseren Einblick, als

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)UGHQ.|USHUDOV5DXPEH]LHKXQJVZHLVHIUÅ.|USHUUlXPH´YJO Löw (2001: 115-129). Peter Villaume, geb. 1746 Berlin, gest. 1825 auf Fünen. Theologe und Prediger in der französischen Gemeinde in Halberstadt, zusammen mit seiner Gattin Initiator einer Mädchenschule, 1787 Berufung an das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin als Professor für Moral und schöne Wissenschaften, zuletzt ab 1793 pädagogisches Wirken auf Fünen; daneben umfangreiches publizistisches Oeuvre. Schwerpunkte in der Körperausbildung und in der sittlichen Schulung. Im Mittelpunkt standen allerdings nicht selten intellektuelle Probleme, die anhand dieser Bildungsinhalte erklärt wurden. Die in weiterer Folge besprochenen Exempel zur Physiologie erläuterten Å8UVDFKXQG:LUNXQJ´ 85

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dies etwa bei den Quellen zu Friedrich Eberhard von Rochows8 Bildungsbestrebungen der Fall ist (Rochau 1776, Riemann 1788).9 Zudem spricht für Villaume auch dessen prominente Rolle im Umkreis der Philanthropen. Aufsätze aus seiner Feder finden sich sowohl in den Pädagogische[n] Unterhandlungen, die von Basedows Philanthropin ausgingen (Villaume 1780 und 1783), als auch in Joachim Heinrich Campes Revisionswerk (Villaume 1787c, vgl. auch Glantschnig 1987: 202). Villaumes Monographien können außerdem zu weiter ausgreifenden Interpretationen herangezogen werden. Nicht zuletzt machte sich der Autor in Lehrämtern und als Schulaufseher verdient. Sein Handbuch erwuchs beispielsweise DXVGHU$XIVLFKWEHUGLHÅ*HPHLQGHVFKXOH´IU6HFKV- bis Zwölfjährige in Halberstadt, die er als geistliches Oberhaupt der französischen Gemeinde versah. Diese Zuordnung zur hugenottischen Minderheit lässt im Schnitt wohl einen etwas höheren sozialen Status vermuten (Wilke 1987: 36 und 65). Insgesamt zielte die Stoßrichtung des Buches aber klar auf eine möglichst inklusive Allgemeinheit ab. Zum Vergleich werden schließlich auch Franks und Fausts Positionen einfließen. Villaume bezog die anatomisch-physiologische Wissensvermittlung in der Grundstufe von Anfang an ein.10 Eine der ersten inhaltlichen Anweisungen für den Umgang mit den jüngsten Lernenden lautete nämlich: Å0DFKHW GLH .LQGHU DXI LKUHQ HLJHQHQ /HLE GHVVHQ 7KHLOH LKUH 6LQQH XQGGHQ*HEUDXFKGLHVHVDOOHVDXIPHUNVDP´ 9LOODXPe 1787b: 72).

Breitesten Raum nahmen physiologische Prozesse im dritten Schuljahr ein (ebd.: 122-126). Das Unterfangen, den Kindern ihr :DFKVWXP]XÅHUNOlUHQ´IKUWHLQGLHPLQXWL|VHQ(UOlXWHUXQJHQ ]X $XIQDKPH XQG 8PZDQGOXQJ YRQ 1DKUXQJ LQ ÅHWZDV 1HXHV 8

In den zeitgenössischen Schriften tauchen beide Schreibweisen des Namens Rochow und Rochau nebeneinander auf. 9 Für Rochows Engagement in Halberstadt und damit auch zur Verbindung zu Villaume vgl. Sippach (2001: 91). 10 Dass diese Auseinandersetzung mit Körperlichem so deutlich erIROJWHYHUGDQNWHVLFKZRKODXFKGHU7DWVDFKHGDVVÅGHUHQ$XVIhUXQJ HWZDV QHX´ XQG GDKHU EHVRQGHUV HUNOlUXQJVEHGUIWLJ ZDU Vgl. für die grundsätzlich innovative Schwerpunktsetzung: Villaume (1787b: V). 86

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PHKU )OHLVFK PHKU .QRFKHQ PHKU +DXW HWF´ HLQ $P $QIDQJ VWDQGHQ GLH =HUNOHLQHUXQJ LP 0XQG XQG GLH =XJDEH YRQ Å6SHiFKHO´DXVÅ'UVHQ´GDVKLH‰DXVHLQHUÅ0HQJHNOHLQHUIOHLVFKHrQH>U@ 6FKZlPPFKHQ´ 'DUDXI IROJWH GHU 7UDQVSRUW LQ GHQ Å6FKOXQG´ HLQHQ ÅIOHLVFKHUQH>Q@ 6FKODXFK RGHU HLQH 5|KUH ´ Danach wurde der Magen ausführlich vorgestellt. Die nächste Station eröffnete die Gelegenheit, volkstümliche Bezeichnungen zu NULWLVLHUHQ6WDWWÅ*HGlUPH´ZlUHGHPQDFKGHU7HUPLQXVÅ'DUP´ DQJHEUDFKW'XUFKGLHVHÅ5|KUH´GLHVLFKÅELVPDOVRODQJDOV GHU 0HQVFK´ DXVGHKQWH IKUWH GHU :HJ VFKOLH‰OLFK ÅELV DQ GHQ After; (d. h. bis an den Hintern, wo der unverdaute Rest der SpeiVHQ DXV GHP /HLEH JHVFKDIW ZLUG ´ 0LW GHP +LQZHLV DXI EHUHLWV von den Kindern miterlebte Schlachtungen von Schweinen erklärWH GHU $XWRU GDVV DXFK GHU PHQVFKOLFKH 'DUP ÅXP HLQ KlXWLJHV 'LQJGDVPDQGDV*HNU|VHQHQQWIHVWJHPDFKW´VHL=XU)LOWHUXQJ ZHUWYROOHU 6XEVWDQ]HQ GLHQWH GLH /HEHU GLH ÅXQWHU GHQ NXU]HQ 5LSSHQ´ ORNDOLVLHUW ZXUGH XQG Galle produzierte. Der dadurch HQWVWHKHQGHÅ0LOFKVDIW´IDQGVHLQHQ:HJEHUÅ5|KUHQ´VFKOLHßOLFKLQGLHÅ%UXVWRGHU/XQJH´(UPDKQXQJHQXQGSUDNWLVFKH5Dtschläge zur Erhaltung der Verdauungsorgane markierten eine Zwischenbilanz der Lektion. Ähnlich ausführlich besprach Villaume anschließend die Brustorgane und deren Funktionen. In Verbindung mit der AtPXQJZXUGHGLH8PZDQGOXQJGHUÅ0LOFK´]XPIUGDV+HU]EeVWLPPWHQ Å%OXW´ EHVFKULHEHQ 8P GLHVHQ NRPSOL]LHUWHQ 9RUJDQJ plausibel erscheinen zu lassen, zitierte der Pädagoge eine Versuchsanordnung, in der eine Schrift aus Milch eine rötliche Färbung annahm, wenn das Papier erwärmt wurde. Das Herz verteilte schließlich das Blut im ganzen Körper, eine Tatsache, die mit dem Bluten jeglicher Verletzung illustriert wurde. An dieser Stelle schlug der Autor den Bogen zur Ausgangsfrage nach dem WachsWXP LQGHP HU SRVWXOLHUWH Å'DV %OXW LVW GLH 1DKUXQJ GHV /HLEHV XQGGLH8UVDFKVHLQHV:DFKVHQV´ 'DUEHUKLQDXVOLH‰HUHVVLFK QLFKWQHKPHQGDV%OXWGDVÅDXV]ZH\6DFKHQ´ aufgebaut sei, zu ]HUJOLHGHUQ 'DV ÅURWKH ZLUNOLFKH %OXW´ PLW GHQ 4XDOLWlWHQ ÅWUoFNHQIHXULJVDO]LJ´VWDQGGHPQDFKLQ9HUELQGXQJPLWÅ:DVVHU´ GDVDOVÅNOHEULJ>H@XQGJHOE>H@´6XEVWDQ]GDVÅ>9@HUEUHQQHQ´GHV Blutes verhinderte. Die Erläuterungen erfolgten also mit beachtlicher Akkuratesse im Rahmen der zeitgenössischen Wissensbestände (vgl. Büttner 87

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2001). Beachtung verdient in diesem Kontext auch Villaumes Vermeidung volkstümlicher Diktionen zugunsten von Ausdrücken der Hochsprache. Die Mitteilung eines Experiments führte zudem sogar eine Methode der übergeordneten Sphäre der Wissenschaft ein. Die Beschreibungen und Vergleiche orientierten sich jedoch hauptsächlich am Anschauungsobjekt Körper und an der kindlichen Lebenswelt, die somit in den Raum der Schule Einzug hielt, und sollten wohl auch zum Staunen über die Faszination Mensch anregen. Allgemein lässt sich an diesen Beispielen die Suche nach Analogien im Tierreich festmachen. Diese ermöglichten nicht zuletzt Visualisierungen von Organen, die zweifelsohne den Vorrang vor dem Ertasten der Organe und ihrer Manifestationen beanspruchten.11 Die Anspielungen auf die bekannten Tierorgane korrespondieren zudem wohl auch mit dem üblichen Innereienverzehr (Hirschfelder 2001: 67). Mit den Schlachtungen wurden überdies Alltagsbeobachtungen angesprochen, die ² wohl auch nach den Maßstäben des späten 18. Jahrhunderts ² wenig appetitlich erscheinen. Ebenso wenig wurde das ungustiöse Ende der Reise der Nahrung ausgespart, sondern nüchtern mitgeteilt. Unangenehme Erfahrungen wie Verletzungen ergänzten die schonungslose Auseinandersetzung mit lebensnahen gesundheitsrelevanten Aspekten. Die Erläuterung gesunder physiologischer Vorgänge konnte schließlich ² sofern sie willkürlich beeinflussbar waren ² eine Anweisung zur gesunden Lebensführung begründen. Andererseits wurden auch explizite Vorsichtsregeln eingestreut.

$Q Q l K H U X Q J  D Q  Ä Z H L ‰ H  ) O H F N H Q ³  D X I  G H U  Landkarte des Körpers: Zeugung und Unzucht Die Frage, an welchem Punkt das Wachstum denn seinen Ausgang nahm, kam erst im letzten Schuljahr ins Blickfeld. Als Villaume unter der Überschrift Die Welt daran ging, einen kosmologischen Überblick zu entwerfen, näherte er sich dieser Wahrheit

11 Salzmann ging in der Maximalform der Elitenerziehung im Anschauungsunterricht sogar bis zur Sektion frisch getöteter trächtiger NOHLQHU 6lXJHWLHUH Å0LWOHLGHQ´ XQG $XIPHUNVDPNHLW ZDUHQ JOHichermaßen Ziele dieses Ansatzes (Salzmann 1799: 224f). 88

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vorsichtig an (Villaume 1787b: 209f).12 Der Kern eines Birnbaums diente als Ausgangspunkt. Aus ihm entspross die Pflanze, die wiederum Kerne produzierte, aus denen weitere Bäume wuchsen. Den Ursprung des ersten Kerns schrieb der Theologe und Pädagoge ehrfurchtsvoll Gott zu. Daran schloss sich eine spitzfindige Bemerkung an: Å(VZlUHZRKOQDtürlich, daß hier nach dem Ursprunge der Thiere und GHU0HQVFKHQJHIUDJWZUGH´ ebd.: 209).

Nicht zuletzt wären insbesondere Landkinder mit kopulierenden Tieren konfrontiert und hätten zuweilen auch schon die Geburt HLQHV 7LHUHV PLWHUOHEW 'LH Å:DKUKHLW´ VHL DOVR GHUDUWLJ ÅDXJHnVFKHLQOLFK´GDVVVLHÅQLFKWYRUHQWKDOWHQ´ZHUGHQN|QQWH,QZHiterer Folge wählte der Aufklärer den Weg über die Vögel und ihre GXUFKÅ:lUPH´DXVJHEUWHWHQ(LHUGLHGHQÅ6DPHQNHUQH>Q@´GHU Bäume entsprächen. Stakkatoartig führte Villaume darauf die ähnliche Geburt der Fische an, um damit fortzufahren, dass Å>Y@LHUI‰LJH7KLHUH´OHEHQGJHElUHQZUGHQ'LHHQGJOWLJH)Rlgerung stand damit unmittelbar bevor und erschien im Gewand der folgenden Frage inklusive Antwort: Å:HQQDEHUGDV.LQGQDFKGHP(QWVWHKHQGHV0HQVFKHQIUlJW"·1XQ könnte man nicht antworten: Die Mutter trägt ihn in ihrem Leibe ¾ Jahr, und gebährt ihn so wie die vierfüßigen Thiere ihre Jungen. Wer diese Lehre verschweigen will, kann sie verschweigen, aber sehe zu, ob das 9HUVFKZHLJHQ QLFKW PHKU EOH )ROJHQ KDW DOV GDV %HNDQQWPDFKHQ´ (ebd.: 210).

Der anschließende Paragraph schloss den Kreis zu den bereits geschilderten Mysterien des Wachstums. Als weitere Konsequenz YHUPHUNWH 9LOODXPH OHGLJOLFK Å,FK OHJH KLHPLW unvermerkt den *UXQG ]X GHQ /HKUHQ YRQ *HKHLPQLVVHQ LQ 5HOLJLRQVVDFKHQ´ (ebd.: 210).

12 Insgesamt widmet sich Villaume dieser Thematik sehr viel umfassender und weiter reichend als Rochow, der die Entstehung des LeEHQV LP ÅYLHU]HKQWH>Q@ +DXSWVWFN 9RQ QDWUOLFKHQ 'LQJHQ ]XU 9HUPHKUXQJ QW]OLFKHU (UNHQQWQL‰´ EHVFKUHLEW 5RFKDX  161). 89

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War also ein Vorgang wie die Verdauung, auch wenn diese sich äußerst komplex gestaltete und mit der Ausscheidung unappetitliche Aspekte berührte, nüchtern erklärt worden, wurde die Fortpflanzung für Villaume hingegen offensichtlich zum umstrittenen Graubereich, in dem er persönlich dafür eintrat, das Geheimnis der Geburt partiell zu lüften. Das Problem der Zeugung wurde zwar angedeutet, jedoch keinesfalls gelöst. Zudem verwXQGHUWDXFKGLHSO|W]OLFKH)RUPXOLHUXQJÅGDV.LQG´LP6LQJular, die den Frontalunterricht in der Schulklasse, die eventuell mehrere Jahrgänge vereinte,13 konterkarierte. Zur Erhellung dieser Zusammenhänge lieferte Villaume selbst 1787 einen umfangreichen Beitrag14 Ueber die Unzuchtsünden in der Jugend für Campes 13 Auch insgesamt bleibt offen, wie Villaume sich die Abschottung vorstellte, wenn mehrere Jahrgänge in einem Klassenraum unterrichtet wurden. 14 NB. etwa die Aufstellung von Argumenten für und wider die Preisgabe des Wissens über geschlechtliche Vorgänge und deren mutmaßliche Folgen bei Villaume (1787c: 129-140). Im Volltext als vorbildliche Bilanz zitiert bei Koch (2000: 19-21). Insgesamt wurden Villaumes Bemühungen von der Nachwelt den drastischsten Beispielen zur Sozialdisziplinierung zugerechnet (vgl. Thalhofer 1907: 28, 68f und insbesondere Hentze 1979). Demnach handelte es sich XP HLQH Å(U]LHKXQJ ]XU $QSDVVXQJ ]XU $XIJDEH YRQ ,QGLYLGXDOität, zum freiwilligen Verzicht auf den Gebrauch von Verstand und 3KDQWDVLH´ +HQW]H    $OOHUGLQJV ILQGHn sich in Villaumes Schrift auch zahlreiche verständnisvolle Momente, wie etwa die mehrmals eingeschärfte Warnung vor voreiligen Verdächtigungen, denen eine genaue Analyse der kindlichen Konstitution, des kindlichen Verhaltens und deren Veränderungen gegenübergestellt wurde (Villaume 1787c: 175f, 184, 186, 199). Außerdem beschrieb er akkurat die Unschuld und Unbekümmertheit kleiner Kinder, denen er ² im Gegensatz zum kommentierenden Campe ² auch tatsächlich traute (ebd.: 60, 156, 201). Nicht zuletzt musste nicht nur das Kind der Gesellschaft angepasst werden, sondern auch die Gesellschaft selbst, die nicht zuletzt für Auslöser zur Unzucht sorgte, sollte sich lQGHUQ XQG VR PVVWHQ (OWHUQ Å(KUIXUFKW´ YRU LKUHQ 6SU|VVOLQJHQ beweisen (ebd.: 152), indem sie ihr eigenes Verhalten kontrollierten. Überhaupt erscheint Campe in seinen Anmerkungen als der eigentliche Scharfmacher (vgl. ebd.: 162, insbesondere 209): Es war eigentlich der Herausgeber und nicht Villaume, der auf die Infibulation als letztes Mittel gegen die Unzuchtsünden hinwies. Schließlich 90

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Revisionswerk (Villaume 1787c). Dieser Überblick zum Stand der Diskussion basierte auf der bereits reichen medizinischen und pädagogischen Literatur15 VRZLH DXI HLJHQHQ Å(UIDKUXQJHQ´ HEG 4). Die im 7H[WYRUJHVWHOOWHQ%HLVSLHOHVROOWHQ]XQlFKVWÅKHLOVDPH )XUFKW´ EHL GHQ +DXSWDGUHVVDWHQ GHQ (OWHUQ ZHFNHQ HEG   Besonders gefährdet erschienen Mitglieder der wohlhabenden, städtischen Schichten. Dies wird durch die kontrastierende Darstellung der präventiv wirkenden Lebensweise der einfachen Landbevölkerung deutlich (ebd.: 84). Die Furcht sollte über das EHLJHIJWH Å/HVHEXFK IU GLH -XJHQG´ HEG -308) in weiterer Folge im Elternhaus auf den Nachwuchs übertragen werden. Allerdings enthielt dieser Behelf auch eine ideale vollständige Unterweisung zu Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, die sich ² strukturell ähnlich der Stelle im Handbuch, jedoch viel weitschweifiger ² von der Flora über die Fauna bis zum Menschen hinarbeitete (ebd.: 236-262).16 Dieser Wissensvermittlung für vollständig zu Unterrichtende (ebd.: 236-290) standen ausschließliche War-

müssen auch die Zeitumstände berücksichtigt werden, in denen Krankheit, Siechtum, Not und Tod (etwa im Krieg und in öffentlichen Hinrichtungen oder auch bei den oben genannten Schlachtungen von Tieren, ganz zu schweigen von der hohen Kindersterblichkeit, hervorgerufen unter anderem durch epidemische Krankheiten wie die Pocken) zum Alltag und damit auch zur kindlichen Lebenswelt gehörten. 15 Unter anderem Rousseau (Villaume 1787c: 98), Basedow (ebd.: 144), die am Dessauer Philanthropin verlegten Pädagogische[n] Unterhandlungen (ebd.: 181-184), Salzmann (ebd.: 8), Tissot (ebd.: 5). Außer Tissot wurde eine Reihe weiterer Ärzte zitiert, so zum Beispiel Zimmermanns Beitrag und ein weiterer Artikel aus Baldingers Zeitschrift (ebd.: 22-31 bzw. 31-33) oder Börner (ebd.: 33-36). 16 Die Weitschweifigkeit war durchaus gewollt, um den Intellekt zu EHVFKlIWLJHQ XQG Å>%@HGHQNOLFK>HV@´ HUVW JDU QLFKW ]XP =XJ NRmmen zu lassen (ebd.: 246). Schon bei der Auseinandersetzung mit der Flora zielte Villaume systematisch auf den Menschen ab, indem HU ÅVHOEVW ZLGHU GHQ 6SUDFKJHEUDXFK´ HEG  GDV VSlWHU Q|WLJH sexuelle Vokabular im neutralen Kontext einführte. Die Schilderung der Geburt und der ersten Versorgung der Neugeborenen lief außerdem nicht ohne drastische Details ab, die nicht anders als abschreckend interpretiert werden können. 91

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nungen vor der Masturbation, die nach Geschlechtern getrennt waren, gegenüber (ebd.: 290-308). Abgesehen von den beiden ersWHQ JHPHLQVDPHQ Å/HNWLRQHQ´ ]X ]wischengeschlechtlicher Unzucht und Masturbation (ebd.: 263-269) trennten sich die umfassenderen Ausführungen ebenfalls in geschlechtsspezifischer Hinsicht. Villaumes persönlicher prinzipieller Standpunkt zur elterlichen Aufklärung über sexuelle Vorgänge zeigte sich im Diktum: Å+LHU PX‰ GLH )UDJH JDQ] RGHU JDU QLFKW EHDQWZRUWHW ZHUGHQ´ HEG 9LOODXPHZDUQWYRUGHU*HIDKUÅGXUFKPDQFKH,GHHGLH GHP.OHLQHQKDOEPLWJHWKHLOHWZLUG´ HEG -HJOLFKHÅ3KDQWaVLH´ N|QQWH QlPOLFK ]X 0DVWXUEDWLRQ XQG ]ZLVchengeschlechtlicher Unzucht führen. Während das Lesebuch die Maximalvariante verkörperte, machte sich Villaume auch Gedanken über befriedigende Minimalantworten als Alternative zum bloßen Abblocken neugieriger Fragen (ebd.: 143f). Die Vorgangsweise ähnelte jener im Handbuch. Die Eltern könnten etwa offenbaren, dass Kinder von Gott herkämen. Würde sich das Kind damit nicht zufrieden geben, folgte die (UNOlUXQJ GDVV ÅGDV NOHLQH .LQG´ LP 0XWWHUOHLE KHUDQZFKVH Drastisch ² und damit wohl abschreckend ² sollte danach die GeEXUWGDPLWXPVFKULHEHQZHUGHQGDVVÅGHU/HLEGHU0DPDVRJeZDOWLJ DXIJHULVVHQ´ ZUGH GDVV VLH GDYRQ ÅNUDQN´ ZUGH :LH 9LOODXPH DEVFKOLH‰HQG EHWRQWH ZDU GHPQDFK ÅNHLQ :RUW YRQ GHP =HXJXQJVJHVFKlIW´ QRWZHQGLJ XP GLH )UDJH QDFK GHU +Hrkunft eines Kindes unmittelbar befriedigend zu beantworten, und DXFK GHU Å8QWHUVFKLHG GHU *HVFKOHFKWHU´ NRQQWH YHUVFKORVVHQ bleiben.17 Beim Schluss des Kindes von Tieren auf Menschen, den Villaume im Handbuch ebenfalls angeführt hatte, wurde als Gegenbehauptung lediglich eben diese intellektuelle Fähigkeit, eine Analogie zu erkennen, bezweifelt (ebd.: 130 bzw. 133f). Noch vorsichtiger verhielt sich Villaume, wenn es darum ging, Kinder vor dem Schulbesuch vor der Masturbation zu warnen, eine Maßnahme, die seines (UDFKWHQV ÅVFKOHFKWHUGLQJV QRWKZHQGLJ´ ZDU

17 Siehe zur Vermeidung selbst der Benennung der Genitalien: Ebd.: 157. Vgl. für die Terminologie hinsichtlich der Genitalien die Studie Kochs (2000: 40). NB. hiezu eine einsame Kritik Hufnagels, zitiert bei Thalhofer (1907: 38f). 92

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GHQQ Å1XU GLH .HQQWQL‰ GHU *HIDKU NDQQ VLH EHZDKUHQ´ HEG 226f). Er betonte dabei eingangs erneut, dass zu diesem Zweck weder die Zeugung noch die Geschlechtsunterschiede besprochen werden müssten (ebd.: 158-164).18 Erklärungsbedürftige Begriffe wie Masturbation oder Selbstbefleckung blieben ebenfalls ausgeVSDUW6WDWWGHVVHQEHGLHQWHVLFKGHU$XWRUGHU)RUPXOLHUXQJÅPLW « KHLPOLFKHQ *OLHGHUQ « VSLHOHQ´ 'HU 8QZLVVHQKHLW XP XQHrwünschte geschlechtliche Vorgänge wurde also letztlich vorwiegend das Wissen um die von Ärzten festgestellten Spätfolgen entgegengestellt.19 Im Fall unzuchtgefährdeter Jugendlicher führte Villaume zudem vor allem die soziale Schande ins Treffen, die seines Erachtens insbesondere Mädchen treffen würde. Jungen 0lQQHUQ ZUGHQ KLQJHJHQ QXU =ZDQJVHKH XQG Å9HUDFKWXQJ´ drohen (vgl. ebd.: 266). In Ausnahmefällen riet der Pädagoge auch ]XP%HVXFKYRQ(LQULFKWXQJHQÅZR(OHQGHLKUH6QGHQE‰HQ´ (ebd.: 162). Gemeint waren hier wohl Krankenhäuser, gegebenenfalls auch jene Abteilungen derselben, in denen venerisch Kranke gepflegt wurden, vielleicht aber auch Anstalten, die Kindsmörderinnen ihrer Strafe zuführten ² jedenfalls jedoch Orte des Lernens, die abseits der üblichen Wissensvermittlungsräume angesiedelt waren. Explizit wurden Geschlechtskrankheiten in Villaumes

18 9JO HLQH DOOJHPHLQH 6WHOOXQJQDKPH JHJHQ ÅP\VWHUL|VH 1DPH>Q@´ (Villaume 1787c: 172). Dort operierte der Autor mit der UmschreiEXQJ Å%HUKUHQ GHU 6FKDDPWKHLOH VROFKH HUKLW]HQ´ 9ROOVWlndig DXIJHNOlUWH 6SU|VVOLQJH NRQQWHQ KLQJHJHQ GHQ %HJULII Å6HOEVWEHIOeFNXQJ´QDFKYROO]LHKHQ YJOHEG  19 Auch im Lesebuch standen die abschreckenden Folgen im MittelSXQNW'LHPXWPD‰OLFKH8UVDFKHZXUGHH[HPSODULVFKDXIÅGLHWUDuULJH*HZRKQKHLW«PLW VHLQHQ6FKDDPWKHLOHQ]XVSLHOHQ´]XUFNJeIKUW =XVlW]OLFK ZXUGH QXU DXI GHQ 9HUOXVW GHU Å1DKUXQJVVlIWH´ im Zuge der Ejakulation hingewiesen (vgl. ebd.: 290-298 für Knaben und 298-308 für Mädchen). NB., dass Tissots und die fiktiven Beispiele für männliche Verdächtige und nur teilweise Aufzuklärende letal endeten, während das geschilderte gehorsame Mädchen mit GHP/HEHQGDYRQNDPXQGVRJDUHLQHJHZLVVHÅ%H‰UXQJ´HUNHQQHQ ließ. 93

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Unzuchtsünden allerdings nur selten beschrieben,20 und auch die Problematik lediger Mütter21 wurde nie bis zu ihrer letzten Konsequenz verfolgt. Die schwierige Linderung der mutmaßlichen körperlichen Schäden22 durch die Masturbation markierte am deutlichsten den

20 Beschreibung von Symptomen der Syphilis für vollkommen Aufgeklärte (ebd.: 264f). Mutmaßlich im gleichen Wissenskontext auch ebd.: 270. 21 Vgl. im für die erwachsene, gebildete Allgemeinheit konzipierten Werk Villaumes Von dem Ursprung und den Absichten des Uebels eine HKHU YHUVWlQGQLVYROOH +DOWXQJ JHJHQEHU HLQPDOLJHQ  Å)HKltritt[en]´ GHUV-394). Für die Konzeption ebd.: [II]. 22 1% GDVV 9LOODXPH LP NLQGOLFKHQ 6WDGLXP NHLQ Å9HUEUHFKHQ´ LQ XQ]FKWLJHP9HUKDOWHQVDKGHQQÅ6LHZLVVHQQLFKWZDVVLHWKXQ´ GHUVF Å6LHVXFKHQQLFKWVDOV9HUJQJHQ´ HEG :LH schon der Titel verriet, spielte in der Einschätzung insgesamt hingegen der Begriff der Sünde eine wesentliche Rolle. Das aus der GeZRKQKHLW HQWVSULQJHQGH Å%HGUIQL‰´ ]XU $XVOHEXQJ JHVFKOHFKWOiFKHU5HJXQJHQZXUGHHWZDDOVÅ.QHFKWVFKDIWGHU6QGH´DXVJHOHJW (vgl. ebd.: 39). Der Status als Krankheit wurde durch die umfassende Medikalisierung betont (vgl. ebd.: 204). Für den Übergang vom ÅPRUDOLVFKH>Q@ /DVWHU´ GHU Å:ROOXVW´ ]XP KRIIQXQJVORVHQ (QGVWadium einer unheilbaren (Sucht- Å.UDQNKHLW´HEG9RUZLHJHnd wurden ² vielleicht auch, um im Vokabular und in der Lebenswelt der Kinder zu bleiben ² die Masturbation und ihre Folgen ebenfalls DOV ÅVFKUHFNOLFKH .UDQNKHLW´ YRUJHVWHOOW HEG   (LQH ZHLWHUH Charakteristik zeigte sich in der seuchenartigen Ausbreitung, die mit quarantäneartiger Isolation gebrochen werden sollte (vgl. ebd.: 5 und 228f). Die Entmenschlichung der Betroffenen wurde ebenso angerissen und sogar unbedarften Kindern verdeutlicht (vgl. ebd.: 296). NB. letztendlich den dezidiert physischen Fokus hinsichtlich GHU (QWVWHKXQJ YHQHULVFKHU /HLGHQ Å'LH /XVWVHXFKH HQWVWHKW DXV GHU 9HUGRUEHQKHLWGHU6lIWH´ GHUV   'LHVH ,QWHUSUHWDWLRQ galt nach Villaume auch für das Sexualverhalten im Allgemeinen: Å'HU *HVFKOHFKWVWULHE LVW QLFKWV DQGHUV als der Reiz der Säfte und GLH 8QUXKH GHU ]X GLHVHP *HVFKlIW EHVWLPPWHQ 2UJDQHQ´ GHUV 1788: 67). Vgl. für die medizin(ideen)geschichtlichen Konzepte und deren Zusammenspiel mit moraltheologischen, sozialen, kulturellen und politischen Faktoren den konzisen Überblick bei Michael Stolberg (2003, 261-286). 94

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Berührungspunkt mit der akkreditierten Heilkunde.23 Als physiologische Grundlage dozierte Villaume über die allgemeine AuffasVXQJGHU0HGL]LQHUGDVVÅGHU6DDPH´UHVSHNWLYHMHQHUÅ6DIW´den .LQGHU XQG 0lGFKHQ YHUJRVVHQ GLH ÅHGHOVWH )HXFKWLJNHLW´ GHV .|USHUV YHUN|USHUWHQ XQG ÅDXV GHP *HKLUQ XQG 5FNHQPDUN´ abgeleitet wurden. Wurden diese Körperflüssigkeiten vergeudet, litten in weiterer Folge nicht nur die körperliche Konstitution, sondern auch das Gefühlsleben und der Intellekt (vgl. ebd.: 44f). %HL GHU %HNlPSIXQJ GHU )ROJHQ VROOWH QDFK 9LOODXPHV 8UWHLO ÅMeGHU]HLW´ VHOEVW EHL IUKHU $EJHZ|KQXQJ GHU 0DVWXUEDWLRQ XQG Rückbildung erster sichtbarer Folgen, professionelle ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden (vgl. ebd.: 204f, 209f). Ärzte PVVWHQIHUQHUQLFKWQXUGLHULFKWLJHQÅ$U]HQHLHQ´YHUDEUHLFKHQ VRQGHUQDXFKÅ'LlWXQG/HLEHVEXQJ´VRZLHGLH0RGDOLWlWHQGHU verschärften Aufsicht festlegen (vgl. ebd.: 122). Im Falle der krankhaften Å0XWWHUZXWK´ LQ GHU )UDXHQ ÅEHJLHULJ´ QDFK 0lnnern Ausschau halten würden, empfahl der Pädagoge schließlich, GLH EHWURIIHQHQ +RIIQXQJVORVHQ NXU]XP ÅHLQ>]X@VSHUUHQ´ HEG 283). Allerdings mangelte es auch nicht an Kritik an der Ärzteschaft. Ein Fallbeispiel nach einem Beitrag in den Pädagogische[n] Unterhandlungen zeigte einen Arzt, der einen Knaben durch allzu offene Ausführungen nach einem bloßen Samenerguss verdorben hatte (ebd.: 172). Beiläufig wunderte sich Villaume als Laie sogar, dass Tissot und Börner partout schwächende Abführmittel in die Kur einbezogen (ebd.: 204). In zwei wohl fiktiven Fallbeispielen24 kurierte interessanterweise der zunächst konsultierte Arzt nur erfolglos die Symptome, und erst der zweite, verständigere Mediziner erkannte die wahre Ursache der Symptome (vgl. ebd.: 294, 301). 23 NB., dass Börners zitierte Ausführungen andererseits auch andeuteten, dass Mediziner das Problem der Masturbation ebenfalls im sozialen Kontext und nicht nur als Krankheit beurteilten. Die Onanie erzeugWH ODXW %|UQHU QlPOLFK Å(NHO IU GDV DQGUH *HVFKOHFKW XQG HLQH$EQHLJXQJYRQGHP+HLUDWKHQ´'DKHUVFKlW]WHHUVLHJHIlKUOiFKHUHLQDOVGLHÅ9HQXVVHXFKH´,QGLHVHU4XHOOHZXUGH]XGHPGLH Å,QILEXODWLRQ LP 1RWKIDOO´ LQ GHQ 5DXP JHVWHOOW YJO 9LOODXPH 1787c: 33f). 24 Die Geschichten wandten sich an Knaben beziehungsweise Mädchen, die jeweils ohne Vorkenntnisse über geschlechtliche Vorgänge vor der Onanie gewarnt werden sollten. 95

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Abschließend stellt sich noch die zum Ausgangspunkt zurückführende Frage, warum die Schule das Misstrauen des Schulmannes Villaume erregte (vgl. ebd.: 23, 94, 154, 159, 161, 225-228 und 231-234).25 InsbesondHUHGLHÅ6FKXOHQZRGLH6FKOHUQLFKWZRhQHQ´ VWDQGHQ LP .UHX]IHXHU GHU .ULWLN HEG -234). Der Einflussbereich der Lehrenden blieb grundsätzlich auf den Klassenraum beschränkt, und selbst über die Aufrechterhaltung der Ordnung in diesem eingeschränkten Wirkungskreis behauptete 9LOODXPHÅ>0@DQNDQQHVYRQLKP>GHP/HKUHU@QLFKWPLW6WUHQJH YHUODQJHQ´ ebd.: 231). Die notwendige Aufsicht blieb daher illusorisch, eine Vertrauensbasis zwischen Lehrenden und Lernenden stellte sich im Normalfall nicht ein. Der schlechte Zustand von Schulen, die Einmischung der Eltern und unfähige Lehrkräfte taten ihr Übriges. Der vordergründige Mindeststandard müsste laut Villaume daher darin bestehen, dass die Möbel die Sicht auf die ganzen Körper der Lernenden freigaben,26 die Schulkinder ihre Mäntel abzulegen hätten und sich nur einzeln aus der Klasse auf den Abort begeben dürften.27 Einer idealen Lehrkraft traute der Pädagoge allerdings noch bedeutend mehr zu. Sie würde trotz ZLGULJHU 8PVWlQGHGHQ Å8QWHUULFKWSUDNWLVFK´ Jestalten und damit Gefahren abwenden helfen. Lehrende, die Verdachtsmomente in Richtung Masturbation wahrnahmen, könnten verdächtige Kinder durch Aufgaben beschäftigen respektive aus ihren unzüchtigen Gedanken reißen. Schreibübungen eigneten sich hervorragend zur Kontrolle der Hände. Schließlich ging Villaume sogar soweit, dass er den Lehrenden die eigentlich elterliche AufJDEHHLQÅ*HVWlQGQL‰´]XSURYR]LHUHQHLQUlXPWH'LHXQWHUYLHU 25 /DXW =LPPHUPDQQ YRU DOOHP ÅJUR‰H 6FKXOHQ LQ JUR‰HQ 6WlGWHQ´ (ebd.: 23). DerselbHEHUGDV%HLVSLHOHLQHUÅDOWH>Q@UHGOLFKH>Q@´Medoch problemunbewussten Lehrerin (ebd.: 26f). Zur Verführung u. a. in der Schule (ebd.: 49f). Andererseits sprach die Aufdeckung der Masturbation für den Ausschluss der Betroffenen vom Schulbesuch (vgl. ebd.: 211). NB. die Differenzierung in internatsähnliche Schulen und die restlichen Anstalten. 26 Im Gegensatz zu Rochows oben zitierten Vorstellungen. 27 Vgl. hiezu auch so genannte Schulgesetze (etwa bei Villaume 1787b: 8-10), die ² wie der Stoff der diätetischen Gesundheitserziehung ² in das System der Vorsichtsmaßnahmen passten, aber eben auch andere Aufgaben erfüllten. Eine Reduktion auf die Masturbationsbekämpfung ist daher nicht statthaft. 96

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$XJHQhEHUIKUWHQN|QQWHQGDQQVRJDUÅ]XVDPPHQ´² in obiger Art und Weise ² unterrichtet werden. Der Nachsatz zu dieser Verantwortung führte schließlich zumindest metaphorisch auf medi]LQLVFKHV 7HUUDLQ LQGHP SRVWXOLHUW ZXUGH Å(U >L H GHU /HKUHU@ PX‰ KHLOHQ´ ebd.: 233). Die Einschärfung konnte allerdings so allgemein gegeben werden, dass ² wie ebenfalls oben ausgeführt ² keine eigentliche Information über die Funktion der Genitalien damit einhergehen musste. Wird zum Vergleich die ärztliche Sicht auf die schulische Unterweisung thematisiert, sticht zweifelsohne Fausts GesundheitsKatechismus hervor (Faust 1925). Anatomisch-physiologische BeOHKUXQJHQ ZXUGHQ XQWHU GHP 7LWHO Å9RQ GHU %HVFKDIIHQKHLW GHV PHQVFKOLFKHQ .|USHUV´ QXU JUXQGJHOHJW 6LH GLHQWHQ RIIHQVLFKtlich als peripherer Rahmen für die zentralen diätetischen Vorschriften. Insbesondere eine Anmerkung gab in diesem Zusammenhang jedoch auch eine expansive Richtung vor: Å(LQ /HKUEXFK IU GLH 6FKXOHQ YRQ GHP XQHQGOLFK ZHLVHQ %DXH XQG von den Verrichtungen der Theile des menschlichen Körpers, durch richtige Kupferstiche erläutert, werden und müssen die Schulen, da ein VROFKHV%XFKHEHQVRQW]OLFKDOVQRWKZHQGLJLVWEDOGHUKDOWHQ´ ebd.: 15, vgl. ebd.: 92).28

Auf den zwei folgenden Seiten stellte auch Faust den Menschen in den Kontext der göttlichen Schöpfung und betonte ² wohl als Basis für die weiteren Ausführungen ² die körpereigenen Präventivund Heilkräfte. Diese wären zu wenig bekannt, hätten zudem im Laufe der Generationen abgenommen und würden durch ungesunde Lebensgewohnheiten weiter verwässert. Seinem eigenen Postulat, bildliches Anschauungsmaterial zu liefern, kam Faust in Bezug auf die Zähne am nächsten (ebd.: 94f). Die Aufstellung der Lebensphasen, die vorwiegend mit Anzahl und Anordnung der Zähne periodisiert wurden, enthielt auch ein unscheinbares erstes StaGLRQ PLW GHU %H]HLFKQXQJ Å, )UXFKW YRQ JHVXQGHQ $HOWHUQ JH]HXJW ´ HEG ,QGHQHLQOHLWHQGHQ)UDJHQ]XU&KDUDNWHULVWLN GHU *HVXQGKHLW ZXUGH ]XGHP EHWRQW GDVV VLFK Å1DWXU´ Å*e28 NB. die offensichtliche Unzulänglichkeit des Basedowschen Elementarwerk[s]. Andere Bemerkungen zur gesunden Anatomie und Physiologie wurden lediglich unsystematisch eingestreut (vgl. ebd.: 13f, 39, 44). 97

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VXQGKHLW´ XQG Å7XJHQG´ GHU (OWHUQ DXI GHUHQ 1DFKZXFKV DXswirkten (ebd.: 14). Genauere Belehrungen zu diesem Fragenkomplex fanden jedoch keine Aufnahme. Vorbeugende Maßnahmen gegen sexuelle Reize kamen vor allem indirekt vor. Abgesehen von den üblichen diätetischen Regeln, die unter anderem auch diesem Zweck dienten, propagierte der Arzt jene Einheitskleidung für Kinder, die er in seinem Buch über den Geschlechtstrieb den schädlichen Hosen gegenübergestellt hatte.29 Übrigens war sich Faust auch der Veralterung der von ihm gewählten, monotonen (Unterrichts-)Form des Katechismus durchaus bewusst. Einleitend wandte er sich gegen mechanische Repetitionen, und auch er verlangte von den Lehrenden ErNOlUXQJHQ ÅIRUWVFKUHLWHQGH )UDJHQ´ XQG *HVSUlFKH UHVSHNWLYH Å(U]lKOXQJHQ´DOVIODQNLHUHQGH0D‰QDKPHQEHL/HNWUHXQG9Hrinnerlichung der Inhalte, um den Intellekt und nicht nur das Gedächtnis zu fördern (ebd.: 5f). Überdies zitierte der Arzt eine Würzburger Vorschrift, wonach der Gesundheitskatechismus als Grundlage für Diktate und Schönschreibübungen dienen sollte, die auch die Verbreitung des Unterrichtsstoffs begünstigen würden (ebd.: 4). Frank stimmte mit Villaume vor allem überein, wenn es um die Zustände in Schulen ging (vgl. Frank 1786b: 610-612). Seine Perspektive blieb allerdings durch die Quellenbasis beschränkt. Er zitierte nämlich lediglich Zimmermann und Tissot als Gewährsmänner und blieb somit in der Sphäre der akkreditierten Medizin verhaftet. Möglichst strikte Trennung der Geschlechter und obrigkeitliche Vorschriften zur Observanz brachten kaum Neues. Franks eigener Beitrag bestand lediglich in der Anregung, frisches Wasser im Klassenraum bereitzustellen, damit auch das Hinausgehen zum zuweilen ² durch Hastigkeit ² schon per se schädlichen Trinken obsolet würde. Bildung spielte bei dem Regulator in diesem Zusammenhang keine Rolle. Allerdings zeugten Details, die in der Gesamttendenz zur Formung des Menschen als Objekt durch Gesetze freilich untergehen, auch von Überlegungen in diese Richtung. So sollte ein sogenannter Pädotriba, der kommunal besoldete Fecht- und 29 Ebd.: nach dem Titelblatt. NB., dass die Skepsis gegenüber Hosen bereits zuvor zum Allgemeingut gehörte. Villaume schrieb ihnen VFKRQGLH9HUXUVDFKXQJÅIUKHU5HLIH´]X YJO9LOODXPHFI  98

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Tanzinstruktoren ersetzen könnte, die männliche Jugend vorwieJHQG LQ .|USHUEXQJHQ XQWHUULFKWHQ DEHU DXFK GLH Å1DWXUNXnGH´UHSHWLHUHQ YJOHEG-642). Für welche Altersgruppe dieser innovative Unterricht einschlägig sein sollte, blieb allerdings genauso unklar wie der Umfang der Naturlehre. Der Vergleich mit dem Fecht- und Tanzunterricht lässt außerdem einen Fokus auf höhere Schichten vermuten. Außerdem sah der Systematiker ² abseits seiner Ausführungen zu Schulen ² für Mädchen und Eheleute Unterweisungen vor. DezidieUWIRUGHUWHGHU$U]WÅEHKXWKVDP>H@´PWWHUOLFKH%HOHKUXngen für Mädchen, die kurz vor der Vollendung ihres dreizehnten Lebensjahres standen (Frank 1786a: 439-442). Diese Belehrung geK|UWH ]X )UDQNV .RQ]HSW ]X Å|IIHQWOLFKHU SK\VLVFKHU %LOGXQJ Hrwachsener TöFKWHU ]X NQIWLJHQ 0WWHUQ LP JHPHLQHQ :HVHQ´ (ebd: 422-445), in dem naturgemäß Anweisungen und Anlässe zur Gesetzgebung, die auf diätetische Vorschriften hinausliefen, dominierten, jedoch auch private Aspekte berührt wurden. So sollte etwa die Unwissenheit pubertierender Mädchen beim Auftreten der ersten Menstruation bekämpft werden. Explizit kritisierte der Mediziner in diesem Zusammenhang die anerzogene, kommuniNDWLRQVIHLQGOLFKHÅDOO]XJUR‰H6FKDPKDIWLJNHLW´VRJDUYRU0WWHUQ respektive älteren weiblichen Vertrauenspersonen. Hier bewegte sich Frank also ² wie Villaume in den Unzuchtsünden ² im Erziehungsumfeld des Elternhauses. Die Unterweisung von heiratswilligen und ²tauglichen Liebenden führte ihn zurück in die öffentliche Sphäre und zu einer anderen traditionellen VermittlungsinVWDQ]LQGLHVHP*HIJH'LH$XIJDEHÅMXQJH(KHOHXWH]XUUHFKWHQ Zeit über die wichtigsten Gegenstände und Gründe ihres neuen 6WDQGHV´]XXQWHUULFKWHQVROOWHQlPOLFKGHU*HLVWOLFKNHLW]XIDOOHQ (ebd.: 446-450).30 Die bisher gepflogene, auf moralinsaure mah30 Natürlich zeigte sich im Gegensatz zu diesem Ansatz auch die regulatorische, populationistische (und letztlich protoeugenische) Perspektive, indem eheliche Verbindungen zwischen körperlich ungeeigneten Partnern untersagt werden sollten (vgl. ebd.: 275-342). Unkeuschheit könnte zudem mit Ehrenstrafen oder auch mit Landesverweis bestraft werden, wie am Beispiel einer bestehenden Verordnung im Bistum Speyer aufgezeigt wird (vgl. ebd.: 237-239 bzw. 247). NB., dass Frank für seine gebildete Leserschaft überaus weitschweifig, im Sinne eines Wissenstransfers von der wissenschaftlichen Medizin zur gesellschaftlichen Elite, die geschlechtliche Natur 99

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nende Worte beschränkte Praxis, die überdies die Phantasie erst anregen könnte, müsste demnach um Staatsbürgerunterricht und Schwangerendiätetik erweitert werden. Eine Einführung in die Å$EVLFKWHQGHU1DWXU´XQGGLHÅQDWUOLFKH>Q@:DKUKHLWHQ´VSLHOWH GDEHL HEHQVR HLQH 5ROOH Å(LQ HLIULJHU XQG PHQVFKHQIUHXQGOLFKHU 6HHOVRUJHU´² vorzugsweise ohne zölibatäre Einschränkung ² stellte dafür die Idealbesetzung dar.

