Selbstachtung: Anspruch und normative Geltung affirmativer Selbstverhältnisse 9783110270846, 9783110270815

Kant’s rationale for making self-respect an immediately clear precondition for action grounded in freedom is in need of

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German Pages 273 [276] Year 2012

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Table of contents :
Die Verfügbarkeit über das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig?
1. Begründete Selbstverhältnisse
1.1 Pflichten gegen sich selbst I
1.2 Pflichten gegen sich selbst II
1.2.1 Person und Persönlichkeit I
1.2.2 Person und Persönlichkeit II
1.2.3 Selbstschätzung als Voraussetzung für Verbindlichkeit und Pflicht
2. Selbstachtung und Selbstschätzung – Zur Struktur affirmativer Selbstverhältnisse
2.1 Begriffsgeschichtliche Erörterungen
2.1.1 Das Universal-Lexicon (1732-1754) von Johann Heinrich Zedler
2.1.2 Versuch eines vollständigen grammatischkritischen Wörterbuchs (1774-1786) von Johann Christoph Adelung
2.1.3 Versuch einer allgemeinen deutschen Synonymik (1795-1802) von Johann August Eberhard
2.1.4 Das Wörterbuch der Deutschen Sprache (1807-1811) von Joachim Heinrich Campe
2.1.5 Zusammenfassung
2.2 Affirmative Selbstverhältnisse bei Kant
2.2.1 Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764)
2.2.1.1 Amour de soi und amour-propre – Weisen des Selbstbezugs bei Rousseau
2.2.1.2 Hutchesons moral sense
2.2.1.3 Hume über moral sentiment und self-love
2.2.1.4 Konzepte affirmativer Selbstbezogenheit im deutschsprachigen Raum
2.2.2 Vorlesung zur Moralphilosophie
2.2.3 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785/86) und Kritik der praktischen Vernunft (1788)
2.2.4 Metaphysik der Sitten Vigilantius
2.2.5 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/94)
3. Performative Selbstverhältnisse
3.1 Die Ausgangslage
3.2 Eine ,Logik der Selbstachtung‘
3.3 Das Verhältnis von Selbstachtung und Selbstschätzung
3.4 Der Umgang mit anderen als Umgang mit sich selbst
3.5 Der wechselseitige Verweisungszusammenhang im Kontext des Spiels
3.6 Abschließende Betrachtung: Noch einmal Werther
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
Stellenregister
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Selbstachtung: Anspruch und normative Geltung affirmativer Selbstverhältnisse
 9783110270846, 9783110270815

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Falk Bornmüller Selbstachtung

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante

Band 108

De Gruyter

Selbstachtung Anspruch und normative Geltung affirmativer Selbstverhältnisse

von

Falk Bornmüller

De Gruyter

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnisstiftung sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

ISBN 978-3-11-027081-5 e-ISBN 978-3-11-027084-6 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Fr alle, die ich liebe, schtze und achte.

Vorwort Der Titel dieses Buches mag die vielleicht naheliegende Vermutung provozieren, der Autor habe sich in einsamer, kontemplativer Zurckgezogenheit ausfhrlich mit einer bestimmten Form intimer Selbstbezogenheit beschftigen kçnnen. Tatschlich ist jedoch – wie im folgenden zu zeigen sein wird – die individuelle Selbstachtung derart auf das Miteinander von Menschen in einer sozialen Gemeinschaft angewiesen, daß ein rein solipsistischer Umgang mit sich selbst geradezu unvorstellbar ist. Aus diesem scheinbar einfachen, aber bemerkenswerten Grund habe ich im Rckblick auf die vergangenen Jahre vielen Menschen Vieles zu verdanken. Denn kluge, verstndnisvolle, ehrlich interessierte Freunde, Kollegen, Studierende und nicht zuletzt Angehçrige haben mir in vielfltigen Begegnungen, intensiven Gesprchen und klrenden Diskussionen nicht nur Pfade des theoretischen Denkens gewiesen, sondern vor allem gezeigt, was es bedeutet, geliebt, geschtzt und geachtet zu werden. Erst durch diese respektvolle Besttigung und Untersttzung konnte berhaupt die nçtige Zuversicht entstehen, diese Aufgabe anzugehen und hoffentlich auch gelingen zu lassen. Fr ein im Rahmen des Graduiertenkollegs „Menschenwrde und Menschenrechte“ gewhrtes Promotionsstipendium von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bin ich ebenso dankbar wie den Gutachtern Nikolaus Knoepffler und Volker Gerhardt fr ihr Vertrauen und die Bereitschaft, mich bei dieser Untersuchung mit hilfreichen Hinweisen zu untersttzen. Jeweils großzgige Druckkostenzuschsse der Johanna und Fritz Buch Stiftung sowie der Boehringer Ingelheim Stiftung haben erheblich zur Ermçglichung dieser Publikation beigetragen. Ein besonderer Dank gilt schließlich zwei besonderen Menschen, die mein Leben mehr geprgt und bereichert haben, als ihnen selbst vielleicht bewußt ist: Beiden, meiner Mutter Renate Bornmller und meiner Lebensgefhrtin Wiebke Helm, danke ich aufrichtig – und schlicht fr alles.

Inhalt Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begrndete Selbstverhltnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Pflichten gegen sich selbst I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Pflichten gegen sich selbst II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Person und Persçnlichkeit I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Person und Persçnlichkeit II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Selbstschtzung als Voraussetzung fr Verbindlichkeit und Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstachtung und Selbstschtzung – Zur Struktur affirmativer Selbstverhltnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Begriffsgeschichtliche Erçrterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das Universal-Lexicon (1732–1754) von Johann Heinrich Zedler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Versuch eines vollstndigen grammatischkritischen Wçrterbuchs (1774 – 1786) von Johann Christoph Adelung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Versuch einer allgemeinen deutschen Synonymik (1795 – 1802) von Johann August Eberhard . . . . . . . 2.1.4 Das Wçrterbuch der Deutschen Sprache (1807 – 1811) von Joachim Heinrich Campe . . . . . . 2.1.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen (1764) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Amour de soi und amour-propre – Weisen des Selbstbezugs bei Rousseau . . . . . 2.2.1.2 Hutchesons moral sense . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.3 Hume ber moral sentiment und self-love . . 2.2.1.4 Konzepte affirmativer Selbstbezogenheit im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Vorlesung zur Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.2.3 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785/86) und Kritik der praktischen Vernunft (1788) . . . . . . . 169 2.2.4 Metaphysik der Sitten Vigilantius . . . . . . . . . . . . . . . 182 2.2.5 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/94) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3. Performative Selbstverhltnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Eine ,Logik der Selbstachtung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Verhltnis von Selbstachtung und Selbstschtzung . . . . 3.4 Der Umgang mit anderen als Umgang mit sich selbst . . . . . 3.5 Der wechselseitige Verweisungszusammenhang im Kontext des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Abschließende Betrachtung: Noch einmal Werther . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkrzungsverzeichnis AA ADB AGPh AKG APhQ ARSP DZPh EU FZPhTh HWPh IASL

Kant (1900 ff.) Allgemeine deutsche Bibliothek Archiv fr Geschichte der Philosophie Archiv fr Kulturgeschichte American Philosophical Quarterly Archiv fr Rechts- und Sozialphilosophie Deutsche Zeitschrift fr Philosophie Ethik & Unterricht Freiburger Zeitschrift fr Philosophie und Theologie Historisches Wçrterbuch der Philosophie Internationales Archiv fr Sozialgeschichte der deutschen Literatur JbREthik Jahrbuch fr Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics JHI Journal of the History of Ideas JHP Journal of the History of Philosophy JP The Journal of Philosophy KS Kant-Studien ND Nachdruck Phil. & Pub. Aff. Philosophy and Public Affairs PhQ Philosophical Quarterly PPQ Pacific Philosophical Quarterly PQ The Philosophical Quarterly PW Hume (1992) Refl. Reflexion Soc. Theory & Prac. Social Theory and Practice SPh Studies in Philology T Hutcheson (2004) ThPh Theologie und Philosophie VM Kant (2004) WA Goethe (1887 – 1912) ZPhF Zeitschrift fr philosophische Forschung

Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig? Als sich Werther in der Nacht zum 24. Dezember 1772 die Pistole an die Schlfe setzt, endet fr den empfindsamen jungen Mann eine anderthalb Jahre whrende Zeit des emotionalen Aufruhrs. Die verzweifelte Liebe zu einer verheirateten Frau hat ihn in eine scheinbar ausweglose Situation gefhrt – aber warum entscheidet sich Goethes leidenschaftlicher Protagonist fr eine solch radikale Tat, die im Grenzbereich des Menschenmçglichen liegt, da mit ihrer Ausfhrung sich der Ausfhrende zugleich selbst vernichtet? Hatte sich nicht Werther selbst zuvor ber diejenigen seiner Mitmenschen beklagt, die „ohne Sinn und Gefhl an dem Wenigen, was auf Erden noch einen Werth hat“ leben (WA I/19, 121), mithin das wirklich Schtzenswerte an einer menschlichen Existenz verleugnen? Sollte dieses „Wenige“ nicht zumindest auch die Aufrechterhaltung der eigenen Existenz mit einschließen? Werther leidet, so drfen wir vermuten, nicht an einer psychischen Krankheit, sondern ist eine erwachsene, zurechnungsfhige und fr sich selbst verantwortliche Person. Er ist von Gefhlen, die er vollstndig als Teil seiner eigenen Persçnlichkeit begreift, geleitet und geradezu getrieben, bis er keinen anderen Weg mehr sieht, als diesem Dasein ein selbstbestimmtes Ende zu setzen. Ist Werther also ein unschuldiges Opfer der Umstnde, der unglckseligen Konstellationen, in denen ein Werther nicht das sein, verkçrpern und leben darf, was ihn als Werther ausmacht? Nicht wenige Leser werden diese Frage vermutlich verneinen, denn es sollte, so kçnnte man anmerken, doch gewichtigere Grnde fr die Rechtfertigung eines solchen Schrittes geben als eine enttuschte Liebe und ein damit einhergehender emotionaler Affekt. Tatschlich handelt Werther nicht spontan oder tçtet sich versehentlich, etwa beim bloßen Betrachten der geladenen Waffen. Er schreibt Briefe und versucht, sich zu erklren, er trifft entsprechende Vorbereitungen und verwendet nicht eine beliebige Pistole, sondern gerade jene aus dem Besitz von Albert, dessen Frau Lotte er liebt und die diese selbst ihm noch zukommen lassen muß. Und doch, sind diese Umstnde ausreichend, um einen Suizid zu rechtfertigen?

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Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig?

Was Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) zu einem so aufsehenerregenden und kontroversen Werk gemacht hat, ist vielleicht weniger die Zahl der jugendlichen Nachahmer, die in Werthers Tracht gekleidet ihrem Vorbild zu folgen suchten, als vielmehr die darin enthaltene Botschaft, daß es einer Person prinzipiell mçglich ist, und unter bestimmten Umstnden sogar mçglich sein muß, ihr Leben eigenmchtig zu beenden. Der fiktive Herausgeber des Werther berichtet, im Zimmer des Schwerverletzten habe ein Exemplar der Emilia Galotti „auf dem Pulte aufgeschlagen“ (WA I/19, 191) gelegen. Dass die werthersche Tat mutmaßlich ihr literarisches Vorbild in der Emilia Galotti aus Lessings gleichnamigem Trauerspiel gefunden hat, ist ein Indiz fr eine vergleichbare Auffassung vom ,Wert des Lebens‘: Emilia und ihr Vater Odoardo erkennen gemeinsam, daß die Ehre und die Integritt der unschuldigen Opfer der Intrige, inszeniert von des Prinzen Kammerherrn Marinelli, nicht mehr zu retten ist. Die vom Vater erstochene Emilia wird so zu einer „Rose[,] gebrochen, ehe der Sturm sie entblttert“.1 Somit scheint hier die bloße Voraussicht auf ein Dasein, welches den eigenen Vorstellungen zuwider ist, Grund genug zu sein, das Leben zu beenden. Aber hat Emilia nicht etwas Entscheidendes mißverstanden, wenn sie meint, sich den verfhrerischen Reizen unzchtiger Unterhaltung in diversen Gesellschaften auf Dauer nicht entziehen zu kçnnen? Worin liegen der Zweifel und die Furcht begrndet, sie selbst kçnne angesichts dieser herausfordernden situativen Gegebenheiten nicht mehr den eigenen Ansprchen an das ,Selbstbild‘ ihrer Person entsprechen? Haben nicht beide, Werther und Emilia, bersehen, daß es eben nicht bloß die zuflligen Umstnde sind, die ihr Leben und ihre Entscheidungen bestimmen, sondern daß es vielmehr auf sie selbst und ihre eigene Willensstrke ankommt? In der Betrachtung dieses Problems lassen sich zunchst zwei Aspekte unterscheiden: Zum einen kann man sich der grundstzlichen Frage zuwenden, ob ein Suizid berhaupt zu rechtfertigen ist oder ob ein generelles Suizidverbot besteht.2 Andererseits ist es mçglich, den Suizid zunchst als 1 2

Lessing (2000), 370. Es gibt im Deutschen mehrere Ausdrcke, um die selbstbestimmte und selbst durchgefhrte Beendigung des eigenen Lebens zu bezeichnen. Einige dieser Bezeichnungen beinhalten eine implizite Bewertung des Vorgangs, wie etwa Selbstmord in negativer oder Freitod in positiver Konnotation. In der vorliegenden Untersuchung wird Selbsttçtung in einem neutralen Sinne und synonym mit Suizid (gemß des lateinischen sui caedere – sich selbst tçten) verwendet. Diese Verwendung entspricht weitgehend der Sprachregelung in der neueren Forschung, siehe dazu etwa Bhr (2002) sowie Wittwer (2003), whrend Decher (1999) zwar

Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig?

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Tatsache anzuerkennen und davon ausgehend zu berlegen, ob die im jeweiligen Fall gegebenen Grnde hinreichend sind und ob sich anhand solcher Fallstudien eventuell allgemeine Rechtfertigungen ableiten lassen. Als Mitmenschen und Handelnde in einer sozialen Gemeinschaft drfen wir von einem anderen Menschen eine Erklrung fr sein Handeln erwarten – auch und gerade wenn es um eine Entscheidung geht, die auf den ersten Blick nur diese eine Person selbst zu betreffen scheint. Die von uns gestellte Frage nach den Grnden fr einen Suizid wird sich dabei nicht einmal vordringlich auf die spezifischen Umstnde beziehen, sondern vielmehr auf das Verhltnis dieser Person zu sich selbst eingehen: Was ging in diesem Menschen vor? Wie hat er sich selbst gesehen? Wieso ist ihm sein Leben unertrglich geworden? Wenn jemand diese Fragen an sich selbst richtet, wird er Stellung zu seinem Selbst wie zu einem tatschlichen Gegenber beziehen. Was uns ein Werther jedoch weitgehend schuldig bleibt, ist eben dieses Aufzeigen der Selbstbezglichkeit und die Beantwortung der Frage: Wer bin ich und was kann ich – mit Blick auf mich selbst – sein?3 Beim Suizid als weitestgehender Verfgbarkeit ber das eigene Leben tritt das mitunter problematische Verhltnis einer Person zu sich selbst in einer ihrer widersprchlichsten Formen hervor. Denn hier entscheidet sich eine Person willentlich dafr, die Verfgbarkeit und den Bezug zum eigenen Selbst – aus welchen konkreten Grnden auch immer – aufzukndigen. Deshalb lassen sich anhand dieses Problemfalls einige Merkmale von Selbstverhltnissen aufweisen, deren Struktur und funktionale Ausprgung dann einer genaueren Betrachtung unterzogen werden kçnnen. Wie sehr sich dabei schon die unterschiedliche Bewertung der Selbsttçtung auf die Bestimmung dieser Selbstverhltnisse auswirkt, zeigt ein Blick auf die kontrren Positionen von David Hume und Immanuel Kant. In seinem zu Lebzeiten unverçffentlicht gebliebenen Essay Of Suicide verbindet Hume die Befrwortung des selbstverantworteten Suizids mit einer Stellungnahme zur Bedeutung der Philosophie in ihrem methodischen Vorgehen gegen den Aberglauben. Bei der Erçrterung des kontroversen Problems der Selbsttçtung geht es ihm dabei nicht nur um die Anknpfung an eine antike (stoische) Tradition, sondern vor allem um die

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den diffamierenden Begriff verwendet, ihn aber als wertungsfrei und austauschbar mit allen anderen Bezeichnungen verstanden wissen will. Bemerkenswert ist daher die von Manfred Khn mit Hume (2009) besorgte Edition von Of Suicide, die von frheren bersetzungen abweicht (siehe dazu Fn 4). Die eher unkritische Exegese der wertherschen Selbstausknfte von Bhr (2006) geht dabei von einem unzureichenden Verstndnis von Normen aus.

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Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig?

Hervorhebung der angeborenen Freiheit des Menschen. 4 Um die freie Verfgungsgewalt des Menschen ber sein eigenes Leben behaupten zu kçnnen, versucht Hume den Nachweis zu erbringen, daß der Suizid kein Verbrechen sein kann. Denn falls die Selbsttçtung ein Verbrechen wre, dann mßte sie als bertretung einer Pflicht begriffen werden, und zwar einer Pflicht, die man entweder gegenber Gott (1) oder gegenber seinen Mitmenschen (2) oder gegenber sich selbst (3) hat. In dieser Reihenfolge und mit abnehmender Gewichtung werden die mçglichen Pflichtverletzungen diskutiert, wobei die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, die Selbsttçtung verstoße gegen die Vorsehung (providence), einen zentralen Schwerpunkt bildet. Hume bestimmt die Vorsehung als ein universales Geltungsprinzip in Form von unvernderlichen Gesetzen, an die sowohl die unbelebten als auch die belebten Dinge gebunden sind. Darber hinaus verlagert er den Einfluß dieses Geltungsprinzips, um darin auch die individuellen Handlungsvollzge von Personen integrieren zu kçnnen. Das Argument, daß im Suizid keine Pflichtverletzung gegen die gçttliche Vorsehung besteht, lßt sich wie folgt rekonstruieren: 1. Die Vorsehung besteht darin, daß „the almighty Creator has established general and immutable laws by which all bodies, from the greatest planet to the smallest particle of matter, are maintained in their proper sphere and function“ (PW IV 407). 2. Die belebten Wesen sind zudem mit bestimmten kçrperlichen und geistigen Fhigkeiten („senses, passions, appetites, memory and judgment“, PW IV 408) ausgestattet, die ihnen einen bestimmten Lebensvollzug erlauben und sie in originrer Weise antreiben oder hemmen. 3. Obwohl die belebten und die unbelebten Dinge in bestndiger Wechselwirkung stehen und sich beeinflussen, resultiert daraus „no discord or disorder in the creation“. Ganz im Gegenteil: „[F]rom the mixture, union and contrast of all the various powers of inanimate bodies and living creatures, arises that suprizing harmony and proportion.“ (Ebd.) 4

PW IV 406–414, hier 407: „Let us […] endeavour to restore men to their native liberty by examining all the common arguments against Suicide, and shewing that that action may be free from every imputation of guilt or blame, according to the sentiments of all the antient philosophers.“ [dt.: ber Selbstmord, in: Hume (1984), 89–99.] Eine erste Version des Textes erschien ohne Namensnennung des Autors 1777 in London („Two Essays“), siehe dazu die History of the Editions von T. H. Grose (PW III 15–84, hier 70).

Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig?

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4. Folglich ist die Vorsehung als ein umfassender Prozeß zu verstehen, der ausnahmslos alle Vorgnge in der Welt mit einbezieht. Deshalb kann auch jeder willentliche Akt eines Individuums im Vergleich mit allen anderen Vorgngen weder von herausgehobener noch von untergeordneter Bedeutung in dieser von Gott hervorgebrachten Struktur sein: „All events, in one sense, may be pronounced the action of the Almighty; they all proceed from those powers with which he has endowed his creatures.“ (Ebd.) 5. Wenn nun die Verfgungsgewalt der Menschen ber das eigene Leben in dieser gçttlich bedingten Ordnung keinen gesonderten Status einnimmt und wie alle anderen natrlichen Gesetzmßigkeiten einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen belebten und unbelebten Dingen unterworfen ist, dann kann die Selbsttçtung kein der Vorsehung zuwiderlaufender Akt sein. Denn „all animals are entrusted to their own prudence and skill for their conduct in the world, and have full authority, as far as their power extends, to alter all the operations of nature“ (PW IV 409).5 In einem ersten Schritt hebt Hume also die prinzipielle Vertrglichkeit der Selbsttçtung mit der Vorsehung hervor, indem er die von Gott ausgehende Bestimmung einer Revision unterzieht, um dann alle Vorgnge und Handlungen in der Welt darauf zu beziehen. Damit ist jedoch noch nicht der mçgliche Einwand entkrftet, daß es sich trotzdem bei der Selbsttçtung eines Menschen aufgrund seiner herausragenden Bedeutung um einen sanktionierten Sonderfall handeln kçnnte. Mit einem rhetorisch motivierten Vergleich versucht Hume deshalb zunchst, die Bedeutung des Menschen in einem grçßtmçglichen Maßstab zu relativieren: Vom Standpunkt des Universums trgt das Leben eines Menschen nicht mehr Bedeutung als das einer Auster.6

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Vgl. auch PW IV 411: „There is no being, which possesses any power or faculty, that it receives not from its Creator, nor is there any one, which by ever so irregular an action can encroach upon the plan of his providence, or disorder the universe.“ PW IV 410: „[T]he life of a man is of no greater importance to the universe than that of an oyster.“ Diesen relativierenden Bezug verwendet Hume dann an anderer Stelle, um das ,Folgenargument‘ zu widerlegen: „When I shall be dead, the principles of which I am composed will still perform their part in the universe, and will be equally useful in the grand fabric, as when they composed this individual creature. The difference to the whole will be no greater than betwixt my being in a chamber and in the open air. The one change is of more importance to me than the other; but not more so to the universe.“ (PW IV 412)

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Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig?

Aber auch ohne diese relationale Perspektivierung ist das Festhalten an einer besonderen Bedeutung der Verfgung ber das eigene Leben beim Menschen nicht zu halten: „And were it of ever so great importance, the order of nature has actually submitted [the disposal of the life] to human prudence, and reduced us to a necessity in every incident of determining concerning it.“ (PW IV 410) Da es grundstzlich der Einsicht des Menschen anheimgestellt ist, ber alle seine Handlungsvollzge im Rahmen einer gçttlich bedingten Ordnung entscheiden zu kçnnen, schließt dies notwendig auch die Verfgungsgewalt ber die Beendigung des eigenen Lebens mit ein. Gegen die Kritiker der Selbsttçtung kann Hume nun folgendes einwenden: Sobald die Verfgungsgewalt ber das eigene Leben mit Blick auf diese allgemein anerkannte Voraussetzung menschlichen Lebens als Sonderfall begriffen wird, kann es im Umkehrschluß keine Verpflichtung, ja nicht einmal eine Berechtigung zur aktiven Erhaltung des eigenen Lebens geben, da die unterschiedlichen Mittel nicht mehr sinnvoll zu unterscheiden sind.7 Ausgehend von dieser Schlußfolgerung kann auch die Fhigkeit, dem eigenen Leben aus eigener Einsicht und mit guten Grnden ein Ende bereiten zu kçnnen, als wesentlicher Bestandteil der Vorsehung aufgefaßt werden. Mithilfe dieser argumentativen Grundstruktur gelingt es Hume, den Vorwurf einer Pflichtverletzung gegenber Gott ebenso im Hinblick auf (a) das ,Eigentumsargument‘ und (b) das ,Auftragsargument‘ zu widerlegen: (a) Wenn der Mensch keine Verfgungsgewalt ber sein eigenes Leben hat, weil er sich ,nicht selbst gehçrt‘, sondern das ,Eigentum‘ seines Schçpfers ist, dann ist man auch nicht berechtigt, sein Leben mit bestimmten Handlungen aufs Spiel zu setzen. Denn es stellt sich die Frage, warum jemand aus denselben Beweggrnden handelnd einmal die Bezeichnung ,Held‘ (etwa als Soldat) verdient und ein anderes Mal mit der selbstverantworteten Beendigung seines Lebens als ,Schurke‘ verurteilt wird. (Vgl. PW IV 411) 7

PW IV 410 f.: „Were the disposal of human life so much reserved as the peculiar province of the Almighty that it were an encroachment on his right, for men to dispose of their own lives; it would be equally criminal to act for the preservation of life as for its destruction. […] Do you not teach […] that the actions of men are the operations of the Almighty as much as the actions of inanimate beings? When I fall upon my sword, therefore, I receive my death equally from the hands of the Deity as if it had proceeded from a lion, a precipice, or a fever. The submission which you require to providence […] excludes not human skill and industry, if possibly by their means I can avoid or escape the calamity […].“

Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig?

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Fr die Widerlegung von (b) muß eine Bestimmung von Vorsehung vorausgesetzt werden, die sich nicht – wie die Kritiker von Humes Position – auf einen omnipotenten und quasi-personalen Schçpfergott bezieht. Da die Vorsehung als umfassende Gesetzmßigkeit alle Zusammenhnge von Ursache und Wirkung bestimmt, sind alle Ereignisse und damit auch die Selbsttçtung Teil dieser Gesamtheit. Die Vorstellung von einer jedem einzelnen Menschen zugewiesenen Position, von der man sich nicht eigenmchtig entheben darf, erscheint Hume mehr als zweifelhaft, denn der Zustand der Lebensmdigkeit und der begrndeten Einsicht in die Selbsttçtung ist – zumindest mit Blick auf einen bergeordneten Zusammenhang – fr ihn der klarste und ausdrcklichste Beweis einer wie auch immer verstandenen ,Postenabberufung‘. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und wendet seinerseits den Vorwurf der Gotteslsterung gegen die Vertreter einer ,aberglubischen‘ Vorsehungsvorstellung: ’Tis a kind of blasphemy to imagine that any created being can disturb the order of the world or invade the business of providence! It supposes, that that Being possesses powers and faculties, which it received not from its creator, and which are not subordinate to his government and authority. (PW IV 412)8

Nach dieser ausfhrlichen Verteidigung der Selbsttçtung im Kontext einer von Hume kritisch revidierten Bestimmung der Vorsehung erfolgt nun eine abschließende Erçrterung mit Blick auf die mçgliche Verletzung von Pflichten gegen Mitmenschen und gegen sich selbst. In der Betrachtung der Pflichtverletzung gegenber der Gesellschaft geht Hume von einem Nutzenkalkl aus: Derjenige, der sein Leben selbstttig beendet, kann seinen Mitmenschen keinen Schaden zufgen, denn er hçrt lediglich auf, weiterhin etwas Gutes zu tun. Hume setzt damit ein wechselseitiges Verpflichtungsverhltnis voraus, welches unmittelbar mit dem Wegfall einer der beiden ,Vertragsparteien‘ endet. Es besteht also keine weitere Verpflichtung, sobald sich eine der beiden Seiten ,entzieht‘ oder im gegenseitigen Nutzenkalkl ein Mißverhltnis offensichtlich wird: I am not obliged to a small good to society at the expence of a great harm to myself; why then should I prolong a miserable existence, because of some frivolous advantage which the public may perhaps receive from me? (PW IV 413) 8

Eine umfassende Interpretation der Argumentation fr die Selbsttçtung mit besonderer Hervorhebung der Unterschiede zur Position von Thomas von Aquin gibt Beauchamp (1976).

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Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig?

Zusammen mit den Bemerkungen zur ,natrlichen Angst vor dem Tod‘, die eine unbegrndet leichtfertige Selbsttçtung und damit eine mçgliche Verletzung der Pflicht gegen sich selbst ,normalerweise‘ verhindert (vgl. PW IV 414), sind diese Ausfhrungen mit Sicherheit der schwchste Teil in der Argumentation Humes, da wichtige Fragen unbeantwortet bleiben. Es wird nicht deutlich, worin eigentlich das Moment der Verpflichtung anderen und sich selbst gegenber besteht, ohne Zuflucht zu einer stetig vorauszusetzenden ,natrlichen Konstitution‘ der Gesellschaft und des personalen Selbstverhltnisses nehmen zu mssen. Hume scheint zweifellos davon auszugehen, daß jeder Mensch in gleicher Weise befhigt ist, sich selbst und sein Verhltnis zur Gesellschaft angemessen bewerten und beurteilen zu kçnnen, um darber entsprechende Entscheidungen zu treffen. Obwohl in Of Suicide zumindest die absolute Ablehnung der Selbsttçtung entschrft wird, ist damit noch kein Maßstab dafr gewonnen, wie eine Person die Entscheidung zur Beendigung des eigenen Lebens zu rechtfertigen hat. Denn zwischen der bloßen Zulssigkeit der Selbsttçtung und einer mçglichen Begrndung, unter welchen Umstnden ein solcher Schritt sogar geboten sein kçnnte, besteht bei Hume noch eine unberbrckbare Kluft, die auch offenlßt, worin der Unterschied zwischen der Verbindlichkeit zur physischen und zur moralischen Selbsterhaltung besteht. Um diese Diskrepanz aufzulçsen, muß strker bercksichtigt werden, wie eine Person auf sich selbst Bezug nimmt und was sie sich selbst ,schuldig ist‘. Einen ersten Schritt hat Hume getan, indem er die angeborene Freiheit des Menschen in ihrem Verhltnis zu einer bergeordneten Vorsehung restituiert hat und damit jedem Einzelnen das Selbstbild eines souvern Handelnden nahelegt. Kant reagiert, obwohl er Of Suicide vermutlich nicht kannte,9 in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie, die er zeitgleich mit dem Erscheinen des Werther vortrgt, unmittelbar auf die von Hume vertretene Position und wendet sich entschieden gegen die eigenverantwortete Beendigung des Lebens, die bei ihm „Selbstmord“ heißt. Mit Sicherheit nicht unbeeinflußt von den Diskussionen seiner Zeit,10 sieht Kant jedoch von der Kritik aus einer religiçsen Perspektive ab und konzentriert sich beim Problem der 9 Kant besaß zwar die Dialogues Concerning Natural Religion (erschienen London 1779) als bersetzung unter dem Titel Gesprche ber natrliche Religion. Nach der zwoten Englischen Ausgabe. Nebst einem Gesprch ber den Atheismus von Ernst Platner, Leipzig 1781 (vgl. dazu die Inventarisierungsbersicht von Warda (1922), 50), diese enthielt jedoch ursprnglich neben den eigentlichen Dialogen keine weiteren Essays, wie sie der deutschen Edition in Hume (1984) beigegeben sind. 10 Eine Einfhrung zu einem Teil dieser Diskussion gibt Leppin (2003).

Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig?

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Selbsttçtung fast ausschließlich auf den Aspekt der Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst. Anders als Hume, der eine weitgehend souverne Verfgungsgewalt ber das eigene Selbst durch eine revidierte Begrndung der Vorsehung zu sichern sucht, geht es Kant gerade darum, diese vermeintlich unbeschrnkte Disposition zu begrenzen und den Unterschied zwischen der Erhaltung des eigenen psycho-physischen Zustands und der absoluten Verfgung ber das eigene Selbst hervorzuheben.11 Das eigene Selbst wird dabei nicht bloß als singulre Person verstanden, denn diese ist immer zugleich auf die Menschheit in einer jeden Person bezogen. Kant fhrt damit eine Verantwortungsbezglichkeit ein, in der einer einzelnen Person die Berechtigung entzogen ist, ausschließlich unter Bercksichtigung der eigenen Lebensumstnde ber die Beendigung des Lebens entscheiden zu kçnnen. Daraus werden zwei Aspekte ersichtlich: (1) In der Verantwortungsbezglichkeit findet sich ein Maßstab, der es erlaubt, eine Person unabhngig von momentanen und zuflligen Lebensvollzgen als Person einzuschtzen: „Die Menschheit ist […] Achtungswerth, und wenn der Mensch auch ein schlechter Mensch ist, so ist doch seine Menschheit in seiner Person achtungswerth.“ (VM 222; 276 f.) An dieser Stelle wird besonders deutlich, daß eine Person achtenswert ist, nicht weil sie zufllig in einer vorteilhaften und beachtenswerten Lage ist, sondern weil sie als Person mehr verkçrpert als ein singulres Mensch-sein. Kant lçst die Achtungsbeziehung aus dem konkreten Lebensumfeld, in welchem Menschen in sozialen Gemeinschaften handeln und aufeinander angewiesen sind. Indem er Achtung auf die Vorstellung von einer allgemeinen Menschheit ausweitet, die sich in jeder Person manifestiert, kann er ein fr alle Personen zu allen Zeiten und unter allen Umstnden gltiges Selbstverhltnis postulieren. (2) In der generell ablehnenden Bewertung der Selbsttçtung dient diese Achtungsbeziehung nun als zentrales Element der Begrndung. Obwohl die Achtung fr die Menschheit in der eigenen Person es einer Person um ihrer selbst willen untersagt, sich zu tçten, besteht laut Kant die Pflicht gegen sich selbst, das Leben der eigenen Person zu erhalten, nur so lange, wie man „als ein Mensch und Ehrenwerth leben kann“ (VM 224; 279). Sollte also ein solches Leben mit einer verbindlichen Moralvorstellung nicht mehr gewhrleistet sein, ist die Aufopferung des eigenen Lebens 11 VM 218; 271 [Textedition; Manuskriptseite]: „[Z]ur Erhaltung unserer Person haben wir die Disposition ber unsern Kçrper; der sich aber das Leben raubt, der erhlt dadurch nicht seine Person, dann disponirt er ber seine Person, aber nicht ber seinen Zustand, dann raubt er sich das selbst.“

10 Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig? aufgrund der Pflicht gegen sich selbst berechtigt.12 Der ,Wert‘ des eigenen Lebens entwickelt sich bei Kant somit zur Grundlage einer personalen Selbstbezugnahme. Diese Selbstbezugnahme setzt nicht wie bei Hume die unbeschrnkte Souvernitt innerhalb der Ordnung einer Schçpfung voraus, sondern wird in einem mit bestimmten Pflichten verbundenen Relationsgefge von individueller personaler Existenz und der Vorstellung einer bergeordneten Menschheit entfaltet. Wie wir gesehen haben, stehen sowohl bei Hume als auch bei Kant mit der Erçrterung der Selbsttçtung explizit oder implizit grundstzliche Fragen nach dem Verhltnis einer Person zu sich selbst im Mittelpunkt Denn der Suizid stellt einen besonderen – weil den extremsten – Fall eines personalen Selbstverhltnisses dar. Es ist hier aber nicht beabsichtigt, eine bestimmte Theorie anhand der Selbsttçtung zu entwickeln, sondern vielmehr Fragen, die hinsichtlich dieses Selbstverhltnisses auf besondere Weise und in aller Radikalitt thematisch werden, in einer allgemeineren Form zu beantworten: Was macht eine Person aus, wie souvern oder autonom kann sie sein und inwiefern ,gehçrt sie sich selbst‘? Auf welche Weise entwickeln Personen ein ,Selbstbild‘, eine Vorstellung von ihrem je eigenen Wert im Angesicht anderer Personen, und welche normativen Ansprche gehen daraus hervor? Was bedeutet es fr eine Person, sich einen bestimmten Wert zuzuerkennen, sich selbst zu achten und im Bewußtsein 12 VM 222 f.; 277 f.: „Es ist besser das Leben aufzuopfern als die Moralitaet zu verletzten. Es ist nicht nçthig zu leben, aber das ist nçthig daß man so lange als man lebe Ehrenwerth lebe, wer aber nicht mehr Ehrenwerth leben kann, der ist gar nicht mehr werth zu leben. Es lßt sich aber jederzeit so lange leben, als man die Pflichten gegen sich selbst beobachten kann, ohne Gewalt ber sich selbst zu gebrauchen, derjenige aber, der bereit ist, sich sein Leben zu nehmen, ist nicht mehr werth zu leben […]. Das Elend berechtiget keinen Menschen sich das Leben zu nehmen, denn wren wir befugt aus Mangel der Vergngen uns das Leben zu nehmen, so mçchten alle unsere Pflichten gegen uns selbst auf das Vergngen des Lebens abzielen, nun aber erfordert die Erfllung der Pflichten gegen sich selbst offt die Aufopferung des Lebens.“ Seine Haltung zur Selbsttçtung, die vor allem aus der Ablehnung der stoischen Position resultiert, behlt Kant auch in seinen spteren Werken, markant etwa in der Metaphysik der Sitten, bei. Ich beschrnke mich in dieser Einleitung auf die wesentlichsten Aspekte seines Standpunkts und verweise auf die sehr aufschlußreichen Arbeiten von Wittwer (2001), James (1999) und Seidler (1983). Darber hinaus bietet Hill (1991a) eine Interpretation, in der nicht mehr die Prmisse der Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst, sondern der Respekt gegenber der Person, die ihr Leben (life-projects) selbst bestimmt und bestimmte Wertvorstellungen annimmt, im Vordergrund steht.

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solcher bejahenden Selbstverhltnisse mit der Verfgbarkeit ber das eigene Selbst vernnftig umzugehen? In der vorliegenden Arbeit werde ich diesen Fragen nachgehen, um ein besseres Verstndnis von begrndeten Selbstverhltnissen zu gewinnen. Der Titel, unter den ich diese Untersuchung gestellt habe, ist aufgrund seiner Begrifflichkeit zunchst erluterungsbedrftig: Die Entscheidung, als Haupttitel „Selbstachtung“ zu whlen, folgte insofern pragmatischen Erwgungen, als dieser Ausdruck gerade in der neueren philosophischen Diskussion verstrkt verwendet wird, wobei ein deutlicher Schwerpunkt im angelschsischen Kontext (prominent etwa bei John Rawls und Avishai Margalit) auszumachen ist. Allerdings mçchte ich mich mit der Verwendung des Ausdrucks „Selbstachtung“ nicht von vornherein auf ein bereits bestehendes Konzept festlegen lassen, denn die Erluterung und Eingrenzung des Begriffs Selbstachtung erfordert zwingend die Einbeziehung anderer Ausdrcke, die ein Verhltnis zum eigenen Selbst beschreiben.13 Diese erweiterte Perspektive wird somit erst im Untertitel ersichtlich. Ich werde in dieser Untersuchung hufig die Bezeichnung „affirmative Selbstverhltnisse“ verwenden, weil es fr die Begriffsanalyse vorteilig und aufgrund der wenig verbreiteten Verwendung lediglich ein mçgliches Mißverstndnis aufzuklren ist. Beginnen wir mit den Vorteilen: Mit dieser Bezeichnung kann eine breite Vielfalt von Verhltnissen zum eigenen Selbst in den Blick genommen werden, wobei der bestimmende Zusatz „affirmativ“ ausreichend vage ist und zunchst tatschlich nicht mehr besagt als ,jemandem etwas oder etwas besttigen, bejahen‘. Affirmative Selbstverhltnisse sind daher in einem erweiterten Sinn zu verstehen und noch nicht per se moralische Selbstverhltnisse, die als solche bereits relativ weitreichenden Ansprchen gengen mssen. Der erweiterte Umfang der Bezeichnung „affirmative Selbstverhltnisse“ ermçglicht es, zunchst ber alle wesentlichen bejahenden Verhltnisse zum eigenen Selbst reden zu kçnnen. Von dieser Grundlage ausgehend kçnnen einige dieser Verhltnisse als moralisch relevant abgehoben und damit als „moralische Selbstverhltnisse“ przise benannt werden.14 Da im gegenwrtigen Sprachge13 Um den fr diese Untersuchung wichtigen Unterschied zwischen Ausdrucks- und Begriffsebene typographisch hervorzuheben, sind die Verweise mit besonderen Anfhrungszeichen und Kursivsetzungen fr „Ausdruck“ und Begriff kenntlich gemacht; wçrtliche Zitate, die nicht als Block eingerckt sind, erscheinen wie blich in normalen Anfhrungszeichen. 14 Ich mçchte damit auch einen vorschnell verengenden Fokus im Zusammenhang mit dem Begriff Selbstachtung vermeiden, der verstrkt in der neueren Diskussion vertreten ist. Ausgehend von der anglophonen Unterscheidung in self-esteem und

12 Die Verfgbarkeit ber das eigene Leben oder Was bin ich mir selbst schuldig? brauch mit dem Ausdruck „affirmative Selbstverhltnisse“ zudem weder positive noch negative Konnotationen verbunden sind, steht das damit Beschriebene unter keinem Deutungsvorbehalt und lßt sich somit weitgehend wertfrei in seinen funktionalen Bezgen darstellen. Ein mçgliches Mißverstndnis betrifft jedoch die Rede von einem „affirmativen Selbstverhltnis“ im Zusammenhang mit der stoischen Oikeiosis-Lehre, womit ein unmittelbar praktisches Verhltnis der Selbstsorge mit dem Ziel der Existenzerhaltung gemeint ist, welches zudem mit anderen Vorstellungen wie Selbstwissen, Selbstbewußtsein und Fhigkeit zur Selbstwahrnehmung verbunden ist.15 Dieses natrliche Streben nach Selbsterhaltung gehçrt in meinem Verstndnis durchaus zu den hier zu besprechenden affirmativen Selbstverhltnissen, diese sind jedoch ausdrcklich nicht darauf beschrnkt. Trotz oder gerade wegen des erweiterten Bedeutungsumfangs werde ich mich in dieser Arbeit im wesentlichen auf die Moralphilosophie Kants konzentrieren, begreife diese aber als einen mçglichen ,Maßstab‘ der philosophischen Erçrterung neben anderen. An dieser Konzeption lßt sich m. E. in besonderer Weise die komplexe Vielschichtigkeit von affirmativen Selbstbezugnahmen zwischen Selbstschtzung, Selbstliebe/Eigenliebe und Selbstachtung verdeutlichen. Affirmative Selbstverhltnisse gehçren in dem von mir betrachteten Umfang nicht zu den ausfhrlich behandelten systematischen Aspekten in Kants Ethik, allerdings bilden gerade sie eine wesentliche Voraussetzung fr die Erçrterung normativer Ansprche und wurden in dieser Form bislang zu wenig bercksichtigt. Um daher eine dem Thema der Untersuchung gerecht werdende bersichtlichkeit zu gewhrleisten, beschrnke ich die Besprechung der Grundlagen der kantischen Moralphilosophie auf ein notwendiges Minimum und setze eine gewisse Vertrautheit mit den vorgestellten Werken voraus. Die Untersuchung beginnt somit in medias res, woraus sich auch der Aufbau der gesamten Arbeit ergibt: Von einem systematischen Problemaufriß ausgehend (Kap. 1) werde ich in einer umfassenden Erçrterung die Vielschichtigkeit affirmativer Selbstverhltnisse in einen begriffsgeschichtlichen Kontext self-respect wird dort versucht, in distinkter Form eine psychologische Bedeutung der „Selbstschtzung“ von einer normativen Bedeutung der „Selbstachtung“ abzuheben. In der vorliegenden Untersuchung gehe ich jedoch davon aus, daß sich in den Selbstverhltnissen einer Person beide Aspekte wechselseitig bedingen und nicht getrennt voneinander betrachtet werden sollten. In dieser Perspektive steht also auch das, was heute als psychologischer Ausdruck der „Selbstschtzung“ bezeichnet wird, in Verbindung mit einer moralisch relevanten „Selbstachtung“. 15 Vgl. Horn (2004).

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stellen und in einer werkchronologischen Perspektive mit Bezug auf weitere zeitgençssische Konzepte erlutern, kommentieren und interpretieren (Kap. 2). Abschließend geht es darum, Selbstschtzung und Selbstachtung systematisch so zu unterscheiden, daß die Bedingungen und Mçglichkeiten eines gehaltvollen Selbstachtungsbegriffs als ein performatives Selbstverhltnis beschrieben und vor dem Hintergrund gegenwrtiger moralischer Fragestellungen konturiert werden kçnnen. (Kap. 3).

1. Begrndete Selbstverhltnisse Die Begrndung des generellen Verbots des eigenmchtigen Suizids leitet sich bei Kant, wie bereits in der Einleitung deutlich wurde, maßgeblich von der Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst ab. Wenn einer Pflicht gegen sich selbst als einer Selbstbezglichkeit eine derart umfassende Begrndungslast zukommt, mssen auch die Prmissen, die solchen Pflichten zugrunde liegen, dem Anspruch gengen, widerspruchsfrei die Ausnahmslosigkeit des Verbots der sogenannten Selbstentleibung garantieren zu kçnnen. Eine Prfung der zugrundeliegenden Annahmen hat, neben der Unbedingtheit des Anspruchs, vor allem zu zeigen, worin der Pflichtcharakter einer solchen Verbindlichkeit sich selbst gegenber besteht. Davon ausgehend lßt sich dann sowohl klren, in welchem Verhltnis Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere stehen, als auch hervorheben, was grundstzlich aus einer solchen Bestimmung fr ein Verhltnis zu sich selbst folgt. Mit der Frage, ob es berhaupt so etwas wie Pflichten gegen sich selbst geben kann, wie diese sich begrnden lassen und welcher Stellenwert ihnen in einer Moraltheorie zukommt, hat sich eine Diskussion beschftigt, die in den frhen sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann und, in nicht immer stetigen Fortsetzungen, bis in die jngste Zeit anhlt.16 Diejenigen 16 Kernpunkt dieser Debatte ist die Unterscheidung von Pflichten, die als Rechte anderen gegenber verstanden werden, und moralischer Verbindlichkeit. Bis in die Gegenwart hinein beziehen sich die wesentlichen Beitrge zu diesem Thema auf die Auseinandersetzung mit Blick auf diese Unterscheidung, wobei jedoch, sofern die kantische Konzeption verteidigt wird, der Schwerpunkt bei der Interpretation der Pflichten gegen sich selbst im Kontext der Grundlegung und der Metaphysik der Sitten, und nur vereinzelt bei den Vorlesungen zur Moralphilosophie liegt. Die Debatte beginnt mit einem Aufsatz von Singer (1959), auf den Wick (1960) vehement reagierte und dabei gegen Singer die Konzeption einer Pflicht gegen sich selbst aus der Perspektive der kantischen Moraltheorie verteidigte. hnlich kritisch, jedoch mit anderen Akzentsetzungen, ußerte sich Kading (1960), bevor Mothersill (1961) und Knight (1961) sowie noch einmal Wick (1961) die Diskussion fortsetzten, die allerdings, wie die sptere Replik von Singer (1963) zeigt, nicht entschieden werden konnte. Siehe zum gegenwrtigen Stand der Diskussion u. a. Paton (1990), Timmermann (2006) und Wood (2009). Einen sehr grndlichen und umfassenden berblick bieten Denis (1997) sowie Denis (2001).

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Anstze, die Pflichten gegen sich selbst verteidigen und mehrheitlich als integralen Bestandteil der kantischen Ethik verstehen, sttzen sich zumeist auf eine Exegese und Interpretation, die vordergrndig auf die Hervorhebung der Relevanz des dualen Pflichtbegriffs abzielt, in welchem zwischen Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere unterschieden wird. Diese Interpretation verbleibt damit weitgehend im Rahmen der Moraltheorie Kants. Doch die konstitutiven Bedingungen fr diese Pflichten bleiben verdeckt, da in diesem Ansatz mit Voraussetzungen und Annahmen gearbeitet wird, in denen Pflichten gegen sich selbst als bereits bestehende Sachverhalte aufzufassen sind, die damit lediglich angemessen integriert werden mssen. Mit Blick auf diese Situation wird im folgenden eine Prfung der grundstzlichen berlegungen durchgefhrt, von denen Kant in der Begrndung von Pflichten gegen sich selbst ausgeht. In einem ersten Schritt (1.1) werde ich mich dabei auf die Vorlesung zur Moralphilosophie konzentrieren, die in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts vorgetragen wurde und in mehreren studentischen Mitschriften berliefert ist. Mit diesem Fokus zu beginnen, ist vor allem deshalb aufschlußreich, weil Kant erst 1785 mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine erste systematisch umfassende Publikation zur Ethik vorgelegt hat, einige entscheidende Gedanken jedoch bereits in die zuvor gehaltenen Vorlesungen Eingang gefunden haben.17 An diese Vorgehensweise sind allerdings wichtige Vorbehalte geknpft: Die in der Vorlesung verwendete Terminologie ist m. E. noch nicht so differenziert bestimmt, daß sich eine durchgngige Revision der hier vorgestellten ethischen Position vom Standpunkt der eigentlichen moralphilosophischen Verçffentlichungen ab Mitte der achtziger Jahre rechtfertigen ließe. Trotz – oder gerade aufgrund – der begrifflichen und teils systematischen Unschrfe kann man Kant keinen Vorwurf machen, im Rahmen der Vorlesung noch keine schlssige und endgltige Begrndung von Pflichten gegen sich selbst im Rahmen einer Theorie der Selbstbezglichkeit vorgelegt zu haben. In ei17 Moralphilosophische Aspekte werden bereits in der Untersuchung ber die Deutlichkeit der Grundstze der natrlichen Theologie und Moral (1763) angesprochen, es fehlen jedoch zu dieser Zeit mit Blick auf die erforderlichen obersten moralischen Prinzipien noch die „nçthige Deutlichkeit und Sicherheit der Grundbegriffe und Grundstze“ (AA II 298). Wohl auch aus diesem Grund ist die Vorlesung zur Moralphilosophie in weitgehender Anlehnung an die zwei Werke zur Ethik von Alexander Gottlieb Baumgarten konzipiert, die Kant als Vorlage verwendet hat: Initia philosophiae practicae primae (1760) und Ethica philosophica (1740, 21751, 3 1763).

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nem redlichen Umgang mit den berlegungen Kants verbietet sich vielmehr ein solcher Vorwurf, denn mit der Vorlesung liegt eine vom Vortragenden selbst nicht autorisierte Mitschrift eines Studenten vor. Der in dieser Form festgehaltene Inhalt verbrgt also keine Autorschaft, der gemß sich der hier vortragende Kant – anders als in den verçffentlichten und von ihm redigierten Schriften – auf eine genaue und schlssige Argumentation hin berprfen und verpflichten ließe. Die Erçrterung versucht daher zunchst (1.1) in einer rekonstruktiven Bestandsaufnahme und textimmanenten Untersuchung zu zeigen, von welchen grundstzlichen berlegungen auszugehen ist und an welchen Punkten der Explikation gravierende Fragen offen bleiben.18 In einem zweiten Schritt (1.2) werde ich dann zu einer Besprechung der relevanten Abschnitte in der Metaphysik der Sitten (1797/98) bergehen, um anhand des letzten moralphilosophischen Werkes von Kant einen Teil dieser Fragen in das umfassendere Konzept der Selbstbezugnahme einzuordnen und die begrifflich-systematische Relevanz von Person und Persçnlichkeit (1.2.1) sowie von Verbindlichkeit und Pflicht (1.2.2) ausfhrlicher zu erlutern. Aufbauend auf dieser Kontextualisierung kann dann der eigentliche Problemaufriß fr diese Arbeit entfaltet werden (1.2.3), in der die Voraussetzungen affirmativer Selbstverhltnisse einer kritischen Prfung zu unterziehen sind.

1.1 Pflichten gegen sich selbst I In der Vorlesung zur Moralphilosophie sind die Pflichten gegen sich selbst als „die oberste Bedingung und das principium aller Sittlichkeit“ bestimmt, „denn der Werth der Person macht den moralischen Werth aus, der Werth der Geschicklichkeit bezieht sich nur auf seinen Zustand“. Mit dieser Beschrnkung werden Pflichten gegen sich selbst ausdrcklich nicht auf das Streben nach individueller Glckseligkeit, sondern in moralischer Perspektive auf die Menschheit in der eigenen Person bezogen: „Unter dieser Wrde der Menschheit kçnnen wir nur die andern Pflichten ausben, dieses ist die Basis aller brigen Pflichten. Wer keinen inneren Werth hat, der hat seine Person weggeworfen und der kann keine Pflicht mehr 18 Die genannten begrifflichen Ungenauigkeiten werden nur in einigen wenigen Fllen kommentierend mit Verweis auf die spteren moralphilosophischen Schriften erlutert. Der methodische Vorbehalt bezglich der Vorlesungsmanuskripte besteht ebenso in den Abschnitten 2.2.1, 2.2.2 und 2.2.4.

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ausben.“ (VM 176; 220 f.)19 Als „principium aller Pflichten gegen sich selbst“ wird die Freiheit als das Vermçgen, „nach Willkr die nicht necessitiert ist zu handeln“, und als der „innere Werth der Welt“ gedacht, wobei die Freiheit „restringirt ist unter gewisse Regel[n] des bedingten Gebrauchs“, ohne die sie „das schreklichste was nur sein kann“ wre. (VM 177; 222) Aus dieser Herleitung resultiert eine Unklarheit mit Blick auf die begriffliche Bestimmung von „Prinzip“: a) Pflichten gegen sich selbst sind die oberste Bedingung und das Prinzip aller Sittlichkeit.20 b) Freiheit ist das Prinzip (und damit auch die Bedingung) aller Pflichten gegen sich selbst. 19 Die Vorlesung zur Moralphilosophie (VM) wird nach der von Werner Stark herausgegebenen Edition der Vorlesungsmitschriften von Johann Friedrich Kaehler aus der Mitte der 1770er Jahre zitiert (Seitenangabe der Textedition hinter der Sigle, nach dem Semikolon Manuskriptseite der Kaehler-Mitschrift). Zu den in Band 27 der Akademie-Ausgabe verçffentlichten Vorlesungsmitschriften Moralphilosophie Collins und Moral Mrongovius bestehen, anders als zur Praktischen Philosophie Powalski, kaum Unterschiede. Der wesentliche Vorzug der vorliegenden Ausgabe liegt in der philologisch hervorragenden Bearbeitung. Bei Textstellen, die in systematisch relevanter Hinsicht voneinander abweichen oder Ergnzungen anbieten, erfolgt ein Hinweis in den Anmerkungen. Die fr das Verstndnis der Moralphilosophie Kants wichtige Metaphysik der Sitten Vigilantius gehçrt, da sie in der ersten Hlfte der 1790er Jahre entstand und den bergang von der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft zur Metaphysik der Sitten markiert, zu einem anderen Kontext und wird in Abschnitt 2.2.4 gesondert bercksichtigt. Siehe zu den entstehungsgeschichtlichen Hintergrnden das informative Nachwort von Werner Stark in VM 371–407. 20 Diese Festlegung ließe sich um die Frage erweitern, in welchem Bedingungsverhltnis Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere stehen: So kçnnen z. B. in nherer Betrachtung der ergnzenden Aussage „unter dieser Wrde der Menschheit kçnnen wir nur die andern Pflichten ausben, dieses ist die Basis aller brigen Pflichten“ die Pflichten gegen sich selbst als notwendige Bedingung („kçnnen wir nur“) angesehen werden, deren ,Vorhandensein‘ jedoch nicht zwingend fr Pflichten gegen andere ist. Werden Pflichten gegen sich selbst hingegen als hinreichende Bedingung verstanden („kçnnen“ als bloße Mçglichkeitsbestimmung), sind sie zwar eine gute Erklrung fr Pflichten gegen andere, allerdings kann deren ,Vorhandensein‘ sich durchaus auf andere Grnde beziehen. Beide Varianten sind wenig berzeugend, zumal sie von einem recht schwachen Pflichtbegriff ausgehen. Mit Blick auf die spter verçffentlichten Schriften Kants, die sich auf einen starken Pflichtbegriff beziehen, bietet es sich an, zunchst auch im hier vorliegenden Text Pflichten gegen sich selbst als notwendige und zugleich hinreichende Bedingung fr Pflichten gegen andere und umgekehrt aufzufassen. In Abschnitt 1.2 werden die sich daraus ergebenden Konsequenzen nher erlutert.