Medizin und Pädagogik: Übergänge und G r e n z e n v o n Wi s s e n s r ä u m e n Summa summarum betrachtet, bediente sich die pädagogische Sphäre also des Wissens, das die wissenschaftliche Medizin zu Tage gefördert hatte. Der Platz pädagogischer Leistungen war insofern hierarchisch sozusagen unter der Sphäre der akademischen Medizin angesiedelt. Diese Positionierung brachte eine größere Nähe zu den zu Unterrichtenden mit sich, also metaphorisch gesprochen einen relationalen Standortvorteil, den beispielsweise auch der Mediziner Faust anerkannte und betonte. In Villaumes Fall fanden sich andererseits sogar Zweifel, die sachte vor allem am Einfühlungsvermögen, aber auch an der Kompetenz der akkreditierten Heilkunde rüttelten. In ihrer Relaisfunktion popularisierte die in der Schule beheimatete Pädagogik anatomische und physiologische Kenntnisse, die bei Villaume bereits in die grundlegende Bildung einflossen. Die Filterung kennzeichnete insgesamt den Charakter der Wissenspopularisierung und den Übergang der Wissensräume Medizin und Pädagogik. Einerseits wurde das Fachwissen an Analogien in der Lebenswelt außerhalb der Schulräumlichkeiten angeglichen, um der Anschaulichkeit Genüge zu tun. Fiktive Formen und die sokratische Methode erleichterten zusätzlich die Vermittlung. Schon damit war eine inhaltliche Reduktion und/oder Fokussierung verbunden. Andererseits zeigte insbesondere die Vorsicht im Hinblick auf die als nicht nur physisch, sondern vor allem

des Menschen inklusive ihrer Pathologie schilderte (vgl. ebd.: 92-112 und 112-127). Zur Berücksichtigung von Geschlechtskrankheiten und deren Ausbreitung nach Fehltritten (vgl. ebd.: 182f, 324f); beziehungsweise im Militär (vgl. ebd.: 209-212). 100

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auch geistig und psychosozial schädlich interpretierten Phänomene Masturbation und Unzucht eine bewusste, reflektierte Abstufung der Informationseinschränkung beziehungsweise sogar eine Kultivierung von Geheim- und Nicht-Wissen, das die Grenzen des aufklärerischen Impetus verdeutlichte. Die Funktion der Fortpflanzungsorgane blieb auf diese Weise Terra incognita, und unspezifische respektive verschleiernde Bezeichnungen machten die betreffenden Körperteile selbst sozusagen geradezu zu weißen Flecken auf der ansonsten durchaus genau gezeichneten Landkarte des Körpers. Sowohl Medizin als auch Pädagogik vertrauten in der speziellen Frage der Masturbation letztendlich Tissots Schrift als Basis und speisten sich vorwiegend aus dieser Quelle. Beide lieferten darüber hinaus im Grunde genommen nur zusätzliche quantitative Evidenz, die zur Erhärtung des autoritativen medizinischen Erstbefundes taugte. Das Phänomen wurde dadurch vorrangig der physisch-medizinischen Sphäre zugewiesen. Die Sanktion der Distanz schaffenden räumlichen Abgrenzung Betroffener zeigte Vorgehensweisen, die in Epidemien erprobt worden waren. Zusätzlich wurde allerdings deutlich, dass für die Befallenen auch kein Platz in der gesitteten Gesellschaft war. Die allgemeine Schule repräsentierte schließlich nur eine Instanz im Gefüge der Institutionen von Bildung, Erziehung und Sozialdisziplinierung. Ihre Kompetenz erschien im Vergleich zwiespältig. Einerseits galt sie als Hort der Wissensvermittlung, der nützliche Untertanen produzieren sollte. Andererseits wurde sie aber auch als bedrohlicher Ort wahrgenommen, an dem mutmaßlich krankheitsfördernde Missbräuche des eigenen Körpers ihren angeblichen Ursprung haben konnten. Der Stadt-LandGegensatz spielte in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Patriarchalisch organisierte Familien oder familienähnlich betriebene Erziehungsanstalten stellten im Gegensatz zu diesem Gefahrenpotential bevorzugte Refugien höherer Schichten dar. Forderungen diätetischer Natur konnten in der Schule des späten 18. Jahrhunderts zwar postuliert werden, ihre praktische Entfaltung wurde jedoch ² wiederum mit der Ausnahme familienähnlich orientierter Internatsschulen ² an die Familien der Kinder delegiert. Die Geistlichkeit spielte ebenfalls nach wie vor eine Rolle als alternative Verbreitungsinstanz der stets partiellen Volksaufklärung. Wie nicht zuletzt Villaumes Beispiel zeigte, fielen die Instanzen Geistlichkeit und Schule zuweilen zusammen. Reaktionen 101

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der auf diese Art Erzogenen, die trotz aller Beteuerungen eines idealen liebevollen, aktivierenden Umgangs eher formungsbedürftige Objekte der Sozialdisziplinierung als handelnde Subjekte darstellten, blieben marginal. In konkreten Fallberichten zur MasWXUEDWLRQVEHNlPSIXQJ VSLHJHOWH VLFK DQVDW]ZHLVH GHU Å(UIROJ´ wider, den die Einflößung von Furcht zeitigte.

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SCHULE UND GESUNDHEIT IM LETZTEN DRITTEL DES 18. JAHRHUNDERTS

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Personalisierung und Interaktion am Beispiel von Gesundheitsdiskursen im Internet CORNELIA BOGEN

Territoriale Räume werden durch menschliche Handlungen zu sozialen Räumen. Kognitive, vom Menschen geschaffene Räume, wie sie das Medium Internet ermöglicht, können ebenso durch kommunikative Interaktionen sozial ausgefüllt und kulturell erweitert werden. Im Sinne dieser Hintergrundannahmen lässt sich beobachten, dass sich seit dem 18. Jahrhundert die mediale Gesundheitskommunikation durch personalisierte Formen des Krankenberichts ausdifferenziert, die von einer Verflechtung zwischen medizinischen Experten- und Laiendiskurs begleitet wird. Die neuen Interaktionsmöglichkeiten des Web 2.0 dynamisieren diesen medienhistorischen Entwicklungsprozess. Um diesen Zusammenhang zu beschreiben, werden die medialen Schnittstellen zwischen den institutionalisierten Diskursen der Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen und dem laienmedizinischen Diskurs der betroffenen Kranken untersucht. Dadurch gelingt es zu zeigen, dass in der Foucaultschen Medikalisierungsthese die Medialität der Vermittlungsebene nicht deutlich genug berücksichtigt wird. So ermöglicht es die spezifische Medialität der Kommunikation im Internet medizinischen Laien, einen digitalen, interaktiven Praxis-Raum für die eigene Krankheitsbewältigung und die anderer Betroffener zu etablieren. Experten greifen den Laiendiskurs inhaltlich und formal auf. Die exemplarische Analyse des Gesundheitsdiskurses im Internet zum Krankheitsbild der 107

CORNELIA BOGEN

Depression1 verdeutlicht so den fortschreitenden Prozess der Medialisierung medikaler Kulturen.

M e d i a l e r R a u m b e g r i f f v o n M ed i k a l k u l t u r Medien durchdringen immer mehr die Lebenswelt, öffentliche Akteure passen ihre Kommunikation an die Logiken der Medien an. Menschliche Wahrnehmung, Wirklichkeitskonstruktion und das Verhalten werden umfassend von Medien beeinflusst. Im Zuge dieser Medialisierung der Gesellschaft differenzieren sich neue Leistungs- und Publikumsrollen sowie neue kommunikative Handlungsstrukturen in der Öffentlichkeit aus. Solche Entwicklungen erfassen auch maßgeblich den Gesundheitsbereich (vgl. Gottwald 2005: 22f). Die traditionellen Handlungsfelder von Gesundheit und Krankheit ² die Arzt-Patienten-Interaktion, die Medizin als Wissenschaft und der sich seit der Aufklärungsepoche ausdifferenzierende öffentliche Gesundheitsdiskurs ² werden in der Gegenwart immer stärker von der Kommunikation im Internet durchdrungen. In diesem neuen medialen Raum werden Interaktionmöglichkeiten geschaffen, die das alltägliche Gesundheitsverhalten des Individuums, die Kommunikation zwischen den Akteuren im Gesundheitswesen und die Gesundheitskommunikation in den traditionellen Massenmedien beeinflussen. Räume werden, wie McLuhan postuliert hat, nicht durch drucktechnische, elektronische oder digitale Medientechniken bzw. Medienumbrüche aufgehoben (McLuhan 1995a: 150; vgl. ders. 1995b). Vielmehr wird durch das Web 2.0 ein digitaler Raum entfaltet, der vielfältige Interaktionsformen sowohl auf der Ebene des Informationsaustausches als auch auf der Ebene der sozial1

Die Depression wird hier unter anderem deshalb untersucht, weil es sich um ein psychisches Leiden handelt, bei dem Kommunikation eine wichtige Rolle spielt. Zudem zählt das Krankheitsbild weltweit zu den am weitesten verbreiteten Formen psychischer Erkrankungen (vgl. Robert Koch Institut/Statistisches Bundesamt/Kommission Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2006: 29). Armstrong konstatiert, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die mediziQLVFKH :LVVHQVFKDIW GDV ÅhEHUKDQGQHKPHQ GHU QHXURWLVFKHQ 6Wörungen ² besonders der Angst und der Depression ² HQWGHFNW´KDEH (Armstrong 1987: 198). 108

PERSONALISIERUNG UND INTERAKTION

emotionalen Verständigung ermöglicht. Raum existiert in diesem Verständnis nicht an sich als etwas bereits vorhandenes Materielles und ist zunehmend nicht mehr an Territorien gebunden, sondern wird ständig und immer wieder neu durch die mediale Kommunikation der Diskursteilnehmer erzeugt ² durch Interaktionen und das Generieren, Nutzen und Austauschen von Informationen. Raum bezieht sich demnach auf die mediale Materialität der sozialen Handlungsräume im Internet (Werlen 2008: 370ff). Å'XUFKJHVWHLJHUWH.RPPXQLNDWLRQVJHVFKZLQGLJNHLWHQZHUGHQ5lXPH nicht ausgelöscht, sondern zu anderen. Physische Territorialität wird sozio-technisch reorganisiert. Die Orte der Lebenswelt bleiben, aber sie VLQG QXUPHKU DOV PHGLDOLVLHUWH ]X GHQNHQ´ '|ULQJ/Thielmann 2008: 15).

Virtuelle Räume werden demnach durch informationstechnische Systeme, mediale Bedingungen und Darstellungsformen, symbolische Ordnungen, soziale und kulturelle Praktiken, bestimmte Wissensformen sowie die Systematisierung von Wissensinhalten, institutionelle Kontexte und durch die Kommunikation der Internetnutzer konstituiert. In kulturwissenschaftlichen Ansätzen erfolgt der vom spatial turn geforderte Reimport des Raumbegriffs in handlungstheoretische Konzepte. Raumnetzwerke werden dann durch die virtuelle Anwesenheit der handelnden Internetnutzer etabliert, die sich als Nutzergemeinschaft oder Community an kommunikativen Austauschprozessen beteiligen. Virtuelle Realität wird durch soziale Interaktion in einer bestimmten Mediensituation geschaffen, wobei das kommunikative Handeln einem konventionalisierten Regelwerk (Medienrahmen, Netiquette) unterliegt, 2 an das sich die Nutzer halten müssen, um von der virtuellen Gemeinschaft keine Sanktionen befürchten zu müssen (Scheiber/Gründel 2000: 172). Raum erscheint dabei eher als ein Zustand (Fassler 2008: 208), 3 der 2

3

Netiquette ist ein Regelkatalog für interaktive Kommunikation im Internet. Ein Regelverstoß im Bereich der digitalen Gesundheitskommunikation ist die Anstiftung zum Selbstmord oder das Vortäuschen von Betroffenheit. Fassler versteht unter dem Begriff Cybernetic Localism eine neue, durch die technischen Möglichkeiten des Internets hervorgebrachte Form sozietärer Selbstorganisation sowie einen Modus der Selbst109

CORNELIA BOGEN

durch die Interaktionen als Form von Beziehung zwischen den digitalen Diskursteilnehmern konstituiert, sozial wahrgenommen, medial beobachtet, erlebt und aufrechterhalten bzw. auch zurückgelassen/verlassen oder aufgegeben wird. Raum wird demnach DOVÅ,QWHUIDFH´DXIJHIDVVWLQGHPYHUVFKLHGHQH%H]LHKXQJHQGDrJHVWHOOWZHUGHQ'LH1XW]XQJGLJLWDOHU5lXPHLVWVRZRKOÅKHWHUoJHQLQWHUDNWLY´ZHLOGLH.ROOHNWLYHRGHU&RPPXQLWLHVHUVWGXUch GLH ,QWHUDNWLRQ GHU ,QWHUQHWQXW]HU HQWVWHKHQ DOV DXFK ÅLQ /RNDOiVLHUXQJHQ YHUVFKLHGHQ´ ZHLO GLH 1HW]LQKDOWH GXUFK HLQ]HOQH 0eGLHQDPDWHXUHRGHUGXUFKGLH&RPPXQLW\JHQHULHUWZHUGHQ ÅXVHU JHQHUDWHG FRQWHQW´ XQG ÅXVHU JHQHUDWHG VSDFHV´  YJO HEG  und 209). Dem Raumparadigma kann im Bereich der Medienwissenschaft von mindestens zwei verschiedenen Perspektiven aus Rechnung getragen werden: Zum einen kann der Frage nachgegangen werden, wie traditionell ortsbasierte soziale Welten durch die InternetkomPXQLNDWLRQ ÅUHPHGLDWLVLHUW´ ZHUGHQ XQG QDFK welchen Logiken die am Diskurs teilnehmenden Internetnutzer mit Hilfe der kommunikativ erzeugten und interaktiv verhandelten Information solche Medien-Räume des kommunikativen Handelns generieren (vgl. ebd.: 197f). Zum anderen kann auch untersucht werden, wie Akteure als publizistisch aktive DiskursWHLOQHKPHU GXUFK GDV 0HGLXP ,QWHUQHW ÅUHVSDWLDOLVLHUW´ ZHUGHQ (vgl. Thrift 2008). Bezogen auf die digitale Gesundheitskommunikation ist darüber hinaus zu fragen, wie mediale Rahmenbedingungen das Wissen und die Wissensvermittlungsprozesse über Gesundheit und Krankheit räumlich organisieren und strukturieren und welche neuen Medienpraktiken dabei unter Umständen entwickelt werden. Medienwissenschaftliche Zugänge können iQVRIHUQ (UNHQQWQLVVH ]XP %HUHLFK GHU ÅPHGLNDOHQ .XOWXU´ DOV Gesamtheit des vorhandenen medizinischen Wissens und gesundheitsbezogener Handlungsweisen in einer Kultur (vgl. Unterkircher 2008) beitragen. Dabei müssen stets die Interaktionen zwischen dem Gesundheitssystem auf der Makroebene, dem öffentlichen Gesundheitsdiskurs auf der Mesoebene und der Mikroebene der individuellen Alltagshandlungen berücksichtigt werden, es muss also eine Verknüpfung sowohl der handlungsprägenden vergewisserung, der informations- und beziehungsintensive Community-Räume entstehen lässt (vgl. Fassler 2008: 200ff). 110

PERSONALISIERUNG UND INTERAKTION

Systeme (Medizinalwesen) als auch der handlungsfähigen Akteure (Organisationen, Gruppen, autonome Patienten) erfolgen (Gottwald 2005: 24).

D e r P a r a d i g m e nw e c h s e l i n der sozialmedizinischen und volksmedizinischen Forschung Foucault hat in seinen Diskursanalysen der 1970er Jahre die These aufgestellt, dass im Zuge der Institutionalisierung, Verwissenschaftlichung und Verstaatlichung des Gesundheitswesens im 18. Jahrhundert die gelehrten Ärzte zunehmend heiltätige Personen verdrängten, die nicht akademisch gebildet waren (vgl. Foucault 1973). Zudem hätten die Ärzte diejenigen Gesundheitsbereiche mit rationalen Deutungsmustern durchzogen, die zuvor entweder vom Kranken selbst (Selbstmedikation) oder von den so genannWHQ ÅZHLVHQ )UDXHQ´ Å4XDFNVDOEHUQ´ XQG Å.XUSIXVFKHUQ´ Eeherrscht wurden. Foucault bezeichnet diesen Prozess der intensiven und extensiven Rationalisierung des Gesundheitsdiskurses als Disziplinierung, durch die die Patienten immer stärker in die staatlich und von medizinischen Experten überwachten Versorgungseinrichtungen eingebunden wurden. Damit sei für Ärzte 0DFKWEHUGDVVRJHQDQQWHÅQLHGHUH+HLOSHUVRQDO´HWDEOLHUWZRrden. Foucaults Medikalisierungsthese liefert also u.a. eine Begründung für die bis heute andauernde starke Laien-ExpertenDifferenz im Handlungsfeld von Gesundheit und Krankheit. Die These ist nicht unwidersprochen geblieben. So hat die sozialmedizinische Forschung seit den 1980er JahUHQ GLH 3DUWL]LSDWLRQ GHV ÅPHGL]LQLVFKHQ /DLHQ´ DP |IIHQWOLFKHQ Diskurs des 18. Jahrhunderts in den Blick genommen und ihre Eigenständigkeit betont (vgl. Stolberg 2003). Die Foucaultsche Medikalisierungsthese übersieht zudem, dass der im 17. und 18. Jahrhundert entstehende Buch- und Zeitschriftenmarkt zu einer Ausdifferenzierung der Gesundheitskommunikation geführt hat: Nicht mehr QXUGLHJHOHKUWHQ$XINOlUHUVRQGHUQDXFKGLHÅPHGi]LQLVFKHQ/DLHQ´KDEHQGHQ]HLWJHQ|VVLVFKHQ*HVXQGKHLWVGLVNXUV mit gestaltet und beeinflusst. Die individualisierten GesundheitsGLVNXUVH GHU Å/DLHQ´ WUDWHQ LQ YLHOIlOWLJH ,QWHUDNWLRQ PLW GHP Gesundheitsdiskurs der medizinischen Aufklärer. Den zeitgenös111

CORNELIA BOGEN

sischen Massenmedien und dem öffentlichen Gesundheitsdiskurs kamen dabei wichtige Vermittlerrollen zwischen den Diskursen GHUÅ/DLHQ´XQGGHQSURIHVVLRQHOOHQ'LVNXUVHQGHUJHOHKUWHQbUzte zu, die mit der FoucDXOWVFKHQ Å'LV]LSOLQLHUXQJ´ QXU XQYROlständig beschrieben wäre. 'LHPHGLDOHQ9HUPLWWOXQJVSUR]HVVH]ZLVFKHQGHUÅPHGLNDOHQ /DLHQNXOWXU´ XQG GHQ LQVWLWXWLRQDOLVLHUWHQ 'LVNXUVHQ GHU QHXHQ Elite der Ärzte bilden auch seit den 1970er Jahren in der volkskundlichen Forschung zur so genannten Volksmedizin einen zentralen Bezugspunkt, um den Eigenwert der Volksmedizin gegenEHU GHU Å6FKXOPHGL]LQ´ ]X EHWRQHQ YJO 6FKHQGD   (EHrhard Wolff plädiert für einen Paradigmenwechsel in der volksmedizinischen Forschung, der analog zur Hinterfragung der Foucaultschen Medikalisierungsthese durch die sozialmedizinische )RUVFKXQJGHUOHW]WHQ-DKU]HKQWHYHUOlXIW'HU%HJULIIGHUÅ9RONVPHGL]LQ´VROOHDOVÅKHXULVWLVFKHU5HODWLRQVEHJULII´DXIJHIDVVWZHrden (Wolff 1998: 234). Nur so könnten die tatsächlichen diskursiven Abgrenzungs-, Anpassungs- und wechselseitigen Beeinflussungsprozesse analysiert werden (vgl. Böning 1990: 37). Wolff schlägt bekanntlich vor, beide Begriffe als Idealtypen aufzufassen und empfiehlt, die dazwischen liegenden Realtypen zu untersuchen, um Schnittstellen zwischen beiden Polen auszumachen. :ROII ]XIROJH ZlUH ]X ]HLJHQ LQZLHIHUQ ÅYRONVPHGL]LQLVFKH´ Auffassungen Elemente eines naturwissenschaftlichen Krankheitsverständnisses aufweisen oder inwiefern die Schulmedizin ZLHGHUXP7KHUDSLHQGHUÅPHGLNDOHQ/DLHQNXOWXU´LQLKUHQ0HGizinkonzepten aufgreift (vgl. Wolff 1998). Im Folgenden sollen mediale Diskurse als Vermittler zwischen diesen beiden Idealtypen fokussiert werden. Wolff hatte ja beklagt, dass die bisherige Å)RUVFKXQJEHU9HUPLWWOXQJVLQVWDQ]HQVHLHQHVQXQ,QIRUPDWLRQVPedien oder Organisationen [dürftig ausgefallen sei, wobei es bei den vorhandenen Studien] allerdings häufig mehr um die inhaltliche DimensiRQDOVXPGLHGHU9HUPLWWOXQJ´JHKH HEG45).

Meine These ist, dass die konstitutive Rolle der Massenmedien im Prozess der seit dem 18. Jahrhundert ansteigenden Interaktionskompetenz der Laien im Gesundheitsdiskurs immer stärker zugenommen hat und durch die dichte Interaktion zwischen Laien-

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PERSONALISIERUNG UND INTERAKTION

und Expertendiskurs allmählich eine immer stärkere gegenseitige Durchdringung erfolgt. In der volkskundlichen Forschung beQXW]WH %HJULIIH ZLH Å6FKXOPHGL]LQ´ Å9RONVPHGL]LQ´ Å3DWLHQW´ ÅSURIHVVLRQHOO´ Å([SHUWH´ XQG Å/DLH´ ZHUGHQ LQ LKUHU $XVVDJefunktion immer fragwürdiger, weil beispielsweise auch der als ÅPHGL]LQLVFKHU/DLH´EH]HLFKQHWHFKURQLVFKNUDQNHÅ3DWLHQW´]XP Experten seiner eigenen Krankheit werden kann. Nichtsdestotrotz werden hier mangels Alternativen diese Begriffe verwendet, aber sozusagen in Parenthese.

H i s t o r i s c h e r R e k u r s ± Au s d i f f e r e n z i e r u n g d e s Gesundheitsdiskurses im 18. Jh. In der Epoche der Aufklärung hatten medizinische Laien, die des Schreibens und Lesens kundig waren, erstmalig die Möglichkeit, sich am öffentlichen Gesundheitsdiskurs zu beteiligen. So riefen beispielsweise die Redaktionen der erfahrungsseelenkundlichen Magazine die bürgerliche Öffentlichkeit dazu auf, Fallgeschichten über beobachtetes abnormes menschliches Verhalten für die Zeitschriften zu verfassen, wie beispielsweise Karl Philipp Moritz in GHU Å5HYLVLRQ GHU HUVWHQ GUHL %lQGH GLHVHV 0DJD]LQV´ GHU YRQ LKP KHUDXVJHJHEHQHQ Å*QRWKL 6HDXWRQ RGHU 0DJD]LQ ]XU (UIDhUXQJVVHHOHQNXQGHDOVHLQ/HVHEXFKIU*HOHKUWHXQG8QJHOHKUWH´ im Jahr 1786 (vgl. Nettelbeck/Nettelbeck 1986: 12). In vielen Haushalten wurde an Familienchroniken gearbeitet, in denen Krankheitsgeschichten einen bedeutenden Platz einnahmen. Doch vor allem Tagebücher (vgl. Schönborn 1993: 8) und die im 18. Jahrhundert entstehende Gattung der Autobiografien ermöglichte den medizinischen Laienautoren, ihre Selbsterfahrung zu thematisieren und die eigene Lebensgeschichte ² die oft auch eine Krankheitsgeschichte war ² öffentlich darzustellen.4 Diese diskursiven Genres der Personalisierung ² Autobiografien, Tagebücher, Chroniken ² wurden von den philosophischen Ärzten,

4

Dass gerade die publizierenden Melancholiker und Hypochonder ² beide Krankheitsbilder wurden im 18. Jahrhundert noch synonym gebraucht ² ohnehin einen besonderen Hang zu einer übersteigerten Selbstbeobachtung haben, macht sie zu Autobiografen ihrer Leidensgeschichte par excellence (vgl. Schreiner 2003: 111). 113

CORNELIA BOGEN

Anthropologen, Theologen, Moralwissenschaftlern und vor allem den psychologisch und anthropologisch interessierten Aufklärern zur Kenntnis genommen (vgl. Kaufmann 1995: 32). Gleichzeitig werden in diesen autobiografischen Schriften der medizinischen Laien auch Probleme des medizinischen Wissens um Krankheiten, Probleme der Arzt-Patienten-Interaktion und betrügerische, weil PDJLVFKH 3UDNWLNHQ GHU Å:XQGHUKHLOHU´ WKHPDWLVLHUW5 Viele Zeitgenossen haben durch solche Schriften den Laiendiskurs in der Gesundheitskommunikation der Zeit etabliert und damit die Voraussetzungen geschaffen, dass zwischen dieser Diskursebene der Laien und derjenigen der Wissenschaften Interaktionen immer häufiger, dichter und genauer wurden. Anhand dieses eben skizzierten Kontextes lässt sich der komplex verwobene Prozess des Neben- und Miteinanders einerseits und des Gegeneinanders andererseits von medizinisch-psychologischem Fachdiskurs (Schulmedizin) und dem Diskurs der medikalen Laienkultur (Volksmedizin) nachvollziehen, der seit der Epoche der Aufklärung besteht. Der Ausdifferenzierung von Genres des Krankenberichts mit deutlicher Personalisierung im 18. Jahrhundert analog sind Prozesse gegenwärtiger individualisierter Ausdifferenzierung der Gesundheitskommunikation im Internet zu betrachten, die nun aber unter neuen medialen Bedingungen sich weiter entwickeln. Im Folgenden soll deshalb ² in einem großen Sprung ins 21. Jahrhundert ² die digitale Gesundheitskommunikation zum Krankheitsbild der Depression deskriptiv dargestellt werden; denn sie steht m.E. genau in der Tradition solcher Ansätze im 18. JahrhunGHUW XQG LVW DXFK KHXWH YHUZREHQ LQ GLH ,QWHUDNWLRQ YRQ Å6FKXlPHGL]LQ´ XQG Å/DLHQPHGL]LQ´ 'DEHL ZHUGHQ YRU DOOHP GLH SHrsonalisierten Kommunikationsangebote hervorgehoben ² also Chat, Foren, Blogs, Webpages der Selbsthilfegruppen. Anschließend werden vergleichend Webangebote professioneller Anbieter analysiert.

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So berichtet Recke in ihrem Tagebuch kritisch von der Begegnung mit dem Wunderheiler Cagliostro. Vgl.: Charlotta Elisabeth Konstantia von der Recke. Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen magischen Operationen (1787). (Zit. nach Träger 1984: 349ff). 114

PERSONALISIERUNG UND INTERAKTION

Gesundheit und Krankheit im Internet: der Gesundheitsdiskurs im 21. Jahrhundert Das Internet bietet für medizinische Laien eine spezifische, dichte und schnelle Wissenskommunikation an (Chang 2001: 143). Fakten und Bilder können problemlos ausgetauscht werden. Jeder dritte Deutsche nutzt inzwischen das Internet, um sich in Eigenregie über medizinische Themen zu informieren (Robert Koch Institut/Statistisches Bundesamt/Kommission Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2006: 207). Die erhöhte Interaktivität des Web 2.0 ermöglicht es, dass sich Kranke mit den noch so seltensten Krankheiten mit anderen gleichfalls Betroffenen weltweit austauschen können (Schmidt-Kaehler 2005: 50). Das Internet eröffnet so einen neuen interaktiven Erfahrungsraum für Laien (Bogen/Viehoff 2007: 115ff). Anonymität als ein weiteres charakteristisches Merkmal der Internetkommunikation erlaubt es, unter einer anderen oder einer verborgenen Identität auch über tabuisierte Krankheiten oder Drogenabhängigkeit mit Betroffenen zu kommunizieren und eigene Emotionen in Blogs, Chats und Foren darzustellen (Hilber 2008: 169). Neben diesen personalisierten Internetformaten informieren die Webseiten der Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaindustrie und Selbsthilfevereine über Gesundheitsthemen. Die verbindende These ist hier also, dass beginnend mit der Entstehung eines massenmedialen Marktes im 18. Jahrhundert sich nicht nur die Gesundheitskommunikation ausdifferenziert hat ² etwa durchaus im Sinne auch Foucaults ², dass aber darüber hinaus auch die Interaktionskompetenz und -kapazität der Laien im Gesundheitsdiskurs seit dem 18. Jahrhundert kontinuierlich gestiegen ist. Die medialen Möglichkeiten stellen dafür neue Rahmenbedingungen zur Verfügung, so dass sich hier ganz andere Interaktionsbeziehungen ergeben als sie mit einer einfaFKHQ GHWHUPLQLVWLVFKHQ Å'LV]LSOLQLHUXQJVWKHVH´ HUIDVVW ZHUGHQ könnten.

Depressionsdiskurs im Internet Analog zu Autobiografien des 18. Jahrhunderts finden wir auch heute zahlreiche Genres und Kommunikationsformen im Internet, die wesentlich durch ihre Individualisierung und Personalisie115

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rung von Krankheitsgeschichten bestimmt sind. Solche interaktiven Internetangebote von Betroffenen und Angehörigen ² Tagebücher, Blogs, Foren und Chats ² prägen den Depressionsdiskurs. In den erwähnten Internetformaten berichten die Betroffenen über ihre Gefühlswelt und ihren Umgang mit dem Krankheitsbild der Depression. Die Patienten stellen hier Öffentlichkeit für ihre private Krankheit her. Dazu benötigen sie Medienkompetenz bzw. Computerliteracy und dabei im Besonderen heute Raumkompetenz (Spaceliteracy) (Fassler 2008: 189, 194, 204). Unter Raumkompetenz versteht Fassler eine Art des räumlichen Denkens beim Netzaktiven. Dieses Denken in Hypertextstrukturen ermöglicht eine individualisierte schnelle Informationsnutzung, eine kollaborative Verräumlichung (virtuelle Präsenz, verknüpfte Daten) und die Entwicklung von Nimm- und Gib-Strukturen und Selektionsprozessen der sich selbst organisierenden Communities. Fassler geht also davon aus, dass der Raum als menschlicher gedanklicher Entwurf ein Mischprodukt ist aus der digitalen Mikrophysik des Räumlichen und der kommunikationslogischen Räumlichkeit von Interaktionen. Mit der Einführung neuer Medientechniken ändern sich somit die Regeln, mit denen die Menschen Raum erzeugen. Was die heutigen laienmedizinischen Diskursteilnehmer jedoch nicht mehr benötigen sind die ökonomischen Ressourcen und kulturellen Kompetenzen, über die der medizinische Laie im 18. Jahrhundert noch verfügen musste, wenn er ein Buch publizieren wollte. Im Zeitalter der Internetkommunikation existieren solche Barrieren nicht mehr, welche die Partizipationsbereitschaft des medizinischen Laien einschränken würden, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen. Heute sind die Zugangs- und Publikationsmöglichkeiten für die individuelle Selbstäußerung und Krankheitsdarstellung unvergleichlich leichter und damit allgemeiner. Die Offenheit, Anonymität und Emotionalisierungsmöglichkeiten des Internets ermöglichen zunehmend eine dichte Kommunikation mit anderen Betroffenen. Gerade deshalb ist nicht davon auszugeKHQGDVVZLH/HUFKEHKDXSWHWÅGHU%HGDUIDQ *HVXQGKHLWVLQIRUPDWLRQHQ >«@ QXU GXUFK ([SHUWHQ JHGHFNW ZHrden [kann] (Lerch 2001: 224). In den letzten Jahren sind Initiativen entwickelt worden, um die Rückseite dieser Offerten ² das Problem der Unübersichtlichkeit, die mangelnde Qualität und Glaub-

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PERSONALISIERUNG UND INTERAKTION

würdigkeit medizinischer Information im Internet ² nicht zu ignorieren.6

Webseiten von medizinischen Laien Die gegenwärtige volkskundliche Forschung setzt es sich zum Ziel, auch institutionalisierte Formen gesundheitlicher Laienaktivität näher zu untersuchen. Häufig und mit steigender Tendenz nachgefragt werden die digitalen Angebote gesundheitsbezogener Selbsthilfegruppen (vgl. Lerch/Dierks 2001), weil der Nutzer des Diskussionsforums hier einen emotionalen Rückhalt von der mit den gleichen Krankheitsproblemen betroffenen Gruppe erhält und über negative Gefühle sprechen kann, was als wichtig für die Krankheitsbewältigung erachtet wird (Tautz 2002: 118f). In diesem Sinne soll hier die virtuelle Selbsthilfegruppe deV 9HUHLQV Å6XFKW XQG6HOEVWKLOIHH9´YRUJHVWHOOWZHUGHQ (vgl. Abb. 1).7 Ziel des Selbsthilfevereins ist es, einen virtuellen Chatraum bereitzustellen, damit die zwei zentralen Interaktionformen der Gesundheitskommunikation möglich werden: einmal die symmetrische Kommunikation unter Laien, bei der sich die Betroffenen untereinander austauschen können, zum zweiten die asymmetrische Kommunikation zwischen Laien und Experten, damit die Laien ² hier ² die Möglichkeit haben, ihre Fragen als LaienExperten in eigener Sache an wissenschaftlich geschulte Therapeuten zu richten (vgl. Dzeyk 2005: 142). Auf der Startseite werden Verlinkungen zu Unterforen angeboten, die speziellen psychischen Krankheitsbildern zugeordnet sind.

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Qualitätssicherungsmaßnahmen im Internet sind u.a. das AFGISoder das HON-Qualitätssiegel. (Vgl.: http://www.hon.ch/sowie http://www.afgis.de/). Siehe auch den Qualitätskriterienkatalog DISCERN. (Vgl.: http://www.discern.de/). Ein qualitätsgesichertes Gesundheitsportal für Laien, wie es im anglo-amerikanischen Raum bereits vorliegt (www.healthfinder.gov), steht für die Europäische Union noch aus. Internetforum Sucht und Selbsthilfe e.V.: http://www.sucht undselbsthilfe.de/forum, zuletzt aufgerufen am 14.02.2009. 117

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Abbildung 1: Screen Shot Unterforum Depression (http://www.suchtundselbsthilfe.de/forum, zuletzt aufgerufen am 14.02.2009). Die Verästelung der Seite in verschiedene Unterforen zu speziellen Krankheitsbildern und damit speziellen Patienten- bzw. Zielgruppen veranschaulicht sehr schön, dass sich auch die institutionalisierte Laienkommunikation immer stärker ausdifferenziert und spezialisiert. Eine weitere Beobachtung ist, dass der Verein und die Pflege des Onlineforums u. a. durch Werbung auf der Vereinswebseite finanziert werden. Daraus lässt sich ableiten, dass der medizinische Laiendiskurs im Internet mediale Strategien adaptiert, die bislang nur für den digitalen Gesundheitsdiskurs professioneller Anbieter wie der Pharmaindustrie typisch waren. Es gibt also deutliche ökonomisierte Adaptions- und Annäherungsprozesse zwischen dem Expertendiskurs und dem Laiendiskurs (Wiese 2001: 234). )U HLQ EHVVHUHV 9HUVWlQGQLV GHU Å9RONVPHGL]LQ´ LVW HV QRtwendig, das Krankheitsverständnis, das Krankheitserleben und den Umgang mit Krankheiten in der allgemeinen Bevölkerung zu erforschen. Laiendiskurse im Internet stellen in diesem Kontext eine ausgezeichnete Quelle dar, um die Einstellungen der betrof118

PERSONALISIERUNG UND INTERAKTION

IHQHQ.UDQNHQ]XUÅ6FKXOPHGL]LQ´]XGHQ$NWHXUHQLP*HVXQdheitswesen oder zum allgemeinen Gesundheitssystem zu rekonstruieren. So wird beispielsweise im Onlinediskurs der Laien häufig die Arzt-Patienten-Beziehung mitreflektiert und problematisiert. Exemplarisch ist hier auf den Depressionsblog von Rene Kriest zu verweisen (Abb. 2).

Abbildung 2: Depressionsblog Rene Kriest (http://www. depressionsblog.com/blog/, zuletzt aufgerufen am 14.02.2009).

Beispiel 1 In seinem Erfahrungsbericht über einen Klinikaufenthalt in einer psychiatrischen Klinik thematisiert Rene Kriest Kommunikationsprobleme mit dem Klinikpersonal. Dessen Diagnose (kombinierte Persönlichkeitsstörung) weicht von der Diagnose von Renes langjährigem Psychiater ab. Rene verweist in seinem Depressionsblog darauf, dass das Klinik-Personal ihm keinerlei Gründe für den Diagnosewechsel angab. Aufgrund des Informationsdefizits, das zwischen ihm und den Klinikärzten bestand, habe er im Internet recherchiert (die Hervorhebungen in den folgenden Zitaten sind analog zu den Originaltexten).

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CORNELIA BOGEN

Nichtsdestotrotz nahm ich die Diagnose nach der Durchsicht einiger Unterlagen im Internet ² in der Klinik/Tagesklinik wurde mir nichts erläutert (!) ² nicht wirklich ernst. Mein Psychiater und ich beließen es bei der bipolaren Störung, die auch weit zutreffender mein Krankheitsbild beschreibt.8

Rene Kriest fühlt sich mit der Klinik-'LDJQRVHLQHLQHÅSV\FKRDQaO\WLVFKH6FKXEODGH´JHSUHVVW(UVWHOOWGLH'LDJQRVHGHU.OLQLNlUzte in Frage und distanziert sich von ihr. Der Laie Kriest thematisiert und problematisiert in seinem Blog die Widersprüchlichkeit und Unklarheit des ärztlichen Wissens, wenn er die Diagnose der Klinik-Ärzte anzweifelt. Betroffene Depressive, die ähnliche Erfahrungen in der Arzt-Patienten-Kommunikation gemacht haben, werden sich in seinem Erfahrungsbericht wiederfinden. Solche emotionalisierten Identifikationsangebote kennzeichnen interaktive Internetformate mit Personalisierungsfunktion. Die Selbstbekenntnisse in Chats, Foren und Blogs bieten den Betroffenen das, was die gegenwärtige face-to-face Kommunikation zwischen Arzt und Patient offenbar in den Augen dieses Patienten wegen mangelnder medizinischer und kommunikativer Kompetenz und unzureichender Zuwendung nicht leisten kann. Rene Kriests KlinikErfahrungsbericht und seine medizinkritischen Kommentare machen so exemplarisch deutlich, dass auch Laien spezielles medizinisches Wissen erwerben und dann auf dieser Wissensgrundlage Experten anzweifeln und kritisieren (können).

Beispiel 2 Dass im Internet solche kritischen Interaktionsangebote, die der von der Krankheit betroffene Autor auf seiner Webseite anbietet, auch von anderen Betroffenen und Angehörigen wahrgenommen und gegebenenfalls auch übernommen werden, zeigen die ReakWLRQHQ GHV 3XEOLNXPV DXI 6LPRQHV Å2QOLQH-Tagebuch einer DeSUHVVLRQ´9 Als die 33-jährige Simone 1999 eine depressive Phase 8

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5HQH .ULHVW 'HSUHVVLRQVEORJ $UFKLYH IRU WKH Ä.OLQik-(UIDKUXQJHQ· Category. http://www.depressionsblog.com/blog/category/klinik-erfahrungen/zuletzt abgerufen am 14.02.2009). Simone. Tagebuch einer Depression (http://www.kasimone.de/). Erweitertes neues Portal von Simone unter: http://www.depri.net, zuletzt abgerufen am 14.02.2009. 120

PERSONALISIERUNG UND INTERAKTION

durchlebte, lernte sie im Chatraum jemanden kennen, mit dem sie sich über ihr (gemeinsames) Krankheitsleiden austauschte. Die Online-Kommunikation mit diesem Freund animierte sie dazu, ein Tagebuch zu schreiben, das sie online stellte und in den darauffolgenden Jahren fortschrieb. Auf der Startseite berichtet sie über ihr Motiv, ihr privates Leiden öffentlich zu machen: Für depressiv Erkrankte ist es wichtig und hilfreich zu wissen, dass sie nicht allein mit dieser schrecklichen Krankheit sind. Angehörige und Freunde von Depressiven sollten erfahren, wie der Kranke denkt und fühlt; wenn man selbst keine Depressionen kennt, ist es sehr schwer, die depressiven Gedanken nachzuvollziehen. Ich möchte mit meinem Tagebuch dabei helfen.10

Simone bricht in ihrem Online-Tagebuch Tabus, wenn sie über ihren Leidensweg und ihre intimsten Ängste und Erlebnisse öffentlich spricht. Diese Kommunikation persönlicher Krankheitserfahrung ist es, was die Besucher von Simones Internetseite interessiert. In Simones Gästebuch lassen sich hundertfach Rückmeldungen von betroffenen Lesern finden, so zum Beispiel Michael: Hallo, möchte Dir und Deiner Homepage ein dickes Kompliment machen! Ich habe in Deinem Tagebuch gelesen und mich häufig wieder erkannt, wie Du Dir vorstellen kannst. Ich habe Depressionen seit 2002.11

Michael lädt Simone dazu ein, seinen eigenen Blog zu besuchen. Auf diese Weise wird die Online-Kommunikation der betroffenen Laien untereinander vernetzt und dynamisiert.12 Wie diese Beispiele zum digitalen Depressionsdiskurs (Selbsthilfegruppe, Depressionsblog, Online-Tagebuch) demonstrieren,

10 Startseite Simone. Tagebuch einer Depression (http://www. kasimone.de/, zuletzt abgerufen am 14.02.2009). 11 Eintrag in Simones Gästebuch (http://kasimone.depri.net/cgibin/gaestebuch.cgi?start=10) von Michael, Kommentar vom 14. Oktober 2008, zuletzt abgerufen am 16.07.2009 (http://kasimone. depri.net/cgi-bin/gaestebuch.cgi?start=10). 12 Animiert vom Chatpartner, ein Online-Tagebuch zu schreiben, entwickelt sich ihr öffentlich breitenwirksames Projekt zu einem neuen Portal mit interaktiven Chat und Forum (www.depri.net). 121

CORNELIA BOGEN

sind inzwischen Laiendiskurse in der Gesundheitskommunikation fest verankert und mit allen Ebenen im Handlungsfeld von Gesundheit und Krankheit verzahnt.

Webseiten professioneller Anbieter In einem zweiten Schritt sind nun die Webseiten der institutionalisierten Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen ² sprich Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaindustrie, Krankenkassen ² zu betrachten (vgl. Roski 2009: 17). Bei einem näheren Blick auf die Internetseiten zur Depression fällt sofort auf, dass die professionellen Anbieter das Genre der Erfahrungsberichte der Patienten aufgreifen und umfassend benutzen, um den medizinischen Informationen auf ihrer Webseite den Anschein der Glaubwürdigkeit und Authentizität zu verleihen, und natürlich auch, um das Wissen der Laien in ihr Wissen zu integrieren.

Beispiel 1 Exemplarisch sei auf das vom Bundesministerium für Bildung XQG )RUVFKXQJ %0%)  JHI|UGHUWH Å.RPSHWHQ]QHW] 'HSUHVVLRQ´ verwiesen, ein Netzwerk zur Optimierung von Forschung und Versorgung im Bereich depressiver Erkrankungen (Abb. 3).

Abbildung 3: BMBF Kompetenznetz Depression (http://www.kompetenznetz-depression.de, letzter Aufruf am 04.03.2009). 122

PERSONALISIERUNG UND INTERAKTION

Es richtet sich sowohl an Experten als auch an von der Depression betroffene Kranke. Für die Gruppe der Betroffenen bietet die Webseite Informationen zum Krankheitsbild, einem Selbsttest und einem Ratgeber für Angehörige an, enthält aber auch Verlinkungen zu Erfahrungsberichten von Depressiven.

Abbildung 4: BMBF Kompetenznetz Depression. Erfahrungsbericht Elfriede I (http://www.kompetenznetz-depression.de/betroffene/ media/erfahrungsbericht/, zuletzt abgerufen am 04.03.2009). Einer dieser Erfahrungsberichte stammt von der Patientin Elfriede I. (von der wir allerdings nicht wissen, ob sie authentisch ist). Sie beschreibt darin ihre Therapieerfahrungen und integriert in den Text Bilder, die sie während verschiedener Klinikaufenthalte gemalt hat, um dem Leser ihre Emotionen und Gedanken während der Depression zu veranschaulichen. Elfriede I. begründet, was sie dazu motiviert hat, einen eigenen Blog über ihr Krankheitsleiden zu schreiben: Es ist und war mir immer wichtig, zu wissen, was geht da in meinem Körper vor, warum kann ich in der Depression mein Denken, Fühlen und Empfinden so wenig beeinflussen, warum kann ich willentlich mich nicht aus diesem Zustand befreien. Was ist eine Depression, wo kommt sie her und wie gehe ich damit um? Ich habe alles gelesen was

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ich ergattern konnte und habe bei vielen Mitpatienten ähnliche Wünsche nach kompetenter Information gespürt. Es gibt wenig für Laien verständliche Fachliteratur.13

Die verständliche Krankheitserklärung und Ratschläge zum persönlichen Umgang mit dem Krankheitsleiden aus der Betroffenenperspektive ist es, was Simone bei ihren Literaturrecherchen vermisst hat. Diese Lücke möchte sie für betroffene Internetnutzer füllen. Elfriedes Kritik an mangelnder Aufklärungsmöglichkeit korrespondiert damit, dass sie dem Leser unter anderem ihre persönliche Interpretation des in der Medizinwissenschaft gegenwärtig populären neurochemischen Medizinkonzepts anbietet. Anstatt auf lateinische Fachbegriffe und komplizierte Beschreibungen zurückzugreifen, beschreibt sie ihr Verständnis metaphorisch unter Rückgriff auf Michelangelo: Wahrscheinlich hat er sie ja noch gar nicht gekannt, die Botenstoffe wie das Serotonin oder das Noradrenalin. Aber Michelangelo hat in der Sixtinischen Kapelle die Erschaffung des Adams gemalt. Gott Vater streckt seinen Arm Adam entgegen und sein Finger berührt Adams Finger ² beinahe. Aber zwischen diesen beiden Fingern bleibt ein Spalt offen. Ein Bild für den synaptischen Spalt. So wie der göttliche Funke überspringen muss um diesen Menschen Adam Leben zu geben, müssen Impulse zwischen unseren Nervenzellen übermittelt werden. Den Spalt am Ende der einzelnen Nervenzellen können nur chemische Botenstoffe, die Neurotransmitter überspringen, damit die Kommunikation stimmt. Man glaubt nun, dass in der Depression der Stoffwechsel im Gehirn insoweit gestört ist, dass Botenstoffe wie Serotonin oder Noradrenalin nicht in der richtigen Menge vorhanden sind oder aus der Balance geraten sind. >«@0LFKKDWHVLUJHQGZLHEHUXKLJWGDVVGLH'HSUHVVLRQPLWHLQHU6Wörung des Neurotransmitterstoffwechsels zu tun hat. Fühlte ich mich doch ein wenig entlastet, musste nicht mehr so selbstverantwortlich für die Krankheit sein.14

13 Erfahrungsbericht Elfriede I. (http://www.kompetenznetzdepression.de/betroffene/media/erfahrungsbericht.pdf, S. 19, zuletzt abgerufen am 04.03.2009). 14 Ebd. 124

PERSONALISIERUNG UND INTERAKTION

Der Vergleich des gestörten neuronalen Stoffwechsels beim Depressiven mit einem bekannten Motiv aus dem Gemälde MicheODQJHORV LQ GHU 6L[WLQLVFKHQ .DSHOOH ŁEHUVHW]W´ DQVFKDXOLFK GDV Verständnis der Elfriede I. Weil es besser verstehbar als manche gut gemeinte Expertenerklärung im Internet ist, haben die Professionellen wahrscheinlich deshalb auch hier den Laiendiskurs formal integriert.15 Die Berichte der betroffenen Laien verschaffen der Webseite nicht nur ein glaubwürdiges, authentisches Image, sondern bieten emotionalisierte Identifikationsangebote und vor allem persönliche, subjektive Deutungen und individualisierte, weil alltagsbezogene Umgangsformen mit dem Krankheitsbild. An dieser Stelle lässt sich der für die volkskundliche Forschung wichtige Einfluss moderner Medizintheorien auf populäre Gesundheitsvorstellungen in der Bevölkerung rekonstruieren (Münch 1991: 87f und 98). So hat auch Elfriede I. das gegenwärtig populärste Medizinkonzept für psychische Krankheiten, die Neurochemie, soweit internalisiert, dass sie es als Erklärungsmuster für ihr eigenes Leiden heranzieht und laienverständlich erklärt. Interessant und weiter nach zu verfolgen ist das Motiv, dass die Expertenerklärung eine Entlastungsfunktion für Elfriede I. hat, weil sie sich nicht mehr selbst die Schuld für die Krankheit geben muss. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der ärztliche Diskurs Erfahrungsberichte der Betroffenen nach dem Genremuster formal adaptiert. An dieser Stelle lässt sich eine Interaktion von unten nach oben ausmachen ² der Laiendiskurs auf der Alltagsebene fließt in den Online-Expertendiskurs zur Depression mit ein und bildet ein konstitutives Element in der professionellen Gesundheitskommunikation. Das Medium Internet wirkt hier ² viel stärker noch als die Buch- und Zeitschriftentechnik des 18. Jahrhunderts ² DOV9HUPLWWOHU]ZLVFKHQÅPHGL]LQLVFKHP/DLHQGLsNXUV´ XQG lU]WOLFKHP Å([SHUWHQGLVNXUV´ ([SHUWHQ EH]LHKHQ VLFK schon im 18. Jahrhundert auf solche Laiendiskurse, um entweder

15 Die Anwendung von Metaphermodellen in den medizinischen Online-Texten der Wissenschaftsjournalisten erweist sich als Popularisierungsstrategie, um dem Laien komplexe medizinische Sachverhalte verständlich zu beschreiben. Diese Darstellungsstrategie hat Merkt-Wagner am Beispiel der Online-Ausgaben von italienischen Medizin-Zeitschriften nachgewiesen (Merkt-Wagner 2003: 216f). 125

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medizinwissenschaftliche Erkenntnisse abzuleiten, um ihre professionelle Gesundheitskommunikation authentischer, unterhaltsamer und glaubwürdiger zu machen oder um der Erkenntnis wegen, dass für den Gesundheitsinteressierten fachmedizinische Expertise, individualisierte Berichte und personalisierte sowie kollektive Interaktionsformen wichtig sind.

Beispiel 2 Die Webseiten medizinischer Experten übernehmen jedoch nicht nur formal, sondern auch inhaltlich den Laiendiskurs. So bieten verschiedene Internetseiten von Medizinern Verlinkungen zu ärztlich moderierten oder nicht moderierten Foren und Chats an. Sie bieten einerseits einen Raum für Patienten, um sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Gleichzeitig schaffen sie einen diskursiven Raum, um den Besucher der Internetseite die Möglichkeit zu geben, einen medizinischen Experten zu konsultieren (Palm 2001). Ein Beispiel dafür ist das ärztlich moderierte Forum für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, das von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Rostock für die poststationäre Betreuung der Patienten im Rahmen eines Forschungsprojektes betrieben wurde.16 Hier beantworten Mitarbeiter der Klinik die Anfragen der User innerhalb von 24 Stunden und stellen psychoedukative Strategien und therapeutische Hilfestellungen bereit (vgl. Riva/Molinari/Vincelli 2002: 200). In diesen von Experten angebotenen und betreuten Diskussionsforen zur Depression werden die Betroffenen quasi zur Selbstäußerung und Selbstdarstellung eingeladen und animiert. Aus einer Nutzerbefragung durch das Forschungsteam ging hervor, dass die fachliche Moderation auf eine hohe Nutzerakzeptanz gestoßen war ² 73% der Online-Besucher EHZHUWHWHQ GLH VHOEVW DQJHIUDJWH lU]WOLFKH 0RGHUDWLRQ DOV ÅVHKU KLOIUHLFK´ )U  GHU )RUXPVQXW]HU ZDU DXFK GLH /HNWUH GHU Fragen anderer Betroffener von hohem Interesse (vgl. Habermeyer (u. a.) 2007).

16 Ziel des Forschungsprojektes war es, die Akzeptanz eines ärztlich moderierten Informationsangebots im Internet und das Nutzerverhalten zu untersuchen (http://www.medizin-psychotherapie.de, zuletzt abgerufen am 08.08.2006). 126

PERSONALISIERUNG UND INTERAKTION

Das Interesse der Laien an ärztlicher Expertise und am Diskurs anderer Laien mit den Therapeuten verdeutlicht, dass für den Betroffenen mehrere Ebenen der digitalen Gesundheitskommunikation für den Umgang mit psychischer Krankheit wichtig sind (vgl. Meyer 2004: 37): x Konsultation medizinischen Experten x Dienstleistungen der Pharmaindustrie x direkter Austausch mit betroffenen Kranken und deren Angehörigen x Interaktion und Selbstinszenierung in potentiell anonymen Communities x Beobachtbarkeit der Arzt-Patienten-Kommunikation anderer Betroffener In der gegenwärtigen digitalen Gesundheitskommunikation verknüpfen sich Experten- und Laiendiskurs immer dichter miteinander.17

Schlussbetrachtung Der Diskurs im Internet macht die Gesundheitskommunikation immer selbstreferentieller und selbstreflexiver. So beobachten die netzaktiven Internetnutzer nicht nur den medialen Gesundheitsdiskurs selbst, sondern berichten dem Publikum auch von ihren persönlichen Erfahrungen im Umgang mit medizinischem Personal und ähnlichem. Verfasser von Online-Tagebüchern und Erfahrungsberichten sowie Blogger thematisieren und problematisieren die Arzt-Patienten-Kommunikation und geben anderen Betroffenen einen emotionalisierten Einblick in ihr individuelles Krankheitserleben. In ihren Beschreibungen des Krankheitsbildes grei17 Ein weiteres Beispiel für die inhaltliche Übernahme des Laiendiskurses durch professionelle Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen ist das Online-'LVNXVVLRQVIRUXP Å%QGQLV JHJHQ 'HSUHVViRQ´ GHV 9HUHLQV Å'HXWVFKHV %QGQLV JHJHQ 'HSUHVVLRQ´ (http://www.buendnis-depression.de, zuletzt abgerufen am 04.03.2009). Zur europaweiten Initiative vgl.: European Alliance Against Depression (http://www.eaad.eu/, zuletzt abgerufen am 04.03.2009). 127

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fen die Laienautoren gegenwärtige Medizinkonzepte zur Erklärung von Krankheiten auf, integrieren sie in ihr persönliches Krankheitsverständnis und kommunizieren ihre Gesundheitsauffassungen laienverständlich. Durch die Aktivität der global verstreuten, aber technisch vernetzten Laien werden Diskursräume im Web 2.0 geschaffen, werden die Teilnehmer in einem virtuellen +DQGOXQJVUDXP ]XVDPPHQJHIKUW XQG YHURUWHW DOVR ÄUHVSDWLDOLVLHUW· Die Akteure im professionellen Gesundheitsdiskurs beobachten ihrerseits den Diskurs der medizinischen Laien, in Internetforen, Blogs und Chats. Die professionellen Webseiten übernehmen den Laiendiskurs dann erstens auf inhaltlicher Ebene, wenn sie interaktive Angebote der Arzt-Patient- und der Patient-PatientKommunikation anbieten, wodurch traditionelle Interaktionsformen zwischen Arzt und Patient zukünftig zunehmend ÄUHPHGLDWLVLHUW· ZHUGHQ N|QQWHQ  8QG GLH SURIHVVLRQHOOHQ :Hbseiten übernehmen zweitens den Laiendiskurs auf der formalen medialen Ebene, wenn sie für den Besucher der Webseite Verlinkungen zu Erfahrungsberichten von Patienten zur Verfügung stellen. Entgegen der Foucaultschen Medikalisierungsthese lassen sich demnach wechselseitige Beeinflussungsprozesse zwischen Schul- und Laienmedizin sowie Austauschprozesse zwischen der Alltags- oder Mikroebene der Handelnden und der Makroebene (Gesundheitssystem, medizinische Wissenschaft) feststellen, die durch die kulturwissenschaftliche Beobachtung des öffentlichen Gesundheitsdiskurses auf der medialen Vermittlungsebene sichtbar werden. So bildet sich im Internet ein dichter interdependenter Medienraum des Gesundheitsdiskurses aus, der erst durch das kommunikative Handeln und die interaktiven Beziehungsnetze der Netzaktiven und der Communities im Sinne HLQHV ÅXVHU JHQHUDWHG VSDFH´ DOV =XVWDQGVIRUP NRQVWLWXLHUW EHund erlebt oder wieder aufgegeben werden kann. Personalisierte und interaktive Kommunikationsformen sind dabei dominant.

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PERSONALISIERUNG UND INTERAKTION

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Körper, Krankheit und Gesundheit im medi(k)alen Raum britischer und deutscher medizinischer Woc henschriften (1919- 1948) SIGRID STÖCKEL

Medizinische Wochenschriften als Medien der ärztlichen FachNRPPXQLNDWLRQ N|QQHQ LP GRSSHOWHQ 6LQQH DOV Å5lXPH´ Eeschrieben werden. Sie repräsentieren einen verschriftlichten medikalen Raum, in dem aktuelle Ergebnisse medizinischer Forschung und Therapiemethoden und damit grundlegendes Wissen über die physiologischen Grundlagen von Krankheit und Gesundheit einer Fachöffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden. Insbesondere Wochenschriften vermitteln anders als Zeitschriften einzelner Disziplinen einen Überblick über alle medizinischen Fachbereiche und leisten damit eine Popularisierung wissenschaftlichen Expertenwissens an ein allgemeinmedizinisch gebildetes Publikum. Damit liefern sie die Grundlagen für einen relativ einheitlichen Informationsstand ihrer Leserschaft (vgl. Rüve 2009: 58). In ihrer Funktion als Experten des Körpers und Inhaber einer Definitionsmacht über Krankheit und Gesundheit verständigen sich Mediziner gerade in diesem alle medizinischen Bereiche einschließenden Medium nicht nur über Wissensbestände, sondern generell über Angelegenheiten, die die Rolle der ärztlichen Profession in ihren Funktionen für Staat, Gesellschaft und Patienten insgesamt berühren. Wochenschriften spiegeln Prozesse professio-

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neller Selbstvergewisserung ebenso wie Standesethik oder Haltung zur Tagespolitik (vgl. Lisner 2009: 128-137). Zugleich konstituieren die Zeitschriften einen medialen Raum professioneller Öffentlichkeit. Sie bieten der medizinischen Profession einen genuinen Kommunikationsraum, der nicht nur als Spiegel ärztlicher Meinungen und Haltungen fungiert, sondern seinerseits gestaltet und damit zu der Ausbildung einer medikalen Kultur beiträgt. Anders als Monographien oder Handbücher präsentieren Fachzeitschriften das jeweils innovative, noch fragmentarische Wissen, sind also als Medium beweglich und vielgestaltig. Dennoch geschieht die Vermittlung nicht spontan oder beliebig. Bereits der Abdruck eines Artikels in den Wochenschriften zielt auf eine bestimmte Konstellation von Fortschritt und Wahrheit. Die Einschätzung und Bewertung neuer Wissensbestände und Techniken durch einzelne Autoren wird durch die Art der Präsentation in dem Medium so verstärkt und bestätigt, ZLH /XGZLN )OHFN HV PLW GHP %HJULII GHV Å'HQNNROOHNWLYV´ EHVFKULHEHQKDWÅ$XVGHPIDFKPlQQLVFKHQ:LVVHQHQWVWHKWGDVSRpuläre. Es erscheint dank der Vereinfachung, Anschaulichkeit und Apodiktizität sicher, abgerundeter, fest gefügt. Es bildet die spezifische öffentliche Meinung und die Weltanschauung und wirkt in GLHVHU*HVWDOWDXIGHQ)DFKPDQQ]XUFN´ )OHFN]LWLHUWQDFK 2006: 150). Insbesondere bei wiederkehrender medialer Präsenz eines Gegenstandes kann seine Darstellung prägend auf Einstellungen und Meinungen zu dem jeweiligen Thema wirken. Die Vermittlung dieses Wissens führt zu seiner Popularisierung innerhalb der Ärzteschaft, die im Erwerb neuer ärztlicher Kenntnisse und ihrer Anwendung in Klinik und Praxis resultiert. Um als Verlagsprodukte einen festen Platz am Abonnentenmarkt einnehmen zu können, müssen Fachzeitschriften sowohl aktuell, relevant und attraktiv für eine möglichst große Leserschaft sein, als auch die Fähigkeit haben, ihre Leserschaft an sich zu binden (vgl. Middell 1999: 12f.). Entsprechend versuchten medizinische Wochenschriften, nicht nur eine möglichst breite Akzeptanz als Wissenschaftszeitschrift zu erreichen, sondern sich als Sprachrohr oder Kommunikationsforum bestimmter Subgruppen der Ärzteschaft zu profilieren. Durch ihre Schriftleiter sowie bestimmte Autorengruppen geprägt, präsentierten sie mehr oder weniger spezifische Interessen und Haltungen und bewirkten eine Diversifikation der Fachöffentlichkeit. 134

KÖRPER, KRANKHEIT UND GESUNDHEIT IM MEDI(K)ALEN RAUM

Analysiert wird der mediale Raum anhand von deutschen und britischen Wochenschriften mit hoher Auflage und Reputation, und zwar der Münchener Medizinischen Wochenschrift (MMW) und der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (DMW) sowie The Lancet und dem British Medical Journal (BMJ). Die Formierung der medizinischen Fachöffentlichkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging in beiden untersuchten Staaten zunächst von lokalen ärztlichen Vereinen aus. In den deutschen Ländern verstanden sich Ärztevereine als Nachfolger ärztlicher Akademien und damit als wissenschaftliche Experten, die durch die Organisation in ÄAssociationen· ihren Stand in der Öffentlichkeit stärken wollten (vgl. Stöckel 2009: 16f; 235; Jütte 1997: 18; Raphael 1998). Dieses Anliegen wurde zunächst durch die Einführung regionaler medizinischer Zeitschriften weiter verfolgt, die sich zu einer Plattform für den intraprofessionellen Meinungsaustausch entwickelten und nach und nach überregionale Bedeutung erlangten. Das 1854 gegründete Ärztliche Intelligenzblatt als Organ des Ständigen Ausschusses des bayrischen Ärztevereins erhielt mit seiner Umbenennung in Münchner Medizinische Wochenschrift 1885 den Charakter einer über Bayern hinaus informativen und attraktiven Fachzeitschrift. Die ausführliche Berichterstattung über die Tätigkeiten ärztlicher Vereine wurde bewusst beibehalten und gepflegt. Seit 1890 verlegt von dem rechtsnationalen und rassenhygienisch engagierten Julius Friedrich Lehmann (vgl. Stöckel 2002), gilt sie innerhalb der Geschichtswissenschaft als ideologisch geprägtes Blatt (vgl. Weindling 2002). Die DMW wurde 1875 von dem Mediziner Paul Börner initiiert. Sie profilierte sich schnell durch Erstveröffentlichungen bakteriologischer Erkenntnisse zu einer hauptsächlich auf Wissenschaft und Forschung ausgerichteten Zeitschrift (vgl. Staehr 1986: 29f). Geprägt wurde die DMW durch ihren Schriftleiter Julius Schwalbe, der das Blatt von 1894 bis 1930 leitete und gelegentlich kontroverse Debatten entfesselte (vgl. Eckart 1999). Beide Wochenschriften übernahmen nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend die Aufgabe, Ergebnisse der FoUVFKXQJ LQQHUKDOE GHU ÄPHGLFDOFRPPXQLW\· zu popularisieren und Fortbildung zu betreiben. In England war The Lancet bereits 1823 als die erste medizinische Wochenschrift von dem Arzt Thomas Wakley gegründet worden, der sich zum Journalisten berufen fühlte. Der Name war bewusst gewählt: wie mit einer spitzen Lanzette sollte die Wo135

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FKHQVFKULIW0LVVVWlQGHÅanschneiden´ und notwendige Reformen forderQ'DV%ODWWYHUVWDQGVLFKDOVÅUHIRUPLVW´XQGÅpublic voice´ und nahm auch zu gesellschaftlichen Themen Stellung. Das wenige Jahre später (1832) gegründete Provincial Medical and Surgical Journal (PMSJ) war zunächst das Vereinsblatt der ÄProvincial Medical and Surgical Association· (PMSA) (Bartrip 19 ,P-DKUZDUHQGLHÄAssociation· wie auch ihr Journal nicht mehr provinziell, sondern hatten ihren Einzugsbereich auf ganz Großbritannien ausgedehnt, was sich in der Umbenennung LQÄBritish Medical Association· (BMA) und British Medical Journal (BMJ) niederschlug. Als Organ des neu etablierten britischen Ärztevereins erreichte das BMJ eine hohe Auflage und war den Informationsbedürfnissen dieser Institution verpflichtet. Ende des 19. Jahrhunderts wuchs sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien die Berichterstattung über wissenschaftliche Erkenntnisse aus immer mehr medizinischen Disziplinen. Medizinische Zeitschriften dienten dem Wissenstransfer, der Popularisierung neuer Kenntnisse und damit der dauerhaften Bildung eines einheitlichen ärztlichen Standes. Nach dem Ersten Weltkrieg konzentrierten die Wochenschriften sich verstärkt darauf, praktisch tätige Ärzte fortzubilden, sie über aktuelle Forschungen auf dem Laufenden zu halten und ihnen somit eine Orientierungshilfe in der sich zunehmend ausdifferenzierenden Wissenschaft zu bieten (vgl. Rüve 2009: 49f). Insofern publizierten sie inzwischen weniger einschlägige Erstveröffentlichungen der einzelnen Fachdisziplinen, sondern bereiteten die Ergebnisse vielmehr in einer popularisierten, anwendungsbezogenen Form auf. Durch die jeweilige Platzierung des Themas und die Art der Berichterstattung spiegelten sie (fach)öffentliche Argumentationen wie medizinische Entwicklungen, gestalteten aber auch den Diskurs mit und trugen sowohl zur Verstetigung medizinischen Wissens als auch zur Standardisierung medizinischer Praxis bei. Gerade für die Herausbildung und Weiterentwicklung ärztlicher Haltungen und Einstellungen übernahmen die Wochenschriften eine wesentliche Funktion, indem sie über Themen mehr oder weniger ausführlich berichteten und sie damit öffentlich machten. Hinsichtlich der Kommunikationspraxis zeigten die Wochenschriften deutliche nationale Unterschiede: Während beide britische Zeitschriften regelmäßig Editorials zu relevanten Themen 136

KÖRPER, KRANKHEIT UND GESUNDHEIT IM MEDI(K)ALEN RAUM

publiziHUWHQXQGPLWHLQHUHLJHQHQ5XEULNÄ&RUUHVSRQGHQFH·E]Z ÄLetters to the Editor· einen definierten Raum für Meinungen und Diskussionsforen anboten, fehlte diese Funktion in den deutschen medizinischen Wochenschriften weitgehend. Nur in den Rubriken ÄTagespolitische Notizen· oder ÄKleine Mitteilungen· am Ende jeder Ausgabe fanden sich gegebenenfalls Kommentare der Schriftleiter zu aktuellen gesundheits- oder standespolitischen Entwicklungen. Obwohl alle untersuchten Fachblätter eine hohe Auflage hatten, unterschied sich das Konzept der Öffentlichkeit als Be]XJVSXQNW GHV 0HGLXPV Ämedizinische Wochenschrift· in beiden Ländern deutlich. Während die britischen Wochenschriften das Verhältnis zwischen Medizin und gesellschaftlicher Öffentlichkeit explizit in die Berichterstattung einbezogen, richteten sich die deutschen hauptsächlich an die intraprofessionelle Fachöffentlichkeit, die wiederum durch die zahlreichen Vereinsberichte gespiegelt wurde. Medizinische Wochenschriften agierten als Kommunikationsorgane der Ärzteschaft an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Die Art und Weise, in der die britische medical community bzw. die deutsche Ärzteschaft in der Zeit von 1919 bis 1960 den medikalen wie auch medialen Raum medizinischer Wochenschriften gestaltete, ist Gegenstand der folgenden Beiträge. Dazu werden zwei unterschiedliche Themen und Perspektiven in den Blick genommen: Heiko Pollmeier verfolgt die Berichterstattung über Geschlechtskrankheiten und den gesundheitspolitischen Umgang mit stigmatisierten Gruppen zum Zweck der Seuchenkontrolle vom Ausgang des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Wiebke Lisner reflektiert für denselben Zeitraum am Beispiel der Tierversuche die Auseinandersetzung der ärztlichen Profession mit einer kritischen Laienöffentlichkeit. Weiter untersucht sie, ob innerhalb der Wochenschriften ein diskursiver Zusammenhang zwischen Tier- und Menschenversuchen hergestellt wurde und thematisiert damit Elitedenken wie auch Forschungspolitiken. Medizinische Zeitschriften werden dabei als spezifische mediale Räume analysiert, in denen die gegenseitigen Bezüge zwischen Körper, Krankheit und Gesundheit ² respektive zwischen medizinischer Wissenschaft, ärztlicher Profession und gesellschaftlicher Öffentlichkeit ² transportiert, angeeignet, festgeschrieben oder aufgelöst wurden. 137

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Literatur Bartrip, Peter (1990): Mirror of Medicine. A History of the British Medical Journal. Oxford/New York/Toronto u. a.: British Medical Journal u.a. (FNDUW:ROIJDQJ  Å(LQ7HPSHUDPHQWJULIIKLHU]XU)HGHU´ ² Julius Schwalbe und die DMW 1894-1930, in: Dtsch. med. Wschr. 124, S. 1539-1540. Fleck, Ludwik (1935, 2006): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Jütte, Robert (Hg.) (1997): Geschichte der deutschen Ärzteschaft: Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Köln: Dt. Ärzte Verlag. Lisner, Wiebke (2009): Fachzeitschriften als Selbstvergewisserungsinstrumente der ärztlichen Profession? Zu Funktionen und Profilen der medizinischen Wochenschriften: Münchener Medizinische Wochenschrift, Deutsche Medizinische Wochenschrift, British Medical Journal und The Lancet 1919-1932, in: Stöckel, Sigrid/Lisner, Wiebke/Rüve, Gerlind (Hg.): Das Medium Wissenschaftszeitschrift. Verwissenschaftlichung der Gesellschaft ² Vergesellschaftung der Wissenschaft. Stuttgart: Steiner, S. 111-138. Middell, Matthias (1999): Vom allgemeinhistorischen Journal zur spezialisierten Liste im H-Net. Gedanken zur Geschichte der Zeitschriften als Elementen der Institutionalisierung moderner Geschichtswissenschaft, in: ders. (Hg.): Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich, Leipzig: Akademische Verlagsanstalt, S. 7-31. Raphael, Lutz (1998): Experten im Sozialstaat. In: Hockerts, Hans Günter (Hg.): Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NSDiktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München: Oldenbourg, S. 231-257. 5YH *HUOLQG   9RP ÅSHUVRQDO PRXWKSLHFH´ ]XU PHGL]LQLschen Fachzeitschrift. Deutsche Medizinische Wochenschrift, Münchener Medizinische Wochenschrift, British Medical Journal und The Lancet in sich wandelnden Öffentlichkeiten vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Stöckel, Sigrid/Lisner, Wieb-

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KÖRPER, KRANKHEIT UND GESUNDHEIT IM MEDI(K)ALEN RAUM

ke/Rüve, Gerlind (Hg.): Das Medium Wissenschaftszeitschrift. Verwissenschaftlichung der Gesellschaft ² Vergesellschaftung der Wissenschaft. Stuttgart: Steiner, S. 45-70. Staehr, Christian (1986): Spurensuche. Ein Wissenschaftsverlag im Spiegel seiner Zeitschriften 1886²1986, Stuttgart: Thieme. Stöckel, Sigrid (2009): Verwissenschaftlichung der Gesellschaft ² Vergesellschaftung der Wissenschaft. In: Stöckel, Sigrid/Lisner, Wiebke/Rüve, Gerlind (Hg.): Das Medium Wissenschaftszeitschrift. Verwissenschaftlichung der Gesellschaft ² Vergesellschaftung der Wissenschaft. Stuttgart: Steiner, S. 923. Stöckel, Sigrid (Hg) (2002), Die "rechte" Nation und ihr Verleger. Politik und Popularisierung im J.F. Lehmanns Verlag 18901979. Berlin: Lehmanns Media. Weindling, Paul (2002): The Medical Publisher J.F. Lehmann and Racial Hygiene. In: Stöckel, Sigrid (Hg), Die "rechte" Nation und ihr Verleger. Politik und Popularisierung im J.F. Lehmanns Verlag 1890-1979. Berlin: Lehmanns Media, S. 159-170.

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Zw ischen Forschung, Therapie und Gesundheitsführung. Die fachöffentliche Diskussion um die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten in Großb ritannien und Deutschland (19 33-1945) HEIKO POLLMEIER Å'LHVLWWOLFKH*HVDPWKDOWXQJLVWPLUGDV Entscheidende (...). Der Kampf gilt den Geschlechtskrankheiten, nicht den *HVFKOHFKWVNUDQNHQ´ 6WUXYH 

Tendenzen in der deutschen und englischen a n t i ve n e r i s c h e n P r a x i s ( 1 9 1 7 ± 1 9 3 3 ) Geschlechtskrankheiten ² gemeint sind hier Syphilis (Lues), Gonorrhöe (Tripper) und der Ulcus molle (Weicher Schanker) ² hatten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Industrialisierung mit Bevölkerungsfluktuation und sozialer Verelendung des ansteigenden Proletariats schnell ausgebreitet und galten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Volkskrankheiten. Im Anschluss an die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, als die Syphilis aufgrund von Hunderttausenden geschlechtskranker Soldaten zur nationalen Gefahr stilisiert wurde (Michl 2007), führte eine breite öffentliche Diskussion über Lösungsmöglichkeiten, an der seit 1900 Mediziner, Sozialhygieniker, Juristen, Politiker, Militärs, Medizinalbeamte sowie Vertreter der Frauenbewegung und von Sittlichkeitsvereinen beteiligt waren, in Großbritannien und in

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Deutschland zu Gesetzen zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten: 1917 trat der Venereal Diseases Act in England und Wales in Kraft; in Deutschland wurde 1918 zunächst eine Notverordnung erlassen,1 1927 dann das eigentliche Reichsgesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten (RGBG).2 Andere Länder zogen nach, so Schottland und Schweden 1918, Italien 1923 oder die Türkei 1930. Ein Vergleich zwischen England und Deutschland bietet sich an, da beide Länder aufgrund konträrer nationaler Traditionen an den entgegensetzten Polen des Spektrums möglicher Maßnahmen zur Eindämmung der Geschlechtskrankheiten standen. Grob gesehen rangierte in England der Schutz persönlicher Freiheiten über dem Allgemeinwohl, ausgedrückt in freiwilliger, kostenloser, anonymer Diagnose und Behandlung. In Deutschland kamen interventionsstaatliche Maßnahmen wie Meldepflicht, Zwangsbehandlung und -untersuchung sowie die medizinische Überwachung Geschlechtskranker zur Anwendung.3 Zudem unterschieden sich beide Länder grundlegend in ihren Konzepten von Öffentlichkeit und in ihren Gesundheitssystemen sowie in ihren Rechtstraditionen. Bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein stand vor allem die Prostitution und ihre staatliche Reglementierung im Zentrum der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten (Morris 1917). PolizeiliFKHV 9RUJHKHQ JHJHQ )UDXHQ GLH VLFK ÅXQVLWWOLFK´ YHUKLHOten und damit zur Verbreitung venerischer Krankheiten beitrugen, sollte diese eindämmen. Dies erwies sich jedoch als wenig erfolgreich, so dass am Ende des Ersten Weltkrieges auf andere Strategien gesetzt wurde: 1. Gesundheitsaufsicht; 2. Gesundheitsfürsorge; 3. Gesundheitserziehung (Sauerteig 1995). Die Gesundheitsaufsicht lag in beiden Ländern bei approbierten Ärzten, die das Behandlungsrecht besaßen; in Großbritannien waren dies überwiegend Venerologen und in Deutschland

1

2 3

Verordnung der Reichsregierung vom 11. Dezember 1918 zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (RGBl. I 1918, Nr. 184, S. 1431), u.a. veröffentlicht in: MDGBG 17 (1919), S. 29f. RGBl. I (18.02.1927), S. 61. Allerdings machte auch das RGBG von 1927 die Einschränkung, dass niemand gegen seinen Willen mit Salvarsan, Quecksilber oder Wismut behandelt werden dürfe (vgl. MMW, 28.09.1934, S. 1511). 142

ZWISCHEN FORSCHUNG, THERAPIE UND GESUNDHEITSFÜHRUNG

Dermato-Venerologen. Hier galt auch eine Behandlungspflicht für Geschlechtskranke, während in England auf freiwillige Behandlung gesetzt wurde. Für die Gesundheitsfürsorge gab es in Großbritannien ein öffentlich finanziertes Netzwerk spezieller Behandlungszentren und -labore (Venereal Diseases Treatment Centres), in Deutschland richteten die Landeskrankenkassen Beratungs- und Schutzmittelstellen (zur Ausgabe von Kondomen) ein. Letzteres war in England nicht durchsetzbar (vgl. ebd.; Evans 1992). Stattdessen wurde in Großbritannien bei der Gesundheitserziehung vor allem auf Aufklärung gesetzt, die in der Verantwortung des National Council for Combating Venereal Diseases lag und mit ihrer Forderung nach Enthaltsamkeit und Monogamie eher moralisierend ausgerichtet war.4 In Deutschland wurde an den Schulen Sexualerziehung eingeführt (Börner 1929; Sauerteig 1999: 257). In beiden Ländern sollten ansteckende Geschlechtskrankheiten mit Mitteln der Hygiene, Erziehung sowie Fürsorge bekämpft werden, um die Gesunden vor Ansteckung zu schützen. Wesentlich sind die Entkriminalisierung der Prostitution, eine der Hauptforderungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (DGBG) und der Frauenbewegung (Weeks 1989), und die gesetzliche Gleichbehandlung der Geschlechter (Davidson/Sauerteig 2000). Im Folgenden wird der öffentlich geführte Fachdiskurs über Strategien und internationale Bestrebungen im Kampf gegen Geschlechtskrankheiten vor allem in den 1930er und 40er Jahren rekonstruiert5, wie er insbesondere in den vier einflussreichsten medizinischen Wochenschriften Großbritanniens und Deutschlands in der Zwischenkriegszeit geführt wurde: das British Medical Journal (BMJ) und The Lancet sowie die Deutsche Medizinische Wochenschrift (DMW) und die Münchner Medizinische Wochenschrift (MMW). Als medikaler wie auch medialer Raum richten sich solche Wochenschriften in erster Linie an Allgemeinärzte und bereiten die

4 5

Siehe BMJ, 25.07.1925, S. 166. 1925 wurde der National Council in British Council for Social Hygiene umbenannt. Während die antivenerische Praxis und Gesetzgebung für das frühe 20. Jahrhundert gründlich erforscht sind, wurde die Periode 1918 bis 1948 bisher wenig beachtet (vgl. Sauerteig 1999 und Mort 1987). 143

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Ergebnisse medizinischer Forschung in einer anwendungsbezogenen Form auf. Sie bieten als Medien einen genuinen Kommunikationsraum der medizinischen Profession, in dem Themen wie Körper, Krankheit und Gesundheit verhandelt werden. Die genannten vier Zeitschriften wurden für die Analyse ausgeZlKOWGDVLHPLWLKUHPH[SOL]LWHQ$QVSUXFKÅVRZRKOGHP:Lssenschaftler wie dem in der Praxis stehenden Arzte ein zuverlässiger Berater ]XVHLQ´6 Tendenzen in Forschung, Therapie und Gesellschaftspolitik (staatliche Gesundheitsführung oder Sozialhygiene in der Sprache der Zeit) sehr genau abbilden. Hier wird aufgrund der Schwankungen in der Publikationshäufigkeit des Themas deutlicher, wann Geschlechtskrankheiten ein Problem von größerer gesellschaftlicher Relevanz darstellten und welche Trends in der Forschung für eine erweiterte (Fach-)Öffentlichkeit von Interesse waren. In spezialisierten, genuinen Fachzeitschriften hingegen wie dem British Journal for Venereal Diseases (BrJVD, seit 1925) oder den Mitteilungen der DGBG (MDGBG, seit 19027) hatten GeVFKOHFKWVNUDQNKHLWHQGXUFKJHKHQGÅ.RQMXQNWXU´ Im Folgenden geht es weniger um die eigentliche antivenerische Praxis und Gesetzgebung, sondern um die gesellschaftsrelevanten Aspekte der fachöffentlichen Debatte. Eine zentrale Frage ist, ob sich nationale Unterschiede im Umgang mit Geschlechtskranken im Zeitschriftendiskurs niederschlugen. War eine Diskussion in den deutschen Zeitschriften während des Nationalsozialismus möglich? Welchen Einfluss hatte der Beginn des Zweiten Weltkrieges auf Diskussion und Maßnahmen in beiden Ländern? Betrachtet man die Diskussion in den vier Wochenschriften, lassen sich für den Zeitraum 1933²1945 drei Phasen in der medialen, fachöffentlichen Diskussion feststellen: 1933²1936 sind die Geschlechtskrankheiten vor allem in Deutschland ein Thema. Die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten wird der nationalsozialistischen Weltanschauung angepasst. Mit dem IX. Internationalen Dermatologen- und Syphilidologen-Kongress im September 1935 in Budapest, der zur internationalen Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten aufruft, wird das Thema auch in Großbritannien wieder aktuell. Mit Kriegsbeginn schließlich gewann 6 7

DMW 68, Nr. 5, 30.01.1942, S. 123. Ab 1935 als Sozialhygiene der Geschlechtskrankheiten. 144

ZWISCHEN FORSCHUNG, THERAPIE UND GESUNDHEITSFÜHRUNG

das Thema aufgrund der Problematik wehrunfähiger geschlechtskranker Männer in beiden Ländern erneut an Brisanz.