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Da Pflichten gegen sich selbst nach heutigem Verstndnis nicht oberste Bedingung und das Prinzip aller Sittlichkeit sein kçnnen, wenn wiederum Freiheit Prinzip und Bedingung solcher Pflichten gegen sich selbst ist, kçnnen die Festlegungen a) und b) nicht gemeinsam bestehen. Mit Blick auf eine weitere Textstelle, wonach „Pflichten gegen sich selbst [nicht] die niedrigsten [Pflichten] sind“, sondern „im Gegentheil den obersten Rang“ unter allen Pflichten beanspruchen (VM 171; 215), ist folgende Modifikation gerechtfertigt: a) Freiheit ist das Prinzip und die Bedingung aller Pflichten gegen sich selbst. b) Pflichten gegen sich selbst sind die Bedingung aller anderen Pflichten und damit der Pflichten gegen andere. Damit wird eine hierarchische Bedingungsordnung angenommen, die von der unbedingten Freiheit ber die Pflichten gegen sich selbst bis zu den Pflichten gegen andere reicht. Diese Ordnung kann zunchst nur als nicht rekursiv verstanden werden, d. h. die unbedingte Freiheit bleibt von den Pflichten gegen sich selbst ebenso unberhrt wie die Pflichten gegen sich selbst von der Performanz der Pflichten gegen andere. Gemß dieser Annahme bilden Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere nicht als nebeneinander bestehend die Gesamtheit aller Pflichten, die dann lediglich in der jeweiligen Anwendung auf sich selbst oder auf andere unterschieden wrden. Wenn der Anspruch der bislang skizzierten Bedingungsordnung ernst genommen wird, so bestimmen Pflichten gegen sich selbst berhaupt erst, was Pflichten sind und geben somit das Prinzip vor, wie sich diese dann als Pflichten gegen andere auswirken. Um zu verstehen, weshalb gerade Pflichten gegen sich selbst Prinzip und Bedingung aller anderen Pflichten sind, kommt es darauf an, den Zusammenhang von Freiheit und Pflichten gegen sich selbst zu erschließen. Den Anlaß gibt eine Bestimmung der Freiheit als die Bedingung jeglichen Handelns, die sich, durch den Verstand und damit durch objektive Grnde reglementiert, von instinktiven Neigungen zu unterscheiden weiß und darin ihren wesentlichen Grund vorfindet, denn solange ein Mensch keiner Regel folgt, „so ist seine Freyheit sein grçstes Unglk“ (VM 179; 224). Erst in der Beschrnkung einer unbeschrnkten Freiheit durch eine (selbstauferlegte) Regelgemßheit kann also Freiheit berhaupt erst zu einem Prinzip werden. Auch wenn die Ausfhrungen in der Vorlesungsmitschrift nicht durchgngig konsistent sind, ist folgende Interpretation meiner Ansicht nach vertretbar: Freiheit wird als ein Wert an sich verstanden, da sie die

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Voraussetzung ist, um berhaupt Handlungen zu generieren, die nicht von Trieben und instinktiven Neigungen bestimmt sind.21 In der Unabhngigkeit von der bestimmenden Regelmßigkeit natrlicher Ablufe besteht demnach der Grund fr die menschliche Wrde und den inneren moralischen Wert einer Person: Der Wert jener Mçglichkeit der Freiheit wird auf denjenigen bertragen, der in der Lage ist, von dieser Mçglichkeit Gebrauch zu machen. Allerdings ist es nicht allein die Fhigkeit zum Gebrauch dieser Mçglichkeit, sondern gerade die Fhigkeit zur Beschrnkung dieser Mçglichkeit durch die Einfhrung bestimmter objektiver Regeln, die den Wert menschlicher Freiheit ausmacht. Durch den „gute[n] Gebrauch der Freyheit“ ist diese nicht einfach unbedingtes Prinzip und Bedingung aller Pflichten gegen sich selbst, sondern von einer obersten Regel, einem allgemeinen Gesetz abhngig und bestimmt. (VM 178; 222 f.) In der Vorlesung wird nun offensichtlich versucht, das Konzept von einer Regelgemßheit in tierischen und damit – weil an sinnliche Triebe gebunden und (subjektiv) notwendig – unfreien Handlungen, die von der Natur bestimmt werden, so auf die grundstzlich freien menschlichen Handlungen zu bertragen, daß ein unbedingter und keinen Restriktionen unterworfener Begriff der Freiheit bzw. der freien Willkr vermieden wird. Die Beschrnkung der Freiheit erfolgt dabei mit Hilfe des Verstandes, wobei unklar bleibt, ob die durch den Verstand gegebenen, (objektiv) notwendigen Grnde oder das allgemeine Gesetz die Grenzen der Freiheit setzen.22 Eine solche Unterscheidung wre – wovon ich hier ausgehe – hinfllig, wenn eine weitgehend synonyme Verwendung der Ausdrcke „notwendige Grnde im Verstand“, „Regel“ und „(allgemeines) Gesetz“ angenommen wird. Den zentralen Punkt markiert die berlegung, 21 Die im Rahmen der Vorlesung bereits angedeutete Konzeption eines Freiheitsbegriffs markiert die Unabhngigkeit der Willkr von allen empirischen, d. h. sinnlichen Beweggrnden als „innere Freiheit“. Ihr korrespondiert die „Achtung fr uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit“ (Kritik der praktischen Vernunft, AA V 161, siehe dort auch 30 ff.). In den spteren Schriften wird dieser Freiheitsbegriff als negative Freiheit nher bestimmt. Von dieser grundstzlichen Unabhngigkeit der Willkr (als Begehrungsvermçgen, in welches vernnftige Vorstellungen zur Bestimmung einer Handlung eingehen) ist die positive Freiheit als Abhngigkeit des Willens (d.i. die Vorstellung, nach Gesetzen zu handeln) von der ihn unmittelbar bestimmenden Vernunft zu unterscheiden (vgl. v. a. AA V 30 ff.). Siehe dazu ausfhrlich Hill (1992), bes. 131 ff. 22 VM 177 f.; 222 f.: „[…] bey der Freyheit kann ich alle Regellosigkeit denken, wenn sie nicht objectiv necessitirt ist, diese objectiv necessitirenden Grnde mssen im Verstande liegen, die die Freyheit restringiren. […] Welches ist die Bedingung, unter der die Freiheit restringiret ist? Dieses ist das Gesetz.“

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wonach die „Freyheit nach Willkr“ notwendig beschrnkt werden muß, um in ihren Handlungen mit den wesentlichen Zwecken der Menschheit bereinstimmen zu kçnnen. (Vgl. VM 178; 223) Infolgedessen ist die Pflicht gegen sich selbst eine aus der Notwendigkeit einer Restriktion willkrlicher Freiheit resultierende Verbindlichkeit, „[i]n allen Handlungen in Ansehung seiner selbst so zu verfahren, daß all der Gebrauch der Krffte mit dem grçsten Gebrauch derselben mçglich ist“ (VM 179; 225).23 Um diese komplexe Zusammenfassung besser erçrtern zu kçnnen, werde ich zunchst die einzelnen argumentativen Schritte explizit machen und diese im Anschluß einer kritischen Prfung unterziehen: 1) Freiheit ist die Voraussetzung jeglichen Handelns, sie ist der „innere Werth der Welt“. 2) Die Beschrnkung der Freiheit macht diese zu einem Prinzip des Handelns. 3) Die Beschrnkung der Freiheit erfolgt durch ein allgemeines Gesetz (Regeln, objektiv notwendige Grnde). 4) Das allgemeine Gesetz (die ursprngliche Regel) zur Beschrnkung der Freiheit verfolgt die bereinstimmung von Handlungen (des Verhaltens) mit den wesentlichen Zwecken der Menschheit. 5) Die gemß dem allgemeinen Gesetz beschrnkte Freiheit muß mit den wesentlichen Zwecken der Menschheit bereinstimmen. 6) Die bereinstimmung der beschrnkten Freiheit mit dem allgemeinen Zweck der Menschheit ist das Prinzip aller Pflichten, besonders der Pflichten gegen sich selbst. 7) Derjenige, der die Beschrnkung der Freiheit selbstndig gemß dem allgemeinen Gesetz vornimmt, hat darin den Grund menschlicher Wrde und den Wert der moralischen Person. 8) Zur Erhaltung des moralischen Wertes der eigenen Person ist jeder dazu verpflichtet, die willkrliche Freiheit gemß dem allgemeinen Gesetz selbstndig zu beschrnken. 23 Die Aussage „mit dem grçsten Gebrauch derselben“ ist nach meiner Auffassung nicht als Maximierungsprinzip, sondern im Zusammenhang mit an anderen Stellen gegebenen Erluterungen als Entsprechung zur geforderten bereinstimmung aller freien Handlungen mit den wesentlichen Zwecken der Menschheit zu verstehen. So etwa VM 180; 225: „Die Bedingungen, unter denen nur allein der grçste Gebrauch der Freyheit mçglich ist, und unter denen sie mit sich selbst bereinstimmen kann, sind die wesentlichen Zwekke der Menschheit, mit diesen muß die Freiheit bereinstimmen.“

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Die Pflichten gegen sich selbst resultieren aus der Wrde der Menschheit, sie beziehen sich damit nicht auf das Wohlbefinden oder die Vorteile einer einzelnen Person. 10) Wer den Pflichten gegen sich selbst nicht nachkommt, „hat seine Person weggeworfen und der kann keine Pflicht mehr ausben“ (VM 176; 221). Wenn wir diese Liste Punkt fr Punkt durchgehen, so sind die Aussagen 1) bis 3) insofern unproblematisch, als sie allgemeine Bedingungen fr die Mçglichkeit von Handlungen formulieren. Der bemerkenswerte Zusatz in 1), Freiheit sei der innere Wert der Welt, ist jedoch weder fr die Konsistenz der Aussagen 1) bis 3) erforderlich noch, wie es scheint, mit eindeutig berzeugenden Grnden zu befrworten oder abzulehnen. Dennoch hngt von dieser zustzlichen Behauptung die Schlssigkeit zumindest der Aussagen 4) bis 7) ab: Die notwendige bereinstimmung der Handlungen mit dem Zweck der Menschheit durch ein allgemeines Gesetz, die daraus resultierende Verbindlichkeit fr den Handelnden sowie vor allem die Begrndung der Wrde und des Wertes einer handelnden Person kçnnen nicht ohne diese vorstehende Behauptung abgeleitet werden. Worin besteht dieser innere Wert der Freiheit, der die Bedingung dafr ist, den moralischen Wert einer handelnden Person behaupten zu kçnnen? Wrde die „Freyheit nach Willkr[,] die nicht necessitirt ist zu handeln“ (VM 177; 222), lediglich verstanden als allgemeine Voraussetzung fr die Mçglichkeit von Handlungen berhaupt, so brauchte es nicht die gesonderte Annahme eines Wertes, denn auch das Vermçgen der Tiere, „ihre Krffte nach Willkr zu gebrauchen“, kçnnte als ein innerer Wert der Welt in Ansehung ihrer konstitutiven Bedingungen angesehen werden. Nun ist die tierische Willkr jedoch „durch Reitze und stimulos necessitirt“, mithin durch Restriktionen bestimmt, derer sie sich nicht selbstndig entledigen kann. (VM 177; 221 f.) Das besondere Merkmal wirklich freien Handelns ist das Privileg, die Mçglichkeit von Handlungen wahrnehmen, aber auch ablehnen, d. h. entscheiden zu kçnnen. Der innere Wert der Freiheit, der hier von Anfang an behauptet wird, bezieht sich also auf die grundstzliche Ungebundenheit, den Vorteil des Menschen, als eines Teils der Natur zugleich von dieser unabhngig zu sein. Dieser Wert ist dabei noch keiner qualitativen Bestimmung unterzogen, er steht zunchst lediglich fr ein Unterscheidungskriterium, um die Differenz zwischen der Unmçglichkeit und der Mçglichkeit selbstndiger Handlungen anzuzeigen. Aussage 1) kann dementsprechend weniger mißverstndlich umformuliert werden in:

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1) Freiheit ist, als die Bedingung selbstndigen Handelns, ein eigenstndiger Wert, der die Differenz zu ,unselbstndiger‘ Willkr markiert. Ausgehend von der Freiheit als Bedingung der Mçglichkeit selbstndiger Handlungen ist die in Aussage 2) behauptete Beschrnkung der Freiheit als Prinzip des Handelns konsequent, da fr die Struktur von Handlungen bestimmte Voraussetzungen und Einschrnkungen maßgeblich sind. Aktivitten, die keiner offensichtlichen oder beschreibbaren strukturellen Regelmatrix zuzuordnen sind, werden blicherweise nicht als Handlungen, zumindest nicht in einem gehaltvollen Sinn, bezeichnet.24 Aussage 3) folgt dieser Vorgabe insofern, als die Ausdrcke „(allgemeines) Gesetz“, „Regeln“ und „objektiv notwendige Grnde“ als synonym mit einer strukturellen Regelmatrix (im folgenden: „Regelstruktur“)25 verstanden werden kçnnen, zumal die in Aussage 4) geforderte bereinstimmung auf eine prinzipielle Strukturalitt und noch nicht auf eine eindeutig und endgltig vorgegebene Struktur verweist. Mit der in Aussage 4) geforderten bereinstimmung der durch die Regelstruktur bestimmten Handlungen mit den Zwecken der Menschheit ist unmittelbar die Frage verbunden, wie diese Zwecke bestimmt sind. Denn die Aussage benennt eindeutig die Zwecke der Menschheit als das Kriterium, an denen sich die Regelstruktur bemessen soll.26 Es treten an dieser Stelle mindestens zwei Probleme auf: Erstens wird hier keine umfassende Erluterung gegeben, wie die wesentlichen Zwecke der Menschheit beschaffen sind. Zweitens bleibt mit Blick auf Aussage 5) unklar, ob allein die Zwecke der Menschheit das Kriterium fr die geforderte bereinstim24 Es soll an dieser Stelle nicht entschieden werden, ob Handlungen einer kausalistischen oder nicht-kausalistischen Beschreibung zu unterziehen sind. Eine explizite Handlungstheorie hat die konkreten Bedingungen anzugeben, als was und wie Handlungen definiert, erlutert und verstanden werden kçnnen. In unserer Untersuchung ist es ausreichend, fr Handlungen ein Minimum an Strukturalitt zu fordern, worin rationale Akteure und Ereignisse aufeinander bezogen sind. Siehe ausfhrlich zur Diskussion Mele (1997) und Wilson (2002). 25 Ich fhre den Ausdruck „Regelstruktur“ hier ein, um fr die vielfltigen Ausdrcke in der Vorlesung, die m. E. den gleichen Sachverhalt beschreiben, eine hinreichend neutrale Bezeichnung zu geben. Dabei beziehe ich mich ausdrcklich nicht auf das heutige Verstndnis von „Regel“, welches in einen eigenstndigen systematischen und philosophiegeschichtlichen Kontext eingebunden ist, so etwa bei Rawls (1999). 26 Mit direktem Bezug zur Vorlesung, so etwa VM 178; 223: „Die ursprngliche Regel nach der ich die Freiheit restringiren soll, ist die Uebereinstimmung des freyen Verhaltens mit den wesentlichen Zwekken der Menschheit.“

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mung sind oder ob nicht die Bedingung fr diese bereinstimmung bereits in der Regelstruktur gegeben ist. Wenn die durch die Regelstruktur beschrnkte Freiheit mit den Zwecken der Menschheit bereinstimmen muß, dann kann in der die bereinstimmung gewhrleistenden Regelstruktur eine strukturelle Entsprechung zu den Zwecken angenommen werden. Ausgehend von dieser Annahme ist dann nach dem Bedingungsverhltnis von Regelstruktur und Zwecken zu fragen, also etwa, ob sich die Regelstruktur erst im Vergleich mit den gegebenen Zwecken herausbildet oder ob es nicht eine von vornherein zu bevorzugende Regelstruktur gibt, die allein die bereinstimmung mit den Zwecken gewhrleistet. Zum ersten Problem: In einem spteren Teil der Vorlesung wird die „grçste moralische Vollkommenheit, so fern sie durch Freyheit des Menschen bewerkstelligt wird“, als „die letzte Bestimmung des menschlichen Geschlechts“ und damit als der „allgemeine Zwek der Menschheit“ angegeben. (VM 364; 451 f.) Wir sehen hier eine Verbindung zu Aussage 1), nach der die Freiheit als Bedingung allen Handelns einen eigenstndigen, differenzierenden Wert hat: Zum allgemeinen Zweck der Menschheit gehçrt es, Handlungen aus Freiheit mit Blick auf ein bestimmtes Ziel zu tun. Die „grçste moralische Vollkommenheit“ ist nur durch Handlungen aus Freiheit zu erreichen, und die Freiheit als die Bedingung allen Handelns berhaupt ist zugleich die Bedingung zur Realisierung dieses hçchsten Ziels. In dem Abschnitt der Vorlesung, der von den Pflichten gegen sich selbst handelt, ist sowohl von den „wesentlichen Zwekken der Menschheit“ als auch von einem singulren „wesentlichen Zwek der Menschheit“ die Rede, weshalb im Zusammenhang mit der spteren Stelle die einheitliche Bedeutung eines Zweckes der Menschheit, nmlich die moralische Vervollkommnung in selbstbeschrnkten Handlungen aus Freiheit, angenommen werden kann. Die in Aussage 4) geforderte bereinstimmung ist unter diesen Voraussetzungen keine tatschliche Erfllung des allgemeinen Zweckes, sondern eine in der Regelstruktur sichtbar werdende Hinordnung auf dieses Ziel. Zum zweiten Problem: Wenn die geforderte bereinstimmung eine in der Regelstruktur ersichtliche Hinordnung auf den Zweck der Menschheit ist, dann kann diese in zweierlei Hinsicht erfolgen. Einerseits lßt sich die freiheitsbeschrnkende Regelstruktur ganz allgemein als ein regulatives Prinzip der berlegung denken,27 indem allen Handlungen eine Einschrnkung in bezug auf die Relation von anzuwendenden Mitteln zur 27 Denn wie Kant sagt, liegen die „objectiv necessitirenden Grnde […] im Verstande“ (VM 177; 222).

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Erreichung eines bestimmten Zwecks auferlegt wird, um dann den erreichten einzelnen Zweck mit dem allgemeinen Zweck der Menschheit zu vergleichen und, wenn mçglich, sowohl die Regel als auch den (einzelnen) Zweck zu korrigieren. Eine solche Auffassung, die den gewçhnlichen Intuitionen eines Handelnden entspricht, geht von einer schwachen Regelstruktur aus, in der sich die Regel allein an einem bergeordneten Zweck orientiert. Diese Regelstruktur konzentriert sich auf die Verwirklichung konkreter Handlungen, schreitet also zunchst von Aussage 1) bis Aussage 3) fort, um dann die nchste Anforderung, Aussage 4), zu erfllen. Von einer starken Regelstruktur geht hingegen die andere Auffassung aus: Jede freiheitsbeschrnkende Anwendung einer Regel zur Erreichung eines partikulren Zwecks muß sowohl den Anforderungen des konkreten singulren Handlungsvollzugs als auch zugleich dem Kriterium gengen, den allgemeinen Zweck der Menschheit zu erfllen. Eine solche Regelstruktur steht in einer doppelten Prospektivitt, da sie nicht nur kurzfristig konkrete, sondern zugleich langfristig ideale Zwecke verwirklichen muß. Die Aussagen 3) und 4) fallen dabei zusammen: 3) + 4) Die Regelstruktur (das allgemeine Gesetz) ermçglicht es, die (willkrliche) Freiheit so zu beschrnken, daß alle einzelnen (willensbestimmten) Handlungen mit dem Zweck der Menschheit bereinstimmen. Damit ist in der Regelstruktur das Vermçgen vorgebildet, dem Zweck der Menschheit entsprechen zu kçnnen, weshalb Aussage 5) weniger als Forderung, denn als Konditional zu formulieren ist: 5) Erst wenn die Freiheit vollstndig durch die Regelstruktur (das allgemeine Gesetz) beschrnkt wird, dann stimmt sie (der Gebrauch der Freiheit als Mçglichkeit zum Handeln) mit dem Zweck der Menschheit berein.28 28 In Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII/1 190 f., bindet Kant die Zwecke der Menschheit (als Idee) weitaus strker an „die Regeln unseres Wohlverhaltens“, die a priori durch die Vernunft bestimmt werden: „Alle Nothwendigkeit unserer Handlungen muß a priori moralisch, das heißt unabhngig von allen Neigungen und Begierden bestimmt seyn. Da die moralischen Regeln a priori bestimmt werden mßen, so sehe ich daraus ein, daß sie sich auf die ursprnglichen Regeln unserer selbst, id est auf die Regeln der Menschheit beziehen, und daß die Bestimmung der Handlungen dem wesentlichen Zwekke der Menschlichen Natur gemß sey. Die wesentlichen Zwekke der Menschheit sind die Grnde der Mçglichkeit der Menschheit selbst. Was den wesentlichen Zwekken der Menschheit widerspricht, das ist auch den Pflichten gegen uns selbst entgegen. […]

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Fr den folgenden bergang von Aussage 5) zu Aussage 6) ist es zunchst unerheblich, ob die Regelstruktur in dieser oder jener Hinsicht verstanden wird, denn allein die bereinstimmung der Handlungen mit dem allgemeinen Zweck der Menschheit ist die Grundlage fr Pflichten im allgemeinen und Pflichten gegen sich selbst im besonderen: 6) Die bereinstimmung der beschrnkten Freiheit mit dem allgemeinen Zweck der Menschheit ist das Prinzip aller Pflichten, besonders der Pflichten gegen sich selbst. Woraus resultiert nun aber der besondere Pflichtcharakter in Ansehung der zu ermçglichenden bereinstimmung der beschrnkten Freiheit mit dem allgemeinen Zweck der Menschheit? In einer eher schwachen Argumentation kann man sich vordergrndig auf das Privileg der Mçglichkeit freier Handlungen und damit auf den inneren Wert der Freiheit berufen: Weil einzig der Mensch in der Lage ist, unabhngig von instinktiven Neigungen Handlungen zu generieren, muß er diese Mçglichkeit als eine ihm von Natur aus zukommende Bestimmung auch wahrnehmen.29 Allerdings ist aus diesem Verstndnis der privilegierten Stellung des Menschen gegenber anderen Lebewesen nicht unbedingt eine Pflicht abzuleiten. Der Charakter eines Privilegs schließt die Option ein, diesen Vorzug unter Umstnden nicht anzunehmen. Offensichtlich kann niemand gezwungen werden, ein Privileg, welches ihm zwar zukommt, aber von ihm aus bestimmten Grnden abgelehnt wird, doch als sein Privileg annehmen zu mssen. Die Freiheit des Handelns, so kçnnte ein Argument lauten, lßt immerhin hypothetisch die Mçglichkeit einer Entscheidung gegen die eigenmchtig regulierte Willkr und fr eine Existenz unter dem Diktat instinktiver Neigungen und Triebe zu. Das Paradoxe einer bewußten Entscheidung fr den Zustand eines unbewußten, instinktiven Zwngen unterworfenen Lebens ist hier offensichtlich und soll in dieser Form auch nicht verteidigt werden. Fr den hypothetischen Gehalt des Arguments lassen sich jedoch Flle angeben, in denen zwar nicht eine konkrete Entscheidung getroffen wird, sich aber Die Pflichten sind die Regel der Uebereinstimmung der Handlungen mit den ursprnglichen Zwekken der Natur. Der Mensch schndet sich selbst, wenn er diesen ursprnglichen Zwekken entgegen handelt. Ursprngliche Zwekke sind die, welche die Bedingung waren, wodurch die Menschliche Natur allein mçglich war.“ 29 Dies entspricht einem naturalistischen Fehlschluß. Tatschlich bleibt in der Vorlesung weitgehend unklar, an welcher systematisch relevanten Stelle eine normative Prmisse so eingefhrt wird, daß sich daraus die intendierte Sollensforderung von Pflichten gegen sich selbst berzeugend rechtfertigen ließe.

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jemand wissentlich den zuflligen Umstnden berlßt oder, in umgangssprachlicher Diktion: sich gehen lßt. Diese Art einer passiven Selbstaufgabe ist dann ebenfalls eine Entscheidung, nmlich gegen den Anspruch, sich nicht zuflligen Umstnden teilnahmslos zu berlassen. Liegt ein solcher Fall vor, dann kann eine Verbindlichkeit nicht eingefordert werden: Denn jemand, der sich vollstndig seinen instinktiven Neigungen berlßt, nimmt die Mçglichkeit, frei handeln zu kçnnen, nicht wahr. Deshalb ist er auch den Bedingungen dieser Mçglichkeit nicht unterworfen.30 Die Berufung auf den inneren Wert der Freiheit allein ist also nicht ausreichend, um eine Pflicht zu begrnden. Eine anders gefaßte Argumentation kann zwar den Bezug auf den allgemeinen Zweck der Menschheit strker hervorheben, muß aber zuvor eine zustzliche Annahme bercksichtigen, um berzeugend zu sein. Denn wie der vorhergehende Abschnitt gezeigt hat, reicht es nicht aus, allein die Mçglichkeit freien Handelns und deren eigenmchtige Beschrnkung zur Grundlage einer Verbindlichkeit zu machen. – Meine Argumentation zielt hier jedoch darauf ab, dass die Einsicht, also das wissende Verstehen des Handelnden, nicht nur Voraussetzung fr Verbindlichkeit im allgemeinen ist, sondern auch und vor allem fr die Prinzipstruktur von Pflichten. Von einer Verbindlichkeit kann nur dann sinnvoll gesprochen werden, wenn es jemanden gibt, der diese Verbindlichkeit erkennen und auf sich selbst beziehen kann. Dies schließt das Wissen um den grundstzlichen Charakter von Verbindlichkeiten und damit einen minimalen personalen Standard der Selbsterkenntnis ein, wonach sich ein Handelnder tatschlich als Handelnder begreift und um die wechselseitigen Auswirkungen von Handlungen weiß (s.u. 1.2.3).31 Erst dann ist es einem Handelnden mçglich, die Bedingungen der Mçglichkeit des eigenen Handelns mit den Bedingungen der Mçglichkeit des Handelns anderer Akteure sowie ganz prinzipiell mit den Bedingungen von Handlungen aus Freiheit berhaupt zu verbinden. Somit wird – in meiner Interpretation – die Einsicht in den Zusammenhang der Voraussetzungen fr Handlungen aus Freiheit mit der

30 VM 36; 42: „Wo die Handlungen gar nicht frey seyn, wo keine Persçnlichkeit ist, da giebts auch keine Verbindlichkeit […]. Man setzt also zur Verbindlichkeit den Gebrauch der Freyheit voraus.“ 31 Ich verorte den Ausdruck „Selbsterkenntnis“ hier auf einer allgemeinen Verstndnisebene und setze damit noch vor der bereits relativ eng bestimmten „moralischen Selbsterkenntnis“ an. Siehe zu dieser Bernecker (2006), insbes. 168 ff.

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Bestimmung und damit dem allgemeinen Zweck der Menschheit zur minimalen Bedingung von Verbindlichkeit und Pflicht.32 Ohne diese von mir hier eingefhrte zustzliche Voraussetzung kçnnen alle auf Aussage 6) beruhenden Aussagen zumindest nicht mehr ohne weitere Annahmen behauptet werden. Die modifizierte Aussage 6) lautet dann: 6a) Die Einsicht in den Zusammenhang von eigenmchtig beschrnkter Freiheit und dem allgemeinen Zweck der Menschheit ist allgemeine Voraussetzung fr Verbindlichkeit und Pflicht. 6b) Die bereinstimmung von eigenmchtig beschrnkter Freiheit im Handeln und dem allgemeinen Zweck der Menschheit ist dann das Prinzip aller Pflichten, besonders der Pflichten gegen sich selbst. Um zu verstehen, weshalb gerade die bereinstimmung der eigenmchtigen Handlungen mit dem allgemeinen Zweck der Menschheit Prinzip aller Pflichten sein kann, ist ein erneuter Blick auf die abschließenden Bemerkungen aus der Vorlesung zur Moralphilosophie hilfreich. Hier wird auf den Zustand menschlicher Unvollkommenheit verwiesen, der berhaupt erst die Grundlage fr genuin menschliches Dasein enthlt: Durch das innere Prinzip von Handlungen aus Freiheit kann und soll der Mensch in eigenmchtigen (selbstbestimmten) Handlungen darauf hinarbeiten, die in diesem Prinzip beschlossene Mçglichkeit der Vollkommenheit zu verwirklichen. Das moralische Prinzip besteht also nicht darin, auf die ,Zuteilung‘ von vollkommener Glckseligkeit durch eine gçttliche Instanz zu vertrauen, sondern durch Handlungen aus Freiheit diese Vervollkommnung selbst ins Werk zu setzen: „Gott will nicht allein, daß wir sollen glklich seyn, sondern wir sollen uns glklich machen, das ist die wahre Moralitaet.“ (VM 364 f.; 451 f., Hervorh. F.B.) Sobald die Einsicht in die Notwendigkeit einer Hinordnung der eigenen Handlungen auf die Verwirklichung der Mçglichkeit einer stetigen Vervollkommnung gegeben ist, wird der rekursive Zusammenhang deut32 Es ist diese strkere und, wie ich denke, gehaltvollere Argumentation, die den eigentlichen Impetus der vorliegenden Arbeit ausmacht, den ich im Abschnitt 1.2 mit Bezug auf affirmative Selbstverhltnisse, denen die Struktur von Verbindlichkeit und Pflichten gegen sich selbst zugrunde liegt, ausfhrlicher erçrtern werde. Dieser Impetus hat zudem einen wesentlichen Ausgangspunkt in dem dezidierten Fokus, den Gerhardt (1999) auf die eigene Einsicht der sich ihrer selbst bewußten Person gelegt hat. Siehe dazu auch einen Beleg aus Praktische Philosophie Powalski: „Wir sind […] nicht verbunden etwas als Moralisch anzunehmen, bis wir die vim obligatoriam eingesehen haben.“ (AA XXVII/1 193; Hervorh. F.B.)

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licher, in welchem die hier aus der Vorlesung rekonstruierten Aussagen auch rckwrts von 6) nach 1) einander Geltung verschaffen. In einer teleologischen Perspektive kommt zudem die Grundlage fr die konkreten Bestimmungen von Handlungen aus Freiheit in den Blick. Erst wenn dieser Zusammenhang verstanden ist, kann das Prinzip von Pflichten als die bereinstimmung von Handlungen aus Freiheit mit dem allgemeinen Zweck der Menschheit hervorgehoben werden: Die Rede von Pflichten impliziert somit sowohl die Einsicht in den allgemeinen Zweck der Menschheit (die Mçglichkeit einer grçßtmçglichen Vollkommenheit) und in die Bedingungen, unter denen Handlungen aus Freiheit in der Beschrnkung durch eine Regelstruktur mçglich sind, als auch das Verstndnis fr die Notwendigkeit einer bereinstimmung dieser beiden Aspekte als Voraussetzung fr die Verwirklichung der mçglichen Vollkommenheit. Pflichten sind also an bestimmte Voraussetzungen gebunden, allerdings bestehen sie darber hinaus nicht einfach als Pflichten an sich, sondern hngen unmittelbar mit demjenigen zusammen, der in der Einsicht des gesamten Zusammenhangs das Prinzip von Pflichten erkennt und dem entsprechend seinen Handlungen zugrunde legt. Bevor wir abschließend auf die verbleibenden Aussagen 7) bis 10) eingehen kçnnen, sind noch die Fragen zu klren, die sich unmittelbar aus den Erluterungen der Aussagen 6 a) und 6 b) ergeben: Wenn die Einsicht in den Zusammenhang von Handlungen aus Freiheit und deren mçgliche bereinstimmung mit dem allgemeinen Zweck der Menschheit notwendige Voraussetzung fr Verbindlichkeit und den Status von Pflichten ist, dann ist bislang unklar geblieben, unter welchen Bedingungen diese Einsicht eigentlich erlangt werden kann. Handelt es sich hierbei um eine natrliche Disposition, die in der Entwicklung eines Menschen mit Sicherheit zur Entfaltung kommt? Oder unterliegt diese notwendige Einsicht selbst wiederum Bedingungen, auf die der Handelnde Einfluß nehmen kann?33 Die Antwort auf diese Fragen hat mindestens zwei Teile, die auf verschiedenen Erklrungsanstzen beruhen und sich in ihrem jeweiligen Geltungsanspruch zum Teil widersprechen. Auf der einen Seite wird noch einmal die Erklrung variiert, worin die Grundlagen fr Pflichten gegen sich selbst bestehen: „Das principium der Pflichten gegen sich selbst besteht nicht in der Selbstgunst, sondern in der Selbstschtzung, das heißt, unsere Handlungen mssen bereinstimmen 33 Als ein dritter Aspekt kçnnte zudem die adquate Konstitution eines sozio-kulturellen Umfeldes als notwendige Voraussetzung fr die Einsicht in Verpflichtungsverhltnisse einbezogen werden.

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mit der Wrde der Menschheit […].“ (VM 181; 227) Diese Konzeption geht von einem Verhltnis aus, in welchem die Pflichten gegen sich selbst den Schutz der Wrde der Menschheit und der eigenen Person garantieren sollen, indem sie darauf verweisen, „daß wir in Ansehung unserer Person nicht eine ungebundene Freiheit haben, daß die Menschheit in seiner eigenen Person msse hochgeschtzt werden […]“ (VM 175; 220).34 Im Rahmen der bisherigen Rekonstruktion ist die Begrndung zulssig, den Schutz der Person und der Wrde der Menschheit in der Person an die Pflichten gegen sich selbst zu binden und damit festzulegen, daß ein Mensch als ein Mensch leben soll, und somit zwar ber alles verfgen kann, was seine Person anbelangt, aber nicht ber die Person als solche, also ber das Person-sein. 35 Die Schtzung seiner selbst bezieht sich damit auf die Beachtung der Wrde der Menschheit in der eigenen Person, deren Verletzung oder Mißachtung gemß einer Analogie aus der Rechtssprechung von den Pflichten sanktioniert wird: „So wie die Lehre des Rechts unsere Freyheit restringirt in Ansehung unseres Betragens gegen andere Menschen so restringiren die Pflichten gegen uns selbst unsere Freyheit in Ansehung unserer selbst.“ (VM 182; 227)36 Mit Blick auf die Aussagen 1) bis 6) wird der Gehalt des allgemeinen Zwecks der Menschheit insofern noch deutlicher hervorgehoben, als nun von der Wrde der Menschheit in der Person 34 An dieser Stelle meiner Erçrterung wird der Ausdruck „Selbstschtzung“ zunchst noch in vçllig unproblematischer Weise verstanden. Siehe zum argumentativen Problemaufriß Abschnitt 1.2 sowie zur semantischen Analyse Abschnitt 2.2.2. 35 Vgl. VM 174; 219. Da es mir um die Untersuchung selbstbezglicher Verhltnisse personaler Individuen und nicht um die Analyse des Wrdebegriffs geht, verstehe und verwende ich den Ausdruck „Wrde“ hier in einer nicht nher erluterten und vor allem nicht-problematisierten Weise. Erst im Zusammenhang mit den Kapiteln 2 und 3 dieser Arbeit wird sich ein vom Verstndnis affirmativer Selbstverhltnisse aus zu verstehender Aspekt des Wrdebegriffs formulieren ließe. 36 Diese berlegung bezieht sich auf die in der Vorlesung skizzierte Gltigkeit von natrlichen moralischen Gesetzen, die in der Vernunft des Menschen gegrndet sind und folglich „keinem unbekannt seyn“ kçnnen (VM 194; 243), weshalb man „den innerlichen Gerichtshoff des Gewissens mit dem ußerlichen Gerichtshof vergleichen [kann]; wir finden also in uns einen Anklger, welcher aber nicht sein kçnnte, wenn nicht ein Gesetz wre, das aber nicht zum Gewissen gehçrt, sondern in der Vernunfft liegt, welches wir gar nicht corrumpiren kçnnen und seine Richtigkeit und Reinigkeit nicht leugnen kçnnen.“ (VM 193; 241) Zum Teil werden hier bereits Bestimmungen eingefhrt, die in strengerer Form in den Ausfhrungen der spteren, sogenannten kritischen Ethik wiederkehren. Zur Einordnung des Vorlesungsmanuskripts und dessen Verhltnis zu den moralphilosophischen Schriften der 1780er Jahre siehe ausfhrlich die Einleitung von Manfred Khn (VM VII–XXXV).

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die Rede ist, also ein Bedingungs- und Verweisungsverhltnis zwischen einem Allgemeinen und einem je Besonderen markiert wird. Allerdings bewegt sich diese Beschreibung auf einer Ebene, auf der das Individuum bereits verstanden hat, was die Wrde der Menschheit und der eigenen Person sowie damit verbunden die Pflichten gegen sich selbst sind. Dem schon erkannten Anspruch der Wrde korrespondiert dann eine Verbindlichkeit, deren Geltung fr die darauf aufbauende Moraltheorie hier keineswegs bestritten werden soll. Aber fr eine Erklrung, wie die Einsicht in den Wert der eigenen Person eigentlich erfolgt und auf welche Weise daraus Verbindlichkeiten sich selbst gegenber resultieren, reicht dies noch nicht aus. Der unmittelbar darauf folgende Abschnitt zur „Exploration seiner selbst“ verspricht zunchst, diesen Mangel zu beheben, setzt aber etwas voraus, was uns auf den vorigen Stand zurckwirft: Der Mensch hat eine allgemeine Pflicht gegen sich selbst, sich zu disponiren, daß er zur Beobachtung aller moralischen Pflichten fhig ist, daß er also moralische Reinigkeit und moralische Grundstze in sich festsetze und nach denselben zu handeln trachte. Also ist die erste Pflicht gegen sich reine moralische Gesinnung zu hegen und dieselbige in ihrer Reinigkeit und Strke zu erhalten. Dahin gehçrt die Selbstprfung und die Selbstforschung ob die Gesinnungen auch moralische Reinigkeit haben. (VM 182 f.; 229)

Um dieser Pflicht der stetigen Selbstbeobachtung gengen zu kçnnen, ist ein Verstndnis erforderlich, welches um die Mçglichkeit zur Vervollkommnung der eigenen moralischen Fhigkeiten, aber vor allem um die Gefhrdung dieser Mçglichkeit im Verlauf eines Lebens weiß. Die Exploration seiner selbst entspricht also mehr einer regulativen Vorschrift, in seinem eigenen Bemhen nicht nachzulassen und immer wieder aufs Neue zu prfen, ob die Beweggrnde fr die Beschrnkung der eigenen Handlungen aus Freiheit noch adquat sind. Die fr diese Haltung nçtige Einsicht in den Zusammenhang von Handlungen aus Freiheit und deren geforderte bereinstimmung mit dem allgemeinen Zweck der Menschheit wird hier vorausgesetzt und nicht etwa durch die Ttigkeit der Selbsterforschung erst hervorgebracht. In einer anderen Perspektive geht die Begrndung der Pflichten gegen sich selbst von zwei Annahmen aus, die im Kern bereits in den vorhergehenden Abschnitten genannt wurden: a) Die Schtzung seiner selbst in Hinblick auf den allgemeinen und wesentlichen Zweck der Menschheit ist das allgemeine Prinzip der Pflichten gegen sich selbst.

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b) „[D]ie Pflichten gegen sich selbst sind die Bedingung, unter der allein die andern Pflichten kçnnen ausgebt werden.“ (VM 202; 252) Im darauffolgenden Satz ist zunchst nicht eindeutig zu erschließen, worauf sich der Verweis „dieses“ bezieht: c) „Dieses ist das principium der Pflichten gegen sich selbst, und die objective Bedingung der Moralitaet.“ (VM 202; 252) Wenn sich der Verweis zusammenfassend auf beide Aussagen a) und b) beziehen sollte, so ist er ungenau. Eine weniger mißverstndliche Lesart kçnnte lauten: c)*

Aus dem Vorstehenden erklrt sich das Prinzip der Pflichten gegen sich selbst, und damit (im Zusammenhang von Selbstschtzung, Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere) ist die objektive Bedingung fr Moralitt gegeben.

Bedeutsam ist nun der zweite Teil des Satzes, der als Frage formuliert ist: „[W]elches ist nun aber die subjective Bedingung der Ausbung der Pflichten gegen sich selbst, unter der wir allein fhig sind die Pflichten gegen uns selbst auszuben?“ (VM 202; 252) Mit einer Metapher, die sich an (politischen) Herrschaftsverhltnissen orientiert, wird der Grundsatz verdeutlicht, nach welchem die Mçglichkeit der Ausbung der Pflicht gegen sich selbst unmittelbar mit der Herrschaft ber das eigene Selbst verbunden ist: Im Menschen ist ein gewisser Pçbel, der unter der Regierung stehen muß, und den ein wachsames Regiment unter der Regel erhalten muß, und die auch Gewalt haben muß gems der Anordnung der Regierung diesen Pçbel unter die Regel zu zwingen. Dieser Pçbel im Menschen sind die Handlungen der Sinnlichkeit, diese stimmen nicht mit den Regeln des Verstandes berein, sie sind aber nur insofern gut als sie mit den Regeln des Verstandes bereinkommen. Der Mensch muß Disciplin haben […]. (VM 202 f.; 253)

Bei der Disziplin gegenber der Sinnlichkeit wird noch einmal zwischen pragmatischen, aus Regeln der Klugheit resultierenden Beschrnkungen und Restriktionen nach dem moralischen Gesetz unterschieden. Nur diese moralische Disziplin „ist die Bedingung, unter der wir allein die Pflichten gegen uns ausben kçnnen“. Und: „Die wahre Oberherrschafft ber uns selbst ist die moralische nach der Regel der Sittlichkeit.“ 37 Problematisch 37 Die Disziplin nach den Regeln der pragmatischen Klugheit ist fr Kant nur eine mittelbare, da sie sich zwar an den Vorgaben des Verstandes orientiert, dieser aber wiederum der Sinnlichkeit dient, denn „er giebt ihr Mittel an die Hand, wodurch

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ist dabei allerdings die Konklusion: „Demnach kçnnen wir sagen die Herrschafft ber sich selbst ist die hçchste Pflicht gegen sich selbst, weil sie die oberste Bedingung der Pflichten gegen sich selbst ist.“ (VM 203; 254) Der Widerspruch ist offensichtlich: Die (moralische) Herrschaft ber sich selbst kann nicht eine, wenn auch die hçchste Pflicht gegen sich selbst und zugleich die oberste Bedingung der Pflichten gegen sich selbst sein. Wenn die Beherrschung seiner selbst eine notwendige Bedingung fr die Pflichten gegen sich selbst ist, dann enthlt diese Beherrschung seiner selbst als solche keine Verbindlichkeit im Sinne einer Pflicht und ist auch keine Pflicht gegen sich selbst. Es bietet sich nun mit Blick auf die Aussagen a), b) und c)* an, die Herrschaft ber sich selbst als eine Pflicht gegen sich selbst unter verschiedenen anderen Pflichten gegen sich selbst anzusehen. Damit wrde ihr allerdings der Status genommen, der in der Vorlesung fr unverzichtbar gehalten wird oder sogar gehalten werden muß – die Oberherrschaft ber das eigene Selbst nicht nur als Bezugspunkt an die Spitze aller Pflichten gegen sich selbst zu stellen, sondern in der Selbstbeherrschung ein Konstitutionsprinzip zu sehen, um damit dessen Prioritt in der vom moralischen Gesetz ausgehenden Disziplin zu garantieren. Wird hingegen die Herrschaft ber sich selbst als Bedingung aller Pflichten gegen sich selbst verstanden, so gehçrt sie in den Kontext der Aussage a) und muß mit der Schtzung seiner selbst in Hinblick auf den allgemeinen und wesentlichen Zweck der Menschheit in Verbindung gebracht werden. Auf dem jetzigen Stand unserer Untersuchung lßt sich aber, wie im vorigen Abschnitt deutlich wurde, daraus keine Verbindlichkeit ableiten, und folglich ist das Diktum „[d]er Mensch muß Disciplin haben“ (VM 202 f.; 253; Hervorh. F.B.) noch nicht ausreichend begrndet. Es ist anzunehmen, daß sich Kant dieser schwierigen Ausgangssituation durchaus bewußt war, denn den bestimmenden, klaren Aussagen38 folgt die einschrnkende Frage: „Aber um souveraine Gewalt ber uns zu haben mssen wir der Moralitaet die hçchste Gewalt ber uns geben, daß sie ber unsere Sinnlichkeit herrscht. Kann der Mensch diese Gewalt ber sich erhalten wenn er will?“ (VM 203; 254) Die Antwort auf diese Frage gibt dem bisherigen Begrndungszusammenhang eine neue Ausrichtung: die Neigung befriedigt wird, weil er in Ansehung der Zwekke von der Sinnlichkeit abhngt“ (VM 203; 254). 38 VM 203; 254: „Diese Oberherrschafft ist souverain und die Gesetze befehlen categorisch ber die Sinnlichkeit und nicht so wie die pragmatische; denn da braucht der Verstand eine Sinnlichkeit wieder die Andere.“

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Denn die Herrschaft ber sich selbst wird nicht nur durch den internen Widerstreit von Sinnlichkeit und Verstand erschwert, sondern auch, „weil das moralische Gesetz Vorschrifft aber keine Triebfeder hat“ und eine „executive Gewalt“ fehlt. Diese exekutive Gewalt ist das moralische Gefhl, welches nicht zwischen Gut und Bçse unterscheidet, sondern als „Triebfeder, wo unsere Sinnlichkeit mit dem Verstand bereinstimmt“ (VM 204; 255), verstanden wird.39 Zu der Urteilskraft in moralischen Fragen kommt also noch ein weiterer Antrieb hinzu, der die Selbstdisziplinierung gemß des Sittengesetzes motiviert. In den einleitenden Bemerkungen wird die Notwendigkeit eines einheitlichen Prinzips hervorgehoben, „das aus dem Grunde unseres Willens fließt“ (VM 21; 23). Spter, in der eigentlichen Vorlesung, wird der subjektive Bewegungsgrund noch einmal ausfhrlich erlutert: Das oberste principium aller moralischen Beurtheilung im Verstande, und das oberste Principium alles moralischen Antriebes, diese Handlung zu thun, liegt im Hertzen; diese Triebfeder ist das moralische Gefhl. Dieses principium der Triebfeder kann nicht mit dem principio der Beurtheilung verwechselt werden. Das principium der Beurtheilung ist die Norm, und das principium des Antriebes ist die Triebfeder. Norm ist im Verstande, die Triebfeder aber im moralischen Gefhl. Die Triebfeder vertritt nicht die Stelle der Norm. Das hat einen practischen Fehler, wo die Triebfeder wegfllt, und das hat einen theoretischen Fehler, wo die Beurtheilung wegfllt. (VM 57; 70)40

Das moralische Gefhl wird hervorgerufen, wenn und nachdem der Verstand die rationale Entscheidung ber die bereinstimmung der vorgesehenen Handlung mit dem allgemeinen Gesetz getroffen hat. Ein39 Kant distanziert sich hier von anderen Konzeptionen des moralischen Gefhls, so wie sie etwa in der britischen und schottischen Moralphilosophie entwickelt wurden. Auf diesen Umstand wird im Verlauf der Untersuchung noch ausfhrlicher einzugehen sein. Zur Behandlung des moralischen Gefhls in philosophiehistorischer Perspektive siehe den Abschnitt Vom principio der Moralitaet in der Einleitung, VM 20 ff.; 22 ff. 40 In variierender Diktion heißt es in Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII/ 1 119, zur Unterscheidung des Gefhls aus Lust und Unlust in das physische („welches aus Sachen entspringt“) und das moralische Gefhl: „Die Principia der moralitaet die sich auf das Gefhl es mag das physische oder moralische seyn, grnden, sind von der Art, daß sie uns keine sittliche Lehre oder einen canon der moralitaet geben kçnnen, sondern sie geben uns nur sittliche observationes. Ich kann observationes anstellen, was einer vor Gefhl hat, was ihm gefllt und was ihm mißfllt, ich kann aber seinem Gefhl keine Regeln vorschreiben, ich kann also keine canones machen. Wenn einer einen appetit nach einer Sache hat, kann ich ihn wohl lehren, wie er ihn befriedigen soll, ich kann ihm aber kein Gefhl beytragen.“

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1. Begrndete Selbstverhltnisse

schrnkend erfolgt der Verweis auf das eigentliche Prinzip der Moralitt, welches mitnichten ein aus einer bloß subjektiven Haltung hervorgehendes pathologisches Gefhl sein kann, zumal die Vorstellung von einer „intellectuale[n] Neigung“ einen Widerspruch darstellt.41 Im weiteren Verlauf der Vorlesung wird die Bestimmung des moralischen Gefhls als subjektiver Bewegungsgrund zum konkreten Handeln noch einmal przisiert: Weil der Verstand selbst als intellektuelles Vermçgen keine Handlungen im Bereich der Sinnlichkeit direkt hervorrufen kann, soll ber die Affektion des moralischen Gefhls, welches mit der (rational) bewegenden Kraft des Verstandes bereinstimmen muß, eine indirekte Motivation zum Handeln erfolgen.42 Das moralische Gefhl ist damit als Triebfeder charakterisiert, die den entscheidenden Impuls bereithalten soll, um ein Verstandesurteil praktisch wirksam werden zu lassen. Aber selbst wenn dem moralischen Gefhl ein solcher Status zuzuweisen ist, bleibt unklar, auf welche Weise es berhaupt hervorgerufen wird und welche Bedingungen seine ,Kongruenz‘ mit dem Verstandesurteil verbrgen. Schließlich ließe sich dieses Gefhl auch als eine Art ,angenehme Begleitvorstellung‘ verstehen, die zwar keinen begrndenden Status in Fragen der Moralitt beanspruchen darf, aber trotzdem notwendig zur Moral dazugehçren muß, wie die Rede vom „practischen“ und „theoretischen Fehler“ nahelegt. Obwohl mit diesen Aussagen also noch nicht erwiesen ist, wie und vor allem mit welcher Sicherheit der Verstand auf ein moralisches Gefhl wirken kann und soll, zumal dessen Aktivitt bei manchen Menschen „erst rege gemacht werden“ muß (VM 86; 106), mithin nicht allgemein vorauszusetzen ist, schließt der erste Teil der Vorlesung mit der Bemerkung: Wir haben ein Vermçgen zu urtheilen, ob etwas recht oder unrecht ist, und dieses geht sowohl auf unsere als anderer Handlungen; dieses Vermçgen liegt im Verstande, wir haben auch ein Vermçgen der Lust und Unlust, sowohl ber uns als andere zu urtheilen was da gefllt oder mißfllt und das ist das moralische Gefhl. (VM 101; 129) 41 VM 58; 71: „Denn ein Gefhl fr Gegenstnde des Verstandes ist an sich selber ein Unding, demnach ist das moralische Gefhl aus intellectualer Neigung ein Unding folglich nicht mçglich.“ 42 VM 68 ff.; 85 ff.: „Das moralische Gefhl ist eine Fhigkeit durch ein moralisches Urtheil afficirt zu werden. Wenn ich durch den Verstand urtheile, daß diese Handlung sittlich gut ist, so fehlt noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurtheilt habe. Bewegt mich aber dieses Urtheil, die Handlung zu thun, so ist das das moralische Gefhl. […] Der Verstand hat keine elateres animi, ob er gleich bewegende Krafft und motiva hat, die aber nicht vermçgend sind die elateres der Sinnlichkeit zu berwiegen. Diejenige Sinnlichkeit, die mit der bewegenden Krafft des Verstandes bereinstimmt, wre das moralische Gefhl […].“

1.1 Pflichten gegen sich selbst I

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Damit wird von Kant nun doch die Behauptung aufgestellt, daß sowohl die Fhigkeit zum moralischen Urteilen als auch ein moralisches Gefhl als Vermçgen vorauszusetzen sind. Doch letzteres ist eine Voraussetzung in dem Sinne, daß sie bençtigt wird, um unsere moralische Praxis im Ganzen zu beschreiben. Weil Kant jedoch fr das moralische Gefhl keine Begrndung liefert, ist hier eine begriffliche Spannung zu konstatieren: Weder ist die spezifische Charakteristik des Gefhls als moralisch und sinnlich zugleich im Unterschied zu rein emotiven Affirmationen deutlich bestimmt (die Rede vom „Vermçgen der Lust und Unlust“ trgt ihr briges zur Verwirrung bei), noch kann daraus eine Verbindlichkeit fr einen Handelnden erwachsen, denn „Menschen kçnnen zwar gute Urtheilskrafft im moralischen haben aber kein Gefhl, sie sehen wohl ein, daß eine Handlung nicht gut, sondern strafwrdig ist, aber sie begehen sie doch.“ (VM 204; 255) Fr die Argumentation bezglich der Herrschaft ber sich selbst bedeutet dies folgendes: Wenn die Herrschaft ber sich selbst nicht als eine Pflicht gegen sich selbst unter allen anderen Pflichten gegen sich selbst, sondern als Bedingung von Pflichten gegen sich selbst berhaupt verstanden wird, dann ist die Bestimmung, wonach die Herrschaft ber sich selbst auf der Strke des moralischen Gefhls beruht (vgl. VM 204; 255), problematisch. Wenn ein moralisches Gefhl vorausgesetzt wird, um die Herrschaft ber sich selbst zu begrnden, dann steht und fllt alles, was mit Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere zu tun hat, mit der tatschlichen Evokation dieses Gefhls. Selbst wenn die Herrschaft ber sich selbst als eine Pflicht gegen sich selbst angesehen wird, wre derjenige von einer solchen Verbindlichkeit befreit, der in khl berechnender Rationalitt zwar ein moralisch relevantes Verstandesurteil zu fllen imstande ist, dann aber doch eine moralisch verwerfliche Handlung begeht, da er sich ber das rationale Urteil hinaus nicht zugleich auch an dessen Umsetzung im richtigen Handeln gebunden fhlt. Gerade der zweite Teil der Beantwortung der Frage, wie eine Einsicht in den Zusammenhang von Handlungen aus Freiheit und deren mçgliche bereinstimmung mit dem allgemeinen Zweck der Menschheit erfolgen kann, fhrt vor erneute Schwierigkeiten: Sofern die Voraussetzungen und die Einsicht auf Seiten des zu Verpflichtenden tatschlich gegeben sind, lßt sich, so meine Vermutung, ein System wechselseitiger Verbindlichkeiten und damit auch eine Begrndung von Pflichten gegen sich selbst ableiten. Werden jedoch diese Voraussetzungen, wie etwa ein moralisches Gefhl, nicht als natrliche Dispositionen aufgefaßt – wovon ich hier um des Arguments willen ausgehe –, dann steht der Grund fr die Verteidigung

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1. Begrndete Selbstverhltnisse

von Pflichten gegen sich selbst in Frage. Pflichten gegen sich selbst sind, wie bereits erwhnt, von bestimmten Voraussetzungen abhngig, damit sie berhaupt wirksam werden kçnnen. Eine Besonderheit dieses grundstzlichen Verhltnisses tritt bei nherer Betrachtung der verbliebenen Aussagen 7) bis 10) hervor: 1) Derjenige, der die Beschrnkung der Freiheit selbstndig gemß dem allgemeinen Gesetz vornimmt, hat darin den Grund menschlicher Wrde und den Wert der moralischen Person. 2) Zur Erhaltung des moralischen Wertes der eigenen Person ist jeder dazu verpflichtet, die willkrliche Freiheit gemß dem allgemeinen Gesetz selbstndig zu beschrnken. 3) Die Pflichten gegen sich selbst resultieren aus der Wrde der Menschheit, sie beziehen sich damit nicht auf das Wohlbefinden oder die Vorteile einer einzelnen Person. 4) Wer den Pflichten gegen sich selbst nicht nachkommt, „hat seine Person weggeworfen und der kann keine Pflicht mehr ausben“. In Zusammenfassung der Aussagen 7), 8) und 9) ist die Selbstndigkeit, die aus der Einsicht – vgl. dazu die Aussagen 6 a) und 6 b) – hervorgeht, Grundlage der Anerkennung menschlicher Wrde und des Wertes der moralischen Person. Aus dieser Anerkennung resultiert eine Pflicht, die sowohl auf die einzelne Person (als etwas Besonderes) als auch auf die Menschheit (als Allgemeines) verweist. Wer nun mit Blick auf Aussage 10) seinen Pflichten nicht nachkommt, muß diese Pflichten entweder zuvor ausgebt und dann „seine Person weggeworfen“ haben oder wenigstens um diese Pflichten gewußt haben und ihnen nicht nachgekommen sein. Nun hat unsere bisherige Untersuchung ergeben, daß die Voraussetzungen fr die Begrndung von Pflichten als gegeben angenommen werden, wobei dem moralischen Gefhl eine eminente Bedeutung zukommt. Wenn es jedoch jemanden gibt, bei dem es nicht zur Evokation eines moralischen Gefhls und damit zur Einsicht in den Charakter von Pflichten gegen sich selbst kommt, der also in der Aufgabe einer adquaten Selbsterkenntnis versagt, dann stellt sich deutlich die Frage nach den Grnden und vor allem der Reichweite dieser Art von Verbindlichkeit. Dieses Problem hat Kant bereits in den einleitenden Bemerkungen der Vorlesung gesehen und deutlich benannt. Am Beispiel des Lgenverbots wird die Untauglichkeit einer Moralbegrndung nach dem moralischen Gefhl demonstriert: „Beruhte es [das Verbot, zu lgen] auf dem moralischen Gefhl, so wrde demjenigen, der ein so feines Gefhl nicht hat, welches ihm einen Ekel wieder die Lgen zuwege brchte, erlaubt seyn zu lgen.“ (VM 26; 27)

1.2 Pflichten gegen sich selbst II

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Sofern man dem vortragenden Kant hier nicht willentlich eine begriffliche Unschrfe anlasten mçchte, kann man von einer differenzierten Auffassung des moralischen Gefhls ausgehen: Mit demselben Ausdruck wird einmal die in den siebziger Jahren bereits bestehende Differenz zum Konzept des moral sense als das innere Prinzip einer empirischen Begrndung von Moral verdeutlicht, zum anderen soll ein fr die eigene moralphilosophische Begrndung bençtigter und vorauszusetzender Antrieb zu Handlungen eingefhrt werden. ber die bisherige rekonstruktive Analyse hinaus lßt sich nun in einem zweiten Schritt anhand der letzten umfangreichen Verçffentlichung zur Moralphilosophie zeigen, daß die Begrndung von Pflichten gegen sich selbst ber Jahrzehnte hinweg ein zentraler Bestandteil der kantischen Ethik geblieben ist, jedoch in einem Begrndungsmoment nicht zu berzeugen vermag: An einem bestimmten Punkt der Argumentation, die sich auf das affirmative Verhltnis der Selbstschtzung bzw. Selbstachtung bezieht und im letzten Abschnitt dieses Kapitels (1.2.3) ausfhrlich entfaltet wird. Mit der Frage nach der Selbstachtung steht meiner Meinung nach nicht weniger auf dem Spiel als eine Entscheidung darber, ob die Begrndung aller darauf aufbauenden Elemente des kantischen Entwurfs tatschlich als stichhaltig angesehen werden kann. Betrachten wir dazu noch einmal grundlegend, wie Kant Pflichten gegen sich selbst im Zusammenhang mit einer bestimmten Konzeption von Person und Persçnlichkeit begrndet und welche Auswirkungen dies auf die genannte Problemkonstellation hat.

1.2 Pflichten gegen sich selbst II In der Metaphysik der Sitten (1797/98) werden Pflichten gegen sich selbst gleich zu Beginn der Tugendlehre erçrtert und erfllen dort eine wichtige begrndungsstrategische Funktion. Dabei erfolgt einerseits eine explizite Argumentation im ersten Teil der ethischen Elementarlehre, andererseits sind die fr ein umfassendes Verstndnis unverzichtbaren Voraussetzungen und Bedingungen fr Pflichten gegen sich selbst bereits in den einfhrenden Bemerkungen zur Tugendlehre aufgefhrt. Betrachten wir aber zunchst den Abschnitt, der sich ausdrcklich mit den Pflichten gegen sich selbst befaßt. Kant geht hier auf einen Widerspruch ein, der in dem Begriff einer solchen Pflicht enthalten zu sein scheint. Da die begriffliche Bestimmung von Verpflichtung sowohl ein Verpflichtendes (aktives Moment) als auch ein Verpflichtetes (passives Moment) voraussetzt, ergibt sich

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1. Begrndete Selbstverhltnisse

mit Blick auf eine selbstbezgliche Pflicht das Problem, einem singulren Ich zugleich den Status eines Verpflichtenden wie auch den eines Verpflichteten verleihen zu mssen. Der Widerspruch besteht in der Unmçglichkeit, sich selbst dazu zu verpflichten, dass man sich selbst als verpflichtet zu betrachtet. Darber hinaus wrde „der Verbindende (auctor obligationis) […] den Verbundenen (subiectum obligationis) jederzeit von der Verbindlichkeit (terminus obligationis) lossprechen“ (AA VI 417) kçnnen, was der begrifflichen Definition von Verpflichtung als einer nur unter bestimmten Bedingungen annullierbaren Verbindlichkeit zuwiderluft.43 Und doch muß es Pflichten gegen sich selbst geben, denn Kant setzt eine selbstbezgliche Verbindlichkeit fr die Pflicht anderen gegenber voraus.44 Um diesen Widerspruch aufzuheben, wird die Unterscheidung in Sinnenwesen und Vernunftwesen eingefhrt und przisiert: Der Mensch nun, als vernnftiges Naturwesen (homo phaenomenon), ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner Persçnlichkeit nach, d.i. als mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fhiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet, so: daß der Mensch (in zweierlei Bedeutung betrachtet), ohne in Widerspruch mit sich zu geraten (weil der Begriff von Menschen nicht in 43 In der neueren Diskussion (siehe Fn 16) bezieht sich ein wesentliches Argument gegen selbstbezgliche Pflichten auf diesen Widerspruch im Verhltnis einer Verbindlichkeit, wobei die prononcierte Gleichsetzung von Pflicht und Recht diese Unvereinbarkeit nicht nur strker hervorhebt, sondern zudem die Auseinandersetzung mit Pflichten gegen sich selbst gerade mit Blick auf die kantische Moralphilosophie unnçtig erschwert. Denn in dieser werden Rechtspflichten, denen neben einer Befugnis, etwas zu tun, auch das (Anspruchs-)Recht eines anderen korrespondiert, von Tugendpflichten deutlich unterschieden. Vgl. dazu insbes. AA VI 239, 318–321, 379 u. 382 f. Die in dieser Arbeit zitierten Textstellen aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der Kritik der praktischen Vernunft, der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft sowie der Metaphysik der Sitten werden durchgehend nach Kant (1974) und Kant (1977) zitiert, die Seiten- und Bandangabe folgt der Akademie-Ausgabe. 44 AA VI 417 f.: „Denn setzet: es gebe keine solche Pflichten, so wrde es berall gar keine, auch keine ußere Pflichten geben. – Denn ich kann mich gegen andere nicht fr verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde; weil das Gesetz kraft dessen ich mich fr verbunden achte, in allen Fllen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich gençtigt werde, indem ich zugleich der Nçtigende in Ansehung meiner selbst bin.“ Im letzten Teil des Satzes nimmt Kant damit bereits eine Begrndung fr seine Behauptung vorweg, die ihre Beweiskraft erst im folgenden Paragraphen („Aufschluß dieser scheinbaren Antinomie“) erhalten soll.