Die fachöffentliche Diskussion 1933 ±1935/36 Hatten alle vier untersuchten Wochenschriften bereits den englischen und den deutschen Gesetzgebungsprozess zu Beginn des 20. Jahrhunderts eng begleitet,8 problematisierten sie in der Folge dessen Konsequenzen. So kommt es in den Jahren nach 1932 in beiden Ländern gewissermaßen zu einer ersten Bilanzierung der seit dem Ersten Weltkrieg eingeführten antivenerischen Gesetzgebung, aber auch der Auswirkungen von Nachkriegswirren und Weltwirtschaftskrise (1929²1932), insbesondere in Deutschland.9 Die Wochenschriften referieren für diesen Zeitraum Statistiken, die eine Stagnation bei der Gonorrhöe (Tripper) und einen Rückgang bei der Syphilis (Lues) belegen. Å,VWGLH6\SKLOLVHLQH VWHUEHQGH .UDQNKHLW"´IUDJWHHLQ2ULJinalartikel auf der ersten Seite der DMW am 3. März 1933 in Anspielung auf ein Buch, das ein paar Jahre zuvor eben diese These vertrat (Venzmer 1929). Hier stellte ein Oberarzt der Universitätshautklinik Halle, Priv.-Doz. Dr. Theo Grüneberg, nicht nur in 'HXWVFKODQG HLQHQ ÅUHFKW HUKHEOLFKH>Q@ 5FNJDQJ GHU 6\SKLOLV´ seit dem Kriege fest: Å'LH GHXWVFKH 5HLFKV]lKOXQJ GHU *HVFKOHFKWVNUDQNHQ YRP Jahre 1927 (...) ergab gegenüber der Zählung von 1919 eine beträchtliche Abnahme der Geschlechtskrankheiten, speziell der Syphilis und des Ulcus molle. (...) Ähnlich liegen die Verhältnisse im Ausland. So ist aus Russland, England, Frankreich, Schweden und vielen anderen Ländern ein mehr oder weniJHU GHXWOLFKHV $EVLQNHQ GHU 6\SKLOLV JHPHOGHW ZRUGHQ´ *UQHEHUJ 1933: 315)

Ähnliche Entwicklungen wurden auch aus Großbritannien vermeldet: Im Lancet berichtete im Frühling 1934 L. W. Harrisson, 8 9

Lancet und BMJ intensiv in den Jahren 1913 bis 1917 sowie DMW und MMW 1926 bis 1928. Etwa Dr. von Pezold (Karlsruhe): Geschlechtskrankheiten und Wirtschaftsnot in Baden, in: DMW, 07.04.1933, Nr. 14, S. 535f. (Gesundheitswesen & Krankenfürsorge). 145

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Präsident der Medical Society for the Study of Venereal Diseases (MSVDD), über die englischen Erfolge im Kampf gegen Geschlechtskrankheiten, was die DMW Anfang 1935 referierte.10 Die MMW berichtete ihrerseits im September 1935 kurz über die Erkenntnisse des 7. Kongresses des British Empire for Social Hygiene in London, bei dem Geschlechtskrankheiten im Mittelpunkt standen11: So sei seit Einrichtung der Behandlungszentren (1920) ein Rückgang der Syphilis um 50% und der syphilisbedingten Kindersterblichkeit um 57% zu verzeichnen, Fälle von Erblindung infolge einer Geschlechtskrankheit nahmen um 35% ab.12 Dieser Trend wurde in Deutschland durch die Reichszählung 1935 bestätigt.13 Als Ursache für die positive Entwicklung führte Grüneberg GLHÅJHQLDOH(UILQGXQJGHV6DOYDUVDQV GXUFK(KUOLFK´DQPLWGHP eine durchaus effektive Behandlung möglich sei, was ² ebenso wie HLQH Å9HUYROONRPPQXQJ XQVHUHU GLDJQRVWLVFKHQ 7HFKQLN´ ² die Å6\SKLOLVNXUYH IUDJORV DXI HLQ EHGHXWHQG QLHGULJHV 1LYHDX JHGUFNW´KDEH(UUHVPLHUWHDOOHUGLQJVGDVVPDQYRQHLQHUÅVWHrbenGHQ´.UDQNKHLWQLFKWVSUHFKHQN|QQHÅZHLOPDQQLFKWYHUJHssen darf, dass auch der Wirksamkeit der besten Therapie Grenzen JHVHW]WVLQG´ *UQHEHUJ *UQHEHUJJDE]XEHGHQNHQ dass dem Rückgang der Syphilis nichts Vergleichbares bei der Gonorrhöe gegenüber stünde. Auch dies ist einer der Gründe, warum in den Wochenschriften allgemein der Erfolg bei der Syphilis einzig auf den Wechsel von der Quecksilber- zur Salvarsantherapie zurückgeführt wurde und weniger auf die Gesetzgebung. Bereits im Januar 1933 hatte der Würzburger Dermatologe Karl Zieler in einem anderen Originalartikel genau diese ArgumentaWLRQDXIJHJULIIHQXQG*UQGHJHVXFKWZDUXPÅGHP5FkJDQJGHU6\SKLOLVNHLQ5FNJDQJGHV7ULSSHUV´HQWVSUlFKH6HLQH 10 DMW, 18.01.1935, Nr. 3, S. 106 (Berichte aus dem Ausland); Lancet, Nr. 5776 (12.05.1934). 11 MMW, 27.09.1935, Nr. 39, S. 1577f (Auslandsbericht). 12 In konkreten Zahlen: in 185 Treatment Centres wurden 1920 42.905 Patienten an Syphilis behandelt, 1935 19.335, an weichen Schanker statt 2.442 (1920) nur noch 1.112 (1935), allein bei der Gonorrhöe stieg die Zahl von 40.288 (1920) auf 41.332 (1935). Vgl. DMW, 28.01.1938, S. 171 (Varia). 13 Prof. Dr. Julius K. Mayr, Dermatologisches Überblicksreferat In: MMW, 10.03.1936, Nr. 10, S. 416.; vgl. MMW, 20.09.1935, S. 1505. 146

ZWISCHEN FORSCHUNG, THERAPIE UND GESUNDHEITSFÜHRUNG

Antwort: Die vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten wie lokale Spritz- und Spülbehandlungen würden bei der Gonorrhöe ² die er DOVÅ9RONVVHXFKH´EH]HLFKQHWHGLHDQ+lXILJNHLWQXUGHQ0DVHUQ nachstehe ² nicht voll ausgenutzt, besonders bei Frauen. Er diskutierte die Einrichtung von Sonderinstitutionen zur Tripperforschung, hielt aber die vorhandenen Kliniken für die geeigneteren Forschungseinrichtungen.14 Als Problem bei der Bekämpfung der Gonorrhöe erwies sich, dass es um 1933 noch kein mit dem Salvarsan vergleichbares effizientes Heilmittel gab. Während die Entwicklung eines solchen Mittels durch die Medizinforschung noch auf sich warten ließ, rückten sozialhygienische Maßnahmen in den Mittelpunkt der Diskussion. Insbesondere in Deutschland brachten die Jahre 1933 bis 1935 eine neue Gesellschaftspolitik, die ihre Entsprechung in der Gesundheitspolitik fand, welche ganz auf die Vorstellungen der neuen Machthaber ausgerichtet wurde, die auch hier das Führerprinzip einführten. Auch kam es zu einer wechselseitig beeinflussten Politisierung des Gesundheitswesens und Medizinierung der Politik (Süß 2003). Diese Entwicklung äußerte sich in den ersten beiden Jahren in wichtigen Artikeln hochrangiger NS-Kader, die in der medizinischen Presse, inklusive DMW und MMW, die Prinzipien der neuen Politik auch mit ihrer Wortwahl deutlich festlegten: Es wird HLQH 'LFKRWRPLH DXIJHEDXW GLH GHQ Å9RONVN|USHU´ GDV Å9RONVJDQ]H´ GHP (LQ]HOQHQ Kierarchisch überordnet. Über dessen Å5HFKW DXI VHLQHQ .|USHU >VWHKH@ GDV 5HFKW GHV 9RONVJDQ]HQ´15 Über die Jahre findet sich in vielen Beiträgen in den beiden deutschen Wochenschriften der rekurrente Hinweis, dass das Allgemeinwohl über das Einzelwohl geKHRGHUÅ(LQ]HOJHVXQGKHLW´QXQ Å9RONVDQJHOHJHQKHLW´ VHL16 In diesem Sinne forderten die NatioQDOVR]LDOLVWHQHLQHÅ3IOLFKW]XU*HVXQGKHLW´HLQHVMHGHQHLQ]HOQHQ

14 Karl Zieler: Weshalb entspricht dem Rückgang der Syphilis kein Rückgang des Trippers? Ein Beitrag zur Zweckmäßigkeit von Sonderinstituten zur Erforschung des Trippers. In: DMW, 20.01.1933, Nr. 3, S. 79-84. 15 J. Wendelberger: Medizinische Gesellschaft Steiermark, Sitzung vom 10.05.1940. In: MMW, 26.07.1940, Nr. 87, S. 817 (Vereine). 16 %UXQR 6WHLQZDOOQHU %RQQ  Å(LQ]HOJHVXQGKHLW 9RONVDQJHOHJHnKHLW´,Q00:1r. 86, S. 1335 . 147

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ein ² .UDQNKHLWKLQJHJHQZXUGHQXQDOVÅ3IOLFKWYHUVlXPQLV´XQG Å9HUVDJHQ´DXVJHOHJW17 Betont wurde auch, wie positiv diese Botschaft vom Volk aufgenommen werde, denn ÅGLHZHQLJHQ0RQDWHVHLWGHUhEHUQDKPHGHU6WDDWVIKUXQJGXUFKGLH nationalsozialistische Regierung haben schon genügt, die weitesten Schichten der deutschen Bevölkerung davon zu überzeugen, dass das Gemeinwohl vor dem Einzelwohl gehen muss. Unangebrachte Rücksicht DXIGLHVRJSHUV|QOLFKH)UHLKHLWZLUGEHLXQVQLFKWPHKUJHEW´

betonte die DMW in einem Kommentar zu einer Schweizer Gesetzesinitiative zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, dessen eigentliches Anliegen eine Zwischenbilanz zum Stand in Deutschland war (Roeschmann 1933:1615). 'LH6FKDIIXQJHLQHVJHVXQGHQÅ9RONVN|USHUV´KDWWHIUGLHLQ Deutschland seit Ende Januar 1933 regierenden Nationalsozialisten hohe Priorität (Süß 2003: 32ff.). Ganz oben auf der Liste stand die zum Staatsziel erkorene Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. So stellte dies nur wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten etwa der neue Reichskommissar der DGBG, Dr. Bodo Spiethoff, in der Mai/Juni-Doppelausgabe der MDGBG auf der Titelseite dar18 und wiederholt dies in fast denselben Worten in der MMW: Å'HU DXV GHU QDWLRQDOHQ 5HYROXWLRQ JHERUHQH 6WDDW LVW VLFK GHVVHQ EHwusst, dass nicht nur hygienische, sondern auch wichtige völkische und ethische Belange mit dem Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten verbunden sind (...). Im Kampfe gegen die Geschlechtskrankheiten sollen sich alle von der Vorstellung leiten lassen, als ob, nach den Worten unseres Führers Adolf Hitler, die Bekämpfung dieser Volksseuche nicht eine Aufgabe, sondern die $XIJDEHGHU1DWLRQVHL´19

17 Sonderbeilage der DMW zur IX. Sommerolympiade (Berlin, 1936). In: DMW, 03.07.1936, Nr. 27, S. 48, Dr. med. Denker. 18 Vgl. MDGBG, 31, Mai/Juni 1933, Nr. 5/6, Titelblatt. Prof. Spiethoff (Jena) war Vorsitzender des Thüringischen Landesverbandes und von den Nationalsozialisten zunächst zum kommissarischen Leiter ernannt worden. 19 Bodo Spiethoff (Kl. Mitteilungen). In: MMW, 25.09.1936, Nr. 39, S. 1621 [Hervorhebung i. O., HP]. 148

ZWISCHEN FORSCHUNG, THERAPIE UND GESUNDHEITSFÜHRUNG

Für die Nationalsozialisten war der Kampf gegen Geschlechtskrankheiten vordringlich, da deren Folgen wie Sterilität und Geburtenrückgang die NS-Bevölkerungs- und Familienpolitik gefährdeten: Bei Frauen konnte unbehandelte Gonorrhöe zur Unfruchtbarkeit und unbehandelte Syphilis zu Totgeburten oder zu syphilitischen Babys führen. Angeblich würden deswegen ca. 40.000 weniger Menschen pro Jahr in Deutschland geboren bzw. erlitten andere Defekte wie Blindheit.20 Wie wichtig den Nationalsozialisten das Anliegen war, zeigt GLH *UQGXQJ HLQHU HLJHQHQ Å5HLFKVDUEHLWVJHPHLQVFKDIW ]XU %ekämpIXQJ GHU *HVFKOHFKWVNUDQNKHLWHQ´ LP 5DKPHQ GHV Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens.21 Die DMW referiert dazu kurz einen Artikel aus der Sozialhygiene der Geschlechtskrankheiten, der Ausblicke gewährt über das durch eine solche Reichs-AG und durch Behandlungsgemeinschaften zu Leistende: Å$XINOlUXQJ %HOHKUXQJ XQG (UIDVVXQJ DOOHU ,QIHNWLRQVTXHOOHQ N|QQHQ und müssen dazu führen, die Geschlechtskrankheiten auszurotten und VRGHPGHXWVFKHQ9RONYLHO8QKHLOXQG6FKDGHQ]XHUVSDUHQ´22

Eine wichtige Rolle bei der Umsetzung des Programms zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten kam weiterhin der DGBG zu ² nun allerdings unter veränderten Bedingungen. War die DGBG bis 1933 ein unabhängiger Verein mit eigener Agenda, die dieser häufiger gegen statt mit dem Staat zu verwirklichen suchte, wurde sie danach zu einer Art offizieller Erfüllungsgehilfin der nationalsozialistischen Agenda. Mit dem Rücktritt des alten Vorstandes im März 1933 und der Ernennung des neuen Reichskommissars Spiethoff vollzog sich die Gleichschaltung. Mit der Unterordnung XQWHUGHQÅ5HLFKVDXVVFKX‰IU9RONVJHVXQGKHLWVGLHQVW´ 1935 verlor die DGBG schließlich vollends ihre Eigenständigkeit (vgl. Sauerteig 2002). Spiethoff zeigte sich selbst davon überzeugt, ÅGD‰VLFKGLH$UEHLWGHUDGBG den neuen Verhältnissen voll und gan]DQSDVVHQPX‰´XQGVDKVHLQH$XIJDEHGDULQÅGDV:LUNHQ der DGBG mit dem Ethos unseres neuen nationalen Staates zu erfüllen und jede undeutsche Gedanken- und Gefühlsrichtung aus20 Dr. Baumgarten: XXIV. Tagung der Dt. Gesell. f. Gynäkologie. In: MMW, 10.01.1936, Nr. 2, S. 73 (Wiss. Kongresse und Vereine). 21 DMW, 24.09.1937, Nr. 39, S. 1497 (Liter.- u. Verhandlungsberichte). 22 Sozialhygiene der Geschlechtskrankheiten, Nr. 4 (Juli 1937). 149

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]XVFKDOWHQ´23 In diesem Sinne kam der DGBG eine wichtige Rolle in der staatlichen GesundheitsfühUXQJ VRZLH GHU Å%HY|ONHUXQJsSROLWLN XQG 5DVVHQSIOHJH´ ]X 'LH 1HXRUJDQLVDWLRQ XQG $XVULFhtung der DGBG wurde auf der 31. Jahresversammlung im November 1933 sanktioniert und die neuen Satzungen vorgelegt, die den veränderten Verhältnissen Rechnung trugen und im Doppelheft 11/12 der MDGBG Ende 1933 erschienen (vgl. Borelli/Vogt/Kreis 1992). Dieses neue Programm der DGBG LP Å.DPSI JHJHQ GLH *HVFKOHFKWVNUDQNKHLW´ EHVFKULHE GHU .LHOHU $U]W :LOKHOP 6WUXYH LQ einem Artikel in der MMW Anfang 1934 (Struve 1934). Demnach standen vor allem vier Forderungen bzw. Überlegungen auf der Tagesordnung: x Eine allgemeine Meldung jedes einzelnen Geschlechtskranken an eine dritte Stelle solle allen behandelnden Ärzten zur Pflicht gemacht werden. Struve findet diese jedoch problemaWLVFK GHQQ ÅZHQQ GLH 9RUVFKULIWHQ GHV *HVHW]HV nicht mit dem sittlichen Empfinden der Volksgenossen übereinstimmen, muss der Schaden größer werden als der HUZDUWHWH 1XW]HQ´ 6WUXYH IUFKWHW GDVV VHOEVW ÅGLVNUHWH´ Meldepflicht Erkrankte vom nötigen Gang zum Arzt abhalten könnte, was letztlich kontUDSURGXNWLYVHL Å*HUDGH GDV Erbgut unseres wertvollsten Volksteiles würde durch die allgemeine Meldepflicht schwer geIlKUGHW ZHUGHQ´ GHQQ unbehandelte Geschlechtskrankheiten hätten schon so manches wertvolle Geschlecht ausgeO|VFKW  Å'LH JUR‰H Menge der Minderwertigen bekümmern solche HemmunJHQQLFKW´%LVKHUZUGHQQXUMHQHZHLWHUJHPHOdet, die ihre Behandlung unterbrechen oder ihre Umgebung gefährden. Kurz: bei unbehandelten Krankheiten habe das Volk den Schaden zu tragen. x Erstrebenswert sei die Erfassung der Infektionsquellen, bei der aufgrund eines zu liberalen Attestwesens bis dahin viel versäumt worden sei. Die Infektionsquelle solle stets von dem Arzt untersucht werden, der auch den infizierten Partner behandelt. Auf diese Weise sollte eine effektive und erfolgreiche Behandlung gesichert werden. 23 MDGBG, 31 (Mai/Juni 1933), Nr. 5/6, Titelblatt, Prof. Dr. Spiethoff. 150

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x Eine sachgemäße und gründliche Behandlung aller Erkrankten galt als bestes Kampfmittel, wie die Erfolge der umfassenden Salvarsantherapie belegten. Es wurde dazu aufgerufen, Arbeitsgemeinschaften zwischen Versicherungsträgern, Ärzten und Gemeinden zu bilden. x Eine planmäßige, mehrfache Nachuntersuchung, besonders bei Gonorrhöe, wurde angestrebt. Struve stellte klar, jeder Erkrankte PVVHÅRKQHLQQHUH+HPmung und ohne äußere Behinderung den Arzt seines Vertrauens aufsuchen und behalten können: dieser aber hat eine sachgemäße Behandlung und die erfolgte Heilung einwandfrei nachzuweiVHQ´ =LHOGDEHLVHLÅHLQHUEJHVXQGHVNLQGHUVWDUNHV9DWHUODQG´Å:HQQ so alle Teile, die Erkrankten und die Ärzte ihre Pflicht tun ² weiter nichts ² GDQQ JHGHLKW GDV *DQ]H  ´ IRUPXOLHUWH 6WUXYH VHLQH Hoffnung und Überzeugung (Struve 1934: 206). Das Plädoyer für die Volksgesundheit geht hier einher mit der Bestätigung der Rolle des Arztes als Krankheitssachverständiger. In medizinischer Hinsicht setzten die Nationalsozialisten neben der Behandlung von Geschlechtskrankheiten auch auf Prophylaxe und Aufklärung. Insbesondere drei Punkte umfasste das NS-Programm der Gesundheitsführung: Erziehung, Kontrolle und Strafe. Im Juli 1933 wurde Reichskommissar Spiethoff von der DGBG mit einem groß angelegten Aufklärungsfeldzug beauftragt, bei dem die Thematisierung der Sittlichkeit besonders auffällt. 24 Frauen war die traditionelle Rolle als sittsame und fruchtbare Mütter zugedacht; Männer wurden als Ernährer und Schützer der Familie bezeichnet. Die Familie galt als Zelle des Staates und des staatsbewussten Volkes, und als Kern der Familie die auf Treue und Glauben beruhende Ehe. Für einen anderen Autor der MMW war ÅGLH VLWWOLFKH *HVDPWKDOWXQJ´ JDU ÅGDV (QWVFKHLGHQGH´ 6WUXYH 1934: 205). Um das Aufkommen von Geschlechtskrankheiten gleich im Keim zu ersticken, wurde auf die Jugend ein besonderes Augenmerk gelegt: So berichtete die MMW von einem Erlass zur sexuellen Belehrung der Jugend des preußischen Kultusmi-

24 MMW, 07.07.1933, Nr. 27, S. 1075 (Kl. Mitteilungen, Tagesgeschehen). 151

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nisteriums.25 Am gleichen Ort legte Bodo Spiethoff 1936 ausführOLFK GLH QHXHQ Å/HLWVlW]H IU GDV 9HUDQWZRUWXQJVEHZXVVWsein im *HVFKOHFKWVOHEHQ´ GDU GLH Vowohl in der Sozialhygiene der Geschlechtskrankheiten im Juli wiedergegeben als auch in der DMW resümiert wurden.26 Hier weist Spiethoff die deutsche Jugend auf die Gefahren hin und gibt ihr vor, wie sie sich zu verhalten hat: Å-XQJPDQQHQXQG-XQJPlGFKHQ unterwerft Euch nicht Euren Trieben, sondern gebietet ihnen. Wisset: Eure Jugend ist nicht die Zeit eines Auslebens, sondern des langsamen Kräftesammelns für Eure Lebensaufgabe. Darum ist die Keuschheit bis zur Ehe oberstes Sittengebot. Kämpft, damit Ihr Sieger bleibt im Ringen um dieses höchste Gebot. Erhalte Deine Gesundheit für Dein Volk. Nicht Deine Triebe sollen Dein Herr sein ² VHL'X+HUU'HLQHU7ULHEH´ 6SLHWKRII

Spiethoff geht sogar so weit zu behaupten, dass es gegen die GemeinsFKDIW YHUVWR‰H ÅHLQHQ 9RONVJHQRVVHQ ]XU %HIULHGXQJ GHU *HVFKOHFKWVJLHU ]X PLVVEUDXFKHQ´ 'HU $SSHOO HQGHW PLW HLQHP Zitat aus Hitlers Mein Kampf: Å:LVVHGLH*HVFKOHFKWVNUDQNKHLWHQVLQGQLFKWQXUHLQH*HIDKUIUGHLQH Gesundheit, ja dein Leben, sondern eine ebenso große Gefahr für das Wohl und die Kraft und die Zukunft deines Volkes! Höre, was dein Führer dir sagt: 'Die Rasse, welche der Pest der Geschlechtskrankheiten nicht Herr zu werden vermag, wird eben sterben und Gesünderen den Platz räumen.' (...) Sprich nicht nur vom Nationalsozialismus ² lebe ihn´ 6SLHWKRII

Propagiert wurde im einzelnen: 1. die sexuelle Enthaltsamkeit und Selbstkontrolle des Sexualtriebs der Jugend bis zur Eheschließung; 2. körperliche Aktivität vor allem für die männliche Jugend; 3. sexuelle Aufklärung inkl. Warnung vor den Geschlechtskrankheiten; 4. Achtung vor der Frau und ausschließlich ehelicher Geschlechtsverkehr; 5. frühzeitige Eheschließung und Monogamie, was Promiskuität ausschloss und ggfs. geregelten und regelmäßigen ehelich Verkehr förderte, wodurch zudem die Geburtenrate

25 MMW, 07.09.1934, Nr. 36, S. 1403 (Rez.). 26 Sozialhygiene der Geschlechtskrankheiten, Nr. 4 (07/1936), 40f.; und DMW, Nr. 43 (1936), S. 1773. 152

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gesteigert werden konnte.27 Bei aller Moralisierung stellten auch die Nationalsozialisten ganz pragmatisch für alle Fälle Kondomautomaten auf.28 Im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten wurde in Deutschland der Ruf nach Erforschung der Infektionsquellen immer lauter. Dies galt als wichtigste Strategie zur Vermeidung von Neuansteckungen. So startete Spiethoff als Teil seiner Aufklärungskampagne einen Aufruf in der MMW: Å'HXWVFKHbU]WHHUID‰WGLH$QVWHFNXQJVTXHOOHQGHU*HVFKOHFKWsNUDQNKHLWHQ´29 0DQ]HLJWHVLFKGDYRQEHU]HXJWGDVVÅGHVZHJHQ die Einführung der Anzeigepflicht heute bei uns nicht mehr auf ZHVHQWOLFKHQ XQG ZLUNOLFKHQ :LGHUVWDQG VWR‰HQ´ ZHUGH YRU allem weil die Meldung an eine vertrauensärztliche Stelle und nicht an eine Behörde gerichtet werde, was das Vertrauensverhältnis nicht störe, sondern Verschwiegenheit und Diskretion wie beim Arzt garantiere (Roeschmann 1933: 1614f.). Sollten Erziehung und Prophylaxe nichts bewirken, blieben immer noch als letzter Weg Überwachen und Strafen. Diese Kontrolle wirkte sowohl direkt als auch indirekt. Eine direkte Maßnahme zur Eindämmung von Geschlechtskrankheiten war die Einschränkung der Prostitution, die nach Willen der Nationalsozialisten nicht mehr sichtbar sein sollte, auch wenn sie diese im Krieg selber kanalisierten (vgl. Sommer 2009). Ein Mittel war die Prostituiertenüberwachung,30 wie sie laut MMW vom September 1934 in Essen praktiziert wurde. In der DMW wurde fast zeitgleich ein Artikel aus der Zeitschrift für Gesundheitsverwaltung & Gesundheitsfürsorge zusammengefasst, der forderte, dass die Poli]HL ÅJHJHQ DQVW|‰LJ VLFK EHQHKPHQGH 6WUD‰HQPlGFKHQ ZLHGHU HQHUJLVFKHU HLQVFKUHLWHQ´ PVVH XQG YRUVFKOug, dass renitente Geschlechtskranke, welche die Behandlung verweigern oder ab-

27 Forderungen nach Heinrich Adolf Gottron, "Sexualerziehung der Jugend", in: Deutsches Ärzteblatt 68 (1938), S. 220²225. 28 Prof. Dr. Julius K. Mayr, Psychologisches. Übersichtsreferat, in: MMW, 10.03.1936, Nr. 10, S. 416f., hier 417 (Sammelreferate). 29 MMW, 05.01.1934, Nr. 1, S. 40 (Korrespondenz). Diesen Aufruf hatte Spiethoff bereits im Deutschen Ärzteblatt vom 30. Dezember 1933 und dann noch in den MDGBG 1934 platziert. 30 MMW, 07.09.1934, S.1403 (Literaturbesprechungen). 153

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brechen, im Kranken- oder Arbeitshaus zur ärztlichen Behandlung festgehalten werden dürften.31 Solche in den Wochenschriften transportierte Forderungen von Fachleuten gingen einher mit der Gesetzgebung. Drastische Maßnahmen erlaubte etwa das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom  1RYHPEHU  GDV DOOH VR JHQDQQWHQ 3HUVRQHQ GLH ÅJewohnheitsmäßig zum Erwerbe UnzucKW EHWULHEHQ´ XQWHU ULgide Überwachung stellte. Diese konnten in Arbeitshäuser, Schulungslager oder ähnliche Anstalten eingewiesen und wegen asozialen Verhaltens zudem in polizeiliche Vorbeugehaft genommen werden. So wurde die mit dem Reichsgesetz von 1927 abgeschaffte Kompetenz der Polizei in der Kontrolle der Prostituierten XQG VRJ ÅKZ*-3HUVRQHQ´ 3HUVRQHQ PLW KlXILJ ZHFKVHOQGHP Geschlechtsverkehr) wieder hergestellt und erweitert: geschlechtskranke Prostituierte konnten nun wieder durch die Ordnungskräfte in Krankenhäuser zwangseingewiesen werden. Struves an den Eingang dieses Beitrages gestellte Diktum, dass der Kampf ÅGHQ*HVFKOHFKWVNUDQNKHLWHQQLFKWGHQ*HVFKOHFKWVNUDQNHQ´JHlte, wurde so ad absurdum geführt (Struve 1934: 206). Die zur Umsetzung der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik geschaffenen Instrumentarien, die eine Kontrolle der Fruchtbarkeit beinhalteten, dienten indirekt auch der Eindämmung der Geschlechtskrankheiten. Dazu ist etwa das Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens (3. Juli 1934), dessen § 3 die Eheberatung durch Gesundheitsämter als ärztliche Aufgabe bestimmte, ebenso zu zählen wie das Ehegesundheitsgesetz vom Oktober 1935. Dieses Gesetz und die 1. Verordnung dazu vom November 1935 verlangten u. a. eine Bescheinigung zur Heiratserlaubnis, wovon beispielsweise die Gewährung von Ehestandsdarlehen abhing. Diese Bescheinigung war in Form eines vom Gesundheitsamt auszustellenden Gesundheitszeugnisses über Geschlechtskrankheiten vorzubringen. Mit diesem Ehegesundheitszeugnis sollte eine Erkrankung (und damit die Fortpflanzung Geschlechtskranker) ausgeschlossen werden: §1 des Ehegesundheitsgesetzes verbot Geschlechtskranken die Eheschließung und stellte Täuschung oder Verheimlichung unter Strafe. 31 DMW, 09.02.1934, lungsberichte).

Nr.

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230f.

(Literatur-

&

Verhand-

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Geschlechtskrankheiten galten zudem als Scheidungsgrund (vgl. Czarnowski 1991, Pine 1997, Herzog 2005). Bei der Berichterstattung in den deutschen Wochenschriften in den Jahren nach 1933 ist die programmatische Platzierung vieler Artikel in der deutschen Fachpresse typisch: Eine überschaubare Zahl von immer gleichen NS-Funktionären stellte in diversen Zeitschriften sowie in weiteren medizinischen Wochenschriften das neue nationalsozialistische (Gesundheits-)Programm prominent vor,32 so etwa im zu einem NS-Verlautbarungsorgan gewordenen Deutschen Ärzteblatt und in den Fachzeitschriften wie Sozialhygiene der Geschlechtskrankheiten oder Der öffentliche Gesundheitsdienst als der Zeitschrift des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst. Diese teils parallele, teils versetzte Mehrfachverwertung von Fachinformationen (etwa in Form von Artikeln, Rezensionen und Zusammenfassungen in der DMW oder MMW) ist nicht nur Ausdruck der vielfältigen personellen und institutionellen Verbindungen und Überschneidungen nationalsozialistischer Netzwerke, sondern führte zu einer Breitenwirkung und Breitenstreuung von Informationen. So wurden die Parteilinie und die neuen gesellschaftlichen Vorgaben in erster Linie jenen Fachleuten zur Kenntnis gebracht, die ihrerseits vor Ort als Multiplikatoren agieren und das Gewünschte am Volk anwenden sollten. Damit ist diese Art der Mediennutzung Ausdruck der Gleichschaltung, in der Leitlinien von oben nach unten ins Volk verbreitet wurden. Im Vergleich mit Deutschland wurden in der ersten Hälfte der 1930er Jahre Geschlechtskrankheiten in den englischen Wochenschriften seltener und zum Teil erst später als in Deutschland diskutiert. Diese Beiträge informierten im Wesentlichen über Thera32 Etwa der Reichskommissar Spiethoff, der Reichsärzteführer Wagner, die Ministerialräte Leonardo Conti und Arthur Gütt (seit Mai 1933 RefeUHQWIU)UDJHQGHUÅ9RONVJHVXQGKHLW´LP,QQHQPLQLVWHUium und treibende Kraft hinter dem Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933), Hans Reiter (Leiter des Reichsgesundheitsamtes), Karl Haedenkamp (1. Vorsitzender der Vereinigung der Deutschen Medizinischen Fach- und Standespresse und von 1923 bis 1939 zugleich Schriftleiter der seit dem 1. Juli 1933 mit dem Deutschen Ärzteblatt vereinten Ärztlichen Mitteilungen), der Reichsinnenminister (bzw. Preußischer Innenminister) Dr. Frick, die Reichssportführer von Tschammer und Osten oder auch der Sportärzteführer Dr. Ketterer. 155

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piemöglichkeiten und lieferten statistisches Material zu den Auswirkungen des Venereal Diseases Act. Das ungelöste Problem der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten rückte in Großbritannien erst ab Ende 1935 wieder ins Bewusstsein der Gesellschaft. Auch hier wurde ² allerdings unter demokratischen Vorzeichen ² eine restriktivere Politik gefordert. So diskutierten die englischen WoFKHQVFKULIWHQ0LWWHGHUHU-DKUHEHUGLHÅ5HJXODWLRQRI3URsWLWXWLRQ´33 1937 legte der englische Matrimonial Causes Act auch in Großbritannien Geschlechtskrankheiten als Scheidungsgrund und eine vorsätzlich verschwiegene Erkrankung als Vergehen fest, wie BMJ und Lancet berichteten.34

Die fachöffentliche Diskussion 1935/36 ±1939 Zwei Ereignisse leiteten 1935 eine Wende in der Diskussion über Geschlechtskrankheiten ein: ein Erfolg in Forschung und Therapie sowie eine internationale Konferenz in Budapest. Am 15. Februar 1935 erschien in der DMW GHU Å%HLWUDJ ]XU ChePRWKHUDSLH GHU EDNWHULHOOHQ ,QIHNWLRQHQ´ YRQ 3URI *HUKDUG Domagk aus Wuppertal-Elberfeld, in dem dieser die 1932 in Tierversuchen erstmals erfolgreich nachgewiesene antibakterielle Wirkung des Farbstoffs Prontosil, einer sulfonamidhaltigen Azoverbindung, beschrieb.35 Nach Domagks Ansicht entfalteten die Sulfonamide ihre therapeutische Wirkung, indem die im Körper aus ihnen entstandenen Spaltprodukte das Wachstum der BakteULHQ KHPPHQ 'DPLW ZXUGH HUVWPDOV ÅGLH 0|JOLFKNHLW HLQHU FKemotherapeutischen Beeinflussung bakterieller Infektionen eindeutig sowohl experimentell als anschließend auch klinisch festgestellt und die Chemotherapie vieler bakterieller Infektionen eingeOHLWHW´VRDXFKMHQHGHUGLH*RQRUUK|HDXVO|VHQGHQ*RQRNRNken. Diese Entdeckung wurde später vom Wiesbadener Dermatologen Hans Felke, einem regelmäßigen Beiträger der DMW, alV Å:HnGHSXQNWLQGHU7ULSSHUIRUVFKXQJ´JHIHLHUW )HONH 'LHV

33 Dreimal wurde das Thema im Laufe des Winters 1935/36 in der RubULNÅ&RUUHVSRQGHQFH´GHVLancet behandelt. 34 BMJ, 04.06.1938, S. 1237f. 35 Gerhard Domagk, Ein Beitrag zur Chemotherapie der bakteriellen Infektionen, in: DMW, 15.02.1935, Nr. 7, S. 250-253. 156

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kam der Bedeutung des Salvarsans gleich, da bis dahin nur umständliche, langwierige und für den Patienten unangenehme lokale Desinfektionen zur Verfügung standen. Nach diesem Durchbruch waren Geschlechtskrankheiten nach 1935 vor allem in den GHXWVFKHQ =HLWVFKULIWHQ HKHU LQ GHU 5XEULN Å2ULJLQDODUWLNHO´ SUäsent, wo Forscher wie Felke ihre Ergebnisse in der Erforschung von Sulfonamid und Sulfonamidderivaten wie DB90, das als Å8OULRQ´DXI den Markt kam, und zur Therapie darlegten. Auch in England gab es zahlreiche solche Berichte aus Forschungslaboren.36 Ungeachtet dieser neuen therapeutischen Möglichkeiten zur Bekämpfung der Gonorrhöe und der nachweisbar rückläufigen Zahl neuer Syphiliserkrankungen wurde die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Mitte der Dreißiger Jahre weiterhin als vordringliches Problem gesehen. Das ist abzulesen an dem zweiten Thema in den Wochenschriften des Jahres 1935, das weit reichende Nachwirkung hatte: die IX. Internationale Dermatologenund Syphilidologen-Konferenz im September 1935 in Budapest. Diese wird zwar von den deutschen Wochenschriften bis auf eine kurze Zusammenfassung in der DMW fast vollständig ignoriert,37 findet dafür aber umso mehr Beachtung in den englischen Zeitschriften.38 Eine Erkenntnis aus der Budapester Tagung war die Übereinkunft, Geschlechtskrankheiten einzig in internationaler Kooperation in den Griff zu bekommen. Selbst die Nationalsozialisten, die ansonsten internationale Kooperationen ignorierten und Deutschland von internationalen Organisationen abschnitten, traten 1937 dem Brüsseler Abkommen (1. Dezember 1924) über die Behandlung von Geschlechtskrankheiten bei Seeleuten39 bei, was schon Ende 1936 in der MMW NXU] DOV 0LWWHO ÅJHJen EinschlepSXQJYRQ*HVFKOHFKWVNUDQNKHLWHQYRQDX‰HQ´JHSULHVHQZXUGH40 In vielen Ländern setzte jetzt ein neuer Schub an Gesetzesinitiativen bezüglich Geschlechtskrankheiten ein, so in Jugoslawien 1934,

36 Etwa F.J.T. Bowie, T.E. Anderson u.a.. In: Treatment of Gonorrhoea by M & B 693, in: BMJ, 08.04.1939, S. 711, oder: V.E. Lloyd, D. Erskine u.a.. In: Lancet, 04.06.1938, S. 1305f. und 19.11.1938, S. 1160. 37 DMW, 01.11.1935, Nr. 44, S. 1779 (Varia). 38 So etwa in: Lancet, 09.11.1935, S. 1078. 39 RGBl., II (1937), S. 109. 40 MMW, 11.12.1936, Nr. 50, S. 2065f. 157

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Spanien 1935 und den USA 1938, worüber die deutschen Leser QXULQÅ.OHLQHQ0LWWHLOXQJHQ´NXU]XQWHUULFKWHWZXUGHQ41 Diverse Länder versuchten von Nachbarstaaten zu lernen, wie man die Eindämmung der Geschlechtskrankheiten am effektivsten bewerkstelligte. Zu diesem Zweck wurden mitunter Parlamentskommissionen gegründet, die sich vor Ort in anderen Staaten über die Praxis informierten. So reisten 1935 eine Delegation des amerikanischen Kongresses unter der Leitung von Thomas Parran, dem neuen Surgeon General,42 und 1936 eine solche des britischen Parlaments nach Skandinavien und Holland, um den Gründen für deren nachweisliche Erfolge bei der Eindämmung von Geschlechtskrankheiten nachzugehen.43 Infolge des neuen Interesses an den Geschlechtskrankheiten in England nahm sich die britische Medizinpresse wieder verstärkt des Themas an. Allein der Lancet berichtet ab 1935 mindestens 45 0DO XQWHU GHP 6WLFKZRUW Å9'´ PHLVW EHU VR]LDOSROLWLVFKH $Vpekte. Daneben finden sich dort noch weitere Beiträge unter den eher medizinwissenschaftlich ausgerichteten Stichwörtern Å6\SKLOLV´ XQG Å*RQRUUK|H´ GLH YRUUDQJLJ XQWHU ÅDGGUHVVHV  SDSHUV´ Originalforschungsberichte bringen. Die meisten Berichte stammen aus dem Zeitraum 1937/38. Die Briten interessierten sich insbesondere dafür, inwiefern Zwangsmaßnahmen zu einem größeren skandinavischen Erfolg geführt haben konnten. Dänemark, Norwegen und Schweden hatten in unterschiedlichem Maße Meldepflicht und Zwangsmaßnahmen in ihren Gesetzen vorgesehen, wohingegen es in den zusätzlich besuchten Niederlanden weder das eine noch das andere gab. Dennoch wiesen alle vier Länder beachtliche Erfolge bei der Eindämmung der Geschlechtskrankheiten auf. 'HUHQJOLVFKH.RPPLVVLRQVEHULFKWGHUXQWHUGHP7LWHOÅ$QWL9HQHUHDO 0HDVXUHV LQ 6FDQGLQDYLD´ LP BMJ abgedruckt wurde,44 stellte die entschHLGHQGH)UDJHUKHWRULVFKYRUDQÅ6KRXOGYHQHUHDO GLVHDVHEHGHDOWZLWKFRPSXOVRULO\LQWKLVFRXQWU\RUQRW"´6FKRQ

41 Zum spanischen Gesetz etwa: MMW, 04.10.1935, Nr. 40, S. 1632. 42 Anonym, VD control in Scandinavian Countries and the Netherlands. In: JAMA 111 (July 1938), 430-431. 43 DMW, 02.12.1938, Nr. 49, S. 1777 (Varia). 44 Anonym, Anti-Venereal Measures in Scandinavia. Commission's Report. In: BMJ, 11.06.1938, S. 1277ff. 158

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mehrere Kommissionen hätten sich 1923 und 1928 mit dem Thema befasst und diverse Argumente pro und contra aufgezählt. Um sich endgültig ein Urteil zu bilden, habe der British Social Hygiene Council im Juni 1936 das Parlament gebeten, eine Expertenkommission nach Skandinavien und Holland zu schicken. Im Folgenden führt der Bericht die Prinzipien der jeweiligen Gesetzgebung an, nachdem noch einmal die Argumente pro und contra aufgelistet werden. Für Zwangsmaßnahmen sprächen, dass unter dem Prinzip der Freiwilligkeit viele Infizierte nicht der Behandlung zugeführt würden und so andere Leute infizieren; zudem brechen viele Behandelte vorzeitig ihre Behandlung ab. Desgleichen ließen manche Eltern ihre mit angeborener Syphilis behafteten Kinder unbehandelt. Gegen Zwangsmaßnahmen sprächen die Abschreckung, welche viele von einer Behandlung abhalte, und die Tatsache, dass Behandlungsverweigerer in einer großen Bevölkerung schwer zu ermitteln seien. Es bestand die Gefahr der Erpressung von Infizierten. Das gewichtigste Argument war jedoch, dass =ZDQJVPD‰QDKPHQQLFKWYHUHLQEDUVHLHQÅZLWKWKH%ULWLVKLGHDRI WKHOLEHUW\RIWKHVXEMHFW´ Laut Kommissionsbericht bestimmten in Dänemark und Schweden die Gesetze zwangsmäßige, aber auch kostenfreie Behandlung, und zwar unabhängig von der wirtschaftlichen Lage des Kranken. In Norwegen wurden Geschlechtskrankheiten allgemein wie andere ansteckende Krankheiten behandelt, auch bestand kein unmittelbarer Zwang zur Untersuchung noch zur Behandlung. Jedoch konnten bei konkretem Verdacht infizierte Personen abgesondert werden, um eine Ansteckung zu verhindern. In den Niederlanden hingegen beruhte die Behandlung weitgehend auf dem freien Willen des Kranken. Es gab allerdings Stellen wie den Sozialen Arbeiterverband, die den Kranken mit Rat und Tat zur Seite standen und deren Dienste anscheinend auch stark in Anspruch genommen wurden. In allen vier Ländern sei die Zahl der Neuerkrankungen an Syphilis in den letzten zwei Jahrzehnten stark zurückgegangen: auf 10.000 Einwohner in Schweden kämen 0,67, in Dänemark 1,6, in Norwegen 3,4 und in den Niederlanden 1,06 Neuerkrankungen jährlich. Die Zahlen seien zwar nicht ganz genau, beruhten aber auf möglichst sorgfältiger Schätzung. Die Kommission sei überrascht, dass die Niederlande trotz dichterer Bevölkerung und größerer Schifffahrt, welche stark zur Verbreitung von Geschlechts159

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krankheiten beitrage, besser als Dänemark dastehe. Der Bericht hielt fest, dass sich in den Ländern mit Behandlungszwang die Bekämpfung ohne jegliche Reibung vollziehe. Als Gründe, auch für den günstigen Stand in den Niederlanden, führte er das starke Verantwortungsgefühl der Menschen an, das gute Einvernehmen zwischen Ärzten und der Bevölkerung, den hohen wissenschaftliFKHQ6WDQGGHUbU]WHGDVÅ.XUSIXVFKHUYHUERW´XQGQLFKW]XOHW]W auch eine gewisse Offenheit im Umgang mit dieser Krankheit, während in England im Allgemeinen ein starker Hang zur Verheimlichung bestehe. Vor diesem Hintergrund kam der englische Kommissionsbericht 1938 zu dem Schluss, dass Zwangsmaßnahmen nur bedingt zum Rückgang bei Geschlechtskrankheiten beitragen könnten. Zudem sprächen sozioökonomische Gründe wie die ungleich bedeutendere Bevölkerungsgröße und -dichte zwischen England und den vier Ländern gegen die Übernahme von Zwangsmodellen, ebenso Mentalitätsunterschiede: So hatte ein Kommissionsmitglied in einem Vorbericht Anfang Juni 1938 insbesondere auf das Fehlen übermäßiger Schamgefühle in Skandinavien hingewiesen, was die Behandlung vereinfache.45 Der Bericht empfahl, das Freiwilligenprinzip beizubehalten. In den folgenden Wochen im Sommer 1938 meldeten sich diverse Leser in Briefen an die Schriftleitung des BMJ zu Wort. Viele befürchteten bei Einführung von Zwangsmaßnahmen einen enormen Schaden für das Arzt-Patienten-Verhältnis46 und zweifelten die Übertragbarkeit des skandinavischen Modells auf England an.47 Einige bemängelten das lückenhafte, wenig aussagekräftige Zahlenmaterial in den untersuchten Ländern,48 während andere die englischen Erfolge herausstrichen.49 Lancet und BMJ berichteten damals häufig und ausführlich über Geschlechtskrankheiten, im Unterschied etwa zu den offiziellen Verlautbarungen der Medical Society for the Study of Venereal Diseases (MSVDD), in deren British Journal for Venereal Diseases 45 Margare Rorke, Anti-venereal measures in Scandinavia. In: BMJ, 04.06.1938, S. 1224. 46 Robert Forgan, Anti-venereal measures. In: BMJ, 23.06.1938, S. 196f. 47 Douglas White, Anti-venereal measures. In: BMJ, 16.06.1938, S. 148. 48 Anonym, VD & Compulsion. In: BMJ, Dez. 1938, S. 1352. 49 Alison Neilans, Anti-venereal measures. In: BMJ, 16.07.1938, S. 94f. Auch im Lancet meldeten sich viele Ärzte mit Leserbriefen zu Wort mit ihren Erfahrungen zur bisherigen englischen Praxis. 160

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(BrJVD) neben Rezensionen meist nur Vereinsvorträge abgedruckt waren und ab 1935 auch der Jahresbericht des Chief Medical Officers of Health. Auf jeden Fall legten sie mittels editorials und Leserzuschriften einen größeren gesellschaftlichen Anspruch an den Tag. Während in Großbritannien heftig über Vor- und Nachteile von Meldepflicht und Zwangsbehandlung diskutiert wurde, wurden die bereits bestehenden Zwangs- und Kontrollmechanismen in Deutschland noch einmal verschärft. Ab 1938 überwachte die Polizei aufgegriffene Prostituierte und so genannte Asoziale und verschleppte viele von ihnen im RahmeQ GHU Å$NWLRQ Ä$UEHLWVVFKHX·´LP6RPPHULQ.RQ]HQWUDWLRQVODJHU $\D‰ 1XQ waren auch geschlechtskranke Männer von Sanktionen betroffen, GDUXQWHU KDXSWVlFKOLFK DOV Å$VR]LDOH´ EHXUWHLOWH GLH DXI *UXQGlage des Gesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten vom 18. )HEUXDUHLQHUVR]LDOHQÅ%HIUVRUJXQJ´RGHUÅ0lQQHUEHWUHXXQJ´XQWHUVWHOOWZXUGHQZDVLQGHU MMW gutgeheißen wurde.50 Die MMW führt aus, dass seit ca. drei Jahren systematisch spezifische Untersuchungsstellen an Uni-Hautkliniken aufgebaut würden, wo promiske Männer, vor allem Zuhälter, überwacht und JHVFKOHFKWVNUDQNYHUGlFKWLJH 0lQQHU PLW ÅDVR]LDOHQ 0HUNPDOHQ´  XQWHUVXFKW ZHUGHQ VROOWHQ51 %HJUQGHW ZXUGH GLHV DOV Å6ozialSURSK\OD[H´ IU GLH GHP (LQ]HOQHQ EHUJHRUGQHWH 9RONVJHPHLQVFKDIW 'HU +DXSWYRUZDQG ZDU 0HQVFKHQ PLW ÅKlXfig ZHFKVHOQGHQ *HVFKOHFKWVYHUNHKU´ DXVUHLFKHQG ]X EHKDQGHOQ Zudem bestimmten zwei Runderlässe des Reichsinnenministeriums vom 27. Januar 1938 und vom 18. September 193952 sowie die 2. Verordnung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 27. Februar 1940, dass die Behandlung mit Salvarsan-, Quecksilber- XQG :LVPXWSUlSDUDWHQ ÅMHW]W QLFKW PHKU ]X GHQ lU]WOLFKHQ (LQJULIIHQ´JHK|UHÅGLHYRQGHU(LQZLOOLJXQJGHV.UDQNHQDEKlQJLJLVW´53 50 H. Fuchs (Innsbruck), Bekämpfung und Befürsorgung der Geschlechtskrankheiten. In: MMW, 19.01.1940, Nr. 3, S. 80f. 51 MMW, 87 (1940, II), Nr. 38 (20.09.1940), 1041f., (Sammelreferat): Männerbetreuung auf Grundlage des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 18.2.1927. 52 Siehe: Der öffentliche Gesundheitsdienst, 5 (1939/40), 342f. 53 RGBl., I, S. 456 (1940), zitiert nach: Der öffentliche Gesundheitsdienst, 5 (1939/40), 517f. 161

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Die fachöffentliche Diskussion 1939±1945 Mit dem Krieg setzt eine neue und letzte Phase im Untersuchungszeitraum ein. Nun sind Geschlechtskrankheiten in beiden, miteinander Krieg führenden Ländern ein Thema von verstärkter gesellschaftspolitischer Brisanz: Die Zeitschriften vermerken einen Anstieg der Infektionen, und die Gefahr der Wehrkraftzersetzung wird diskutiert. Neben der Moral der Truppe ist die Bekämpfung der Gonorrhöe, bei der es zunächst enorme Fortschritte und dann Rückschritte gibt, das zentrale Thema. Mit den im Umlauf befindlichen Sulfonamiden wie Albucid, Eubasinum oder Prontosil und später Sulfonamidderivaten, etwa Å8OLURQ´ XQG Å1HR-8OLURQ´ JDE HV JUR‰H +RIIQXQJ GHU *RQRUrhöe Einhalt zu gebieten (Felke 1937), denn durch die gesteigerten Heilungsmöglichkeiten schien die Zahl der Neuansteckungen abzunehmen.54 Man sprach in den deutschen Zeitschriften gar in militärischer Analogie von Å%OLW]KHLOXQJ´DOVRVFKQHOOHU%HKDQGlungserfolge und Reduzierung der Krankenfälle.55 Neue Erfahrungen auf dem Gebiet der Chemotherapie hätten bei Gonorrhöe eine grundlegende Therapieänderung seit Einführung der Sulfonamide gebracht und zur Steigerung der Heilungsziffern bei gleichzeitiger Reduktion der Nebenwirkungen geführt, wie ein Lazarettarzt in der MMW betont. Er lobt GLH 6XOIRQDPLGH DOV ÅEHVWH :DIIHQ ]XU 6WHULOLWlWVYHUKWXQJ´ ZHLO VLH (UIROJH EHL beiden Geschlechtern und eine Frühheilung bringen.56 Daneben fand das arsenhaltige Salvarsan bis in die späten 1940er Jahre weiterhin Anwendung gegen Syphilis, häufig in Form von Kombitherapie in Verbindung mit der Fortsetzung der antientzündlichen lokalen Behandlung der Symptome. In England wurde aber auch von Rückschlägen berichtet. Hier wurden Sulfonamidresistenz und Rezidive bis zu drei Monate nach scheinbarer Heilung beobachtet, 54 DMW, 01.11.1940, Nr. 44, S. 1223 (Berichte aus dem Auslande: Aus den USA, England und Dänemark); The Sulphonamide Treatment Of Gonorrhoea Results Of Treatment. In: BMJ, 15.06.1940), S. 961966; Treatment Of Gonorrhoea By M & B 693. In: BMJ, 08.04.1939, S. 711-716; Chemotherapy Of Gonorrhoea. In: BMJ, 18.02.1939, S. 317320; M & B 693 In Gonorrhoea. In: BMJ,10.12.1938, S. 1227. 55 Dr. H.O. Loos (Innsbruck): Neue Erfahrungen auf dem Gebiete der Chemotherapie bei Gonorrhoe. In: MMW, 12.02.1943, Nr. 7, S. 120. 56 MMW, 05.11.1943, Nr. 44/45, S. 647 (Zeitschriftenübersicht). 162

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was die Hoffnung auf eine dauerhafte Heilung einschränkte.57 Auch Salvarsanresistenz wurde vermerkt. Als häufigste Ursache führten einige Autoren eine Überdosierung an.58 Eine neue Hoffnung tat sich mit der Entdeckung des Penicillins auf, das niemand anderes als der Entdecker selbst , Alexander Fleming, erstmals im Juli 1939 im BMJ beschrieb.59 Aber erst ab Ende 1943 wird das 7KHPD Å3HQLFLOOLQ JHJHQ 6\SKLOLV´ DOV 7KHPD LP BMJ,60 Lancet61 und BrJVD62 aufgegriffen, verbunden mit der Hoffnung, dass es Arsen gegen Syphilis und Sulfonamide gegen Gonorrhöe ersetze. In Deutschland fand sich Penicillin erstmals in einer der letzten Nummern der DMW im Juli 1944 erwähnt.63 Richtig zum Einsatz kam Penicillin allerdings erst nach Kriegsende. Ungeachtet nationalsoziaOLVWLVFKHU 7HQGHQ]HQ HLQH Å1HXH DeutVFKH +HLONXQGH´ HLQ]XULFKWHQ EHJHJQHWH PDQ GHU DOWHUQDWLven Naturbehandlung von Geschlechtskrankheiten mit energischer Ablehnung in der DMW, wo das Thema mehrfach zur Sprache kam. In einer gründlichen und ausführlichen Auseinandersetzung mit der Alternativmedizin führte der Coburger Arzt Lingel wegen des Langzeitansteckungspotentials aus, dass in Anbetracht der einer Syphilisausbreitung günstigen Kriegszeit eine drohende Gefahr für die Allgemeinheit von solcher Tragweite entstünde, GDVVVLHÅGHQ6\SKLOLGRORJHQXQGGHQ+DXVDU]WDXIGHQ3ODQUXIHQ´ ZHOFKH GLH YRQ GHU 1DWXUKHLONXQGH HPSIRKOHQH 7KHUDSLH DXVNODUHUhEHUOHJXQJDEOHKQWHQÅ(VPX‰GDKHUGLHVFKXOJHPl‰H 6\SKLOLVEHKDQGOXQJ HEHQIDOOV GLH 5HJHO EOHLEHQ´ ODXWete sein Fazit.64 'LH ]ZHLWH Å=XVFKULIW´ VWDPPWH YRQ 5HLFKVNRPPLVVDU Spiethoff und dem Würzburger Dermatologen Zieler, die das 57 A.J. Cokkinis, G.L.M. McElligott, Relapses after Sulphonamide Cure of Gonorrhoea. In: BMJ, 02.12.1939, S. 1080-1083 (addresses/paper). 58 MMW, 13.08.1937, Nr. 33, S. 1313f. 59 Alexander Fleming, Recent advances in vaccine therapy. In: BMJ 15.07.1939, S. 99-104. 60 Alexander Fleming, Penicilin. In: BMJ, 13.09.1941, S. 386 (letter). 61 Alexander Fleming, In vitro tests of penicillin potency. In: Lancet 20.06.1942, S. 732f. (letter). 62 BrJVD, Nr. 20 (Dez. 1944), S. 133-136: "Penicillin in VD ² 1". 63 Dr. Richard Meyer, Zur Unspezifität der Luesreaktionen. In: DMW, 07.07.1944, Nr. 27/28 , S. 386-390 (Wehrmedizin). 64 San-Rat. Dr Lingel (Coburg), Syphilis in der Naturheilkunde. In: DMW, 15.03.1940), , Nr. 11, S. 288-291. 163

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Thema für wichtig genug hielten, um in ihren Funktionen als Präsident der DGBG bzw. Vorsitzender der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft JHJHQ GLH 1DWXUEHKDQGOXQJ ÅVFKlUIVWHQ (LQVSUXFK ]X HUKHEHQ´ %HLGH EHKLHOWHQ LQ LKUHU $UJXPHQWDWLRQ GLH %HODQJHGHUÅ9RONVJHVXQGKHLW´XQGGHVÅ9RONVJDQ]HQ´LP%OLFN Ihrer Meinung nach müsste das Hauptziel im Kampf gegen die Syphilis als ansWHFNHQGHUÅ9RONVVHXFKH´VHLQ ÅGLH$QVWHFNXQJVJHIDKUEHLP.UDQNHQVRVFKQHOOZLHP|JOLFK]XEHVHitigen und dadurch einerseits weitere Ansteckungen zu verhüten und andererseits den Kranken selbst möglichst bald wieder in die Lage zu versetzen, seinen Platz in Beruf und Familie ohne Gefährdung anderer DXV]XIOOHQ´

Sie kamen zu dem Ergebnis, dass ÅMHGH $XVGHKQXQJ GHU QDWXUKHLONXQGOLFKHQ DXI .RVWHQ GHU ZLVVHnschaftlichen Syphilisbehandlung eine unabsehbare volksgesundheitliche Gefahr bedeuten und alles aufs Spiel setzen würde, was staatliche Gesundheitsführung und sorgsame Arbeit der Ärzte in den beiden letzWHQ-DKU]HKQWHQJHOHLVWHWKDEHQ´XPGLH1HXDQVWHckungen mit Syphilis zu senken.65

Schnelle Behandlungserfolge boten auch eine Möglichkeit, die Wehrfähigkeit geschlechtskranker Soldaten wieder herzustellen, was von aktueller Brisanz war und von vielen Artikeln behandelt wurde. Aufgrund der Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg standen geschlechtskranke Soldaten oft unter dem Verdacht, sich absichtlich angesteckt zu haben, um von Kampfhandlungen freigeVWHOOW ]X ZHUGHQ ,QVEHVRQGHUH GLH *RQRUUK|H JDOW DOV Å.ULHJVVHXFKH´66 In der MMW schilderte 1941 ein Arzt das besondere Problem der Geschlechtskrankheiten in Kriegszeiten: Å6WHOOW GHU .ULHJ LQ VHXFKenhygienischer Hinsicht ganz allgemein eine besondere Belastungsprobe für das Heeressanitätswesen dar, so gilt die-

65 Prof. K. Zieler (Würzburg) und Prof. B. Spiethoff (Leipzig), ErkläUXQJ ]XU )UDJH GHU ÅQDWXUJHPl‰HQ´ %HKDQGOXQJ GHU 6\SKLOLV,Q DMW, 20.02.1942, Nr. 8, S. 199f. (Zuschriften). 66 DMW, 21.01.1944, Nr. 3/4, S. 48 (Verhandlungsberichte). 164

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VHVDXFKIUGLH%HNlPSIXQJGHU*RQRUUK|H « 'LHJUR‰H%HGHXWXQJ dieser Krankheit weisen die Weltkriegsstatistiken auf, nach denen der Ausfall bei der Truppe wegen Trippererkrankung zeitweise ein sehr beträchtlicher war. Der wirkliche Schaden für die Wehrkraft ist noch höher zu veranschlagen, als ihn die Zahlen der Statistiken ausdrücken. Das hängt zusammen mit dem demoralisierenden Charakter der Krankheit, für den die bisherige Langwierigkeit der Behandlung die zahlreichen Möglichkeiten der Verschleppung durch den Patienten verantwortOLFK VLQG «  RKQH GD‰ HU GDPLW EHUHLWV GLH EHZX‰WH $EVLFKW ]X verbinden braucht, sich dem militärischen Zwang zu entziehen. Schließlich aber begünstigte die große Dauer der Behandlung und Möglichkeit, die Ausheilung in die Länge zu ziehen, eindeutige DrückeberJHUHL´

Der Arzt lobte die Vorzüge der Sulfanilamide als chemotherapeutisch hochwertige Substanzen, vor allem Eubanisium. Man müsse nur Eubanisium-Tabletten zusätzlich verabreichen, dann seien die üblichen Lokalmaßnahmen wie Spül- und Spritzbehandlung überflüssig. Der Erfolg werde aber erst in Statistiken nach dem Krieg VLFKWEDUZHUGHQPXWPD‰WHHUÅdie Erfolge werden aber nicht nur XQPLWWHOEDU GHU 6FKODJNUDIW XQVHUHV +HHUHV ]XJXWH NRPPHQ´ 6R sei insbesondere die gefürchtete Folge der Sterilität des Mannes YHUPHLGEDU Å)DVW SKDQWDVtisch erscheinen uns seine Erfolge, wenn wir zurückdenken an die Lage der Gonorrhöe-Behandlung im Weltkriegsheer, phantastisch wie die Erfolge unserer WehrPDFKWVHOEVW´67 In der DMW wurde die Forderung erhoben, dass ,QIHNWLRQVTXHOOHQIRUVFKXQJ DQ GLH Å6SLW]H GHU ]XU %HNlPSIXQJ der Geschlechtskrankheiten im Heer anzuordnenden MaßnahPHQ´]XVWHOOHQVHL68 Auch in England wurden venerische Krankheiten in Kriegszeiten als besonderes Problem aufgefasst. Während aber in Deutschland Sozialkontrolle herrschte, blieb die englische antivenerische Praxis tendenziell liberal ausgerichtet. Nicht einmal für Behandlungsverweigerer war Zwang vorgesehen. Dennoch flammte in Großbritannien in den 1920er und 1930er Jahren immer wieder eine Diskussion über die Einführung von Zwangsmaßnahmen oder über die Verschärfung existierender Bestimmungen auf, da 67 Walter Borck, Neuzeitliche Behandlung der akuten Gonorrhoe in der Wehrmacht. In: MMW, 14.02.1941, Nr. 7, S. 177-181 (Aufsätze). 68 DMW, 27.09.1940, Nr. 39, S. 1087 (Literaturverhandl.); 13.12.1940, Nr. 50, S. 1406 (Literaturverhandl.). 165

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viele Erkrankte mit Abklingen der Symptome vorzeitig ihre Therapie abbrachen. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden Geschlechtskrankheiten in England nach Jahren der Rückläufigkeit wieder zu einem größeren Problem: Ein Anstieg der Neuerkrankungen um 70% wurde seit Kriegsbeginn verzeichnet ² allein 1942 wurden 70.000 zivile Fälle vermeldet (vgl. Harrison 1999). Der Chief Medical Officer des britischen Ministry of Health, Sir Arthur MacNalty, versuchte, dieses Phänomen in seinem Jahresbericht für 1938 mit schwierigen Behandlungsmöglichkeiten und den psychologischen Anspannungen im Krieg zu erklären: Å9HQHUHDO GLVHDVH D SUREOHP RI GHFOLQLQJ LPSRUWDQFH FRPHV IRUZDUG again as 'the camp follower of war'. Increased sexual promiscuity due to heightened nervous tension and excitement is a sufficient explanation. The shift of large numbers of people to areas hitherto sparsely populated may be associated with outbreaks of the disease in places unproYLGHGZLWKIDFLOLWLHVIRUWUHDWPHQWµ69

MacNalty regte an, in manchen Gegenden bestehende Behandlungszentren zu erweitern bzw. in anderen Regionen zusätzliche Zentren zu schaffen. Als beste Lösung erschien ihm die Formierung mobiler Einheiten, bestehend aus einem Venerologen, einer Krankenschwester, einem zu dienstlichen Zwecken abkommandierWHQ6ROGDWHQ ÅDQRUGHUO\´ XQGHLQHP$VVLVWHQWHQDXVJHVWDttet mit einem ausgerüsteten Fahrzeug. Nach MacNaltys Vorstellung sollte eine solche mobile Einheit überall dort einspringen, wo Treatment Centres kriegsbedingte Engpässe erlitten hatten oder wo, etwa durch Einzug des Personals, Lücken entstanden waren, bzw. sollten diese an Orte fahren, wo es keine solchen Behandlungszentren gab, Geschlechtskrankheiten aber massenweise aufträten. Neben solchen konkreten Vorschlägen wurde allgemein auf breite Aufklärung gesetzt, vor allem aufgrund der Einsicht, dass Geschlechtskrankheiten kein rein militärisches Problem waren (vgl. Hall 1999). Im Februar 1943 startete das britische Ministry of Health deswegen eine beispiellose Aufklärungskampagne über Geschlechtskrankheiten. In der nationalen Tagespresse wurden eine Reihe informatiYHU$Q]HLJHQXQWHUGHP7LWHOÅ3ODLQ)DFWV $ERXW 9HQHUHDO 'LVHDVHV´ JHVFKDOWHW (V JLQJ XP GLH *HIDKUHQ durch Geschlechtskrankheiten, Symptome und die Ermunterung, 69 BMJ, 09.12.1939, S. 1153ff., hier 1154. 166

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dass Infizierte einen Arzt aufsuchen mögen.70 Nur wenige Zeitungen druckten die Anzeigen unverändert ab, einige bestanden auf eine weniger explizite Sprache, andere verweigerten sich ganz (Haste 1992: 132-137). Die Newspapers Proprietors' Association etwa hatte dezent formulierte Anzeigen zur Bedingung gemacht, Explizites wie die Erwähnung der Geschlechtsorgane war unerwünscht. Während die auflagenstärkste Tageszeitung Daily Express sich ebenso wie einige schottische Tageszeitungen der Kampagne verweigerten, beteiligten sich der Daily Mirror und der Manchester Guardian an der Informationskampagne und druckten aus Protest gegen die 9HUZlVVHUXQJGHU$Q]HLJHVRJDUGLH8UYHUVLRQDEGHQQÅ>@WKH VWDUN UHG ZDUQLQJ RI GDQJHU FKDQJHG WR DQ LQRIIHQVLYH SLQN´71 Die Kampagne war in ihrer Direktheit auch für die Kirchen gerade noch tolerierbar, nicht zuletzt deswegen, weil das Familienleben, d.h. ehelicher Verkehr, als der einzig sichere Geschlechtsverkehr propagiert wurde.72 Im Lancet, der die Verwässerung bedauerte, frohlockte man, dass die allgemeine Presse auf ihre geliebten Euphemismen wie ÅKLGGHQ VFRXUJH´ RGHU ÅVRFLDO GLVHDVHV´ YHU]LFKWHQ PXVVWH JDE DEHU ]X EHGHQNHQ GDVV HLQH Å+HPPVFKZHOOH XQEHNDQQWHU 7HUPLQL´ $UEHLWHU YHUZLUUHQ XQG OHW]WOLFK JHQDXVR XQHIIHNWLY ZLH HLQH Å0DXHU GHV 6FKZHLJHQV´ VHLQ N|QQWH73 Ein Lancet-Leser beklagte, dass Prüderie und Heuchelei alle Bemühungen behindere, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, dass Syphilis vermeidbar sei.74 Ein anderer wies darauf hin, dass übersehen werde, dass bei allgemeinem Kondomgebrauch die Syphilis schnell ausgerottet 70 Anonym, Control of Venereal Disease. In: Lancet, 14.11.1942, S. 577578; The Ministry of Health and The Central Council for Health Education, "Ten Plain Facts About V.D.," newspaper advertisement issued in 1942; siehe dazu Bingham 2005, S. 1055f. 71 Zitat: Daily Mirror, 19.02.1943, S. 3; siehe dazu Bingham 2005, S. 1069²1073. 72 Der Erzbischof von Canterbury hatte von der Regierung verlangt, dass sie vor dem moralischen Übel der Promiskuität warne, vgl. Lancet, 19.12.1942, S. 738. 73 Lancet 1943, S. 317, 350f. (Cooke). 74 R. A. Lyster, Prevention of Venereal Disease, in: Lancet, 10.04.1943, S. 476. Lyster war damals Präsident der National Society for the Prevention of Venereal Disease. 167

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werden könne, da Enthaltsamkeit allein nicht funktioniere.75 In einem Letter to the Editors des BMJ denunzierte ein pensionierter Colonel des Indian Medical Service Appelle an Keuschheit als ÅZRUVH WKDQ XVHOHVV´76 Jedoch erfuhr er eine heftige Zurückweisung durch einen aktiven Offizier des Royal Army Medical Corps (RAMC), der darauf hinwies, dass Keuschheit immer noch in der $UPHH ÅVWURQJO\ HQFRXUDJHG´ ZHUGH XQG GLH 7UXSSHQ 9RUWUlJH HUKLHOWHQ EHU ÅPDLQWDLQLQg a high moral standard and on DEVWHQWLRQIURPLOOLFLWVH[XDOUHODWLRQV´77 Zudem bestimmte der kriegsbedingte Defence Regulation Act 33B (des Emergency Powers Defense Act, 1939) von November 1942 die Zwangsuntersuchung und -behandlung von Leuten, die von mindestens zwei separaten Mitmenschen als (potentielle) Infektionsquelle angegeben wurden. Dieser galt bis Ende 1947, wurde allerdings kaum angewendet. Der 33B löste viel Protest aus ² selbst der Erzbischof von Canterbury äußerte sich laut BMJ dagegen.78 In Großbritannien begegnete man einem starken Staat traditionell mit großer Skepsis, was sich etwa beim Protest gegen den Contagious Diseases Act von 1860 zeigte, der aufgrund massiven öffentlichen Protests wieder zurückgenommen wurde. Andererseits war diese Debatte aber auch die Basis für den Venereal Disaese Act von 1917, weil Geschlechtskrankheiten nun als ein Problem der breiten Öffentlichkeit und nicht mehr nur der Armee wahrgenommen wurden (vgl. Hall 1999). Obgleich der Defence Regulation Act 33B für beide Geschlechter bestimmt war, wurden vor allem Frauen wegen Prostitution und angeblich absichtlicher Infizierung von Militärpersonal belangt, wenn auch in vernachlässigbaren Relationen (etwa 64 Fälle in den ersten sechs Monaten des Gesetzes). Einen ähnlichen Passus, Regulation 40D, hatte es kurzzeitig schon im Ersten Weltkrieg gegeben, der ebenfalls heftigen Protest hervorgerufen hatte. Gerade EHVWLPPWH )UDXHQ JHULHWHQ DOV ÅSUREOHP JLUOV´79 unverhältnismä-

75 James Sequeira, Prevention of Venereal Disease, in: Lancet, 13.03.1943, S. 350-351; Shakespear Cooke, Prevention of Venereal Disease. In: Lancet, 17.04.1943, S. 511. 76 Col.P.F. Chapman, Letter to the editor. In: BMJ, 03.08.1941, S. 169. 77 Lt.-Col. T.E. Osmond, Letter to the editor. In: BMJ, 16.08.1941, S. 236. 78 BMJ, 06.03.1943, S. 290. 79 BMJ, 09.12.1939, S. 1159. 168

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ßig oft in den Blick, etwa wenn sie Mütter mehrerer unehelicher .LQGHU ZDUHQ GHQQ ÅWKHVH JLUOV UHDGLO\ EHFRPH LQIHFWHG ZLWK venereal disease and are a source of danger to themselves and soFLHW\´6WHULOLVLHUXQJZHOFKHGLH=HXJXQJXQHKHOLcher Kinder angeblich vereiteln helfe, lehnte der Bericht ab, auch weil dies einzig zu weiterer Promiskuität und einer eventuellen weiteren Verbreitung von Geschlechtskrankheiten führen würde. Als einzige LöVXQJ]XP3UREOHPZXUGHKLHUÅDVXLWDEOHKRPHRULQVWLWXWLRQIRU WKLVW\SHRIJLUO´DQJHIKUW Insbesondere das Aufspüren und Benennen der Infektionsquelle (contact tracing), das der Denunziation Tür und Tor öffne, erregte den Protest der Leserschaft und des Editorials des Lancet, wo man die Benachteiligung von Frauen durch 33B sah. Frauen würden vor Nennung der Quellen ihrer Ansteckung zurückschrecken, da sie stigmatisiert würden und ihnen zudem Gefängnis drohte.80 Eine Leserin ² Dorothy Manchee vom British Social Hygiene Council ² verglich das Zwangsmeldesystem gar mit den Praktiken Hitler-Deutschlands und schlug stattdessen eine allgemeine notification vor.81 Währenddessen sorgte das BMJ sich um das Arzt-Patienten-Verhältnis, glaubte aber, dass notification (Zwangsmeldung) möglich sei, wenn die Vertraulichkeit gewahrt bliebe.82 Die britische Aufklärungskampagne wurde über die gesamte Zeit des Zweiten Weltkrieges beibehalten und nach Kriegsende mit der Demilitarisierung und Heimkehr von Soldaten sogar erneuert.83 Im Rahmen dieses Beitrages kann allerdings nur kurz darauf hingewiesen werden, dass auch in Friedenszeiten weniger sichtbare Zwangselemente zur Anwendung kamen, nämlich bei allein erziehenden Müttern, weiblichen Teenagern, Kindern, Gefangenen u. a. ² kurz: alle, die auf staatliche Hilfe angewiesen waren bzw. im Gefängnis saßen (vgl. Davidson 1996). Ein wichtiges Element bei der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ² auch in Großbritannien ² war die Chemotherapie.

80 Lancet, 29.05.1943, S. 691-692; Lancet, 05.06.1943, S. 723; Lancet, 29.01.1944, S. 167. Und in der Tat wurden Frauen unter dem Act 33B viel häufiger belangt als Männer (vgl. Haste 1992: 128-134). 81 Lancet, 27.04.1946, S. 615. 82 Control of Venereal Disease (editorial). In: BMJ, 21.11.1942, S. 612. 83 /DQFHW  6  Å9HQHUHDO 'LVHDVHV (GXFDWLRQDO &DPSDLJQ´0LQLVWU\RIHealth Circulars 42/45 and 92/45, 1945. 169

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Der erfolgreiche Einsatz von Sulfanomiden gegen Gonorrhöe führte in manchen Städten sogar zu verändertHQ Å9HQHUHDO 'LVHDVH 6FKHPHV´ 6R VWHOOWH GDV BMJ etwa in der schottischen Hauptstadt Edinburgh für das Jahr 1938 eine Übergangszeit von alten zu neuen Methoden fest: Tripperkranke bekämen nun dreimal täglich Sulphapyradin-Spritzen, die zu 90% anschlügen. Der einzige Nachteil der neuen Methode, bedauerte das BMJ, sei, dass die Symptome zu schnell abklingen und die Betroffenen häufig die Behandlung abbrächen. Bei Syphilis würden arsenhaltige Mittel verwendet.84 Nach 1945 änderten sich die Parameter mit dem Einsatz von Antibiotika (etwa Penicillin),85 mit denen man Geschlechtskrankheiten erfolgreich bekämpfen konnte, der politischen Neuordnung in Deutschland und der Einrichtung des NHS in Großbritannien im Jahre 1948 (vgl. Lindner 2004).

Schluss Bei der Berichterstattung über Geschlechtskrankheiten im deutsch²englischen Vergleich zeigten sich auf zwei Ebenen starke Unterschiede zwischen beiden Ländern, und zwar sowohl bei den Konzepten zur Behebung des Problems als auch bei der Berichterstattung darüber. Im Gegensatz zu Infektionskrankheiten und Epidemien als kurzfristige Krisen, die einer schneller Lösung zu ihrer Eindämmung bedurften, erwiesen sich Geschlechtskrankheiten als langfristiges Problem, da sie zur Sterilität und dadurch zu Geburtenausfall führen konnten. Zudem schadeten Arbeitsausfall und Behandlungskosten der Volkswirtschaft und der Ausfall von Soldaten der Wehrkraft. Bei der Kontrolle und Eindämmung der Geschlechtskrankheiten ging es daher immer auch um die richtige Balance in der Gesundheitspolitik zwischen den Interessen der Volksgesundheit bzw. public health und den Freiheiten des Individuums. Die diskutierten Lösungsansätze unterschieden sich hier grundlegend. Während in England die Rechte des Individuums über das Allgemeinwohl gestellt und leidenschaftlich verteidigt 84 BMJ, 09.12.1939, S. 1159. 85 BMJ, 27.01.1945, S. 110-111; BMJ, (Jun. 22, 1946), S. 965: Penicillin And Venereal Diseases, (Aug. 31, 1946), S. 311. 170

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wurden, verhielt es sich in Deutschland umgekehrt: Aus dem individuellen Recht auf Gesundheit wurde eine Pflicht zur GesundKHLW DEJHOHLWHW ,Q 'HXWVFKODQG ]lKOWH DE  DOOHLQ GLH Å9RONsJHPHLQVFKDIW´ GDV ,QGLYLGXXP musste sich deren Bedürfnissen unterordnen und konnte Zwangsbehandlung, soziaOHU Å%HIUVRUJXQJ´ XQG Å0lQQHUEHWUHXXQJ´ ]XJHIKUW VRZLH LP 5DKPHQ GHU Å,QIHNWLRQVTXHOOHQIRUVFKXQJ´ YHUIROJW ZHUGHQ ZDV LQ *URßbritannien allein im Krieg eingeführt und dann auch nur zögerlich umgesetzt wurde. Die Analyse der vier medizinischen Wochenschriften ergab allerdings ein komplexeres Bild: In Großbritannien forderten phasenweise einige Ärzte und Medical Officers of Health mögliche Zwangselemente zur besseren Kontrolle und Eindämmung der Krankheit ein (vgl. Davidson/Sauerteig 2000: 140). Und auch in Deutschland warnten noch nach 1933 Teile der Öffentlichkeit und der Ärzteschaft aus Angst vor der möglichen Unterminierung des vertraulichen Arzt-Patienten-Verhältnisses vor zuviel Zwang und den Gefahren einer allgemeinen Meldepflicht. Mehr noch kann man sogar von einem Umkehrungseffekt im Verhältnis von Moral und Pragmatik in beiden Ländern seit 1933 sprechen: Mit dem Nationalsozialismus kam es nämlich in Deutschland zu einer Moralisierung der Thematik ² es war nun viel die Rede von Sittlichkeit, Schutz der Familie, der Jugend und den Frauen, während in Großbritannien vor allem mit dem Krieg zunehmend praktische Gesichtspunkte in den Vordergrund rückten. So nötigte die US-Armee ihre britischen Verbündeten, Geschlechtskrankheiten in ihren Reihen pragmatisch anzugehen und systematisch zu bekämpfen. Auch im medialen Raum unterschieden sich die nationalen Praktiken: Während die deutsche Medizinpresse Informationen von oben nach unten weitergab, blieben die britischen Zeitschriften Diskussionsforen für intraprofessionelle und gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen, wobei der Lancet eher gesellschaftlich engagiert auftrat und das BMJ die Standesinteressen ² etwa beim Arzt-Patienten-Verhältnis ² vertrat.86 Im Fall der deutschen Zeitschriften schienen die Experten, die sich der Forschung widmeten, auf intraprofessionellen Streit zu verzichten und immer dann NS-Funktionären und Medizinalbeamten den Platz zu über86 Vgl. den Beitrag von Wiebke Lisner in diesem Band. 171

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lassen, wenn es darum ging, die neuen Richtlinien der Gesundheits- und Gesellschaftspolitik darzustellen und zu verteidigen. Dies ist auch messbar an den für Deutschland noch relativ neuen Leserbriefrubriken, die es in DMW und MMW seit ca. 1932 als Å)UDJHQ XQG $QWZRUWHQ´ RGHU Å=XVFKULIWHQ´ JDE 'LHVH ZDUHQ keine Orte der gesellschaftlichen Positionierung, sondern dienten der Klärung medizinischer Probleme und Richtigstellung von Angaben. Die britischen Zeitschriften hingegen spiegelten in diesen Rubriken nicht nur gesellschaftliche Debatten und Meinungen in der Ärzteschaft wider, sondern förderten diese aktiv. Die deutschen Zeitschriften traten forschungsorientiert als Vermittler zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit auf. Hier erschienen Geschlechtskrankheiten seltener als Thema von Originalartikeln, wo hauptsächlich Forschungsrelevantes ² etwa zu den Sulfonamiden ² abgedruckt wurde. Geschlechtskrankheiten wurden in DMW und MMW eher als Problem der Sozialhygiene beKDQGHOW RGHU XQWHU Å.OHLQH 0LWWHLOXQJHQ´ 5H]HQVLRQHQ Å9DULD´ XQG Å$XVODQGVEHULFKWH´ DEJHKDQGHOW ZlKUHQG LQ (QJland das Thema in Editorials und in Leserbriefen kontrovers diskutiert werden konnte, ohne dass eine einheitliche Linie von oben nach unten vorgegeben war. In Deutschland schrieben die Autoren als wissenschaftliche Elite, während die Kader in den Wochenschriften als Teil des obrigkeitsstaatlichen Informationssystems auftraten. In Großbritannien vertraten die Autoren zivilbürgerliche Ansprüche und engagierten sich gesellschaftlich inter pares. Die Wochenschriften diskutierten hier strittige Fragen, was Teil der Konsensfindung war.

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Tierkörper im medi(k)alen Raum deutscher und britischer medizinischer Wochenschriften ( 1919-1945) WIEBKE LISNER

1986 veröffentlichte die britische medizinische Wochenschrift The Lancet einen Leserbrief, in dem der Autor zu medizinischen Versuchen im Nationalsozialismus Stellung nahm. Er schrieb: Å$WUDJLFLURQ\RIWKHVDWDQLFYDOXHVRIWKH1D]LUpJLPHLVWKHIDFWWKDW one of the few animal species on which the experiments were legally permitted was man. Concomitant with the Nazi programme to dehumanise Jews the Hitler regime enacted legislation protecting other aniPDOV´ 6HLGHOPDQ 

Pointiert weist der Autor des Leserbriefes darauf hin, dass Tierversuche im Nationalsozialismus gesetzlich verboten, dafür aber Versuche an Menschen erlaubt waren, die im Sinne der nationalVR]LDOLVWLVFKHQ5DVVHQSROLWLNDOVÅPLQGHUZHUWLJ´JDOWHQ(UNRQVWatiert insofern eine Umkehr der Bewertung des Tier- und Menschenexperiments. Damit wirft er die Frage nach dem Bedeutungszusammenhang von Tier- und Menschenversuchen, den Praktiken medizinischer Forschung sowie deren gesetzlichrechtlichen Regelungen während der Zeit des Nationalsozialismus auf. Im Nationalsozialismus wurde der Tierschutz grundlegend neu geregelt (vgl. Klueting 2003; Eberstein 1999; Schweiger 1993). Daniel Jütte weist darauf hin, dass es hierdurch zu Einschränkungen tierexperimenteller Forschungen kam (Jütte 2002). In der Lite177

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ratur wird zudem der kriegsbedingte Mangel an Versuchstieren als ein Faktor benannt, der den Schritt zu verbrecherischen Menschenversuchen in der Medizin mit bedingte.1 Tierversuche waren in den letzten Jahren mehrfach Gegenstand historischer und medizinhistorischer Forschungen. Dabei standen die Auseinandersetzungen zwischen Medizinern und Laienöffentlichkeit zu Bedingungen und Regelungen der Versuche im Mittelpunkt. Weiter wurde der Bedeutungszusammenhang von Tier- und Menschenversuchen als Teil der Experimentalkultur thematisiert, aber auch die Frage nach der Grenze zwischen Tier- und Menschenversuchen. (Vgl. v.a. Roelke 2009; Sachse 2006; Sabisch 2005; von Schwerin 2004; Maehle 1996; Schweiger 1993). Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Beitrag ² ausgehend von der seit dem 19. Jahrhundert immer wieder aufflammenden Auseinandersetzung um die Vivisektion ² danach gefragt, ob und inwiefern die im zitierten Leserbrief beschriebene Grenzverschiebung von Tier- zu Menschenversuchen zur Zeit des Nationalsozialismus innerhalb der Ärzteschaft diskutiert wurde. Untersucht wird dies am Beispiel Deutschlands und GroßbritanQLHQV DOV GHP Å0XWWHUODQG GHV RUJDQLVLHUWHQ 7LHUVFKXW]HV´ (Schmiedebach 2004: 97) für den Zeitraum von 1919 bis 1945. Diese Zeitspanne wurde gewählt, um längere Entwicklungslinien aufzeigen zu können. Anhand der Deutschen Medizinischen und Münchener Medizinischen Wochenschrift für Deutschland sowie dem British Medical Journal und The Lancet für Großbritannien2 soll herausgefunden werden, wie in medizinischen Wochenschriften über tierexperimentelle Forschungen und die Auseinandersetzung mit einer kritischen Laienöffentlichkeit zu diesem Thema reflektiert

1

2

Entscheidende Faktoren, die eine Überschreitung der Grenzen der PHGL]LQLVFKHQÅ1RUPDOIRUVFKXQJ´ZlKUHQGGHU=HLWGHV1DWLRQDlVR]LDOLVPXV EHGLQJWHQ ZDUHQ 'DV QDWLRQDOVR]LDOLVWLVFKH Å5DVVHnSDUDGLJPD´GLH)RNXVVLHUXQJDXIGLH*HVXQGKHLWGHVQDWLRQDOVR]iDOLVWLVFKHQ Å9RONVN|USHUV´ GLH .ULHJVEHGLQJXQJHQ VRZLH GLH 9Hrschiebung der Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik (vgl. Carola Sachse zitiert nach Kopke/Schmaltz 2007. Vgl. auch z.B. Weß 1992: 38-61). Zu den Wochenschriften vgl. den einführenden Beitrag von Sigrid Stöckel in diesem Band. 178

TIERKÖRPER IM MEDI(K)ALEN RAUM

wurde.3 Zu fragen ist weiter nach diskursiven Grenzverschiebungen in der Bewertung der Tierexperimente im Hinblick auf ihren Zusammenhang mit Versuchen am Menschen. Dabei werden Wochenschriften als medialer wie medikaler Raum verstanden und als Medium der Kommunikation der medizinischen Profession.

Notwendige medizinische Forschung oder ü b e r f l ü s s i g e Q u ä l e r e i ? T i e r ve r s u c h e i n Deutschland und Großbritannien In der naturwissenschaftlich begründeten Medizin war das Experiment vor allem an Tieren, aber auch an Menschen ein entscheidendes Mittel zur Erkenntnisgenerierung (vgl. Zerbel 1993: 103). Hiermit einher ging die Entwicklung neuer Methoden und Fragestellungen, eigener Reglements, Techniken und Praktiken, wobei diese ebenso wie die gesellschaftlichen Verortungen und DeutunJHQGHUÅ([SHULPHQWDONXOWXUHQ´:DQGOXQJVSUR]HVVHQXQWHUODJHQ (Schmiedebach 2004: 94f). Alexander von Schwerin weist darauf hin, dDVV GDV ([SHULPHQW 7HLO GHU ÅPRGHUQHQ *HVFKLFKWH YRQ :DKUKHLWXQG2EMHNWLYLWlW´LVW YRQ6FKZHULQI 7LHUH[Serimente galten hierbei als Ersatz und Stellvertreter für ethischmoralisch und religiös problematische Menschenexperimente und zielten darauf ab, neue Erkenntnisse über die Verhältnisse am Menschen zu gewinnen (vgl. Schmiedebach 2004). Durchgeführt wurden Tierversuche von einem vergleichsweise kleinen Kreis von in Forschung und Lehre tätigen Medizinern. Einer breiteren ärztlichen Öffentlichkeit, wie niedergelassenen Ärzten, wurden die Ergebnisse dieser Forschungen unter anderem über das MediXPÅPHGL]LQLVFKH:RFKHQVFKULIW´YHUPLWWHOW'LHHWKLVFKHQ*UHnzen der experimentierenden Wissenschaft waren dabei sowohl bei den Tier- als auch den Menschenversuchen vielfach Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen medizinischer Wissenschaft, ärztlicher Profession, (Laien-)Öffentlichkeit und Politik (vgl. Elkeles 1996; Reuland 2004; Sachse 2006). Gegen Tierversuche formierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst in Großbritannien, und etwas verzögert auch in Deutschland, öffentlicher Protest. Vor allem Vivisektio3

Vgl. hierzu auch Lisner 2009. 179

WIEBKE LISNER

nen, das heißt operative Eingriffe an lebenden Tieren zu Forschungszwecken, standen im Kreuzfeuer der Kritik (vgl. Virchow 1881). Die Antivivisektionisten kritisierten hierbei nicht nur die Methode, sondern häufig die gesamte medizinische Wissenschaft und ihre Vertreter. Der Vivisektionsstreit war, wie Carola Sachse herausarbeitet, eine der ersten öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Laienpublikum und Fachwissenschaft über ethische Grenzen in den Wissenschaften (Sachse 2006). Hintergrund der Herausbildung des Tierschutzgedankens in Großbritannien und Deutschland war die Bedeutungsveränderung des Tieres im 19. Jahrhundert. Die Urbanisierung verdrängte allmählich die Wohn- und Arbeitsgemeinschaft zwischen Mensch XQG 7LHU YJO =HUEHO   ,GHDOLVLHUWHU *HJHQSRO GHU DOV ÅFKDoWLVFK´GXQNHOXQVLFKHUXQGVR]LDOH2UGQXQJHQLQ)UDJHVWHOOHQG geltenden Stadt wurden der ländlichH 5DXP XQG ÅGLH 1DWXU´ (Löfgren 1986: 125-131). In diesem Kontext avancierten Haustiere IU6WDGWEHZRKQHU]XHLQHP6\PEROGHU9HUELQGXQJ]XUÅ1DWXU´ (vgl. ebd: 133f; Sachse 2006; Hamilton 1992: 78f). Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland erkannte der Staat Ende des 19. Jahrhunderts die grundsätzliche Notwendigkeit und Nützlichkeit der Versuche an und lehnte das von Tierschützern geforderte Verbot der Vivisektion ab. Als erstes europäisches Land erließ Großbritannien 1876 jedoch ein umfassendes Tierschutzgesetz, den Cruelty to Animals Act. Dieser setzte der tierexperimentellen Forschung Grenzen und stellte die Versuche unter staatliche Aufsicht.4 Preußen verabschiedete 1885 lediglich Leitsätze zur Durchführung von Tierversuchen. Diese mahnten zur Beschränkung der Anzahl der Tierversuche, überließen aber die Kontrolle den forschenden Medizinern (Eberstein 1999, S. 195, Abdruck des Erlasses bei Bretschneider 1962: 157). In Deutschland bestand ein enges Verhältnis zwischen Ärzteschaft und Staat, das Medizinern ein Vorrecht in der Heilbehandlung und berufliche Autonomie unter staatlichem Schutz einräumte (vgl. Huerkamp 1985: 18; Gottweis/Hable/Prainsack/Wydra 2004: 106f). Das war

4

Hunde, Katzen, Pferde, Esel und Maultiere durften nicht mehr für schmerzhafte Versuche verwandt werden, alle Tiere mussten bis zur Gefühllosigkeit narkotisiert werden. Ausnahmegenehmigungen waren allerdings möglich. Cruelty to Animals Act, abgedruckt in: Bretschneider 1962: 151f. 180

TIERKÖRPER IM MEDI(K)ALEN RAUM

in Großbritannien nicht der Fall. Der Beruf war hier aufgegliedert in eher praktisch ausgebildete, meist im Rahmen der 1911 eingeführten National Health Insurance bezahlten, in der niedergelassenen Praxis arbeitenden General Practitioners einerseits sowie die in Kliniken tätigen, den privaten Gesundheitsmarkt bedienenden Consultants. Im Ergebnis war damit das britische Gesundheitssystem weniger einheitlich strukturiert als das deutsche (vgl. Digby 1999: 48ff; Porter 1989).