1.2 Pflichten gegen sich selbst II

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einem und demselben Sinn gedacht wird), eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann. (AA VI 418)

Dieser vorlufige Abschluß der Begrndung von Pflichten gegen sich selbst verdient eine nhere Betrachtung, denn er ist aufschlußreich fr die Argumentation im gesamten ersten Teil der ethischen Elementarlehre. Grundlegend ist die zweifache Perspektive auf die Kondition des Menschen, der zum einen als vernnftiges Naturwesen und zum anderen als mit innerer Freiheit begabtes und damit, so kçnnen wir hier ergnzend hinzufgen, selbstbestimmtes Vernunftwesen betrachtet wird. Das vernnftige Naturwesen ist, einer vorgngigen Bestimmung gemß, lediglich auf die subjektiv-technische Zwecksetzung hin orientiert, d. h., es verfolgt pragmatisch seine eigenen und zunchst auch nur es selbst betreffende Zwecke mit einer aus der Vernunft resultierenden Klugheit. (Vgl. AA VI 384 f.) Da es hier in bloß funktionaler Weise um die Bereitstellung der erforderlichen Mittel zur erfolgreichen Hervorbringung eines Zwecks geht, kann prinzipiell niemand – weder von anderen noch von sich selbst – zu einer klugen Vorgehensweise im Hinblick auf seine eigenen Zwecke verpflichtet werden.45 Eine solche Pflicht ist jedoch gegeben, sofern der Mensch als Persçnlichkeit betrachtet wird. In der Metaphysik der Sitten arbeitet Kant mit einer Unterscheidung von Person und Persçnlichkeit, die so in der Vorlesung noch nicht angelegt sein konnte. Mit Blick auf die Schwierigkeiten bei der Begrndung von Pflichten gegen sich selbst und der systematischen Verortung affirmativer Selbstverhltnisse ist diese Differenzierung eine der wesentlichen Ausgangspunkte, um nicht nur Person und Persçnlichkeit begrifflich schrfer fassen, sondern vor allem deren Relevanz fr eine Diskussion von Selbstbezglichkeit aufweisen zu kçnnen. In dieser Perspektive bereiten die beiden folgenden Abschnitte in einer kompakten Erçrterung der theoretischen und praktischen Variante des Personen- bzw. Persçnlichkeitsbegriffs die weiterfhrende Diskussion vor, die im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Verbindlichkeit und Pflicht eine hinreichend kom45 Vernnftiges Handeln allein hat also noch nichts mit einer Pflicht zu tun, allerdings kann dieses Vermçgen Teil einer Pflicht werden, die mit objektiven Zwecken verbunden ist: Das Erreichen eines solchen allgemeinen Zwecks setzt mitunter unabdingbar die Hervorbringung einzelner (technischer) Zwecke voraus, so wie etwa der Helfer in einem Krisengebiet fr die Erfllung des bergeordneten Zwecks – die Rettung von Menschenleben – die Mittel fr bestimmte untergeordnete Zwecke in entsprechend kluger Weise bereitstellen muß – Sicherung der Versorgung, geschickte Organisation –, um den eigentlichen Zweck erreichen zu kçnnen.

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1. Begrndete Selbstverhltnisse

plexe Problembeschreibung von Selbstschtzung und Selbstachtung ermçglicht. 1.2.1 Person und Persçnlichkeit I Bereits in der Kritik der reinen Vernunft sieht sich Kant zu einer theoretischen Auseinandersetzung mit einer Auffassung veranlaßt, die das Personsein grundlegend auf die reflektierte Selbstwahrnehmung (Apperzeption) zurckfhrt. Die Identitt einer Person wird im philosophischen Diskurs der Zeit nicht mehr wie in der Scholastik blich als eine individuelle, mit Vernunft begabte Substanz verstanden, sondern von den kontinuierlichen Akten des Selbstbewußtseins abhngig gemacht (so etwa bereits bei John Locke und, in anderer Form, bei Gottfried Wilhelm Leibniz). Die wesentliche Aufgabe besteht darin, das denkende Selbst (die Ratio) als ein psychisches Phnomen zu ergrnden und wiederum rational zu erklren. Dagegen wendet Kant ein, daß der Grundsatz einer solchen rationalen Psychologie zwar das „ich denke“ zu sein hat, dies jedoch nicht die Aussage eines wahrnehmenden Subjekts ber ein gegebenes empirisches Objekt sein kann, sondern eine nicht zu hintergehende selbstbewußte Wahrnehmung.46 Was Kant mit „ich denke“ umschreibt, ist die unbestreitbare Tatsache der Identitt eines Selbstbewußtseins, wobei dieses sich selbst bewußte Subjekt auch zahlenmßig mit sich selbst identisch ist. Jeder, der sagt: „ich denke“, denkt schon, bevor er wissen kann, daß er denkt; und jeder, der sagt: „ich denke“, kann dies nur als ein „Ich“, mithin als ein Einzelner sagen. Nun ist das „ich denke“ als selbstbewußtes Phnomen nicht das eigentliche Problem: Da mit dem „ich denke“ keine Anschauungen verbunden sind, handelt es sich hierbei um ein rational-abstraktes Phnomen, das als solches auf nichts außerhalb dieses Phnomenbereichs verweist. Die 46 Im Unterschied dazu liegt jedoch eine empirische Erkenntnis vor, wenn ich an mir selbst wahrnehme, wie ich operationalisiert denkend mit meinem eigenen Verstand eine komplizierte Mathematikaufgabe lçse. Diese Erkenntnis wird durch den inneren Sinn (als sinnliche Wahrnehmung) mitgeteilt, denn so wie es einen ußeren Sinn (die fnf Sinnesorgane) gibt, der Erscheinungen wahrnimmt, so ist die innere Sinnlichkeit fr die Anschauung der Eindrcke verantwortlich, die das selbstttige Vorstellungsvermçgen hervorbringt. In den folgenden Ausfhrungen beschrnke ich mich auf eine vereinfachte Darstellung der komplexen Erçrterungen Kants ber die Paralogismen der reinen Vernunft (Zweites Buch der transzendentalen Dialektik, Erstes Hauptstck; Kant (1998), A 341–405/B 399–433).

1.2 Pflichten gegen sich selbst II

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„transzendentale Apperzeption“ an sich ist leer und unbestimmt, weshalb Kant das „ich denke“ in zweierlei Hinsicht ergnzen muß: – Erstens versteht er die reine reflexive Selbstwahrnehmung als Funktion, d. h., indem ein Selbst sich selbst als denkendes Subjekt wahrnimmt, nimmt es zugleich wahr, daß dem Selbstbewußtsein eine einheitsstiftende Ttigkeit vorausgegangen sein muß. Diese Ttigkeit ist eine formale Bestimmung, die auch alle mannigfaltigen Vorstellungen des inneren und ußeren Sinns zusammenbringt, diese also zu Vorstellungen des Selbst macht. – Das „ich denke“ ist zweitens eine Form des Denkens und wird somit zu einer notwendigen Voraussetzung und Bedingung aller Erkenntnis. Und da ein Objekt nicht durch bloßes Denken erkannt werden kann, muß die Einheit des Bewußtseins (das Denken) immer auf eine gegebene Anschauung bezogen sein.47 Dieser Grundsatz gilt allerdings auch fr die Selbsterkenntnis: Um sich selbst als Person, als einzelnes denkendes Subjekt wirklich und damit als Anschauung erkennen zu kçnnen, mßte der Nachweis erbracht werden, daß das Selbst als denkende Substanz in allen wechselnden Zustnden identisch ist. Das Person-sein einer Seele ist also nur zu beweisen, wenn die Seele als etwas Substantielles bereits erkannt ist. Da es jedoch keine Anschauung von einem Selbst als einem denkenden Subjekt gibt, kann in der von Kant kritisierten rationalen Psychologie auch keine rationale Erkenntnis vom Person-sein erbracht werden. Damit wre deren Anspruch eigentlich schon erledigt, aber Kant geht noch einen Schritt weiter: Er akzeptiert zunchst den Ausgangspunkt, daß sich die Seele der numerischen (zahlenmßigen) Identitt ihrer selbst bewußt und deshalb eine Person ist. Damit sich ein Selbst als ein numerisch identisches Objekt erkennen kann, muß es sich als ein Beharrliches trotz seiner wechselnden Bestimmungen ber die Zeit hinweg wahrnehmen kçnnen: Alle wechselnden Bestimmungen in der Zeit mssen dann gemß der Form der inneren Anschauung des Selbst auf sein numerisch identisches Selbst bezogen werden.

47 Vgl. im folgenden zum Konzept von Person und Persçnlichkeit v. a. die immer noch maßgebliche Darstellung von Schmidt (1911). Darber hinaus liegen mit Mohr (2002) und Mohr (2001), hier insbes. 103–114, gute Einfhrungen vor. Einen vertieften Zugang zur personalen Identitt in der Zeit und deren Verhltnis zum Selbstbewußtsein bieten Sturma (1992) sowie Sturma (2002).

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1. Begrndete Selbstverhltnisse

1. Als Selbstbewußtsein in der Zeit ist die Persçnlichkeit der Seele damit zunchst a priori, also vor aller Erfahrung, gegeben. 2. Um dieses aber erkennen zu kçnnen, ist die Bestimmung der Person von der Sinnlichkeit abhngig, da Zeit eine Form des inneren Sinnes ist. 3. Sobald aber die Sinnlichkeit ins Spiel kommt, kann das Person-sein nicht mehr rein rational erklrt werden, woraus sich jedoch der Anspruch der rationalen Psychologie ableitet. Darber hinaus ist die Erkenntnis der Persçnlichkeit auf das je eigene Bewußtsein beschrnkt. Die persçnliche Identitt und die Mçglichkeit, sich dies zu vergegenwrtigen, kann bloß subjektiv sein: Fr einen ußeren Beobachter kann nichts von dem, was in einem Selbst vorgeht, zur Anschauung kommen, da fr ihn jedes andere Selbst lediglich Gegenstand seines ußeren Sinnes ist, weshalb er in jedem selbstbezogenen „ich denke“, welches nicht sein eigenes ist, nichts Dauerhaftes sehen kann. Deshalb kann es keinen objektiven Beweisgrund fr die Identitt einer Person geben. Damit ist ein Fehlschluß der rationalen Psychologie nachgewiesen, deren Kernpunkt die Voraussetzung einer Substanz der Seele sein muß: Um die Substanz der Seele zu begrnden, braucht sie die bewiesene Identitt der Person; fr die Identitt der Person ist wiederum zwingend der Nachweis einer substantiellen Seele erforderlich. Zumindest fr die theoretische Vernunft hat Kant die Mçglichkeit einer Begrndung fr das Person-sein verneint, da die Frage nach der Person und der Persçnlichkeit auf der Ebene einer Erkenntnis- oder Bewußtseinstheorie nicht zu lçsen ist. Die erkenntnistheoretische Erklrung eines gehaltvollen Personenbegriffs ist hier fr Kant sowohl unmçglich als auch unnçtig – allerdings gewinnt sie mit Blick auf die praktische Vernunft erheblich an Relevanz. 1.2.2 Person und Persçnlichkeit II Dem Status der Person kommt in einer Moralphilosophie besondere Bedeutung zu, denn der normative Anspruch muß sich auf eine bestimmte Instanz beziehen kçnnen, die einheitlich und ber eine gewisse Zeit hinweg erhalten bleibt. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1797/98) verstrkt Kant daher den Akzent des Person-seins: Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich ber alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und, vermçge der Einheit des Bewußtseins bei allen Vernderungen, die ihm zustoßen mçgen, eine und dieselbe Person, d.i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten

1.2 Pflichten gegen sich selbst II

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kann, durch Rang und Wrde ganz unterschiedenes Wesen, selbst wenn er das Ich noch nicht sprechen kann, weil er es doch in Gedanken hat: wie es alle Sprachen, wenn sie in der ersten Person reden, doch denken mssen, ob sie zwar diese Ichheit nicht durch ein besonderes Wort ausdrcken. Denn dieses Vermçgen (nmlich zu denken) ist der Verstand. (AA VII 127)48

In dieser Definition scheint – im Vergleich mit der erkenntnis- und bewußtseinstheoretischen Erçrterung – zunchst keine Erweiterung des Personenbegriffs zu erfolgen, denn erneut wird die Einheit des Bewußtseins bei allen Vernderungen sowie die Tatsache hervorgehoben, daß da ein Wesen von sich als ein „Ich“ reden kann. Kant formuliert hier aber ein anthropologisches Fundament, das fr die praktische Wirksamkeit von Personen bedeutsam ist: – Der Mensch ist Vernunft- und Verstandeswesen, und er kann eine Vorstellung von seinem eigenen Ich haben, d. h., er ist in einem Selbstverhltnis auf sich bezogen. – Dieses Selbstverhltnis ist nicht nur kurzzeitig, sondern andauernd – es handelt sich also um eine diachrone Identitt. Dies ist die Grundlage fr ein vçllig neues Verstndnis, welches die Erklrung und vor allem die Bedeutung von Person und Persçnlichkeit nicht mehr an den Status einer substantiellen Entitt, sondern an Freiheit und Moralitt knpft. Wie lßt sich dies mit Blick auf das obige Zitat verstehen? Da der Mensch in einem Verhltnis zu sich selbst stehen und sich als „Ich“ begreifen kann, ist er auch in der Lage, sich selbst zu bestimmen und hat somit die Freiheit, seine Handlungen gemß seinen intellektuellen Fhigkeiten durchzufhren. Die Tatsache, daß ein einzelnes Selbst Person ist, versteht Kant zudem nicht als eine ausschließlich private, sondern als eine allgemeine und auf alle Menschen zutreffende Eigenschaft. Jeder Mensch ist Person – aus dieser Allgemeinheit entspringt eine Verpflichtung fr jeden einzelnen, auf der die kantische Moralphilosophie und Ethik aufbaut. Es ist nicht unbedeutend, daß Menschen als vernnftige Wesen in der Lage sind, sich ber die Einschrnkungen der Natur zu erheben, noch bedeutsamer ist jedoch, wie wir mit unserer praktisch wirksamen Vernunft umgehen, also was wir aus uns machen. Und was wir wie aus uns machen, ist im Wesentlichen eine Frage der Moral. Das Person-sein wird somit nicht mehr nur anhand psychologischer Charakteristika bestimmt, sondern vielmehr in der praktischen Wirk-

48 Zitiert nach Kant (2000).

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1. Begrndete Selbstverhltnisse

samkeit moralischer Handlungen verortet, wie die Einleitung in die Metaphysik der Sitten zeigt: Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fhig sind. Die moralische Persçnlichkeit ist also nichts anderes, als die Freiheit eines vernnftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermçgen, sich seiner selbst in den verschiedenen Zustnden, der Identitt seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst gibt, unterworfen ist. (AA VI 223)

Kants Argumentation luft auf zwei wesentliche Strnge hinaus: 1) Als ein Selbst bin ich nicht allein Person, sondern ich muß – in praktischer Hinsicht – alle anderen Menschen als Vernunftmenschen und somit ebenfalls als Personen ansehen. 2) Da das Person-sein eine allgemeine Eigenschaft aller Menschen und damit der Menschheit ist, bin ich aufgrund meines eigenen Personseins, das ich in mir wahrnehme, gegenber diesem Person-sein als eines allgemein menschlichen Vermçgens verpflichtet. Die Schlußfolgerung wirkt zunchst befremdlich, denn die Zugehçrigkeit zu einer Gruppe, die eine bestimmte Eigenschaft besitzt, fhrt noch nicht zwingend auf eine Verbindlichkeit gegenber dieser gemeinsamen Eigenschaft. In Kants Verstndnis bedeutet diese Aussage jedoch mehr: Sich als eine Person zu verstehen, ist nicht bloß eine schlichte Tatsache wie etwa die, eine bestimmte Haarfarbe zu haben. Das Person-sein macht uns als vernnftige Wesen berhaupt erst aus, denn aus dieser personalen Identitt leitet sich alles ab, was fr unser Dasein als handelnde Individuen wichtig ist. Als Wesen, die sich so in ihrem Dasein vorfinden – nmlich als Wesen, die „ich denke“ sagen kçnnen –, sind wir in grundstzlicher Weise verpflichtet. Argumentativ ist dies eine geschickte Strategie, da man hinter diesen fundamentalen Status einer Person nicht mehr zurckgehen kann, hier also eine wirkliche Basis fr das (moralische) Selbstverstndnis vorliegt. Der zweite, darauf aufbauende Strang der Argumentation setzt das Person-sein in ein Verhltnis zum moralischen Gesetz: 1) Da das Person-sein eine allgemeine Eigenschaft der Menschheit ist, die sich in der Person jedes einzelnen Selbst verwirklicht, kann das moralisch-praktische Gesetz ein objektives (rein intellektuelles) Prinzip sein, an dem sich alle Handlungen einer Person orientieren. 2) Dieses moralisch-praktische Gesetz ist mit dem Begriff der Pflicht eng verbunden, der ein allgemeines Prinzip fr jede Form von Verbind-

1.2 Pflichten gegen sich selbst II

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lichkeit voraussetzt. Die Verbindlichkeit erwchst einerseits aus der Allgemeinheit des Person-seins (alle Menschen sind Personen, woraus der Anspruch der Menschheit in jeder Person resultiert), andererseits aus dessen ,Qualitt‘ (Freiheit einer jeden Person, die eigenen Handlungen selbst bestimmen zu kçnnen). 3) Darber hinaus ist jede Person als Zweck an sich aufzufassen, d. h., eine Person ist nicht ,fr etwas‘ als Mittel da, sondern vor allen anderen Zwecksetzungen hat eine Person einen Zweck an sich und in sich selbst. 4) Aus dieser Selbstzweckhaftigkeit resultiert die Aufforderung zur Autonomie, der gemß wir als Personen in uns die allgemeine Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes erkennen und auf uns selbst beziehen mssen, um unsere eigenen Handlungen danach auszurichten. 5) Somit kommt uns die Aufgabe zu, ein potentiell willkrliches Handeln aus eigener Einsicht in unser Person-sein vernnftig zu bestimmen. Gerade diese Herausforderung macht die Wrde eines jeden Menschen als Person aus.49 Die Unterscheidung von Person und Persçnlichkeit hat Kant nicht umfassend herausgearbeitet, allerdings ist die folgende Interpretation m. E. vertretbar: Person meint vor allem die konkrete Erscheinung eines vernnftigen Wesens, welches zugleich intelligibel und sinnlich ist, und damit die Verkçrperung eines Individuums in der Welt mit bestimmten physischen und psychischen Eigenschaften. Dagegen ist die Persçnlichkeit ein bestimmter Aspekt einer Person, indem diese nach Maßgabe einer berlegung ber Absichten und einer Entscheidung, welche Absicht aus welchen Grnden handlungswirksam werden soll, eine Willensbestimmung vornimmt. In diesem Sinne spricht Kant dann auch von einer „moralischen Persçnlichkeit“.50 Zusammen mit den einleitenden Erçrterungen der ethischen Elementarlehre betrachtet ist die begriffliche Bestimmung von Verbindlich49 Diese Darstellung orientiert sich an der begrifflichen Bestimmung, die Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vorgenommen hat. Vgl. dort zur Selbstzweckhaftigkeit AA IV 428 f. und zum Wrdebegriff insbes. AA IV 434 ff. 50 Neben den angegebenen Stellen in der Metaphysik der Sitten und der Anthropologie (s. o.) wird diese Unterscheidung bereits in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) deutlich: „Es ist nichts anders als die Persçnlichkeit, d.i. die Freiheit und Unabhngigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermçgen eines Wesens betrachtet, welches eigentmlichen, nmlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehçrig, ihrer eigenen Persçnlichkeit unterworfen ist, so fern sie zugleich zur intelligibelen Welt gehçrt […].“ (AA V 87)

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1. Begrndete Selbstverhltnisse

keit und Pflicht damit sowohl abhngig von der grundstzlichen Zurechnungsfhigkeit als Konstitutionsprinzip allen Person-seins als auch von der Mçglichkeit, eine aus der Vernunft ersichtliche praktische Gesetzmßigkeit auf die je eigene Persçnlichkeit anwenden und damit zum Regulativ (negative Freiheit) sowie zum Imperativ (positive Freiheit) der eigenen Handlungen machen zu kçnnen.51 Aber welche Voraussetzungen gewhrleisten berhaupt den Status der Zurechnungsfhigkeit und Verbindlichkeit, ohne den eine Begrndung von Pflichten gegen sich selbst nicht mçglich ist? 1.2.3 Selbstschtzung als Voraussetzung fr Verbindlichkeit und Pflicht Fr die Beantwortung dieser Frage ist es zunchst hilfreich, sich den Unterschied von Verbindlichkeit und Pflicht zu verdeutlichen: Unter Verbindlichkeit versteht Kant „die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft“ (AA VI 222), mithin die formale Bedingung, der gemß eine freie Handlung ihre Bestimmung erhlt, indem eine praktische Regel (der Imperativ) das handelnde Subjekt zur bereinstimmung mit dieser Regel zwingt. Anders als bedingte (technische) Regelsetzungen, deren vernnftige Vorschrift zur Ausrichtung einer Handlung sich am jeweils zu erreichenden Zweck orientiert, geht der unbedingte (kategorische) Imperativ ausschließlich auf die Form der Handlung ein und bestimmt diese ber die Vernunft als objektive Notwendigkeit. Whrend in der Verbindlichkeit der formale Grund fr die bereinstimmung mit einer allgemein praktischen Regel der Vernunft gegeben ist, bilden Pflichten das ,materiale‘ Pendant dazu: Da die praktische Regel in formaler Hinsicht entweder gebieten oder verbieten muß, geben Pflichten diejenigen Handlungen vor, die den Forderungen des praktischen Vernunftgesetzes entsprechen.52 Pflichten beschreiben also aufgrund einer bereits bestehenden Verbindlichkeit die fr die berein51 Vgl. zur einfhrenden Erluterung des Freiheitsbegriffs AA VI 221. 52 Man kann sich dies am Beispiel des Gebots der Hilfe verdeutlichen: Es besteht eine formale Verbindlichkeit, hilfsbedrftigen Menschen zu helfen, denn als vernnftiges Individuum kann ich nicht widerspruchsfrei wollen, daß mir im Fall der eigenen Hilfsbedrftigkeit geholfen wird, wenn ich meinerseits die Hilfe fr andere verweigere (Grundsatz der Universalisierbarkeit). Dem formal verbindlichen Gebot der zu leistenden Hilfe entsprechen dann konkrete Pflichten, wie etwa die Pflicht, einen bei einem Unfall verletzten Verkehrsteilnehmer zu versorgen bzw. sich um dessen medizinische Betreuung zu kmmern.

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stimmung mit der praktischen Regel notwendigen Handlungen zurechnungsfhiger Subjekte (Personen). Deren Zurechnungsfhigkeit bemißt sich daran, ob sie als Urheber einer freien Handlung betrachtet werden kçnnen. (Vgl. AA VI 222 f.) Weil Kant von dieser engen Verschrnkung von Verbindlichkeit und Pflicht ausgeht, in der Notwendigkeit und Nçtigung als durch die praktische Vernunft bestimmt vorausgesetzt werden (mssen), kann er in bezug auf das Selbstverhltnis des Menschen als Person (und Persçnlichkeit) die wesentliche Bedeutung von Tugendpflichten hervorheben: Da die Verbindlichkeit eine Notwendigkeit mit sich bringt, der sich eine Person nur um den Preis des Selbstwiderspruchs entziehen kann, besteht die Aufgabe und Herausforderung darin, sich selbst (eigene) Zwecke zu setzen, die zugleich eine Pflicht (auch fr sich selbst) sind. Damit werden zwei wichtige Aussagen getroffen: – Sich berhaupt Zwecke setzen zu kçnnen, ist eine allgemein menschliche Fhigkeit und das eigentliche Charakteristikum des Menschen. Allein das Vorhandensein dieser Eigenschaft verpflichtet jede Person, diese Fhigkeit zu erhalten und zu kultivieren. – Die moralischen (objektiven) Zwecke werden gerade nicht aus pragmatisch-technischen Erwgungen um eines zu erreichenden Zwecks willen gesetzt, sondern der Mensch selbst als Person kann und sollte der Zweck seiner eigenen Zwecksetzung sein. Da die Verbindlichkeit der praktischen Vernunft diese Selbstzweckhaftigkeit formal begrndet, besteht fr jede Person die Pflicht, sich selbst als ihren eigenen Zweck zu begreifen und entsprechend zu handeln, um damit ihrem Anspruch als moralische Persçnlichkeit gerecht werden zu kçnnen.53 Nun kann die Beschreibung von Verbindlichkeit, Pflicht und Selbstzweckhaftigkeit sich letztlich nur auf die Persçnlichkeit beziehen, denn erst diese ist in der Lage, sich bewußt Zwecke, die zugleich Pflichten sind, zu setzen. Wie verhlt es sich dann aber mit der Person, die das Erscheinungsbild des Menschen als ein sowohl intelligibles als auch sinnliches Lebewesen verkçrpert? Mit der formalen Bestimmung durch das praktische Gesetz soll zwar zugleich die Triebfeder fr das Handeln aus (innerer) Tugendpflicht gegeben sein, allerdings bestehen zudem sinnliche Antriebe, die keiner Verbindlichkeit unterliegen und dieser idealen Handlungsmotivation entgegenwirken. Kant setzt deshalb ein grundstzliches Vermçgen zur berwindung jener Antriebe voraus, meint aber auch, daß diese 53 Vgl. zu diesem Abschnitt ausfhrlich AA VI 379–395.

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moralische Strke erworben werden msse, indem „die moralische Triebfeder (die Vorstellung des Gesetzes) durch Betrachtung (contemplatione) der Wrde des reinen Vernunftgesetzes in uns“ und durch „bung (exercitio) erhoben wird“. (AA VI 397) Damit stellt sich die Frage, welches Verhltnis zwischen Person und Persçnlichkeit besteht und wo die moralische Triebfeder zu verorten ist. Es ergeben sich zwei Mçglichkeiten: (1) Person (homo phaenomenon) ist eine anthropologische Bestimmung und psycho-physische Grundlage fr eine Persçnlichkeit (homo noumenon), die moralisch handeln kann. Eine moralische Persçnlichkeit setzt das Vorhandensein einer selbstbewußten Person notwendig voraus, allerdings kann vom Vorhandensein einer Person noch nicht auf eine Persçnlichkeit geschlossen werden. In dieser Auffassung ist die Vorstellung einer Person ohne Persçnlichkeit mçglich. (2) Person ist zwar ,bloß‘ eine anthropologische Voraussetzung, aber in dieser Bestimmung ist notwendig die Entfaltung und Entwicklung einer Persçnlichkeit angelegt. Angesichts der Annahme bestimmter Dispositionen wird die Vorstellung einer Person ohne Persçnlichkeit gemß einer bestimmten teleologischen Ausrichtung ausgeschlossen oder zumindest als defizitr betrachtet werden mssen. Wenn das wechselseitige Bedingungsverhltnis von Person und Persçnlichkeit in dieser Hinsicht ernstgenommen wird, ist daran anschließend die Frage zu klren, ob ein sinnlich-intelligibles Lebewesen ohne Persçnlichkeit berhaupt sinnvoll als Person bezeichnet werden kann. In (1) entwickelt erst die Persçnlichkeit ausgehend von der praktischen Vernunft ein Bewußtsein fr Verbindlichkeit, Pflicht und Selbstzweckhaftigkeit, wobei unklar bleibt, ob dafr (a) bereits eine moralische Triebfeder in der Person erforderlich ist oder (b) diese sich im Zusammenhang mit der moralischen Selbsterkenntnis der Persçnlichkeit herausbildet. Wrde (a) angenommen, mßte nachgewiesen werden, warum die Herausbildung einer Persçnlichkeit trotzdem nicht zwingend erfolgen muß; mit Blick auf (b) bleibt die Frage bestehen, welcher Impuls die moralische Selbsterkenntnis und damit die Triebfeder berhaupt hervorbringen kann. Da (2) von anthropologischen Dispositionen ausgeht, die eine Persçnlichkeit notwendig bedingen, muß auch die moralische Triebfeder als eine Art natrliche Anlage bereits in der Person vorhanden sein. Versehen mit einer entsprechenden teleologischen Konzeption hat diese Auffassung zunchst den Vorteil, nicht erklren zu mssen, aus welchem Impuls heraus die moralische Triebfeder wirksam wird. Wenn jedoch die moralische

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Triebfeder als „Vorstellung des Gesetzes“ bestimmt wird, kommt diese Vorstellung dann nicht erst der Persçnlichkeit, sondern bereits der selbstbewußten Person zu, die somit auch ber die Einsicht in die Verbindlichkeit des praktischen Gesetzes verfgen wrde. Damit kçnnte eine adquate Unterscheidung von Person und Persçnlichkeit hinfllig werden, woraus allerdings Schwierigkeiten bezglich der Begrndung des normativen Anspruchs resultieren: Wenn aus dem Status einer moralischen Persçnlichkeit – deren wesentliches Merkmal die Einsicht in die formale Verbindlichkeit des praktischen Gesetzes ist – der fr die ,Beherrschung‘ der Person nçtige Pflichtcharakter von Handlungen abgeleitet werden soll, dann muß ersichtlich werden, an welchem Punkt die Wirksamkeit der moralischen Triebfeder einsetzt. Die der ethischen Elementarlehre vorangestellte Einleitung zur Tugendlehre enthlt zahlreiche Hinweise darauf, daß Kant sich in seiner Erçrterung von Person und Persçnlichkeit auf das in (2) geschilderte Verhltnis zu beziehen scheint. Eine zentrale Stelle ber „sthetische Vorbegriffe der Empfnglichkeit des Gemts fr Pflichtbegriffe berhaupt“ bildet dabei einen fr unsere Untersuchung entscheidenden Ausgangspunkt: Es sind solche [sc.: die sthetischen Vorbegriffe] moralische Beschaffenheiten, die, wenn man sie nicht besitzt, es auch keine Pflicht geben kann, sich in ihren Besitz zu setzen. – Sie sind das moralische Gefhl, das Gewissen, die Liebe des Nchsten und die Achtung fr sich selbst (Selbstschtzung), welche zu haben es keine Verbindlichkeit gibt: weil sie als subjektive Bedingungen der Empfnglichkeit fr den Pflichtbegriff, nicht als objektive Bedingungen der Moralitt zum Grunde liegen. Sie sind insgesamt sthetisch und vorhergehende, aber natrliche Gemtsanlagen (praedispositio), durch Pflichtbegriffe affiziert zu werden; welche Anlagen zu haben nicht als Pflicht angesehen werden kann, sondern die jeder Mensch hat und kraft deren er verpflichtet werden kann. (AA VI 399)

Aus diesem Abschnitt lassen sich folgende argumentative Aussagen herauslçsen: 1) Das moralische Gefhl, das Gewissen, die Nchstenliebe sowie die Selbstachtung/Selbstschtzung sind moralische Wesensarten (im Sinne von: sie haben eine moralische Qualitt). 2) Das moralische Gefhl, das Gewissen, die Nchstenliebe sowie die Selbstachtung/Selbstschtzung sind zugleich sthetische Wesensarten. Als vorhergehende, aber natrliche Gemtsanlagen sind sie Veranlagungen.

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3) Die genannten Wesensarten sind „subjektive Bedingungen der Empfnglichkeit fr den Pflichtbegriff“ und sie ermçglichen berhaupt erst ein Verstndnis fr Pflicht (und Verbindlichkeit). 4) Da es sich um natrliche (subjektive) Veranlagungen und nicht um objektive Bedingungen fr die Moralitt handelt, gibt es keine (formale) Verbindlichkeit fr diese Wesensarten. 5) Deshalb kann, wer diese Wesensarten nicht hat, auch nicht dazu verpflichtet werden, sie zu besitzen. 6) Nun besitzt aber jeder Mensch diese Wesensarten/natrlichen Veranlagungen. 7) Darum kann jeder Mensch aufgrund dieser Wesensarten/natrlichen Veranlagungen verpflichtet werden. Bereits auf den ersten Blick wird klar, welche grundlegende Schlsselfunktion mit Prmisse 6) verbunden ist: Als anthropologische Festsetzung ist sie das Scharnier, um den argumentativen bergang von einem Mçglichkeitsverhltnis zu einem Verpflichtungsverhltnis zu garantieren. Natrlich darf Kant diese Festsetzung als eine Prmisse einfhren, denn Prmissen mssen zunchst nicht bewiesen werden – sofern sie berhaupt beweisbar sind. Schließlich haben Prmissen als unbedingte Voraussetzungen erst die Gltigkeit eines Beweises in der von ihnen ausgehenden Argumentation zu sichern. Es kann daher nur der Anspruch einer Prmisse bestritten werden, als wahr zu gelten, indem man ihre Plausibilitt in Zweifel zieht. Nun kçnnte sich jedoch herausstellen, daß in einer Festsetzung wie 6) keine Prmisse, sondern eine Behauptung oder sogar eine ,untergeschobene‘ Behauptung zu sehen ist. Im Gegensatz zu Prmissen machen Behauptungen fr die Rechtfertigung ihres Anspruchs auf Gltigkeit die Angabe von Grnden erforderlich. Was folgt daraus? Fr eine Kritik an Kant hngt nicht wenig davon ab, welchen Weg man hier einschlgt: Akzeptiert man Kants Festsetzung als Prmisse, wird man versuchen mssen, diese in ihrer Plausibilitt so stark als mçglich zu machen. Sieht man hingegen in dieser Festsetzung eine bloße Behauptung, sind im Grunde genommen gleich zwei Nachweise zu erbringen: Einerseits muß an der konkreten Behauptung gezeigt werden, daß sie – zumindest in dieser Form – unbewiesen ist. Sollte sich bei dieser Untersuchung zeigen, daß diese Behauptung gar nicht erst zu begrnden ist, mßte andererseits erlutert werden, warum die Behauptung dann trotzdem eine bloße Behauptung bleibt und nicht automatisch zu einer Prmisse werden kann. Bevor wir die Argumentation zu den „sthetischen Vorbegriffen“ in ihren einzelnen Schritten weiter verfolgen, mçchte ich kurz skizzieren,

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worin an dieser Stelle die anspruchsvolle Herausforderung besteht: Um der Prmisse, jeder Mensch besitze die natrlichen Veranlagungen, zu denen auch die Selbstschtzung/Selbstachtung gehçrt, eine hinreichende Plausibilitt zu verschaffen, wird man empirische Belege beibringen mssen, die sich auf bestimmte anthropologische Merkmale des Menschen beziehen. Solche Belege werden jedoch als mçgliche Begrndungsmomente einer Moralphilosophie von Kant prinzipiell abgelehnt und wrden vom Standpunkt einer transzendentalphilosophisch gegrndeten Konzeption aus auch schlicht nicht das gewnschte Ergebnis liefern kçnnen. Als strkster Plausibilittsgrund verbleibt hier die unmittelbare Einsichtigkeit in die Wirksamkeit der praktischen Vernunft. Und die Frage ist, ob diese Evidenz trgt. Wenn wir die genannte Festsetzung hingegen als eine Behauptung verstehen, dann drfen wir durchaus einen empirischen Beweis dafr verlangen, weshalb es zutreffen soll, daß ausnahmslos jeder Selbstschtzung/Selbstachtung besitzt. Denn diese Behauptung ist, sofern man nicht von Grund auf transzendentallogisch argumentiert, keineswegs unmittelbar einsichtig: Aus der alltglichen Handlungspraxis sind uns hinreichend viele Beispiele von Menschen bekannt, die sich nicht in einer angemessenen Art und Weise schtzen/achten, denen es also offensichtlich an der entsprechenden Selbstschtzung/Selbstachtung gebricht. Es geht hier im Kern um die Frage, ob und wie man Kant in einem schwcheren (Prmisse) oder strkeren Sinn (Behauptung) zu verteidigen bzw. zu kritisieren hat. Eine vertiefende Frage wird sich damit auseinander zu setzen haben, wie sich der mçglicherweise begrndete Verdacht, es kçnne sich bei Festsetzung 6) um eine bloße Behauptung handeln, gegen den Vorwurf der denunziatorischen Umdeutung einer zentralen kantischen Prmisse verteidigen lßt. Ich werde auf diese Diskussion an einer spteren Stelle zurckkommen und gehe zunchst zur ausfhrlicheren Analyse der Argumentation ber. Die Aussagen 1) und 2) scheinen sich auffallend zu widersprechen, da nicht ohne weiteres einsichtig zu machen ist, wie natrliche Veranlagungen sowohl eine moralische als auch eine sthetische Qualitt haben kçnnen. Kant erwhnt im Kontext der Metaphysik der Sitten jedoch eine „sthetik der Sitten“ und verweist damit auf eine Art sinnliche Veranschaulichung („subjektive Darstellung der Metaphysik [der Sitten]“), „wo die Gefhle, welche die nçtigende Kraft des moralischen Gesetzes begleiten, jener ihre Wirksamkeit empfindbar machen […], um der bloß-sinnlichen Anreizung den Vorrang abzugewinnen“ (AA VI 406). In der Kritik der Urteilskraft (1790) ist zudem ein enges (analogisches) Verhltnis von Schçnheit und sittlich Gutem eingefhrt worden, auf welches hier vermutlich Bezug

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genommen wird.54 Ebenso wie ein sthetisches Geschmacksurteil nur einen subjektiven Bestimmungsgrund haben kann und daher in der Beziehung von Vorstellungen auf das Gefhl der Lust und Unlust ausschließlich das fhlende Subjekt zu betrachten ist, werden auch die den eigentlichen moralischen Handlungen vorangehenden „moralische[n] Beschaffenheiten“ als Empfindungen betrachtet, die gnzlich auf das Subjekt und dessen „Lebensgefhl“ bezogen sind (vgl. AA V 203 f.). Als allgemeine Beschreibungen der genannten Wesensarten sind 1) und 2) damit zunchst unproblematisch und kçnnen zusammengefaßt werden: 1) + 2)

Das moralische Gefhl, das Gewissen, die Nchstenliebe sowie die Selbstachtung/Selbstschtzung sind sthetisch-moralische Veranlagungen.

In den Aussagen 3), 4) und 5) erfolgt ausgehend von der Beschreibung in 1)+2) eine przisere Erluterung des Bedingungsverhltnisses von sthetisch-moralischen Veranlagungen zu Verbindlichkeit und Pflicht: Da es in 54 Das Symbolische fhrt Kant in § 59 als indirekte Form der Darstellung (Hypotypose) von Vernunftbegriffen ein, die als apriorische zwar nie in angemessener Weise zu veranschaulichen sind, denen aber vermittels einer Analogie eine Anschauung „untergelegt“ werden kann: Die Urteilskraft reflektiert zunchst auf die Anschauung eines sinnlichen Gegenstandes und dann wendet sie die „bloße Regel der Reflexion ber jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand [an], von dem der erstere nur das Symbol ist“ (AA V 352). Deshalb kann in einer analogischen bertragung die indirekte Veranschaulichung eines nicht direkt zu veranschaulichenden Begriffs gewhrleistet werden. Kant begreift in diesem Zusammenhang das Schçne als das Symbol des sittlich Guten. Er unternimmt also den Versuch, analogische Bezge aufzuweisen zwischen dem sthetischen Geschmacksurteil als subjektiver Bestimmung des unmittelbaren, interesselosen Wohlgefallens und der subjektiven, affirmativen Einsicht in die Verbindlichkeit des praktischen Gesetzes. Damit wird einerseits erneut auf die Auffassung einer engen sthetisch-ethischen Verbindung im Konzept des Erhaben-Tugendhaften in den Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen (1764) Bezug genommen (vgl. Abschnitt 2.2.1 in dieser Arbeit), andererseits ein drngendes erkenntnistheoretisches Problem entschrft, welches in der Kritik der praktischen Vernunft benannt worden war: „Hingegen [gegenber den reinen apriorischen Verstandesbegriffen, die als Schemata gegeben werden kçnnen] ist das sittlich-Gute etwas dem Objekte nach bersinnliches, fr das also in keiner sinnlichen Anschauung etwas Korrespondierendes gefunden werden kann, und die Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft scheint daher besonderen Schwierigkeiten unterworfen zu sein, die darauf beruhen, daß ein Gesetz der Freiheit auf Handlungen, als Begebenheiten, die in der Sinnenwelt geschehen, und also so fern zur Natur gehçren, angewandt werden soll.“ (AA V 68) Die Kritik der Urteilskraft wird zitiert nach Kant (2006).

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Fragen der Moral auf den Handelnden ankommt, der Handlungen aus Pflicht ausben kçnnen soll, indem er sich selbst erkennt und als Zweck an sich begreift, sind die natrlichen Veranlagungen die notwendigen subjektiven Bedingungen fr das Verstndnis von Pflicht. Zwar gehçren zur Bestimmung von Pflicht auch objektive Bedingungen (das moralische Gesetz und die formale Verbindlichkeit), aber ohne die subjektiven Bedingungen kçnnen diese nicht praktisch werden.55 Somit ermçglicht nur die gemeinsame Erfllung von subjektiven und objektiven Bedingungen einen Zustand, in welchem ein Mensch bzw. eine Person berhaupt als verpflichtet betrachtet werden kann. Subjektive und objektive Bedingungen bestehen unabhngig voneinander und kçnnen sich nur insofern wechselseitig bedingen, als keine der Bedingungen die schlechthin vorauszusetzende Bedingung der jeweils anderen Bedingung ist. In diesem Zusammenhang ist Aussage 4) wie folgt zu verstehen und zu ergnzen: 4)*

Die (formale) Verbindlichkeit als objektive Bedingung kann nur dann in Pflichthandlungen einer zurechnungsfhigen Person wirksam werden, wenn auch die subjektive Bedingung der Empfnglichkeit fr die Einsicht in die Verbindlichkeit erfllt ist. Die sthetisch-moralischen Veranlagungen kçnnen wiederum nur dann subjektive Bedingungen der Empfnglichkeit fr die Einsicht in die Verbindlichkeit sein, wenn sie in bezug auf das Vorhandensein einer Verbindlichkeit als objektive Bedingung fr Moralitt betrachtet werden. Die Verbindlichkeit als objektive Bedingung kann nicht die Bedingung fr die natrlichen Veranlagungen sein, weshalb niemand verbunden und verpflichtet sein kann, diese Veranlagungen zu besitzen bzw. „sich in ihren Besitz zu setzen“.

Der in 5) vorgenommene Umkehrschluß von 4)* bereitet nun den eigentlichen argumentativen Schluß vor: Hier wird zumindest hypothetisch die Mçglichkeit erwhnt, daß jemand die sthetisch-moralischen Veranlagungen nicht besitzen kçnnte. Wenn fr jemanden, der die Veranlagungen besitzt, keine Verbindlichkeit in Hinsicht auf diese subjektiven Bedingungen besteht, dann gilt diese Nicht-Verbindlichkeit folgerichtig auch fr jemanden, der diese Veranlagungen nicht besitzt. Kant behauptet 55 Refl. 7097 (AA XIX 248): „Die moralischen Gesetze haben an sich selbst keine vim obligatoriam, sondern enthalten nur die norm. Sie enthalten die objectiven Bedingungen der Beurtheilung, aber nicht die subjectiven der Ausbung. Die letzte bestehen in der bereinstimmung mit unserem Verlangen zur Glkseeligkeit.“

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allerdings in 6), daß jeder Mensch diese Veranlagungen besitzt, womit fr ihn in 7) die Konklusion gerechtfertigt ist, daß aufgrund des Vorhandenseins der sthetisch-moralischen Veranlagungen jeder Mensch „verpflichtet werden kann“. Dieses Argument kann auf verschiedene Weise aufgefaßt werden: (a) Als eine Art ,Zustandsbeschreibung‘ wre es die schlssige Zusammenfassung der Aussagen 1)+2) bis 5) und wrde vor allem das in 4)* dargestellte Verhltnis noch einmal erlutern. Die Aussage: „kraft deren er verpflichtet werden kann“ bedeutete dann soviel wie: Da die objektiven und subjektiven Bedingungen erfllt sein mssen, damit die formale Verbindlichkeit in Handlungen einer zurechnungsfhigen Person praktisch wirksam werden kçnnen, ist das Vorhandensein der natrlichen Veranlagungen eine der beiden notwendigen Voraussetzungen, damit jemand verpflichtet werden kann. Dieses „kann“ wre somit als ein Konditional zu lesen, wobei die Behauptung von 6), daß jeder Mensch diese Wesensarten besitzt, natrlich wegzulassen ist, sobald man die Konklusion entsprechend anpaßt: 7)*

Jeder Mensch, der die sthetisch-moralischen Veranlagungen als subjektive Bedingungen moralischen Handelns besitzt, kann verpflichtet werden.

Mit einer ausschließlich deskriptiven Auffassung ist jedoch fr die umfassende Konzipierung einer Moralphilosophie, die einen allgemeingltigen normativen Anspruch vertreten soll, nicht viel gewonnen. Denn sie besagt schließlich nur, unter welchen (subjektiven) Voraussetzungen ein normativer Anspruch berhaupt erst zu erheben wre, und kann diesen Anspruch gerade nicht in bezug auf die Voraussetzungen selbst anwenden. Es ist wenig wahrscheinlich, daß Kant sich hier bloß auf eine deskriptive Beschreibung beschrnkt, zumal die subjektiven Bedingungen damit nicht aufhçren, Bedingungen (im Sinne von: Forderungen) fr jedwede Begrndung von Pflichtverhltnissen zu sein. Eine andere Lesart (b) wird sich deshalb auf die Behauptung in 6) konzentrieren mssen: Nur mit der Prmisse, daß jeder Mensch die natrlichen Veranlagungen tatschlich besitzt, ist die Konklusion zu halten, daß aufgrund dessen auch jeder Mensch verpflichtet werden kann. Bemerkenswert ist hierbei der bergang von 6) auf 7): Whrend die Prmisse in 6) zunchst auch rein deskriptiv verstanden werden kann, tritt mit der Schlußfolgerung eine normative Implikation hervor, die bereits ansatzweise in 6) enthalten war und sich auf die Natrlichkeit der Veranlagungen be-

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zieht. Indem mit diesem Rekurs auf eine Natrlichkeit sowohl eine bloße ,Zustandsbeschreibung‘ als auch eine mit einem Anspruch verbundene ,Qualitt‘ des Menschen bezeichnet wird, erhlt die Behauptung einen eigentmlichen deskriptiv-normativen Charakter: Um dieser starken Prmisse zu begegnen, ist es zum einen mçglich, den Inhalt der ,Zustandsbeschreibung‘ in Zweifel zu ziehen und auf Menschen zu verweisen, die offensichtlich diese natrlichen Veranlagungen (zumindest zeitweilig) nicht besitzen, die also – in Kants Worten – „sittlich tot“ (AA VI 400) sind. Abgesehen davon, ob dies tatschlich gelingt, wofr es allerdings einige Belege geben kçnnte,56 ist zum anderen schwerlich an dem impliziten normativen Anspruch vorbeizukommen: Sowohl diejenigen, die natrliche Veranlagungen haben, als auch diejenigen, die diese (vermeintlich) nicht haben, sind ja gleichermaßen Menschen, und dieses Mensch-sein als solches hat bereits eine bestimmte ,Qualitt‘. Diese qualitative Bestimmung wre somit Teil der Beschreibung des Menschen als eines vernnftigen Naturwesens (homo phaenomenon), die, so drfen wir vermuten, dann mit der Beschreibung des Menschen als Person (psycho-physisches Lebewesen) kongruent ist.57 Es bleibt in diesem Fall die Frage zu klren, ob eine solche ,Qualitt‘ – nmlich auf „natrliche“, also naturgegebene Weise in der Lage zu sein, sich eine Vorstellung von einem praktischen Gesetz machen zu kçnnen – in einem eher (i) starken oder (ii) schwachen Sinn zu verstehen ist: Wenn der vernnftige Naturmensch mit dem Person-sein identisch ist und in der Persçnlichkeit (als ,Modus‘ der Verbindlichkeit in entsprechenden Handlungen) sein notwendiges Pendant findet, dann sind die „moralische[n] Beschaffenheiten“ genuiner Bestandteil der Konstitution des Menschen. Es hieße dann, sein eigenes Mensch-sein zu verleugnen, wollte man sich dieser Konstitutionsbedingung entziehen.

56 Dazu ausfhrlich Murphy (1972) und Hill (2000). 57 Es ist hier unbedingt zu beachten, daß die Verwendung der Ausdrcke „Person“ und „Persçnlichkeit“ in der ethischen Elementarlehre nicht eindeutig ist: Whrend in § 3 („Aufschluß einer scheinbaren Antinomie“; siehe obiges Zitat in 1.2) der homo noumenon mit Persçnlichkeit identifiziert wird, ist in § 11 des III. Abschnitts („Von der Kriecherei“) der homo phaenomenon als „Mensch im System der Natur“ (AA VI 434) deutlich vom Menschen als Person, der dann homo noumenon ist, unterschieden. In der vorliegenden Untersuchung versuche ich soweit als mçglich, die in den Abschnitten 1.2.2 und 1.2.3 eingefhrte Unterscheidung beizubehalten, und verstehe den homo phaenomenon als Person (physisch-psychisches Lebewesen) und den homo noumenon als Persçnlichkeit (mit innerer Freiheit begabtes Wesen).

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Wird das Person-sein hingegen unabhngig von einer teleologischen Bestimmung verstanden (s. o.), dann ist die tatschliche Entfaltung der sthetisch-moralischen Veranlagungen nicht zwingend, sondern bloß mçglich. 58 Ein normativer Anspruch ist sowohl in (i) als auch in (ii) enthalten, allerdings wird der Begriff Veranlagungen auf verschiedene Weise verstanden: Mit der starken Auffassung ist die Behauptung einer prinzipiellen Geltung von Veranlagungen verbunden, wobei es nicht darauf ankommt, ob diese von jemandem tatschlich ,realisiert‘ werden. Da das Vorhandensein der Veranlagungen unter dieser Behauptung vorausgesetzt wird, ist jeder im Status des Mensch- bzw. Person-seins davon betroffen (und verpflichtet), unabhngig davon, ob ihm dies selbst bewußt ist oder nicht. Gemß der schwcheren Auffassung sind die Veranlagungen zwar auch vorhanden, sie verweisen jedoch auf eine prinzipielle Potentialitt aufgrund der menschlichen Konstitution als ein vernnftiges Naturwesen. Das ,Hervorbringen‘ und die Wirksamkeit dieser Veranlagungen vollziehen sich in einer Entwicklung hin zur Persçnlichkeit – eine Entwicklung, fr die das Person-sein zwar die Voraussetzung, deren Scheitern darum aber nicht ausgeschlossen ist. Unter den einzelnen sthetisch-moralischen Veranlagungen nimmt die Achtung fr sich selbst bzw. die Selbstschtzung nun eine besondere Stellung ein: Whrend das moralische Gefhl, das Gewissen und die Nchstenliebe durchaus als ,angeborene‘ Veranlagungen verstanden werden kçnnten,59 ist mit der affirmativen Bezugnahme auf das eigene Selbst ein bestimmter performativer Vollzug verbunden. Um sich selbst achten zu kçnnen, muß man sich selbst achten, d. h., die Achtung seiner selbst ist zunchst nicht die allgemeine und bei allen Menschen in gleicher Weise vorauszusetzende Veranlagung, sondern eine selbstreflexive Bezugnahme, 58 Der Gebrauch des Ausdrucks „Veranlagungen“ ist im Kontext der kantischen Ausfhrungen zumindest ambivalent, wenn nicht schwierig: Eine ausschließlich biologistische Interpretation, wie sie dem gegenwrtigen und unter dem Einfluß der modernen Naturwissenschaften entstandenen Verstndnis weitgehend entspricht, erscheint mit Blick auf die gesamte Ausrichtung der Moralphilosophie Kants problematisch. Andererseits zeigen die Ausfhrungen im Rahmen einer pragmatischen Anthropologie, von welchen – nach heutiger Diktion – humananthropologischen Vorstellungen er ausgeht. Siehe dazu in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht den Abschnitt „Der Charakter der Gattung“ AA VII 321 ff. 59 Die Liebe zum Nchsten ist dabei jedoch weniger eine ,angeborene‘ Veranlagung als vielmehr eine natrlich-,affektive‘ Reaktion auf den anderen, weil er ein Mensch ist. Siehe dazu die Erçrterungen in AA VI 401 f.

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die jeder einzelne Mensch nur fr sich selbst leisten kann. Auf diesen Aspekt der individuellen Performanz, die – so die Leitlinie dieser Untersuchung – fr die Achtung des je eigenen Selbst charakteristisch ist, konnte Kant in dem Bemhen, die obersten normativen Prinzipien seiner Moralphilosophie und Ethik aus den Voraussetzungen der praktischen Vernunft zu deduzieren, aus zunchst nachvollziehbaren Grnden nicht weiter eingehen. Denn sofern in dieser Perspektive nach der je eigenen Selbstaffirmation gefragt wird, nimmt man den einzelnen Menschen als einen Menschen in den Blick, der potentiell in der Lage ist, sich selbst als ein Wesen zu verstehen, das sich in seinen Handlungen selbst bestimmen kann. 60 Kants moralphilosophisches Interesse bezieht sich im Gegensatz dazu nicht auf das empirische Ich, sondern auf die allgemeine (und zugleich allgemeinste) Kategorie der Menschheit in meiner Person. Damit wird die individuelle selbstreflexive Bezugnahme auf dieses Allgemeine verwiesen und bedeutet damit nicht Selbstschtzung bzw. Selbstachtung, sondern Schtzung bzw. Achtung des moralischen (praktischen) Gesetzes, welches in jedem Selbst als ein menschliches und mit Vernunft begabtes Wesen notwendig wirksam ist. Mit dieser abstrahierenden Bestimmung ist die Achtung seiner selbst fr Kant „ein Gefhl eigener Art, nicht ein Urteil ber einen Gegenstand, den zu bewirken, oder zu befçrdern, es eine Pflicht gbe“ (AA VI 402). Im fr diesen Befund erstaunlich kurz gehaltenen Abschnitt Von der Achtung sind die entsprechenden Ausfhrungen offensichtlich mit der in (i) skizzierten Auffassung verbunden und gehen von einer prinzipiellen Geltung dieser Veranlagung aus. Der Geltungsanspruch ist dabei von einer unerlßlichen Vorannahme abhngig: Weil das praktische Gesetz in jedem Menschen ,vorhanden‘ ist, erzwingt es bei jedem Menschen „unvermeidlich Achtung fr sein eigenes Wesen“, welches die eigentliche Voraussetzung fr die Vorstellung von Pflichten sowie die Grundlage „gewisser Pflichten, d.i. gewisser Handlungen [ist], die mit der Pflicht gegen sich selbst zusammen bestehen kçnnen“ (AA VI 402 f., Hervorh. F.B.). Eine Pflicht, sich selbst zu achten bzw. zu schtzen, kann es insbesondere deshalb nicht geben, da es fr Kant generell unmçglich zu sein scheint, als Mensch keine Achtung fr sein Selbst haben zu kçnnen. Andererseits sieht auch er durchaus die (empirische) Problematik einer 60 Diese an (ii) orientierte Auffassung der prinzipiellen Potentialitt muß sich dann vor allem mit der Frage auseinandersetzen, auf was sich die Achtung seiner selbst bezieht, denn eine einzelne Person kçnnte auf so ziemlich alles, was sie selbst betrifft, in selbstaffirmativer Weise Bezug nehmen.