Zw i s c h e n Ak z e p t a n z u n d Ab l e h n u n g : T i e r ve r s u c h e i m m e d i ( k ) a l e n R a u m 1 9 1 9 - 1 9 3 3 In den deutschen medizinischen Wochenschriften war die Auseinandersetzung mit Tierversuchen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Beginn der 1930er Jahre kaum ein Thema. Trotz der Bemühungen von Tierschutzvereinen, die Vivisektion zu verbieten oder zumindest einzuschränken und einer stärkeren Kontrolle zu unterwerfen (vgl. Eberstein 1999), sah die deutsche Ärzteschaft keinen Anlass, sich über das Medium medizinische Wochenschrift zum Thema Tierversuche zu verständigen. Fragen wie der in Großbritannien diskutierte ethisch-moralische Umgang mit Versuchstieren wurden nicht fachöffentlich thematisiert (z.B. Rogers 1933: 18f; British Medical Journal 1919: 455f). In Deutschland publizierte Versuchsbeschreibungen lassen vielmehr ein geringeres Problembewusstsein deutscher Mediziner bei der Anwendung der Methode des Tierversuchs und für ethische Anliegen der Tierschützer vermuten (vgl. Mulzer 1926: 1555f). Über tierexperimentelle Forschung wurde ohne Reflexionsansätze berichtet. Den in den Versuchen verwendeten Tieren und ihrem Empfinden wurde ² abgesehen von ihrer medizinischen Funktion ² wenig Beachtung geschenkt. 1925 hieß es beispielsweise in der Münchener Medizinischen Wochenschrift: Å,Q GXUFK YLHOH 0RQDWH VLFK KLQ]LHKHQGHQ 9HUVXFKHQ DQ PHKUHUHQ Hunden wurde dem Schicksale aseptisch in die Brustfell- sowie die Bauchfellhöhle eingebrachter metallischer stumpfer und schärfster GeJHQVWlQGHQDFKJHIRUVFKW´ 6FKPLGW 

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Dieses Zitat zeigt, dass die Hunde nur als Teil des Versuchsaufbaus von Bedeutung waren. Ihre Körper gehörten zur wissenschaftlichen Methode, um etwas über metallische Gegenstände in lebenden Körpern allgemein herauszufinden. Der Tierversuch zielte hierbei darauf ab, medizinische Aussagen über Menschen zu treffen. Der Autor zog, da die Hunde keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen zeigten, den Schluss, es sei ratsam, Menschen nicht darüber aufzuklären, wenn sich in ihren Körpern Gegenstände befänden, da es keine subjektiven Beeinträchtigungen gäbe, solange die Patienten nichts über deren Existenz wüssten (ebd.). Zumindest in diesem Fall schien der Autor von einer unproblematischen direkten Übertragung der im Tierversuch gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen auszugehen. Gerade die Frage der Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse vom Tier auf den Menschen war vielfach Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen Tierversuchsgegnern und Medizinern, aber auch der von Ärzten geführten methodenkritischen Diskussion (vgl. Schmiedebach 2004: 96f). In seiner Schlussfolgerung blendete der Autor in der Münchener Medizinischen Wochenschrift diesen Diskurs ebenso aus wie ein möglicherweise unterschiedliches Schmerzempfinden und verschiedene Formen der Schmerzäußerung bei Mensch und Tier. Anders als in Deutschland sah sich die Ärzteschaft in Großbritannien nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gezwungen, in eine Auseinandersetzung mit Tierversuchsgegnern einzutreten. Diese hatten 1919 den Entwurf für ein Hundeschutzgesetz ('RJV· Protection Bill) ins Parlament eingebracht, das auf ein vollständiges Verbot von Versuchen an Hunden abzielte. Die dritte und entscheidende Lesung des Gesetzes stand kurz bevor, als das British Medical Journal im April Alarm schlug (British Medical Journal 1919: 455f). Die Schriftleitung des Journals setzte sich, wie bereits vor dem Ersten Weltkrieg, an die Spitze des ärztlichen Protests und machte argumentative Front gegen die Antivivisektionisten (vgl. Bartrip 1990: 111-117). Die Gesetzesinitiative für ein 'RJV· Protection Bill war eine Überraschung für die britischen Mediziner, da die Erfolge der medizinischen Forschung während des Ersten Weltkrieges, aber auch der Kriegseinsatz der Ärzte in Forschung und Praxis für die Nation in Großbritannien zu einer positiveren öffentlichen Bewertung der medizinischen Wissenschaft geführt hatten. Auch die öffentliche Akzeptanz von Tierversuchen war 182

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gestiegen (vgl. Tansey 1994; Lawrence 2006). Den Gesetzesentwurf empfanden Mediziner, allen voran die Schriftleitung des British Medical Journal, als Missachtung medizinischer Leistungen und unzumutbare Einschränkung der Forschung (British Medical Journal 1919: 455f). Eine medizinische Wissenschaft ohne Tierversuche war für sie weder denk- noch verhandelbar. Aber auch Tierversuchskritiker erkannten die Notwendigkeit von Tierversuchen insofern an, als sie nur ein Verbot von Experimenten an Hunden forderten, als den treuesten Freunden der Menschen. Anders als in den 1870er Jahren ging es somit 1919 weniger um die Frage der Legitimation von Tierversuchen als vielmehr um die Aushandlung und Präzisierung der Bedingungen. (Lisner 2009). Hierbei ging das Journal davon aus, dass sich nicht alle Mediziner ihrer Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit in dieser Frage bewusst seien. Es klärte daher seine Leserschaft über parlamentarische Entscheidungen auf, über Positionen LQGHU Å/DLHQSUHVVH´ aber auch über Notwendigkeiten der tierexperimentellen Forschung und gab ihr Argumente zur Überzeugung medizinischer Laien und Parlamentarier an die Hand. Das Journal zielte darauf ab, einerseits eine einheitliche Positionierung innerhalb der Profession zu erreichen und andererseits Einfluss über seinen Leserkreis hinaus zu gewinnen (ebd.). Diese Abwehrstrategien waren erfolgreich und im Juni 1919 wurde der Gesetzesentwurf im Parlament mehrheitlich abgelehnt (Anonym 1919a: 356; Anonym 1919b: 23f). Ungeachtet der fachöffentlichen Auseinandersetzung mit Tierschützern berichteten auch die britischen medizinischen Wochenschriften über tierexperimentelle Forschungen. Ebenso wie in der deutschen Berichterstattung wurden die Tiere hierbei als Teil eines Versuchsaufbaus beschrieben, in welchem es der medizinischen Erkenntnis diente, sie zu verletzen und zu töten (Griffith/Buxton/Glover 1935: 451-457). Anders als in Deutschland bezogen die britischen Ärzte jedoch in der Beschreibung ihrer Versuche meist den Hinweis auf die Vermeidung von Schmerzen für die Versuchstiere mit ein. So war beispielsweise in einer Versuchsbeschreibung zur Wirkung von Gegengiften bei Schlangenbissen im British Medical Journal zu lesen:

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Å7KHIHZFDWVZKLFKZHUHSHUPLWWHd to come round from the chloroform had very small wounds ² of course, dressed antiseptically ² and showed QRHYLGHQFHRISDLQ´ 5RJHUV 

In einer anderen Versuchsbeschreibung zur Wirkung von Vitamin C auf die Heilung von Wunden betonte der Autor im Lancet, dass die verwendeten Meerschweinchen rasiert, mit Ether betäubt und erst danach ein Schnitt am Bauch gemacht wurde (Geoffrey/Bourne 1944). Hiermit reagierten die britischen Mediziner auf die Kritik der Antivivisektionisten, die Schmerzen und Qualen der Tiere bei Versuchen anprangerten und auf die gesetzlichen Vorgaben durch den Cruelty to Animals Act, der die Betäubung der Versuchstiere und eine schmerzlose Tötung vorschrieb. Darüber hinaus bezogen sie sich mit den die Schmerzlosigkeit unterstreichenden Versuchsbeschreibungen auf die in Großbritannien vorherrschende Meinung, dass der Umgang mit Tieren ein Indikator für Menschlichkeit sei. Sie betonten somit den humanen, die gesellschaftlichen Werte achtenden Charakter der Forschung (Hamilton 1992). Die Auseinandersetzungen zwischen britischer Öffentlichkeit und medizinischer Wissenschaft um Tierversuche spiegelten sich somit auch in den medizinisch-wissenschaftlichen Versuchsbeschreibungen. In Deutschland hingegen weisen die in den Wochenschriften publizierten Versuchsbeschreibungen auf fehlende fachöffentliche Auseinandersetzungsprozesse zwischen Tierversuchsgegnern und Medizinern sowie fehlende Reflexionen öffentlicher Kritik in der medizinischen Forschungspraxis hin. 1930 brachten Tierversuchsgegner die britischen Mediziner erneut in Zugzwang, als sie eine Kampagne starteten, die auf ein Verbot der Verwendung öffentlicher Gelder für Tierversuche abzielte (Anonym 1930a; Anonym 1930b). Mit dieser Forderung zweifelten sie den öffentlichen Nutzen der Versuche und die gesellschaftliche Legitimität der medizinischen Forschung an. Tierversuche gehörten Anfang der 1930er Jahre zu einem standardisierten Verfahren zur Erprobung neuer Medikamente und Techniken. So schrieben beispielsweise in Deutschland die 1931 in Folge des Lübecker Impfskandals5 LQ3UHX‰HQHUODVVHQHQÅ5LFKWOLQLHQ

5

1930 waren in Lübeck 77 von 244 gegen Tuberkulose geimpfte Säuglinge gestorben und 131 an Tuberkulose erkrankt. Dieser Skandal 184

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]XU )RUVFKXQJ DP 0HQVFKHQ´ GLH (USUREXQJ QHXHU +HLOEHKDQdlungen im Tierversuch vor. Erst danach durfte die Anwendung an Menschen erfolgen, die zuvor informiert werden und zugestimmt haben mussten (vgl. Frewer/Schmidt 2007: 253-255). In Großbritannien war ein ähnliches Verfahren üblich, wenn das auch nicht vom Gesetzgeber geregelt war (Barcroft 1934; Anonym 1940). Die zunehmende Bedeutung des Tierversuchs für die medizinische Forschung spiegelte sich in der steigenden Anzahl der vom britischen Home Office genehmigten Versuche: Während es 1927 noch rund 290.000 waren, stiegen sie 1930 auf 400.000 an (Anonym 1930c). 1930 war es The Lancet, der energisch Position ergriff und argumentierte, öffentliche Gelder müssten für Tierversuche ausgegeben werden, allein um der staatlichen Aufgabe, Medikamente zu kontrollieren und zu standardisieren, gerecht zu werden (Anonym 1930a). Diese Ansicht teilte auch das Parlament, das den eingebrachten Entwurf zu einem Hundeschutzgesetz mehrheitlich ablehnte (Anonym 1930d). Anders als noch in den Jahren zuvor berichtete das British Medical Journal nur noch wenig engagiert über Tierversuchsgegner. Aber auch The Lancet initiierte, trotz deutlichen Positionierungen gegen die Forderungen der Tierschützer keine groß angelegte Kampagne für Tierversuche. Erfolge vor allem in der Tiermedizin, etwa bei der Impfung von Hunden gegen Staupe, führten Anfang der 1930er Jahre zu einer erneuten breiten gesellschaftlichen Akzeptanz der auf Tierversuchen basierenden Forschung, wie es sie seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gegeben hatte (vgl. Tansey 1994). Britische Mediziner und mit ihnen die medizinischen Wochenschriften nahmen vielleicht daher Tierschützer nicht als Bedrohung für die medizinische Forschung und das Ansehen der ärztlichen Profession wahr und sahen entsprechend zu Beginn der 1930er Jahre keinen Handlungsbedarf, sich stärker gegen Tierschützer in Stellung zu bringen. In Deutschland begann hingegen erst zu dieser Zeit eine fachöffentliche Auseinandersetzung zur Frage der Vivisektion über das Medium medizinische Wochenschrift. Damals hinterfragten DQJHVHKHQHbU]WHLP.RQWH[WGHUÅ.ULVHGHU0HGL]LQ´7LHUYHUVu-

führte zu einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung (vgl. Ruisinger 2007: 30f). 185

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che als Forschungsmethode öffentlich.6 'LHVH Å.ULVH´ EH]RJ VLFK einerseits auf die medizinische Wissenschaft und ärztliche Praxis, GHQHQ XD YRUJHZRUIHQ ZXUGH ÅPHFKDQLVWLVFK´ ]X DUEHLWHQ XQG die Therapie nur noch auf Organe und nicht auf Menschen auszurichten. Andererseits bezog sie sich auf die professionspolitischwirtschaftliche Situation der Ärzte, die im Zuge der Verknappung finanzieller Mittel materielle Einbußen hinnehmen mussten (Klasen 1984: 46-59; Schmiedebach 2004; Frewer 2000: 34-37).7 Die Å.ULVHGHU0HGL]LQ´NRUUHVSRQGLHUWHGDEHLPLWHLQHPDllgemeinen Krisenempfinden (vgl. Föllmer/Graf/Leo 2005). Der rechtsnational eingestellte Arzt Erwin Liek forderte beispielsweise, medizinische Erkenntnisse nicht länger durch Tierversuche zu gewinnen, sondern durch Beobachtungen am Krankenbett (Schmiedebach 1989: 28f). Und selbst der renommierte Chirurg August %LHU ZDUQWH  YRU 7LHUYHUVXFKHQ GD GLHVH GLH ÅVXEMHNWLYHQ 6\PSWRPH´ YHUQDFKOlVVLJWHQ (U VSUDFK VLFK IU GHQ 6HOEVWYHrsuch des Arztes aus (Schweiger 1993: 39f). Im Juni 1932 setzte sich schließlich ein Mediziner in einer Wochenschrift mit dem Thema Vivisektion und den Argumenten der deutschen Tierschützer auseinander. Der Breslauer Arzt Georg Rosenfeld betonte in der Zeitschrift Medizinische Welt die Berechtigung des Tierschutzes, sofern das Engagement die Verbesserung GHU7LHUKDOWXQJXQGGLH3UD[LVGHV6FKODFKWHQVEHWUDI$OVŁEHrIOVVLJ´EH]HLFKQHWHHUKLQJHJHQÅGLHJDQ]H+DQWLHUXQJGHU7LHrVFKW]HUDXIGHP*HELHWHGHU9LYLVHNWLRQ´'LHVHV)HOGVROOWHQVLH ÅJHWURVWGHQbU]WHQVHOEVWEHUODVVHQ´, wobei zu seinem Bedauern auch Ärzte unter den Tierschützern zu finden seien.8 Antivivi6

7

8

Bereits zuvor hatte es Kritik von Ärzten an Tierversuchen gegeben, nur erfolgte keine Auseinandersetzung innerhalb der ärztlichen Öffentlichkeit (vgl. Schweiger 1993: 35). In Großbritannien wurde etwa zeitJOHLFK HLQH Å.ULVH GHU 0HGL]LQ´ diskutiert, die eine Kritik an der naturwissenschaftlichschulmedizinischen Forschung und Praxis beinhaltete, allerdings weniger tiefgreifend als in Deutschland war (vgl. Lawrence 2006: 268). 1927 gründete sich der Verein vivisektionskritischer Ärzte, der den ärztlichen Protest organisierte und versuchte, die Kritik durch VorWUDJVUHLKHQ XQG GLH ,QLWLDWLYH HLQH YLYLVHNWLRQVIUHLH ÅELRORJLVFK PHGL]LQLVFKH +RFKVFKXOH´ ]X JUQGHQ ZLVVHQVFKDIWOLFK ]X XQWHrmauern. Der naturwissenschaftlichen experimentellen medizini186

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sektionisten, meinte Rosenfeld, würden sich ein Urteil anmaßen, RKQH GLH Q|WLJHQ .HQQWQLVVH ]X KDEHQ ÅDXFK ZHQQ VLH VLFK DXI Ärzte stützen, die ihre Beurteilung der Tierexperimente ernsthaft GRFK QLFKW EHJUQGHQ N|QQWHQ´ 5RVHQIHOG   'DPLW VSUDFK Rosenfeld Tierschützern, vor allem den medizinischen Laien unter LKQHQGLHVLFKVHLQHU$QVLFKWQDFKRKQHKLQQXUÅZLFKWLJPDFKHQ ZROOHQ´GDV5HFKWXQGGLHQ|WLJHQ.HQQWQisse ab, Tierexperimente beurteilen zu können. Er konstruierte vielmehr einen unantastbaren Expertenstatus der Ärzte, wobei er die tierversuchskritischen Kollegen als unfähig abstempelte. Eine öffentliche Erklärung und Legitimation der Methoden medizinisch-wissenschaftlicher Forschung hielt er für überflüssig (ebd.: 899-901). Er spiegelte insofern das elitäre und wenig demokratische Verständnis der deutschen Ärzteschaft, mit dem sie eine Abgrenzung von Laien legitimierte (Raphael 1998: 235). Rosenfelds Argumentation unterschied sich damit von der seiner britischen Kollegen, die sich zwar gegen Einschränkungsversuche der Vivisektionsgegner wehrten, aber ihnen nicht das Recht und die Kompetenz absprachen, sich kritisch zum Thema zu äußern (vgl. Editorial 1919). Anders als für deutsche Mediziner war für britische eine ÅZLVVHQVFKDIWOLFKH hEHUOHJHQKHLW´ QLFKW NRQVWLWXWLY XP GHQ (rfolg ihrer Profession glaubhaft darzustellen (Weindling 1991: 204). Die Tatsache, dass sich 1932 in Deutschland überhaupt ein Arzt öffentlich mit den Argumenten der Tierschützer auseinandersetzte und sich somit auf Forderungen von Laien einließ, verweist jedoch auf Veränderungen, die sich auch in der medialen Präsentation spiegelten. Die Profession sah sich jetzt, vor dem Hintergrund der zunehmenden und an weitere gesellschaftspolitische Diskurse anknüpfenden Kritik gezwungen, eine Debatte zu führen. So griffen die Deutsche und Münchener Medizinische Wochenschrift die von der Medizinischen Welt angestoßene Auseinandersetzung in Kommentaren auf. Die Schriftleitung der Münchener Medizinischen Wochenschrift empfahl Rosenfelds Aufsatz allen ViYLVHNWLRQVNULWLNHUQ DOV )RUWELOGXQJVOHNWUH XP LKUH ÅW|ULFKWH 8QZLVVHQKHLW´DE]XOHJHQ $QRQ\P 'LH Deutsche Medizinische Wochenschrift wies mit einem Zitat von Rosenfeld auf schen Wissenschaft sollte ein alternatives Wissenschaftskonzept entgegen gesetzt werden. Zur Gründung einer solchen Hochschule kam es allerdings nicht (Schweiger 1993: 39f). 187

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professionspolitische Gefährdungen durch Antivivisektionisten hin und betonte die Notwendigkeit, sich gegen ihre Forderungen zu wehren (Steinbrinck 1932: 1310). Vor dem Hintergrund der sich verändernden politischen Verhältnisse am Ende der Weimarer Republik nahmen Mediziner und ihre Publikationsorgane die Vivisektionsgegner anscheinend als gesellschaftliche Größe wahr, welche die Autonomie ihrer Profession sowie Status und Ansehen der medizinischen Wissenschaft gefährdete.

Tierschutz, Nationalsozialismus und tierexperimentelle Forschung Etliche Tierschützer knüpften am Ende der Weimarer Republik ihre Hoffnungen an den Aufstieg der Nationalsozialisten. Das Aufgreifen und die teilweise Orientierung an lebensreformerischen ,GHHQGDV.RQ]HSWGHUÅ1HXHQ'HXWVFKHQ+HLONXQGH´XQG schließlich die von Hitler und anderen führenden Nationalsozialisten demonstrierte Tierliebe schürten diese Hoffnungen und boten den Tierschützern Anknüpfungspunkte an eigene Überzeugungen (Maehle 1996: 120f). Allerdings waren nicht alle Tierschützer dem rechten Spektrum zuzuordnen (vgl. Schweiger 1993: 14-16). Die Nationalsozialisten setzten bereits während der Zeit der Weimarer Republik geforderte und diskutierte Neuregelungen zum Tierschutz durch: Im April 1933 wurde das Schächten verboten (Eberstein 1999), im Mai folgte die Novellierung des Paragraphen zur Unterbindung von Tiermisshandlungen, der ab Juli ² zumindest in Bayern ² auch auf Tierversuche anzuwenden war, und im August 1933 verkündete Hermann Göring als Preußischer 0LQLVWHUSUlVLGHQWHLQHQ(UODVVGHUGLH9LYLVHNWLRQYRQ7LHUHQÅDlOHU $UW´ XQWHU 6WUDIH VWHOOWH YJO HEG  0DHKOH    Å:LVVHQVFKDIWOLFKH (LQJULIIH DQ 7LHUHQ GUIWHQ QDFK GHU $XIIDsVXQJGHV1DWLRQDOVR]LDOLVPXV>«@QLemals in das Belieben einzelQHUJHVWHOOWZHUGHQ´]LWLHUWHDer Jungarzt Görings im Radio übertragene öffentliche Begründung für diesen Erlass. Der Jungarzt war Ende 1933 aus dem Praemedicus, einer Beilage der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, hervorgegangen (vgl. Pollmeier 2009). Å9RONVIUHPGH :LVVHQVFKDIWOHU´ ² so Der Jungarzt weiter ² haEHQ ÅDXI GLHVHP *HELHW DXV HLJHQQW]LJHQ *UQGHQ YLHO JHVn188

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GLJW´ 6FKXPDFKHU-18). Deutlich wird hier das Motiv, Vivisektionen zu regulieren, um eine Ausrichtung medizinischer Forschung nach nationalsozialistischen staatlichen Interessen zu HUUHLFKHQ 'HXWVFKHQ DOV ÅDULVFK´ JHOWHQGHQ 0HGL]LQHUQ ZXUGH hierbei durch die Zuweisung der unerwünschten wissenschaftliFKHQ )RUVFKXQJVSUD[LV DQ ÅYRONVIUHPGH :LVVHQVFKDIWOHU´ HLQH integrierende Brücke gebaut und damit an einen bereits im 19. XQG ]X%HJLQQGHV  -DKUKXQGHUWV JHIKUWHQ Å'LVNXUV EHU GLH ÄMGLVFKH 9HUVFKZ|UXQJ· LQQHUKDOE GHU H[SHULPHQWHOOHQ :LVVHnVFKDIW´DQJHNQSIW 6DELVFKI *|ULQJV(UODVVZXUGHDllerdings bereits 14 Tage später wieder gelockert, indem der Begriff Å9LYLVHNWLRQ´QHXGHILQLHUWXQGQXUQRFKDXIGLHÅ=HUVFKQHLGXQJ GHV OHEHQGHQ XQEHWlXEWHQ 7LHUHV´ EH]RJHQ ZXUGH *|ULQJV 9Hrbot war ² wie Edeltraud Klueting ausführt ² mit den Interessen der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Forschung nicht zu vereinbaren (vgl. Klueting 2003: 84). Münchener und Deutsche Medizinische Wochenschrift berichteten nicht über diese frühen Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes zum Schutz von Tieren. Eine mögliche Ursache für das Schweigen könnte eine Verunsicherung der Schriftleitungen gewesen sein. Sie standen vor dem Problem, Loyalität zum Regime einerseits und Interessen ihrer Profession nach uneingeschränkter Forschung an Tieren andererseits zu verbinden. Bei der Deutschen Medizinischen Wochenschrift fand darüber hinaus ein personeller Wechsel innerhalb der Schriftleitung statt. Zum 1. April 1933 musste der langjährige Schriftleiter Paul Wolff aufgrund seiner jüdischen Abstammung das Amt niederlegen.9 Damit entließ die Deutsche Medizinische Wochenschrift Paul Wolff bereits vor dem ,QNUDIWWUHWHQ GHV Å6FKULIWOHLWHUJHVHW]HV´ LP 2NWREHU  GDV

9

Aufgrund fehlender Quellen konnte nicht geklärt werden, unter welchen Umständen er die Schriftleitung verließ, ob er entlassen wurde oder auf Druck seiner Kollegen oder des Verlages ging. Reinhard van den Velden führte mit dem neu eingesetzten Radiologen Artur Pickhahn die Schriftleitung bis 1939 weiter. Im Gegensatz dazu blieb die Besetzung der Schriftleitung der MMW unverändert (vgl. Pollmeier 2008). 189

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Å1LFKW-$ULHU´ XQG SROLWLVFK 8QOLHEVDPH YRP 6FKULIWOHLWHUSRVWHQ ausschloss (Schriftleitergesetz 1988).10 Erst als im November 1933 das Reichstierschutzgesetz erlassen ZXUGHJULIIHQGLH:RFKHQVFKULIWHQGDV7KHPDÅ7LHUVFKXW]´ZLeder auf. Das Reichstierschutzgesetz war das erste für das gesamte Reichsgebiet gültige, umfassende Gesetz zum Schutz von Tieren. Ähnlich wie der britische Cruelty to Animals Act reglementierte es Tierversuche und stellte sie unter staatliche Kontrolle. Schmerzhafte und schädigende Eingriffe an lebenden Tieren zu Versuchs]ZHFNHQZXUGHQGXUFKGDV*HVHW]YHUERWHQZREHLÅQRWZHQGLJH´ wissenschaftliche Experimente für lizenzierte Institute und Labore erlaubt blieben. Auf eine Betäubung der Versuchstiere durfte nach dem Gesetz nur verzichtet werden, wenn die Narkotisierung mit dem Versuch nicht zu vereinbaren war. Hunde, Katzen, Pferde und Affen waren möglichst nicht für Versuche zu verwenden.11 Im Vergleich zum britischen Gesetz ließ das Reichstierschutzgesetz den lizenzierten Instituten einen größeren Handlungsspielraum. Versuche an Hunden, Katzen, Pferden und Affen mussten beispielsweise nicht gesondert beantragt werden und Versuche für Å%HODQJHGHU5HFKWVSIOHJH,PSIXQJHQXQG%OXWHQWQDKPHQ´EOLeben ohne Einschränkungen erlaubt.12 Die Münchener Medizinische Wochenschrift vertrat in einem Kommentar vom Dezember 1933 den Standpunkt, die Ärzteschaft könne mit dem Gesetz leben. Die gesetzliche Voraussetzung für die Genehmigung zur Durchführung von Tierversuchen in der Medizin sei per se durch den generellen Nutzen der mediziniVFKHQ)RUVFKXQJIUGLHÅ9RONVJHVXQGKHLW´HUIOOW $QRQ\P 1959). Die Deutsche Medizinische Wochenschrift veröffentlichte erst im April 1938 einen ² dann gleich sechs Seiten umfassenden ² Kommentar zum Reichstierschutzgesetz. Grundsätzlich stellte der Autor darin ein Lebensrecht von Tieren fest, das vom Menschen an10 $OV´%HDXIWUDJWHUGHV5HLFKVlU]WHIKUHUVIUGLHPHGL]LQLVFKH)DFhSUHVVHµ NRQWUROOLHUWH .XUW .ODUH DE  DXFK 6FKULIWOHLWHU GHU DMW) die medizinischen Zeitschriften (vgl. Kröner 2000). 11 Reichstierschutzgesetz vom 24. November 1933. Reichsgesetzblatt, I, Nr. 132, 1933, S. 987-989 (abgedruckt und kommentiert in: ReichsTierschutzbund 1933). 12 Cruelty to Animals Act §§ 9; 14; Reichstierschutzgesetz 1933, §§ 7, Abs. 1-8; 8. 190

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erkannt werden müsse. Tierversuche seien jedoch für die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Forschung nötig. Der Tierversuch sei, hieß es weiter, nur im Hinblick auf den zu erwDUWHQGHQ *HZLQQ DQ ÅVR]LDOHQ *HVXQGKHLWVJWHUQ´ IU ÅKHiOXQJVIlKLJH´0HQVFKHQXQG7LHUH]XUHFKWIHUWLJHQDEHUQLHÅZeJHQ GHU :LVVHQVFKDIW DQ VLFK´ 1HXSHUW  -614; 647-649). Der Kommentator stellte den Anspruch an Wissenschaft, nicht zum Selbstzweck zu arbeiten, sondern unter dem für die NS*HVXQGKHLWVSROLWLN ]HQWUDOHQ $VSHNW GHV Å/HLVWXQJVSULQ]LSV´ IU GDVÅ|IIHQWOLFKH:RKO´ YJO6‰-40). Damit lehnte er sich an die Auffassung Hitlers an, der Tiere zwar als schützenswert bezeichnete und Vivisektionen ablehnte, aber Tierversuche für den Fortschritt der deutschen Forschung als notwendig erachtete (Klueting 2003: 84f). Das Reichstierschutzgesetz kann als ein Instrument zur Politisierung der medizinischen Wissenschaft ² im Kontext der Politisierung der Medizin und des Gesundheitswesens (Süß 2003) ² im nationalsozialistischen Sinne interpretiert werden. Es setzte den Anspruch an Wissenschaft durch, unter den Prämissen des Å:RKOV´GHV16-6WDDWHVXQGGHVÅ9RONVN|USHUV´]XDUEHLWHQ9RQ Forschern wurde erwartet, eine Relevanz der Versuche nicht nur IUGLHPHGL]LQLVFKH:LVVHQVFKDIWVRQGHUQDXFKIUGDVÅ|IIHQWOiFKH :RKO´ ]X EHJUQGHQ 8QLYHUVLWlWHQ XQG ,QVWLWXWH EHQ|WLJWHQ nun eine Genehmigung zur Durchführung von Tierversuchen. In gewisser Weise verschaffte der NS-Staat den lizenzierten Instituten so eine Monopolposition und ermöglichte die Einschränkung YRQ)RUVFKXQJLQ,QVWLWXWHQGHUHQ/HLWHUDOVÅXQ]XYHUOlVVLJ´HLngestuft wurden. Das Reichstierschutzgesetz setzte der bisherigen Autonomie der Mediziner in der Forschung Grenzen. Die medizinischen Wochenschriften signalisierten mit ihren Kommentaren eine Akzeptanz des Gesetzes und damit der staatlichen Kontrollmöglichkeiten medizinischer Forschung. Zugleich untersagte das Reichstierschutzgesetz einen unabhängig organisierten Tierschutz und unterband damit die Möglichkeit einer breiteren öffentlichen Kritik an den staatlich lizenzierten und kontrollierten Tierversuchen. In einem Kommentar, abgedruckt im Deutschen Ärzteblatt, dem Organ der deutschen Ärzteschaft, hieß es dazu: Öffentliche Auseinandersetzungen mit GHU)UDJHGHUÅZLVVHQVFKDIWOLFKHQ9HUVXFKHDQOHEHQGHQ7LHUHQ´² der Begriff Vivisektion sollte, da er negative Assoziationen weck191

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te, nicht mehr verwendet werden ² seien überflüssig geworden. Tierschutz sei nun Aufgabe des nationalsozialistischen Staates. 'DKHU N|QQWHQ 7LHUIUHXQGH VLFKHU VHLQ ÅGDVV MHGH XQQ|WLJH 7LHrquälerei auf diesem Gebiet verhindert wird und die Versuche nur in dem Umfang stattfinden, als sie zum Wohle der Menschheit noch XQHQWEHKUOLFKVLQG´ *LHVH=VFKLHVFKH  Das Reichstierschutzgesetz schuf einen neuen gesetzlichen Rahmen für Tierversuche ohne diese zu verhindern und schloss zugleich öffentliche und soziale Aushandlungsprozesse über die Ausgestaltungen der medizinischen Experimentalkultur, insbesondere moralisch-ethischer Fragen, aus. Diese Prozesse wurden in gewisser Weise verstaatlicht. Die Berichterstattung in den medizinischen Wochenschriften dokumentierte Ende der 1930er Jahre die Selbstverständlichkeit, mit deU 0HWKRGH Å7LHUYHUVXFK´ ]X DUEHLWHQ XQG GLH (UJHEQLVVH EHUGDV0HGLXPÅ:RFKHQVFKULIW´]XYHU|IIHQWOLFKHQ13 Auffällig ist allerdings, dass die 1939 publizierten Versuchsbeschreibungen im Gegensatz zu den im Jahr 1933 abgedruckten nun meist auf die gesellschaftliche, gesundheitspolitische oder militärische Relevanz des Versuchs hinwiesen. Seinen Versuch zu Vergiftungen durch dem Treibstoffbenzin beigemischten Bleitetraäthyl an Hunden begründete beispielsweise 1939 ein Autor der Deutschen Medizinischen Wochenschrift nicht nur mit dem Verweis auf die immer wieder vorkommenden Vergiftungsfälle beim Menschen, sondern DXFKPLWGHUP|JOLFKHQ1XW]XQJDOV.DPSIVWRII(UVFKULHEÅ:egen seiner großen und heimtückischen Giftwirkung wurde auch schon erwogen, das BT [Bleitetraäthyl] als Kampfstoff zu verwenGHQ´ /DYHV  Offenbar nahmen forschende Mediziner die Regelungen des Reichstierschutzgesetzes insofern ernst, als sie die Versuche nun mit einem gesellschaftlichen Nutzen begründeten (vgl. auch z.B. 13 Die Zahl der Tierversuche beschreibenden Originalartikel war 1939 mit 14 im ersten Halbjahr geringer als noch 1933 mit 29 im gleichen Zeitraum. Dies muss nicht zwangsläufig auf einen Rückgang der tatsächlich vorgenommenen Versuche hindeuten, wie dies Daniel Jütte nahe legt (vgl. Jütte 2002). Die verringerte Anzahl 1939 könnte auch dem Trend geschuldet sein, im Kontext der Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Medizin originäre Artikel in Fachzeitschriften und weniger in Wochenschriften zu veröffentlichen (vgl. Rüve 2009). 192

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Klose 1942: 681).14 Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden vermutlich auch aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen zur staatlichen Forschungsförderung Verweise zur Kriegswichtigkeit der Versuche in den Beschreibungen immer zentraler (z. B. Lepel 1944). In Großbritannien veränderte sich ebenfalls seit Mitte der 1930er Jahre die mediale Präsentation des jahrzehntelangen StreitWKHPDV Å9LYLVHNWLRQ´ LQ GHQ PHGL]LQLVFKHQ :RFKHQVFKULIWHQ Tierschützer machten Zugeständnisse. Selbst das General Hospital im Londoner StadWWHLO %DWWHUVHD HLQHU Å+RFKEXUJ´ GHU $QWLYLYLsektionisten (vgl. Lansbury 1985), das sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geweigert hatte, auf Tierversuchen basierende Medikamente oder Therapien anzuwenden, räumte ein, diese Praxis sei nicht länger durchzuhalten. Zufrieden schrieb The Lancet 1935: Å7KH KRVSLWDO FODLPHG WR EH D ÄYLVLEOH SURWHVW DJDLQVW WKH GHPRUDOLVLQJ SUDFWLFH RI SHUIRUPLQJ DQ\ H[SHULPHQWV XSRQ DQLPDOV· WKH UHVXOWV RI WKRVH H[SHULPHQWV ZHUH GHVFULEHG DV ÄGDQJHURXV PLVOHDGLQJ DQG RpSRVHG WR DOO WUXH SURJUHVV· 7KHVH SURWHVWV DQG GHVFULSWLRQV KDYH EHHQ IUDQNO\ ZLWKGUDZQ D FKDSWHU LV FORVHG DQG D KDSSLHU FKDSWHU RSHQV´ (Anonym 1935: 1245).

'DV 7KHPD Å9LYLVHNWLRQ´ YHUVFKZDQG GDPLW NHLQHVZHJV DXV GHU Öffentlichkeit, verlor aber offenbar für die medizinische Profession immer mehr an Brisanz. Im März 1937 bemerkte die Schriftleitung des Lancet, Tierversuche würden immer und immer wieder mit den gleichen Argumenten kritisiert. Anstatt eine neue eigene Argumentation aufzubauen, empfahl sie daher nur noch, die vorhandene Literatur zu lesen (Anonym 1937). Und zwei Jahre später resümierte die Schriftleitung des British Medical Journal in einem Å/HDGLQJ$UWLFOH´GDVVLP*HJHQVDW]]XP-DKUKXQGHUWÅKHuWH´NHLQ$U]WGLHGXUFKGDV Cruelty to Animals Act vorgeschriebenen Kontrollen mehr als hinderlich betrachten würde, um Forschung zu legitimieren (Anonym 1939).

14 Die Entdeckung und Notwendigkeit der Verwendung des Xenopus (eine Froschart) als neues Versuchstier zum Schwangerschaftsnachweis wurde hingegen lediglich mit der Möglichkeit einer schnelleren und einfacheren Durchführung begründet. Vgl. Sachs 1939. 193

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Kriegsforschungen: V o m T i e r - z u m M e n s c h e n ve r s u c h ? Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verschob sich ² laut dem 1940 im Lancet veröffentlichten Bericht des Medical Research Council15 ² in Großbritannien der Fokus der medizinischen Forschung DXI ÅNULHJVUHOHYDQWH´ %HUHLFKH EH]LHKXQJVZHLVH ZXUGHQ GLH (rgebnisse der Forschungen zu Friedenszeiten nun auf Kriegsverhältnisse und -erfordernisse bezogen (Medical Research Council 1940). Der Medical Research Council übernahm hierbei eine steuernde Funktion und benannte 1940 in seinem Jahresbericht Prioritäten in der medizinischen Forschung. So sollten beispielsweise kriegswichtige Medikamente wie Sulfonamide produziert werden, die es ursprünglich nur auf dem Festland gab (Ebd.). Die Schriftleitung des Lancet YHUZLHV LQ HLQHP Å/HDGLQJ $UWLFOH´ Hrgänzend auf die neuen sich durch den Krieg bietende Möglichkeiten der medizinischen Forschung. Unter dem TitHO Å0HGLFDO 5eVHDUFKMXVWQRZ´VFKULHEVLH Å6KRXOG ILJKWLQJ UHDOO\ EHJLQ WKHUH ZLOO EH DPSOH RSSRUWXQLW\ IRU Dssessing the value of prophylaxis or treatment with sulphonamide compounds in gas-gangrene, staphylococcal, and other infections which are difILFXOWWRHVWLPDWHH[SHULPHQWDOO\LQDQLPDOV´ 7KH/DQFHW 

Gerade auch mit Blick auf die Forschungserfolge während des Ersten Weltkrieges sah The Lancet im Krieg neue Chancen für die medizinische Forschung und versuchte, die Ärzteschaft hierfür zu begeistern. Dabei betonte die Schriftleitung vor allem die sich bietenden Möglichkeiten, Medikamente und Heilbehandlungen an einer größeren Anzahl von Kriegsverletzten zu erproben. Damit benannte sie auch die Grenzen von Tierversuchen und die Notwendigkeit, beispielsweise Medikamente nach Erprobung im Tierversuch an Menschen zu testen. Vier Monate später bekräftigte The Lancet GLHVH3RVLWLRQLQHLQHP$UWLNHOXQWHUGHP7LWHOÅ0LFH DQG0HQ´LQGHPDXIGLH1RWZHQGLJNHLWGHUhEHUWUDJXQJGHULP 15 Der Medical Research Council ist eine der wichtigsten britischen Forschungsorganisationen im Bereich Medizin. Er wurde 1913 als Medical Research Committee ins Leben gerufen und 1920 in Medical Research Council umbenannt. (http://www.mrc.ac.uk/ About/History/index.htm, letzter Zugriff: 07.10.2009). 194

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Tierversuch gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen hingewiesen wird. Zugleich mahnte The Lancet allerdings zur Vorsicht und wies auf die Unterschiede zwischen Mensch und Tier beispielsweise bei der Verträglichkeit von Medikamenten hin. Gesunder Menschenverstand, als auch Vorsicht bei der Interpretation der Tierexperimente und ihrer Anwendung an Menschen sei JHERWHQ IRUGHUWH GLH 6FKULIWOHLWXQJ Å&RPPRQ VHQVH DV ZHOO DV caution is required in the interpretation of animal experiment and LWVDSSOLFDWLRQWRPDQµ $QRQ\P 1940: 1054). Mediziner, Forscher und mit ihnen die Wochenschriften rüsteten für den Krieg und bereiteten sich auch auf die Anwendung von in Tierversuchen entwickelten Medikationen und HeilbeKDQGOXQJHQDQ0HQVFKHQLQHLQHUÅ0DVVHQNULHJVVWXGLH´YRU)Uagen etwa nach der Notwendigkeit und Nützlichkeit von Tierversuchen, nach der Schmerzfreiheit oder danach, ob Hunde als treue Freunde des Menschen von medizinischen Versuchen verschont bleiben sollten, wurden jetzt nicht mehr in den britischen Wochenschriften thematisiert. Ebenso wenig gab es öffentliche Auseinandersetzungen mit Tierschützern und ihren Argumenten. Allerdings wurde vor einer zu unreflektierten Übertragung der Tierversuchsergebnisse auf den Menschen fachintern gewarnt. Die britischen Wochenschriften reflektierten damit fachöffentlich die 0HWKRGHÅ7LHUYHUVXFK´PLWLKUHQ9RUWHLOHQXQG*UHQ]HQLP.Rntext der Kriegsgegebenheiten und -erfordernisse. Die Schriftleitungen der deutschen Wochenschriften initiierten demgegenüber keine fachöffentliche Reflexion der Methode Å7LHUYHUVXFK´$UWLNHOZLHMHQHUYRQ(XJHQ+DDJHQDXVGHP5obert Koch-Institut in Berlin,16 in dem er die Notwendigkeit von Tierversuchen für die Bekämpfung von Viruskrankheiten darlegte, schrieben vielmehr eine Erfolgsgeschichte des Tierversuchs. Allerdings benannte Haagen dabei auch die methodische Schwierigkeit, zu untersuchende menschliche Krankheiten experimentell in Tieren zu erzeugen (Haagen 1941: 468). Aufgrund einer fehlenden fachöffentlichen Auseinandersetzung mit der Methode des

16 Eugen Haagen (1898-1972) war seit 1936 Abteilungsleiter im Robert Koch-Institut, wechselte 1941 an die NS-Kampfuniversität Straßburg. 1954 wurde er zu 20 Jahren Zwangsarbeit wegen der Durchführung verbrecherischer Menschenversuche verurteilt, aber bereits 1955 begnadigt. (vgl. Klee 2005: 213) 195

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Tierversuchs blieb es den Autoren in den deutschen Wochenschriften selbst überlassen, eine Methodenkritik in ihre Versuchsbeschreibung zu integrieren. Während beispielsweise in einem $XIVDW]PLWGHP7LWHOÅ7LHULVFKH+\SQRVHDPPHQVFKOLFKHQ.LnGH´ GDYRQ DXVJegangen wurde, dass Kleinkinder problemlos in ähnlicher Weise und aus ähnlichen Gründen wie Tiere zu hypnotisieren seien (Peiper 1939), wies Eugen Gildemeister, damals Vizepräsident des Robert Koch-Instituts in Berlin,17 in seinem Aufsatz zur Serumbehandlung der Kinderlähmung auf die Schwierigkeiten bei der Übertragung tierexperimenteller Versuchsergebnisse auf Menschen hin. Er forderte daher weitere klinische Beobachtungen der Serumbehandlungen und eine Überprüfung der Seren an Menschen (Gildemeister 1939). Im Juli 1942 beschränkte in Deutschland ein Erlass des Reichsministers des Innern die Anzahl der Tierversuche, wie die Deutsche Medizinische Wochenschrift berichtete (Anonym 1942: 802). Aufgrund der kriegsbedingten erschwerten Beschaffung von Futtermitteln und der eingeschränkten Transportmöglichkeiten war es zu einer Verknappung der Versuchstiere gekommen (Weß 1992: 38-61). Einige Institute, wie etwa das staatliche Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt, sahen sich daher außerstande, ihre Forschungen in vollem Umfang aufrechtzuerhalten.18 Um diesen Mangel aufzufangen und um kriegswichtige Forschungen nicht zu gefährden, sollten auf Tieren basierende seuchendiagnostische Untersuchungen und Schwangerschaftsreaktionen nur noch in Ausnahmen durchgeführt werden. Weiter wurden die Institute gehalten, eigene Zuchten anzulegen oder Züchter vor Ort zu finden, um längere Transporte der Tiere zu vermeiden (Anonym 1942: 802). Als eine Reaktion der Profession, mit dem Versuchstiermangel umzugehen, dokumentieren die Wochenschriften Versuche, bei denen es darum ging, Diagnosen mit Hilfe von Nährbodenreaktionen zu stellen (Themann 1944). Allerdings konnten diese Maßnahmen den Mangel an bestimmten Versuchs-

17 Eugen Gildemeister (1878-1945) war ab 1935 Direktor des Robert Koch-Instituts und ab 1942 Präsident. Zudem war er Vizepräsident des Reichsgesundheitsamtes. (vgl. Klee 2005: 184) 18 Schreiben von Prof. Otto aus dem Staatlichen Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt an den Reichsminister des Innern vom 29.8.1944. In: Bundesarchiv Berlin, R86/4153. 196

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tieren offenbar nicht beheben (vgl. Weß 1992). So ging Richard Otto, der Leiter des staatlichen Instituts für experimentelle Therapie in Frankfurt, 1944 dazu über, den Wert von Fleckfieberimpfstoffen statt an Meerschweinchen an Wehrmachtssoldaten zu testen.19 Mit dem zunehmenden Mangel an Versuchstieren wurde offenbar eine Notwendigkeit für Versuche an Menschen begründet. Wie die Beiträge von Gildemeister (Gildemeister 1939) und Haagen (Haagen 1941) in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift oder der Artikel der Schriftleitung des Lancet (Anonym 1942) zeigten, setzten sich deutsche und britische Mediziner bereits seit Beginn des Zweiten Weltkrieges mit den Grenzen der Methode des Tierversuchs fachöffentlich auseinander. Hierbei unterschieden sich jedoch die Diskussionsformen. In Großbritannien wurden die sich durch den Krieg anbietenden neuen Forschungsmöglichkeiten an Kriegsverwundeten benannt und damit zur Diskussion gestellt. In den deutschen Wochenschriften fand hingegen kein direkter Austausch hierüber statt. Festzustellen ist aber in den 1940er Jahren eine Zunahme von Beiträgen, in denen Ärzte aus der klinischen, fachärztlichen, militärischen und niedergelassenen Praxis über ihre Erfahrungen mit bestimmten MedikamenWHQXQG7KHUDSLHQEHULFKWHWHQGLHVLHDQKDQGYRQÅYRUKDQGHQHP .UDQNHQPDWHULDO´6ROGDWHQ=ZDQJsarbeitern und -arbeiterinnen, Kriegsgefangenen, Lagerinsassen, Umsiedlern und Zivilisten sammeln konnten (z. B. Z.B. Wohlrab/Patzer 1944; Krieger 1944; Hofmann 1944; Bingold 1944). Der Anstieg dieser Beiträge blieb in den ausgewerteten Quellen unkommentiert. In der Münchener Medizinischen Wochenschrift nahm zeitgleich die Anzahl der Aufsätze zu tierexperimentellen Forschungen ab.20

19 Schreiben von Otto an den Reichsminister des Innern, 29.8.1944 und Genehmigung des Reichsministers des Innern, 31.10.1944. In: Bundesarchiv Berlin, R 86/4153. 20 1939 veröffentlichte die MMW im ersten Halbjahr noch 11 Originalartikel, in denen Tierversuche beschrieben wurden. 1944 waren im gleichen Zeitraum nur zwei Artikel zu finden. Die DMW publizierte hingegen im ersten Halbjahr 1944 noch 8 Originalartikel, in denen über tierexperimentelle Forschungen berichtet wurde. 197

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Fazit Tierversuche waren seit Mitte des 19. Jahrhunderts integraler Bestandteil medizinischer experimenteller Forschung. Deutsche und britische medizinische Wochenschriften trugen durch wiederholte Berichterstattung über tierexperimentelle Forschungen und das Referieren eines auf Tierversuchen basierenden Forschungsstandes dazu bei, die Methode als Teil ärztlicher Forschungsnormalität und eines standardisierten Verfahrens zur Erprobung von Arzneistoffen, Techniken und Therapien zu verstetigen. Die Wochenschriften vermittelten damit auch die in der medizinischen )RUVFKXQJHQWZLFNHOWHQÅ([SHULPHQWDONXOWXUHQ´:LHGLH%HULFKterstaWWXQJ ]XP 7KHPD Å9LYLVHNWLRQ´ ]HLJW VWDQGHQ MHGRFK GLH ethischen Grenzen in den Wissenschaften ² gerade in Phasen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umbruchs ² zur Diskussion und wurden auch im medialen Raum der medizinischen Wochenschriften anhand GHV7KHPDVÅ7LHUYHUVXFK´PLW%OLFNDXIGLH jeweilige Öffentlichkeit und politische Situation thematisiert. In Großbritannien fanden diese Auseinandersetzungsprozesse EHU GDV 0HGLXP ÅPHGL]LQLVFKH :RFKHQVFKULIW´ LQ GHU )DFK|ffentlichkeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges als Reaktion auf eine politisch durchsetzungsstarke Tierschutzbewegung statt. Auch wenn britische Mediziner hierbei die Argumente der Tierversuchsgegner ablehnten und sich gegen Einschränkungsversuche wehrten, nahmen sie die Position der Tierschützer doch wahr und ernst, indem sie diese diskutierten. In Großbritannien kann insofern für die Zwischenkriegszeit von einem Aushandlungsprozess der ethischen Grenzen medizinischer Forschung zwischen medizinischer Wissenschaft, ärztlicher Profession und Öffentlichkeit gesprochen werden, der sich auch in den Versuchsbeschreibungen der Mediziner spiegelte. In Deutschland hingegen fand eine fachöffentliche Auseinandersetzung kaum statt. Erst am Ende der Weimarer Republik, als sich die an politischem Einfluss gewinnenden Nationalsozialisten LP.RQWH[WGHUÅ.ULVHGHU0HGL]LQ´IUGLHVHV7KHPDHLQVHW]WHQ begann eine kurze Auseinandersetzungsphase. Diese war jedoch eher auf eine Abwehr und Abwertung der Kritiker und ihrer Argumente ausgerichtet. Auffällig sind auch die Unterschiede in der Kommunikationsstruktur britischer und deutscher medizinischer Wochenschriften: 198

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Während in den britischen Zeitschriften in eigens dafür vorgesehenen Rubriken über parlamentarische Debatten und Entscheidungsfindungsprozesse berichtet wurde, informierten die deutschen lediglich ohne Diskussionsprozesse aufzuzeigen. Die britischen Wochenschriften spiegelten insofern demokratische Prozesse wider und förderten die Meinungsbildung. Die deutschen Wochenschriften agierten demgegHQEHU HKHU DOV ÅXQVLFKWEDUH´ Vermittler, wobei politische Prozesse und kontroverse Meinungen kaum gespiegelt wurden. Medizinische Wochenschriften sind hierbei nicht nur als ein medialer Raum zu bezeichnen, in dem Diskussionsprozesse zwischen medizinischer Wissenschaft, ärztlicher Profession, Öffentlichkeit und Politik gespiegelt wurden; vielmehr agierten sie auch als Akteure. Insbesondere die britischen Fachmedien inszenierten sich als Autoritäten in medizinischen, ethischen und professionspolitischen Fragen. Im Gegensatz zur Annahme des eingangs zitierten Leserbriefes im Lancet von 1986 konnte gezeigt werden, dass Tierversuche in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus nicht grundsätzlich verboten waren. Vielmehr wurden sie einer stärkeren staatlichen Kontrolle unterstellt, einhergehend mit der GleichVFKDOWXQJGHU7LHUVFKXW]YHUElQGHXQGGHUÅ9HUVWDDWOLFKXQJ´GHV Tierschutzes. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde jedoch in den medizinischen Wochenschriften zunehmend die Übertragbarkeit tierexperimenteller Forschungsergebnisse auf Menschen thematisiert. Damit wurden nicht nur die Grenzen der Methode Å7LHUYHUVXFK´ DXIJH]HLJW VRQGHUQ DXFK DXI HLQH NULHJVEH]RJHQH 9HUlQGHUXQJ GHU Å([SHULPHQWDONXOWXU´ YHUZLHVHQ :lKUHQG LQ Großbritannien das Risiko der Übertragbarkeit der Tierversuchsergebnisse auf den Menschen fachöffentlich erörtert wurde, unterblieb in den deutschen Fachmedien eine solche Abwägung. Die deutschen Wochenschriften ² vor allem die Deutsche Medizinische Wochenschrift ² publizierten vielmehr Aufsätze, in denen eine Erprobung von Medikamenten und Heilbehandlungen an Menschen gefordert und somit der gedankliche Schritt von der tierexperimentellen Forschung zu Versuchen an Menschen verkleinert und eine Notwendigkeit für diese Versuche erzeugt wurde. Einige der Autoren, die in den Wochenschriften die Frage nach der Übertragbarkeit tierexperimenteller Forschungsergebnisse auf Menschen stellten, wie Eugen Gildemeister und Eugen Haagen, waren an der Initiierung und Durchführung verbrecherischer Men199

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schenversuche in Konzentrationslagern beteiligt. Vor diesem Hintergrund wäre weiter zu untersuchen, inwiefern die medizinischen Wochenschriften im Nationalsozialismus durch ihre Berichterstattung zur diskursiven Verschiebung der Grenzen medizinischer Forschung beitrugen.

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ÄDas sind Höllenschmerzen! ³ Das Sprechen über den Schmerz als kulturelle Bindung GERNOT WOLFRAM

6lW]H ZLH ÅIch KDEH K|OOLVFKH 6FKPHU]HQ´ RGHU ÅMein Kopf schmerzt, als würde jemand mit dem Hammer gegen die SchädelGHFNHVFKODJHQ´ sind jedem vertraut, der schon einmal ein intensives körperliches Schmerzerleben verspürt hat. Es sind deutliche und dennoch längst vertraute, vielleicht auch verbrauchte Beschreibungen für die Innenräume des Schmerzes, zugleich Beispiele für ihre sonderbaren metaphorischen Strategien. Der folgende Beitrag widmet sich aus kulturwissenschaftlicher Sicht der Frage: Ab wann werden die in solchen Bildern angesprochenen Vergleiche und Orte existentiell, ab wann nehmen sie neue Bedeutungen und Prioritäten an? Und welchen kulturspezifischen Charakter haben Bilder, mit denen über Schmerz gesprochen wird?1 Über Schmerz zu sprechen heißt demnach: erfinden, um Genauigkeit herzustellen. Nicht-Beschreibbares in Bilder zu übersetzen, die präzise genug sind, um beim anderen ein Gefühl aufzurufen, das nicht nur Verständnis, sondern auch Ein-Sicht in einen 1

Freilich müsste hier klar unterschieden werden zwischen dem Sprechen über körperlichen und psychischen Schmerz. Da sich der Beitrag jedoch auf die sprachliche Dimension des Schmerzerlebens konzentriert, wird hier keine Trennlinie gezogen, da der Fokus auf GHU 9HUZHQGXQJ GHU 9RNDEHO Å6FKPHU]´ XQG ihrer sprachlichen Kontexte liegt, die eben häufig beide Ebenen vermischen und bewusst ihre Unschärfe als besondere Qualität nutzen. 209

GERNOT W OLFRAM

mentalen wie körperlichen Zustand bedeutet. Schmerz benötigt in dieser Perspektive verschiedenste Formen der Sprache, um sichtbar werden zu können. Jeder, der schon einmal mit einem diffusen körperlichen Schmerz im Wartezimmer einer Arztpraxis gesessen hat, kennt diese Überlegungen: Wie werde ich dem Arzt das mir selbst Unklare schildern, wie ihm möglichst genau nahe bringen, wie ich mich fühle. Patientensätze beginnen häufig mit Formulierungen wie Å,FKKDEHGDV*HIKOGDVV«´RGHUÅIch bin mir nicht sicher, DEHUHVLVWPLUDOVRE«´'DVVLQGJOHLFKVDPHLQOHLWHQGH(QWVFKXOdigungen, die eben nicht nur entschuldigen wollen, dass man sich unsicher fühlt, sondern auch, dass man in der Folge in den Raum metaphorischen Sprechens eintreten wird, um sich verständlich zu machen. Ich möchte hier zunächst den Satz einer Schmerzbeschreibung aus der Klinikpraxis vorstellen. Er stammt von einer 62-jährigen an Krebs erkrankten Frau, von Beruf Schauspielerin und Rezitatorin, die mit dieser Diagnose mitten aus einer Auftrittstournee gerissen wurde und plötzlich mit diffusen Wahrnehmungen von Schmerzen und Ängsten zu kämpfen hatte. ÅIch weiß nicht, aber ich habe das Gefühl, über meinem Kopf würden lauter kleine Ameisen rennen, eine Armee von hungrigen Ameisen, die mit ihren kleinen Füßchen überall sind und rasend schnell zu laufen EHJLQQHQ´2,

erklärte sie das Kribbeln auf der Kopfhaut, das vor der Einlieferung ins Hospital ihren schweren Schmerzattacken im Rücken vorausging. Es lohnt sich, hier genauer hinzusehen und sich die Frage zu stellen, welche spezifischen Informationen der Vergleich liefert. Das Bild der winzigen kleinen Tiere aus einem Ameisenhügel, die einem scheinbar unaufhaltsamen Programm des organisierten Laufens und Rennens folgen, ist sehr präzise. Zum einen erfährt 2

Originalzitat einer Patientin, die mit einem Magentumor ins Hospital eingeliefert wurde. Patientengespräch mit Lore Z. am 22. Dezember 2008 im Marienhospital Stuttgart. Im Rahmen einer qualitativen Befragung wurden 15 Interviews mit Krebspatienten unterschiedlichen Alters durchgeführt. Die Befragung gehört zu einem Forschungsprojekt der Hochschule Kufstein (Tirol) zum ThemenkomSOH[Å(U]lKOHQLQ([WUHPVLWXDWLRQHQ´ 210

Ä'AS SIND HÖLLENSCHMERZEN³

der Zuhörer den sinnlichen Eindruck von tausenden kleinen Ameisenfüßen, die sich des Kopfes bemächtigen. Zudem erweitert VLFKGXUFKGDV:|UWFKHQÅKXQJULJ´GHU9HUJOHLFK]XHWZDV8QJHheuerlichem. Plötzlich werden aus den Ameisen bedrohliche Wesen, die sich wie unberechenbare Feinde benehmen und aus ihrem Hügel Bedrohungen heranschleppen. Der Zuhörer kann sich, ähnlich wie bei Haikus, japanischen Kurzgedichten, in das Bild hineinbegeben, ohne sich sofort begrifflichen oder logischen Überlegungen auszusetzen. Das Bild liefert ihm Bewegungen, Geräusche, Atmosphären, deren Nachvollziehen für den Erzähler wie für den Zuhörer etwas Befreiendes haben kann. Diagnostisch ist das vielleicht nur am Rande hilfreich, aber zu-hörend erhellt es einen ganzen Zustand. Es erhellt einen symbolischen Ort.

Schmerz und Metapher Metaphorisches Sprechen im Zusammenhang mit Schmerzen ² so möchte ich es in einer ersten These festhalten ² lebt von der Überzeugung, dass das metaphorische Bild deutlicher beschreiben kann als jede andere Beschreibungsstrategie, was im inneren Erleben des Schmerzempfindenden vor sich geht. Eben weil im Sprecher häufig schon das Bewusstsein vorhanden ist, nur einen Ersatz liefern zu können für das Nicht-Mitteilbare und weil er verstrickt ist in der Unmöglichkeit, den realen Schmerz jemand anderem vorzuzeigen, sind Bilder so präzise, so komplex und voller wertvoller Auskünfte. Die hier gemeinten Bilder, so lässt sich die These fortführen, rufen immer wieder reale oder fiktive Orte auf, um deutlich zu machen, dass Schmerzen in einer spezifischen Form des Verborgenen erlebt werden. Dieses Verborgene versucht das metaphorische Sprechen sichtbar zu machen. Dazu gehört auch die alte Vorstellung des wieder Heil-Werdens durch das Erzählen. Walter Benjamin weist in seiner kleinen 6NL]]HÅ(U]lKOXQJXQG+HLOXQJ´IROJHQGHUPD‰HQGaraufhin: Å'LH+HLOXQJGXUFK(U]lKOXQJNHQQHQZLUVFKRQDXVGHQ0HUVHEXUJHU Zaubersprüchen. [«] Auch weiß man ja, wie die Erzählung, die der Kranke am Beginn der Behandlung dem Arzte macht, zum Anfang eines Heilprozesses werden kann. Und so entsteht die Frage, ob nicht die Erzählung das rechte Klima und die günstigste Bedingung manch einer

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Heilung bilden mag. Ja, ob nicht jede Krankheit heilbar wäre, wenn sie nur weit genug ² bis an die Mündung ² sich auf dem Strome des Er]lKOHQVYHUIO|‰HQOLH‰H"´ (Benjamin 1977: 309).

Benjamins Hinweis auf die Merseburger Zaubersprüche ist hier insofern wichtig, weil er den magischen bzw. symbolischen Charakter des Sprechens für die Moderne stark zu machen versucht. Was aber meint Benjamin mit dem Wort Heilung? Wichtig sind hier seine verborgenen Referenzen auf die jüdische Mystik, spezifisch die Kabbala, wie sie im Spanien des 13. Jahrhunderts gepflegt wurde. Bei den Kabbalisten wurde ja, anders als im christlichen Schöpfungsmythos, die ganze Schöpfung als ein verunglückter Prozess verstanden. Das Licht war aus den Gefäßen getreten, die Schöpfung war in eine Krise geraten, man könnte es eben auch Krankheit nennen, und musste nun wieder heil werden (vgl. Scholem 1977: 152ff.). Der Kulturhistoriker Gershom Scholem, ein enger Freund Benjamins, betont in seinen Arbeiten zur Symbolik und Kultur der Kabbala immer wieder, dass diese Mystik vor allem eine Buchstabenmystik war, ein Kreisen um die Sprache. (Scholem war denn auch einer der ersten, der die Kultur der Kabbala wissenschaftlich seriös für das 20. Jahrhundert aufgeDUEHLWHW KDW  ,Q VHLQHP %XFK Å=XU .DEEDOD XQG LKUHU 6\PEROLN´ heißt es über das kabbalistische Sprachverständnis: Å%XFKVWDEHQ XQG 1DPHQ VLQG QLFKW QXU NRQYHQWLRQHOOH 0LWWHO ]XU Kommunikation. Sie sind weit mehr als das. Jeder einzelne unter ihnen stellt eine Konzentration von Energie dar und drückt eine Sinnfülle aus, die in menschliche Sprache gar nicht oder zum mindesten nicht erVFK|SIHQGEHUVHW]W]XZHUGHQYHUPDJ´(Ebd.: 54).

Wenn auch der Briefwechsel zwischen Benjamin und Scholem zeigt, dass Benjamin nie ganz von der mystisch-jüdischen Kontextualisierung Scholems überzeugt war, faszinierte ihn dennoch die symbolisch-magische Ebene des Erzählens, jene vor allem im alltäglichen Gebrauch der Kulturen vorkommende Funktion von Dichtung wie Alltagssprache als eines Mittels der Besänftigung existentieller Ängste und Zweifel. So verwundert es nicht, dass er VHLQHQNOHLQHQ7H[WÅ(U]lKOXQJXQG+HLOXQJ´PLWGHP%LOGHLQHU Mutter beginnt, die sich abends ans Bett ihres Kindes setzt, um

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dem Kind etwas zu erzählen, das seinen Schlaf ruhig in die Nacht geleitet (vgl. Benjamin 1977: 309). Das Erzählen ist in diesem, von Scholem wie von Benjamin vertretenen Sinn, bereits an sich symbolisch; allein die Anwesenheit der Erzählung als Möglichkeit referiert auf die Anwesenheit einer Kraft, die ein seltsames Doppelwesen aus Verborgenheit und Präsenz zeigt. Dies ist nicht nur ein wichtiges Moment aus der jüdischen Tradition. Denken wir an die von Benjamin erwähnten Merseburger Zaubersprüche: Im 9. Jahrhundert niedergeschrieben in stabreimenden Langzeilen in kirchlichen Texten des Merseburger Domkapitels (Kodex), lassen sich selbst noch in der christlichen Tradition die archaischen Kräfte der heidnischen Vergangenheit wiederentdecken. Die Zaubersprüche waren Beschwörungen einer Kraft, von der man glaubte, dass sie nur durch die Sprache ausgelöst werden konnte. Der Endvers eines der Zaubersprüche, die zu den ältesten Dokumenten der deutschsprachigen Literatur gehören, lautet: Insprinc haptbandun, inuar uigandun Löse dich aus den Fesseln, entflieh dem Feind! (Zit. nach: Genzmer 2008: 68).

Mit dieser Anrufung glaubte man, gefangene Krieger aus der Gefangenschaft befreien zu können ² sprichwörtlich sollten hier Ketten gesprengt werden. Die Erfahrung wird wohl etwas anderes gelehrt haben, aber interessanterweise hat dies nicht zu weniger Gläubigkeit den Sprüchen gegenüber geführt. Untersuchungen zur germanischen Mythologie weisen immer wieder darauf hin, dass es zur Zeit ihres Gebrauchs eine tiefe Gläubigkeit gegenüber GHUÅ0DFKWGHVJHEXQGHQHQ:RUWHV´ (ebd.) gegeben hat. Bei Benjamin ist der Hinweis auf diese in der Sprache noch immer wirkVDPH 'LPHQVLRQ EH]JOLFK GHV 7KHPDV Å+HLOXQJ XQG (U]lKOHQ´ noch eindeutiger: im Aussprechen selbst liegt schon eine BeFreiung, ein Ansatz zur Wiederherstellung einer unter Zerstörungen leidenden Situation: Heilung in einem komplexen, situativen Sinn. ² Erzählen in einer Krise verfügt über implizite Hoffnungen, die weit über die Erzählung hinausgehen und nicht mit Heilungserfolg verwechselt werden dürfen. Dieses Erzählen verfügt auch ² und das wird in den metaphorischen Dimensionen deutlich ² über das Bewusstsein für Grenzen.

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Ich möchte im Folgenden anhand von Beispielen aus der Literatur, aber auch aus weiteren Praxisdokumenten3 zeigen, dass das metaphorische Sprechen in Schmerzbeschreibungen vor allem immer wieder auf Orte hinweist, die einen komplexen Charakter von Unzugänglichkeit besitzen. Diese Orte sind zum einen symbolische Konstruktionen des Wissens, dass Schmerz nicht teilbar, somit auch nicht mitteilbar ist, zugleich bieten sie metaphorisch eine Art Sichtglasscheibe an ² nicht unähnlich den Trennscheiben, wie man sie auf Intensivstationen und vor Quarantänezimmern finden kann. Durch diese sprachlichen Sichtglasscheiben hat der Zuhörer das Gefühl, auf den entfernten, ihn stets auf Distanz haltenden Ort des fremden Schmerzgeschehens einen Blick werfen zu können. Für diese spezifische Form des Sehens findet sich bei Paul Celan GHUPHKUVFKLFKWLJH%HJULIIÅ6SUDFKJLWWHU´ (Celan 2000: 167), der auf poetische Art und Weise diese Funktion von Sprache umkreist. Wie ich versuchen werde zu zeigen, sind viele dieser metaphorischen Orte in den Schmerzerzählungen von Menschen genauso so konstruiert, dass man sie als verborgene Orte im Körper verstehen soll, die jedoch, um zu funktionieren, einen Raum gemeinsamer kultureller Kenntnisse beim Erzählenden wie beim Zuhörenden voraussetzen. Sie zielen dabei nicht darauf ab, nachvollziehbare Orte zu sein. Im Gegenteil, sie sind oftmals surreal, phantastisch, voller verstörender mythologischer Anspielungen oder gar vollkommen absurd ² und gerade dadurch genau und präzise, weil sie offensichtlich nur so die Fremdheit des Schmerzerlebens und das Gefühl der Ohnmacht wiedergeben können. 'HXWOLFK ZLUG GDV EHLVSLHOVZHLVH EHL 6lW]HQ ZLH Å,FK IKOH mich gerade, als ob ich in einer Waschmaschine liege und ich ZHUGHGXUFKJHGUHKWELVPLUVFKZDU]YRU$XJHQZLUG´4, der von einem dreißigjährigen männlichen Patienten mit ständig wieder-

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Hierbei folge ich dem kulturwissenschaftlichen Ansatz der Stuart Hall Schule, keine Wertungen zwischen diesen Dokumenten vorzunehmen, sondern nur ihren kommunikativen Charakter zu untersuchen. Patientengespräch mit Jürgen M., Marienhospital Stuttgart, 12. Januar 2009. 214

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kehrenden Kopfschmerzen und Panikattacken während eines Gespräches im Krankenhaus geäußert wurde. Schauen wir uns diese spontane Formulierung kurz etwas genauer an. Das Bild ist sofort nachvollziehbar, obgleich es jeder logischen Grundlage entbehrt. Kein Mensch passt in eine gewöhnliche Waschmaschine. Erst recht kann man niemanden in eine einsperren. Das Bild erscheint dennoch nicht gänzlich absurd. Es enthält sogar eine tröstliche Komik, die sowohl auf den Erzähler wie auf den Zuhörer wirken kann ² ein Mensch, der sich zu einem Kreis zusammenrollen müsste, um sich der Trommelform der Maschine anzupassen, wäre fraglos komisch. Es ist aber auch das Bild eines Embryonen aufgerufen, der mit seinem leicht gekrümmten Körper verschlossen in einem mit Wasser gefüllten Raum liegt, jedoch ohne das Gefühl von ursprünglicher Geborgenheit, sondern ausgeliefert an den Bauch einer nach einem festen Programm arbeitenden Maschine. Der Zuhörer kann das Bild gut verstehen. Mühelos lässt sich das schwerfällig rumorende, dann immer schneller werdende Drehen der Maschine als Beschreibung eines Schwindelgefühls nachvollziehen. Verständlich sind auch die daraus folgende Orientierungslosigkeit und die möglicherweise auftretende Angst vor Kontrollverlust. Das Innere der Trommel erscheint zudem als merkwürdiger, hermetischer Ort. (In den meisten Waschmaschinen ist ja eine Sicherung eingebaut, die es unmöglich macht, während des Waschvorgangs die Tür zu öffnen. Metaphorisch verstanden bleibt nur der Blick durch die Sichtscheibe, um zu sehen, was im Inneren geschieht.) Der Zuhörer erfährt also etwas über den Schmerz, kann auch ² wenn beispielsweise der Arzt oder Therapeut als Zuhörer angesprochen sind ² mit entsprechenden Maßnahmen reagieren. Voraussetzung dabei ist: der gewählte Ort muss in seinen Assoziationen verstanden werden können. Bei einer Waschmaschine oder einem Ameisenhügel kann man davon ausgehen, dass diese Metaphern global verständlich sind.5 Wie sieht es aber bei Orten mit einer spezifischen kulturellen Konnotation aus?

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Ausnahmen wären beispielsweise Kulturen, in denen Ameisen als heilige oder symbolische Tiere gelten, wie es etwa bei einigen Aborigines-Stämmen in Australien der Fall ist, dann würde der Vergleich sehr viel anders gelesen werden. 215

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Nehmen wir als Beispiel eine Briefstelle des Schriftstellers Franz Kafka: ,,Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt du von den Schmerzen, die in mir sind, und was weiß ich von deinen. Und wenn ich mich vor dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest du von mir mehr als von der Hölle, wenn dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem ,, Eingang zur Hölle. (zit. nach Kafka 1982: 19).

Kafka ruft die Hölle als Vergleich für den Ort der Schmerzen auf, die er in sich spürt. Das setzt voraus, dass der Leser weiß, aus welchem kulturellen Zusammenhang die Vorstellung der Hölle kommt. Der ganze Schrecken dieses Bildes erschließt sich dann, wenn man Bilder dieses Infernos mitdenkt, wie sie beispielsweise von Bosch und Breughel gemalt wurden ² um nur zwei Exempel unter möglichen hunderten herauszugreifen. Mit diesem Assoziationshintergrund fällt es leichter zu sehen, wie Kafka den eigenen Vergleich als unzureichend, ja geradezu als albern betrachtet ² ÅZDV Z‰WHVW GX YRQ PLU PHKU DOV YRQ GHU +|OOH ZHQQ GLU MHPDQGHU]lKOWVLHLVWKHL‰XQGIUFKWHUOLFK´+HL‰XQGIUFKWHUOLFK das sind die Attribute der jüdischen und christlichen religiösen Darstellungen der Hölle: eine flammende Fegefeuerstätte, in der die Sünder landen, die nicht zur Buße und Umkehr gelangt sind. 6 Das ist aber nicht Kafkas Auffassung von der Hölle. Bei ihm ist die Hölle schlichtweg ein Ort des Nicht-Erzählbaren. Wir erfahren QLFKWZHOFKH6FKPHU]HQHUPHLQWZHQQHUYRQGHQÅ6FKPHU]HQ GLH LQ PLU VLQG´ VSULFKW DOVR ]XP%HLVSLHORE HVSV\FKLVFKH RGHU physische sind. Wir erfahren auch nicht, von welcher Höllendefinition er redet. Es ist auch nicht wichtig. Er zerbricht das Bild. Wir erfahren etwas über die Sprache selbst, mit der die Bilder geschöpft werden. Die nach außen gewendete Sprache findet nicht GRUWKLQZRGLH6FKPHU]HQVLQGVLHILQGHWOHGLJOLFKELV]XPÅ(Ln-

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Interessant hierbei ist, dass Kafka als Jude sich auf die Höllenvorstellung beruft. Im Judentum hat vor allem in den mystischen Bewegungen das Bild einer Hölle eine größere Rolle gespielt, was man beispielsweiVH HLQGUFNOLFK LQ ,VVDN 6LQJHUV 5RPDQ Å-RVFKH .DOE´ nachlesen kann. 216

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JDQJ ]XU +|OOH´ 8QG VLH ZLUG JHQDXGDKLQ ]XUFNJHZLHVHQZR nach Kafkas Auffassung einzig und allein die Menschenliebe herkommen kann: aus dem Respekt vor dieser Grenze.

Metaphorische Schmerz-Orte Das führt zu einer zweiten These: Der Ort in der erzählten Schmerzgeschichte muss als Vergleich bekannt sein, um vom Erzähler in einem weiteren Schritt zerbrochen werden zu können. Ohne die Kenntnis der kulturellen Assoziationen innerhalb einer solchen Metapher kann sie nur eingeschränkt funktionieren. Zwischen dem Erzähler und dem Zuhörer muss es also einen Raum gemeinsamer kultureller Kenntnis geben. Wenn wir nun den Blick wieder auf die Praxis der Medizin richten, ist es bemerkenswert, welche Veränderung der Umgang mit Schmerzen in den letzten Jahren erfahren hat. Allein der UmVWDQG GDVV PDQ KHXWH YRQ Å6FKPHU]PDQDJHPHQW´ spricht (vgl. Besendorfer 2009), ist bemerkenswert. Vor allem, wenn man verVXFKWKHUDXV]XILQGHQZHUKLHUZDVÅPDQDJW´'HU3DWLHQWVHLQHQ eigenen Schmerz, das Pflegepersonal und die Ärzte den Schmerz des Patienten oder sprechen wir über ein theoretisches wie praktisches Handlungsmodell, das sich auf Strukturen und medikale Räume übertragen lässt? Die Suche nach Antworten würde zu weit in moderne pflegewissenschaftliche Modelle führen, die zwingendermaßen mit der hier gewählten kulturwissenschaftlichen Perspektive kollidieren würde. Ein Phänomen ist jedoch für den hier gewählten Blickwinkel sehr aufschlussreich: Wer heute als Patient in ein modern geführtes Krankenhaus kommt, erhält in postoperativen Situationen oder in generellen Schmerzsituationen ein kopiertes Blatt zum Schmerzmanagement. Auf dem Blatt ist eine Nummernskala von 1 bis 10 zu sehen. Die Messung des Schmerzes erfolgt über diese Skala. Der Patient kann also durch Fingerzeig beschreiben, wie stark sein Schmerzerleben ist. Danach wird dann die Medikation festgelegt. Dabei gilt der Grundsatz, dass das individuelle Schmerzerleben Vorrang vor der Einschätzung oder dem Erfahrungshintergrund des Arztes hat. 6lW]H ZLH Å6R VWDUNH 6FKPHU]HQ N|QQHQ 6LH JDU QLFKW KDEHQ´ seitens des Pflegepersonals sind in diesem Konzept nicht mehr möglich. Auf den ersten Blick ein großer Vorteil, denn auch Men217

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schen, die nicht der Sprache des Landes, in dem sie behandelt werden, mächtig sind, können rasch das Skalensystem verstehen und somit kommunizieren, wie stark ihre Schmerzen sind. Der bereits erwähnte gemeinsame Raum kultureller Kenntnisse ist an dieser Stelle ohne Bedeutung. Erzähler wie Zuhörer können beide eindeutig zuordnen, um was es dem Patienten geht. Scheinbar ein Zugewinn an Genauigkeit und Konkretion. Zudem konnten die Forschungen zur Schmerzmessung via Skalen den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Schmerzwahrnehmung verdeutlichen (vgl. Kessler/Hallo 2008). Hierzu ein kleiner Exkurs: Seit einigen Jahren gewinnen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei der Bewertung von Schmerzen an Bedeutung. Das Interesse steigt und wird nicht nur in experimentellen Studien im Labor untersucht, sondern auch bei der klinischen und epidemiologischen Forschung geht es um Unterschiede bei der jeweiligen Wahrnehmung von Schmerzen beider Geschlechter. Nach Berkley zeigen Untersuchungen zum Zusammenhang von Schmerzwahrnehmung und Geschlecht, dass Frauen eine geringere Schmerztoleranz aufweisen, Schmerzen stärker wahrnehmen und häufiger über Schmerzen klagen als Männer (vgl. Berkley 1994: 371ff). Frauen nehmen im Allgemeinen mehr Medikamente ein und gehen häufiger zum Arzt. Sie berichten über stärkere Beeinträchtigungen durch Schmerz und haben längere Arbeitsausfälle. Hinzu kommen mäßig bis stark ausgeprägte frauenspezifische Schmerzen aufgrund von Menstruation, Schwangerschaft und Geburt. Bei fast allen Schmerzarten (verglichen wurden häufig auftretende Schmerzarten, wie z.B. Kopfschmerz, Gesichtsschmerz, muskuloskelettaler Schmerz, Rücken- und abdominelle Schmerzen) zeigen sich stärkere, häufigere und länger anhaltende Schmerzen bei Frauen. Bei den meisten Schmerzarten ist eine 1,5fach erhöhte Prävalenz bei Frauen festzustellen (vgl. Unruh 1996: 123ff).7 Was geschieht aber nun in den medikalen Räumen mit den Erzählungen? Es drängt sich die Frage auf, ob die Erzählung ein struktureller, zeitaufwendiger Störfaktor in modernen Hospitalprozessen geworden ist, delegierbar an die Psychologen, oder ob sie etwa einen anderen Platz einnimmt. Das wäre freilich Untersu7

Aus historischer Perspektive hat Dinges diese Studien allerdings relativiert (vgl. Dinges 2007). 218

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chungsgegenstand einer ausführlichen Studie. Daher möchte ich an diese Stelle nur einige Vermutungen anstellen. Ein wesentlicher Bestandteil des metaphorischen Sprechens ist der Aspekt, den die antike Memoria-Kunst stark gemacht hat. Die Erinnerung an das, was man in Bildern gehört hat. Zahlen haben nur eine geringe Verbindung zur Merkfähigkeit von Menschen. Bekanntlich empfahlen ja die antiken Rhetoren, die ihre Texte auswendig aufsagten, sich Räume vorzustellen, um sich die komplexen Aufbaustrukturen ihrer Reden zu merken.8 Diese starke Betonung der Memoria-Kunst im Sinne der Verbildlichung von Sachverhalten scheint ein wichtiger Aspekt in der Auseinandersetzung mit Schmerzaspekten zu sein. Hinter der Skalenzahl, die die Stärke des Schmerzes angibt, wartet eine Geschichte, die nach einem Gedächtnis sucht. Das berührt die tieferen Schichten des Wortes Mit-Leiden. Man fühlt also nicht nur mit dem Anderen mit, man teilt auch die Zeit und die Geschichte des Kranken. Es geht aber nicht nur um die Geschichte des Schmerzes, sondern der ganzen Krankheit, ja der Frage, ob die Krankheit das Recht hat, die ganze Existenz zu definieren. Diese Erzählung ist keine psychotherapeutische Katharsis ² sie ist vielmehr eine Anwesenheit. Eine Geschichte hinter der Skalenzahl. Sie muss nicht zwangsläufig erzählt werden, aber sie ist als eine komplexe Form des Bewusstseins für die Nichterzählbarkeit des Schmerzes präsent. In 3DXO&HODQVVSlWHP*HGLFKWEDQGÅ'LH1LHPDQGVURVH´ILQGHWVLFK hierzu ebenfalls eine faszinierende Auseinandersetzung in einem Gedicht,9 GDVGHQ7LWHOWUlJWÅ'LH6LOEH6FKPHU]´ 8

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0DQNDQQGDVLPPHUQRFKJXWLQGHUÅLQVWLWXWLRRUDWRULD´GHVU|PLschen Rhetorik-Lehrers Quintilianus studieren, vgl. Quintilianus 1986. Auch hier ist freilich die Schwierigkeit zu reflektieren, dass ein literariVFKHU 7H[W HLQ *HGLFKW ]XPDO QLFKW DOV Å6FKPHU]DXVNXQIW´ Jelesen werden kann. In der sprachlichen Verdichtung jedoch und in der bewussten metaphorischen Strategie literarischer Texte lassen sich Elemente jenes Sprechens über Schmerz wiederfinden, die sich besonderer Formen des Zeigens bedienen, die eine spezifische Rezeption benötigen, um verstanden werden zu können. Daher kann die gemeinsame Betrachtung von Dokumenten unmittelbarer Schmerzauskunft und literarischer Texte hilfreich sein, um die Funktion und die Struktur metaphorischen Sprechens zu verdeutlichen. 219

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Die Silbe Schmerz Es gab sich Dir in die Hand: ein Du, todlos, an dem alles Ich zu sich kam. Es fuhren wortfreie Stimmen rings, Leerformen, alles ging in sie ein, gemischt und entmischt und wieder gemischt. (Celan 2000: 280).

Wenn Celan über Schmerz spricht, ist natürlich zuerst immer die Dimension der Erinnerung an die Shoa aufgerufen ² seine Mutter war von den Nazis mit einem Genickschuss umgebracht worden. Genau darin findet sich aber auch der Versuch des Nachfühlens eines Schmerzes, der auf diesem Weg eben keine Sprache mehr findet, der sprichwörtlich körperlich wird ² LP Å.|USHU´ GHU Sprache selbst. Diese Übertragung der Silbe Schmerz, dieses Übergehen eines Gefühls, in dem Sprache zu etwas Anderem als einer Mitteilung wird, ist zentraler Bestandteil des Gedichts. 9RUDOOHPGLH)RUPXOLHUXQJÅZRUWIUHLH6WLPPHQ´LVWLQGLHVHP =XVDPPHQKDQJ HUKHOOHQG hEHU VLH ZLUG JHVDJW GDVV VLH Å/HHUIRUPHQ´VHLHQÅDOOHVJLQJLQVLHHLQ´'LHVHVÅDOOHV´LVWLQGHP=Xsammenhang ein ermächtigender Begriff.

Funktionen metaphorischer Schmerzerzählungen Denn in der Tat sind ² und das ist die dritte These ² SchmerzHU]lKOXQJHQ9HUVDPPOXQJHQYRQVROFKHQÅZRUWIUHLHQ6WLPPHQ´ Leerformen, die sich metaphorischer Bilder nur zu dem Zwecke bemächtigen, diesen Prozess der Mischung so vieler Einflüsse auf das Schmerzerleben, also Erinnerungen, Ängste, die Angst vor der Angst etc., zu ZEIGEN, nicht zu erzählen. Somit ist das Zeigen metaphorischer Bilder eine Möglichkeit für den Schmerzerlebenden Freiheit zu erleben ² Freiheit von der Erklärung, der Mitteilung und Explanation. Im metaphorischen Sprechen wird der Zuhörer zu einer anderen Form der Aufmerksamkeit gebracht: Er muss sich dem Gezeigten aussetzen, um zu verstehen, was er hört. Darin liegt ein aktiver Akt des Sich-Näherns an das Unfühlbare. 220

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Hier kommen nun die bereits angesprochenen kulturellen Implikationen ins Spiel. Wie viel muss ich wissen, um metaphorische Bilder verstehen zu können? Wo beginnen Grenzen oder kommen gar Missverständnisse ins Geschehen? Folgt man den neuesten Studien zum so genannten Schmerzmanagement (vgl. Kessler/Hallo 2008; Carr/Mann 2002), zeigt sich, dass in den konkreten medikalen Räumen die individuelle Schmerzerzählung mitsamt ihren komplexen narrativen Mustern eher allgemein betrachtet wird ² nämlich als Indikator. 1979 veröffentlichte die International Association for the Study of Pain (IASP) die folgende Definition und beschreibt Schmerz als: Å$QXQSOHDVDQWVHQVRU\DQGHPRWLRQDOH[SHULHQFHDVVRFLDWHGZLWK actual or potential tissue damage, or described in terms of such GDPDJH´(IASP 2003). -- %RQLFD EHVFKUHLEW DNXWHQ 6FKPHU] DOV Å>@ HLQ LQGLYLGXHOles, äußerst subjektives Erlebnis eines komplexen WahrnehPXQJVSUR]HVVHV>@´ (Angster/Hainsch-Müller 2005: 505ff). Eine Definition, die besonders für die Pflege von Bedeutung ist, stammt von Margo 0F&DIIHU\   Å6FKPHU] LVW GDV ZDV der Betroffene über die Schmerzen mitteilt, sie sind vorhanden, wenn der Patient mit Schmerzen sagt, dass er 6FKPHU]HQ KDW´ (McCaffery et al. 1997: 12). Obwohl die Definition der IASP beinahe dreißig Jahre alt ist, ist sie dennoch die am häufigsten verwendete und gilt immer noch als Diskussionsgrundlage, wenn es darum geht, Schmerz zu definieren. Rahmenbedingungen für Schmerzen werden in diesen Situationen kaum erfasst (am ehesten noch bei Bonica); weder das mögliche Verlorensein in der eigenen Schmerzerzählung noch die Interaktionen zwischen dem Patienten und dem realen klinischen Raum. (Bereits Hippokrates hatte ja in der Antike seinem Krankenhaus auf Kos die Dinge, die dem Patienten in den Blick fallen, als maßgeblich für den Heilungserfolg benannt (vgl. Hippokrates 1994).) Der konkrete Klinikalltag unter zeitgenössischen ökonomischen Bedingungen delegiert dieses Fragen möglicherweise mit gutem Recht an die psychologische Betreuung. Von einem kulturwissenschaftlichen Standpunkt aus ist es jedoch interessant zu fragen, inwieweit die Schmerzerzählungen als Bestandteil nicht nur von Patientenbiographien relevant sind, sondern, wie ich ver221

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sucht habe zu zeigen, als Bestandteil einer gewachsenen Kultur des Sprechens über den Schmerz.

Schmerzerzählung und Raum ± ein Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Räume, die sich in den metaphorischen Bildern vieler Schmerzerzählungen wiederfinden lassen, topographische Zonen großer und schwieriger Intimität des jeweiligen Erzählenden sind. In diese Räume können Medikamente als Linderung eindringen; der Gedanke der Heilung und des Heilwerdens im Sinne Walter Benjamins benötigt aber auch die Kraft und den Geist der Erzählung; nur in der Sprache kann aus dem beängstigenden Charakter der Verborgenheit, den wir im Schmerzerleben vor uns haben, zumindest zeitweise ein Sichtglas oder ein Sprachgitter werden, das in die Tiefe der eigenen wie der kulturellen Biographie eines Menschen führt und somit erst durchlässig wird für einen Dialog mit einem Anderen.

Literatur Angster, R./Hainsch-Müller, I. (2005): «Postoperatives Schmerzmanagement», in: Der Anästhesist 5, S. 505-533. Benjamin, Walter (1977): Illuminationen. Ausgewählte Schriften I., Frankfurt am Main: Suhrkamp. Berkley, K. (1997): «Sex differences in Pain», in: Behavioural and Brain Sciences 20, S. 371-380. Besendorfer, Andrea (2009): Interdisziplinäres Schmerzmanagement. PraxisleitfadeQ ]XP ([SHUWHQVWDQGDUG ÅSchmerzmanagement in der Pflege´ Stuttgart: Kohlhammer. Carr, Eloise C. J./Mann, Eileen M. (2002): Schmerz und Schmerzmanagement. Ein Praxishandbuch für Pflegeberufe, 1. Aufl., Bern: Verlag Hans Huber. Celan, Paul (2000): Gesammelte Werke. Erster Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp. DNQP ² Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hg.) (2005): Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten oder tumorbedingten chronischen

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Ä:LHHLQH4XHOOHLQGHU:VWH .³ Ein religiöser Beziehungsraum als Voraussetzung für Selbstsorge und Fürsorge philippinischer Migranten JULIA THIESBONENKAMP

,,/RYHRQHDQRWKHUEXWGRQRWORYHDQRWKHURQH´Das Zitat aus einer Predigt eines philippinischen Migranten spielt auf das Prinzip der christlichen Nächstenliebe an, das Fürsorge und Selbstsorge umfasst. Selbstsorge und Fürsorge gehören zu wichtigen Konzepten im aktuellen Diskurs um Gesundheitshandeln. Im Folgenden wird vorgestellt, wie diese Konzepte innerhalb einer charismatischen religiösen Gruppierung unter philippinischen Migranten in Deutschland definiert und gelebt werden. Deutlich wird dabei die enge Verbindung von Religion und Gesundheit: Der Kirchenraum ist für die Gemeindemitglieder ein Spielraum, in dem sie die Fürsorge Gottes und der Menschen erleben, sowie angeleitet werden, Für- und Selbstsorge zu praktizieren und zu erfahren. Zunächst wird ein Raumkonzept dargestellt. Dann werden die Struktur, der Aufbau und die Angebote der untersuchten El Shaddai Gemeinde in Frankfurt/Main dargestellt. Anschließend werden die Begriffe der Fürsorge und Selbstsorge definiert, um sie im letzen Teil im Kontext des Gemeindelebens an exemplarischen Beispielen zu diskutieren. Die Beispiele stammen aus Interviews und einer teilnehmenden Beobachtung, die ich während einer Feldforschung von Januar 2008 bis Juni 2009 im Rahmen meines Dissertationsprojektes durchgeführt habe. 225

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Heilender Raum Raum ist das zentrale Organisationsprinzip und wird im Folgenden als ein Rahmen für soziale Prozesse verstanden, der den Menschen die Möglichkeit zur Interaktion bietet (Gupta & Ferguson 1992: 7). Die Gemeinde als konkreter Ort ermöglicht die Vernetzung der Akteure und integriert damit den privaten Raum in den sozialen Raum. Der soziale Raum wird durch religiöse Vorstellungen und Praktiken bestimmt. Der gemeindliche Raum wird im geographischen und religiösen Sinn zentral im Leben der Migranten. Als geographischer Raum, da er einen Ort der Gemeinschaft bietet, als religiöser Raum, da hier christliche Wahrheiten präsentiert werden und eine Orientierung im Leben auf die Werte der Für- und Selbstsorge gestaltet werden (Walsh 2007: 475, 478). Dadurch kann die Gemeinde auch zu einem heilenden Raum werden.