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mçglichen moralischen Selbstverleugnung und spricht dann doch von Selbstschtzung als „Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ (AA VI 435).61 Damit wird zumindest angedeutet, daß die Entwicklung einer Persçnlichkeit nicht zwangslufig erfolgen muß, sondern auf der tatschlichen Einsicht und Erkenntnis seiner selbst beruht. Mit Blick auf die ethische Konzeption Kants hieße dies, eine ,Sprungtheorie‘ akzeptieren zu mssen, nach der diese Einsicht und Erkenntnis seiner selbst entweder erfolgt oder nicht erfolgt, und die Bedingungen dafr sind klar benannt: „Das Bewußtsein derselben [der sthetisch-moralischen Veranlagungen] ist nicht empirischen Ursprungs, sondern kann nur auf das eines moralischen Gesetzes, als Wirkung desselben aufs Gemt, folgen.“ (AA VI 399)62 Diese Aussage hat jedoch den gleichen (problematischen) Stellenwert wie die bereits kritisierte Prmisse 6) im selben Abschnitt ber sthetische Vorbegriffe: Die noch unbestimmte Wirkung eines allgemeinen (also objektiven) moralischen Gesetzes auf die subjektive Beschaffenheit eines (empirischen) Ichs soll dabei der Garant fr die objektive Grundlegung eines Verpflichtungsverhltnisses sein. Sobald diese unbegrndet eingefhrte Behauptung bezweifelt wird, stehen alle darauf aufbauenden Elemente einer Pflichtethik unter einem Begrndungsvorbehalt, weil dann die tatschliche Wirkung eines moralischen Gesetzes darber entscheidet, ob von einer Verbindlichkeit und damit von Pflichten berhaupt die Rede sein kann.63 61 In den Ausfhrungen zur Kriecherei wird diese Mçglichkeit auf drastische Weise pointiert: „Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Fßen getreten wird.“ (AA VI 437) 62 Selbst mit einer grndlichen systematischen Verortung, wie sie Lauener (1981) durchgefhrt hat, lßt sich die von Kant behauptete vorhergehende Wirkung des moralischen Gesetzes auf das menschliche Gemt, die in der Hervorbringung eines nicht-pathologischen und damit moralischen Gefhls (als Triebfeder zum Handeln) kulminiert, nicht berzeugend darlegen, da das in Abschnitt 1.1 skizzierte Evokationsproblem eines solchen Gefhls bestehen bleibt. Meerbote (1979) hat im Zusammenhang mit der ,Anfangsproblematik‘ einer Nicht-Beweisbarkeit der Struktur, auf die sich Erkenntnis notwendigerweise beziehen muß, das Vertrauen in die Ttigkeit der Vernunft hervorgehoben: „Wir vertrauen uns selbst, wenn wir erfahren und wenn wir ber das Erfahren philosophische Resultate gewinnen: Selbstvertrauen in unsere Handlungen, durch Autonomie unserer Wahl gekennzeichnet, ist nach Kant ein wesentlicher Bestandteil aller Erkenntnis.“ (258) Unter welchen Bedingungen ein solches Vertrauen in affirmativen Selbstverhltnissen entstehen kann, versuche ich in Kap. 3 zu erçrtern. 63 Stark (1997) hat berzeugend auf diese Implausibilitt des kantischen Selbstachtungskonzepts hingewiesen. Wenn Personen einen herausgehobenen moralischen Status haben, der als normative Grundlage fr Selbstachtung dient, schtzen sie

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Wie gehen wir nun mit einer solchen Ausgangssituation um, in der niemand verpflichtet werden kann, sich selbst zu verpflichten? Die Begrndung der kantischen Moralphilosophie hat uns hier auf ein unaufhebbares Spannungsmoment zurckgefhrt, dessen konkrete Darstellung bislang in nur ungengender Skizzenhaftigkeit ersichtlich geworden ist. Diese Skizze zeigt aber bereits, daß wir im heutigen – auch philosophischen – Sprachgebrauch offensichtlich ein Verstndnis von Selbstschtzung bzw. Selbstachtung haben, welches sich gerade nicht an der strikten (und zirkulren) Bestimmung Kants orientiert, die zudem einem spezifischen Begrndungskontext angehçrt.64 Vielmehr ist sowohl im alltglichen wie auch im philosophischen Sprachgebrauch eine semantische Konnotation einschlgig, die in einer lediglich vage bestimmten ,Grauzone‘ zwischen der intuitiven Erfassung lebenspraktischer Bezge und diversen sozialpsychologischen Theorieversatzstcken zu verorten ist.65 Anders gesagt verhindert hier eine problem- und mentalittsgeschichtlich gewachsene Begriffsunschrfe eine systematisch przise Bezugnahme, und diese Vagheit steht einer adquaten Vermittlung der klassischen und zeitgençssischen sich als vernnftig Handelnde, weil sie vernnftig (rational) sind, wobei ihr unbedingter Wert von ihrem eigenen vernnftigen Urteil abhngt, diesen unbedingten Wert zu besitzen. Da es laut Stark wenig plausibel ist, bei versagenden Selbstachtungsverhltnissen von einer willkrlichen Verleugnung des eigenen inneren Wertes auszugehen, verbleibt nur die Option, eine scheiternde Selbstachtung als ,Fehlfunktion‘ der (praktischen) Vernunft zu betrachten. (Vgl. 74 f.) Dies verdeckt aber gerade einen wesentlichen Aspekt von Selbstachtung: „Kant’s account simply denies the possibility of some of the most interesting, and indeed tragic, ways in which persons may fail to value themselves.“ (74) 64 Aufschlußreich sind in dieser Hinsicht die Beitrge von Schaber (2004) sowie von Stoecker (2004): Obwohl beide Autoren ihr Verstndnis des Wrdebegriffs vom kantischen Standpunkt aus formulieren, vernachlssigen sie diese Konsequenz fr den Begriff der Selbstachtung: Whrend Schaber versucht, eine breitere Basis fr den Menschenwrdebegriff zu schaffen, dafr aber die Bestimmung von Selbstachtung eher vage vollzieht, ist der Selbstachtungsbegriff bei Stoecker zwar ausgearbeiteter, wird aber in seiner Bedeutung so weit gefaßt, daß er recht unterschiedliche Aspekte wie Selbstwertgefhl, Selbstvertrauen, Selbstironie und Wertschtzung fr das eigene Handeln mit einschließt. Schaber (2010), 50 ff., betrachtet Selbstachtung in Verbindung mit Menschenwrde als Recht (gegenber anderen) auf die Verfgung ber das eigene Leben, blendet damit allerdings gerade den Akt des Selbstbezugs aus; einen hnlichen Vorschlag deutet bereits Wolf (1997), 387 ff., im Anschluß an Hill (1991c) an. 65 In seinem wegweisenden Aufsatz hat Massey (1995) mit der Frage: Is Self-Respect a Moral or a Psychological Concept? genau diese konzeptuelle Verwirrung aufgegriffen und mit dem Vorschlag zur Unterscheidung von zwei verschiedenen Konzepten (subjective/objective concept) deren mçgliche berwindung erlutert.

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1. Begrndete Selbstverhltnisse

Theorien zur Selbstachtung entgegen. Dieser Befund ist insbesondere fr den Bereich der Politischen und Moralphilosophie prekr, da hier eine fundierte semantische Bestimmung um so mehr vonnçten ist, als eine systematische Begrndung auf dem Spiel steht. Es beginnt bereits mit der eigentlich simplen Frage, was Selbstschtzung und Selbstachtung berhaupt bedeuten: Sind dies zwei synonyme Ausdrcke fr ein und denselben begrifflichen Sachverhalt (wie Kant im Abschnitt zu den sthetischen Vorbegriffen suggeriert) oder lassen sich signifikante semantisch-begriffliche Unterschiede erkennen? Und davon ausgehend: In welcher Weise ist die Rede von affirmativen Selbstbezugnahmen in der zeitgençssischen philosophischen Verwendung einschlgig? In welcher Hinsicht differieren hier verschiedene Konzepte? Wie lassen sich, wenn wir erst einmal verstanden haben, wie Selbstschtzung und Selbstachtung zu begreifen sind, diese beiden Begriffe (oder auch nur einer von beiden) in einer angemessenen Form in den gegenwrtigen philosophischen Sprachgebrauch integrieren?66 Es sind solche Fragen, die den weiteren Verlauf dieser Untersuchung wesentlich bestimmen. Mit dem Versuch zu klren, was affirmative Selbstverhltnisse sind, wie sie entstehen und welche spezifische Kontur sie annehmen kçnnen, lßt sich wesentlich besser verstehen, welche systematische Funktion diesen Begriffen in umfassenden Moraltheorien zukommen kann. Die kantische Moralphilosophie dient in diesem Versuch vor allem deshalb als zentraler Ausgangspunkt und ,Hintergrundfolie‘, weil die dort erarbeitete Konzeption des Menschenwrdebegriffs bis in die 66 Mit der ausfhrlichen philosophischen Untersuchung des Selbstachtungsbegriffs hat sich in der deutschsprachigen Forschung bislang lediglich Hahn (2008) beschftigt; siehe ergnzend in Hahn (2005) den einleitenden Problemaufriß sowie die kurze bersicht von Hçrning (2005). Allerdings werden die dort behandelten Fragen vor allem mit Blick auf die systematische Funktion einer rechtsgebundenen Selbstachtung im Rahmen einer Gerechtigkeitstheorie gestellt, wobei von einem bereits hinreichend komplexen Verstndnis des Selbstachtungsbegriffs ausgegangen wird – eine Aufgabe, die nach meiner Auffassung noch zu bewltigen ist. Ein Beleg dafr ist der Beitrag von Ricken (2009), der die kantische Bestimmung von Selbstachtung nur sehr kurz erwhnt (321 f.), um dann eingehender Aristoteles’ Konzept der Selbstliebe zu erlutern, dafr aber zumindest den wichtigen Befund hervorhebt, daß sowohl mit Aristoteles als auch mit Kant eine Begrndung, weshalb man moralisch sein soll, nicht von einem außermoralischen Standpunkt aus geleistet werden kann. Gerade diese Unmçglichkeit verweist aber auf das Spannungsmoment im affirmativen Verhltnis eines jeden Menschen zu sich selbst, welches den wesentlichen Ausgangspunkt moralischer Verhltnisse berhaupt markiert.

1.2 Pflichten gegen sich selbst II

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Gegenwart hinein einen erheblichen Einfluß auf die çffentliche Debatte und das Selbstverstndnis der ffentlichkeit ausgebt hat. Wenn jedoch, wie das vorstehende Kapitel in einem argumentativen Aufriß gezeigt hat, der unbedingte Anspruch des Wrdepostulats ebenfalls von der Behauptung abhngt, alle Menschen haben Selbstschtzung bzw. Selbstachtung, dann steht und fllt mit deren Problematisierung zugleich die Unbedingtheit und die Reichweite unseres Konzepts von Menschenwrde. Sofern es also gelingt, die Bestimmung affirmativer Selbstverhltnisse klarer zu fassen, kann auch die Bestimmung der menschlichen Wrde mehr Argumente fr eine Rechtfertigung des damit verbundenen Anspruchs hinzugewinnen. Im gesamten zweiten Kapitel werden aus diesem Grund die genannten Verstndnisfragen in einen begriffs- und philosophiegeschichtlichen Kontext eingeordnet und umfassend erlutert.

2. Selbstachtung und Selbstschtzung – Zur Struktur affirmativer Selbstverhltnisse In der Erçrterung der Pflichten gegen sich selbst in der Vorlesung zur Moralphilosophie erscheint folgende Bestimmung: Das „principium der Pflichten gegen sich selbst“ bestehe nicht in der „Selbstgunst, sondern in der Selbstschtzung“ (VM 181; 227). Diese Selbstschtzung wird als eine bereinstimmung der Handlungen mit der Wrde der Menschheit beschrieben. Was „Selbstschtzung“67 und verschiedene andere Ausdrcke fr den affirmativen Selbstbezug in diesem Kontext bedeuten und in welchem Verhltnis sie zur Wrde des Menschen stehen, hat das folgende Kapitel aufzuweisen. Wir mssen bercksichtigen, daß in der begrifflichen Bestimmung von Selbstschtzung bei Kant verschiedene Konzepte der Selbstaffirmation zueinander in Beziehung gesetzt werden; wenn darber hinaus im Rahmen der vorliegenden Untersuchung auch der Bezug hergestellt werden soll zur neueren Diskussion mit dem gebruchlichen Begriff der Selbstachtung, so gilt es, zunchst in einer begriffsgeschichtlichen Erçrterung den semantischen Kern der Rede von „Selbstschtzung“ und „Selbstachtung“ herauszuarbeiten. Im Anschluß daran werden wir den systematischen Status der Bestimmungen im Text prfen. berraschenderweise kommt in Kants Sprachgebrauch das Nomen „Selbstachtung“ so gar nicht vor;68 nur an einigen Stellen wird die Beschreibung „Achtung fr sich selbst“ bzw. „Achtung gegen sich“ verwendet, dort jedoch mitunter nicht eindeutig;69 die reflexive Verbform „sich selbst achten“ kommt nur

67 Siehe zur Unterscheidung von Ausdrucks- und Begriffsebene Fn 13. 68 Der einzige Beleg fr die Verwendung des Nomens im Kontext des gesamten Werkes findet sich in einem Brief des Nrnberger Arztes und Philosophen Johann Benjamin Erhard an Kant vom 17. Januar 1793. Dort heißt es in dankbarer Bezugnahme auf ein trçstliches Schreiben Kants: „Die Ebbe und Fluth meiner Selbstachtung und meines Vertrauens auf andere Menschen, ist die Seelenkrankheit der ich von Jugend auf unterworfen war.“ (AA XI 406) Siehe dazu auch Wortindex (1967), Bd. 2: „Selbstachtung“ wird nicht als Eintrag gefhrt, „Selbstschtzung“ erscheint 22mal, „Selbstliebe“ 63mal in Kants Werken. 69 Siehe dazu die Metaphysik der Sitten, AA VI 425 (im Zusammenhang mit der „wohllstigen Selbstschndung“), AA VI 399 („sthetische Vorbegriffe der

2.1 Begriffsgeschichtliche Erçrterungen

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sehr vereinzelt vor.70 Anstelle von „Selbstachtung“ und „sich selbst achten“ erscheint „Selbstschtzung“ und „sich selbst schtzen“. Eine eingehende Analyse des moderneren Begriffs Selbstachtung kann sich deshalb nicht auf eine Untersuchung des Ausdrucks „Selbstachtung“ allein beschrnken, sondern hat zunchst das semantische Umfeld zu bercksichtigen, in welchem weitere Ausdrcke zumindest partiell in den Bedeutungsgehalt von Selbstachtung eingehen oder diesen in unterschiedlichen Konnotationen bedingen.71

2.1 Begriffsgeschichtliche Erçrterungen Im gegenwrtigen Sprachgebrauch ist eine allgemeine Verwendung von „Selbstschtzung“ außerhalb bestimmter Fachdisziplinen unblich geworden, der Ausdruck ist in den maßgeblichen Wçrterbchern der deutschen Gegenwartssprache nicht mehr verzeichnet. Der dafr blich gewordene Ausdruck „Selbstachtung“ bezeichnet eine „Achtung vor sich selbst“ sowie ein „Gefhl, Bewußtsein fr die eigene Wrde“. Im Kompositum „Selbstachtung“ ist die Bestimmungsrelation zwischen dem Bezugswort „Achtung“ als Operandum sowie der Attributpartikel „selbst“ als bestimmender (spezifizierender) Operator wirksam. In der semantischen Bestimmung des Bezugswortes „Achtung“ scheint mit „Wertschtzung, Hochschtzung“ eine Verbindung mit „(Selbst-)Schtzung“ auf.72 Die einzelnen Wçrterbucheintrge nehmen also aufeinander Bezug, wobei Empfnglichkeit des Gemths fr Pflichtbegriffe berhaupt“) sowie AA VI 449 (Einteilung der Tugendlehre). 70 Etwa in den Reflexionen zur Anthropologie, im Abschnitt „Von der Neigung zum Vermçgen, Einfluß berhaupt auf andere Menschen zu haben“ (Nachlaß Phase p-y2 1772 1794): „Der Hochmuth ist niedertrachtig, darum, weil er anderen Niedertrchtigkeit, nemlich sich selbst in ansehung seiner gring zu achten, zumuthet.“ (AA XV 487, Refl. 1096) 71 In dieser Untersuchung zur Begrndung affirmativer Selbstverhltnisse beschrnke ich mich weitgehend auf die beiden zentralen Begriffe Selbstschtzung und Selbstachtung, die auch in systematischer Hinsicht den Fokus meiner berlegungen bestimmen. Aus diesem und aus Grnden der bersichtlichkeit erfolgt an dieser Stelle keine Ausweitung der begriffsgeschichtlichen Erçrterung auf weitere wichtige Begriffe wie Wrde, Verbindlichkeit, Pflicht, moralisches Gefhl oder Person und Persçnlichkeit. Soweit als mçglich (und nçtig) wurden und werden diese Aspekte in der Erçrterung in den Kapiteln 1 und 2 bercksichtigt. 72 Zu den lexikalischen Eintrgen „Selbstachtung“ und „Achtung“ siehe Deutsches Wçrterbuch (1981 – 1984), Bd. 5, 726 sowie Bd. 1, 112.

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

auffllig ist, daß die Bezugnahme nur in einer Richtung verluft: Um den semantischen Gehalt von „achten“ verstehen zu kçnnen, ist bereits ein Verstndnis fr die Bedeutung von „schtzen“ notwendig. Die Wortfamilie des Verbums „schtzen“ hat in dem hier beschriebenen Kontext ausgehend vom lexikalischen Stamm-Morphem (und gleichzeitig: Nomen) „Schatz“ die Bedeutung von „etwas Kostbares“. In der Subkategorisierung kann dies einerseits heißen, eine „Grçße“ bzw. einen „Wert“ zu bestimmen (wie etwa den Wert eines „Schatzes“, eines kostbaren Objekts), andererseits einer Sache oder Person eine „Wertschtzung“ entgegenzubringen.73 Offensichtlich ist die „Wertschtzung“ einer Sache oder Person direkt und in einer Folgebeziehung abhngig von der Bestimmung des in Rede stehenden Wertes im Sinne von „einschtzen, beurteilen“:74 Die Ttigkeit des Schtzens fr die Grçßen- oder Wertermittlung bedarf nicht zwingend einer affirmativen Haltung der geschtzten Sache oder Person gegenber. Um jedoch jemandem oder etwas eine Wertschtzung entgegenbringen zu kçnnen, ist ein Maßstab erforderlich, anhand dessen die Besonderheit und das Wertvolle hervorgehoben wird und der damit zugleich die Wertschtzung im jeweiligen Fall rechtfertigt. Fr das Verbum „achten“ ist der semantische Gehalt „jemanden oder etwas anerkennend schtzen, respektieren“ relevant.75 Um jemanden oder etwas „anerkennend schtzen“, d. h. „eine positive, anerkennenswerte, gute Meinung“ ber diese Person oder Sache zu haben (so die Umschreibung fr „Achtung“), ist sowohl eine „Wertschtzung“ im oben benannten Sinn als auch ein darber hinausgehendes „positives Gefhl“ nçtig. Die damit herausgestellte enge Verwandtschaft und inhaltliche Bedingtheit von „schtzen“ und „achten“ ist jedoch – einer signifikanten Synonymverwendung im Sinne von „jemanden oder etwas als ein Besonderes ansehen“ geschuldet – lediglich unter bestimmten Voraussetzungen verstndlich: Es gilt dabei zu untersuchen, ob in der jeweiligen Verwendung von „achten“ die Bedeutung (1) der Wertschtzung fr eine bestimmte Person bzw. eine konkrete Sache aufgrund individueller Vorzge und Eigenschaften maßgeblich ist, oder ob (2) der Respekt einer Person (Institution) gegenber jemandem bzw. etwas in einer abstrakteren Bezugnahme mit einem Ge73 Wortfamilienbuch (1998), 1166. 74 Eine weitere Verwendung von „schtzen“ in bezug auf Grçßen- oder Wertbestimmung im Sinne von „sich vermutend und vage (auf eine Bestimmung) festlegen“ hat in diesem Zusammenhang keine Relevanz. 75 Vgl. den Eintrag im Wortfamilienbuch (1998), 7 f. Zum semantischen Feld dieser Bedeutung gehçren „achtbar“ und „achtenswert“ sowie in negativer Konnotation „Mißachtung/mißachten“, „Verachtung/verachten“ und „verchtlich“.

2.1 Begriffsgeschichtliche Erçrterungen

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fhl, einer Meinung oder gesellschaftlichen Norm einhergeht.76 In der Bedeutung (1) ist die semantische Nhe zu „schtzen“ unverkennbar und rechtfertigt unmittelbar eine synonyme Verwendung, whrend in Bedeutung (2) noch eine semantische Komponente hinzukommt, die mutmaßlich etwas mit der zweiten Bedeutung des lexikalischen StammMorphems „Acht“ im Sinne von „Beachtung, Aufmerksamkeit schenken“ zu tun hat. Es ist durchaus mçglich, daß zwischen den Bedeutungen (1) und (2) keine strikte Abgrenzung vorzunehmen ist und in nicht wenigen Verwendungsfllen sowohl die bestimmende Ein- und Wertschtzung als auch der in einer allgemeineren Form zu verstehende Respekt eine unauflçsbare Verbindung eingegangen sind. Mit Blick auf die Terminologie bei Kant ergeben sich aus diesem Befund folgende Fragestellungen: Inwiefern entsprechen dem gegenwrtigen Verstndnis und der Verwendung von „schtzen“ und „achten“ parallele semantische Gehalte in der Sprache des 18. Jahrhunderts? Gibt es einen plausiblen Grund in lexikalisch-semantischer und/oder systematischer Hinsicht, weshalb Kant Wortbildungen mit dem Stamm-Morphem „Acht“ beinahe konsequent fr die wertende Anerkennung zu reservieren scheint?77 Es sind nmlich Verwendungen, die sich nicht reflexiv auf das je individuelle Subjekt beziehen, sondern immer auf ein bestimmtes Gegenber und auf eine allgemeinere Kategorie verweisen (Personen, Menschheit in der eigenen Person, das moralische Gesetz).78 Wie ist mit Bercksichtigung dieser Einschrnkung der Gebrauch von „Selbstscht76 Siehe dazu Valenzwçrterbuch (2004), 141 f. 77 Ausgenommen sind davon zunchst die expliziten Wortbildungen mit „Acht-“ in der Bedeutung von „seine Aufmerksamkeit auf etwas richten, etwas bzw. jemandem Beachtung schenken“, die Kant vor allem fr die Aufmerksamkeit und Achtsamkeit sich selbst gegenber verwendet. Es ist hier nur anzumerken, daß diese semantische Komponente – wie im vorangegangenen Abschnitt bereits angedeutet – immer schon integraler Bestandteil der Bedeutung von „Selbstachtung/Selbstschtzung“ im Sinne von Wertschtzung zu sein scheint. 78 Ausnahmen von dieser Verwendung finden sich erst im spten moralphilosophischen Werk der Metaphysik der Sitten (1798), in welchem Kant „Selbstachtung“ und „Selbstschtzung“ zum Teil synonym verwendet („Sie [sc.: moralische Beschaffenheiten] sind das moralische Gefhl, das Gewissen, die Liebe des Nchsten und die Achtung fr sich selbst (Selbstschtzung), welche zu haben es keine Verbindlichkeit giebt […].“ AA VI 399), aber auch voneinander abgrenzt („Wenn es demnach heißt: Der Mensch hat eine Pflicht der Selbstschtzung, so ist das unrichtig gesagt, und es mßte vielmehr heißen: das Gesetz in ihm zwingt ihm unvermeidlich Achtung fr sein eigenes Wesen ab […].“ AA VI 402 f.). Siehe dazu auch die verkrzte Darstellung dieses Begriffs bei Kant im Artikel Selbstachtung von Lhe (1995), hier 314 f.

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

zung“ zu bewerten? Entsprechen diesem Gebrauch vielleicht intendierte systematische Erwgungen? Welche (auch begriffliche) Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang weiteren Ausdrcken wie „Selbstliebe“, „Eigenliebe“ sowie „Eigendnkel“ zu?79 Hat deren semantischer Gehalt, der Kant vor allem als Antonym von „Selbstschtzung“ dient, Auswirkungen auf die Bedingungen und Mçglichkeiten reflexiver Wertschtzung eines moralisch agierenden Individuums? Begriffliche und systematische Analysen, denen die genannten Fragen zuzuordnen sind, lassen sich m. E. recht gut anhand sprachlich-lexikalischer Untersuchungen im Vorfeld durchfhren. Die philosophische Sprache und die in ihr gebildeten Begriffe sind ganz selbstverstndlich an die umgangssprachliche Verwendung von Ausdrcken gebunden und bernehmen aus dieser grundlegende Bedeutungsinhalte sowie oftmals auch semantische Nuancierungen, die einerseits zum Teil auf die begriffliche Bestimmung einwirken, andererseits aber auch gerade in dieser Bestimmung als nicht zum Begriff gehçrig ausgeschlossen werden kçnnen und sogar mssen.80 Es bestehen also komplexe Inkongruenzen zwischen philosophischer und umgangssprachlicher Ausdrucksweise. Das ist als ein schlichtes Faktum festzuhalten und enthlt an sich keine negative Bewertung, bedarf aber der ausdrcklichen Erwhnung. Im Fall von „Selbstschtzung“/Selbstschtzung wird im philosophisch-systematischen Sprachgebrauch bei Kant ein Ausdruck und Begriff verwendet, dem gegenwrtig kein blicher lexikographischer Eintrag entspricht und fr den auch keine allgemein gltige synonyme Umschreibung vorliegt. Der in der Gegenwartssprache gebruchliche Ausdruck „Selbstachtung“ zehrt zwar einerseits wesentlich vom Bedeutungsgehalt des Bestimmungswortes „Achtung“, lßt jedoch andererseits eine relative Bedeutungsunschrfe in 79 Deutsches Wçrterbuch (1981 – 1984) setzt „Selbstliebe“ mit „Eigenliebe“ gleich (Bd. 5, 730), dieser Ausdruck wiederum wird mit „Selbstsucht, Eitelkeit, Egoismus“ umschrieben (Bd. 2, 376) und „Eigendnkel“ mit „bertriebenes Selbstgefhl, Hochmut“ (ebd.). Die veraltete Form „dnken“ hat in der Umschreibung „sich einbilden“ die Bedeutung „sich etwas Bestimmtes zu sein einbilden“, wobei ber die zweite Umschreibung „scheinen“ eine negative Akzentuierung im Sinne von „sich etwas Bestimmtes zu sein einbilden, was einem selbst so scheint (und damit nicht begrndet ist)“ hinzukommt. Wortfamilienbuch (1998), 249. 80 Dillon (1995) hat in der konzisen Einleitung zu dem von ihr herausgegebenen Sammelband Dignity, Character, and Self-Respect eine solche Wortfelderkundung fr den anglophonen Sprachgebrauch durchgefhrt und dessen Relevanz begrndet: „This approach is especially helpful in identifying discussions in which self-respect makes its appearance incognito, as well as discussions of related concepts that may shed light on self-respect.“ (6 f.)

2.1 Begriffsgeschichtliche Erçrterungen

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seinen Umschreibungsmçglichkeiten erkennen: So kann „Selbstachtung“ durchaus synonym mit „Selbstbehauptung“, „Durchsetzungskraft/-vermçgen“, „Selbstvertrauen/-sicherheit“ und „Selbstwertgefhl“, aber auch mit „Selbstbewußtsein“, „Stolz“, „Ehre/Ehrgefhl“ sowie „Wrde“ verwendet werden.81 Ein unkommentierter bergang von „Selbstschtzung“/ Selbstschtzung zu „Selbstachtung“/Selbstachtung ist problematisch und fhrt gerade in einem philosophischen Kontext zwangslufig zu einer begrifflichen Ungenauigkeit. Eine adquate Analyse hat deshalb bei einer Rekonstruktion der zeitgençssischen Verwendung der in Rede stehenden Ausdrcke anzusetzen und sich dann sukzessive zum Gehalt des Begriffs, der sich nicht einmal mit einem Ausdruck in der Gegenwartssprache angemessen wiedergeben lassen muß, vorzuarbeiten. Ein vergleichender berblick zu den entsprechenden lexikalischen Eintrgen des 18. Jahrhunderts soll dafr im folgenden die nçtigen Voraussetzungen schaffen. In den folgenden Abschnitten 2.1.1 bis 2.1.4 werden semantische Nuancierungen in der Bestimmung affirmativer Selbstverhltnisse vorgestellt, die auf den heutigen Leser verwirrend wirken kçnnen, da sie mit einem scheinbar unbersichtlichen Spektrum nicht mehr gebruchlicher Ausdrcke wie „Selbstliebe“, „Eigenliebe“, „Eigendnkel“ und „Selbstsucht“ operieren. Jedoch gerade bei der Lektre philosophischer Werke des 18. Jahrhunderts werden wir mit diesen Ausdrcken konfrontiert, und in nicht wenigen Fllen – so auch in einigen Ausfhrungen der kantischen Moralphilosophie – haben diese Nuancierungen eine systematisch relevante Funktion. Daher hat die mitunter etwas beschwerliche begriffsgeschichtliche Analyse den weitreichenden Vorteil, daß sie uns sensibel werden lßt fr die Feinheiten in der Konzeption selbstbezglicher Verhltnisse. Es ist zugleich unverkennbar, daß eine sprachgeschichtliche und etymologische Exegese im Rahmen dieser Untersuchung nicht durchgngig systematisch belastbar sein kann. Aber gerade die Tatsache einer in der historischen Sprachwissenschaft und auf dem Gebiet der (philosophischen) Begriffsgeschichte evozierten Kontinuitt semantischer Strukturen verweist auf den bestndigen, im lebensweltlichen Kontext immer wieder vollzogenen und damit auch verstandenen Umgang mit Sprache. Eine die Sprache an sich thematisierende Vorverstndigung kann also an dieser Stelle nur die Absicht verfolgen, die grundstzliche Verbindlichkeit sprachlicher Ausdrcke fr jedes sprechende und damit berhaupt erst zum Denken befhigte Individuum bewußt zu machen. Diese Beschrnkung ist 81 Dazu exemplarisch das Wçrterbuch der Synonyme (1996), 112, 114 u. 349.

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

vor allem deshalb zu beachten, weil die Lexika des 18. Jahrhunderts in methodischer Hinsicht nicht durchgngig den gegenwrtig etablierten Standards entsprechen und nicht nur deskriptiv, sondern zuweilen prskriptiv und damit durchaus normativ wertend verfahren. 2.1.1 Das Universal-Lexicon (1732–1754) von Johann Heinrich Zedler Fr eine Rekonstruktion des Wissensstandes und des begrifflichen Sprachgebrauchs im Verlauf des 18. Jahrhunderts ist das umfassende Universal-Lexicon, in 68 Bnden herausgegeben von Johann Heinrich Zedler, ein unverzichtbares Referenzwerk.82 Einige Eintrge insbesondere aus dem Bereich der Philosophie sind dem wenige Jahre zuvor erschienenen Philosophischen Lexicon von Johann Georg Walch von 1726 in fast wortidentischer Fassung entnommen worden, woraus auf eine gleiche Autorschaft geschlossen werden kann.83 Um unnçtige Wiederholungen zu vermeiden und die aufschlußreichen Querverweise des wesentlich umfangreicheren Editionsprojekts von Zedler adquat nutzen zu kçnnen, beschrnkt sich die Darstellung im folgenden auf dieses Kompendium mit Verweis auf die bereits 1726 bei Walch erschienenen Eintrge.84 Als Lemmata sind weder „Selbstachtung“ noch „Selbstschtzung“ aufgefhrt. In den beiden Eintrgen „achten“ und „Acht haben“ werden lediglich in stark verkrzter Form und mit Verweis auf einschlgige Bibelstellen die zwei Bedeutungsebenen von „schtzen“ sowie „Aufmerksamkeit, Beachtung schenken“ beschrieben. Bemerkenswert ist, daß der Eintrag „achten“ den Zusatz „hoch oder gering“ gibt, wonach die Verengung auf die Bedeutung „anerkennende Wertschtzung“ des heutigen Sprachgebrauchs wahrscheinlich noch nicht verbreitet war. Mçglicherweise ist im „gering Achten“ ein gewisser Einfluß durch die dritte, mittlerweile veraltete Bedeutungsebene von „achten“ im Sinne von „fr jemanden oder 82 Zedler (1732 1754). 83 Walch (1726). Die Beitrger des Walchschen wie auch des Zedlerschen Lexikons sind weitgehend unbekannt. 84 Die bernommenen Eintrge sind (Spalten bei Walch 1. Aufl./2. Aufl.): „Ehrbegierde“ (643 f./649), „Ehre“ (645–648/639–643), „Eigenliebe“ (657–661/ 663–667), „Pflichten gegen sich“ (1973–1975/1984–1987), „Selbstverachtung“ (2361/2369). Zu „Selbstachtung“ oder „Selbstschtzung“ fehlen Eintrge in beiden Auflagen, ebenso zu „Eigendnkel“, fr den Zedler nach der Kurzbeschreibung „Ruhmrthigkeit und Hoffarth“ wiederum lediglich mehrere Verweise auf Bibelstellen nennt. Vgl. Zedler (1732 1754), Bd. 8, Sp. 509.

2.1 Begriffsgeschichtliche Erçrterungen

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etwas halten, erachten“ wirksam.85 Besonders auffllig ist jedoch die Existenz des Lemmas „Selbst-Verachtung“, zumal nicht einmal zum Bezugswort „Achtung“ ein eigener Eintrag vorliegt. An dieser Stelle scheint der Aspekt des „gering Achtens“ aus dem Lemma „Achten“ in der Bedeutung von „sich fr jemand geringes oder nichts halten“ wieder auf: Selbst-Verachtung, ist eine Beschaffenheit des Gemths wenn man entweder gar nichts aus sich selbsten machet, oder doch weniger, als man verdienet, von sich hlt. Es ist dieses ein politischer Fehler, welcher, wenn die Niedertrchtigkeit damit verknpfft, da man aus der Ehre sich nichts machet, viele rhmliche Thaten verhindern kan.86

Mit dem erluterten Begriff Selbstverachtung erçffnet sich nun indirekt und ex negativo eine mçgliche semantische Dimension fr Selbstachtung: Die Verbindung mit dem Begriff der Ehre weist dabei aus, daß Selbstachtung vor allem von der anerkennenden „Meynung“ anderer Personen bestimmt wird.87 Mit „Ehr-Begierde“ wird folgerichtig das „natrliche Verlangen nach der Hochachtung unsrer erlangten Fhigkeit“ beschrieben, welches als vernnftiges und wahres Streben nach Ehre entgegen dem „Ehrgeiz“ vor allem den „kleinmthigen“ Menschen nahe gebracht werden msse, denen die Natur zwar „grosse Gaben verliehen, daß sie nicht allein in wichtigen Sachen, sondern auch in Kleinigkeiten grosse Geschicklichkeit zu erwerben fhig sind“. Aber durch ihre „Neigung oder ein Vorurtheil“ seien sie oftmals versucht, „mit Hindansetzung wichtiger Dinge ihre Krffte auf etwas gemeines zu richten“.88 Darber hinaus ist der Erwerb von anerkennender 85 Vgl. Zedler (1732 1754), Bd. 1, Sp. 340; Wortfamilienbuch (1998), 7. 86 Zedler (1732 1754), Bd. 36, Sp. 1624. Siehe zu Wortgeschichte und Bedeutung des Begriffs Achtung auch die Darstellung bei Brezina (1999), 33–86. 87 Im Eintrag „Ehre“ heißt es: „Ehre ist eine Meynung anderer Leute, nach der sie einem Menschen einen Vorzug vor den anderen beylegen.“ Mit „Meynung“ wird allerdings nicht ausschließlich ein bloß beliebiges Dafrhalten bezeichnet, sondern zwischen passionierten und unpassionierten (mit Affekten oder ohne) sowie vernnftigen und unvernnftigen Ehrbezeugungen unterschieden: „Die erste grndet sich auf die Wahrheit, sie wird nur denen wahren Tugenden, als denen rechten Vorzgen des Menschen beygelegt […]. Die letztere entspringet von dem Pçbel, dieser lßt sich durch den falschen Schein verblenden, er verfllt auf das usserliche […]“. Zedler (1732 1754), Bd. 8, Sp. 415 f. Die „Hochachtung“ als „die jenige Meynung, welche wir aus Bewunderung ber des andern mehr als gewçhnliche Eigenschafften hegen, so daß wir ihn deswegen besonderer Ehre wrdig achten“, enthlt eine hnliche Einteilung in vernnftig und unvernnftig. Ebd., Bd. 13, Sp. 302. 88 Die Mittel, um Ehre zu erlangen, kçnnen auf inneren oder ußeren Vorteilen beruhen („in der Geschicklichkeit der Welt zu dienen mit sonderbaren Fleiß“ bzw.

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

Schtzung durch andere nicht allein ein bloßes Verlangen, sondern wird sogar unter die „Pflichten in Ansehung der Ehre“ gerechnet: Diese sind einerseits auf die „Ergebung“ der Tugenden „Ehr-Liebe“ und „Demuth“, andererseits auf die Vermeidung der Laster „Ehrgeiz“, „als wo man in Ansehung der Ehre zu viel thut“, „Niedertrchtigkeit“, „wo man zu wenig thut“, „Hochmuth“ und schließlich „Selbstverachtung (animus abjectus)“ gerichtet.89 „Selbst-Liebe“ und „Eigen-Liebe“ werden synonym gebraucht;90 unter „Selbst-Abgçtterey“ wird „eigentlich derjenige Grad an Selbst-Liebe“ verstanden, „da jemand aus bermßiger Einbildung und recht nrrischer Hochachtung seiner vermeynten Vollkommenheiten einen solchen Gefallen an sich selber hat, daß er in allen Dingen nur auf sich selber siehet und sich selbst zum Zwecke hat, mithin gleichsam sein eigener Gçtze ist“.91 Der vergleichsweise umfangreiche Artikel zu „Eigen-Liebe“ erklrt zunchst, daß dies „derjenige natrliche Trieb“ des Menschen (den er auch mit den Tieren gemein habe) sei, da dieser „sich in seiner Dauerhafftigkeit glckselig zu erhalten suchet, und dahero alles dasjenige, was ihm dazu zutrglich ist, verlanget, und hingegen, was ihm daran hinderlich seyn kçnnte, flhet“. Darber hinaus finden wir eine aufschlußreiche Differenzierung:92 Einer Einteilung aus Andreas Rdigers Philosophia pragmatica (1723) folgend wird dieser natrliche Trieb grundstzlich in (a) animalische Triebe zur physischen Lebenserhaltung und (b) menschliche und damit vernnftige Triebe im Verstand (Erkenntnis der Wahrheit)

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durch eigenen „Beytrag, oder auch durch das Glck alleine, an Stand, Reichthum und dergleichen“). Zedler (1732 1754), Bd. 8, Sp. 415 f. Zedler (1732 1754), Bd. 27, Sp. 1622. Der „animus abjectus“ ist als „abjectus animus“ im Supplementband 1 mit der Umschreibung „ein niedertrchtiges Gemthe“ aufgefhrt (s.d. Sp. 171); im Eintrag „Niedertrchtigkeit“ (Humilitas) ist diese „derjenige Fehler eines Menschen, da er die ihm mitgetheilten Fhigkeiten, etwas zu versuchen und sich dadurch ntzlich zu machen, gering schtzet, und sich also bey allen Vernnfftigen verchtlich macht“. Als Gegenteil von „Hochmut“ drckt sich darin entweder mangelnde Ehrliebe bzw. „Bereitschafft, aus Ehre Vergngen zu schçpffen“ oder aber purer Eigensinn aus, „mit dem sich die wollstige Bequemlichkeit verbindet“. Da „ein Mensch bey solcher Gemths-Disposition sich keines weges bemhet, Gott und der Welt rechtschaffene Dienste zu thun, wozu er doch verbunden ist“, soll der Vernnftige zwischen Hochmut und Niedertracht in Bescheidenheit leben. Ebd., Bd. 24, Sp. 388. Vgl. den Verweis vom Stichwort „Selbstliebe“ auf das Lemma „Eigenliebe“, Zedler (1732 1754), Bd. 36, Sp. 1594. Zedler (1732 1754), Bd. 36, Sp. 1586. Vgl. hierzu und im folgenden Zedler (1732 1754), Bd. 8, Sp. 510–513.

2.1 Begriffsgeschichtliche Erçrterungen

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sowie des Willens (Ausbung der Tugend, sowohl gegen andere Menschen als gegen sich selbst) unterschieden. Des weiteren erfolgt eine Betrachtung zur Eigenliebe unter der Frage, ob sie natrlich oder verderblich ist und inwiefern sie zur Selbstverbesserung beitrgt: Von Natur aus ist die Eigenliebe dem Menschen durch die gçttliche Absicht gegeben, auf die psycho-physische Erhaltung und Befçrderung seiner Glckseligkeit hinzuwirken, woraus folgt, daß sie, sofern sie nicht ausdrcklich bestimmten Gesetzen widerspricht, nicht nur nicht verboten, sondern ausdrcklich erlaubt und gefordert ist: „Sind also diejenigen alle Narren, welche darwieder handeln, als wenn geitzige sich nicht satt essen und trinken, ein ehrgeitziger gelehrter nicht gnug schlfft.“ Als etwas Verderbliches kann Eigenliebe nun aber auch zu einem Verhngnis fr den Menschen werden, der nicht einfach ausschließlich dem natrlichen Trieb der Selbsterhaltung vertrauen darf, sondern vielmehr die Gewohnheit und einen „Habitus des Bçsen“, mithin einen Hang zum „beln Gebrauch der Vernunfft“ bercksichtigen muß. Der Mißbrauch geht dabei ber die gçttliche Absicht einer Liebe zu sich selbst „nach Proportion und demjenigen Maaß der Liebe [hinaus], welches der eigentliche Werth der Sache, oder sein selbst, mit sich brchte“, und verletzt damit ein Valenzprinzip, welches die „drey verkehrten Arten der SelbstLiebe“ bestimmt: (a) Gott weniger zu lieben, als sich selbst, sich also ber Gott zu erheben, fhrt zur Selbstabgçtterei mit allen negativen Begleiterscheinungen. (b) Andere Menschen weniger zu lieben, als sich selbst, und damit die „natrliche und moralische Gleichheit derer Menschen unter einander“ zu mißachten, ist unsinnig, da die dem Nchsten zu erweisende Liebe auch von diesem zu schulden ist, mithin also eine Art Ausgleich erfolgt. Auch die gegenteilige Verkehrung, seinen Nchsten mehr zu lieben als sich selbst, widerspricht der quivalenz, denn man „wre verbunden ihm Pflichten zu erweisen, die zu meinem Schaden gereichten, und die er eben deßwegen, weil er mich hçher als sich selber lieben mste, nicht annehmen kçnnte“.93 (c) Eigenliebe, die sich gegen den Wert der Glckseligkeit mçglichst vieler Menschen richtet und lediglich den selbstbezogenen Nutzen befçrdert, ist unvernnftig, verkennt in offensichtlicher Weise die gçttliche Absicht und geht daher nicht auf „ein bestndiges Vergngen, sondern nur [auf ] einen gegenwrtigen Ktzel unsrer Sinnen“. 93 Das Gebot der Nchstenliebe nimmt Kant spter in der Kritik der praktischen Vernunft zum Anlaß, um die Vereinbarkeit des christlichen Gebots mit dem moralischen Gesetz und seinen Implikationen darzulegen. (Vgl. AA V 82 ff.)

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

Um sich zu verbessern, ist es die Aufgabe des Handelnden, die Eigenliebe nach dem „durch die Vernunft erkannten Gçttlichen Willen“ auszurichten. Fr diese Aufgabe ist jedoch noch nicht der „Philosophus“ zustndig, sondern eine „hçhere Krafft, welche die Theologie lehret“, bestimmend. Im Universal-Lexicon wird also bereits eine bewußte Unterscheidung verschiedener Arten des affirmativen Selbstbezugs vorgenommen, wobei jedoch die verwendeten Ausdrcke noch nicht den jeweiligen Bestimmungen auf der begrifflichen Ebene entsprechen, deren nuancierende Bedeutungsvarianten erst durch kontextuelle Erluterungen ersichtlich werden. 2.1.2 Versuch eines vollstndigen grammatisch-kritischen Wçrterbuchs (1774 – 1786) von Johann Christoph Adelung Ab den siebziger Jahren legte Johann Christoph Adelung zunchst den Versuch eines vollstndigen grammatisch-kritischen Wçrterbuchs in 5 Bnden vor. Dieses Wçrterbuch war jedoch bereits derart vollstndig, daß die sptere Auflage, nunmehr als Grammatisch-kritisches Wçrterbuch (1793–1818), keine gravierenden Vernderungen erfuhr und lediglich aktualisiert wurde. In der ersten Auflage des Wçrterbuchs fehlen Eintrge zu „Selbstachtung“ und „Selbstschtzung“.94 Unter „Selbstliebe“ wird „die Liebe seiner selbst, die Fertigkeit“ verstanden, „sich an seiner Vollkommenheit zu vergngen und selbige zu befçrdern“. Die Liebe zu sich selbst kann einerseits „erlaubt und pflichtmßig“, andererseits auch „unerlaubt und bertrieben“ sein, wobei die unerlaubte Selbstliebe als „Eigenliebe“ bezeichnet wird.95 Diese ist wiederum „die Liebe zu sich selbst“, allerdings in zweierlei Hinsicht: Wie bei Walch und Zedler kann „Eigenliebe“ (1) „in gutem Verstande“ bedeuten, gemß „dem natrlichen Triebe glcklich zu seyn […], welcher der Grund des ganzen physischen und moralischen Lebens ist“. Diese Verwendung des Wortes sei jedoch „nur bey einigen Weltweisen blich, dagegen andere diesen Trieb mit mehrerem Rechte die

94 Adelung (1774–1786). Auch in Adelung (1793–1801) sind diese Lemmata nicht vermerkt, relevante Komposita mit „Selbst-“ wie „Selbsterkenntniß“, „Selbstgefhl“, „Selbstliebe“ und „Selbstverachtung“ (schlicht: „die Verachtung seiner selbst“) bleiben unverndert. Vgl. dort Bd. 4, Sp. 49–51. 95 Adelung (1774–1786), Bd. 4, Sp. 427.

2.1 Begriffsgeschichtliche Erçrterungen

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Selbstliebe nennen“.96 Seit den 30er und 40er Jahren erfolgte also eine Verschiebung, nach der die nun gelufigere Bedeutung von „Eigenliebe“ (2) in „der ungeordneten Selbstliebe, welche das vernnftige Ziel berschreitet, und die Nebenannehmlichkeiten der ordentlichen Mittel fr das hçchste Gut hlt“, besteht.97 Die bewußte Unterscheidung zwischen „Selbstliebe“ und „Eigenliebe“, die Kant (etwa im Triebfedern-Kapitel der Kritik der praktischen Vernunft) teilweise wieder aufheben wird, ist Voraussetzung fr eine nuancierte Akzentsetzung, auch mit Blick auf den „Eigendnkel“:98 In der im Vergleich zu Zedler differenzierteren Auflistung 96 Die nicht unproblematische Bezeichnung des „Weltweisen“ erklrt Walch: „Es ist gar gewçhnlich, daß wir Teutschen einen Philosophum einen Weltweisen, und die Philosophie die Welt-Weisheit nennen, welche Benennung, weil sie einen geistlichen Hochmuth zum Vater, und eine Verachtung dieses Theils der Gelehrsamkeit zur Mutter habe, einige gern abgeschafft wissen wollen.“ Walch (1726), Sp. 2891 f. 97 Weiter heißt es: „In engerer und der gemeinsten Bedeutung ist die Eigenliebe das unregelmßige Vergngen, so man aus vermeinten Vollkommenheiten empfindet, und der Trieb, solche zu befçrdern. Ein Mensch hat viele Eigenliebe, wenn er sich gerne loben hçret, sich auf eine eitele Art putzet, auf eine bertriebene Art fr seine Bequemlichkeit sorget usf.“ Adelung (1774–1786), Bd. 1, Sp. 1535. ber „die unartige Liebe zu uns selbst“ ist im Leipziger Wochenblatt fr Kinder, deren Herausgeber und vermutlich alleiniger Verfasser Adelung war, unter dem Titel „Gesprch ber die Eigenliebe“ folgendes vermerkt: „[Weil] die meisten Menschen diesen Fehler an sich haben, so kçnnen sie ihn an andern am wenigsten vertragen. Die Eigenliebe macht, daß wir immer gerne von uns reden, daß wir unsere kleine Person immer zur wichtigsten in der ganzen Gesellschaft machen, und daß wir unsere Einsichten und Neigungen immer gerne andern aufdringen wollen; und das mißfllt andern desto mehr, je mehr sie auch diesen Fehler an sich haben.“ In dem fiktiven Gesprch zwischen drei Mdchen wird darauf hingewirkt, dass der Leser die vermeintlich positiven Wirkungen der Eigenliebe, die sich ausschließlich aus der Meinung und dem Lob anderer Menschen ergeben, kritisch hinterfragt und das moralische (,tugendhafte‘) Handeln auf die „Gottesfurcht“ und einen „ewigen Endzweck“ bezieht, wodurch sich erst die „wahre Freyheit“ ergibt (Anonym (1774a), hier 98 u. 100 f.). Das Leipziger Wochenblatt ist eine der ltesten Kinderund Jugendzeitschriften und erschien von 1772–1774 bei Crusius in Leipzig. In anderen Ausgaben sind als Themen der Beitrge z. B. Lehren bzw. Regeln der Klugheit und Von dem Stolze aufgefhrt. Diesen aufschlußreichen Hinweis verdanke ich Wiebke Helm. 98 Bezeichnend ist, daß Steinbach (1734) keine Eintrge zu „Eigenliebe“ und „Selbstliebe“ gibt, wohingegen Frisch (1741) zumindest diese zwei Lemmata auffhrt, wenn auch ihre bertragung abgesehen von der Wortstellung noch synonym erfolgt („philautia, amor sui ipsius“ sowie „amor sui ipsius, vikaut_a“, vgl. dort I. Teil, 220 sowie II. Teil, 262). Zur Begriffsgeschichte von „Eigenliebe“ und „Selbstliebe“ im Griechischen und Lateinischen: Gantar (1966), Gantar (1968) sowie Fuchs (1977), 32–48.

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

bei Adelung kann unter diesem Lemma der „Dnkel“ verstanden werden, „welchen man von sich und seinen guten Einbildungen hat“, also eine Haltung, ein Blick auf das eigene, vermeintlich verdienstvolle Selbst im Vergleich zum aktiven und bermßigen Streben zur Befçrderung der eigenen vermeinten Vollkommenheit.99 Unter „Achtung“ wird in der ersten Auflage zweierlei verstanden: (a) ein synonymer Begriff fr „Aufmerksamkeit“ und (b) bedeutet das Wort auch „Hochachtung, sowohl active als passive“. Auffllig ist an Kategorisierung (b) das interne Wechselverhltnis, in welches die Bestimmungen von „Ehre“ und „Ansehen“ mit einbezogen sind: „[active] Achtung kann ein Hçherer gegen einen Geringern haben, aber dieser muß gegen jenen Hochachtung haben“. Demgemß steht „passive Achtung“ fr ein Ansehen im Sinne von „es achtet ihn jedermann hoch“.100 In beiden Varianten von (2) ist damit noch die inzwischen veraltete Bedeutung von „achten“ als „fr jmd./etw. halten, erachten“ wirksam, die anders als die anerkennende Wertschtzung, die grundstzlich von einem gleichwertigen Maßstab der Beurteilung ausgeht, auf hierarchiebedingten Einteilungen nach Rang und Status beruht. In der zweiten Auflage wird Bedeutung (a) als veraltet markiert, whrend fr Bedeutung (b) eine abweichende Umschreibung gegeben ist: „Das innere Urtheil von des andern Vorzgen und Verdiensten […].“ Mit der bemerkenswerten Umstellung von „Hochachtung“ auf „Urtheil“ sowie dem expliziten Verweis auf die Geltung der individuellen Leistung der zu achtenden Person hat sich ein Wandel vollzogen, der eine Entsprechung in der Entwicklung des Wrdebegriffs gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat. Der semantische Gehalt kann zwar nicht vollstndig von den Bedeutungsebenen der griechisch-rçmisch geprgten Begriffe „Ehre“ und „Ansehen“ gelçst werden, aber zumindest zeigt er in Anstzen eine gewisse Unabhngigkeit von gesellschaftlichen Kategorien wie Geburt, Stand und Vermçgen an.101 Die Parallelitt beider Bedeutungen ist noch in der zweiten Auflage des Wçrterbuchs ersichtlich: Der Begriff der Wrde beinhaltet „jede[n] Vorzug eines Dinges oder einer Person“ und schrnkt damit zwar nicht die Wrdefhigkeit auf menschliche Individuen ein, behauptet aber 99 Fr „Dnkel“ sind die zwei Bedeutungen (1) „jede Meynung, besonders eine unbegrndete Meynung, ein Vorurtheil“ (weniger gebruchlich) und (2) „stolze Einbildung von seinen Fhigkeiten, von seinem Werthe, in verchtlichem Verstande“ einschlgig. Adelung (1774–1786), Bd. 1, Sp. 1437. 100 Adelung (1774–1786), Bd. 1, Sp. 137. 101 Vgl. Kondylis (1992).

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zumindest einen egalitren Ausgangspunkt fr jegliche Inanspruchnahme und Gewhrung von Wrde. „ein[en] merkliche[n] ußere[n] Vorzug in der brgerlichen Gesellschaft und ein mit solchen Vorzgen verbundenes Amt“ in Abhngigkeit von „einer gewissen Ehre“ in bezug auf dieses Amt oder auch einen Titel.102

2.1.3 Versuch einer allgemeinen deutschen Synonymik (1795 – 1802) von Johann August Eberhard Die nchste Quelle, der wir uns nun zuwenden, ist die Synonymik von Johann August Eberhard. Dieses Kompendium ist ußerst ausfhrlich und erlaubt es, die Bedeutungen sinnverwandter Ausdrcke, deren spezifische Nuancen sowie begriffliche bereinstimmungen im zeitgençssischen Kontext zu rekonstruieren.103 Die fr die Untersuchung erforderliche Unterscheidung von „achten“ und „schtzen“ hat in der Synonymik einen eigenen Eintrag erhalten.104 Zunchst erfolgt die Umschreibung der Bedeutung der beiden Ausdrcke: Als Urteil „ber den Werth einer Sache“ wird mit den Verwendungen „hoch achten, hoch schtzen“ und entsprechend „gering achten, gering schtzen“ die graduelle Bestimmung des Wertes einer Sache oder einer Person kenntlich gemacht. Mit „schtzen“ ist, in bezug auf den konkreten Wert einer Sache, die besondere Bedeutung einer „Preisbestimmung“ verbunden, „indem man das Urtheil ber ihren [der Sache] Werth durch eine gleichgeltende Sache, z. B. durch eine gewisse Summe Geldes anzeigt“. „Schtzen“ hat hier also ausdrcklich die Konnotation von „einen Wert ermitteln“, wozu ein Maßstab der Beurteilung erforderlich ist. Dementsprechend werden bestimmte Sachen als „unschtzbar“ bezeichnet, „deren Werth durch keine gleichgeltende Sache kann ersetzt werden“. Es ist deshalb blich, daß „in dieser eingeschrnkten Bedeutung“ der Ausdruck „schtzen“ „nur von Sachen, nicht von Personen gebraucht“ wird. Allerdings kçnnen auch Personen in ihren Eigenschaften als „schtzbar“ und „unschtzbar“ bezeichnet werden: „Schtzbar in der allgemeinen Bedeutung des Wortes: man urtheilt, daß sie einen großen Werth haben; unschtzbar in der besondern Bedeutung des Wortes: man urtheilt, daß sie durch keine andere gleichgeltende Sache kçnnen ersetzt werden.“ Nur in 102 Adelung (1793–1801), Bd. 4, Sp. 1626. 103 Eberhard (1795–1802). 104 Vgl. im folgenden Eberhard (1795–1802), Bd. 1, 32 f.

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den Fllen, in denen Menschen wie Sachen behandelt werden, also etwa in einem System der Sklaverei, kann in der engeren Bedeutung des Ausdrucks der „Preis“ eines solchen Menschen „geschtzt“ werden. Abweichend von dieser relativen Bestimmung des Wertes bzw. Preises einer Sache hat nun „achten“ die „besondere Bedeutung der durch den Werth der Sache erregten Aufmerksamkeit, welche sich sowohl in natrlichen als conventionellen Zeichen an den Tag legt“: Das „Urtheil von dem Werthe einer Person oder Sache“ wird dadurch besttigt, daß man die wertgeschtzte Person oder Sache fr „wrdig“ befindet, sie durch „Aufmerksamkeit zu ehren“. Bezeichnend ist an dieser zusammenfassenden Beschreibung des Bedeutungsgehaltes von „achten“ die begriffliche Verschrnkung von Achtung, Wrde und Ehre, die auf eine wechselseitige Bedingtheit abzielt: „Was wir achten, das ehren wir, und was wir ehren, das achten wir.“ Eine abschließende Anmerkung verdeutlicht noch einmal die Ambivalenz in der Verwendung von „achten“ und „schtzen“: Schtzen kçmmt von Schatz, und Achten von Acht, Aufmerksamkeit. Bey dem Schtzen bezieht sich also ursprnglich das Urtheil von dem Werthe einer Sache oder Person auf den Nutzen, den sie fr andere hat, bey dem Achten auf ihre innere Vollkommenheit, welche ein Bewegungsgrund ist, warum wir sie unserer Aufmerksamkeit wrdigen, so wie die Aufmerksamkeit, der wir eine Sache oder Person wrdigen, ein Zeichen ist, daß wir sie hochschtzen. Beyde Begriffe liegen daher in dem Worte Achten, und die Verbindung, worin es vorkçmmt, muß es bestimmen, welche darin die hervorstechende ist.

Ebenfalls ein eigenstndiger Eintrag liegt zu „Eigenliebe“ und „Selbstliebe“ vor:105 Der Begriff, welcher beide Ausdrcke grundstzlich miteinander verwandt macht, ist das „Gefallen an seinen Vollkommenheiten, womit das Bestreben, sie zu erhalten und zu vermehren natrlich verbunden ist“. In Fortfhrung der bereits bei Adelung vorgenommenen Unterscheidung wird im weiteren ausgefhrt, daß „Eigenliebe“ nicht vernnftig, unvernnftige „Selbstliebe“ hingegen nur „strafbare und lcherliche Eigenliebe“ sein kçnne. Die beiden Aspekte „strafbar“ und „lcherlich“ sind insofern aufschlußreich, als bei einer bereits vorliegenden negativen Bewertung von „Eigenliebe“ („ein Laster oder wenigstens eine Thorheit“) noch einmal zwischen einer schdlichen und einer unschdlichen Ausprgung dieser Form der Selbstbezglichkeit unterschieden wird: Schdlich und strafbar ist Eigenliebe, wenn „sie sich widerrechtlich oder wenigstens auf Kosten anderer wrdigerer Personen zu befriedigen sucht“, unschdlich und bloß lcherlich, wenn „sie sich Vollkommenheiten beylegt, die ihr nicht zu105 Eberhard (1795–1802), Bd. 1, 85–87.

2.1 Begriffsgeschichtliche Erçrterungen

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kommen, oder Eigenschaften, die an sich keinen Wert haben, ihrem Besitzer als hohe Vortrefflichkeit vorspiegelt“. Die Unterscheidung zwischen „Eigenliebe“ und „Selbstliebe“, so der Autor des Eintrags, drcke sich insbesondere durch den Wortbestandteil „eigen“ aus, denn dieser deute „auf einen ausschließenden Besitz, so wie auf eine Schtzung aller seiner noch so nichtswrdigen Eigenschaften, wodurch der Mensch alles verherrlicht, sobald es ihm zu eigen ist, und sich der Aufmerksamkeit aller anderen so ausschließend bemchtigt, daß sie ein Eigenthum fr ihn wird, woran kein anderer einen Anspruch machen darf“.106 Wenn wir diese Aussage zu dem Eintrag bezglich „achten“ und „schtzen“ in Beziehung setzen, wird ersichtlich, daß sowohl bei der schdlichen als auch der unschdlichen Ausprgung von Eigenliebe das Verhltnis von Achtung und Aufmerksamkeit insofern in ein Mißverhltnis verkehrt wird, als jemand in vçlliger selbstbezglicher Anmaßung sich der wechselseitig anerkennenden Wertschtzung und der damit einhergehenden verdienten Beachtung durch andere entzieht. Der Aspekt der Wechselseitigkeit ist dagegen in der vernnftigen Selbstliebe anzutreffen, da diese „ihre Vollkommenheiten nach ihrem wahren Werthe“ schtzt und „in der Befçrderung derselben das allgemeine sittliche Naturgesetz“ befolgt, „indem sie sich nicht ausschließend zum Zwecke ihrer Handlungen und Bestrebungen macht, sondern sich auch durch Befçrderung fremder Vollkommenheit zu vervollkommnen, zu veredeln und zu beglcken sucht“. Die im Vergleich zu Adelung noch einmal differenziertere begriffliche Bestimmung von „Eigenliebe“ und deren Verhltnis zu „Selbstliebe“ wird sogar noch ergnzt durch die berlegung, den Ausdruck „Selbstsucht“ als bersetzung des englischen „selfishness“ einzufhren. Dieser Begriff sei nicht mit „Eigenliebe“ auszudrcken, welche sich wie beschrieben in die zwei Arten der lcherlichen und strafbaren (letztere als „ungesellige, ungerechte und verhaßte“) Eigenliebe unterteilt, wobei ohne nhere Erluterung mit „Eigenliebe“ eher 106 In fast gleichlautender Beschreibung ist der „Eigendnkel“ (gemeinsam mit „Dnkel“ und „Einbildung“) charakterisiert als eine „[i]rrige Meynung, die ein Mensch von seinen Vollkommenheiten hat, es sey, daß ihm diese Vollkommenheiten nicht zukommen, wenigstens nicht in dem Grade, worin er sie sich beylegt, oder daß es keine wahren Vollkommenheiten sind. […] Dnkel setzt zu diesem Hauptbegriffe noch hinzu, daß der Eingebildete mit seinen vermeynten Vollkommenheiten alles auszurichten, und daher ein Recht auf vorzgliche Achtung zu haben glaubt. Diese Idee wird in Eigendnkel noch durch das Wort eigen verstrkt, indem es andeutet, daß er sich alle solche Vollkommenheiten ausschließend zueignet.“ Eberhard (1795–1802), Bd. 1, 59 f.