E l S h a d d a i ± c h a r i s m a t i s c h e Re l i g i o n u n t e r philippinischen Migranten in Deutschland El Shaddai gehört auf den Philippinen zu den bekanntesten charismatischen Gruppierungen innerhalb der katholischen Kirche (Aurin: 2006: 321). Im Verständnis der charismatischen Bewegung ist Theologie nicht Wissenschaft, sondern gelebte Religion, so dass ihre Anhänger die aktive Teilnahme im Gottesdienst ² durch Bekenntnis, Gesänge, Gebete ² und eine narrative Theologie der intellektuellen theologischen Reflexion vorziehen. Hierdurch und durch die Hineinnahme von Träumen und Visionen in ihre Gottesdienste grenzen sie sich von den Hauptkirchen ab. Zudem nimmt die Pneumatologie ² die Lehre vom Heiligen Geist ² einen hohen Stellenwert ein (Anderson: 2004 197, Droogers 2001: 39, Hollenweger 1997: 31, Macchia 2002: 1120, Robbins 2004b: 126). Theologisch beziehen sie sich auf die Pfingsterfahrung, wie sie in der Apostelgeschichte 2, 1-4 beschrieben wird.1 Für die Mitglie-

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Å8QGDOVGHU3ILQJVWWDJJHNRPPHQZDUZDUHQVLHDOOHDQHLQHP Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer, 226

Ä: IE EINE QUELLE IN DER WÜSTE³

der El Shaddais ist es besonders wichtig, das Wirken des Heiligen Geistes in ihrem Leben zu erfahren. Ähnlich wie Jesus empfangen die Gläubigen durch die zweite Taufe im Heiligen Geist den selbigen als die bestimmende Kraft ihres Lebens und spüren hierdurch Gottes Präsenz. So können sie mit der Unterstützung des Heiligen Geistes ihr Leben gemäß christlichen Maßstäben führen. Bereits im Erweckungserlebnis des Gründers Mike Velarde (geboren am 20. August 1939) zeichnet sich ab, dass die Themen Heilung, Fürsorge und Selbstsorge eine wichtige Rolle in der Bewegung spielen werden. Die Narration dieser Erweckung beginnt mit einer existentiellen Krankheitserfahrung: Mike Velarde wurde 1978 aufgrund einer Herzerkrankung in ein Krankenhaus eingeliefert und lebte jeden Tag in Todesangst. Eines Nachts besuchte ihn, wie er es ausdrückt, ein Engel in Gestalt einer Krankenschwester, die ihm zur Beruhigung eine Bibelpassage zu Lesen gab. Am nächsten Morgen stellten die Ärzte fest, dass ihr Patient geheilt war. Dieses Erweckungserlebnis teilte Velarde zunächst über seine eigene Radiostation mit. Schon nach kurzer Zeit berichteten Zuhörer, dass sie durch seine Erzählungen selbst von Krankheiten geheilt wurden. 1984 institutionalisierte Mike Velarde die Bewegung und begann neben seinen Radioauftritten auch Heilungs- und Gebetstreffen zu organisieren. Im Laufe der Zeit wuchs El Shaddai zunehmend. Vor allem unter Filipinos, die in Migrationskontexten leben, ist diese religiöse Gruppierung beliebt (Keßler/Rüland 2006b: 86). Für seine Anhänger gilt Mike Velarde auch heute noch als großer Heiler, und dieser Aspekt seiner Rolle wird auch in der hier vorgestellten Frankfurter Gemeinde besonders betont. Der hebräische Name El Shaddai EHGHXWHWEHUVHW]WÅGHU*RWt, GHUPHKUDOVJHQXJLVW´XQGEH]LHKWVLFKDXIGLH%LEHOVWHOOH*HQesis 17:1. Mit diesem Leitgedanken bestimmt Velarde, ähnlich wie es auch bei anderen charismatischen Gruppen üblich ist, die kollektive religiöse Identität und die Mission seiner Gemeinschaft (Csordas 1997: 103, 105; Wiegele 2005: 4). El Shaddai kann dem Wohlstands-Evangelium zugeordnet werden, einer Strömung innerhalb der charismatischen Bewegung, die Heilung, Wohlstand und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern SpraFKHQZLHGHU*HLVWLKQHQJDEDXV]XVSUHFKHQ´ 227

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und positives Bekenntnis in besonderem Maße hervorhebt (Anderson 2004: 220; Wiegele 2005: 7).2 In Manila ist der Hauptsitz El Shaddais, von dem aus 1988 die erste Übersee-Gemeinde in Hongkong gegründet wurde (Aurin 2006: 318; http://www.geocities.com/elshaddai_dwxi_ppfi/02. Februar 2009). 1994, also zehn Jahre nach der Gründung El Shaddais, formierte sich eine solche Gruppe in Frankfurt am Main. Sie zählt zu den über 100 philippinischen Organisationen in Deutschland (Hardillo-Werning 2007: 276). Zunächst bestand die Gruppe aus einigen Bekannten der Gründerin. Die regelmäßigen gawain (Gebetstreffen) wurden in Privatwohnungen abgehalten. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda wuchs die Gemeinde an und erhielt Räume in der katholischen Kirche St. Ignatius. Gemeinsam mit einer anderen philippinischen charismatischen Gruppe namens Couples for Christ bilden sie seit 1988 die Filipino Catholic Community (FCC), Frankfurt/Germany, und halten in St. Ignatius ihre Messen gemeinsam ab. El Shaddai besteht in Frankfurt aus etwa 40 aktiven Mitgliedern, zumeist Frauen im Alter von 40 bis 80 Jahren. Die Mitglieder verteilen sich von Gießen über Frankfurt bis nach Seeheim-Jugenheim. Die meisten Mitglieder haben eine gute bis sehr gute Ausbildung, etwa als Hebamme oder Krankenschwester, genossen oder ein Studium absolviert. In Frankfurt und Umgebung sind einige der Frauen in diesen Heilberufen tätig. Sie gehören zu den in den 1960er und 1970er Jahren von der BRD gezielt angeworbenen Arbeitsmigranten, die dem so genannten Pflegenotstand begegnen sollten. Andere Gemeindemitglieder arbeiten in den 3C--REVÅ&OHDQLQJ&RRNLQJ &DULQJ´DOVRLQGHU Kinderbetreuung, als Haushaltshilfen oder Gärtner (Lutz 2003:   7URW] GLHVHU EHUXIOLFKHQ XQG VR]LDOHQ Å'HJUDGLHUXQJ´ YHrdienen die Menschen bei diesen Tätigkeiten mehr als in ihren erlernten Berufen auf den Philippinen (Evans Braziel 2008: 11). Viele Personen sind durch Kettenmigration nach Deutschland gekommen. So merkt beispielsweise meine Gesprächpartnerin Vivian in

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Positives Bekenntnis meint, dass die Gläubigen sich zu den erfahrenen Segnungen und positiven Erfahrungen bekennen und damit eine spezifische Wahrnehmungs- und Deutungsstrategie etablieren. 228

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einem Interview3 DQ GDVV Å7KH\ >KHU IDPLO\@ FDPH KHUH ILUVW before me.´ Philippinische Migranten in Frankfurt am Main suchen aus unterschiedlichen Gründen Kontakt zu El Shaddai. Manche von ihnen suchen den Kontakt zu anderen Filipinos. So erläutert ViYLDQ ÅI feel, nowhere to go after work. To meet friends also, to meet friends and our different FRXQWU\PHQµ Insgesamt ist die Gruppe ein Hilfsnetzwerk, wenn es beispielsweise um die Vermittlung von Stellen geht oder um Unterstützung im Krankheitsfall. Gemeindemitglieder werden bei Todesfällen auch finanziell unterstützt. Neben der großen sozialen Bedeutung steht aber die Religion: Vielen philippinischen Migranten ist es wichtig, ihren Glauben zu leben. Zum Gemeindeleben gehören neben der Messe, den Gebetstreffen und den Rosenkranztreffen auch Feiern und Ausflüge. Zudem gibt es einen Chor und einen Kindergottesdienst. Besonders bedeutsam ist das am ersten Sonntag im Monat stattfindende Heilungsgebet, in dem die Vorstellungen von Für- und Selbstsorge gelebt werden. Diese werden im Anschluss an den folgenden Exkurs zu den Konzepten Für- und Selbstsorge genauer vorgestellt.

Selbstsorge, Fürsorge, Care und Caritas Å6HOEVWVRUJH6HOEVWSIOHJH EHVFKUHLEW PHQVFKOLFKH +DQGOXQJHQ GLH Gazu dienen, für sich im Sinne der Aufrechterhaltung des eigenen Wohlergehens, der eigenen Gesundheit und der Lebenserhaltung zXVRUJHQ´ (Bekel et. al 2005: 624).

Selbstsorge betont die Eigenverantwortungen und Kompetenzen, die Personen benötigen, um sich weiter zu entwickeln (Brentrup 2002: 51f). Sie umfasst dabei nicht nur die Körperpflege, die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse und die Einhaltung gesundheitlicher Regeln, sondern auch das geistige Wachstum (Dennis   )RXFDXOW    )RXFDXOW EH]HLFKQHW GLHV DOV ÅVHOIJRYHUQPHQW´ )RXFDXOW     'LH 6HOEVWVRUJH NDQQ LQ HLQ Å6\VWHP JHJHQVHLWLJHU 9HUSIOLFKWXQJHQ´ HLQJHEXQGHQ VHLQ XQG 3

Alle Namen sind Pseudonyme. Die Interviews fanden auf Englisch und Deutsch statt und wurden zur besseren Lesbarkeit sprachlich geglättet, ohne den Sinn zu verändern. 229

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wird von Foucault auch als Technologie des Selbst bezeichnet, durch die die Person bestimmte Einstellungen und Fähigkeiten erwirbt (Ders. 1986: 18, 75). Foucault (ebd.: 19) untersucht die Entwicklung dieser Technologien ausgehend von den Griechen der Antike hin zum frühen Christentum.4 Er kommt zu dem Schluss, dass verschiedene Technologien der Selbstsorge grundsätzlich auf das Konzept des Selbst wirken beziehungsweise das jeweilige Selbstkonzept repräsentieren (ebd.: 22). Er definiert Technologien der Selbstsorge als Techniken, die es dem Individuum erlauben, selbst oder mit Hilfe anderer Prozesse am eigenen Körper, der Seele, den Gedanken, dem Verhalten oder des Seins durchzuführen. Das Ziel ist es, sich selbst so zu ändern, dass ein Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Perfektion oder der Unsterblichkeit erreicht wird (ebd.: 18). Das Christentum ist eine Erlösungs- und Bekenntnisreligion, die den Gläubigen strenge Wahrheitsverpflichtungen sowie dogmatische und kanonische Pflichten auferlegt (Reichenbach 2000: 182). Christliche Selbstsorge impliziert nach Foucault einen stark selbstreflexiven Charakter: Ziel ist Selbsterkenntnis, das Anerkennen von Schwächen und Fehlern sowie die Verortung von Versuchungen und Begierden. Zugleich gehört ein demonstrativer Charakter zur christlichen Selbstsorge. Die erkannten Defizite werden gegenüber Gott und der Gemeinde enthüllt. Ziel der Gläubigen ist es, LKU 6HOEVW LQ HLQ Å6DFUHG 6HOI´ ]X YHUZDQGHOQ 'LHVHV Å6DFUHG 6HOI´ ELOGHW Gie Person durch die göttliche Erfahrung aus, indem sie die moralischen Eigenschaften Gottes wie Verantwortung oder Liebe lebt. Dafür müssen sich die Gläubigen mit ihrem Selbst auseinandersetzen und ihr alltägliches Selbst transzendieren (Csordas 1994: 5, 15, 18, 24; LiPuma 1998: 58f; Morris 1972: 10f; Husslik 1992: 1133). Ebenso wie die Selbstsorge wird auch die Fürsorge in einem bestimmten soziokulturellen Kontext erworben (Dennis 2001: 31). Die Debatte um den Begriff Care, zu Deutsch Fürsorge, und eine besondere Care-Ethik (von Frauen), löste die EntwicklungspsyFKRORJLQ &DURO *LOOLJDQ PLW LKUHP %XFK Å,Q D GLIIHUHQW YRLFH´

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Foucaults Verständnis des Begriffs grenzt sich von den Konzepten Befreiung und Selbsthilfe ab, da diese eine situative bzw. strukturelle Notlage implizieren, aus denen sich das Subjekt befreien müsste, sowie Konzepten der Selbstverwirklichung (Steinkamp 2005: 17). 230

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(1982) aus.5 Seit dieser Zeit hat sich eine vielschichtige Diskussion um das Konzept Fürsorge/Care entwickelt, die von Vertretern verschiedener Disziplinen wie der Philosophie, Theologie Sozialpädagogik und den Pflegewissenschaften geführt wurde (Brückner 2001a: 35). Im Folgenden wird die handlungstheoretische und ethische Perspektive näher beleuchtet. Die Debatte um den Begriff der Fürsorge entstand aus einer Studie, die Carol Gilligan gemeinsam mit dem Psychologen Lawrence Kohlberg durchgeführt hatte. Kohlberg und Gilligan postulieren ein Stufenmodell der moralischen Entwicklung des Menschen. Sie legten Kindern verschiedenen Alters moralische Dilemmata vor und baten sie, ihre Lösungen zu erläutern. Ziel war es Informationen über die Entwicklung des moralischen Urteilens herauszufinden. Für Kohlberg basieren moralische Urteile auf dem Prinzip der Gerechtigkeit (Kohlberg 1995: 28, 30), das sich an Prinzipien, Rechten, Regeln und Pflichten orientiert (BillerAndorno 2001: 19).6 Ein Ergebnis war, dass Mädchen in ihrer moralischen Entwicklung Jungen unterlegen seien. Erst eine Analyse der Daten durch Gilligan zeigte, dass Mädchen ihre Entscheidungen oft nach dem Prinzip der Fürsorge treffen, wobei sie betont, dass eine CareEthik nicht geschlechtsspezifisch ist (Gilligan 1982: 37).7 Akteure,

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Obwohl die deutsche Übersetzung des englischen Wortes Care im deutschsprachigen Raum mit dem sozialpflegerischen Bereich konnotiert ist, werden hier beide Begriffe abwechselnd verwendet (Schnabl 2005: 235). Fürsorge wird hier ähnlich wie im Englischen mit Vorstellungen und Tätigkeiten der Anteilnahme, Fürsorge, Zuwendung, Mitmenschlichkeit, Hausarbeit, Obhut, Versorgung und Pflege assoziiert, die alle eine Rolle in dieser ethischen Orientierung haben (ebd.: 16, 235; Biller-Andorno 2001:15). Historische Parallelen finden sich bei Humes Sentimentalismus und Schopenhauers Mitleidsethik. Ersterer hebt eine mitfühlende, anteilnehmende Haltung, ein relationales Ich sowie die Asymmetrie vieler Beziehungen hervor (Biller-Andorno 2001: 65-66). Daraus wird deutlich, dass Care kein anachronistisches Hilfekonzept im Sinne eines degradierenden Angewiesenseins auf die MildWlWLJNHLW DQGHUHU PHLQW 6FKQDEO    Å5LFKWLJ YHUVWDQGHQH Fürsorge ist vielmehr von vornherein nicht-paternalistisch orientiert, indem sie zu jedem Zeitpunkt dem Menschen, soweit es geht, 231

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deren moralischen Entscheidungen und Handlungen auf einer Care-Ethik beruhen, sehen sich als moralisches Selbst situiert und argumentieren nicht von einem abstrakten Standpunkt aus, sondern verorten ihre Entscheidungen und Handlungen in spezifischen Beziehungen und Situationen (Schnabl 2005: 323). Care umschreibt Tätigkeiten und Praxisformen wie das Dasein, Zuhören, erzieherische Handlungen, Hilfsbereitschaft und die Fähigkeit zu verstehen, die als Haltung Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Wohlwollen und Empathie voraussetzen, sowie die Fähigkeit, Grenzen zu setzen (Blum 1993: 51f; Gilligan 1988: 16b; Leininger 1984: 4; Schnabl 2005: 59). In der christlichen Theologie wird Care mit dem Konzept Caritas verbunden. Diese lässt sich als eine soziale Handlungsdimension und Lebenspraxis, die einen konstitutionellen Teil des christlichen Glaubens bildet, verstehen und wird dem Bereich des guten Lebens zugewiesen (Schnabl 2005: 137, 151, 153, 156). Den Grundstein des christlichen Caritas-Gedanken legte Jesu Hinwendung zu den Leidenden und Armen. Eine Fürsorge-Ethik zu verfolgen, bedeutet nicht den Rückzug in das Private oder die Beschränkung derselben auf die private Domäne. Fürsorge-Handlungen sind in einem definierten sozialen Terrain anzusiedeln (Brückner 2003: 167). Fürsorge-Beziehungen und Fürsorge sind weder konfliktfrei noch mit Altruismus zu verwechseln, da die Sorge um andere und die Selbstsorge ausbalanciert sind (Brückner 2001b: 272, Brückner/Thiersch 2005: 139, Conradi 2001: 32, Schnabl 2005: 64). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Beziehungsraum zwischen anderen Menschen und zu einem Selbst im Zentrum der )UVRUJH XQG 6HOEVWVRUJH VWHKW &DUH EH]LHKW VLFK DXI DOOH Å%HUHiche von Sorgetätigkeiten sowie die emotionale Dimension des Umsorgens und Sorgetragens als ethischen Anspruch und zwiVFKHQPHQVFKOLFKH+DOWXQJ´GLHLPJHVDPWHQ/HEHQV]\NOXVHLQHV Menschen durchgeführt werden (Brückner 2003: 162). Diese leitet VLFKDXVGHU6HOEVWVRUJHDEGHUHQ=LHOHVLVWHLQÅ6DFUHG6HOI´]X ZHUGHQXQGGDPLWGLHÅJ|WWOLFKHQ´(LJHQVFKDIWHQLQ+DQGOXQJHQ umzusetzen.

autonome Selbstsorge [«] im Umgang mit seiner Situation ermögOLFKW´ 5HKERFk 2002: 143). 232

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Für- und Selbstsorge im Gesundheitshandeln der Frankfurter El Shaddai-Gemeinde Nachdem die Konzepte der Für- und Selbstsorge theoretisch dargestellt wurden, sollen sie anhand empirischer Daten näher beleuchtet werden. In den religiösen Vorstellungen und Handlungen der Gemeindemitglieder sind die Themen Fürsorge und Selbstsorge verankert und beeinflussen das Gesundheitshandeln. 8P ]X YHUVWHKHQ ZHOFKH ÅJHVXQGKHLWOLFKHQ´ 3UREOHPH GLH *emeindemitglieder lösen, muss zunächst ihr Verständnis von widrigen Umständen dargelegt werden (Nakonz & Shik 2009: 27). Gesundheit und Erkrankung lokalisieren die hier befragten Migranten auf der seelischen, geistigen und körperlichen Dimension. Probleme umfassen Heimweh, die Hilflosigkeit der Migranten bei familiären Problemen auf den Philippinen beziehungsweise die Ohnmacht, in solchen Fällen keine Unterstützung leisten zu können, ebenso wie Probleme bei der Arbeit und körperliche Beschwerden. Die Kirche ist ein Beziehungsraum, der die Konzentration auf das Heilige ermöglicht. Hierin findet dann auch die Anleitung zur Selbstsorge staWWHLQ3UR]HVVLQGHPHLQÅ6DFUHG6HOI´HUVFKDIIHQ ZHUGHQVROO'LHVHVÅ6DFUHG6HOI´ELOGHWGLH3HUVRQGXUFKGLHJ|Wtliche Erfahrung aus, indem sie die moralischen Eigenschaften Gottes wie Verantwortung oder Liebe lebt. Die Formen der Selbstsorge stehen in enger Beziehung zum Glauben. Dabei nutzen die El Shaddai Anhänger unterschiedliche Technologien des Selbst wie das Gebet oder die Beichte (Foucault: 1986, 18). Bedeutend sind die Motive der Disziplin und des maßvollen Lebens, ebenso jene des spirituellen Wachstums und der Transformation des Selbst, die zur Reife führt. Das geistige Wachstum, das Teil der Selbstsorge ist, wird oft in räumliche Metaphern gefasst. So formuliert Eddie: ÅAnd it started to reform, change. It is the first step that at least give me foresight, to focus my belief. I think it is time for me to change. So since XQWLOQRZ,GRQ·WNQRZLI,DPMXVWZDONLQJ,ZLOOFRQWLQXHWRORRN forward. To strengthen my faith spiritually.´

Spirituelles Wachstum wird hier als Bewegung (LP ÅJHKHQ´) als metaphorische Körperpraxis beschrieben, die in einem heiligen

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Raum verortet ist und durch die Prinzipien der Selbstliebe und 1lFKVWHQOLHEH DQJHOHLWHW ZLUG 'HU VSLULWXHOOH Å:HJ´ YHUlQGHUW die emotionale Ebene, wie Mary ausführt: Å1DMD ZLH JHsagt meine Prinzipien. Wie ich mit Menschen umgehe. Damals der hat etwas gegen mich getan, ich muss mich gleich rächen. Damals war ich auch so ungeduldig. Weißt Du, immer wütend. Ist JODXEHZHQLJHUJHZRUGHQ,FKELQUXKLJJHZRUGHQ´

'DVÅJHKHQ´LVWQLFKW nur metaphorischer Ausdruck für spirituelle Erfahrung, sondern wird in Ritualen konkret ausgeführt. So gehört zum Karfreitag der El Shaddai Gemeinde das Gehen des Kreuzwegs. In der Ikonographie des Kreuzweges beziehen sich die Mitglieder El Shaddais auf das Schicksal Jesus und identifizieren ihr Leben an den einzelnen Stationen mit Jesus Leben und Leiden. Sie beten: ÅWe will follow your way. We will take up the cross. We will walk the Way of the Cross with our family and friends, with our migrants and itinerant people, remembering and reflecting their struggles and sacriILFH« 0LJUDQWVFKRVHWRDFFHSWDQGFDUU\DQHYHU\GD\FURVV«7KHFURVVLVRXU identification with Jesus´ (R. Cruz Santos, STL: 2006).

Dadurch stärken sie ihre Würde und nehmen das eigene Leid und das der Anderen in Solidarität auf sich. Diese Haltung lässt sich als eine Form der gemeinschaftlich erlebten Selbstsorge lesen. Zugleich spüren und erfahren die Gemeindemitglieder Trost und ein Festgehaltensein, im Glauben, dass Jesus und Gott ihre Probleme kennen. Besonders die Verankerung der Migranten in Gott gibt ihnen Halt und Ordnung im scheinbar unbegrenzten Erleben der Migration. Dies zeigt sich in dem Gebet: ÅHe [Jesus] does good things to them [migrants]. He makes sure that they will bH SURWHFWHG DQG IDYRUHG«-HVXV JDYH KLV EHORYHG GLVFLSOH D PRWKHUZKRZRXOGORYLQJO\FDUHIRUKLP«*RGLVRXUDQFKRU:LWKKLm, ZHZLOOQHYHUIDLORUIDOO´ (R. Cruz Santos, STL: 2006).

Schließlich erfahren die Menschen durch Jesus Tod am Kreuz beziehungsweise durch die Auferstehung eine Hoffnung auf ein neues Leben und die Erlösung, wie sie es in ihrem Gebet äußern: 234

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Å7KHGHDWKRI-HVXVVLJQDOVRXUULVLQJWRQHZOLIH«We will reach WKH HWHUQDO SRUW WKDW LV KHDYHQ´ (R. Cruz Santos, STL: 2006; Nakonz/Shik 2009: 31). Das Kreuzwegbeten stellt ein komplexes Ritual dar, in dem eine konkret-körperliche Raumaneignung durch die Akteure in interdependente Bezüge zu einem Bildprogramm gesetzt und mit einer spirituellen Erfahrung verknüpft wird. Zur spirituellen Erfahrung korrespondiert die in Care-Konzepten wichtige Fähigkeit der Empathie, des Mit- und Nachempfindens des Leides Christi, die durch die räumliche Gestaltung und die Raumnutzung durch die Akteure unterstützt wird. Aber auch andere religiöse Praktiken tragen zum spirituellen und emotionalen Wachstum bei. Zu ihnen gehören die Predigten, die zur Selbstsorge anleiten, und das Gebet. Wie andere Predigten auch hat auch die Verkündung im gawain LKUHQ ÅIHVWHQ OLWXUJiVFKHQ 2UW ]ZLVFKHQ 6FKULIWOHVXQJ XQG *HEHW´ findet aber anders als in der katholischen Messe am Ende des Treffens statt (Beutel 2003: 1586, 1588). Die Schriftlesung ist dieselbe wie in der Messe und folgt dem liturgischen Kalender der römisch-katholischen Kirche. Predigten setzen sich hauptsächlich mit politischen, gesellschaftlichen, kirchlichen oder ethischen Themen auseinander und führen den Heilsdialog zwischen Gott und der Gemeinde (Nicol 2003: 1585). Eine Predigt ist handelnde Kommunikation und gestaltet Beziehungen, greift in die menschliche Wirklichkeit ein und schafft neue Realitäten (Engemann 2003: 1601). Am Beispiel des biblischen Textes der zehn Gebote erläutert ein Prediger die soziale Bedeutung dieser grundlegenden religiösen Normsetzung: ÅIn fact if you are going to digest the 10 commandments, the first four commandments are about the relationship between God and the people, the commandments six to ten are about the relationship between the people.µ

Damit greift er die zentrale Botschaft der Liebe im Neuen Testament auf, die in ihrer Fortsetzung als die Ideale der Selbstliebe und Nächstenliebe verstanden werden können.Aus ihr leitet sich auch die religiös begründete soziale Liebestätigkeit als Nächstenliebe ab, deren Voraussetzung die christliche Regel der Liebe zur Gestaltung menschlicher Beziehungen ist (Prohl 2008: 335, 336).

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Neben diesem Thema beziehen sich die Prediger immer wieder auf die Bedeutung des Gebets. Beim Gebet reden die Menschen Gott an, um mit ihm dialogisch eine Realität zu konstruieUHQ XQG GHQ ÅZLUNHQGHQ .RQWDNW´ ]Zischen ihnen zu bezeugen (Rudolph: 1989: 9). Gebete sind interpretative Akte, durch die das Leben und die Krisen an Bedeutung gewinnen. Die hergestellte Realität einer Beziehung zu Gott äußert sich beispielsweise in Wirkungen eines Gebets. Eddie erzählte im Interview von einem *HEHWVHUOHEQLVGDVHUDOVÅ+HLOXQJ´LQWHUSUHWLHUW6RIKOWHHUVLFK an einem Tag krank, eigentlich zu schwach, um zur Arbeit zu gehen. Er betete: ÅI said, God please help me. I will be in big trouble, if I go not to work. So please. Later on I drank water and little by little just a few minutes SDVVHGDQGLWVWDUWHGWRVWDELOL]Hµ

Nicht in jedem Fall ist Heilung urplötzlich zu erlangen, sondern ist in vielen Fällen ein Weg, bei dem die Menschen den Mut und die Kraft erhalten zu genesen. Deutlich wird hier, dass Selbstsorge keine Selbstbezogenheit bedeutet, sondern immer auch auf den anderen verweist. Gesund und leistungsfähig zu sein ist für die philippinischen Migranten notwendig, da ihre Einkünfte in Deutschland das Überleben der Familie zuhause sichern. Deshalb ist auch die Krankheitserfahrung für Eddie dramatisch und krisenhaft: fällt seine Arbeitskraft und damit sein Einkommen aus, kann er seine Familie nicht mehr unterstützen. (LQÅ6DFUHG6HOI´VROODXFKGLHLP1HXHQ7HVWDPent verankerte Nächstenliebe umsetzen, welche die Basis für FürsorgeHandlungen ist. Die Gesundheitsfürsorge als gemeindliches Handeln bezieht sich auf die Heilungshandlungen Jesu, die in den Evangelien zahlreich berichtet werden (Lang: 1984: 225). So stellen sie sich Gott als Beschützer, Zuflucht oder Heim vor oder aber auch als fürsorglichen *RWWZLH-RDQHVDXVGUFNW´7KDWLVZK\, KDYHDSHDFHRIPLQGEHFDXVH*RGWDNHVFDUHµ(LQHDQGHUH*Rttesvorstellung rückt den Aspekt des Helfers in den Vordergrund. %HWKVDJWÅ)UPLFKLVWHUVRPHLQJUR‰HU+HOIHU(ULVWLPPHUGaEHL (JDO ZR LFK KLQJHKH´ 'HXWOLFK ZLUG KLHU GDVV LP 0LJUDWionskontext wichtig ist, dass Gott mitgeht, also die Menschen ihn an jedem Ort erfahren.

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Ebenso wichtig ist für die Migrantinnen auch die Figur Marias in ihrer Gestalt als Mutter. Durch die eigene Erfahrung als Mutter sehen gerade die Frauen eine besondere Beziehung zu Maria, mit der ein gemeinsamer Bestand an Emotionen geteilt wird. Die Sorge und die Sehnsucht nach den eigenen Kindern vermag von einer anderen Mutter nachvollzogen werden ² so die Vorstellung. Maria wird von den Migranten oft als Prototyp der fürsorglichen Mutter angesprochen. Dies deckt sich mit dem in der Literatur angesprochenen Bild Mariens, die das Gewissen, aber auch Wärme, Liebe und Anteilnahme verkörpert (Mulder 1997: 41). Dieses Bild der reinen, vergebenden und fürsorglichen Mutter zeigt sich beispielsweise in den Aussagen von Jocelyn: ,,Oh Mother Mary is something special. She is close to my heart. She knows my loneliness. She knows my worries. Because she is also a mother. I can cry to her. She holds my hand. She gives me peace. Anywhere I am she is there. And I do not feel ashamed with her. I can tell her anything. She is not condemning. She knows when I am angry. She knows when I am in my worst temper. But still she is there for me. Very understanding.´

Wie Gott auch begleitet Maria damit den Weg der Migranten. Wie wichtig die körperliche und damit auch räumliche Nähe beim Konzept der Fürsorge ist, zeigt sich in dem folgenden Gebet, das während des Catholic Life in the Spirit Seminar, dem Initiationsritus der El Shaddai Gemeinde, gesprochen wurde. Beim Catholic Life in the Spirit Seminar erfahren die Novizen die Geistestaufe, die als ÅQRWZHQGLJH XQG Hlementare Grundlage für weiteres Wachstum XQGGHQ'LHQVWIU&KULVWXV´YHUVWDQGHQZLUGXQGGXUFKGLHGLH Menschen die Geistesgaben empfangen können (Duffield/van Cleave 2003: 377; Kern 1997: 222; Williams 2002: 360). Durch die Geistestaufe grenzt sich die charismatische Bewegung von den klassischen Theologien ab. Das Gebet lautet: ÅIf they needed more of a mother´s love send them your mother, Mary, to provide whatever is lacking, ask her to hold them close, to rock them, to tell them stories and fill in those empty parts of them which need the comfort anG ZDUPWK RQO\ D PRWKHU FDQ JLYHµ (DWXI Prayer Partner Foundation International o. J.: 28-29).

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Diese Liebe wird zur Nächstenliebe in der von Eddie formulierten Handlungsanweisung: ÅAs Christians, we have to just maintain, jolly, happy time every time and respect your brothers and sisWHUVµ Jay führt zudem aus, dass es eine Verpflichtung sei, anderen Menschen zu helfen, da sich nur darin die Liebe zu Gott verwirklichen kann. Diese Verpflichtung erklärt sich erstens daraus, dass die Gesundheit eines Individuums nicht sein Problem allein ist, sondern der gesamten Gemeinde, da diese als sozialer Körper, /HLE&KULVWLRGHUÅVyPD&KULVWRX´ZLHLP.RULQWKHUEULHI zu lesen, zu verstehen ist (Hollenweger: 1997: 283; Morris: 1972: 12). Heilung geschieht deswegen auch innerhalb der Gemeinde, und durch die Reintegration des Kranken in die Gemeinde wird auch sie geheilt. Zweitens legt der christliche Glaube im besonderen Maß Wert auf Nächstenliebe, Unterstützung Bedürftiger und Vergebung. Diese Normen sind die Grundlage für soziale Beziehungen, in denen fürsorgliche Handlungen gelebt werden können (Krause/Wulff 2007: 74). In der Gemeinde findet Fürsorge auf der horizontalen Ebene in den Beziehungen zwischen den Gemeindemitgliedern und auf der vertikalen Ebene in der Beziehung zu Gott statt. So erleben die Menschen in akuten Krankheitsfällen die Fürsorge der anderen. Joan erzählt von der Unterstützung, die sie nach einer Bandscheibenoperation erhielt. Diese Hilfe umfasste ihre gesamte Person. ÅSo what is interesting is the people from El Shaddai, they are not only taking care of my daughter at home, visiting me in the hospital. They are bringing me everything that I need. My clothes, they are taking home and wash. They are there helping me at home, household help. Somebody live with me, stay with me, sleeping together at home, because I cannot cook, go to the toilet alone, I cannot change my clothes. +HOSLQJHYHU\WKLQJµ

Die Fürsorge wird damit aus dem konkreten Kirchenraum in den öffentlichen Raum des Krankenhauses und den privaten Raum des Heims getragen und verwirklicht. Aber auch die emotionale Zugewandtheit, das Zuhören und Dasein für die anderen Gemeindemitglieder ist bedeutsam. So suchte Mary den Gemeinde-

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ältesten auf, um sich wegen ihrer Unfruchtbarkeit beraten zu lassen, und fand in seiner Anteilnahme eine Hilfestellung. In solchen und anderen Fällen ist das Gebet für die betroffene Person wichtig und spiegelt wider, dass in einem Kontext, in dem Fürsorge bedeutend ist, die Welt eine Beziehungswelt ist. Jane formuliert: Å'DVKLOIWVRZHLOGDVHLQ]LJHZDVULFKWLJKHOIHQ kann, ist, dass Du betest für die andere Leute nicht nur Dein self. Das ist das richtige. Du musst so beten für die andere Leute. Nicht nur immer für mein self. Das geht nicht, das ist so wie selfish.´

Die Gemeindemitglieder beten jedoch nicht nur für andere Anhänger El Shaddais, sondern haben früher auch für Patienten im Krankenhaus gebetet, wie die Gründerin der Gemeinde erzählte. Damit überschreitet die Fürsorge den Raum der Gemeinde und wird im Alltagsleben der Gemeindemitglieder verankert. Im Leben der Gemeinde sind zwei Rituale, die in der Fürsorgeperspektive gedeutet werden können, bedeutsam. Diese sind das eingangs erwähnte Heilungsgebet, das jeden ersten Sonntag im Monat stattfindet, und das Sharing (Bekenntnis oder Zeugnis ablegen), das jeden Sonntag geschieht. Der kirchliche Raum ermöglicht eine Abgrenzung vom alltäglichen Leben und eröffnet einen vertikalen und horizontalen Beziehungsraum, in dem durch Gott und die Menschen erfahrene Fürsorge möglich wird. Beim Zeugnis Ablegen öffnen sich die Menschen in einer im Idealfall von Vertrauen getragenen Atmosphäre und erzählen persönliche Erfahrungen und Emotionen positiver und negativer Natur, die in allen Fällen religiös gedeutet werden. So berichtet Jay vom Tod seines Vaters und führt aus, dass er dennoch nicht alleine ist, da Gott bei ihm ist. Beim Sharing erfahren die Menschen, dass sie eine Stimme haben und ihnen zugehört wird und andere an ihrem Schicksal teilhaben. Beim Heilungsgebet werden körperliche, seelische und spirituelle Leiden geheilt, indem die Menschen ihr Leben auf Gott ausrichten. Die Bedeutung, die das Heilungsgebet einnimmt, ist eine Besonderheit in der charismatischen Bewegung. Es leitet sich aus dem Leben Jesu und der frühen christlichen Gemeindeab, in der viele spirituelle und physische Heilungen vorgenommen wurden (Poloma 1982: 85). Hier kommt die vertikale Ebene, die Beziehung

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zu Gott, ins Spiel. Der Patient wird von dem Heiler, der ein Medium für Gottes Kraft ist, an den Händen und der Stirn gesalbt. Der Heiler betet, dass in Jesus Namen Gott den Kranken heilen und sich um ihn kümmern soll. Um den Heiler und den Patienten stehen weitere Betende, die mit erhobenen, auf den Patienten zeigenden Händen die Macht Gottes fokussieren. Durch die Körper der Akteure wird hier ein Raum geschaffen, innerhalb dessen Heiler und Kranker agieren. Es ist ein Raum im Raum, denn das ganze Ritual findet im Kirchenraum, dem sakralen Raum, statt. Die Betenden bilden nicht nur einen Rahmen um das Heilungsgebet, sondern tragen auch durch ihr Mitbeten (Fürsorge) zum Heilungserfolg bei. Das Bild, das hier formiert wird, stellt symbolisch die Bedeutung der Gemeinde als Beziehungs-Raum zur Herstellung und Auslebung von Selbst- und Fürsorge dar. Zum Heilungsgebet gehört für viele der Akteure das ansFKOLH‰HQGH Å5uKHQ LP *HLVW´, die Ruhenden wirken körperlich entspannt (Zimmerling 2002: 290). Diese Heilung ist eine Lernerfahrung, in der die Menschen ihre Grenzen akzeptieren und zugleich durch das Gotteserleben diese Grenzen transzendieren, so dass sich durch das religiöse Ritual die Bedeutung der Krankheit beziehungsweise der Probleme ändert (Ritschl: 1989: 475). Damit haben das Heilungsgebet und das Ruhen im Geist eine seelsorgerische Wirkung (Zimmerling 2002: 290). Eddie argumentiert: ÅWell, pray over is VRPHWKLQJDWWRXFKZLWK\RXUEHOLHI´ Das Heilungsgebet hat aber auch eine wichtige soziale Funktion: Es repräsentiert die Bedeutung der Gemeinde als Schutzraum und Kommunikationsraum. Hier zeigt sich, dass in FürsorgeBeziehungen Berührungen eine besondere Rolle spielen, da sie eine Brücke zwischen den Menschen sowie Gott und den Menschen bauen. Besonders das Symbol des Handauflegens kondensiert eine Reihe an Bedeutungen. Es erinnert an die heilende Berührung Jesu, wie sie in den Evangelien erwähnt wird, die Solidarität der christlichen Gemeinde und überbrückt interpersonale Grenzen (Csordas 1997: 63).

Heilender Beziehungsraum ± ein Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gemeinde einen Beziehungsraum bildet, in dem verschiedene Formen der Fürsorge 240

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und Selbstsorge gelebt werden. Diese Praxen helfen den hier untersuchten Migranten sowohl bei der alltäglichen Lebensbewältigung als auch bei der spirituellen Weiterentwicklung. Diese Fürund Selbstsorge erwächst aus dem Wohlstandsevangelium, das den Menschen ein Leben frei von gesundheitlichen, spirituellen und finanziellen Nöten verheißt, und dem christlichen Wert der Nächstenliebe. Diese Glaubensvorstellungen bilden neben der strukturellen Basis der Gemeinde die Voraussetzungen für die Akte der Für- und Selbstsorge. Praktiziert wird diese auf der horizontalen Ebene in den Beziehungen zu den Gemeindemitgliedern und auf der vertikalen Ebene durch die Zugewandheit Gottes. Aber auch in der Selbstsorge rückt das Moment der Beziehung (zu Gott) in den Vordergrund, da die Menschen durch die Beschäftigung mit dem eigenen Charakter in der Auseinandersetzung mit *RWWHLQÅ6DFUHG6HOI´KHUDXVELOGHQ

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Au torinnen und Autoren Ankele, Monika, Mag. Dr. phil., geb. 1978 in Österreich; Forschungsschwerpunkte: Psychiatrie- und Alltagsgeschichte, Cultural Studies; Monographie "Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung PrinzKRUQ´ (Wien/Köln/Weimar 2009); 2009 mit dem Käthe-Leichter Preis für Frauenforschung ausgezeichnet. E-mail: [email protected]

Bogen, Cornelia, MA., geb. 1981 in Deutschland; derzeit am Graduiertenkolleg des Exzellenznetzwerkes Aufklärung-ReligionWissen sowie am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaften, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Promotionsprojekt: Der aufgeklärte Patient ² Strukturen und Probleme der Gesundheitskommunikation von der Buchkultur im 17./18. Jahrhundert bis zum digitalen Zeitalter. Forschungsschwerpunkte: Medien-, Medizin- und Kulturgeschichte, Medien und Alter, Interkulturalität E-mail: [email protected]

Bremberger, Bernhard, Dr., geb. 1953 in Deutschland; Musikethnologe, Lokalhistoriker. Forschungen zu Zwangsarbeit in Berlin (www.zwangsarbeit-forschung.de). E-mail: [email protected]

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Nicholas Eschenbruch, Dr. phil., geb. 1972 in Deutschland; 20032009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg, dort Koordination eines DFG-Netzwerks zur Geschichte der Arzneistoffe und Leitung eines DFG-Projektes zur Geschichte der Arzneimittelregulierung. Seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Soziologie/Sozialkunde der Universität Augsburg, dort Forschungsprojekt zu Evaluation und Qualitätsmanagement von Palliativdiensten. Forschungsschwerpunkte: Medizin und Pflege in sozialwissenschaftlicher, kulturanthropologischer und zeithistorischer Perspektive. E-mail: [email protected]

Golob, Andreas, Mag. & Dr. phil., geb. 1977 in Österreich; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Universitätsarchiv der Karl-FranzensUniversität Graz, Dissertation zum Grazer Buchhandel um 1800, seither u. a. Forschungstätigkeit zu Gesundheitsratgebern, Medien der Gesundheitserziehung. E-mail: [email protected]

Hänel, Dagmar, Dr. phil, geb. 1969 in Deutschland, 2002-2008 Assistentin am Institut für Kulturanthropologie/Volkskunde der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, seit 2008 Leiterin der Abteilung Volkskunde im LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, Bonn. Forschungsschwerpunkte: Körperkulturen, medikale Kultur, populare Religiosität, Ritual, Alltagskulturen E-mail: [email protected]

Lisner, Wiebke, Dr., geb. 1972 in Deutschland; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin der Medizinischen Hochschule Hannover, Forschungsschwerpunkte: Medizingeschichte; Frauen- und Geschlechtergeschichte. Der Beitrag entstand im Kontext des DFGgeförderten Forschungsprojektes: ŶPolitik¶ in deutschen und britischen medizinischen Fachjournalen von der Zwischenkriegszeit

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AUTORINNEN UND AUTOREN

bis in die 1950er Jahre´ unter der Leitung von Sigrid Stöckel und Brigitte Lohff. E-mail: [email protected]

Pollmeier, Heiko, Dr. phil., geb. 1967 in Deutschland; Medizinische Hochschule Hannover, Forschungsschwerpunkte: Aufklärung, Medizin-, Wissenschafts- und Kommunikationsgeschichte (18.-20. Jh.). Der Beitrag entstand im Kontext des DFG-geförderten Forschungsprojektes: ÅÄPolitik¶ in deutschen und britischen medizinischen Fachjournalen von der Zwischenkriegszeit bis in die 1950er Jahre´ unter der Leitung von Sigrid Stöckel und Brigitte Lohff. E-mail: [email protected]

Stöckel, Sigrid, Dr. und Master of Public Health, geb. 1956 in Deutschland; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover; Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte der Medizin, Eugenik, Geschichte des Öffentlichen Gesundheitswesens und der Prävention; Entwicklung von Fachmedien. Mit Brigitte Lohff leitet sie das DFG-Forschungsprojekt: ÅÄPolitik¶ in deutschen und britischen medizinischen Fachjournalen von der Zwischenkriegszeit bis in die 1950er Jahre´, in dessen Kontext der Beitrag entstand. E-mail: [email protected]

Thiesbonenkamp, Julia, M.A. Bachelor of Science, geb. 1979 in Kamerun; Institut für Ethnologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Dissertationsvorhaben: Für- und Selbstsorge philippinischer Migranten. E-mail: [email protected]

Unterkircher, Alois, Mag., geb. 1971 in Österreich; Stipendiat am Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung Stuttgart und wissenschaftlicher Mitarbeiter am historischen TeilpURMHNWGHV6)%+L0$7 Å7KH+LVWRU\RI0LQLQJ$FWLYLWLHVLQWKH 249

AUTORINNEN UND AUTOREN

7\URO DQG $GMDFHQW $UHDV´  GHU 8QLYHUVLWlW ,QQVEUXFN )Rrschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte der Medizin, Geschichte der Männlichkeiten, Bergbauzentren der frühen Neuzeit als geographische, territoriale und soziale Räume. E-mail: [email protected]

Wolff, Eberhard, Dr. rer. soc., geb. 1959 in Deutschland; Privatdozent am Institut für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel, Medizinhistoriker am Medizinhistorischen Institut der Universität Zürich, Ausstellungskurator. Forschungen und Publikationen zu unterschiedlichen Aspekten im Überschneidungsbereich von Kulturwissenschaft und Medizingeschichte. E-mail: [email protected], [email protected]

Wolfram, Gernot, Prof. (FH), Dr., geb. 1975 in Deutschland; Fachhochschule Kufstein (Tirol), Forschungsprojekte: "Transkulturelle Narrative - Erzählen unter extremen Bedingungen" im Rahmen des Forschungsprojekts "Interkulturelle Lehrkonzepte", gefördert durch den Tiroler Wissenschaftsfonds. E-mail: [email protected]

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KörperKulturen Anke Abraham, Beatrice Müller (Hg.) Körperhandeln und Körpererleben Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld Januar 2010, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1227-1

Franz Bockrath, Bernhard Boschert, Elk Franke (Hg.) Körperliche Erkenntnis Formen reflexiver Erfahrung 2008, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-227-6

Aubrey de Grey, Michael Rae Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung April 2010, 396 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1336-0

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3) ANZ1379.p 238524692690

KörperKulturen Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte August 2010, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3

Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.) »Für Dein Alter siehst Du gut aus!« Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven Juni 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1321-6

Paula-Irene Villa (Hg.) schön normal Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst 2008, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-889-6

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KörperKulturen Corinna Bath, Yvonne Bauer, Bettina Bock von Wülfingen, Angelika Saupe, Jutta Weber (Hg.) Materialität denken Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper

Karen Ellwanger, Heidi Helmhold, Traute Helmers, Barbara Schrödl (Hg.) Das »letzte Hemd« Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur

2005, 222 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-336-5

Januar 2010, 360 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1299-8

Karl-Heinrich Bette Körperspuren Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit 2005, 298 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-423-2

Bettina Bock von Wülfingen Genetisierung der Zeugung Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte 2007, 374 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-579-6

Claudia Franziska Bruner KörperSpuren Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-298-6

Michael Cowan, Kai Marcel Sicks (Hg.) Leibhaftige Moderne Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933 2005, 384 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-288-7

Gerrit Kamphausen Unwerter Genuss Zur Dekulturation der Lebensführung von Opiumkonsumenten 2009, 294 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1271-4

Swen Körner Dicke Kinder – revisited Zur Kommunikation juveniler Körperkrisen 2008, 230 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-954-1

Stefanie Richter Essstörung Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen 2006, 496 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-464-5

Antje Stache (Hg.) Das Harte und das Weiche Körper – Erfahrung – Konstruktion 2006, 208 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-428-7

Martin Stern Stil-Kulturen Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken Januar 2010, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1001-7

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3) ANZ1379.p 238524692690