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die erstere Bedeutung gemeint sei. Um diese begriffliche Unschrfe aufzulçsen und eine Selbstbezglichkeit, „welche sich alles zueignet und gegen alle Gesetze der Menschenliebe und der Gerechtigkeit sich alles anmaßt“, angemessen zu bezeichnen, sei es folglich „ein Gewinn fr die Sprache, wenn das Wort Selbstsucht Wurzel fassen kçnnte“.107 Das bestimmende Kriterium fr „Selbstsucht“ ist die damit verbundene ausschließlich ungesellige Haltung, von der selbst der „Eigennutz“ verschieden ist, da dieser schließlich „auch auf die Bewegungsgrnde zu geselligen Handlungen“ geht.108 Bereits in seiner 1781 erschienenen Sittenlehre der Vernunft befaßt sich Johann August Eberhard mit der „Beurtheilung seiner selbst“, die in einem Abschnitt ber die „Pflichten gegen sich selbst“ behandelt wird, und bezieht damit die spteren semantischen Unterscheidungen schon in einen moralphilosophischen Kontext ein. Aufschlußreich ist hierbei die enge Verbindung von Selbstliebe, die wie in der Synonymik prinzipiell als vernnftig (an dieser Stelle ist von „wohlgeordnet“ die Rede) angesehen wird, mit der Beurteilung seiner selbst durch die adquate Erkenntnis der eigenen „Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten“.109 In einer zeitlichen Dimension kann sich fr Eberhard die Selbstbeurteilung auf vergangene, gegenwrtige oder zuknftige Vervollkommnung beziehen, wobei mangels mçglicher Aufmerksamkeit fr alle Ebenen zugleich der Blick zumindest auf zuknftige Vollendung zu richten ist, da 107 Eberhard (1795–1802), Bd. 1, 86 f. Adelung (1774–1786) hatte den Eintrag „Selbstsucht“ noch nicht verzeichnet; Adelung (1793–1801), Bd. 4, Sp. 50, ergnzt diesen Ausdruck: „Selbstsucht – die ungeordnete Begierde, in allen Vorfllen seine eigenen Vortheile zu suchen; der Egoismus“. Auch Campe (1807–1811) nimmt „Selbstsucht“ auf als „die Sucht, d. h. die zur Fertigkeit und herrschend gewordene fehlerhafte Begierde, Alles nur auf sich selbst zu beziehen, nichts zu achten und fr wichtig zu halten als was das eigene Selbst betrifft, und die Gewohnheit sich nur durch eigenntzige Beweggrnde in seinen Handlungen bestimmen zu lassen (Egoismus)“ (Bd. 4, 409). Johnson (1783/1796) vermerkt unter „selfish“: „1) Eigen, sein eigen“ sowie „2) Bloß auf sich und seinen Vorteil sehend, eigenntzig“, unter „selfishness“: „Eigenliebe, Eigennutz“ (2. Bd., Sp. 1072). In diesem Wçrterbuch fehlen im brigen die fr die sptere anglophone Diskussion so wichtigen Eintrge „self-esteem“ und „self-respect“. 108 Das franzçsische Pendant zur Bezeichnung der „Krankheit, wodurch der gesellschaftliche Kçrper seiner Verwesung entgegen geht“, lautet „Egoisme“, der selbstschtige Mensch heißt demgemß „un Egoiste“. Eine englische Entsprechung fr die lcherliche Eigenliebe gebe es nicht, so der Autor des Eintrages, „denn selflove ist Selbstliebe, und vanity, Eitelkeit, ist noch von Eigenliebe unterschieden“. Eberhard (1795–1802), Bd. 1, 87. 109 Vgl. im folgenden Eberhard (1781), 180 ff., 187 ff.

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sich vor allem durch diesen Beweggrnde fr das eigene Handeln ergeben. Die Fhigkeit, seinen gegenwrtigen Zustand der Vollkommenheit richtig einschtzen und beurteilen zu kçnnen, wird hier die „richtige Selbstschtzung“ genannt. Und die Befhigung zur angemessenen Beurteilung der noch nicht erreichten eigenen Vollkommenheit ist nun im Grunde genommen ebenfalls eine „richtige“ Schtzung seiner selbst, wird jedoch von Eberhard differenzierend als „Demut“ bezeichnet. „Selbstschtzung“ und „Demut“ sind also jeweils adquate Weisen des Bewertens, die sich auf die berechtigte Wertschtzung einer bereits erreichten Vollkommenheit bzw. auf das ebenfalls berechtigte Eingestndnis einer noch bestehenden Unvollkommenheit beziehen. Dadurch erhlt „Schtzung“ eine komplexe Bedeutung, die der Selbstbezogenheit geschuldet sein drfte: Whrend das „Schtzen“ in der Synonymik als einfacher Vergleich verstanden wird, in welchem einer Eigenschaft gemß ihres meßbaren Nutzens und somit ihres quantitativen Gehalts eine Preisquivalenz entspricht, erlaubt die „Selbstschtzung“ eine umfassendere Verhltnisbestimmung. Die faktische Einschtzung eigener Vollkommenheit wird in Beziehung gesetzt zu der relativen Stellung seiner selbst im Spannungsfeld zwischen den eigenen Mçglichkeiten, dem noch zu erstrebenden Zustand an Vollkommenheit sowie den Mitmenschen. Der wahre Grund und Nutzen von „Demut“ zeigt sich nmlich laut Eberhard sowohl in der Erkenntnis einer (idealen) Vollkommenheit, die der sich selbst Erkennende noch nicht besitzt und zu erlangen strebt, als auch in der Erkenntnis dieser Vollkommenheit bei anderen, die deshalb bewußt nicht verachtet werden. Wenn nun „Niedertrchtigkeit“ und „Stolz“ als Mangel bzw. bermaß an Selbstschtzung charakterisiert werden, so trifft dies zwar fr erstere durchaus zu, da hier die Befhigung eingeschrnkt ist, in vollem Umfang sich selbst in angemessener Weise zu erkennen und zu beurteilen. Der „Stolz“ kann jedoch keineswegs ein Zuviel an Erkenntnis seiner selbst sein, sondern verweist eher auf eine Verschiebung in der Bestimmung des genannten Verhltnisses: Die Fhigkeit zur Erkenntnis eigener Vervollkommnung ist hier prinzipiell gegeben, doch eine unangemessen stolze Haltung zeigt dann allerdings die Unfhigkeit auf, sich an der durch Eberhard mutmaßlich intendierten Konzeption einer Moral des rechten Maßes orientieren zu kçnnen bzw. zu wollen. Ein ,bermaß an Selbstschtzung‘ wre also mit Blick auf die Synonymik besser als „Eigenliebe“ zu bezeichnen. Die „Selbstliebe“ bestimmt Eberhard nun nicht nur als Verbindlichkeit, die aus der „Freude ber unsere Vollkommenheit“ hervorgeht, sondern auch als bestndige Verpflichtung, „fr die Vollkommenheit unseres Gewissens“ zu sorgen. Eine „wohlgeordnete Selbstliebe“, die den „ge-

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

meinschaftlichen Gesetzen unserer Vollkommenheit gemß“ ist, orientiert sich dabei an vier Punkten: Mit der Pflicht, das Gewissen zu vervollkommnen, geht demnach das Bemhen einher (1) alle Bewegursachen im Handeln vollstndig zu erkennen, (2) eine praktische Verfaßtheit anzustreben, also nicht nur Gutes und Bçses theoretisch zu unterscheiden, sondern zu wissen, was zu tun bzw. zu lassen ist, (3) einen moralischen Probabilismus und damit den mçglichen Irrtum zu vermeiden, einem unwahrscheinlichen Gewissen zu folgen, (4) eine Gewissenhaftigkeit (wohl im Sinne einer Grndlichkeit) als Fertigkeit auszubilden, um auch wirklich dem besten Gewissen folgen zu kçnnen. Selbstliebe ist, so drfen wir die kurzen Ausfhrungen bei Eberhard verstehen, das emotive Korrelat zu Selbstschtzung, die als Befhigung verstanden wird, sich selbst aus berechtigten, an einem sittlichen Naturgesetz ausgerichteten Grnden zu beurteilen, und zwar in der Perspektive weitestgehender Verhltnismßigkeit. Diese wohlgeordnete und der richtigen Selbstschtzung bzw. Demut folgende Liebe zu sich selbst ist dann die Grundlage fr die Sittlichkeit aller menschlichen Handlungen, weil sie die Verhltnisse zu anderen Menschen und damit deren individuelle Vollkommenheit zu bercksichtigen und andere Bewegursachen anzuerkennen weiß. „Eigennutz“ und „Selbstsucht“ (selfishness) hingegen beziehen sich lediglich auf eine einseitige Vollkommenheit bzw. „auf besondere Gesetze der Vollkommenheit einiger Vermçgen des Menschen“, was zwangslufig zu einer Kollision eigener und fremder Bewertungsmaßstbe fhren muß. 2.1.4 Das Wçrterbuch der Deutschen Sprache (1807 – 1811) von Joachim Heinrich Campe In einem der einflußreichsten deutschen Wçrterbcher werden sowohl bereits etablierte und weiterhin aktuelle Eintrge aus vorangegangenen Wçrterbchern und Lexika als auch ungewçhnliche bzw. seltene Ausdrcke sowie Neologismen aufgefhrt. Erstmalig ist hier das als ein neugebildetes Wort markierte Lemma „Selbstachtung“ vertreten und bezeichnet „die Achtung, welche man vor sich selbst hegt, auch wol, die

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Achtung, welche man sich selbst schuldig ist“.110 Der Eintrag „Selbstschtzung“ bezeichnet „die Schtzung seiner selbst […] welche sowol erlaubt und unschdlich, als auch unerlaubt und schdlich sein kann, wenn sie eine berschtzung seiner selbst ist“.111 Im direkten Vergleich zeigen sich – anders als nach den Bemerkungen bei Eberhard zu erwarten gewesen wre –zwischen der begrifflichen Bestimmung von „Selbstschtzung“ und den Erluterungen zu „Selbstliebe“ bzw. „Eigenliebe“ deutlich aufflligere Parallelen als zwischen „Selbstschtzung“ und „Selbstachtung“: Unter „Selbstliebe“ versteht Campe „die Liebe seiner Selbst, […] das Gefallen an seinen Vollkommenheiten, verbunden mit dem Bestreben dieselben zu erhalten und zu vermehren“. hnlich wie bei Eberhard kann sie „erlaubt und selbst pflichtmßig“ sein, „wenn sie in ihren Schranken bleibt und sich nicht mit Nachtheil fr Andere und Hintansetzung der Pflichten ußert, in welchem Falle sie eine unvernnftige unerlaubte Selbstliebe oder Eigenliebe ist“. „Eigenliebe“ wiederum kennt Campe als einen mittlerweile weniger gebruchlichen Ausdruck, der auf „eine ungeregelte Selbstliebe“ und einen „mehr lcherlich und unleidlich als verhaßt machenden Auswuchs derselben“ verweist.112 Die Schdlichkeit der „Eigenliebe“, die „sich widerrechtlich oder doch auf Kosten Anderer zu befriedigen sucht“ und sich in die Verkennung des Wertes und der Bedeutung der eigenen Fhigkeiten versteigt, ist also durchaus mit der sich selbst berschtzenden „Selbstschtzung“ vergleichbar. Obwohl der Neologismus „Selbstachtung“ die Kenntnis der Bedeutung des Bestimmungswortes „Achtung“ voraussetzt und sich deshalb zumindest im ersten Teil einer tautologischen Umschreibung bedient (Selbstachtung = Achtung vor sich selbst), was ebenso fr die „Selbstschtzung“ zutrifft (Selbstschtzung = Schtzung seiner selbst), so sind doch folgende Merkmale beachtenswert: Wenn mit der Erluterung der Synonyme bei Eberhard „Achtung“ als eine Reaktion mit Blick auf die durch den Wert einer Sache erregten Aufmerksamkeit verstanden wird, 110 Campe (1807–1811), Bd. 4, 404. Als Beleg der Verwendung des Ausdrucks gibt Campe ein abgewandeltes Zitat von Paul (1963) aus dessen Vorschule der sthetik [1804] an, bei dem es in § 58 unter dem Titel „Materie der Charaktere“ heißt: „Der Wille kennt nur zwei Ich, das Fremde und das eigne; folglich nur Liebe gegen jenes und Selbstachtung gegen dieses – oder Lieblosigkeit und innere Ehrlosigkeit.“ (213) Zur Funktion hnlicher Komposita siehe Kçpke (1973). 111 Campe (1807–1811), Bd. 4, 408. 112 Campe (1807–1811), Bd. 1, 832. Das Verhaßte kme dann gemß den Ausfhrungen bei Eberhard der „Selbstsucht“ zu, obwohl der entsprechende Eintrag bei Campe diesen Aspekt nicht explizit benennt (vgl. Bd. 4, 409).

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

dann bezieht sich „Selbstachtung“ auf die eigene innere Vollkommenheit, die zu einem wrdigen Objekt der eigenen Aufmerksamkeit wird, und kann – da ist der Eintrag bei Campe konsequent – eben gerade nicht in quantitativer Hinsicht bemessen werden. Im Gegensatz dazu erçffnet die „Schtzung seiner selbst“ und damit der eigenen Fhigkeiten und Eigenschaften unter dem Gesichtspunkt der Bestimmung eines Gegenwertes oder Nutzens wie im Wechselspiel zwischen „Selbstliebe“ und „Eigenliebe“ einen Spielraum gradueller Einteilung zwischen den Polen „erlaubt/unschdlich“ und „unerlaubt/schdlich“. Die besonderen Bedeutungen der beiden bestimmenden Wortbestandteile „achten“ und „schtzen“ wirken in den Komposita mit dem Pronomen „selbst“ fort und geben damit erste Anhaltspunkte fr eine begriffliche Unterscheidung von „Selbstachtung“ und „Selbstschtzung“. 2.1.5 Zusammenfassung Da der Ausdruck „Selbstachtung“ erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts lexikalisch in Erscheinung tritt, ist im begriffsgeschichtlichen Vergleich das Fehlen einer Entsprechung zur „Selbstverachtung“ auffllig, die bereits in der ersten Hlfte des 18. Jahrhunderts bekannt war:113 Dieses Lemma erhlt noch bei Zedler eine ausfhrliche Besprechung (s. o.), deren Gehalt bei allen folgenden Lexika und Wçrterbchern bis hin zu Campe zur tautologischen Umschreibung „die Verachtung seiner selbst“ verkrzt wird. In paralleler Betrachtung der beiden Beschreibungen von „Selbstachtung“ bei Campe und „Selbstverachtung“ bei Zedler scheint ein gemeinsamer Bezugspunkt auf: Die eigenen und – ergnzend – wohlbegrndeten bzw. gerechtfertigten Verdienste („welche man sich selbst schuldig ist“) verlangen einerseits eine Anerkennung seiner selbst, die als eine Folge selbstbestimmten Handelns angesehen werden kann. Andererseits liegt in der Nichtachtung oder Achtung seiner selbst schon der ausschlaggebende Grund dafr vor, ob jemand „gar nichts aus sich selbsten machet“ oder zu selbstbestimmtem Handeln fhig und damit sich seiner selbst bewußt ist. Diese Doppelbezglichkeit, in der Selbstachtung und Selbstverachtung sowohl am Beginn als auch am Schluß einer gelungenen oder verfehlten Sicht auf das eigene Selbst stehen, verstrkt den ambivalenten Status dieser bislang nur vage bestimmten Begriffe auch mit Blick auf deren systema113 Siehe zur Begriffsgeschichte von „Verachtung, Mißachtung“ Gloyna u. Hhn (2001).

2.1 Begriffsgeschichtliche Erçrterungen

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tischen Geltungsanspruch in einer Moralphilosophie: Wenn die Achtung seiner selbst Voraussetzung vernnftigen Handelns sein soll, stellt sich unweigerlich die Frage, welche Bedingungen dieser Achtung zugrunde liegen und worin handlungsunabhngig die Legitimitt und Angemessenheit dieser Haltung sich selbst gegenber besteht. Ist dagegen Selbstachtung eine Folge reflektierter Einschtzung der eigenen verdienstlichen Eigenschaften und Fhigkeiten bzw. Selbstverachtung die Mißbilligung derselben, dann rckt eine solche Selbstbewertung in unmittelbare Nhe zur Selbstschtzung und hat dann auszuweisen, worin der Unterschied zwischen innerer Vollkommenheit und handlungsbezogenen Erfolgen besteht. Eine solche Kennzeichnung wird nicht umhin kommen, Ausdruck und Begriff von „Wert“/Wert zu bercksichtigen, wobei sich zumindest aufschlußreiche etymologisch-semantische, vermutlich aber auch begriffliche Parallelen zeigen: Erst im Zusammenhang mit der idealistischen Philosophie und Ethik wird eine Bestimmung von Wrde erarbeitet, und zwar als eines „von allen ußerlichkeiten unabhngigen inneren, absoluten Wert[s] des Menschen, der sich in seinem (ethischen) Denken und Verhalten ußert“. Diese Bestimmung geht ursprnglich auf das adjektivische „wert“ im Sinne von „Geltung, Bedeutung habend, angesehen, geschtzt, kostbar, lieb und teuer“ zurck.114 Beachtenswert ist an dieser bedeutungsgeschichtlichen Perspektive vor allem die Kontinuitt des konstitutiven Aspekts der Anerkennung von werthaften Eigenschaften. Egal, ob noch lange vor dem 16. Jahrhundert Ansehen, Wert und Geltung gemeint sind, die jemand aufgrund der sozialen Stellung und des gesellschaftlichen Ranges besitzt, oder ob es, bereits gleichzeitig zu dieser Bedeutung, der „Wert eines Menschen [ist], der in seinem Wesen, seinen Eigenschaften und Leistungen beruht“, oder ob wiederum im Zuge der Renaissance- und Aufklrungsphilosophie der selbstverantwortlich entscheidende und handelnde Mensch den Gehalt von Wrde ausmacht: Stets werden bestimmte Merkmale, Eigenschaften oder individuelle Leistungen vor anderen hervorgehoben und damit in ein Relationsverhltnis gebracht, welches diesen 114 Vgl. zu diesen Ausfhrungen: Etymologisches Wçrterbuch (1993), 1559 u. 1584, sowie ausfhrlich Lhr (2010). Siehe zudem bei Zedler (1732–1754) die Eintrge „Wert oder Wehrt“, wo als Synonymverwendungen „Preiß, die Taxe, der Anschlag, die Schtzung, oder Wrderung einer Sache, Lat. Valor, Pretium, Aestimatio“ genannt werden (Bd. 55, Sp. 570), sowie „Schtzen, Wrdern (Taxiren, Aestimare, Taxare)“, welches „dieser oder jener Sache einen gewissen Werth oder Preiß bestimmen, und dieselbige in einen gewissen Anschlag bringen“ bedeutet (Bd. 34, Sp. 776).

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

einen Vorzug gibt und damit eine gewisse Attraktivitt verleiht, die nicht nur zu einer emotiven, sondern auch dezidiert vernunftgeleiteten Bindung fhren.115 Die Begriffe Wrde, Achtung, Wert (und damit Wertschtzen) sowie Ehre beziehen sich in diesem Verhltnis wechselseitig aufeinander und sind somit zumindest teilweise funktional miteinander verknpft:116 Jegliche Zuschreibung von Wrde als einer abstrakten Kategorie bedrfte dann des vorgngigen Verstndnisses von einem Wert, welches etwa in wertrelationalen çkonomischen Kontexten erworben werden kann. Nur wer in diesem Sinn den Gehalt einer Sache oder Eigenschaft entsprechend einzuschtzen und mit anderen Sachen oder Eigenschaften zu vergleichen weiß, ist dann in der Lage, das vor anderem sich Hervorhebende tatschlich wahrzunehmen und zu beachten, um daran seine eigene Haltung und sein Verhalten auszurichten. Ob mit Blick auf die Verwendung der Ausdrcke „Wert“, „Wrde“ und damit einhergehend von „achten“ und „schtzen“ in der Terminologie Kants ein solcher Bezug durchgngig aufrecht zu erhalten ist oder im Zusammenhang mit der Ausarbeitung einer kritischen Moralphilosophie und Ethik ab etwa 1770 einer differenzierten Revision unterzogen werden muß, hat die kommentierende Analyse der entsprechenden Texte aufzuweisen.

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant Bereits ein kursorischer berblick ber die moralphilosophischen Schriften verdeutlicht den grundstzlichen Status von Selbstbezglichkeit bei Kant, die ihre Begrndung und Rechtfertigung nicht aus einer „selbstgerechten“ und damit nur dem eigenen, unreflektierten Urteil unterworfenen Perspektive ableitet, sondern sie in einen umfassenderen (Begrndungs-)Kontext stellt und in diesem Zusammenhang auch normative Geltung beansprucht. Es ist fr unsere Zwecke sinnvoll, sich anzusehen, an welcher philosophischen Position sich Kant kritisch abarbeitet, um zu einem eigenen Standpunkt hinsichtlich affirmativer Selbstverhltnisse zu gelangen. Eine solche Gegenposition fr Kants eigenes Denken 115 In diesem Zusammenhang ist lediglich die Rede und Bedeutung von einem Begriff von Wert zu thematisieren; die Unterschiede zwischen Wertethiken und Pflichtsowie Tugendethiken werden im folgenden nur insofern bercksichtigt, als sie fr ein Verstndnis des Konzepts von Selbstschtzung/Selbstachtung relevant sind. Eine ausfhrliche Erçrterung gibt Lumer (2004); siehe mit Bezug auf neuere, vor allem pragmatistische Autoren Joas (1997). 116 Vgl. dazu Dillon (1995), 6 f.

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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kann etwa Claude Adrien Helvetius abgegeben haben. In seinem Discurs ber den Geist des Menschen (1760) entwickelt er nmlich eine radikal subjektbezogene Vorstellung von Achtungsverhltnissen, die einer dezidiert vernunftbegrndeten Sollens- und Pflichtenethik diametral entgegen stehen muß.117 Helvetius vertritt im II. Discurs, IV. Capitel, „Von der unvermeidlichen Nothwendigkeit in andern nur uns selbst zu schtzen“, die Auffassung, Achtung fr andere sei ausschließlich in bezug auf die eigenen Begriffe und berzeugungen mçglich, eine in „Worten bestehende Hochachtung“ demzufolge nur eine Art Konvention, der keine wirkliche berzeugung entspreche.118 Nur wer mit einem selbst einstimmig denke und damit den eigenen Begriffen hnlich sei, dem kçnne man Achtung erweisen. Der radikal subjektbezogene Zusatz besteht in der Begrndung, dies sei nur mçglich, weil jeder einzelne fr sich die Meinung vertrete, allein rechtens zu denken. Die „empfundene Achtung“ entsteht, im Gegensatz zur lediglich konventionell abgestatteten Hochachtung, „bloß aus der Empfindung, welche gewisse Ideen in uns erregen“. In Abhngigkeit von Bildung sowie dem Maße, sich Begriffe bilden zu kçnnen, sei jeder, in der Achtung seiner selbst, sich selbst der nchste und appliziere dies auf die Achtungsbeziehung anderen gegenber. Bei Helvetius ist also das konsequente Eigeninteresse des einzelnen die Grundlage jeglicher Achtungs- und Anerkennungsverhltnisse. Allerdings konkurrieren dabei zwei gegenlufige Ansichten miteinander: Einerseits ist die wahre Form der Achtung an die Gleichfçrmigkeit von Ideen und Begriffen, und in diesem Sinne an eine gewisse Disposition gebunden, die aus eigenem Verstndnis und Erfahrung sowie bestndiger 117 Helvetius (1760), im folgenden 64–74. Kant hat diese Ausgabe gekannt, wohl auch als Handexemplar besessen (vgl. Warda (1922), 49) und verschiedentlich in Anmerkungen, etwa in den Vorlesungen zur Moralphilosophie, darauf Bezug genommen. 118 In der bersetzung von Forkert in Helvetius (1760) werden „schtzen“ und „achten“ parallel, teils sogar synonym und darber hinaus gemeinsam mit „ehren“ verwendet. Interessanterweise ist in der franzçsischen Originalausgabe Helvetius (1758) fr alle diese Verwendungen nur eine Wortform, nmlich „estime“ mit der (heutigen) Bedeutung „Achtung“ bzw. „Wertschtzung“, aufgefhrt. Unter der berschrift „De la ncessit o nous sommes de n’estimer que nous dans les autres“ heißt es dann entsprechend „estime sur parole“ fr die „in Worten empfundene Hochachtung“, „estime sentie“ fr „empfundene Achtung“, und im vorletzten Abschnitt des Kapitels steht fr „qu’en consquence on n’estime jamais dans autrui que son image & sa ressemblance“ im Deutschen: „und man [ehrt] folglich nichts, als sein eigenes Bild und seine hnlichkeit ehre“. (Vgl. in Helvetius (1758), 53 ff.)

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potentieller Erregbarkeit fr die bei anderen zu erkennenden Ideen und Begriffe resultiert. Intuitiv, aber auch in formaler Hinsicht ist dies insofern plausibel, als ein Vermçgen, an anderen etwas achten bzw. schtzen zu kçnnen, zunchst eine anerkennende Haltung sich selbst gegenber voraussetzt, die jedenfalls ein asymmetrisches Verhltnis in die eine Richtung unmçglich macht: sich selbst nicht zu achten/zu schtzen, aber eine „wahrhaft empfundene Achtung“ gegenber anderen haben zu wollen. Demzufolge wre die Qualitt der dem anderen entgegengebrachten Achtung direkt von der graduellen Ausprgung der Selbstachtung/ Selbstschtzung der achtenden Person abhngig. Andererseits verbleibt ein deutliches Mißverhltnis in die andere Richtung: Die Selbstschtzung – und hier ist ausdrcklich der wertende bzw. wertsetzende Bezug gemeint – eines jeden einzelnen Individuums ist nicht von Prinzipien oder anderen objektiven Maßstben abhngig, sondern spiegelt lediglich die bloße und von Vorurteilen durchwirkte Meinung wider. Somit bestimmt die Einbildung eines jeden, er selbst habe am meisten recht in seiner Denkungsart, ausgehend von der kritiklos affirmativen Schtzung seiner selbst alle Achtungsverhltnisse und bietet einem exkludierenden Verhalten den entscheidenden Grund: jemandem die Achtung versagen – sei es, weil dieser der Begriffe und Ideen ermangelt, die ich zu haben fr mich in Anspruch nehme; sei es, weil ich selbst Begriffe und Ideen des anderen nicht zu empfinden imstande bin und mich aufgrund der Verschiedenheit in der Denkungsart verstndnislos abwende. Fr Helvetius ist es „gewiß, daß nothwendiger Weise ein jeder von sich den hçchsten Begriff habe, und man folglich an einem anderen nichts, als sein eigenes Bild und seine hnlichkeit ehre“. In dieser einfachen psychologistischen Charakteristik generieren sich moralische Wertbindungen ausschließlich gemß einer zuflligen bereinstimmung von vorherrschenden Meinungen innerhalb einer Gesellschaft, ein vom individuellen Dafrhalten unabhngiges Korrektiv ist nicht vorgesehen. Ein Volk von gegenseitig sich anerkennenden Schurken ist dann jedoch weniger ein bedauernswerter Irrweg menschlicher Vergesellschaftung als vielmehr ein anthropologisch berhaupt erst ermçglichter und damit unter Umstnden sogar notwendiger Fall. Der Autor schließt lapidar mit der Bemerkung, „die Kraft zu denken sey nichts als eine Sammlung von Begriffen, die dem Menschen ntzlich sind, sie mçgen unterrichtend oder angenehm sein, woraus denn folget, daß das persçnliche Interesse […] der einzige Richter des Verdienstes der Menschen ist“. An diesen abschließenden ußerungen von Helvetius lassen sich einige der wesentlichen Probleme explizieren, mit denen sich Kant in seiner

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Moralphilosophie auseinandergesetzt und eine umfassende und systematisch durchgearbeitete Lçsung versucht hat. Da wir an der Rekonstruktion der Konnotation und an einer systematischen Verortung von „sich selbst achten“ bzw. „schtzen“ interessiert sind, mssen wir noch eine Reihe von grundlegenden Fragen und berlegungen hinzufgen. Diese Bemerkungen dienen dabei einer Vorverstndigung ber den Ausgangspunkt und die intendierte Vorgehensweise, die mit der folgenden Textuntersuchung verbunden sind. Im Abschluß der vorliegenden Arbeit wird es darum gehen, vor dem Hintergrund dieser Textuntersuchung eine neu konzipierte Deskription und weiterentwickelte Auffassung von Selbstachtung vorzulegen, die zudem den darin enthaltenen normativen Implikationen gerecht zu werden versucht. Wenn mit Helvetius das „persçnliche Interesse“ als allein gltige Instanz zur Beurteilung des „Verdienstes der Menschen“ anzusehen ist, dann erfordert dieser als grundlegende Voraussetzung jedes Achtungsverhltnisses postulierte Selbstbezug offensichtlich eine kritische Revision: Die einseitige Bestimmung im Discurs hebt zwar die (wechselseitige) Notwendigkeit einer gewissen „Empfnglichkeit“ fr Schtzens- und Achtenswertes hervor, unterschlgt aber eine ebenso notwendige Untersuchung ber deren qualitativen Gehalt. Die Bemerkung, ein jedes Individuum beurteile allein seine eigene Denkungsart als rechtens und richte an diesem Maßstab seine Achtung anderen gegenber aus, erweist sich als unzutreffend und zudem zirkulr, wenn man den darin enthaltenen Anspruch wirklich ernst nimmt: Ein Selbst, welches imstande ist, sich zu sich selbst wertend zu verhalten, geht dann gnzlich in seiner singulren Bezglichkeit auf und bedarf keiner korrektiven Einflußnahme. Folglich kann ein solches Subjekt in anderen gar nicht sich selbst und nur sehr bedingt das seiner selbst hnliche schtzen, denn es selbst verkçrpert bereits die einmalige und alleinige Beurteilungsinstanz. Jegliche Achtungsbezeugung anderen gegenber steht somit unter dem Verdikt der eigenen Vorrangigkeit und muß zwangslufig hinter den Ansprchen der individuellen Selbstbewertung zurckbleiben. ber das verkrzte Verstndnis bei Helvetius hinaus wird jedoch eine wesentliche Tatsache, die unmittelbar auch systematische Relevanz beansprucht, in ihrer ganzen problematischen Dimension deutlich: Der Verweis auf die nicht mehr zu hintergehende Singularitt und damit jeweils einmalige und unwiederholbare Existenz eines Individuums zeigt gerade im wertenden Verhltnis zu sich selbst die Schwierigkeiten auf, die mit dem Versuch einer Beschreibung dieses Selbstbezugs verbunden sein mssen. Die individuell-lebensgeschichtliche Verfaßtheit ist in dieser Perspektive

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etwas Uneinholbares und Ausdruck einer paradoxen Kategorie: In ihr ist zwar jedes zu einem bestimmten Verhltnis zu sich selbst fhige Lebewesen einbezogen, gleichzeitig entzieht sich ein jedes zum Selbstbezug fhige Lebewesen einer solchen Kategorisierung, da es immer nur seine konkrete Selbstbezglichkeit sein kann, welches das wertende Selbstverhltnis ausmacht und bestimmt.119 Das Uneinholbare meint hier die Vergeblichkeit, sich in intersubjektiven Beziehungen vollstndig beschreiben und wiedergeben zu wollen, und damit die der phnomenalen Existenz eines Individuums verbleibende und fr andere nicht verfgbare Eigenstndigkeit. Offensichtlich ist mit der Aufdeckung dieser Diskrepanz nicht nur die in diesem Zusammenhang besonders relevante Frage nach dem Verhltnis von Selbstachtung/Selbstschtzung und (Menschen-)Wrde, sondern eine allgemein moralphilosophische Perspektive verknpft. In Anstzen war das Zusammenspiel von kategorialer Bestimmung moralischer Normen und Werte einerseits und Einsicht in die Notwendigkeit des tatschlichen performativen Vollzugs eines zu moralischem Handeln fhigen Individuums andererseits auch Kant bewußt. In seiner kritischen Pflichtenethik subsumiert er jedoch die genuine Selbstbezugnahme eines jeden moralisch verantwortlichen Individuums unter die schlechthin gegebenen Voraussetzungen, deren phnomenale Existenz unbezweifelbar gegeben ist.120 In systematischer Hinsicht versucht Kant dabei, die Achtung seiner selbst als autonomes und von Vernunftgrnden zum Handeln bestimmtes Wesen von einer bloß (moral-)psychologischen Verhltnisbestimmung abzugrenzen. Dies ist insofern konsequent, als die selbstbestimmte und vor allem mit Einsicht vorgenommene Unterwerfung seiner selbst unter die Gesetzmßigkeit der Vernunft zentrales Begrndungselement der kantischen Ethik sein soll und auch ist. Der Schwerpunkt liegt auf der Geltung moralischen Handelns, wohingegen die Genese weitgehend ausgeblendet wird. An dieser Schnittstelle wird ersichtlich, wie bedeutsam die Frage nach der Genese von Selbstverhltnissen ist und vor allem, welcher Status diesen 119 Die Rede vom „Uneinholbaren“ ist von Schweidler (2008) bernommen, bezieht sich jedoch im Unterschied zu diesem auf die Problematik des in einer generalisierenden Beschreibung schlicht uneinholbaren singulren Selbstbezugs, der aber als moralphilosophische Konstante zugleich umfassende systematische Voraussetzungen erfllen soll. In Schweidler (2010) wird allerdings mit Blick auf „die natrliche Grundlage der personalen Wrde“ und von Kant ausgehend die Gltigkeit des Sittengesetzes fr die Wrdebegrndung von Personen hervorgehoben, die sich selbst als solche verstehen (284 ff.). 120 Vgl. die Erçrterung in Abschnitt 1.2.3.

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Selbstbezugnahmen zukommt. Bei Helvetius haben wir eine zumindest intuitiv nicht ganz unplausible Auffassung kennengelernt: Jeder ist sich zunchst selbst der Nchste und hat aus dieser genuinen Perspektive gewisse Grnde dafr, sein Denken als „allein rechtens“ einzuschtzen. Aber hat diese Auffassung bereits moralische oder normative Implikationen? Und ist damit jede Selbstachtung/Selbstschtzung bereits in einen moralphilosophischen Beschreibungskontext eingebunden bzw. einzubinden? Um die Beantwortung dieser Fragen angemessen erçrtern zu kçnnen, werde ich im folgenden die relevanten moralphilosophischen Schriften Kants sowie weitere zeitgençssische Texte im Hinblick auf die darin enthaltenen Erluterungen zu affirmativen Selbstverhltnissen ausfhrlicher untersuchen, kritisch kommentieren und an einigen Stellen mit eigenen rekonstruktiven Ausfhrungen ergnzen. Dabei ist es im Sinne einer bersichtlichen und zugleich fokussierten Darstellung unumgnglich, eine Beschrnkung vorzunehmen. Es wird nicht der Anspruch erhoben, der Komplexitt der kantischen Ethik umfassend gerecht zu werden. Es bestehen werkgeschichtliche Divergenzen, die hier nicht vollstndig zu analysieren sind, bei gleichzeitiger Konstanz zentraler Konzepte, auf denen hier der Fokus liegt. Weiterfhrende Erklrungen zur Moralphilosophie Kants kçnnen daher nur dort erfolgen, wo sie fr das Verstndnis der Struktur und der Relevanz affirmativer Selbstverhltnisse erforderlich sind. 2.2.1 Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen (1764) Die frhe Schrift Kants Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen, die sich umfassend mit Fragen und Gedanken moralphilosophischer Art beschftigt, entbehrt noch der systematischen Przision, die den ausgereiften kritischen Schriften der achtziger Jahre die entsprechende Geltung und Bedeutung verschaffen wird. Es handelt sich gleichwohl hierbei nicht um den ersten Beitrag mit moralphilosophischen Implikationen.121 Obwohl Beobachtung und Beschreibung von Empfindungen 121 Bereits in den fnfziger Jahren sowie im Nachlaß, der die Arbeiten an den Kollegmanuskripten enthlt, finden sich entsprechende Belege. Fr die Analyse des Begriffs der Selbstschtzung ist jedoch die erstmalige Verwendung in einem gedruckten Text, dem Notizen im Nachlaß korrespondieren, ausschlaggebend. Zu den Grundlagen der kantischen Ethik siehe v. a. Schmucker (1961), des weiteren u. a. Henrich (1963), mit Bezug auf den „Hume der kantischen Ethik“ Henrich

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und weniger philosophische berprfungen im Mittelpunkt stehen, wie Kant gleich zu Beginn der Abhandlung anmerkt, ist doch im Vergleich mit den moralphilosophischen Hauptwerken vor allem die veranschlagte Methode bezeichnend: Whrend in den spteren Schriften, etwa in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785/86), gemß des transzendentalphilosophischen Ansatzes ein Verdikt gegen erfahrungsbasierte Begrndungen eingefhrt und konsequent behauptet wird,122 ist in den Beobachtungen der Ansatz leitend, aus allgemeinen Beschreibungen und in der Verbindung von sthetik und Moral eine Systematik abzuleiten. Die hier vorgebrachten sthetisch-ethischen berzeugungen erscheinen, insbesondere was die Zuweisung geschlechterspezifischer Eigenschaften sowie die Interpretation verschiedener Nationalcharaktere anbelangt, aus heutiger Perspektive zuweilen ungewohnt naiv. Im Ganzen betrachtet erçffnen die Bemerkungen in den Beobachtungen aber einen bereits sehr weitreichenden Einblick in die Konzeption der kantischen Ethik, deren Grundlinien in einigen Abschnitten des Aufsatzes entwickelt werden. Nicht zuletzt sind in diesem Zusammenhang einige Anmerkungen ber das Verhltnis von Erhabenem und Schçnem sowie von Achten und Lieben relevant fr unsere Begriffsanalyse.123

(1957/58) sowie in neuerer Zeit mit Verweis auf den Einfluß Baumgartens (den Henrich in seinem frhen Beitrag nicht ausfhrlich einbezieht) Schwaiger (2000). 122 So heißt es in der Vorrede, „[…] daß es von der ußersten Nothwendigkeit sei, einmal eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehçrt, vçllig gesubert wre […].“ (AA IV 389) Vgl. zur Begrifflichkeit von transzendental und Transzendentalphilosophie ausfhrlich Knoepffler (2001). 123 Neben dem verçffentlichten Text der Beobachtungen (AA II 205–256) gibt es die Bemerkungen zu den Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen (AA XX 3–192), bei denen es sich um handschriftliche Randnotizen und Aufzeichnungen auf den leeren Seiten des durchschossenen Handexemplars der Erstauflage handelt. Marie Rischmller hat in der Einleitung der von ihr besorgten Neuedition der Bemerkungen in Kant (1991), versehen mit hervorragenden Anmerkungen, den Status dieser Aufzeichnungen treffend als „Nebengedanken“ (XI) charakterisiert, die weder konzeptionell ausgearbeitet noch als etwaige Vorlage fr Vorlesungen oder eine berarbeitete Fassung der Beobachtungen gedacht gewesen sind. Gleichwohl sind einige Gedanken in diesen Notizen faßbar, denen keine Stellen in den Beobachtungen korrespondieren, weshalb sie in den folgenden Erçrterungen bercksichtigt werden, jedoch mit dem Vorbehalt, daß hierbei eben nicht ein autorisiertes und fr die Verçffentlichung bestimmtes Werk Kants vorliegt. Eine przise Ordnung und Kommentierung der Bemerkungen findet sich bei Schmucker (1961), 172–245.

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Im ersten Abschnitt unterscheidet Kant grundstzlich das feinere Gefhl fr das Erhabene und das Schçne von den grçberen Neigungen und Genssen sowie der Neigung, „welche auf hohe Verstandes-Einsichten geheftet ist“. Fr die Wahrnehmung und fr das eigentliche Haben dieses Gefhls wird dabei eine gewisse „Reizbarkeit der Seele vorausgesetzt, die diese zugleich zu tugendhaften Regungen geschickt macht“ (AA II 208). Ein bloß intuitives, „bei vçlliger Gedankenlosigkeit“ stattfindendes Vergngen erfllt somit nicht den Anspruch, den das verfeinerte Gefhl des Schçnen und Erhabenen im weiteren Fortgang der Untersuchung vor allem in bezug auf moralische Eigenschaften erfllen soll, die im zentralen zweiten Abschnitt nher benannt werden. Auffllig ist dort bereits im ersten Absatz die Zuordnung, der gemß erhabene Eigenschaften Hochachtung einflçßen, schçne Eigenschaften hingegen Liebe erwecken.124 „Schtzen“ und „achten“ werden hierbei synonym verwendet, denn es heißt kurz darauf erklrend: „Man schtzt manchen viel zu hoch, als daß man ihn lieben kçnne.“ (AA II 211) Zwischen den beiden Polen Achtung/Schtzung und Liebe, denen das Erhabene und das Schçne korrespondieren,125 sind nun verschiedene Dispositionen gruppiert, so etwa die Unterscheidung von Freundschaft (erhaben) und Geschlechterliebe (schçn), wobei diese mit „Zrtlichkeit und tiefe[r] Hochachtung“ verbunden durchaus „eine gewisse Wrde und Erhabenheit“ (AA II 211 f.) zu erlangen fhig ist. Gleich zu Beginn des Abschnitts wird somit eine signifikante begriffliche Verbindung von Wrde, Erhabenheit und Achtung eingefhrt, die bestimmend fr die gesamten Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen ist. Das wechselseitige Verhltnis, welches innerhalb des Gefhls des Schçnen und Erhabenen zum Tragen kommt, lßt sich laut Kant etwa am Beispiel der dramatischen Dichtung verdeutlichen: Insbesondere das im Trauerspiel vorgestellte menschliche Schicksal lçst beim Betrachter die Empfindung von Liebe – „schwermthig, zrtlich und voll Hochachtung“ – und damit ein Gefhl fr die „Wrde seiner eigenen Natur“ aus. (AA II 212) Die Auffhrung und Inszenierung von, aber auch bereits die alltgliche Konfrontation mit den lebensweltlichen Kontexten anderer Menschen ist dabei Bedingung fr die Erfahrung eigener Beteiligung an einem gegebenen sozialen Umfeld und einer darber vermittelten Selbst124 Vgl. AA XX 52: „Das schçne wird geliebt das edle geachtet das hsliche mit ekel das unedle verachtet.“ 125 AA XX 3: „Ein Mensch kann auf den anderen zweyerley vortheilhafte Rhrung machen der Achtung u der Liebe jene durch das Erhabene diese durch das schçne.“

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wahrnehmung sowie – im Sinne eines verstehenden Empfindens – von Anteilnahme. Diese Form oder Ausprgung der Liebe stellt somit, im Gegensatz zur „lustig und vertraulich“ wirkenden Liebe im Lustspiel ein notwendiges Korrelat zur Empfindung des Erhabenen oder, wie Kant auch sagt, des Edlen dar. Aber es ist nicht nur diese gefhlte Verbundenheit mit anderen Menschen und die darin sowie in allen Handlungen sich ausdrckende Selbstbezglichkeit, die in diesem Gefhl wirksam ist: Das Erhabene und Schçne tritt als sinnliches Gefhl und damit „ohne durch Vernunft geprft zu sein“ in den verschiedensten Fllen auf – selbst mit Blick auf lasterhafte Handlungen und „moralische Gebrechen“ (AA II 212) sowie auf die Statur und das gesamte ußere Erscheinungsbild (Habitus) einer Person wird das Erhabene und Schçne als ein Kriterium im Zusammenhang einer ganzheitlichen Bewertung verstanden. (Vgl. AA II 212 f.) Mit diesen Bemerkungen entsteht der nicht ganz unbedeutende Eindruck, als seien beinahe alle angenehmen Lebensußerungen entweder dem Schçnen oder dem Erhabenen zuzuordnen und dabei immanent aufeinander bezogen. Folgt man dieser berlegung, dann wrden sich diese beiden Empfindungen insofern wechselseitig bedingen, als ein Weniger des einen zugleich ein Mehr des anderen ist.126 Tatschlich legt der Titel der Abhandlung zunchst die Vermutung nahe, es handle sich bei dem Gefhl fr das Schçne und das Erhabene zwar nicht um ein Gefhl im Sinne einer Identitt, aber doch um eine komplementre Beziehung zweier Ausprgungen eines Gefhlszustandes, dessen jeweilige Wirkung als angenehme Empfindung zumindest eine sehr starke hnlichkeit aufweist. Aber das Verhltnis zwischen Schçnem und Erhabenem scheint komplexer und vielschichtiger, vor allem jedoch voraussetzungs- und, wie noch zu zeigen sein wird, folgenreich zu sein. Bereits im ersten Abschnitt der Abhandlung war in ein Gefhl fr das Schçne und ein Gefhl fr das Erhabene unterschieden worden, eine Aufteilung, die an der Verschiedenartigkeit dessen orientiert ist, worauf das Gefhl bezogen ist. Hierbei ist die zweifache Blickrichtung und Verortung entscheidend: Erhabenes und Schçnes entstehen einerseits nicht einfach als spontane Empfindung im 126 So mit Verweis auf die weibliche Charakteristik, in der sich Achtung und Liebe vereinbaren: „Diese zusammengesetzte Empfindung ist der grçßeste Eindruck der auf das menschliche Herz nur geschehen kan. Es kçnnen aber nur zwey matte Empfindungen gleich stark seyn. Soll eine von beyden Stark seyn so muß die andere schwach seyn. Nun frage man sich welche von beyden man schwchen wolle.“ (AA XX 3)

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Verlauf der Konfrontation mit einer Sache oder Handlung, sondern sind, so sind Kants Ausfhrungen zu verstehen, als eine Art von Eigenschaft in diesen Dingen begrndet. Das Gefhl des Erhabenen und das Gefhl des Schçnen entstehen, weil das Betrachtete erhaben oder schçn ist. Andererseits liegt es am fhlenden Individuum, welches fr ein Gefhl empfnglich sein muß, ob und in welcher Intensitt Erhabenes und Schçnes berhaupt empfunden wird. Unter der vorausgesetzten Allgemeinheit des schçnen oder erhabenen Charakters von betrachteten Dingen oder Handlungen wird die Empfnglichkeit fr das „sinnliche Gefhl“ somit zu einer Bedingung fr die weitergehende Bestimmung in bezug auf moralische Eigenschaften. Denn dieses Gefhl lßt sich durchaus als eine Art Instrumentarium beschreiben, dessen bloßes Vorhandensein zwar zunchst weitgehend vorausgesetzt werden kann, dessen bewußte Verfeinerung und damit reflektierte ,Handhabung‘ jedoch keineswegs bei allen Individuen in einer Gesellschaft in gleichem Maße ausgeprgt ist. Die Ausfhrungen bis hierin gestehen implizit ein, dass es eine unvermeidliche Relativitt in der Bewertung und Zuordnung eines Gefhls gibt, das von der jeweiligen Situation und den beteiligten Individuen abhngt. Als ein Empfinden des Geschmacks und damit als eines Urteils, welches keine Erkenntnis verbrgt, sondern sthetisch-kontemplativ dem allgemeinen Wohlgefallen entspricht, wird das Gefhl fr das Schçne und das Erhabene nun mit Blick auf die moralischen Eigenschaften in Verbindung mit Grundstzen gebracht. Whrend zuvor das Schçne gleichberechtigt neben dem Erhabenen stand und sich ein Unterschied lediglich in der Art der empfundenen sthetischen Wirkung bemerkbar machte, wird im Bereich der Moral ein Kriterium zugunsten des Erhabenen eingefhrt: Die „wahre“ und erhabene Tugend bezieht sich als wirklich tugendhafte Gesinnung auf „hçhere Grundstze“ und evoziert damit eine „Haltung“, der bloß schçne, gleichwohl sittliche Handlungen nicht entsprechen kçnnen. In den zwei wesentlichen Spielarten des schçnen und liebenswerten Gefhls, dem Mitleid und der Geflligkeit gegenber anderen, sind somit zwar Handlungen zu erblicken, die in ihrer Erscheinung und Wirksamkeit durchaus den Handlungen hneln, die aus „den allgemeinen Regeln der Tugend“ hervorgehen. Allerdings bleiben sie in Ermangelung einer weitergehenden Verbindlichkeit bloß zufllig. (Vgl. AA II 215 ff.) Wie problematisch eine solche Zuordnung im lebensweltlichen Kontext sein kann, zeigt eine auffllige Passage, in der es um die Wirkung der sogenannten „ußerlichen Glcksumstnde“ auf die Empfindung des

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Gefhls geht, zumindest „nach dem Wahne der Menschen“, wie Kant nicht ohne Kritik vermerkt: Geburt und Titel finden die Menschen gemeiniglich zur Achtung geneigt. Reichthum auch ohne Verdienste wird selbst von Uneigenntzigen geehrt, vermuthlich weil sich mit seiner Vorstellung Entwrfe von großen Handlungen vereinbaren, die dadurch kçnnten ausgefhrt werden. Diese Achtung trifft gelegentlich auch manchen reichen Schurken, der solche Handlungen niemals ausben wird und von dem edlen Gefhl keinen Begriff hat, welches Reichthmer einzig und allein schtzbar machen kann. Was das bel der Armuth vergrçßert, ist die Geringschtzung welche auch nicht durch Verdienste gnzlich kann berwogen werden […]. (AA II 213)

Whrend die Achtung gegenber Stand und Amt demzufolge weitgehend unstrittig zu sein scheint, obwohl der Trger einer solchen Standes- und Amtswrde der çffentlichen Wertschtzung in seinen konkreten Handlungen ja nicht unbedingt entsprechen muß, fllt hier besonders die Form der Ehrung und Wrdigung auf, die mit dem materiellen Wohlstand in Verbindung gebracht wird. Sie vollzieht sich auf zwei Stufen: Selbst wenn der verstndliche Fall des Eigenntzigen weggelassen wird, der dem Wohlhabenden bekanntlich nur um des eigenen Vorteils willen schmeichelt, so erweist sogar der Uneigenntzige dem Wohlhabenden eine gewisse Ehrung, auch wenn dessen Wohlstand nicht zusammen mit Verdiensten und mit „dem edlen Gefhl“ auftritt. In einer rein quantitativen Bestimmung hat somit die Hochschtzung von Wohlstand als materielles Gut zunchst mit der impliziten Unterstellung von Erfolg und bereits bewhrter Tatkraft zu tun, von der auf vergleichbare zuknftige Handlungen geschlossen wird. Seinen wirklichen und damit qualitativen Wert erhlt der Wohlstand des Wohlhabenden aber erst mit der tatschlichen Verwirklichung der diesem Wohlstand entsprechenden Handlungen. Diese verwirklichten Handlungen machen den Wohlstand dann in einem erweiterten Sinne „schtzbar“, da nun nicht mehr nur numerisch die jeweiligen Vermçgensstnde verglichen, sondern die mit diesen Vermçgensstnden verbundenen Mçglichkeiten auf ihre Konkretisierung in entsprechenden Taten hin untersucht und bewertet werden kçnnen. Thomas Abbt gibt in Vom Verdienste folgende begriffliche Bestimmung: Die mit „dem edlen Gefhl“ einhergehenden Verdienste bezeichnen (1) Handlungen und Ttigkeiten, die aus (2) freier Entschließung und reinen Ansichten bzw. aus Wohlwollen sowie (3) unter Anstrengung der eigenen Seelenkrfte (4) einem anderen zum Nutzen sowie (5) zu einem erheblichen

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Zwecke erwiesen werden.127 Das Verdienst eines jeden einzelnen Menschen besteht in der Anzahl und Summe der Handlungen, die das Wohlergehen der Mitmenschen in Beziehung auf diese Aspekte zum Ziel haben. Es liegt in dieser Auffassung von Verdienst ein komplexes Relationsverhltnis der Zu- und Abnahme vor: Die Summe aller Handlungen kann insgesamt grçßer oder kleiner sein und auch die Handlungen selbst kçnnen mit Blick auf eine çffentliche Wirkung ausgebreiteter oder eigenntziger sein. Doch das allgemeine Ziel der Handlungen wird als erhabener oder niedriger, das Wohlwollen des Handelnden als reiner oder vermischter und dessen seelische Krfte als mit mehr oder weniger Anstrengung agierend beschrieben. Allerdings ist der einzige Aspekt in diesem Bewertungsverhltnis, der sich im Rckblick auf vergangene Ereignisse als „unwgbar“, also nicht vergleichend zu schtzen erweist, das tatschliche Wohlwollen des Handelnden, obwohl „Menschenliebe und Billigkeit“, wie Abbt betont, den Akteuren ein solches Wohlwollen in den meisten Fllen unterstellen.128 Abgesehen von dieser Schwierigkeit ist es fr den Vorgang der Bewertung eines mçglichen Verdienstes erforderlich, einen standardisierten Gesichtspunkt anzunehmen, um eine angemessene Verhltnisbestimmung der genannten Aspekte zu ermçglichen, da anderenfalls alle Einschtzungen fehlerhaft sind. Fr Abbt kann diese Bezugnahme nur aus dem Blickpunkt des ffentlichen heraus erfolgen, denn die Dankbarkeit, die man als einzelner einem Wohltter, der etwas fr einen selbst getan hat, schuldig ist, lßt sich nicht in ein Relationssystem der Art ,hohe Verdienste > große Verdienste > schçne Verdienste > Verdienste‘ einordnen. Dieser Wohltter kann zwar etwas spezifisch Verdienstvolles in bezug auf den einzelnen Empfnger

127 Vgl. Abbt (1768), 10 f. Zitiert wird nach der verbesserten und von Friedrich Nicolai verlegten zweiten Berliner Auflage; der Neudruck (Kçnigstein, 1978) gibt die 1766 in Goslar und Leipzig erschienene zweite Auflage wieder. Ob Kant Verçffentlichungen von Abbt kannte, lßt sich nicht nachweisen, obwohl dieser als Mitarbeiter bei den Briefen, die neueste Litteratur betreffend (1733–1765) trotz blicher Anonymisierung sicher nicht ganz unbekannt war. Die hier gegebene Bestimmung kann jedoch zumindest das zeitgençssische Verstndnis des Begriffs Verdienst verdeutlichen. 128 Selbst der wohlttig Handelnde ist darauf angewiesen, eine faktisch wohlwollende Gesinnung einzubeziehen und vor allem zu fordern, denn in seinem Handeln ist es ihm schlicht unertrglich, wenn die von seiner Wohlttigkeit profitierenden Mitmenschen nach diesem zunchst vorausgesetzten Wohlwollen forschen und es dann bei nherer Prfung nicht vorfinden. Vgl. Abbt (1768), 11 f.

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seiner Wohltat getan haben, allerdings ist diese singulre Handlung damit nicht zwangslufig fr die ffentlichkeit verdienstvoll.129 Anhand dieser Diskussion wird deutlich, wie verschrnkt die jeweiligen Verhltnismßigkeiten in der Schtzung und Bewertung von Personen sind: Whrend der Wohlhabende bereits aufgrund seines materiellen Wohlstands hçher geschtzt ist und diesem Anspruch durch entsprechende (çffentliche) Verdienste gerecht werden kann, sieht sich sein rmerer Mitmensch mit einer Geringschtzung aufgrund der nicht vorhandenen weltlichen Gter konfrontiert, die erst durch Verdienste zu kompensieren, wenngleich nicht vçllig auszugleichen ist (siehe obiges Zitat). Daraus resultiert unmittelbar eine Spannung zwischen der çffentlichen Wahrnehmung und Bewertung sowie der Selbsteinschtzung des einzelnen: Wie sich der einzelne selbst bewertet und schtzt, hngt sowohl von der çffentlichen und somit auf den Vergleich zwischen den Handelnden in einer Gesellschaft bezogenen Einschtzung als auch von der Adquatheit der Selbsteinschtzung ab, wobei letztere sich vor allem auf die selbstkritische Revision des eigenen Wohlwollens im Handeln beziehen drfte. Diese Doppelbezglichkeit lßt jedoch den çffentlichen wie den individuellen Aspekt nicht gnzlich ineinander aufgehen. Was der einzelne an sich selbst und um seiner selbst willen schtzt, kann nicht in vollem Umfang einer çffentlichen Vergleichung ausgesetzt sein (und muß es auch nicht), whrend in dem, was die ffentlichkeit am einzelnen zu wrdigen weiß, sich zwar ausschließlich der Maßstab einer Bewertung zeigt, der einer solchen Vergleichung entspricht, dieser bildet aber wiederum eine wesentliche Grundlage fr die individuelle Selbsteinschtzung. Fr Abbt ist also fr das Verdienstvolle ein çffentlicher Maßstab unabdingbar, dieser muß aber zudem mit der individuellen und vor allem hinreichend kritischen Selbsteinschtzung korrelieren.130 129 Wobei selbstverstndlich ein gleichzeitiges Verdienst in bezug auf einen einzelnen und die ffentlichkeit nicht per se ausgeschlossen ist, so etwa wenn die einzelne Handlung konkreter Ausdruck und Beispiel einer Haltung und damit Teil der Summe aller Handlungen ist, die mit den anderen Aspekten kombiniert das Verdienst ausmachen. Vgl. zu diesem Abschnitt Abbt (1768), 191 f. 130 In diesem Sinne ist der aufschlußreiche Passus bei Abbt (1768), 192, zu verstehen: „Die Dankbarkeit, welche ein Mensch seinem Wohltter, das heißt dem, der Verdienste um ihn besitzet, fr sich schuldig ist […].“ Einem Wohltter schuldet der einzelne Dankbarkeit, und zwar um seiner selbst willen, denn es ist seine Pflicht, fr eine erwiesene Wohltat zu danken, selbst wenn sich herausstellen sollte, daß das in Rede stehende Verdienst gar nicht auf reinem Wohlwollen, sondern auf eigenntzigen Motiven des Wohltters gegrndet war und damit, von einem çffentlichen Blickpunkt aus betrachtet, nicht mehr als Verdienst in einem umfas-

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Kant sieht die Ursache dafr, „daß man sich nur vergleichungsweise schtzt“, in den Umgangsformen der Gesellschaft, deren Prinzip der Vergleichung sich mit leiser Ironie so ausdrcken lßt: „Sind andre nicht besser als ich so bin ich gut sind alle schlechter so bin ich vollkommen.“ (AA XX 95)131 Der einzelne kann in dieser Perspektive lediglich in dem Maße hervorragend erscheinen, wie sein Gegenber sich in negativer Hinsicht von ihm unterscheidet, so wie auch der Wohlhabende sich als ein solcher nur im Kontrast mit einem mittellosen Menschen begreifen kann. Der Maßstab des ffentlichen ist damit zwar offenkundig gegeben, aber das Verdienst gebhrt dann jedem, der sich in irgendeiner Weise vor seinen Mitmenschen hervortut, vçllig unabhngig von der Art seiner Handlung. Aber was schtzt man dann angesichts solch willkrlicher Einordnungsprinzipien eigentlich an sich selbst? Einige Formulierungen in den Beobachtungen und mehr noch die Notizen in den Bemerkungen untersttzen die Vermutung, daß Kant bereits in den ersten Versuchen, einen moralphilosophischen Standpunkt zu entwickeln, bei dieser Frage eine in Anstzen differenzierte Betrachtung zugrunde legt, die mit einigen Ergnzungen folgendermaßen zu rekonstruieren ist: Die Selbstschtzung kann einerseits als ein Verfahren betrachtet werden und steht dann fr den Vorgang der Selbsteinordnung in ein gesellschaftliches Koordinatensystem. Diese Form der Selbstschtzung als Selbsteinschtzung entspricht den bisherigen Erluterungen zu Ansehen bzw. Verdienst und setzt ein gewisses Urteilsvermçgen voraus. Als eine Fhigkeit, die mehr oder weniger adquat ausgeprgt sein kann, unterliegt diese Einschtzung seiner selbst mçglichen Fehlbewertungen in zweifacher Hinsicht: (a) Der sich selbst Einschtzende orientiert sich an Vergleichsmaßstben, die in seinem gesellschaftlichen Umfeld wirksam und die Grundlage fr die Bewertung individueller Leistungen sind. Bestimmte Standes- oder Ehrvorstellungen kçnnen diese Maßstbe verzerren, eine bereits bestehende Ungleichheit weiter tradieren und zu stark vorurteilsbehafteten Vorstellungen von den geltenden Beziehungen innerhalb einer senden Sinne angesehen werden kann. Dies wirkt sich dann unmittelbar auf die Angemessenheit der Selbstschtzung aus. 131 Nicht zu bersehen ist hierbei die negative Konnotation im Verweis darauf, „daß man sich nur vergleichsweise schtzt“ [Hervorh. F.B.], denn dieses „nur“ bezeichnet im Sprachgebrauch Kants meist das ausschließliche und damit einschrnkende Moment einer solchen Handlung, wobei etwa mit „bloß“ – teils im Gegensatz zum heutigen Sprachgebrauch eine nicht-pejorative Beschreibung im Sinne von „einfach, schlicht“ vorliegt.

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Gesellschaft fhren.132 (b) In der Betrachtung und Bewertung seiner eigenen Person ist der sich selbst Einschtzende der Gefahr ausgesetzt, die individuelle Einordnung seiner selbst in ein gesellschaftliches Umfeld auf eine unangemessene Weise vorzunehmen. Dieser Fall tritt ein, sobald jemand zwar die in der Gesellschaft geltenden Maßstbe erkannt hat und sich daran orientiert, jedoch in den Augen seiner Mitmenschen seine eigene Rolle und damit seinen eigenen Standpunkt falsch einschtzt, sich also selbst ber- oder unterbewertet in den Vergleich begibt. Neben dieser Bestimmung als ein Verfahren ist mit Selbstschtzung zudem ein erreichter Status im Verhltnis zu sich selbst und damit eine Haltung verbunden, die auf Grundstzen beruht. Kant sieht diese Art der Selbstschtzung als einen Ausdruck des Erhabenen an, die sich von der bloß verhltnismßigen Schtzung durch ein souvernes und unabhngiges Bewußtsein von der Rechtmßigkeit und Angemessenheit des eigenen Standpunktes unterscheidet.133 Da das Erhabene unmittelbar Achtung hervorruft, scheint mit einer solchen Selbstschtzung zumindest ansatzweise ein Konzept auf, welches gemß heutiger Diktion mit dem Ausdruck „Selbstachtung“ bezeichnet wird. Doch selbst diese gefestigte Art von Selbstschtzung ist von mçglichen Irrtmern nicht frei. Was Grundstze eigentlich sind und inwiefern sie sich etwa von stçrrischer Beharrlichkeit und Uneinsichtigkeit unterscheiden, bedarf einer weitergehenden Analyse, fr die Kant den Grundstein legt, wenn er den Kontrast von sogenannten echten und adoptierten Tugenden erçrtert. Beide Varianten der Selbstschtzung eint die Bezogenheit auf eine proportionale Relation, die auf Ausgewogenheit und ein Mittelmaß zwischen extremen Positionen abzielt.134 Diese Orientierung erinnert zwar 132 Vgl. AA XX 10: „Die Verhltnismßige Schtzung ist zwar unnothig aber im Stande der Ungleichheit u. Ungerechtigkeit ist es gut sich mit einem gewißen Stoltz oder wenigstens gleichgltigkeit gegen die aufgeblasenen Großen zu setzen um gegen Gringere gleich zu seyn“. 133 Dazu noch einmal umfassend die bereits zitierte Textstelle: „Ein Mensch kan auf den anderen zweyerley vortheilhafte Rhrung machen der Achtung u. der Liebe jene durch das Erhabene diese durch das schçne. Das Frauenzimmer vereinbart beyde. Diese zusammengesetzte Empfindung ist der grçßeste Eindruck der auf das menschliche Herz nur geschehen kan. Es kçnnen aber nur zwey matte Empfindungen gleich stark seyn. Soll eine von beyden Stark seyn so muß die andere schwach seyn. Nun frage man sich welche von beyden man schwchen wolle. Grundstze sind von der grçßesten Erhabenheit, z.E. die Selbstschtzung fodert aufopferung.“ (AA XX 3; Hervorh. F.B.) 134 Whrend diese Auffassung im eigentlichen Text lediglich in einer Fußnote explizit gemacht wird („In so fern die Erhabenheit oder Schçnheit das bekannte Mittelmaß

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merklich an die Konzeption der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, allerdings waren, wie noch zu zeigen sein wird, andere Gewhrsmnner bestimmender fr Kants Auffassung in den Beobachtungen. 135 Deutlich wird dies durch die nhere Betrachtung der wichtigen Argumentation im zweiten Abschnitt, in der die zunchst als eine einheitliche Fhigkeit zur Erfassung des Schçnen und Erhabenen verstandene Regung weiter analysiert und in dieser Form auf Moral und Ethik angewandt wird. Nachdem Kant das Hervortreten des Gefhls des Schçnen und Erhabenen in den verschiedensten Bereichen, in denen es hervortritt, verortet hat, wendet er sich schließlich dem zentralen Gegenstand seiner Untersuchung zu: In moralischen Eigenschaften ist wahre Tugend allein erhaben. Es giebt gleichwohl gute sittliche Qualitten, die liebenswrdig sind und, in so fern sie mit der Tugend harmoniren, auch als edel angesehen werden, ob sie gleich eigentlich nicht zur tugendhaften Gesinnung gezhlt werden kçnnen. (AA II 215)

Bemerkenswert ist die Differenzierung, mit der Handlungen aufgrund dessen bewertet werden, ob sie von Grundstzen der Tugend ausgehen, oder ob sie mit einer Gemtsverfassung des gtigen Gefhls gegenber anderen Menschen geschehen. Letztere sind Handlungen, „auf welche zwar auch die Tugend hinauslaufen wrde, allein aus einem Grunde, der nur berschreitet, so pflegt man sie romanisch zu nennen.“ (AA II 214)), bekennt sich Kant in den Bemerkungen wesentlich offener: „Ich lobe mir die Mittelmßigkeit. Guter zufriedener Brger.“ (AA XX 123) Da der zweite Satz auch als Genitiv angesehen werden kann, kçnnte es sich trotz der Interpunktion um eine entsprechende Ergnzung des ersten Satzes handeln, womit ein Bezug des angestrebten Mittelmaßes zu einer Gesellschaft hergestellt wrde (dafr spricht auch das Umfeld des Zitats, s.d.). Darber hinaus ist der gesamte erste Teil des zweiten Abschnitts der Beobachtungen von anthropologischen Charakterisierungen durchzogen, die in Gegenberstellungen und verschiedenartigen Abstufungen menschlichen Verhaltens die Abweichung vom normierten Standard des Erhabenen und Schçnen kenntlich machen sollen (vgl. AA II 212–215); vgl. die Begrndung: „In der menschlichen Natur finden sich niemals rhmliche Eigenschaften, ohne daß zugleich Abartungen derselben durch unendliche Schattirungen bis zur ußersten Unvollkommenheit bergehen sollten.“ (Ebd., 213) 135 Kant war mit den Schriften von Aristoteles vertraut (die gesammelten Opera fanden sich im Nachlaß, vgl. Warda (1922), 45). Er bezieht sich jedoch in seinem eigenen Werk vor allem auf dessen metaphysische Schriften. Eine Ausnahme bildet die explizite Kritik in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, in der die Bestimmung der Tugend als „Mittlere[s] zwischen zwei Lastern“, wie sie Aristoteles vornimmt, als falsch bewertet wird. (AA VI 404; wiederholt im Abschnitt „Vom Geize“ AA VI 432 ff.)

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zuflliger Weise damit bereinstimmt“ und die eben deshalb „den allgemeinen Regeln der Tugend auch çfters widerstreiten“ kçnnen. (AA II 215) Kant nimmt hier eine Unterscheidung vor, die sich spter zu einem wesentlichen Element seiner ausgereiften Ethik entwickelt: Handlungen sind nicht ausschließlich daraufhin zu befragen, welche konkrete und je nach Situation variierende Wirkung sie zeitigen, sondern nach der Allgemeinheit der Bewertungskriterien, die der Handelnde seiner Entscheidung zugrunde legt. Er leugnet damit nicht die Schçnheit und Liebenswrdigkeit von Handlungen aus dem Gefhl des Mitleidens und der Geflligkeit heraus, bringt sie jedoch in die richtige Verbindung mit den Grundstzen tugendhaften Handelns, indem er die Inkonsistenz des bloß gtigen Gefhls aufweist. Wer sich allein diesem Gefhl berlßt, riskiert den sicheren Verlust des „hçhern Standpunkte[s]“, der diese Regung „in das wahre Verhltniß gegen [die] gesammte Pflicht versetzt“ (AA II 216). Einzig die „allgemeine Wohlgewogenheit gegen das menschliche Geschlecht“ als ein Grundsatz aller Handlungen wahrt die „strenge Pflicht der Gerechtigkeit“ (ebd.), die zwar von einer sympathischen Neigung fr menschliche Not und Bedrfnisse nicht frei ist, sich von dieser aber gerade nicht bestimmen lassen soll. Das Gefhl des Schçnen und Erhabenen war in den vorangegangenen Erluterungen bereits als ein Verhltnis charakterisiert worden, in welchem innerhalb einer gleichartigen Empfindung nicht-gestufte bergnge zwischen Schçnem und Erhabenem erfolgen, wobei die zwischen diesen Polen angeordneten Charaktere und Formen jeweils mehr oder weniger Anteil an diesen idealen Endpunkten haben. Indem diese graduelle Relation nun auf die Bewertung menschlicher Handlungen bezogen wird, ergibt sich ein zweifaches Gefge: Einerseits versucht Kant, in der Gleichsetzung von Erhabenheit mit echter Tugend sowie von Schçnheit mit adoptierter Tugend (bzw. Gutherzigkeit) eine Parallele zum bisher Gesagten aufzuweisen.136 Dies ist zunchst ein schlssiges Vorgehen, denn neben diesen beiden hnlichen Formen moralischen Handelns137 soll noch eine weitere Moti136 AA II 217 f.: „Mitleiden und Geflligkeit sind Grnde von schçnen Handlungen, die vielleicht durch das bergewicht eines grçberen Eigennutzes insgesammt wrden erstickt werden, allein nicht unmittelbare Grnde der Tugend, […] da sie durch die Verwandtschaft mit ihr geadelt werden, sie auch ihren Namen erwerben. Ich kann sie daher adoptirte Tugenden nennen, diejenige aber, die auf Grundstzen beruht, die chte Tugend.“ 137 AA II 218: „Diese adoptirte Tugenden haben […] mit den wahren Tugenden große hnlichkeit, indem sie das Gefhl einer unmittelbaren Lust an gtigen und wohlwollenden Handlungen enthalten.“

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vation unterschieden werden, bei der „das Urtheil anderer den Werth von uns und unsern Handlungen“ bestimmt, so daß diese also „bloß um des ußeren Scheines willen“ und damit aus „Ehrbegierde“ erfolgen. Das „nicht im mindesten tugendhaft[e]“ Ergebnis einer solchen Haltung nennt Kant Tugendschimmer. 138 Indem die wahre und die bloß adoptierte Tugend in einer einheitlichen Gefhlsregung zusammengefaßt sind, gelingt die beabsichtigte Trennung von den ritualisierten Handlungen, die um der rein ußerlichen Anerkennung willen vollzogen werden. Doch andererseits konterkariert die Verbindung von wahrer Tugend mit Grundstzen das bisherige relationale Konstrukt: Wenn die genannte Parallele in der Gefhlsempfindung von Schçnem und Erhabenem Bestand haben soll, dann mssen zwischen bloß adoptierten und wahren tugendhaften Handlungen graduelle Mischformen bestehen. Einer solchen Verhltnisbestimmung widerspricht jedoch offensichtlich die Einfhrung von Grundstzen, denn diese sind als solche nicht relativierbar. Beide Bestimmungen lassen sich miteinander vereinbaren, wenn die von Kant prononcierte Verbindung von Grundstzen mit dem Gefhl ernst genommen wird: Tatschlich kçnnen Grundstze gemß seiner Auffassung mehr oder weniger allgemein sein, weshalb eine Handlung zwar durch Grundstze bestimmt sein kann und daraus ihren Antrieb erhlt, zudem jedoch auch als etwas Schçnes empfunden wird.139 Entscheidend ist, welcher Impuls fr eine Handlungsentscheidung den maßgeblichen Ausschlag gibt: Sobald Grundstze mit einer minimalen allgemeinen Verbindlichkeit den Ausgangspunkt fr eine Handlung darstellen, befinden wir uns bereits im Bereich der wahren Tugend, obwohl eine solche Handlung noch von einem starken Gefhl der schçnen Annehmlichkeit begleitet sein mag und schwerlich als Pflicht begriffen wrde. Jene Grundstze werden von Kant als „Bewußtsein eines Gefhls, das in jedem menschlichen Busen lebt und sich viel weiter als auf die besonderen Grnde

138 AA II 218: „Es ist auch diese Neigung nicht einmal so nahe wie die Gutherzigkeit der chten Tugend verwandt, weil sie nicht unmittelbar durch die Schçnheit der Handlungen, sondern durch den in fremde Augen fallenden Anstand derselben bewegt werden kann. Ich kann demnach, da gleichwohl das Gefhl fr Ehre fein ist, das Tugendhnliche, was dadurch veranlaßt wird, den Tugendschimmer nennen.“ 139 AA II 217: „Demnach kann wahre Tugend nur auf Grundstze gepfropft werden, welche, je allgemeiner sie sind, desto erhabener und edler wird sie.“

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des Mitleidens und der Geflligkeit erstreckt“, sowie als „das allgemeine moralische Gefhl“ bezeichnet.140 Ich glaube, ich fasse alles zusammen, wenn ich sage, es sei das Gefhl von der Schçnheit und der Wrde der menschlichen Natur. Das erstere ist ein Grund der allgemeinen Wohlgewogenheit, das zweite der allgemeinen Achtung, und wenn dieses Gefhl die grçßte Vollkommenheit in irgend einem menschlichen Herzen htte, so wrde dieser Mensch sich zwar auch selbst lieben und schtzen, aber nur in so fern er einer von allen ist, auf die sein ausgebreitetes und edles Gefhl sich ausdehnt. Nur indem man einer so erweiterten Neigung seine besondere unterordnet, kçnnen unsere gtige Triebe proportionirt angewandt werden und den edlen Anstand zuwege bringen, der die Schçnheit der Tugend ist. (AA II 217; Hervorh. im Original)

Im Zusammenhang mit dieser Bemerkung sind mehrere Punkte aufschlußreich: (1) In seinen Ausprgungen birgt das Gefhl von der Schçnheit und Wrde der menschlichen Natur ein bestimmtes Verhltnis, welches allerdings kein gleichwertiges ist. Whrend das bloße Gefhl fr das Schçne oder Angenehme einer Handlung bestehen kann, ohne bestimmter Grundstze zu bedrfen, zeigt sich im Gefhl fr die Wrde der menschlichen Natur zugleich eine Empfindung fr die Schçnheit der entsprechenden Handlung. Wie die insgesamt drei Varianten des Gefhls miteinander zusammenhngen, lßt sich anhand der Typologie von Gemtsarten verdeutlichen, die Kant in diesem Abschnitt im Anschluß an die zuvor herausgearbeitete Gefhlstheorie vorstellt: Dem melancholischen Gemt eignet demzufolge ein „inniges Gefhl fr die Schçnheit und Wrde der menschlichen Natur“, um „auf einen allgemeinen Grund seine gesammte Handlungen zu beziehen“, wohingegen das sanguinische Gemt sich durch „Gutherzigkeit, eine Schçnheit und feine Reizbarkeit des Herzens“ auszeichnet, die jedoch „dem Wechsel der Umstnde sehr un140 Die Auffassung, nach der Grundstze in gewisser Hinsicht relativierbar sind und mit dem Gefhl korrespondieren, ist problematisch, denn sie fhrt unmittelbar in eine subjektivistische Begrndung moralischen Handelns, deren allgemeine Gltigkeit dann nicht mehr aufzuweisen ist. Henrich (1957/58), 51 ff., hat darauf hingewiesen, wie ablehnend Kant einer Begrndung der Moral bloß aus einem moralischen Gefhl heraus gegenber gestanden haben muß, bezieht sich dabei jedoch vor allem auf verschiedene Reflexionen Kants zur Moralphilosophie, die nicht in allen Fllen zeitlich zusammengehçren, und klammert eine Besprechung der Beobachtungen und der Bemerkungen zu den Beobachtungen fast gnzlich aus, obwohl hier noch eine starke Orientierung an einem solchen Gefhl auszumachen ist, woraus sich, mit entsprechenden Einschrnkungen, ein nicht unbedeutender und teilweise bis in die siebziger Jahre hinein wirksamer Einfluß aus der Lektre von Hutcheson und Hume ableiten lßt.

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terworfen“ ist. Zuletzt ist es das cholerische Gemt, welches mit dem Gefhl fr die Ehre zwar keinen Anteil am Gefhl fr das Schçne und Erhabene hat, aber wenigstens eine Regung gegen den „grçberen Eigennutz“ und die „gemeine[…] Wollust“ aufrecht erhlt. (AA II 218 f.) Somit kann bei dem Melancholiker neben dem bestimmenden Gefhl fr die Wrde des Menschen zudem von einem Gespr fr die Schçnheit einer Handlung und einem Ehrgefhl ausgegangen werden, bei dem Sanguiniker verbliebe neben der bestimmenden Empfindung des Schçnen lediglich das Gefhl der Ehre, mit welchem sich der Choleriker als Motivation ausschließlich zu begngen htte. Die Unterscheidung dieser drei „Gattungen des Gefhls“ ist allerdings nicht umfassend genug: Es bleibt unklar, wie Kant den moralischen Charakter eines cholerischen Gemts letztlich beurteilt, denn obwohl dessen Empfindung offensichtlich den beiden anderen Gefhlsarten nicht so hnelt, wie diese sich untereinander, so markiert sie dennoch als ein feineres Gefhl die deutliche Abgrenzung zu purem Eigennutz und rauschhaftem Verlangen.141 (2) In enger Verbindung mit dieser Verhltnisbestimmung der einzelnen Ausprgungen des Gefhls zueinander steht die Art und Weise, wie sich jemand selbst beurteilt: Derjenige Melancholiker, der nach Grundstzen und damit im Sinne des erhabenen Gefhls handelt, „schtzt sich selbst und hlt den Menschen fr ein Geschçpf, das da Achtung verdient“. Die Einschtzung seiner selbst hat hierbei ihren Ausgangspunkt und Maßstab nicht in dem, was andere zufllig meinen oder wie sie ber bestimmte Dinge urteilen (sowohl in bezug auf ihn als auch auf jeden beliebigen Gegenstand), sondern einzig in der Verbindlichkeit, die ihn sich selbst als einen Menschen unter allen anderen Menschen begreifen lßt. In dieser Hinsicht kann er „ein strenger Richter seiner selbst und anderer“ sein, denn die Grundstze, an denen er seine Einschtzung und sein Handeln bemißt, gengen einer weitgehenden Allgemeinheit. Er ver141 In den darauf folgenden Abstzen des zweiten Abschnitts identifiziert Kant das herrschende Gefhl fr die Ehre mit einer Form des Erhabenen, die diesem aber lediglich ußerlich nachkommt. Insofern sind alle drei Gefhlsarten im weiteren Sinne zusammengehçrig, in einem engeren Sinne stellen die beiden ersten Gefhlsarten jedoch noch einmal eine besondere und die fr Kant eigentlich relevante Ausprgung eines moralischen Gefhls dar. Brandt (2003) verweist auf den stoischen Einfluß der oQje_ysir auf die Unterscheidung in Liebe und Achtung bzw. Schçnes und Erhabenes, die im 18. Jahrhundert, u. a. in Kants Bestimmung des Geschmacksurteils aus dem Gefhl der Lust oder Unlust in der Kritik der Urteilskraft, wirksam ist (dazu bes. 189 ff.). Siehe ausfhrlicher zur Oikeiosis-Lehre Abschnitt 2.2.1.1 dieser Arbeit.

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leugnet damit mitnichten sein eigenes Selbst, sondern setzt sich selbst bewußt als einzelner in eine allgemeine Bezglichkeit, aus der sich berhaupt erst die angemessene und richtige Proportion zwischen dem schçnen bzw. gtigen Gefhl (welches bei ihm vorauszusetzen ist) und der Bercksichtigung von Grundstzen erschließt. (Vgl. AA II 220 ff.) Da diese Form der Selbstschtzung auf dem „Bewußtsein eines Gefhls“ beruht und eine gewisse Bestndigkeit aufweist, kann hier von einer Haltung, von einem erreichten Status der Selbstbezugnahme gesprochen werden. Mit der zweifachen Perspektivierung auf das eigene Selbst und das allgemein Menschliche stehen sowohl die empfundene Zuneigung zu sich selbst als auch die vergleichsweise Schtzung seiner selbst unter einem permanenten Vorbehalt: Whrend das sanguinische gemß eines unkritisch empfundenen schçnen Gefhls eine unvergleichlich hohe Meinung von sich selbst hat und das cholerische Gemt „seinen eigenen Werth und den Werth seiner Sachen und Handlungen aus dem Anstande oder dem Scheine, womit er in die Augen fllt“, bemißt, orientiert sich der Melancholiker in einem komplexen Relationsgefge, wobei er auf verschiedenen Ebenen sich zu sich selbst wertend zu verhalten imstande ist. Die positive Auffassung des eigenen Selbst sowie die Ehre, die ihm (berechtigterweise) zukommt, ordnen sich dabei einer prinzipiellen Vorstellung von der Art und Weise, wie jemand sich als Mensch zu anderen Menschen und zu sich selbst verhlt, unter.142 (3) Kant ist bemht, die verschiedenen Ausprgungen des Gefhls aufeinander zu beziehen, eine Art hierarchische Ordnung herauszustellen und bestimmte Abgrenzungen vorzunehmen. Eine dieser Differenzierungen betrifft die Unterscheidung zwischen positiven und negativen Konnotationen von selbstbezglichen Verhltnissen, wozu im Nachlaß folgende Notiz erhalten ist: Alle Neigungen sind entweder ausschließend oder theilnehmend. Die ersteren sind eigenntzig, die anderen gemeinntzig. Die Selbstliebe und Selbst142 Vgl. dazu auch AA XX 51: „Der moralische Geschmak ist zur Nachahmung geneigt die moralische Grundstze erheben sich ber dieselbe. Wo Hçfe sind u. große Unterschiede der Menschen ist alles dem Geschmake ergeben in republiken ist es anders. Daher der Geschmak in den Gesellschaften dort feiner u. hier grçber ist. Man kann sehr tugendhaft seyn u. wenig geschmak haben. Wenn das gesellschaftliche Leben zunehmen soll muß der Geschmack erweitert werden weil die Annehmlichkeit der Gesellschaften leicht seyn muß Grundstze aber schweer seyn. […] Der moralische Geschmak vereinbart sich leicht mit dem Schein der Grundsatz nicht.“

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schtzung ist ihrer Natur nach aber nicht ausschließend; die Eigenliebe und der Eigendnkel aber sind es. (AA XX 183)

Es ist bemerkenswert, daß die Dichotomie zwischen dem weitgehend solitren und dem gesellschaftlichen Selbstbezug konsequent ber die Attributpartikel „eigen“ und „selbst“ erfolgt. Kant verwendet also „Eigenliebe“ und „Selbstliebe“ nicht synonym, wie es im Universal-Lexicon von Zedler verzeichnet war. Zumindest in dieser Schrift er bereits eine Differenzierung ein, die so wohl erst ab 1780 bei Adelung lexikalische Erwhnung findet.143 Im Kontext der Beobachtungen bezieht sich diese Gegenberstellung jedoch vor allem auf die Frage, ob der Selbstbezug die Mitmenschen bercksichtigt oder sich gnzlich auf das einzelne Selbst konzentriert, und weniger auf den Zusammenhang eines solchen Gefhls mit Verstand und Vernunft.144 Insofern die Bercksichtigung des sozialen Umfeldes in den Selbstbezug integriert ist, korrespondieren die drei von Kant herausgestellten Ausprgungen des Gefhls untereinander sowie in unterschiedlicher Intensitt mit der Gemeinntzigkeit. Da sie nicht auf reinem Eigennutz basieren und einander in gewisser Hinsicht hnlich sind, werden sie sogar teilweise miteinander identifiziert.145 Darber hinaus stehen die sogenannte innere und ußere Ehre in einer besonderen Verbindung: Jene ist ein verinnerlichter Zustand, der sich nicht auf ußeres bezieht, sondern eine bestimmte Haltung zu sich und damit ein angemessenes Bewußtsein seiner selbst bezeichnet. Die nach außen wirksame und von der Umwelt einge143 In diesem Jahr erschien der vierte Band (Sche–V) von Adelung (1774–1786). 144 Kant ist, dem Titel seiner Untersuchung gemß, daran interessiert, das Gefhl fr das Schçne und Erhabene nher zu erlutern, und scheint, anders als etwa die Vertreter der britisch-schottischen Moralphilosophie, keine spezifische Verbindung von Gefhl und Verstand/Vernunft sehen zu wollen: „Man thut einander zwar Unrecht, wenn man denjenigen, der den Werth, oder die Schçnheit dessen, was uns rhrt, oder reizt, nicht einsieht, damit abfertigt, daß er es nicht verstehe. Es kommt hierbei nicht so sehr darauf an, was der Verstand einsehe, sondern was das Gefhl empfinde.“ (AA II 225) 145 Es besteht fr Kant brigens kein Zweifel, daß die Ehre und das selbst empfundene Ehrgefhl des Mannes durch die adquate Beurteilung seiner selbst zustande kommt, whrend der Frau dies erst „im Urtheil anderer“ zuteil wird, wodurch er ihr zugleich und teilweise im Widerspruch zu bereits erwhnten Ausfhrungen unterstellt, lediglich der Ehrbegierde unterworfen zu sein. In zwei fast gleichlautenden Notizen ist die synonyme Verwendung von „Selbstschtzung“ und „Selbstbeurteilung“ ersichtlich: „Die Ehre des Mannes besteht in der Schtzung seiner selbst des Weibes im Urtheil anderer.“ (AA XX 8); „Die Ehre des Mannes liegt in seinem Urtheil ber sich selbst der Frau aber im Urtheile andrer.“ (Ebd. 86)

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forderte Ehre ist hierbei identisch mit der Selbstschtzung, die lediglich als ein Mittel dient, sich des bereits erreichten Zustandes zu vergewissern.146 Somit werden einerseits sowohl die innere als auch die ußere Ehre mit Selbstschtzung im Sinne von Selbsteinschtzung gleichgesetzt, denn das Verfahren der Bewertung des eigenen Selbst ist gleichfçrmig und unterscheidet sich lediglich in den Bezugspunkten: Whrend das innerliche Empfinden sich scheinbar reflexiv auf das (berechtigte) Bewußtsein des Gefhls vom eigenen Wert bezieht, versucht die auf das soziale Umfeld bezogene Beurteilung, das bereits vorhandene Bewußtsein vom eigenen Wert in eine entsprechende Relation der Anerkennung durch andere zu bringen. In beiden Varianten geht es also um eine bestimmte bereinstimmung. Andererseits sind beide Formen der Ehre auch wieder verschieden, da das interne Verhltnis nicht wechselseitig umkehrbar ist: Auf die – berechtigte – Anerkennung anderer zu bestehen, kann und soll vielleicht sogar der Besttigung des eigenen Selbstwertgefhls dienen. Allerdings geht Kant im Kontext seiner Erluterungen zum Gefhl gewiß nicht davon aus, daß diese besttigende Zustimmung anderer konstitutiv fr das Bewußtsein des eigenen Wertes ist. Ein solches Bewußtsein ist entweder vorhanden, und darf dann auch eine entsprechende Anerkennung einfordern, oder wird eben nicht (zumindest nicht angemessen) empfunden, woraus alle unangemessenen Selbstbewertungen resultieren.147 Die innere Selbstschtzung hat in dieser Hinsicht eine andere Qualitt als die ußere Selbstschtzung, womit sich die bereits erwhnte 146 Die gesamte Notiz lautet: „Die Innere Ehre. Selbstschtzung die aussere Ehre als ein Mittel jener sich zu versichern. Daher ein Mann von Ehre. honestas. Die ussere Ehre als ein Mittel ist wahr als der Zweck ein Wahn. Jene entweder zur selbst Erhaltung, Gleichheit, oder zur Erhaltung der Art gehet auf den Vorzug. Die Ehrbegierde (unmittelbar) geht entweder auf die Meinung von wichtigen Vollkommenheiten (patriotism) u. heißt Ehrgeitz oder in Kleinigkeiten u. heißt Eitelkeit. Das Bewustseyn seiner Ehre als in deren Besitz man sich glaubt u. zwar ohne sich mit anderen zu messen heißt Stoltz. Wrde […] Der Stoltze der andere verachtet ist hochmthig. wenn er das durch Pracht bezeichnen will hoffrtig Der Hochmthige der seine Verachtung bliken laßt ist aufgeblasen“. (AA XX 130) 147 Siehe etwa AA XX 97: „Erstlich uns mit anderen zu vergleichen damit wir uns selbst schtzen kçnnen daraus entspringt die Falschheit seinen Werth Vergleichungsweise zu schtzen der Hochmuth u. sein Glk eben so zu schtzen der Neid. Zweytens uns in die stelle eines anderen zu setzen damit wir wissen was er empfinde daraus entspringt das blinde Mitleid welches auch die Gerechtigkeit in Unordnung bringt. Drittens andrer Urtheile zu erforschen weil dieses so wohl logisch als moralisch die warheit der Unsern berichtigen kann daraus entspringt die Ruhmbegierde Viertens uns allerley zu erwerben u. zu erspahren zum Genuß daraus entspringt die Habsucht welche karg ist.“

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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Unterscheidung von zwei Bedeutungen des Begriffs der Selbstschtzung (siehe Punkt 2) und eine komplexe, wechselseitige Verweisbeziehung in den jeweiligen Bestimmungen besttigt. In der zur Zeit der Abfassung der Beobachtungen gehaltenen Vorlesung ber Moralphilosophie (Praktische Philosophie Herder) entwirft Kant eine hnliche Konzeption von Selbstschtzung, erweitert diese aber durch die Bercksichtigung von Demut. Demnach setzt Demut eine „rechtmßige Schtzung voraus“, die sie aber zugleich wieder einschrnkt. In einer beurteilenden Abwgung, die mehr „auf Unvollkommenheiten als auf Vollkommenheiten zu sehen [hat]“, begrndet Demut die „Moralische Wrde“.148 Im Gegensatz zur Selbstschtzung, die „ußerlich auch manchmal der Regel der Klugheit angemeßen seyn“ muß, steht die Niedertrchtigkeit, bei der aufgrund falsch verstandener Ehrerbietung angesichts „leerer Titel“ jemand „so niedrig wird“, daß er „seine Wrde nicht fhlt“ (AA XXVII/1 39). Die Demut ist hier an die Einsicht in die Gleichwertigkeit der eigenen Person mit anderen Personen geknpft und verweist auf zwei wesentliche Bestimmungen: (1) Die Selbstschtzung ist keine Vergleichung mit anderen Personen zu dem Zweck, diese geringer als sich selbst zu schtzen, denn „Selbstschtzung vergleicht sich mit sich selbst“. Darber hinaus gilt: „Demuth vergleicht uns mit andern zur Verringerung[,] sonst dienten mir anderer Unvollkommenheiten zur Freude, und dies ist Moralisch bçse.“ (2) Davon ausgehend sollte sich die Schtzung seiner selbst dann ausschließlich auf die tatschlichen Verdienste (s. o.) beziehen und nicht auf eine willkrliche gesellschaftliche Hierarchisierung, die Kant mit einem „Wahn“ gleichsetzt. (AA XXVII/1 39 f.) Die beiden Bestimmungen sind allerdings – zumindest in dieser Form – noch nicht berzeugend und lassen einige gravierende Fragen zunchst unbeantwortet: Kann die Schtzung seiner selbst als ein Vergleich mit dem eigenen Selbst berhaupt auf eine verbindliche Grundlage Bezug nehmen oder ist eine solche Selbstbezglichkeit nicht vielmehr zirkulr? In welcher Hinsicht trgt die Demut in ihrer funktionalen Abhngigkeit von Selbstschtzung im Vergleich mit anderen zu einer ,Verringerung‘ seiner selbst bei und wie lassen sich die Grenzen einer solchen ,regulativen‘ Be148 Auch Baumgarten (1763) weist im Abschnitt ber die Beurteilung des eigenen Selbst („Diiudicatio tui ipsius“) auf die Notwendigkeit einer vollstndigen Einbeziehung sowohl der Vorzge als auch der Schwchen hin: „Quae diiudicatio tui ipsius vt sit satis plena et completa, […] non perfectiones tuas solum, sed et imperfectiones, non imperfectiones solum, sed et perfectiones, non qua solam existentiam, sed et qua rationes et gradus earum, pro virili, diiudica.“ (hier zitiert nach: AA XXVII/2,1 913)

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

schrnkung festlegen, um die eigene Person nicht in der vergleichsweisen Verringerung verschwinden zu lassen? Die weiteren Bemerkungen in diesem Teil der Vorlesung geben einen Hinweis fr die Beantwortung dieser Fragen: Offensichtlich ordnet Kant der Selbstschtzung die (vermutlich intuitive) Fhigkeit zu, bereits in adquater Weise ber die eigenen Vorzge und Schwchen urteilen zu kçnnen. Um nun den ,Vollkommenheiten‘ und ,Unvollkommenheiten‘ einen sinnvollen und allgemeingltigen Gehalt zu verleihen, mssen wir diese als an sich erkennbar klassifizieren. Denn ohne diese verbindlichen ,Standards‘ wre es einer einzelnen Person nicht mçglich, unabhngig von einem Vergleich mit anderen Personen eine bewertende Selbsteinschtzung vorzunehmen. Diese Einsicht in den eigenen ,moralischen Zustand‘ steht aber zudem in einer zweifachen Perspektivierung: Whrend die Bewertung seiner selbst (a) in einer je individuellen Selbstbezugnahme im Hinblick auf verbindliche moralische Standards erfolgt und „die Mçglichkeit einer grçßern Vollkommenheit“ (AA XXVII/1 40) einzusehen weiß, werden zudem (b) die ,Vollkommenheiten‘ und ,Unvollkommenheiten‘ bei anderen Personen wahrgenommen und verhltnismßig mit in die eigene Beurteilung einbezogen. Damit erfolgt die Einteilung in eine absolute (a) und eine verhltnismßige (b) Selbstschtzung: Die Selbstschtzung ist entweder absolut; oder verhaltnißmßig: die leztere ist unzureichend weil der andre sehr schlecht seyn kann und dies also meinen guten Zustand nicht bestimmt; die leztere ist auch bçse, weil sie eine Neigung voraussezt, an des andern Moralischer Unvollkommenheit ein Vergngen zu haben. (AA XXVII/1 41)149

Kant lßt bereits hier keinen Zweifel an seiner Ablehnung eines relativistischen Bewertungsmaßstabes, der es dem einzelnen ermçglichen wrde, sich hauptschlich im Hinblick auf die vermeintlich unter oder ber ihm stehenden Personen zu bewerten und daraus das eigene Selbstwertgefhl zu beziehen. Dies fhrte nmlich zu einer Haltung, die jede andere Person nicht mehr als gleichwertig, sondern bloß ,im Verhltnis‘ zu betrachten fhig ist und zudem den Blick auf die akute Relevanz der am eigenen Selbst erkannten ,Unvollkommenheit‘ verdeckt: 149 Dagegen verbindet Baumgarten in deutlicherer Diktion die berechtigte Beurteilung der eigenen Vollkommenheiten mit gehçriger Selbstschtzung und die der eigenen Unvollkommenheiten mit Demut: „Habitus de perfectionibus suis recte iudicandi est iustum sui aestimium. Habitus de imperfectionibus suis recte iudicandi est humilitas.“ (AA XXVII/2,1 914; auffllig ist, daß die erluternde Anmerkung der Akademie-Ausgabe hier „gehçrige Selbstachtung“ angibt.)

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Die verhltnißmßige Unvollkommenheit darf ich mich nicht merken laßen: – darauf komts nicht an; ob ich unter dem andern bin; die Vergleichung ist schdlich: so wohl bei dem Vorzug der Vollkommenheit und Unvollkommenheit = wenn ich mir nur berdem im ganzen meine Selbstschtzung zu erkennen gebe, und daß ich meine Unvollkommenheiten auch fhle; aber nicht die Unvollkommenheit gegen ihn gerechnet: – Die Wrde des andern bleibt dieselbe, sie mag ber, oder unter mir seyn […] Demuth ist die noble Selbstschtzung die auch seine Vollkommenheiten einsieht […]. (AA XXVII/1 40; Hervorh. F.B.)

Eine verbindliche Grundlage, auf die sich die absolute Selbstschtzung beziehen ließe, kann somit nur die Moralitt sein, die zwar in dieser Vorlesung eingefhrt, aber noch nicht so umfassend und strikt als moralisches Gesetz verstanden wird wie in den spteren Vorlesungen (vgl. dazu Abschnitt 2.2.2). Auch deshalb ist die regulative Funktion der Demut in Praktische Philosophie Herder nicht ganz unbedeutend: An dieser Empfindung entscheidet sich, ob das notwendige „starke[.] Gefhl vor Moralische Vollkommenheit“ moderat bleibt und in der Weise angemessen oder – wie es spter heißen wird – ,geziemend‘ ist, daß der sich selbst Schtzende die Maßstbe fr seine Beurteilung zwar mitunter auch ber den Vergleich mit den Mitmenschen, aber grundstzlich aus der Moralitt und mit vorrangigem Blick auf das eigene Selbst bestimmt. In Anstzen tritt an dieser Stelle bereits ein Konzept hervor, welches sich gegen die Selbstverortung der einzelnen Person im Rahmen der mehr oder weniger zuflligen Umstnde und zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Gesellschaft wendet, um dafr den „absoluten Werth“ einer Person, der von jedem „verhltnismßige[n] Vorzug“ (AA XXVII/1 42) unberhrt bleibt, zu betonen.150 In diesem Zusammenhang ist die von der Demut ausgehende ,Verringerung‘ seiner selbst im Vergleich mit anderen Personen vielmehr als eine ,Zurckhaltung‘ zu verstehen, mit der ein sich selbst Beurteilender bestndig daran erinnert wird, das ihn selbst Betreffende, nmlich die Integritt der eigenen Handlungen angesichts der Moralitt, nicht ber einen solchen verhltnismßigen Vergleich aus den Augen zu 150 Dazu auch AA XXVII/1 45: „Der Trieb der Ehre ist der Moralitt schdlicher als irgend eine andre Leidenschaft: alle ubrige haben waz reelles; diese ist aber ein Hirngespinst: = Ich gehe 2) ganz von meinem innern Zustand der Moralischen Gte ab [aus], und such es mit einigem ußern zu verbeßern: und welchen Schaden thun die Wißenschaften also: = der Trieb der Ehre, muß vielleicht bei etwaz hçhern Wesen vçllig aufhçren: bei uns ist er noch ntzlich als ein Gegenmittel gegen die große Unmoralitt und als eine Aufmunterung gegen die große Faulheit: und also wegen der kleinen Moralitt der Menschen nçthig; die Selbstschtzung besteht mit der Moralitt; aber nicht die Rechnung auf die Meinung andrer.“

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verlieren. Von einer kantischen Perspektive aus gesehen ist die ,Verringerung‘ durch die Demut gerade der Ausgangspunkt, um sich selbst vor Hochmut, Eitelkeit, Stolz und Hoffart151 zu bewahren und den eigentlichen Wert des eigenen Selbst, nmlich zu noch weiterer Vervollkommnung fhig zu sein, angemessen und umfassend ermessen zu kçnnen. Mit Blick auf diese Erçrterungen ist es hilfreich, den Einflssen nachzugehen, die mit einiger Sicherheit oder ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu Kants Standpunkt in den Beobachtungen und in der frhen Vorlesung zur Moralphilosophie beigetragen haben. Vor allem die Rede vom (moralischen) Gefhl bzw. von der moralischen Sympathie und deren systematische Relevanz im gesamten Text untersttzen die Vermutung, daß hier eine umfassende, wenngleich nicht in allen Punkten folgerichtige Rezeption der Moral-Sense-Schule vorausgegangen ist. Neben Shaftesbury sind hier insbesondere Francis Hutcheson und David Hume zu nennen, die Kant zur Kenntnis genommen hat. Des weiteren ist durch das bekannte Diktum, Rousseau habe ihn „zurecht gebracht“ (AA XX 44), von einer intensiven Lektre der Schriften des Autors der Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) auszugehen. Im folgenden werden deshalb die erforderlichen Bezge zu Rousseau, Hutcheson und Hume sowie zur zeitgençssischen deutschen Diskussion hergestellt, die zum einen die kantischen Ausfhrungen in den entsprechenden Kontext stellen und damit vervollstndigen, zum anderen eine Erweiterung des Diskurses aufzeigen, die fr die systematische Betrachtung von Selbstschtzung und Selbstachtung bedeutsam ist. 2.2.1.1 Amour de soi und amour-propre – Weisen des Selbstbezugs bei Rousseau Der Grund, weshalb Rousseau gerade im protestantischen Deutschland eine erhebliche Rezeption erfahren hat, liegt in einer gnzlich vernderten Perspektive auf die Entwicklungsgeschichte des Menschen, die er erçffnet. 151 Vgl. AA XXVII/1 41: „Hochmuth ist eine Neigung, sich vergleichsweise mit andern hochzuschtzen: er frgt nicht, waz er werth ist, sondern wie viel mehr als ein anderer: Er darf sich nicht irren: wenn er blos deßwegen die Wrde findet, weil andre Unvollkommen sind: so ist dieser ihre Unvollkommenheit der Grund der Freude in ihm; folglich ein Moralischer Fehler […]. Der Eitele sucht blos die Meinung anderer; ganz außer sich selbst gekehrt; nicht nach dem eigenen Gefhl […]. Der Hochmuth glaubt schon einen eignen Werth; schtzt ihn aber blos nach dem geringern Wesen andrer, und ist also ungerecht […]. Der Stolz vergleicht sich gar nicht; = und ist innerlich gut […]. Hoffart: ist der Hochmuth in Pracht (da Hochmuth im ganzen betragen ist).“

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Denn sein Gegenentwurf war dem bis dahin maßgeblichen biblisch-augustinischen Geschichtsbild durchaus ebenbrtig. Es ist Rousseau gelungen, nicht nur eine Darstellung der Entwicklung der Menschheit vom Naturzustand als der Kindheit ber verschiedene Reifestufen und fortschreitende Vergreisung bis hin zu einer zerfallenden und depravierten Kulturgesellschaft des Alters vorzulegen. Sondern er hat auch und vor allem eine vernnftig-sittlich begrndete Philosophie der Freiheit ausgearbeitet, die das immanente Spannungsverhltnis zwischen Individualismus und Gesellschaftskritik bestimmt.152 Im Gegensatz zur biblischen Schçpfungsgeschichte zielt der anders gefaßte Begriff des Naturzustandes, worin nun Vor- und Frhgeschichte als rationale Wissenschaft betrachtet werden, auf ein Verstndnis des Entstehens von kulturellen Institutionen und staatlichen Strukturen aus dem Wesen und der Natur des Menschen heraus ab. Aus dieser Ursprungserzhlung ergibt sich die Notwendigkeit, wenn nicht gar Nçtigung zu einer neuartigen Bewertung von Sinn und Wert des zivilisatorischen Fortschritts und der darin sich ausprgenden Kultur.153 Neben dieser wichtigen Akzentuierung einer kulturanthropologischen Historizitt rckt mit der Kontrastierung von Naturmensch (homme naturel) und Mensch in der Brgergesellschaft (homme civil) ein weiterer, ungleich bedeutenderer Traditionsbruch in den Vordergrund: Rousseau bringt ber die Hervorhebung der ,natrlichen Religion‘ bereits implizit das Verhltnis des deutschen Protestantismus zum Evangelium und zum Dogma auf eine bestimmte Weise zur Darstellung, prgnant etwa im „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“ im vierten Buch des Emile (1762). ber den maßgeblichen Gedanken der Freiheit der Selbstbestimmung als eines unverußerlichen Menschenrechts bezieht er sich damit auf ein religiçses Verstndnis, in welchem das Individuum ber seine ,innere Religion‘ unbefangen und gemß eigener Einsicht Stellung beziehen kann – und dies sowohl zu seinen Mitmenschen als auch zu sich selbst. Diese Form der christlich-aufgeklrten Humanitt, die weitgehend mit der 152 Rousseau legte mit der Abhandlung ber die Wissenschaften und Knste (1750) und der Abhandlung ber den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) zwei Schriften vor, die bereits unmittelbar nach der Abfassung eine breite und umfassende Rezeption erfuhren. Einige der teilweise radikalen Positionen dieser philosophischen Frhschriften wurden in den folgenden Jahrzehnten ergnzt oder modifiziert, allerdings stehen die beiden Abhandlungen nach wie vor im Mittelpunkt des Interesses der Interpreten. 153 Vgl. hier und im folgenden Hirsch (1964), Bd. 3, 98–143. Neben der werkgeschichtlich-biographischen Darstellung von Starobinski (2003) liegt eine gute Einfhrung von Sturma (2001) vor.

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Vorstellung von einer ,natrlichen Religion‘ zusammenfllt, steht damit der kirchlichen Erbsndenlehre diametral entgegen, deren wesentliche Grundlage die Ausfhrungen von Augustinus zum Verhltnis von amor sui und amor dei sind. Im Konzept der Nchstenliebe – „liebe deinen Nchsten wie dich selbst“ – war die Selbstaffirmation im Sinne der Selbsterhaltung zwar als gçttliches Gebot verpflichtend, bezog sich aber auf den Menschen ausschließlich als ein von Gott geschçpftes Wesen, wobei die eigentliche Liebe auf den Schçpfer zu richten war. Die Hinwendung zu sich selbst wurde deshalb in einer negativen Bewertung als amor privatus verstanden und mit dem Hochmut (suberbia) sowie der Abwendung von Gott gleichgesetzt. Im Urzustandskonzept des Christentums ist der Mensch mit der von Adam vollzogenen Abkehr von Anfang an schuldig. Dem Verderben und der Sndhaftigkeit vermag er nur durch eine liebende Anerkennung seiner selbst in bezug auf seinen Wert als ein von Gott geschçpftes Wesen zu entkommen, womit der Status eines jeden Menschen als ausschließlich individuelle Person unterminiert und per se verdchtig wird.154 154 Augustinus konzipiert den in der Natur des Menschen wesentlichen Bezug auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen, der ein Streben nach Eintracht und Frieden (societas, concordia und pax) korrespondiert, in einer Weise, die diesen Zusammenschluß sowohl durch die Gleichheit der Natur als auch durch verwandtschaftliche Beziehungen charakterisiert (natura communis; res humanae). Darber hinaus steht der nach Gemeinschaft, Eintracht und Frieden strebende Mensch in einem Spannungsverhltnis zwischen der civitas dei und der civitas terrena, der Gottesstadt und derem weltlichen Pendant, die nur ber die bedingungslose Liebe zu Gott (amor dei) zu bewltigen ist. Erst die permanente Bezugnahme auf diese Zuneigung verbrgt ein gelingendes Leben gemß der natrlichen und von Gott vorgesehenen Ordnung (ordo naturalis), whrend die nicht lnger auf Gott bezogene und sich selbst zum Maßstab des Lebens machende amor sui – die gerade nicht die natrliche Selbsterhaltung bezeichnet, der jedes Geschçpf verbunden ist – zwar noch eine funktionierende, gleichwohl pervertierte Form menschlichen Zusammenlebens in der weltlichen Gesellschaft abgeben kann, dabei aber die Bindung zur wahren pax und damit zum wirklichen Endziel aller Bemhungen verloren hat. Indem Augustinus mit dem Entwurf zweier civitae die Menschheit klar in zwei Gemeinschaften unterteilt – diejenigen, die den Menschen (secundum hominem), und diejenigen, die Gott gemß (secundum Deum) leben – kann die amor sui der civitas terrena nicht einmal mehr als eine zu berwindende und stetig von der amor dei zu dominierende Affirmation gedacht werden: Die Liebe zu sich selbst ist als solche schon pervertiert, denn sie richtet sich bloß auf einzelne Geschçpfe und generiert damit eine verhltnismßige Einschtzung und Einordnung von Menschen, deren Antrieb zum Handeln in der Herrschsucht (libido dominandi) besteht. Siehe Geerlings (1997), hier bes. 225 ff.; zur Zwei-Reiche-Lehre van Oort (1997).

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Rousseau schafft es mit seiner Kulturkritik, eine ins Skulare gewandelte Vorstellung des tradierten christlichen Urzustandskonzepts zu entwickeln, die ber den Begriff des Gewissens als der inneren Stimme des wahren Ich eine Sphre des Ethisch-Religiçsen hervorhebt, in der es der selbstttige und freie menschliche Geist ist, der sich ein Urteil bildet, der vergleicht, unterscheidet und verknpft. Da der Mensch gemß dieses bestimmenden Gewissensgefhls fr das Gute als von Natur aus gut begriffen werden muß, bleibt das jeweils eigene Denken und Fhlen des unabhngigen Individuums der letztgltige religiçse und moralische Maßstab, der dadurch auch imstande ist, das Schlechte und Verderbte als eine bloße Verirrung wider seine eigene Natur aufzufassen. Die fr Rousseau entscheidende subjektiv-persçnliche Verantwortung des einzelnen ist in Fragen der Moral und Ethik an jenem sittlichen (moralischen) Gefhl orientiert, welches in Verbindung mit dem vorgelegten geschichtsphilosophischen Konzept die Mçglichkeit erçffnet, ber die Spannung zwischen dem vormaligen Naturzustand und dem gegenwrtig erreichten Stand des zivilisierten Menschen zu reflektieren. Was diesen Ansatz von den zeitgençssischen Naturrechtslehren deutlich unterscheidet, ist die Akzentuierung einer tatschlichen Entwicklungsgeschichte des Menschen, der im Naturzustand zwar in Folge eines noch unbewußten Naturdranges gut, aber eben nicht mit Sprache und ttiger Vernunft begabt war, die erst den zivilisierten Menschen auszeichnen.155 Zwar kann sich der Mensch bei Rousseau damit einerseits lediglich als den bewußt sich selbst erfahrenden Teil einer fortlaufenden Entwicklung sehen, andererseits steht es ihm gerade aufgrund dieses Bewußtseins seiner selbst im Stand des zivilisierten Menschen frei, ber den weiteren Fortgang aus eigener Einsicht mit zu entscheiden. Es ist sicherlich nicht verfehlt, in dieser (prinzipiellen) Gestaltungsmçglichkeit des Zuknftigen, die den Menschen als individuelle Person ernstnimmt, einen mçglichen Grund fr die ungemeine Attraktionskraft zu sehen, die Rousseau nachweislich fr Kant besessen hat. Dieser bernimmt jedenfalls den Topos, daß sich der Mensch in seinem Dasein so vorfindet, wie er ist, verstrkt den Status dieses Daseins aber immens, indem er es dezidiert auf eine Vernunftbegrndung bezieht. Dabei bleibt zwar das grundstzliche Verstndnis des Menschen als eines animal rationale im Hintergrund erhalten, es erfhrt aber zugleich im Beharren auf der intelligiblen und vernnftigen Fhigkeit des Menschen als Person eine 155 Dazu v. a. Fetscher (1993), 62 ff.

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wesentlich strkere und positivere Konnotation, als das bei Rousseau der Fall war.156 Eine Weiterentwicklung der Gedanken Rousseaus ber die Stellung des Menschen, wie sie vor allem in der frhen Abhandlung ber die Ungleichheit hervortreten, mag fr Kant schon deshalb notwendig gewesen sein, weil der kulturpessimistische Impetus, der die beiden Diskurse aus den fnfziger Jahren beherrscht, einen problematischen Hiatus zu erzeugen imstande ist: Mit der Konzeption eines skularisierten Urzustands als Bezugspunkt einer umfassenden Kultur- und Gesellschaftskritik sind zwar die Implikationen der Erbsndenlehre obsolet geworden. Fr das Selbstverstndnis und -verhltnis des vergesellschafteten Menschen ist damit zunchst jedoch wenig gewonnen, denn der homme civil wird in seiner Depravation begriffen, gerade weil ihm das unumkehrbare Moment seiner eigenen Entwicklung im Stand der reflektierten Einsicht die Wiedererlangung der natrlichen Ausgangsposition verwehrt. Die verwirkten Voraussetzungen seiner eigenen Existenz nçtigen ihn zu einer Bewertung des Verhltnisses zu sich selbst in einer Weise, die dem Menschen im Naturzustand aufgrund seiner konstitutiven Bedingungen fremd sein mußte.157 Jener homme naturel nimmt sich selbst physisch ganz natrlich in seiner Kçrperlichkeit wahr und gleicht in dieser Hinsicht den animalischen Lebewesen in seinem Umfeld. Darber hinaus liegen in ihm die Anlage zum 156 Den Hinweis auf die skular gewandelte Vorstellung des christlichen Urzustandskonzepts als Naturzustand bei Rousseau und dessen skularisierte Verstrkung bei Kant verdanke ich Volker Leppin, der außerdem darauf verwies, daß sich im Zusammenhang mit der zu Beginn des 18. Jahrhunderts einsetzenden Abkehr von der Erbsndenlehre mitunter eine lexikographische Auseinandersetzung ber die begriffliche Bestimmung und Begrndung von „Selbstliebe“ und „Eigenliebe“ aufweisen ließe. Vgl. dazu Abschnitt 2.1 dieser Arbeit, wo sich diese Vermutung, etwa mit Blick auf die in verschiedenen Lexika vermerkten Arten von verkehrter Selbstaffirmation und das Phnomen der sogenannten Selbstabgçtterei, zumindest ansatzweise besttigt. Den Hintergrnden der Abwendung von der Erbsndenlehre im Hinblick auf die philosophischen Konzeptionen des 18. Jahrhunderts geht Alberg (1996) nach, hier bes. 31–148. 157 Die von Rousseau konzipierte kulturanthropologische Entwicklung steht in einer sichtbaren Spannung: Einerseits ermçglicht der gegenwrtige Zustand einer entwickelten Gesellschaft berhaupt erst die in einer solchen Kulturkritik gewonnenen Einsichten, wobei andererseits diese Kritik sich selbst angesichts der eigenen Konstitutionsbedingungen kritisch zu befragen hat, inwiefern sie sich eigentlich zu korrigieren imstande ist, denn die konstatierte Entwicklung vom unbewußt lebenden homme naturel zum bewußt regressiv vergesellschafteten homme civil scheint zwangslufig zu verlaufen.

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ttigen Gebrauch der Vernunft, mit der die Befhigung zur weiteren Vervollkommnung einhergeht, sowie die Bestimmung seiner Handlungsvollzge aus einem Akt der Freiheit beschlossen. Dem natrlichen Instinkt gemß sorgt er fr die Erhaltung seiner selbst angesichts der Bedingungen, in denen er sich vorfindet, und ist vollstndig auf sich selbst bezogen. Aus der instinktiven Neigung zur Selbsterhaltung resultiert eine absolute Selbstliebe, die Rousseau in einer Anmerkung im ersten Teil der Abhandlung ber die Ungleichheit von dem Selbstbezug des homme civil unterscheidet. Damit bezieht er deutlich Position in einer weitreichenden Diskussion des 18. Jahrhunderts, die sich mit der Intention und Grundlage menschlichen Handelns beschftigt: Man darf nicht die Eigenliebe [amour-propre] und die Selbstliebe [amour de soi-mÞme] durcheinanderbringen – zwei Leidenschaften, die ihrer Natur und ihren Wirkungen nach sehr unterschiedlich sind. Die Selbstliebe ist ein natrliches Gefhl, die jedes Tier dazu antreibt, ber seine eigene Erhaltung zu wachen, und das, soweit es im Menschen von der Vernunft geleitet und vom Mitleid abgewandelt wird, die Menschlichkeit und Tugend hervorbringt. Die Eigenliebe ist nur ein relatives, knstliches und in der Gesellschaft entstandenes Gefhl, das jedes Individuum dazu veranlaßt, sich selbst einen grçßeren Wert beizulegen, als jedem anderen, das den Menschen all die bel eingibt, die sie sich gegenseitig zufgen, und das die wahre Quelle der Ehre ist.158 158 Rousseau (1998), 151. Wie wichtig die genaue Beachtung der Semantik der jeweils verwendeten Begriffe bei bersetzungen ist, zeigt der Vergleich mit der von Kurt Weigand besorgten zweisprachigen Ausgabe Rousseau (1995), in der die zitierte Anmerkung wie folgt beginnt: „Man darf nicht die Selbstsucht (amour-propre) und die Eigenliebe (amour de soi) durcheinanderbringen. […] Die Eigenliebe ist ein natrliches Gefhl.“ (169; seit 1. Aufl. 1955 unverndert). Die Ausgabe Rousseau (1756) in der bersetzung von Moses Mendelssohn, die Kant vermutlich vorlag, bersetzt „amour-propre“ mit „Eigenliebe“ und „amour de soi“ mit „Liebe zu sich selbst“ (vgl. hier 203), woran sich neben Rousseau (1998) auch die Herausgeber von Rousseau (1996) zu orientieren scheinen (vgl. hier 156). Die von Kant vorgenommene Unterscheidung von „Selbstliebe“ und „Eigenliebe“ anhand ihres teilnehmenden bzw. ausschließenden Charakters (AA XX 183, siehe Abschnitt 2.2.1) lßt sich nachvollziehen, wenn von dieser ursprnglichen bertragung ins Deutsche ausgegangen wird. Rousseau hat sich nicht nur explizit von Hobbes, sondern auch von den franzçsischen Moralisten, unter ihnen La Rochefoucauld, distanziert. Dieser differenziert die Selbstaffirmation nicht weiter aus, sondern weist dem amour-propre einen ambivalenten Status zu, der als eine Art anthropomorphe Kreatur in Erscheinung tritt, die jedem Menschen innewohnt und ihn in guten wie in bçsen Handlungen als stetige Unruhequelle motiviert. In La Rochefoucauld (1976a) heißt es: „L’amour-propre est l’amour de soi-mÞme, et de toutes choses pour soi; il rend les hommes idol tres d’eux-mÞmes […]. Il est tous les contraires: i lest

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Amour de soi als natrliches Gefhl der Selbsterhaltung scheint auf den ersten Blick hnlichkeiten mit der Oikeiosis-Lehre der stoischen Ethik aufzuweisen. Diese Form der naturalen Selbstliebe bezeichnet nmlich als den ersten Interessensimpuls eines jeden Lebewesens dessen Sorge um das eigene Sein und die spezifische Erhaltung seiner selbst. Fr die Stoiker ist es demzufolge eine unsinnige Vorstellung, von der Mçglichkeit einer Entfremdung des Lebewesens von seiner eigenen natrlichen Basis auszugehen. Die urschliche Vertrautheit mit dem eigenen Selbst bedingt das aller Erfahrung und jedem Entschluß vorausliegende Streben nach Bewahrung der eigenen psycho-physischen Verfassung sowie deren individueller Erfahrung und richtet sich damit zunchst wie bei Rousseau auf die animalische Konstitution.159 Die wenigen Gemeinsamkeiten hçren jedoch da auf, wo die Stoa von dieser primren und je aktuellen Selbstliebe ausgehend auf ein umfassenderes Entwicklungskonzept der Entfaltung menschlicher Vernunft rekurriert: Die Intention der Oikeiosis-Lehre richtet sich darauf, die naturale Basis des sittlichen Strebens des Menschen zu sichern, und integriert dieses sittliche Streben in ein System des Naturgemßen. Es wird zwar dadurch zwischen dem, was die Natur im Menschen vollzieht, und dem sittlich zu nennenden Handeln als bewußter und willentlicher Zustimmung unterschieden. Da jedoch in der Vorstellung der Stoa die Natur in spontanen, naturwchsig sich bildenden Vorbegriffen und Regungen die Inhalte und Regeln vorgibt, an denen sich die sittliche Freiheit selbstttig orientiert, liegt hier eine teleologische Interpretation von naturalen Zuimprieux et obissant, sinc re et dissimul, misricordieux et cruel, timide et audacieux […].“ (129 f.) – „Eigenliebe ist die Liebe zu sich selbst und die eigenntzige Liebe zu allem anderen; sie macht die Menschen zu Gçtzendienern des eigenen Ich […]. Die Eigenliebe steckt voller Widersprche: sie ist herrschschtig und unterwrfig, aufrichtig und hinterlistig, barmherzig und grausam, ngstlich und wagemutig.“ (La Rochefoucauld (1976b), 66 f.) Eine ausfhrliche Analyse des amour-propre gibt Furber (1969). 159 In Cicero (1989) lßt der Autor einen seiner Dialogpartner, den Stoiker Cato, den sensus sui erlutern: Er ist das von Geburt an ttige Organ der Empfindung seiner selbst, an welchem sich das Verhalten der Seele zum Kçrper bekundet (vgl. 3,16 ff.). In dieser Selbstaffektion und instinktiven Selbstaffirmation erfhrt sich ein Lebewesen als sich selbst gegeben und damit als etwas Nahes, Vertrautes, Befreundetes, Eigenes. Da das Selbst als gegebener Gegenstand der primren Zuneigung im Sinne einer prima commendatio verstanden wird (vgl. 2,35), ist das Ziel dieser Empfindung nicht die Lust, sondern die naturgemße Wahrung und adquate Entfaltung des Menschenwesens. Zur Oikeiosis-Lehre siehe einfhrend Forschner (1995), 144–159; die zweistufige Konzeption der Selbstliebe (sich in animalischer Hinsicht lieben; sich vernnftig schtzen) in De finibus wird ausfhrlich analysiert und interpretiert von Wright (1995).

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stnden und Vorgngen vor, in denen sich vor allem der auffordernde Charakter der als gçttlich verstandenen Natur bekundet. In dieser Konzeption wird in der je individuellen Entfaltung des Logos die Partizipation und Identifikation mit dem einen gçttlichen Logos in derart geschlossener Form gedacht, daß eine grundlegende und systemische Depravation, wie sie Rousseau seiner Kritik zugrunde legt, schlicht undenkbar ist.160 Rousseaus Argumentation in der Abhandlung ber die Ungleichheit bertrgt den Kontrast von Naturzustand und brgerlicher Gesellschaft auch auf die je verschiedenen Weisen der Selbstbezugnahme. Damit bleibt eine immanente und zunchst nicht zu berbrckende Spannung bestehen: Wenn die Situation des Menschen im wahren Stand der Natur so konsequent aufgefaßt wird, wie Rousseau sie konzipiert, dann ist amour de soi eine Form des Selbstverhltnisses, die einem natrlichen Gefhl (sentiment naturel) gehorchend rein animalisch auf die Erhaltung seiner selbst hin angelegt ist. Vom Tier unterscheidet sich jener Mensch zwar nicht unerheblich durch die Freiheit seines Geistes vom Trieb des Instinktes, die Fhigkeit zur Vervollkommnung (perfectibilit) sowie die Abneigung, Artgenossen leiden oder sterben zu sehen (Mitleid, piti)161. Allerdings muß 160 Die Stoa setzt einen als Naturkraft verstandenen instinctus socialis fr die Selbstentfaltung des Logos voraus: In dieser naturalen Basis ist in undifferenzierter und unvollendeter Form bereits der zweite Zustand des Menschen als sittliches Wesen prsent, der sich auf das bezieht, was die ihre eigene Bildung selbst bernehmende menschliche Vernunft anstrebt. Die Selbstentfaltung des Logos wird als eine allmhliche konzentrische Ausweitung der Sympathie vom eigenen, animalischen Selbst bis hin zu anderen Menschen in abnehmender Intensitt verstanden, die dann in die unterschiedslose Zuneigung zu jedem Menschen mndet. Forschner (1995) sieht in der Oikeiosis-Lehre Anstze einer Transsubjektivitt, die bereits im Vormoralischen angestrebt wird als „Existenz, in der die Verfangenheit der Subjekte in partikularisierende Egozentrik auf ein gemeinsames Gesetz hin transzendiert ist“. (159) In einer umfassenden Arbeit hebt Engberg-Pedersen (1990) die Unterschiede in den Ausfhrungen verschiedener Stoiker, so etwa Cicero und Diogenes Laertius, hervor; Striker (1983) gibt eine przise Differenzierung der verschiedenen Oikeiosis-Varianten bei Peripatetikern, Stoikern und Epikureern; Schçnrich (1989) verweist im Fokus auf Ethik und personale Oikeiosis auf den interessanten Zusammenhang von „Disposition“ und „Einsicht“, wobei die Selbsterkenntnis Voraussetzung von Freiheit sei, da die Oikeiosis ansonsten auf ein bloßes Reagieren auf ußere Bedingungen hinausliefe (39 f.). 161 Obwohl Rousseau selbst den instinktgetriebenen Tieren ein Minimum an Mitleid zuspricht, ist dieses die einzige „natrliche Tugend“ des Menschen: „Ich spreche vom Mitleid, einer Anlage, die so schwachen und so vielen beln unterworfenen Wesen, wie wir es sind, angemessen ist: eine um so allgemeinere und dem Menschen um so ntzlichere Tugend, als sie bei ihm jedem Gebrauch der Reflexion

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die Selbstliebe ein in moralischer Hinsicht unqualifizierter Zustand bleiben, der ausschließlich den Bedingungen der natrlichen Umwelt unterworfen ist. Denn diese Form der Selbstaffirmation kann grundstzlich nicht im Kontext der Bewertung und des Vergleichs mit anderen hervortreten: Zum einen ist eine solche vergesellschaftete Umwelt noch nicht vorhanden, zum anderen erfhrt der ursprngliche Mensch schlichtweg sich selbst als seinen Nchsten und verhlt sich, abgesehen vom natrlichen Mitleid fr seine Mitmenschen, allen anderen Lebewesen gegenber gleichgltig.162 Die Behauptung, der Mensch sei von Natur aus gut, kann deshalb nur eingeschrnkt Geltung beanspruchen, da die natrliche Tugend im Naturzustand bloß jemanden betrifft, dessen Handlungen sich nicht einmal als gut oder bçse im Sinne einer Moral bewerten lassen. Im Gegensatz dazu beruht das knstliche Gefhl (sentiment relatif ) der Eigenliebe auf der sukzessiven Einfhrung des Eigentums und der Besitzverhltnisse – sowohl materiell als auch ideell – und etabliert sich in der vergleichsweisen Schtzung mit anderen als Grundlage aller Bewertungsverhltnisse. Indem der sich vergesellschaftende Mensch ein Interesse an bestimmten Dingen hat und im sozialen Umgang mit anderen Menschen deren Interessen als konkurrierende erfhrt, hat er sich aus dem unbewußten und interesselosen Selbstbezug gelçst, um im ttigen Gebrauch der Vernunft ein nunmehr bewußtes Verhltnis seiner selbst zu der ihn umgebenden Welt einzugehen. Rousseau konturiert diese Entußerung und komplexe Verhltnisbestimmung jedoch zugleich als einen Entfremdungsprozeß, in dem die Eigenliebe als pervertierter Selbstbezug nicht allein die individuelle Selbsterhaltung in einem gesellschaftlichen System garantiert, sondern darber hinaus das Individuum ausschließlich in der Relation zu anderen Indivi-

vorangeht, und eine so natrliche, daß sogar die Tiere mitunter deutliche Zeichen davon geben.“ (Rousseau (1998), 61) 162 „Wenn nmlich jeder Mensch sich selbst als den einzigen Zuschauer ansieht, der ihn beobachtet, als das einzige Wesen auf der Welt, das Interesse fr ihn aufbringt, als den einzigen Richter ber seine eigenen Verdienste, dann ist es nicht mçglich, daß ein Gefhl in seiner Seele keimen kann, das seine Quelle in Vergleichen hat, die er nicht fhig ist anzustellen. […] Mit einem Wort, wenn jeder Mensch seinesgleichen kaum anders ansieht, als er die Tiere einer anderen Gattung ansehen wrde, kann er dem Schwcheren die Beute rauben oder dem Strkeren die seine berlassen, ohne in diesen Rubereien etwas anderes als natrliche Ereignisse zu erblicken, ohne die mindeste Empfindung von Anmaßung oder Verdruß und ohne eine andere Leidenschaft als den Schmerz oder die Freude ber einen guten oder schlechten Erfolg.“ (Ebd., 152)

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duen sowie zu Besitzverhltnissen betrachtet, wodurch es seinen spezifischen Eigenwert verliert.163 Die vorgestellte Problemkonstellation kulminiert damit zum einen in dem wohl bewußt inszenierten Widerspruch zwischen einem vormoralischen und einem zwar moralischen, aber depravierten Zustand, wobei der amour de soi gegen den amour-propre ausgespielt wird: Whrend die Selbstliebe als die das Leben bestimmende Empfindung in jener ursprnglichen Form per se nicht wiederherzustellen ist, ohne die eigene Vernunftttigkeit zu leugnen, verkçrpert sich in der Eigenliebe die Aporie des vergesellschafteten Menschen, seine natrlichen Veranlagungen in das eigene Selbstverstndnis zu integrieren. Das Selbstverhltnis des Naturzustandes kann nicht rekonstituiert werden, die Eigenliebe des brgerlichen Zustandes soll nicht bestehen bleiben. Rousseau mutet den Rezipienten seiner Kritik, die in der bereits entwickelten Gesellschaft leben, die Betrachtung eines kulturanthropologischen Entwicklungsmodells zu, in welchem sie sich selbst mit zwei Alternativen konfrontiert sehen, ohne sich tatschlich fr eine entscheiden zu kçnnen. Er verweist auf den Hiatus, den es zu berwinden gilt: Weder Selbstliebe noch Eigenliebe entsprechen dem, wozu der Mensch von Natur aus letztlich sich zu entwickeln in der Lage ist; zwischen der Unfhigkeit, sich einander achten und schtzen zu kçnnen, und der permanenten berschtzung des eigenen Wertes im Vergleich mit anderen ist noch keine ausgewogene Zwischenform des Verhltnisses des Menschen zu sich selbst konzipiert – eine Aufgabe, der sich Rousseau wenig spter stellt.164 163 „Der Wilde lebt in sich selbst; der gesellschaftliche Mensch ist immer außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der anderen zu leben; und er bezieht sozusagen allein aus ihrem Urteil das Gefhl seiner eigenen Existenz.“ (Ebd., 112) Mit Blick auf das literarische Beispiel von Benjamin Contants Adolphe erçrtert Mercken-Spaas (1975) das Entsprechungsverhltnis von amour de soi und amour piti zu amour-propre und amour passion, wobei letztere als entfremdete Form des natrlichen Mitleids denselben destruktiven Charakter wie die Eigenliebe hat. 164 Gleichwohl hebt Rousseau bereits in seinen Ausfhrungen zu den Grundlagen der Ungleichheit einen solchen (seiner Meinung nach historischen) Zustand hervor, der als Vorstellung von einem „goldenen Zeitalter“ die Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts nachhaltig beeinflußte: „Obgleich die Menschen nun weniger widerstandsfhig waren und das natrliche Mitleid bereits einige Vernderungen erlitten hatte, muß dieses Stadium der Entwicklung der menschlichen Fhigkeiten, indem es die richtige Mitte zwischen der Trgheit des ursprnglichen Zustandes und der ungestmen Aktivitt unserer Eigenliebe hielt, wohl die glcklichste und dauerhafteste Epoche gewesen sein.“ (Rousseau (1998), 83) Einige Interpreten gehen von einer prinzipiell positiven Betrachtung des amour-propre aus, wonach

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Neben der Gegenberstellung des vormoralisch-natrlichen und des moralisch-depravierten Zustandes mit dem jeweils entsprechenden Verhltnis des Menschen zu sich selbst fhrt Rousseau nun eine weitere Unterscheidung ein, die auf sein dualistisches Menschenbild verweist. Amour de soi wird hier aus der einseitigen Opposition zum amour-propre sowie der zwangslufigen Linearitt der kulturanthropologischen Entwicklungsgeschichte herauslçst. Da in seiner Diskussion der Selbstbezglichkeit nicht mehr die Angemessenheit der Liebe zu sich selbst in Relation zu Gott verhandelt wird,165 sondern einem kontinuierlichen genetischen Prozeß zugeordnet ist, muß die an sich positiv bewertete Form der Selbstaffirmation, die nicht dem materiellen Egoismus der alleinigen Selbstgeltung entspricht, in eine differenzierte Bestimmung integriert werden, um auch fr den vergesellschafteten Menschen gltig sein zu kçnnen. Denn der homme civil bleibt in dem Bestreben nach seiner psychophysischen Erhaltung immer auch ein homme naturel gemß seiner sensitiven Konstitution, weshalb die Selbstliebe des Menschen im ursprnglichen Zustand nun nicht mehr bloß als der einer vergangenen Epoche angehçrende natrliche Impetus, sondern als ein Ausgangspunkt fr die elaboriertere Form des amour de soi innerhalb einer Gesellschaft verstanden werden kann: In dieser Perspektive sind Selbstliebe und Eigenliebe (Selbstsucht) insofern keine einander kontrastierenden Weisen des Selbstbezugs, als beiden das Agieren um des eigenen Vorteils willen gemein ist. Es wird damit nicht mehr die Tatsache einer progressiven Entwicklung der Vernunft in den Mittelpunkt gestellt, denn diese sucht in beiden Zustandsformen lediglich schematisch (und instrumentell) nach den besten Mitteln und Wegen, die eigenen (sinnlichen) Interessen und Bedrfnisse zu befriedigen. Die unverdchtige natrliche Selbsterhaltung erfhrt also in der Eigenliebe die ihr entsprechende Pervertierung, obwohl oder gerade weil die Fhigkeiten und die Kompetenz der Vernunft sich

Eigenliebe zwar die von Rousseau apostrophierte bçsartige Form annehmen kann, diese mçgliche Ausprgung jedoch keine intrinsische Eigenschaft dieses Selbstbezugs ist. In dieser Lesart soll der amour-propre vor allem in seiner funktionalen Rolle als notwendige Voraussetzung des auf Besitzverhltnissen basierenden Gesellschaftssystems verstanden werden, wobei der von Rousseau durch die berzeichnung des amour-propre beabsichtigte kritische Impetus vernachlssigt wird. Vgl. hierzu Dent (2006) und O’Hagan (2006). 165 Siehe zum begrifflichen und systematischen Wandel von Selbstliebe ausfhrlich Fetscher (1993), 65 ff., Fuchs (1977), 267–292, Fuchs (1971), Knoche (1995) sowie Bauer (2002).

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zwar erheblich verbessern, aber keine Vernderung in deren prinzipieller Verfahrensweise und Ausrichtung erfolgt.166 Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung einer Vertragstheorie der Gesellschaft im Contrat social (1762) geht es Rousseau deshalb um einen Gebrauch der Vernunft, der die Entwicklung des geistigen Selbstbewußtseins im Zuge einer zunehmenden Einsicht (lumires) in die Notwendigkeit der Erhaltung des sittlichen Selbst zu strken weiß und damit das Gewissen (conscience) etabliert. Weil das Eigeninteresse des Menschen in dieser Konzeption anders bewertet wird und sich nicht mehr auf den jeweiligen Nutzen oder Schaden beziehen muß, um als legitim oder illegitim angesehen zu werden, kann nun eine hçhere Form der geistigen Selbstliebe als komplementres quivalent zur sinnlichen Selbstliebe eingefhrt werden: Als Liebe zur Ordnung (amour de l’ordre) bersteigt dieser Selbstbezug den Geltungsanspruch der Eigenliebe, der gerade in genetischer Perspektive mit Blick auf das eigentliche Potential der Vernunft des Menschen den beschrnkten Entwicklungsstand selbstschtiger Orientierung aufweist.167 Kant drfte in seiner Bemerkung zum teilnehmenden Charakter der Selbstliebe und dem ausschließenden Gestus der Eigenliebe (AA XX 183) diesen Kerngedanken der politischen Philosophie Rousseaus vor Augen gehabt haben und hielt an dieser Unterscheidung zumindest in den frhen Schriften zur Ethik fest.168 Bereits seinem zeitgençssischen Rezensenten 166 Rousseau arbeitet in seiner Verwendung von raison mit einem ambivalenten Vernunftbegriff, der nicht distinkt zwischen Vernunft und Verstand oder diskursiver und reflexiver Vernunft unterscheidet. Vgl. dazu auch Fetscher (1993), 80 f. 167 Siehe ausfhrlich Fetscher (1993), 79 ff. Neuhouser (2003) hebt berzeugend die Bedeutung des amour-propre als „affective source of the human impulse to objectivity, or rationality“ und damit fr die Entwicklung sowie das Selbstverstndnis der Vernunft („standpoint of reason“) mit Blick auf die volont gnrale hervor, und sieht im „pursuit of public esteem […] reason’s training ground, where each human being receives her first lesson […] that her will is beholden to something beyond her own subjective preferences and beliefs“. (238) 168 In den Bemerkungen beschreibt Kant den Erkenntnisprozeß bei der Lektre von Rousseaus Schriften, den er zunchst fr dessen geistreichen Ausdruck bewundert hatte. Doch die Bewunderung verwandelt sich in „Befremdung ber seltsame u. wiedersinnische Meinungen“, und schließlich verbleibt er mit der Quintessenz: „Man muß die Jugend lehren den gemeinen Verstand in Ehren zu halten aus so wohl moralischen als logischen Grnden.“ (AA XX 44) Auch seine eigene ,Konversion‘ hat Kant mit dieser Erfahrung in Verbindung gebracht: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fhle den gantzen Durst nach Erkentnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb.

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Johann Georg Hamann war diese mutmaßliche Orientierung aufgefallen, die in der Hervorhebung einer einsichtsvollen und erst dadurch wahrhaft moralischen Selbstbezugnahme maßgeblich auf einem Ideal der Erziehung grndet.169 Er ist es auch, der mit Verweis auf Edmund Burkes A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful die Erçrterung des Gefhls vom Schçnen und Erhabenen, und damit die Bestimmung des moralischen Gefhls als eines wichtigen Bestandteils fr die Einsicht in das Handeln nach Grundstzen in Kants Beobachtungen kritisiert: Denn jenes Gefhl stelle bei ihm bald eine gewisse Dunkelheit, bald eine gewisse Klarheit der Begriffe vor, bald einen sympathetischen Instinct der Seele, bald eine idiosynkratische Modification eines neuen Organi, die freylich in der Beschaffenheit und Verbindung der ußeren Dinge gegrndet ist, und nach Maßgebung leidender Eindrcke eine thtige Gegenwirksamkeit ausben lernt. Gleich blauen Augen und braunen Haaren, wird das Erhabene und Schçne auf ein zweydeutig Mittelding eingeschrnkt, das nicht zu grob, aber auch nicht gar zu fein seyn muß.170 Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein kçnnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pçbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich wrde mich unntzer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen brigen einen Werth ertheilen kçnne, die rechte der Menschheit herzustellen“. (Ebd.) Und an anderer Stelle: „Die Meinung von der Ungleichheit macht auch die Menschen ungleich. Nur die Lehre des HE. R. kann machen daß auch der gelehrteste Philosoph sich mit seinem Wissen aufrichtig u. ohne die Religion zu Hlfe zu nehmen nicht vor besser hlt als den gemeinen Mann“. (Ebd., 176) 169 Vgl. Hamann (1952), 292. In den Bemerkungen Kants heißt es: „Die Hauptabsicht des rousseau ist daß die Erziehung frey sey u. auch einen freyen Menschen mache […].“ (AA XX 167) Allerdings stand er dem im Emile vertretenen Erziehungsanspruch auch durchaus kritisch gegenber: „Es ist unnatrlich daß ein Mensch sein Leben großentheils zubringe um einem Kinde zu lehren wie es selbst dereinst leben soll. Dergleichen Hofmeister als Jean Jacques sind demnach geknstelt. Im einfltigen Zustande wird einem Kinde nur wenig Dienst geleistet; so bald er ein wenig Krfte hat thut er selbst kleine ntzliche Handlungen des erwachsenen wie beym Landmann oder dem Handwerker und lernet allmahlig das brige. Es ist indessen geziemend daß ein Mensch sein Leben dazu verwende um so vielen zugleich leben zu lehren daß die Aufopferung seines eigenen dagegen nicht zu achten ist. Schulen sind daher nçthig. Damit sie aber mçglich werden muß man Emile ziehen. Es wre zu wnschen daß Rousseau zeigete wie daraus schulen entspringen kçnnen.“ (Ebd., 29) 170 Hamann (1952), 289. Die bibliographische Angabe bei Hamann ist nicht ganz korrekt: Burkes Abhandlung wurde erstmals 1757 in London (wo sich Hamann 1757/58 aufhielt) verçffentlicht; die in der Rezension erscheinende Jahreszahl

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Burke differenziert tatschlich das in Rede stehende Gefhl weiter als Kant und sieht den Grund fr das Gefhl des Erhabenen und des Schçnen in physiologischen Zustnden, mithin zum einen als kçrperliche Anspannung im natrlichen Trieb zur Selbsterhaltung sowie der Furcht und zum anderen als erleichternde Ermattung.171 Zur Zeit der Abfassung der Beobachtungen hatte Kant jedoch noch keine Kenntnis von Burkes Enquiry und konzentrierte sich vordergrndig auf die bis heute ,klassischen‘ Vertreter der schottischen Moral-Sense-Philosophie, allen voran Francis Hutcheson.172

1767 wrde sich auf die 5. englische Auflage beziehen, welche der Verfasser noch nicht kennen konnte. Von dieser 5. Auflage fertigte Christian Garve die erste deutsche bersetzung an (Burkes philosophische Untersuchungen ber den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabenen und Schçnen, Riga 1773), aus der wiederum Kant (2006), 151 (AA V 277), zitiert und mit der Auswahl der entsprechenden Textstelle sogar auf die Jahrzehnte zuvor erschienene Rezension reagiert. Vgl. ausfhrlich zur Rezension Hamanns Irmgard Piske (1990). 171 Giordametti (1999) meint, die Bemerkung Hamanns zu Burke habe die Aufmerksamkeit Kants auf dessen Untersuchung gelenkt und dazu beigetragen, daß bereits in den Bemerkungen die Wirkung des Erhabenen und Schçnen schon verstrkt auf die physiologische Reaktion hin ausgeweitet wird. 172 In der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von 1765–1766 (AA II 303–313) wird bekanntlich die Erçrterung der „Versuche des Shaftesbury, Hutcheson und Hume“ angekndigt, die zwar „unvollendet und mangelhaft, gleichwohl noch am weitesten in der Aufsuchung der ersten Grnde aller Sittlichkeit gelangt sind“, womit sich Kant von der Begrndung der Moral „durch dasjenige, was man Sentiment nennt“ (ebd., 311) distanziert. Bemerkenswert ist der Hinweis auf die veranschlagte Methode, wonach „die Natur des Menschen, die immer bleibt“, Gegenstand der nunmehr sittlichen Untersuchung ist und zudem eine kritische Abwendung von Rousseau deutlich wird, die sich schon in den Bemerkungen findet: „Rousseau. Verfhrt synthetisch u. fngt vom natrlichen Menschen an ich verfahre analytisch u. fange vom gesitteten an“. (AA XX 14) Um die bersichtlichkeit zu wahren, beschrnke ich mich in dieser Arbeit auf eine kurze Erçrterung von Hutcheson und Hume. Vgl. grundlegend zu Shaftesbury Voitle (1955), der eine genaue Untersuchung der Begriffsbedeutung (u. a. affection, mind, reason) bei Shaftesbury sowie im neueren Sprachgebrauch vornimmt und den Vorwurf zu entkrften versucht, Shaftesburys Insistieren auf einen moralischen Sinn sei der schwchste Teil seines Systems. Auf die Grundlagen des Moral-Sense-Begriffs bei Thomas Burnet in dessen Auseinandersetzung mit John Locke, die vermutlich Einfluß auf Shaftesbury hatte, geht Tuveson (1947/48) ein. Solide Einfhrungen zur Moral-Sense-Theorie in der Entwicklung von Shaftesbury ber Hutcheson und Butler bis hin zu Hume liegen von Schrader (1984) und Rhl (2005) vor.

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2.2.1.2 Hutchesons moral sense Einen ersten Hinweis auf den Bezug zu Hutcheson gibt die Untersuchung ber die Deutlichkeit der Grundstze der natrlichen Theologie und Moral (1764), in der Kant die weitergehende Bestimmung von Verbindlichkeit in der Moral einfordert. Nachdem zunchst grundlegend die Notwendigkeit der Mittel (necessitatem problematicam) von der Notwendigkeit der Zwecke (necessitatem legalem) unterschieden wurde, geht es um die formalen und materialen Grundstze, die in Parallelitt zur Erkenntnis in der Metaphysik betrachtet werden, wobei das Vermçgen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntniß, dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefhl [ist], und daß beide ja nicht mit einander mssen verwechselt werden. Gleichwie es nun unzergliederliche Begriffe des Wahren, d.i. desjenigen, was in den Gegenstnden der Erkenntniß, fr sich, betrachtet angetroffen wird, giebt, also giebt es auch ein unauflçsliches Gefhl des Guten (dieses wird niemals in einem Dinge schlechthin, sondern immer beziehungsweise auf ein empfindendes Wesen angetroffen). (AA II 299)

Dem Verstand obliegt es demnach, „den zusammengesetzten und verworrenen Begriff des Guten aufzulçsen und deutlich zu machen“ (ebd.), um damit eine Rckfhrung auf die einfachen Empfindungen des Guten zu ermçglichen, die dann als materiale Grundstze begriffen werden kçnnen.173 Kant ist zuversichtlich, daß diese fr eine Moral unentbehrlichen Grundstze („Postulata“) durchaus aufzuweisen sind und sieht in Hutcheson jemanden, der neben anderen „unter dem Namen des moralischen Gefhls“ begonnen habe, jene Grundlagen fr alle „praktischen Stze[.]“ (AA II 300) auszuarbeiten. Zwar befriedigt Kant die hypotheti173 Diese erkenntnistheoretische Vorgehensweise bezieht sich auf die einflußreiche Differenzierung von Baumgarten in ein oberes und ein unteres Erkenntnisvermçgen, womit nicht nur die Grundlage fr eine gleichberechtigte Anerkennung der sthetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, sondern vor allem fr die umfassende Bestimmung des Erkenntniswertes von Vorstellungen gelegt worden war. Indem Kant sich hier der entsprechenden Terminologie bedient, verweist er auf zwei Unterscheidungskriterien: Einerseits soll eine zusammengesetzte Vorstellung (perceptio totalis) in einfache Vorstellungen (perceptiones partiales) zergliedert werden, die dann wiederum nicht mehr verworrene Vorstellungen (perceptiones confusae) in Ermangelung unterscheidender Merkmale, sondern als klar und deutlich (perceptiones clarae et distinctae) bestimmt sein sollen. Vgl. dazu die Metaphysica in Baumgarten (1983), §§ 510 ff., sowie Oberhausen (2002), hier bes. 125 f.; zum Verhltnis von klar und deutlich Gabriel (1976). Kant (1958) distanziert sich hingegen gerade auch mit Blick auf die „moralischen Grundbegriffe, die nicht durch die Erfahrung, sondern durch den reinen Verstand erkannt werden“ (27), von dieser erkenntnistheoretischen Einteilung.

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sche Annahme eines moralischen Sinns als eines praktischen materialen Bestimmungsgrundes mit der fortschreitenden Ausarbeitung der kritischen Moralphilosophie ab Ende der sechziger Jahre immer weniger, dennoch bleibt das Verhltnis zum Moral Sense ein ambivalentes: Obwohl dieser vermeintlich subjektiv-empirische Bestimmungsgrund als ein solcher seiner Auffassung nach untauglich ist, kann er zugleich auf die Bercksichtigung dieses Gefhls als einer begleitenden Empfindung scheinbar nicht verzichten.174 Mit den Schriften von Hutcheson war Kant unmittelbar seit Erscheinen der ersten deutschen bersetzungen vertraut, er besaß – was keineswegs fr alle der von ihm rezipierten Autoren zutraf – die gedruckten Exemplare in seiner Bibliothek und verwendete diese fr seine Vorlesungen.175 Allerdings zeigt bereits ein kursorischer berblick, wie zurckhaltend die Rezeption erfolgte: Denn obwohl Hutcheson in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV 445) wie auch in der Kritik der praktischen Vernunft (AA V 40) ausdrcklich erwhnt und entsprechend eingeordnet wird, integriert Kant dessen Konzept zwar in seine eigenen berlegungen, wird dabei jedoch nicht allen Differenzierungen gerecht. Bereits in den Beobachtungen ist das „allgemeine moralische Gefhl“ (AA II 217) in einer abweichenden Interpretation mit einem Modell menschlicher Gemtsarten verknpft, aus deren Heterogenitt in der Vorlesung zur Moralphilosophie die gravierenden Probleme mit der Evokation eines solchen Gefhls hervorgehen (vgl. die Ausfhrungen in Abschnitt 1.1). Neben der bewußten Variation kçnnte eine mçgliche Ursache fr die vernderte Reformulierung jedoch auch in der Schwierigkeit einer adquaten bersetzung auszumachen sein: Der englische Ausdruck „sense“ bezeichnet vorrangig die Fhigkeiten (Sinne bzw. Sinnesorgane), 174 Bereits in der Refl. 6634 (1769) heißt es: „Das princip des Hutcheson ist unphilosophisch, weil es ein neu Gefhl als einen Erklarungsgrund anfhret, zweytens in den Gesetzen der Sinnlichkeit obiective Grnde sieht.“ (AA XIX 120) Der in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft (1788) vorgenommenen Ablehnung (vgl. AA V 40 f.) korrespondiert ein Brief von Johann Joachim Spalding vom 8. Feb. 1788, der sich darauf bezieht (vgl. AA X 527 f.). In der Untersuchung ber die Deutlichkeit der Grundstze ist fr Kant noch offen, „ob lediglich das Erkenntnißvermçgen oder das Gefhl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermçgens)“ (AA II 300) fr die aufzufindenden ersten Grundstze verantwortlich ist. 175 Hutcheson (1760) [orig.: An Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections, London 1728]; Hutcheson (1762) [orig.: An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue, London 1725]; Nachweis des Buchbestandes bei Warda (1922), 50; Erwhnung zur Verwendung in Vorlesungen: AA II 311.

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mit denen etwas wahrgenommen werden kann, daneben steht er fr das Gefhl („feeling“) bzw. die Empfindung, daß etwas der Fall ist. Whrend im Deutschen der semantische Gehalt von „Sinn“ entsprechend dem lateinischen Ursprung „sensus“ weitgehend unstrittig ist,176 bleibt der Ausdruck „Gefhl“ ambivalent: Er kann einerseits als eine dem (Tast- ) Sinn entsprechende sensitive Wahrnehmung verstanden werden und ist dann synonym mit „Sinn“.177 Andererseits kann mit „Gefhl“ – so auch verstrkt im heutigen Sprachgebrauch – eine affektive Empfindung in der Bedeutung von Gemtsbewegung und Stimmung verbunden sein, die sich nicht notwendig auf eine ußere Wahrnehmung bezieht. Beim deutschen Ausdruck „Gefhl“ kann also – wie mit Einschrnkungen auch bei „sense“ – zwischen einer emotiven und einer sensitiven bzw. kognitiven Bedeutung unterschieden werden. In den bersetzungen des 18. Jahrhunderts erfolgt die Translation von „moral sense“ weitgehend mit „moralisches Gefhl“, wobei nicht immer zweifelsfrei zu klren ist, welche der beiden mçglichen Bedeutungen von „Gefhl“ die Interpretation des „moral sense“ bestimmt.178 176 Obwohl bereits das lateinische „sensus“ auf drei Bedeutungsebenen verweist: 1) physisch (Empfindung bzw. Wahrnehmung), 2) intellektuell (Verstandes- und Denkvermçgen, auch Verstndnis bzw. Urteilsfhigkeit), 3) gefhlsmßig (Gefhl, innere Regung, seelische Empfindung, auch Stimmung). Vgl. Globalwçrterbuch Lateinisch-Deutsch (1996), 945. Johnson (1783/1796) vermerkt unter „sense“ die Vielfalt der Bedeutungen: „1) Das Vermçgen, ußere Gegenstnde zu empfinden, der Sinn […]. 2) Die Empfindung durch die Sinne. 3) Die Empfindung durch den Verstand, der Begriff, Verstand. […] 4) Die Empfindsamkeit. 5) Der Witz, die Fhigkeit des Gemths. 6) Der Verstand, die Vernunft. common sense, der gemeine Menschenverstand. 7) Der Verstand der Rede. […] 8) Eine vernnftige Rede […]. 9) Das Urtheil, die Meinung […]. 10) Das Bewußtseyn, die berzeugung, Empfindung. 11) Moralisches Gefhl, Empfindung.“ (Bd. 2, Sp. 1077) 177 Siehe dazu den Eintrag „Fhlen, Gefhl“ in Zedler (1732–1754), Bd. 9, Sp. 1134 ff. 178 Die nach Gellius und Merck erschienenen bersetzungen der Werke Hutchesons haben sich vermutlich auch deshalb im Unterschied zu diesen bei der Wiedergabe des zentralen Begriffs auf den Ausdruck „Sinn“ festgelegt: Hutcheson (1986); Hutcheson (1984). Die Bezeichnung „moralisches Gefhl“ besteht allerdings weiter, wie der gleichlautende Eintrag von Pohlmann (1974) zeigt. Von dieser rezeptionsgeschichtlichen Problematik geht Panknin-Schappert (2007) in ihrer kenntnisreichen Monographie aus: Sie erarbeitet eine umfassende Rekonstruktion des Moral Sense, die sich von den bisherigen einseitigen Interpretationen zu lçsen versucht und die genuine Eigenstndigkeit dieses Konzepts betont. Schrader (1984) diskutiert mit Blick auf Hutcheson insbesondere die subjective/objectiveInterpretation (73–102); Sprague (1954) hat die konziseste Zusammenfassung vorgelegt; Frankena (1955) vertritt eine Interpretation, in der aus dem Moral Sense

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Sehen wir uns daher an, wie Hutcheson den moralischen Sinn begrndet und wie aus dieser Perspektive die Rede vom „moralischen Gefhl“ zu bewerten ist. Um diese Begrndung in einer bersichtlichen und fr das Thema dieser Untersuchung angemessenen Form hervorheben und behandeln zu kçnnen, beschrnke ich mich in der Darstellung auf einen zentralen Abschnitt in An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue. 179 In diesem Abschnitt hat sich Hutcheson vorgenommen, seine zwei grundlegenden Thesen zu begrnden: I. “That some Actions have to Men an immediate Goodness; or, that by a superior Sense, which I call a Moral one, we perceive Pleasure in the Contemplation of such Actions in others, and are determin’d to love the Agent, (and much more do we perceive Pleasure in being conscious of having done such Actions our selves) without any View of further natural Advantage from them.” II. It may perhaps also appear, “That what excites us to these Actions which we call Virtuous, is not an Intention to obtain even this sensible Pleasure; much less the future Rewards from Sanctions of Laws, or any other natural Good, which may be the Consequence of the virtuous Action; but an entirely different Principle of Action from Interest and Self-Love.” (T II 88)

Damit die von dieser berzeugung ausgehende argumentative Erçrterung an Verstndlichkeit gewinnt, werden bereits in den einleitenden Bemerkungen einige der verwendeten Begrifflichkeiten geklrt. Dies betrifft zum einen den Ausdruck „moral goodness“ bzw. „moral good“ und dessen Gegenteil „moral evil“: Das moralisch Gute bezeichnet demnach eine „Quality apprehended in Actions, which procures Approbation, and Love toward the Actor, from those who receive no Advantage by the Action“. (T II 85)180 Zum anderen beinhaltet die Rede von moral good und moral eine nicht-kognitivistische Theorie wird. Sprute (1980) gibt einen przisen berblick zu verschiedenen Interpretationen und wendet sich wie PankninSchappert (2007) mit Verweis auf den spezifischen Zusammenhang von Vernunft und Gefhl im Konzept des moralischen Bewußtseins bei Hutcheson gegen einseitige emotivistische oder kognitivistische Auffassungen. 179 Hutcheson (2004) [Treatise II (An Inquiry Concerning the Original of our Ideas of Virtue or Moral Good): Introduction, 85–88; Section I (Of the Moral Sense), 89–100], Zitatnachweis im folgenden mit Sigle (T II) und Seitenzahl. Der hier gewhlte Zugang erhebt daher keinen Anspruch auf Vollstndigkeit; siehe fr eine fundierte und das gesamte Werk Hutchesons umfassende Erçrterung Leidhold (1985), zum moralischen Sinn bes. 126–179. 180 Dementsprechend ist „moral evil“ eine „contrary Quality, which excites Aversion, and Dislike toward the Actor, even from Persons unconcern’d in its natural Tendency“. (T II 85)

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evil eine Unterscheidung, der gemß die Zuneigung (love) demjenigen zukommt, bei dem erkannt wird, daß er das moralisch Gute ,besitzt‘, wohingegen dies beim natural good nicht der Fall ist. Hutcheson verweist hierbei auf die verschiedenartige Reaktion gegenber natrlich Gutem und moralisch Gutem: Whrend Ehrlichkeit, Treue, Großzgigkeit und Freundlichkeit selbst dann Zuneigung beim empfindenden Gegenber auslçsen, wenn aus ihnen kein Vorteil oder Nutzen (benefit, advantage) erwachsen sollte, rufen natrliche Gter, zu denen neben materiellem Besitz auch Gesundheit, Strke und Scharfsinn zhlen, nicht von sich aus eine solche Zuneigung hervor, vielmehr Neid und Abneigung, zumal wenn sich der von ihnen ausgehende Vorteil nur auf denjenigen bezieht, der diese Vorzge besitzt. (Vgl. T II 85) Bei der Unterteilung in das natrlich und das moralisch Gute handelt es sich demnach um eine allgemein anerkannte Unterscheidung („universally acknowledg’d Difference“, T II 85), die nicht auf eine schlichte Dichotomie in materielle und immaterielle Qualitten, sondern auf die Wahrnehmung (perception) einer „immediate Goodness“ (T II 88) bezogen ist. Die Fhigkeit, das (moralisch) Gute unmittelbar wahrnehmen zu kçnnen, wird fr die Differenzierung in moralische und nicht-moralische Formen des Guten in Anspruch genommen. Sie weist aber darber hinaus vor allem auf ein kausales Bedingungsgefge hin, in welchem die Fhigkeit, ein Wohlgefallen wahrnehmen und empfinden zu kçnnen (sense of pleasure), den Erwgungen des Nutzens (advantage) sowie dem Interesse (interest) bzw. der Selbstliebe (self-love) vorangeht und deren Grundlage ist.181 Nur von dieser (anthropologisch) notwendigen Wahrnehmung ausgehend erschließt sich, was als ein natrlich oder moralisch Gutes aufgefaßt werden kann. Eine Eigenschaft oder Sache ist nicht aufgrund ihrer spezifischen Ausprgung als etwas Gutes qualifiziert, sondern weil sie in der Lage ist, mittelbar oder unmittelbar den Sinn fr das Wohlgefallen zu affizieren.182 181 Merck bersetzt „advantage“ zumeist mit „Vorteil“, „interest“ mit „Nutzen“ bzw. „Eigennutz“ und „self-love“ mit „Eigenliebe“; vgl. Hutcheson (1762), passim. 182 T II 86: „Our Perception of Pleasure is necessary, and nothing is Advantageous or naturally Good to us, but what is apt to raise Pleasure mediately, or immediately. Such Objects as we know, either from Experience or Sense, or Reason, to be immediately, or mediately Advantageous, or apt to minister Pleasure, we are said to pursue from Self-Interest, when our Intention is only to enjoy this Pleasure, which they have the Power of exciting.“ Obwohl Hutcheson die Vernunft (reason) in diesem Abschnitt kaum benennt, ist dieses diskursive Vermçgen immer prsent, denn es ermçglicht einerseits die reflektierte berlegung bezglich der Forderungen des self-interest, ist andererseits aber auch in der Lage, etwaige Vorurteile,

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Der Vorteil von und das Interesse an solch einem Guten beziehen sich nicht auf die Ntzlichkeit im Verhltnis zu anderen Menschen, Sachen oder Eigenschaften, sondern auf das Vermçgen, eine Empfindung des Wohlgefallens hervorrufen zu kçnnen: We do not perceive Pleasure in Objects, because it is our Interest to do so; but Objects or Actions are Advantageous, and are pursu’d or undertaken from Interest, because we receive Pleasure from them. (T II 86)

Auf einer grundstzlichen Ebene ist damit zunchst ein nicht-rekursives Verhltnis zwischen der (unmittelbaren) Wahrnehmung eines Wohlgefallens und der von dieser Wahrnehmung bedingten Einschtzung einer Vorteilhaftigkeit oder eines Interesses beschrieben. Gerade diese Richtung im Bedingungsgefge unterscheidet die berlegungen Hutchesons von einer Konzeption, wie sie Hobbes, Locke und Mandeville zuvor vertraten: Whrend bei diesen der Nutzen und das Eigeninteresse auf eine bergeordnete Gesetzmßigkeit unter einem ,wohlwollenden Gesetzgeber‘ bezogen sind und erst mit Blick auf dieses ,große Ganze‘ einzelne Handlungen als gut oder schlecht deklariert werden kçnnen, versucht die von Shaftesbury ausgehende Moral-Sense-Theorie, die Beurteilung sowohl des natrlich wie auch des moralisch Guten ber eine bei allen Menschen vorauszusetzende Empfindungsfhigkeit zu begrnden. Der sense of pleasure ist somit die eigentliche Basis des Moral Sense, dessen Wirksamkeit Hutcheson nun zu beweisen sucht. Um den besonderen Status des moralischen Sinns hervorzuheben, erfolgt zunchst eine strikte Abgrenzung gegenber dem natrlich Guten. Denn dieses ist trotz der gemeinsamen ,Basis‘ im sense of pleasure immer nur ein Vermitteltes, da es als ,Mittel zum Zweck‘ im Interesse eines empfindenden Subjekts und zudem von Vorteil ist, um eine angenehme Empfindung des Wohlgefallens hervorrufen zu kçnnen. Somit kann das, was sich als „natrlich Gutes“ bezeichnen lßt, nur insofern schtzenswert sein, als es fr die Erlangung der Empfindung des Wohlgefallens nutzbringend ist. Daneben muß es jedoch, wie Hutcheson an einigen Beispielen zeigt, noch eine andere, unmittelbare Form der Wahrnehmung des (moralisch) Guten geben, denn offensichtlich erfolgen affirmative Reaktionen auf eine differenzierte Weise. Diese Reaktion ist am ehesten mit dem Ausdruck Sensibilitt zu beschreiben, denn in dieser kommen die Wahrnehmung des (selbstschtige) Interessen und damit verbundene Irrtmer in der moralischen Beurteilung zu erfassen und zu korrigieren. Allerdings kann die Vernunft letztlich nicht die Aufgabe des moralischen Sinns bernehmen, Handlungen zu billigen oder zu mißbilligen.

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Moralischen und die darauf reagierende Bezugnahme in einer Art ,wahrnehmenden Reaktion‘ zusammen. Das wesentliche Kriterium fr eine solche Sensibilitt ist die (vorausgesetzte) Intention eines rational Handelnden oder – in einer weniger anspruchsvollen Variante – die Unterscheidung von belebten und unbelebten Wesen: Why should we admire or love with Esteem inanimate Beings? They have no Intention of Good to us; their Nature makes them fit for our Uses, which they neither know nor study to serve. But it is not so with rational Agents: they study our Interest, and delight in our Happiness, and are Benevolent toward us. (T II 89)

Die Behauptung, von der Hutcheson aufgrund von Beobachtungen ausgeht, bezieht sich auf den Unterschied zwischen (1) der Wertschtzung und Zuneigung fr eine Person, bei der eine moralische Vollkommenheit wahrzunehmen ist, wodurch ein Wohlwollen dieser Person gegenber hervorgerufen wird, und (2) der Bewertung einer ,guten‘ Sache, woraus sich jedoch lediglich ein Begehren, diese Sache besitzen (und zum eigenen Vorteil nutzen) zu wollen, ergibt. Obwohl also beide Arten der Einschtzung letztlich den sense of pleasure ansprechen, sind sie doch in ihrer Wirkung deutlich verschieden, da rational Handelnde sich durch eine ,liebenswrdige Zuneigung‘ auszeichnen kçnnen. Der Ausgangspunkt der weiteren Argumentation lautet daher: [W]e have a distinct Perception of Beauty, or Excellence in the kind Affections of rational Agents; whence we are determin’d to admire and love such Characters and Persons. (T II 90)

Die gesamte Erçrterung Hutchesons ist im folgenden darauf gerichtet, die Annahme zu widerlegen, der Vorteil bzw. Nutzen sei der bestimmende Grund fr moralisches Empfinden und die Bewertung von Handlungen. In einer außergewçhnlichen berzeugtheit verweist er dabei auf eine Art ,natrliche‘ und in diesem Sinne nicht zu hintergehende ,soziale Welterfahrung‘, allerdings liegt gerade in diesem Vorgehen auch eine systematische Schwche seines Ansatzes: Hutcheson kann zunchst keine umfassende Definition bzw. Beschreibung des Guten vorlegen, whrend Hobbes und Locke zumindest in der Lage waren, das Gute unmittelbar mit dem Konzept des Nutzens und des Eigeninteresses im Rahmen einer bergeordneten Gesetzmßigkeit zu verbinden.183 Trotz dieser ungnstigen 183 So sieht etwa Locke ein gçttliches und Naturgesetz als Grundlage der Ethik an, wobei ersteres entweder ber die Offenbarung oder ber den Gebrauch der Vernunft erkannt wird. Als Handlungsmotivation ist das Herbeifhren von Lust und

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Ausgangsposition erfolgt der Versuch, in mehreren Schritten die Berechtigung der Annahme eines spezifischen moral sense zu begrnden, indem auf gravierende Einwnde Bezug genommen wird. Um einen eigenstndigen moralischen Sinn behaupten zu kçnnen, geht Hutcheson von einer Erfahrung aus, die den Vorteil als bestimmendes Element einer moralischen Bewertung desavouieren und die Aufmerksamkeit auf die Intention des Handelnden legen soll. Wenn wir also, wie er an einem Beispiel vorfhrt, durch das Agieren von zwei Personen jeweils exakt denselben Vorteil erlangen, so macht es einen Unterschied in der Empfindung (sentiment), ob diese Handlung (1) mit einer Haltung des Vergngens an unserer Freude und der Zuneigung gegen uns oder (2) aus Eigeninteresse bzw. durch Zwang erfolgt. Obwohl die Wahrnehmung des Vorteils in beiden Fllen unbestritten ist, wird in (1) eine weitere Wahrnehmung vorausgesetzt, mit der diese Handlung als moralisch bewertet werden kann: And that Power of receiving these Perceptions may be call’d a Moral Sense, since the Definition agrees to it, viz. a Determination of the Mind, to receive any Idea from the Presence of an Object which occurs to us, independent on our Will. (T II 90)

Da die Wahrnehmung in (1) vor aller willentlichen Entscheidung und berechnenden Bewertung geschieht, kann hier keine Reflexion ber einen mçglichen Vorteil erfolgen, zumal eine Handlung selbst dann als moralisch wahrgenommen und empfunden wird, wenn mit ihr kein Vorteil oder sogar ein Nachteil verbunden ist. Die spezifische Wahrnehmung eines moralischen Sinnes ist somit unabhngig von der Empfindung des natrlich Guten und Schlechten, denn die dem moralischen Sinn entspreUnlust maßgeblich, denn jeder Mensch ist derart dispositioniert und versteht ein solches Handeln als Ausgangspunkt fr das Allgemeinwohl. In einer Abstufung werden drei Arten von verbindlichen Gesetzen unterschieden: das gçttliche (Gott, Offenbarung), das brgerliche (Staat) sowie das gesellschaftliche (Billigung bzw. Mißbilligung). Locke meint, auch moralische Ideen gemß seiner empiristischen Erkenntnistheorie vollstndig beschreiben und erkennen zu kçnnen, wobei er an gemischte Modi, also komplexe Ideen von Qualitten denkt, die aus einfachen Ideen zusammengesetzt sind, die sich mit allen ihren Verbindungen distinkt bestimmen lassen. Diese Ethik ,more geometrico‘ ist damit einerseits hedonistischegoistisch, da die je individuelle Glcksbefriedigung als Handlungsmotivation gesetzt wird, andererseits stark religiçs konnotiert, da das Gesetz Gottes nicht fr alle Menschen – etwa fr Atheisten – verbindlich ist, weil Locke die Wirksamkeit des gçttlichen Gesetzes nicht ohne Sanktionsinstanz konzipieren wollte. Vgl. Sprute (1997).

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chende Empfindung tritt auf, sobald dieser Sinn affiziert wird. (Vgl. T II 90 f.) Es macht also keinen Unterschied, ob die Handlung einer Person mich selbst betrifft oder ausschließlich andere Personen und an welchem Ort sowie zu welcher Zeit sie geschieht. Die zentrale These Hutchesons besteht in der Annahme, daß es allgemeine moralische Vorstellungen gibt, fr deren Wahrnehmung jedes menschliche Individuum einen entsprechenden Sinn hat. Diese allgemeinen moralischen Vorstellungen und einen moralischen Sinn anzunehmen, ist demnach die beste Erklrung, um zu verstehen, weshalb Menschen ber die moralische Bewertung von Handlungen daran interessiert sind, das natrliche Gut der Menschheit zu befçrdern. It is true indeed, that the Actions we approve in others, are generally imagin’d to tend to the natural Good of Mankind, or of some parts of it. But whence this secret Chain between each Person and Mankind? How is my Interest connected with the most distant Parts of it? […] If there is no moral Sense, which makes rational Actions appear Beautiful, or Deform’d; if all Approbation be from the Interest of the Approver, What’s Hecuba to us, or we to Hecuba? (T II 91 f.)184

Da Hutcheson aufgrund des schwierigen systematischen Ansatzes keine ableitende Schlußfolgerung bieten kann, versucht er, in die Erçrterung mçglicher Einwnde eine argumentative Spannkraft zu bringen, die sich dem permanenten Verweis auf die Erfahrung moralischer Intuition verdankt. In methodischer Hinsicht bedient sich Hutcheson hier der Form eines abduktiven Arguments, wobei er von einem Phnomen (den bestndig auftretenden und unabhngigen moralischen Bewertungen) ausgeht und eine plausibel erscheinende, aber zunchst hypothetische Erklrung annimmt (die mçgliche Existenz eines moralischen Sinns) und 184 Diese in Shakespeares Hamlet aufgeworfene Frage verweist auf die immanente Bezogenheit und das unmittelbare Angesprochensein der je eigenen Person, die eine Selbsterkenntnis und -verstndigung impliziert. In Goethes Wilhelm Meister gert die Inszenierung dieses Stckes zu einem performativen Akt des sich vollziehenden Verstehens und schafft so den Raum fr eine Vergegenwrtigung dessen, was es zu erkennen gilt. Das zu Erkennende ist dabei jedoch kein herkçmmlicher objektiver Erkenntnisgegenstand, auf den in allgemeiner und standardisierter Form Bezug genommen werden kann, sondern bedarf der tatschlich vollzogenen Erkenntnisleistung einer Person, da das zu Erkennende diese Person selbst als Person mit einbezieht. Mit der moralischen Empfindung, die Hutcheson hier zur Grundlage seiner Erçrterung macht, kann ebenfalls nur derjenige ,etwas anfangen‘, der bereits selbst empfunden hat, wie sich z. B. die Empçrung ber den unerwarteten Bruch eines Versprechens anfhlt. Siehe zur Analyse der HamletInszenierung im Wilhelm Meister Bornmller (2006), 68 ff.

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entsprechende Beispiele hinzuzieht, in denen diese Erklrung anscheinend besttigt wird, um sich letztlich auf die schlssige Behauptung festzulegen, daß es einen moralischen Sinn gibt. Aber kann aus dem Verweis auf die Erfahrung moralischer Intuition, der zuweilen appellativischen Charakter hat, eine normative Verbindlichkeit des Moral Sense resultieren? Im Hinblick auf eine mçgliche Beantwortung dieser Frage spielt Hutcheson offensichtlich die Ambivalenz des natrlich Guten, dem der Vorteil und der Nutzen zugeordnet ist, gegen die Eindeutigkeit des moralisch Guten aus. Denn whrend das natrlich Gute als etwas Vermitteltes aus einer Vielzahl von belebten und unbelebten Ursachen hervorgehen kann, ist das moralisch Gute per se an einen rational Handelnden und dessen Intentionen geknpft. Ob etwas vorteilhaft ist und dementsprechend den sense of pleasure zu affizieren imstande ist, hngt beim natrlich Guten aber vor allem von den jeweiligen Umstnden ab, die sich bestndig ndern kçnnen und zufllig sind. Besonders aufschlußreich ist dies fr den Status personaler Selbstverhltnisse, da ein natrlich Gutes auf eine Person mit einer individuellen Perspektive bezogen ist. Eine solche persçnliche Einschtzung, die auf den konkreten Vorteil fr das eigene Selbst (Eigennutz) bezogen ist, kann keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen, denn was fr den einen ein Gut ist, kann fr einen anderen durchaus ein Schlechtes sein. So ist der vergrabene und nun wieder aufgefundene Schatz zweifelsohne fr den Finder ein natrliches Gut, sofern er nur sein eigenes Interesse betrachtet. Der Geizige aber, der das Vermçgen lieber vergrub, als es einem çffentlich wirksamen Zweck zuzufhren, hat mit dieser Handlung fr die Benachteiligten etwas Schlechtes vollbracht. (Vgl. T II 94) In diesem Fall ist zwar der Eigennutz (self-love) des Finders befriedigt, da er ber die Mçglichkeiten der Verwendung des gefundenen Schatzes zu seinem eigenen Vorteil nachdenkt. Aber der bei allen Menschen wirksame moralische Sinn ist laut Hutcheson der Garant dafr, daß der Finder trotz des persçnlichen Vorteils die Haltung des Geizigen in moralischer Hinsicht verwerflich finden muß. Denn selbst wenn die berwltigende Wertschtzung des persçnlichen Vorteils eventuell beim Finder die Reaktion auslçst, das Geld behalten und nicht der çffentlichen Wohlfahrt zukommen lassen zu wollen, so bleibt die Wahrnehmung eines moralisch Schlechten bestehen, da es sich um einen Sinn handelt, der wie die anderen Sinne zur Wahrnehmung ußerer Eindrcke zwar getuscht, aber nicht ,bestochen‘ („Our Moral Sense cannot be brib’d“) werden kann:

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This moral Sense, either of our own Actions, or of those of others, has this in common with our other Senses, that however our Desire of Virtue may be counterbalanc’d by Interest, our Sentiment or Perception of its Beauty cannot; as it certainly might be, if the only Ground of our Approbation were Views of Advantage. (T II 95)

Auffllig ist an dieser Formulierung vor allem die parallele Engfhrung von Gefhl (sentiment) und Wahrnehmung (perception):185 Wenn man, wovon ich an dieser Stelle ausgehe, das verbindende „oder“ hier als eine Beschreibung der quivalenz von Gefhl und Wahrnehmung zu interpretieren hat (vgl. dazu auch T II 90), dann ist der Moral Sense nicht in ausschließender Form entweder als eine emotive Empfindung oder eine kognitive Wahrnehmung zu verstehen, sondern als eine Verbindung aus beiden inneren Zustnden.186 Einige der im vorliegenden Text gezogenen Schlußfolgerungen lassen sich, so meine ich, zudem nur unter der Voraussetzung vertreten, daß dem moralischen Sinn bei aller hnlichkeit mit anderen Sinnen ein gesonderter Status zugewiesen wird. Hutcheson konturiert die auf den Vorteil bedachte Liebe zum Selbst (self-love) als reflektierte berlegung des Verstandes in einer bloßen Mittel-Zweck-Relation zur Befriedigung des sense of pleasure. So kann er dem moralischen Sinn im Gegensatz dazu als eine Art ,innere Verfaßtheit‘ eine komplexere Bestimmung geben. Einerseits ist der Moral Sense als ein erkennender Sinn bei der Bewertung moralischer Handlungen unabhngig von religiçsen berzeugungen, sozial bedingten Anerkennungsverhltnissen sowie von Traditionen, Erziehung und exemplarischen Einzelfllen (vgl. T II 96 ff.). Andererseits korrespondiert ihm eine (moralische) Empfindung, die den reinen Erkenntniswert der Wahrnehmung und spontanen Bewertung erweitert, und – so drfen wir ergnzen – damit nicht nur handlungsmotivierend, sondern auch als normativer Parameter wirkt. Denn gerade weil der moralische Sinn eine Handlung unmittelbar als moralisch gut oder schlecht wahrnimmt und zugleich eine entsprechende Empfindung her185 Der Ausdruck „perception“ ist mehrdeutig (Wahrnehmung, Vorstellung, Erkenntnis etc.), verweist aber m. E. gerade aufgrund der von Hutcheson ins Spiel gebrachten Parallelitt von moral sense und external senses auf die bersetzung „Wahrnehmung“. 186 Goy (2007) hat eine informative Analyse des moralischen Gefhls vorgelegt, doch leider bersieht sie diesen besonderen Aspekt des moral sense. Dieser ist nicht nur in wohlwollende Neigungen (kind affections), deren Anerkennung (approbation) sowie die Auswahl von Handlungsmotiven (election) zu differenzieren, sondern nach meinem Dafrhalten vor allem nicht nur als bloßes Gefhl zu verstehen (vgl. 339 f.).

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vorruft, die zum Teil mit dem Gewissen vergleichbar ist, sollte sich ein Individuum verpflichtet fhlen, diesem Eindruck gemß zu handeln. Mit einer solchen Betonung der Gleichwertigkeit des emotiven und kognitiven Aspekts des Moral Sense lßt sich eine der wesentlichen Strken der Konzeption von Hutcheson hervorheben, die zumindest zwei auffllige Parallelen zu Kants Entwurf einer Moralphilosophie aufweist: (1) Denn sofern der Moral Sense nicht als bloß emotives Korrelat einer Ethik begriffen wird, ist der damit verbundene Geltungsstatus in struktureller Hinsicht durchaus vergleichbar mit der nicht zu hintergehenden Unmittelbarkeit, durch die das moralische Gesetz auf eine Person wirkt und die Empfindung der Achtung hervorruft, woraus dann alle weiteren Handlungsbestimmungen in den Vollzgen der praktischen Vernunft resultieren.187 Neben diesem hnlichen Anspruch in der Geltung ist jedoch das von Hutcheson erçrterte besondere Verhltnis von Gefhl und Vernunft im moralischen Sinn sptestens mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht mehr anschlußfhig, da Kant hier das normative Begrndungsmoment bereits weitgehend in die Vernunft verlegt hat und dem „moralischen Gefhl“ den Rang einer begleitenden emotiven und damit lediglich motivierenden Empfindung verleiht.188

187 Der moral sense kann, im Gegensatz zu den Sinnen, die auf ußere Gegebenheiten reagieren, als eine formale Konstitution verstanden werden, der gemß einem Handelnden bzw. dem Beobachter einer Handlung das moralisch Gute ersichtlich wird – unabhngig von erfahrungsrelevanten Einschtzungen bezglich des natrlich Guten, die lediglich vergleichsweise und kontextabhngig begrndbar sind. Panknin-Schappert (2007), 85–174, beschreibt den so verfaßten inneren Sinn bei Hutcheson – wohl bereits mit Blick auf die Ethik Kants – als apriorisch (passim). Wenn dies zutrifft, ist die Kritik Kants an Hutcheson zumindest in einem wesentlichen Punkt unbegrndet, denn noch in der Metaphysik der Sitten gehçrt, wie in Abschnitt 1.2.3 gezeigt wurde, das moralische Gefhl zu den apriorischen Bedingungen, ohne die eine Moraltheorie kantischen Zuschnitts nicht auskommt. Kulenkampff (2004) benennt in einer bersichtlichen Darstellung die Brche zwischen der Moral-Sense-Theorie, wie sie bei Shaftesbury, Hutcheson und Hume entwickelt wird, und der kategorischen Pflichtenethik Kants, der zwar den moral sense aus teils unberechtigten Grnden ablehnt, diesen aber als moralisches Gefhl und damit in deutlich anderer, zumal ambivalenter Bestimmung als einen seiner systematischen Ausgangspunkte wieder einfhrt. 188 Da Kant in seiner spteren Moralphilosophie das moralische Gefhl braucht, damit die (reine) Vernunft praktisch werden und eine Person berhaupt ein Interesse am moralischen Gesetz nehmen kann, entsteht dort eine weitreichende Verbindung von moralischem Gefhl und Achtung fr das Gesetz, die zugleich Achtung fr die Person und Grundlage ihres Selbstverstndnisses ist. Vgl. dazu

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(2) Weil der Moral Sense auf die Menschheit bezogen ist (vgl. T II 91 f.), tritt bei Hutcheson eine Bestimmung des personalen Selbstverhltnisses hervor, in der dem ausschließlich selbstbezogenen Modus der (Selbst-)Einschtzung eine Absage erteilt wird zugunsten einer allgemeinverbindlichen moralischen Bewertungsbasis, die in Anstzen bereits das Konzept von einer Menschheit in einer Person vorzeichnet. Das von einem inneren Sinn bestimmte moralische Bewußtsein verweist somit auf ein Selbstverstndnis der Person angesichts eines natrlichen Guts der Menschheit, welches nicht in der Erwartung eines angenehmen Gefhls der Selbstbilligung oder Selbstzufriedenheit und damit basierend auf einem individuellen Nutzen und Vorteil besteht, sondern die allgemeinmenschliche und damit natrliche Konstitution des bewußten Empfindens von Billigung und Ablehnung zur Grundlage einer moralischen Haltung macht.189 2.2.1.3 Hume ber moral sentiment und self-love Whrend Hutcheson mit dem moral sense die unmittelbare Wahrnehmung einer moralisch relevanten Situation und die damit verbundene Empfindung der Affirmation oder Ablehnung beschreibt, worin Vernunft und Gefhl immanent verbunden sind, hebt Hume zwar letztlich auch die Bedeutung einer moralischen Empfindung hervor, beruft sich dabei aber zunchst auf eine funktionale Trennung von Vernunft (reason) und Gefhl (sentiment). Erçrtert wird diese grundlegende Differenzierung in einem Anhang zu An Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751) unter dem Titel Concerning Moral Sentiment,190 allerdings finden sich bereits in A Treatise of Human Nature (1739–40) entscheidende Bemerkungen darber, wie Hume das Verhltnis von Vernunft und moralischen Unterscheidungen verstanden wissen will.

ausfhrlich MacBeath (1973), Goy (2007), 342 ff., sowie den Abschnitt 2.2.3 dieser Arbeit. 189 Das Eigeninteresse (self-love) enthlt bei Hutcheson im brigen keine negativen Konnotationen. Diese selbstbezogene Ausrichtung auf den eigenen Vorteil kann jedoch keine befriedigende Erklrung fr den Umstand der Billigung bzw. Mißbilligung bestimmter Handlungen geben, die in Verbindung mit einem moral good stehen. 190 Eine bersetzung der Enquiry Concerning the Principles of Morals erschien unter dem Titel Sittenlehre der Gesellschaft im dritten Band von Hutcheson (1754–1756). Kant besaß diese Ausgabe (siehe Warda (1922), 50) und hat von dieser Lektre ausgehend in seinem Werk verschiedentlich auf Hume Bezug genommen.

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Gegenber dem Verstand (understanding), der bei Hume den menschlichen Geist (mind) und damit das gesamte Denk- und Erkenntnisvermçgen umfaßt, ist die Vernunft (reason) darauf beschrnkt, Vorstellungen zu bestimmen, miteinander zu vergleichen und eine Erkenntnis von deren Beziehungen hervorzubringen: Reason is the discovery of truth and falshood. Truth or falshood consists in an agreement or disagreement either to the real relations of ideas, or to real existence and matter of fact. Whatever, therefore, is not susceptible of this agreement or disagreement, is incapable of being true or false, and can never be an object of our reason. (PW II 236)

Da Vorstellungen (perceptions) die Grundlage fr das im menschlichen Geist Reprsentierte sind, diese sich jedoch wiederum in Ideen (ideas) und Eindrcke (impressions) unterteilen,191 stellt sich mit Blick auf die Funktion der Vernunft die Frage, welche Art der Vorstellung es ermçglicht, eine moralische Unterscheidung zu treffen und eine Handlung entsprechend zu beurteilen. Zu Beginn des dritten Buchs (Of Morals) der Treatise of Human Nature besteht die wichtigste Aufgabe darin, berzeugend darzulegen, daß die Vernunft gar nicht in der Lage sein kann, auf Handlungen und Affekte einzuwirken. Dazu wendet sich Hume gegen die Auffassung, der gemß die Belange der Moralitt, ebenso wie die Wahrheit in der spekulativen Philosophie, lediglich als Ideen und als deren vergleichende Nebeneinanderstellung verstanden werden. Wre dies so, dann wrden moralische Aspekte, wie auch die „calm and indolent judgments of the understanding“ (PW II 235), indifferent sein und keinen Einfluß auf die Gefhle und die Handlungen von Menschen ausben kçnnen, was sie aber nachweislich tun: [It is] evident [that] our passions, volitions, and actions, are not susceptible of any such agreement or disagreement [of truth or falshood]; being original facts and realities, compleat in themselves, and implying no reference to other passions, volitions, and actions. ’Tis impossible, therefore, they can be pronounced either true or false, and be either contrary or conformable to reason. (PW II 236)

Weil die Vernunft ein inaktives Vermçgen ist und anders als das Gewissen (conscience) oder der moralische Sinn (moral sense) kein motivierendes Moment beinhaltet, sind Handlungen entweder lçblich (laudable) oder verwerflich (blameable) und kçnnen im Hinblick auf die Moral nicht als 191 Die impressions werden als „our stronger perceptions, such as our sensations, affections and sentiments“, die ideas hingegen als „fainter perceptions, or the copies of these in the memory and imagination“ bestimmt (PW II 231).

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

vernnftig (reasonable) oder unvernnftig (unreasonable) bezeichnet werden. Eine Handlung steht zwar in mittelbarer Verbindung zur Vernunft, wenn diese ber die Besttigung der faktischen Wahrnehmung eine Leidenschaft (passion) entweder selbst hervorruft oder ber die Erkenntnis einer bestimmten Verbindung von Ursache und Wirkung die Voraussetzungen dafr bereitstellt. Aber obwohl diese Schlsse der Vernunft fehlerhaft, unvollstndig und falsch sein kçnnen, sind handlungsrelevante Entscheidungen, die auf dieser Basis gefllt werden, keineswegs per se unmoralisch. Das heißt, eine Handlungsentscheidung kann durchaus mit aufrichtigen Motiven und Intentionen erfolgen, obwohl eine falsche Einschtzung der faktischen Voraussetzungen vorliegt oder der Handelnde in wichtigen Punkten unwissend ist, wie im Fall des dipus (vgl. PW IV 262): In der jeweiligen Situation erscheint diesem sein Handeln als vernnftig und folgerichtig, weshalb er auch meint, moralisch richtig zu handeln. Er befindet sich jedoch – und darin besteht die ganze Tragik – trotz seiner intentionalen berzeugung im Zustand der Tuschung. Die Entscheidung, ob etwas moralisch zu billigen ist oder nicht, kann – so haben wir den Verweis auf dieses Beispiel zu verstehen – also nicht auf der Ebene von Vernunfterwgungen getroffen werden, da der Aspekt des Moralischen dann auf alle Urteile und Schlsse der Vernunft bertragen werden mßte. (Vgl. PW II 236 ff.) Thus upon the whole, ’tis impossible, that the distinction betwixt moral good and evil, can be made by reason; since that distinction has an influence upon our actions, of which reason alone is incapable. Reason and judgment may, indeed, be the mediate cause of an action, by prompting, or by directing a passion: But it is not pretended, that a judgment of this kind, either in its truth or falsehood, is attended with virtue and vice. (PW II 239 f.)

Von diesem Fazit ausgehend weitet Hume seine Kritik aus und positioniert sich gegen die Auffassung, „that this science [sc. morality] may be brought to an equal certainty with geometry and algebra“ (PW II 240). Dieses Bestreben ist offensichtlich u. a. gegen Locke gerichtet.192 Die Unstimmigkeit einer Begrndung der Moral auf Basis der Vernunft wird daher im folgenden anhand einer umgekehrten Argumentation erçrtert: Wenn moralische Unterscheidungen tatschlich einzig durch das Denk- und Erkenntnisvermçgen des Menschen (human understanding) vorzunehmen sind, muß fr die moralischen Qualitten gezeigt werden, daß sie sich ebenso wie alle anderen Ideen (1) in ihren Beziehungen darstellen und (2) in ihrer Faktizitt ausweisen lassen. Erst auf diese Weise wre eine 192 Vgl. dazu Fn 183.

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Demonstrierbarkeit der Moral gemß einer rationalistischen Theorie gewhrleistet. (1) Fr Hume gehçrt das moralisch Gute bzw. Schlechte zu einem Handlungskomplex, in welchem der Zusammenhang zwischen der inneren Einstellung und den ußeren Gegebenheiten wesentlich ist: [T]he relations from which […] moral distinctions arise, must lie only betwixt internal actions, and external objects, and must not be applicable either to internal actions, compared among themselves, or to external objects, when placed in opposition to other external objects. (PW II 241)

Wenn nun einerseits jeweils nur die ,inneren‘ oder ,ußeren‘ Beziehungen betrachtet wrden, kçnnte eine Person entweder eines Verbrechens an sich selbst unabhngig von einer konkreten Handlungssituation schuldig werden – eine berlegung, die in Kants Konzeption der Pflichten gegen sich selbst wieder aufscheint – oder jegliche Konstellation, auch in der unbelebten und unbeseelten Welt, erhielte einen moralischen Status.193 Auf der anderen Seite sei es schwierig, alle relevanten Verhltnisse zwischen den ußeren Gegebenheiten sowie den Leidenschaften, der Willenskraft und den beabsichtigten Handlungen aufzuspren. Und selbst wenn sich diese Verhltnisse aufweisen ließen, bliebe die Aporie bestehen, wie der Zusammenhang zwischen diesen Verhltnissen und einem ttigen Willen als eine einflußnehmende Motivation zu erklren ist.194 (2) Bezglich der Faktizitt stellt Hume unmißverstndlich fest, daß moralische Qualitten schlicht kein Objekt fr die Vernunft sein kçnnen. Eine Handlung kann in allen ihren Aspekten untersucht werden, aber die moralische Zuschreibung geht letztlich nicht aus dieser Analyse, sondern aus einer Empfindung (sentiment) der Billigung oder Mißbilligung hervor: 193 Hume fhrt hier das Beispiel des jungen Baumes an, der den ,elterlichen‘ Baum berragt und damit ,tçtet‘ (vgl. PW II 243 f.). 194 PW II 242 f.: „’Tis one thing to know virtue, and another to conform the will to it. In order, therefore, to prove, that the measures of right and wrong are eternal laws, obligatory on every rational mind, ’tis not sufficient to shew the relations upon which they are founded: We must also point out the connexion betwixt the relation and the will; and must prove that this connexion is so necessary, that in every welldisposed mind, it must take place and have its influence. […] Now besides what I have already prov’d, that even in human nature no relation can ever alone produce any action; besides this, I say, it has been shewn, in treating of the understanding, that there is no connexion of cause and effect [W]e cannot prove a priori, that these relations, if they really existed and were perceiv’d, wou’d be universally forcible and obligatory.“ Bekanntlich hat Kant genau dies als seine Aufgabe begriffen, womit er sich nicht nur in der Erkenntnistheorie, sondern auch in der Moralphilosophie von Hume gefordert fhlen mußte.

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You never can find [the vice], till you turn your reflection into your own breast, and find a sentiment of disapprobation, which arises in you, toward this action. Here is a matter of fact; but ’tis the object of feeling, not of reason. It lies in yourself, not in the object. […] Nothing can be more real, or concern us more, than our own sentiments of pleasure and uneasiness; and if these be favourable to virtue, and unfavourable to vice, no more can be requisite to the regulation of our conduct and behavior. (PW II 245)

Da die erforderlichen Voraussetzungen (1) und (2) nicht erfllt sind, kçnnen die Vernunft und die mit ihr verbundenen Ideen keinen Anspruch auf die letztgltige Entscheidung in moralischen Fragen erheben. Somit verbleiben die Eindrcke (impressions) als diejenige Form der Vorstellungen, auf die sich die moralische Billigung bzw. Mißbilligung bezieht. Auffallend ist der Kontrast, mit dem Hume in der Treatise of Human Nature die Rolle der moralischen Empfindung (moral sentiment, feeling) bzw. des moralischen Sinns (moral sense) von der Vernunft abhebt, wohl um deren zuweilen unmerkliche Wirkung zu verstrken: „Morality […] is more properly felt than judg’d of; tho’ this feeling or sentiment is commonly so soft and gentle, that we are apt to confound it with an idea […].“ (PW II 246) Im Anhang zur Enquiry Concerning the Principles of Morals (Concerning Moral Sentiment) fllt diese Differenzierung weniger distinkt aus, vielmehr geht es nun um eine Art Arbeitsteilung (partition) von Vernunft und Gefhl. Die Vernunft mit ihrer spezifischen Funktion wird somit rehabilitiert, denn sie ist wichtig fr die Bestimmung der Relationen und Verbindungen zwischen den faktischen Sachverhalten, auf deren Basis berhaupt erst moralische Urteile gefllt werden kçnnen. Ein wesentlicher Grund fr diese Gewichtung ist in der Bedeutung zu sehen, die dem Prinzip der allgemeinen und nicht am Eigeninteresse orientierten Ntzlichkeit im Rahmen der Enquiry zukommt: „[A] very accurate reason or judgment is often requisite, to give the true determination, amidst […] intricate doubts arising from obscure or opposite utilities“ (PW IV 259). Die von der Vernunft erkannte Ntzlichkeit beschreibt jedoch lediglich die zur Verwirklichung eines bestimmten Zwecks notwendige Ausrichtung (tendency) eines Handelnden. Da dieser ntzliche Zweck aber als solcher vçllig indifferent in bezug auf moralische Urteile ist, kann allein mit ihm noch keine Aussage darber getroffen werden, welche als ntzlich erachtete Handlungsweise zu bevorzugen ist. Diese Funktion erfllt erst die Empfindung (sentiment): This sentiment can be no other than a feeling for the happiness of mankind, and a resentment of their misery; since these are the different ends which

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virtue and vice have a tendency to promote. Here, therefore, reason instructs us in the several tendencies of actions, and humanity makes a distinction in favour of those which are useful and beneficial. (PW IV 259)

Hume argumentiert anhand von fnf Einwnden fr die Richtigkeit seiner Hypothese, der gemß die unterschiedlichen Fhigkeiten von Vernunft und Gefhl in allen moralischen Entscheidungssituationen relevant sind: (1) Dem Einwand der faktischen Sachverhalte von Handlungen und deren Vergleich durch die Vernunft wird mit denselben Argumenten begegnet wie in der Treatise of Human Nature: Moralisch zu befrwortende Handlungen lassen sich nur dadurch bestimmen, daß sie bei einem Beobachter (spectator) das angenehme Gefhl der Zustimmung (pleasing sentiment of approbation) bzw. Nichtzustimmung hervorrufen. (PW IV 259–261) (2) Im Gegensatz zum spekulativen Vorgehen der Vernunft etwa in der Geometrie, wo von bereits bekannten Verhltnissen ausgehend auf noch unbekannte Verhltnisse geschlossen werden kann, mssen bei der Bewertung von Handlungen bereits im Vorfeld alle fr die Beurteilung relevanten Tatsachen und Verbindungen bekannt sein, damit das Denk- und Erkenntnisvermçgen in der Betrachtung des Gesamtzusammenhangs ein Gefhl fr „some new impression of affection or disgust, esteem or contempt, approbation or blame“, erlangen kann. (PW IV 261–263, hier 262) (3) Moralische Schçnheit und natrliche Schçnheit werden von Hume in ein analogisches Verhltnis gesetzt, um zu zeigen, daß die entsprechende Empfindung des Schçnen als ein Ganzes mehr ist als die bloße Beschreibung der zum schçnen Objekt bzw. der Handlung gehçrenden Teilaspekte und deren Anordnung. (PW IV 263 f.) (4) Die bloße Verhltnisbestimmung kann – wie bereits bei Hutcheson – keine moralische Relevanz beanspruchen, denn dieselben Verhltnisse, die bei intendiert handelnden Personen zu befrworten oder abzulehnen sind, treten (strukturell) auch bei unbelebten bzw. unbeseelten Dingen auf und unterliegen dort keiner moralischen Beurteilung. (PW IV 264)195

195 So auch PW II 247: „I have objected to the system, which establishes eternal rational measures of right and wrong, that ’tis impossible to shew, in the actions of reasonable creatures, any relations, which are not found in external objects; and therefore, if morality always attended these relations, ’twere possible for inanimate matter to become virtuous or vicious.“

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(5) Den endgltigen (moralischen) Zweck menschlicher Handlungen sieht Hume nicht in den analytischen Ergebnissen der Vernunft begrndet, sondern in der Tatsache, daß „[s]omething must be desirable on its own account, and because of its immediate accord or agreement with human sentiment and affection“. Da die Moral bzw. Tugend im Hinblick auf die Menschheit einen Zweck ,an sich‘ darstellt, der nicht von anderen Zwecken (Vorteil, Belohnung etc.) abhngig ist, muß es eine von der Vernunft verschiedene Empfindung (taste, sentiment) geben, welche der unmittelbaren Befriedigung bei der Wahrnehmung dieses Zwecks entspricht. (PW IV 264–266, hier 265)196 Hume weist der moralischen Empfindung einen entscheidenden Stellenwert zu und deutet damit zugleich eine Perspektive fr sein Verstndnis von affirmativen Selbstverhltnissen an: Im Wohlwollen (benevolence) zeigt sich demnach ein natrlicher Ausgangspunkt fr moralisches Handeln, welches auf das Wohlergehen der Menschheit sowie in der weiteren Erçrterung der Enquiry (Abschnitte 5–8) auf die Ntzlichkeit und Annehmlichkeit sowohl fr sich selbst als auch fr andere Personen gerichtet ist. Die moralische Empfindung ist dabei als gnzlich unabhngig von der Differenz zwischen den çffentlichen und privaten Interessen gedacht, so daß auch die Selbstliebe (self-love), als nur auf den eigenen Vorteil bedachte Selbstbezugnahme, nicht als Ursache moralischer Entscheidungen und Haltungen in Betracht kommt.197 Zwar ist die Wirksamkeit der Selbstliebe als naheliegendes Interesse am eigenen Selbst nicht zu verleugnen, dennoch kann sie nicht berzeugend als Erklrung fr die Prinzipien der Moral herhalten, weshalb Hume eine umfassende Kritik an dieser Ausgangsposition formuliert. Seiner Auffassung nach sprechen vielmehr gewichtige (empirische) Grnde dafr, daß der Aspekt der allgemeinen Ntzlichkeit und Annehmlichkeit wesentlich fr unsere moralischen Unterscheidungen ver196 PW IV 265: „[Reason] discovers objects, as they really stand in nature, without addition or diminution: [taste] has a productive faculty, and gilding and staining all natural objects with the colours, borrowed from internal sentiment, raises, in a manner, a new creation. Reason, being cool and disengaged, is no motive to action, and directs only the impulse received from appetite or inclination, by showing us the means of attaining happiness or avoiding misery: Taste, as it gives pleasure or pain, and thereby constitutes happiness or misery, becomes a motive to action, and is the first spring or impulse to desire and volition.“ 197 PW IV 248: „Avarice, ambition, vanity, and all passions vulgarly, though improperly, comprized under the denomination of self-love, are here excluded from our theory concerning the origin of morals, not because they are so weak, but because they have not a proper direction, for that purpose.“

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antwortlich ist, da diese Unterscheidungen auch dann getroffen werden, wenn kein unmittelbar individuelles Interesse betroffen ist. Daraus leitet Hume weniger eine faktische denn eine appellativische Aussage ab: [W]e must renounce the theory, which accounts for every moral sentiment by the principle of self-love. We must adopt a more public affection, and allow, that the interests of society are not, even on their own account, entirely indifferent to us. Usefulness is only a tendency to a certain end; and it is a contradiction in terms, that any thing pleases as means to an end, where the end itself no wise affects us. If usefulness, therefore, be a source of moral sentiment, and if this usefulness be not always considered with a reference to self; it follows, that every thing, which contributes to the happiness of society, recommends itself directly to our approbation and good-will. (PW IV 207)198

Ausgehend von verschiedenen Beispielen fordert Hume daraufhin die Beachtung der bestimmenden Wirksamkeit des wohlwollenden Prinzips (force of the benevolent principle) ein, da sich anhand der alltglichen Erfahrungen zeigen lßt, wie sehr ein Interesse fr die Allgemeinheit geschtzt und geachtet wird. Zudem kann damit der Zweifel berwunden werden, ob es berhaupt so etwas wie ein Prinzip der Menschlichkeit (humanity) oder Rcksichtnahme (concern for others) gibt. (Vgl. PW IV 217) ber natrliche Menschenliebe (natural philanthropy), die bei allen Menschen vorauszusetzen ist, werden das Wohlwollen und die Menschlichkeit so miteinander verknpft, daß ausschließlich selbstbezogene Neigungen wie das eigenntzige Interesse, Neid oder Rachegefhle diese Disposition zwar durchaus verderben, aber nicht gnzlich in Abrede stellen kçnnen.199 198 Dazu auch die Anmerkung (PW IV 207 f.): “It is sufficient, that this is experienced to be a principle in human nature. […] No man is absolutely indifferent to the happiness and misery of others.” 199 PW IV 212 f.: „How, indeed, can we suppose it possible in any one, who wears a human heart, that if there be subjected to his censure, one character or system of conduct, which is beneficial, and another, which is pernicious, to his species or community, he will not so much as give a cool preference to the former, or ascribe it to the smallest merit or regard? Let us suppose such a person ever so selfish; let private interest have ingrossed ever so much his attention; yet in instances, where that is not concerned, he must unavoidably feel some propensity to the good of mankind, and make it an object of choice, if every thing else be equal. […] All mankind so far resemble the good principle, that, where interest or revenge or envy perverts not our disposition, we are always inclined, from our natural philanthropy, to give the preference to the happiness of society, and consequently to virtue, above its opposite. Absolute, unprovoked, disinterested malice has never, perhaps, place in any human breasts; or if it had, must there pervert all the sentiments of morals, as well as the feelings of humanity.“

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Demnach erfolgt auch die Beurteilung einer Person und ihres Charakters immer im Hinblick auf den Nutzen und die Annehmlichkeit, welche die entsprechenden Handlungen fr die Gesellschaft haben, wobei die Vorstellung von Verdienst (merit) und Achtung (regard) eine entscheidende Rolle spielt, denn hieran bemißt sich die Wertschtzung innerhalb einer sozialen Gemeinschaft.200 Darber hinaus ist es der Maßstab der Menschheit, der allein in der Lage ist, im Gegensatz zum Prinzip der Selbstliebe eine allgemeinverbindliche moralische Struktur bereitzustellen, die nicht fr ein einzelnes Individuum, sondern fr alle Menschen gilt: And though this affection of humanity may not generally be esteemed so strong as vanity or ambition, yet, being common to all men, it can alone be the foundation of morals, or of any general system of blame or praise. One man’s ambition is not another’s ambition; nor will the same event or object satisfy both: But the humanity of one man is the humanity of every one; and the same object touches the passion in all human creatures. (PW IV 248 f.) 200 Es ist auffllig, daß sich in der Treatise of Human Nature im Abschnitt „Of love and hatred“ unter dem Titel „Of our esteem for the rich and powerful“ eine Auffassung bezglich Reichtum, Verdienst und Hochschtzung findet, die in fast gleichlautender Diktion in Kants Beobachtungen (siehe Abschnitt 2.2.1) vorkommt, wobei ein ironisch-kritischer Unterton, der dort hervorgetreten ist, hier noch vollkommen fehlt: „Nothing has a greater tendency to give us an esteem for any person, than his power and riches; or a contempt, than his poverty and meaness: And as esteem and contempt are to be consider’d as species of love and hatred, ’twill be proper in this place to explain these phænomena. Here it happens most fortunately, that the greatest difficulty is not to discover a principle capable producing such an effect, but to choose the chief and predominant among several, that present themselves. This satisfaction we take in the riches of others, and the esteem we have for the possessors may be ascrib’d to three different causes. First, To the objects they possess; such as houses, gardens, equipages; which, being agreeable in themselves, necessarily produce a sentiment of pleasure in every one, that either considers or surveys them. Secondly, To the exspectation of advantage from the rich and powerful by our sharing their possessions. Thirdly, To sympathy, which makes us partake of the satisfaction of every one, that approaches us. All these principles may concur in producing the present phænomenon. The question is, to which of them we ought principally to ascribe it.“ (PW II 145 f.) Hume fhrt weiter aus (Ebd. 145–152), daß es nicht der zu erwartende Vorteil fr einen selbst ist, der die Wertschtzung fr den Besitzenden auslçst, sondern das Mitgefhl (sympathy) in der Wahrnehmung der entsprechenden Objekte, die ein Wohlgefallen hervorrufen: Der Wohlhabende kann sich an Dingen erfreuen, an denen man sich selbst auch erfreuen kann, und indem man sich mitempfindend in den Besitzer dieser Dinge hineinversetzt, kann deren Schçnheit zugleich selbst versprt werden. Dieser Aspekt wird deshalb in der sog. Affektenlehre des zweiten Buches („Of the passions“) abgehandelt.

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In Humes Verstndnis kçnnen sich affirmative und moralische Selbstverhltnisse nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen ausbilden, zumal ein erhebliches Bedrfnis nach diesem Zusammenhalt (remarkable desire of company) besteht.201 Erst das gesellschaftliche Miteinander verbrgt als konstitutiver Bestandteil eine Beziehung zum eigenen Selbst, deren angemessene Ausgestaltung sich in der Wertschtzung durch andere Menschen widerspiegelt.202 Diese entschuldigen folglich auch nicht den absoluten Mangel an Selbstwertgefhl und Wrde des Charakters (spirit and dignity of character) oder das Fehlen eines entsprechenden Gesprs dafr, was man sich selbst in der Gesellschaft und in der alltglichen Lebensgestaltung schuldig ist: „Where a man has no sense of value in himself, we are not likely to have any higher esteem of him.“ (PW IV 234) Die Achtung seiner selbst hat in bezug auf das Denk- und Erkenntnisvermçgen dabei einen vergleichbaren Stellenwert wie die Unversehrtheit der kçrperlichen Konstitution: A certain degree of generous pride or self-value is so requisite, that the absence of it in the mind displeases, after the same manner as the want of a nose, eye, or any of the most material features of the face or members of the body. (PW IV 233)

Das Interesse am eigenen Selbst und dem nheren sozialen Umfeld erscheint hier zunchst als bestimmendes Moment, allerdings unterliegt das affirmative und moralische Selbstverhltnis zugleich einer Entwicklung, die kognitiv beeinflußbar ist: Fr Hume ist der Umstand, daß Menschen Mitleid haben, einerseits eine wesentliche Voraussetzung fr die Ethik, andererseits kann man es dabei nicht bewenden lassen, sondern dieses Gefhl bedarf der sozialen Erfahrung und darauf gegrndeter Urteile ber 201 Dieses Bedrfnis nach Gesellschaft verbindet vernnftige Wesen, die sich nicht gegenseitig gewaltsam vernichten, und zwar „without any advantages they can ever propose to reap from their union. This is still more conspicious in man, as being the creature of the universe, who has the most ardent desire of society, and is fitted for it by the most advantages. We can form no wish, which has not a reference to society. A perfect solitude is, perhaps, the greatest punishment we can suffer.“ (PW II 150) 202 Siehe zur Spiegel-Metapher PW II 152, wo Hume die Ansicht vertritt, daß ein Mensch ohne Gesellschaft und ohne Mitmenschen, mit denen er sich gemeinsam erfreuen und sympathische Gefhle teilen kann, unglcklich sein muß. In der Enquiry scheint zudem die Verwirklichung der Humanitt, verstanden als Nchstenliebe, als Grundlage fr jegliche Selbstliebe gedacht zu sein: „It is requisite, that there be an original propensity of some kind, in order to be a basis to self-love, by giving a relish to the objects of its pursuit; and none more fit for this purpose than benevolence or humanity.“ (PW IV 255; vgl. dazu auch in Hume (2002) Anm. 66, 289 f.)

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menschliche Charakterzge, um ,kultiviert‘ zu werden.203 Durch die akute moralische Empfindung und das Erfahren des Mitleidens wird das Verhltnis zu sich selbst modifiziert, worin sich zugleich die Aufforderung ausdrckt, eine bestimmte Haltung einzunehmen und dementsprechend moralisch zu urteilen. Die das eigene Selbst bestimmende Haltung ist als selbstlose Gemtsart (generous spirit) und Selbstachtung (self-value) entweder fr andere oder fr einen selbst unmittelbar angenehm und erfhrt ihre notwendige Beschrnkung, indem die moralische Empfindung die Anmaßung und berheblichkeit in beiden Fllen als Unannehmlichkeit sprbar macht.204 Somit ist das Verhltnis einer Person zu sich selbst in eine zweifache Perspektivierung eingebunden, die sich einerseits an der Selbstwahrnehmung der als allgemein menschlich erachteten moralischen Empfindung orientiert, und andererseits in einem stetigen Bezug zu einer sozialen Gemeinschaft steht. Erst letztere ermçglicht es berhaupt, sich selbst als Person neben anderen Personen zu verstehen und im eigenen Streben nach Anerkennung dem empfundenen Anspruch der Menschlichkeit gerecht zu werden: [One] spring of our constitution, that brings a great addition of force to moral sentiment, is, the love of fame; which rules, with such uncontrolled authority, in all generous minds, and is often the grand object of all their designs and undertakings. By our continual and earnest pursuit of a character, a name, a reputation in the world, we bring our own deportment and conduct frequently in review, and consider how they appear in the eyes of those who approach and regard us. This constant habit of surveying ourselves […] keeps alive all the sentiments of right and wrong, and begets, in noble natures, a certain reference for themselves as well as others; which is the surest guardian of every virtue. [O]ur regard to a character with others seems to arise only from a care of preserving a character with ourselves; and in order to attain 203 PW IV 215: „Sympathy […] is much fainter than our concern for ourselves, and sympathy with persons remote from us, much fainter than that with persons near and contiguous; but for this very reason, it is necessary for us, in our calm judgments and discourse concerning the characters of men, to neglect all these differences, and render our sentiments more public and social. […] The intercourse of sentiments, therefore, in society and conversation, makes us form some general unalterable standard, by which we may approve or disapprove of characters and manners.“ 204 Vgl. PW IV 242 f. Streminger bersetzt in Hume (2002) „generous spirit“ mit „edles Selbstwertgefhl“ (192), allerdings gert damit gerade der wesentliche Aspekt aus dem Blick, daß es sich beim „generous spirit“ nicht um das Bewußtsein des eigenen Wertes, sondern um die bewußte Haltung des eigenen Selbst anderen gegenber und fr andere handelt.

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this end, we find it necessary to prop our tottering judgment on the correspondent approbation of mankind. (PW IV 251, Hervorh. F.B.)205

Sowohl bei Hutcheson als auch bei Hume sind das affirmative und das moralische Verhltnis zum eigenen Selbst in einen konzeptionellen Zusammenhang eingebunden, der sich mit der Annahme eines moral sense bzw. moral sentiment deutlich von psychologisch-hedonistischen sowie rationalistischen Theorien der Selbstbezugnahme abzuheben versucht. Wesentlich ist dabei die Verortung personaler Selbstverhltnisse in den Kontext sozialer Gemeinschaften, in denen eine Person nicht solipsistisch auf sich allein, sondern immer auch auf andere Personen und deren Handlungen bezogen ist. Mit dem Verweis auf diese wechselseitige Beziehung aller handelnden Individuen in einer Gesellschaft wird vor allem die allgemeine Vorstellung von einer umfassenden Menschheit hervorgehoben, die es um ihrer selbst willen in moralischen Entscheidungen zu bercksichtigen gilt. Damit kehrt sich die Blickrichtung in der Bewertung einer Person um: Whrend in den von Hutcheson und Hume kritisierten Theorien zur Begrndung der Moral das individuelle Eigeninteresse in der grundlegenden Form einer Mittel-Zweck-Relation nicht nur Ursache und Anlaß, sondern auch stetige Motivation zur Vergesellschaftung ist, wird nun die empirische Tatsache, daß es moralische Bewertungen gibt, die vom individuellen Eigeninteresse unabhngig sind, zum Ausgangspunkt einer altruistischen Struktur, in der sich das Verhltnis des einzelnen zu sich selbst am Maßstab des allgemein Menschlichen bemißt. 2.2.1.4 Konzepte affirmativer Selbstbezogenheit im deutschsprachigen Raum Im Anschluss an die Betrachtung der angelschsischen Debatte, die sich von Hobbes und Mandeville ausgehend im wesentlichen ber Shaftesbury, Hutcheson und Hume entfaltet und das Eigeninteresse des einzelnen in der Bezogenheit auf eine ethisch-moralische Begrndung umfassend zu erlutern bzw. zu kritisieren versucht, kann der Vergleich mit der zeitgençssischen deutschsprachigen Philosophie gezogen werden. Dabei wird 205 Der Schwerpunkt der analysierenden Interpretation liegt hier bewußt auf der systematischen Funktion des moral sentiment, da nach meiner Ansicht in Humes berlegungen die vergleichende Wertschtzung und das Bemhen um Anerkennung im Zusammenleben mit anderen Menschen keine konstitutiven Bedingungen fr die moralische Selbstbeurteilung sind, sondern vor allem eine verstrkende Wirkung auf das bereits vorhandene moralische Beurteilungsvermçgen ausben.

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eine gewisse Diskrepanz ersichtlich: Whrend jene Vertreter der Frage nach der affirmativen Selbstbezogenheit noch eine zentrale systematische Bedeutung gegeben hatten, verliert die Selbstliebe bei den deutschen Autoren an Relevanz – trotz der zum Teil weitreichenden Rezeption angelschsischer Schriften.206 Gleichwohl gab es Versuche, die sich mit Selbstliebe und weiteren Formen der Selbstbezglichkeit auseinandergesetzt haben, wie das Beispiel von Johann August Eberhard zeigt, der sowohl in lexikographischer als auch moralphilosophischer Hinsicht entsprechende berlegungen vorgestellt hat.207 Ihm geht es dabei vor allem um die Beschreibung der funktionalen Rolle von Selbstliebe als emotives Korrelat zur beurteilenden Selbstschtzung, woraus nicht notwendigerweise ein normativer Anspruch hervorgeht. Dagegen nimmt Johann Georg Hamann, der durch seinen Aufenthalt in London (1757/58) und die intensive Lektre von Shaftesbury wohl weitaus mehr als Eberhard von der angelschsischen Moralphilosophie beeinflußt war,208 eine Bestimmung vor, in der sich seine intensive und kommentierende Lektre der Bibel widerspiegelt. Das Wirken eines Schçpfergottes als „erste Ursache aller Dinge“ ist dabei fr Hamann die unbedingte Voraussetzung, um die Liebe zu sich selbst im Verhltnis zur Nchsten- und Gottesliebe grundstzlich und neuartig durchdenken zu kçnnen.209 Ausgangspunkt seiner Konzeption ist die Verbindung und hnlichkeit von Selbstliebe und Freiheit, wobei die Selbstliebe zunchst als natrliche Selbsterhaltung und damit als notwendiger Antrieb und Grundlage allen Denkens und Wollens begriffen wird.210 Die Handlungen aus Freiheit werden demnach durch ein Bestreben der Liebe zum eigenen Selbst bestimmt, welches bewußt um der eigenen Erhaltung willen agiert 206 Siehe dazu Engbers (2001), dessen Untersuchung aufzeigt, daß sich entgegen bisheriger Auffassungen zwar eine Rezeption der schottisch-englischen Moralphilosophie ereignet hat, diese aber durchaus skeptisch und kritisch, mithin nicht nur wohlwollend betrachtet wurde. 207 Vgl. Abschnitt 2.1.3. 208 Hamann bersetzte u. a. Shaftesburys Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour (Smtliche Werke, Bd. 4, Wien 1952, 155–191). 209 Hamann (1993), 409. Die Hervorhebungen und in Klammern gesetzten Ergnzungen in den folgenden Hamann-Zitationen sind Bestandteil dieser Ausgabe, wobei „v.“ fr „und“ steht. 210 „Sind es nicht die bloßen Erscheinungen der Selbstliebe, die wir mit dem Begriff der Freyheit belegt? Diese Selbstliebe ist das Herz unseres Willens, aus dem alle Neigung[en] und Begierden gleich den Blut= und Pulsadern entspringen und zusammen laufen. Wir kçnnen so wenig denken ohne uns unserer bewust zu seyn, als wollen, ohne uns unserer bewust zu seyn.“ (Hamann (1993), 407)

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und in der Freiheit der Handlungen den gesetzmßigen Garanten der intendierten Selbstbehauptung sieht. Obwohl diese auf den eigenen Vorteil bedachte Liebe zu sich selbst und zu den eigenen Dingen fr Hamann prinzipiell nichts Verwerfliches an sich zu haben scheint, stellt er gleich im Anschluß den Kern seiner elaborierten Auffassung von Selbstliebe vor, die als solche zwar die zuvor geschilderte natrliche Selbstbehauptung als einen Teilaspekt der Selbstliebe in sich enthalten kann, aber gerade nicht allein auf diese zurckzufhren sein soll. In kommentierender Anlehnung an Joh 8,32211 ist die durch die Erkenntniskrfte ermçglichte Selbsterkenntnis zwingend mit der durch Neigungen und Begierden bestimmten Selbstliebe verbunden: „So lange es den Menschen nicht mçgl. ist, sich selbst zu kennen; so lange bleibt es eine Unmçglichkeit fr ihn sich selbst zu lieben.“212 Indem die Selbstliebe als von der Selbsterkenntnis abhngig gedacht wird, erhlt sie ein ihr entsprechendes Korrektiv, welches die nçtige Zurckhaltung vor willkrlichem und ungezgeltem Eigennutz gewhrleisten soll. Aber kann sich der Mensch berhaupt adquat erkennen? Nach Hamann ist eine Erkenntnis unserer selbst nicht per se mçglich, sondern erfordert eine komplexere Erfassung der fr das menschliche Dasein konstitutiven Bedingungen. Zuerst ist die Einsicht in die Existenz eines Schçpfergottes und dessen unmittelbare Einflußnahme auf die menschliche Natur, also deren Bestimmung und Beschrnkung wesentlich. Darber hinaus sind es die jeweiligen Mitmenschen, die in vielfltiger Weise auf das einzelne Selbst einwirken und damit sowohl dessen eigene Einschtzung wie auch berhaupt erst ein Verhltnis zu einer sozialen Gemeinschaft mçglich machen. Die Erkenntnis des Zustands der menschlichen Natur auf der Welt wird folglich in einer Verbindung generiert, deren Begrndung sich aus der Schçpfungsgeschichte ableitet, die wiederum ihre weltliche Wirkung in den sozialen Beziehungen zwischen Menschen entfaltet. In erkenntniskritischer Form legt Hamann einerseits die Schwierigkeiten dar, die – neben der vergleichsweise unproblematischen empirischen Erkenntnis – mit der Erfassung einer hçheren Wesenheit wie dem Schçpfergott verbunden sein mssen, weshalb fr die Vernunft nichts weiter verbleibt, als sich den nicht-empirischen Sachver-

211 Bibel (1990), Joh 8,31 f.: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jnger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ 212 Hamann (1993), 408.

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halten ber Analogien anzunhern.213 Andererseits kann Hamann aus der Offenbarung die nçtige Zuversicht beziehen, wonach eine Erkenntnis seiner selbst nicht ausschließlich ber den bedingungslosen Glauben an die Schçpfung und an Gott, sondern gerade in der permanenten Besttigung durch die Mitmenschen als ein prozessualer Vorgang initiiert wird: Um die Erkenntnis unserer Selbst zu erleichtern, ist in jedem Nchsten mein eigen Selbst als in einem Spiegel sichtbar. Wie d[as] Bild meines Gesichts im Wasser wiederscheint; so ist mein Ich in jedem Nebenmenschen zurckgeworfen. Um mir dies Ich so lieb als mein eigenes zu machen, hat die Vorsehung so viele Vortheile und Annehmlichkeit[en] in der Gesellschaft der M[enschen] zu vereinigen gesucht. Gott und mein Nchster gehçren also zu meiner Selbsterkenntnis; zu meiner Selbstliebe.214

Indem mit der Verknpfung von bedingungsloser Liebe zu Gott und der Zuneigung fr den Nchsten wie fr uns selbst ein wechselseitiger Verweisungszusammenhang eingefhrt wird,215 gelingt es Hamann nicht nur, das vorgebliche ,Wesen‘ des Bçsen als eine Art Verlust dieser Balance zu erklren,216 sondern mit dem universalen Verstndnis von Gesetz und Gesetzgeber zugleich das Kernstck einer politischen Philosophie hervorzuheben. Da die Freiheit nicht ohne Gesetze bestehen kann, und diese „durch den Grundtrieb der Selbstliebe“ bewirkt werden, macht es einen

213 Auf diese Problematik kommt Kant zurck u. a. in den Prolegomena zu einer knftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten kçnnen [1783], wo er gegen einen dogmatischen Anthropomorphismus, der die Mçglichkeit der Erkenntnis des eigentlich nicht Erkennbaren schlechthin behauptet, die Funktion der regulativen Analogie in einem symbolischen Anthropomorphismus verteidigt (vgl. dort § 57 f.). Siehe zum Verfahren der Analogie bei Kant Pieper (1996) sowie Bornmller (2007), 161 ff. 214 Hamann (1993), 410. Diese Feststellung bezieht sich auf Bibel (1990), Spr 27,19: „Wie sich im Wasser das Angesicht spiegelt, so ein Mensch im Herzen des andern.“ 215 Hamann (1993), 410: „Was fr ein Gesetz, was fr ein entzckender Gesetzgeber, der uns befiehlt ihn selbst mit ganzem Herzen zu lieben, und unsern Nchsten als uns selbst. Dies ist die wahre v. einzige Selbstliebe des Menschen, die hçchste Weisheit der Selbsterkenntnis eines Christen, der nicht nur Gott als d[as] hçchste, wohlthtigste, einzige und allein gute und vollkommene Wesen liebt, sondern berdies weiß, daß dieser Gott selbst Sein Nchster, und Seines Nebenmenschen Nchster im strengsten Verstande geworden ist, damit wir alle mçgl. Ursache htte Gott und unsern Nchsten zu lieben.“ 216 Die genannten Bedingungen wechselseitiger Verweisung sind fr Hamann Garant eines gelingenden Lebens; wer im Zuge der Erkenntnis seiner selbst nicht imstande ist, diese das eigene Leben notwendig tragenden Bedingungen zu erkennen bzw. anzuerkennen, wird scheitern mssen. (Vgl. Hamann (1993), 412–415)

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Unterschied, ob die Vorschrift eines Gesetzes maßgeblich ist oder etwa ein richterliches Urteil aus Grnden der Billigkeit erfolgt: Das erste rhrt meine Eig[en]liebe gar nicht v. erstreckt sich auf meine Handlung allein, macht alle diejenigen daher mit mir gleich, die im gl.[eichen] Fall stehen. Der letzte, ein willkhrl. Spruch ohne Gesetz, ist aus entgeg[en] gesetzten Bewegung[en] der Selbstliebe, allemal als eine Knechtschaft fr uns.217

Gerade weil die Wirksamkeit eines derart allgemein gedachten Gesetzes paradigmatisch auf allen Seiten des Verweisungszusammenhanges erscheint, also die Ausfhrung der eigenen, selbstbestimmten Handlungen im Verhltnis zu den Mitmenschen ebenso wie die Gltigkeit der gçttlichen Gesetzesordnung betrifft, verbrgt erst die Erkenntnis seiner selbst und dieses Zusammenhanges eine ,wahrhaftige‘ Selbstbezglichkeit, in welcher sich der einzelne in einem immer schon bestehenden, aber je noch einzusehenden wechselseitigen Bezug wiederfindet: Hierinn besteh[en] allso alle die Vorzge der politisch[en] Freyheit 1. jeder weiß die Folg[en] seiner Handlung[en], und niemand kann selbige ungestraft bertreten; weil nichts als der Wille des Gesetzes mich einschrnken kann, und dieser Wille ist mir so wohl bekannt, als unwandelbar, ja der Wille des Gesetzes ist in all[en] Fllen vor mich und eine Sttze meiner Selbsterhaltung und Selbstliebe, daher beruffen wir uns auf Gesetze, daher frcht[en] wir selbige. Man fge noch hinzu, daß die Gesetze die wir uns selbst geb[en] aus eb [en] den Grunde der Selbstliebe uns niemals schwer vorkommen v. daß es ein grçßte Vorrecht freyer Staaten ist ihre eignen Gesetzgeber zu seyn. Gesetze schrnken nicht also die Freyheit ein, sondern geben mir die Flle zu erkennen, und die Handlung[en], die vortheilhafte oder nachtheil. Folgerung [en] fr meine Selbstliebe haben sollen, und diese Einsicht bestimmt daher uns.[ere] Neigung[en].218

Hamann gestaltet mit dieser integrativen Konzeption ein Verstndnis von Selbstliebe, das den bei Augustinus geußerten Vorbehalt gegen den amor privatus mit Verweis auf den immanenten Bezug zur Selbsterkenntnis und auf den eigenen Status als Geschçpf sowie die Offenbarung Gottes zu entkrften weiß: Die affirmative Selbstbezogenheit wird nicht mehr als 217 Hamann (1993), 415. Ein Urteil aufgrund von Billigkeit ist an einer ,Austauschgerechtigkeit‘ orientiert, die es in einem konkreten Fall ermçglichen soll, in abwgender Beurteilung aller vorliegenden Umstnde einen angemessenen Schuldspruch zu fllen. Fr Hamann hçrt an dieser Stelle die Verbindlichkeit des Gesetzes auf, da die Einbildungskraft hier in der Lage sei, „durch […] Schmeicheleyen oder argwçhnische Ueberlegung[en] von der Gerechtigkeit unsers Frsten oder Richters uns [zu] hintergeh[en]“ (ebd.). 218 Hamann (1993), 416.

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bloße emotionale Regung, sondern als durch vernnftige Einsicht charakterisierte Form umfassender Erkenntnis begriffen. Obwohl damit auf durchaus innovative Weise die Selbstaffirmation vom Ruch als Widerpart der ,eigentlichen‘ menschlichen Bestimmung befreit wird und als konstitutive sowie funktionale Bedingung in der wechselseitigen Vereinigung von Gottes-, Nchsten- und Selbstliebe anerkannt ist, bleibt sie doch von der unbedingten Voraussetzung der Offenbarung eines Schçpfergottes abhngig. Mit dieser Prmisse steht und fllt die gesamte Konzeption von einem wohlgeordneten Verhltnis, denn das gçttliche Gesetz und dessen Ordnung ist, auch und gerade in der natrlichen Selbsterhaltung in Handlungen aus Freiheit, bestimmend fr alle anderen Formen von Gesetzmßigkeit. Sobald diese Voraussetzung jedoch nicht akzeptiert wird, fallen die dann verbleibenden Elemente Selbstliebe und Nchstenliebe in eine Vagheit zurck, die keinen außerweltlichen Bezugspunkt mehr hat und anderer Begrndungen bedarf. Gleichwohl hat Hamann mit seinen berlegungen gezeigt, wie eine Rehabilitierung affirmativer Selbstbezogenheit aussehen kann, die nicht mehr die strikte Ablehnung jeglicher individueller Eigeninteressen, sondern gerade deren Einbeziehung in einen umfassenden systemischen Zusammenhalt beabsichtigt. In der deutschsprachigen Diskussion findet sich nach Hamann, also in der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts keine systematisch ausgearbeitete Position zum Thema Selbstaffirmation, sondern es werden lediglich vereinzelt Aspekte aus dem franzçsischen und englischen Kontext aufgegriffen, die in Artikeln der zu dieser Zeit bereits zahlreich erscheinenden Zeitschriften vorgestellt werden. Dabei erfolgt der Bezug zum einen auf die Tradition der franzçsischen Moralisten des 17. Jahrhunderts, denen die Liebe zum eigenen Selbst als Erscheinung mit einer Art ,Eigenleben‘ gilt, welches von den Menschen unterdrckt bzw. beherrscht zu werden hat. Die affirmative Selbstbezogenheit ist diesem Verstndnis zufolge mehr ein dmonenhafter innerer Feind und weniger ein immanenter Teil des eigenen Selbst, dessen noch unvollkommenes Selbstverstndnis sich kultivieren ließe. Das Gefhl und die Haltung von Selbstliebe bzw. Eigenliebe wird personifiziert und in eine vom eigenen Selbst weitgehend unabhngige Gestalt transformiert. So lßt sich die vermeintlich unvermeidliche Schlechtigkeit des Menschen in einen permanenten Zustand des Kampfes gegen das eigene Selbst berfhren, der eine Entfremdung aufrecht erhlt, die durch diese Dichotomie initiiert wird. Eine ausgewogen-differenzierte

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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Bewertung selbstbezglicher Verhltnisse ist auf diese Weise schon von vornherein unmçglich.219 Es handelt sich hierbei um eine konservative Position, die allerdings nicht unwidersprochen bleibt: Andere Autoren versuchen, die affirmative Selbstbezogenheit in einer strukturierteren und damit weniger einseitigen Form zu begreifen. So finden sich etwa in einem 1764 anonym erschienenen Aufsatz berlegungen, die von einer eher pragmatischen Beschreibung der Funktion einer besttigenden Haltung zu sich selbst ausgehen: Erst das Zutrauen in die eigenen Fhigkeiten gewhrleistet als Moment des Antriebs den Handlungsvollzug in einer Gesellschaft, da die Vorzge und Fhigkeiten einer Person nur zur Geltung kommen kçnnen, wenn diese ber die entsprechende Selbstsicherheit verfgt, ihren eigenen Anspruch tatschlich vertreten zu wollen.220 Dieser positiv-produktive und fr das Selbst auch konstitutive Aspekt ist dabei Teil eines dynamischen Prozesses, in welchem verschiedene Faktoren wie Selbsteinschtzung, Einschtzung durch die Mitmenschen und die eigenen wie auch die Fhigkeiten und Leistungen der Mitmenschen in Beziehung zueinander stehen. Der einzelne kann zwar durch die Unmittelbarkeit des Selbstbezugs zunchst ber sich selbst und seine Fhigkeiten von einem privilegierten Standpunkt aus urteilen, allerdings besteht hierbei die Gefahr des Selbstbetrugs, sobald die Selbsteinschtzung zur bloßen Illusion verkommt.221 In einer Gesellschaft wirken deshalb sowohl der Vergleich der Fhigkeiten und Verdienste der einzelnen Akteure wie auch deren jeweiliges Selbstverstndnis und das Verhalten zu ihren Mitmenschen wechselseitig aufeinander ein und machen durch die relationale Bezogenheit deutlich, ob und in welcher Hinsicht ein Mißverhltnis vorliegt. Erst in Betrachtung dieser Wechselwirkung wird z. B. deutlich, daß jemand einerseits ein 219 Ein Vertreter dieser Auffassung ist La Rochefoucauld (vgl. Fn 158); in hnlicher Form ußert sich Saint-Ral (1759), 111: „Die Eigenliebe ist die Liebe seiner selbst, und aller Dinge, die uns betreffen. Sie macht die Menschen zu Gçtzendienern von sich […]. Nichts ist so heftig, als ihre Wnsche, nichts so verborgen, als ihre Anschlge, nichts so verschmitzt als ihre Leitungen. […] Man kann die Tiefe ihres Abgrundes nicht ergrnden, noch durch dessen Finsternissen dringen. Hier ist sie recht hellsehenden Augen aufgedeckt; und da macht sie tausend unmerkliche Kreise und Wendungen.“ 220 Anonym (1764), 485: „Ein gewisses Bewustseyn, ein Gefhl seiner eigenen Strke, ist kein Fehler. Mangelt dieses, so ist man zu allen grossen Unternehmungen ungeschickt. Soll man seine Krfte mit gehçriger Ueberlegung prfen, so wird man gegen sich selbst eben so gerecht seyn mssen als gegen andere, und sich selbst den Vorzug den man verdient, beylegen kçnnen.“ 221 Vgl. dazu Anonym (1760), bes. 252 f.

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wirkliches Verdienst fr sich in Anspruch nehmen kann, wofr ihm auch entsprechende Anerkennung gebhrt. Andererseits jedoch wird er, falls er bestndig diesen Vorzug hervorhebt und somit die nçtige Bescheidenheit vernachlssigt, in der Einschtzung seiner Mitmenschen als jemand erscheinen, der sich selbst und seine Fhigkeiten zu sehr liebt.222 Es zeigt sich hier bereits in Anstzen ein Bewußtsein fr die Notwendigkeit der vergleichenden Gebundenheit eines Individuums an seine Mitmenschen, die eine erfllende und nachhaltige Selbstaffirmation berhaupt erst mçglich macht. Der verkehrte Zustand der ausschließlichen Beachtung und Wertschtzung seiner selbst wird daher als Erscheinung zwar nicht endgltig zu verbannen sein, allerdings bietet die Einsicht in diesen Zusammenhang die Mçglichkeit fr jeden einzelnen, den letztlich selbstdestruktiven Charakter einer solchen Haltung zu erkennen.223 Auch der preußische Kçnig Friedrich II. hat sich mit diesem Thema befasst. Er kommt in einem Essay, der die affirmative Selbstbezogenheit als einen mçglichen Grundsatz der Moral untersucht, zu ganz hnlichen Schlussfolgerungen wie die eben besprochene Position.224 Gegen die von den franzçsischen Moralisten etablierte einseitige Verspottung und Dmonisierung der Selbstliebe als etwas prinzipiell Schlechtes wird hier das Eigeninteresse in seiner Ambivalenz begriffen und zum Ausgangspunkt der weiteren Erçrterung gemacht.225 Gerade weil selbstbezgliche Liebe so-

222 Vgl. Anonym (1764), 489 ff. 223 „Wie vieles Vergngen muß ein Mensch, welcher nichts achtet als sich selbst, entbehren? […] Die Annehmlichkeit, welche ihm die Betrachtung seines eigenen Bildes verschaft, wird ihm nach und nach alt, und alles außer ihm, giebt ihm zum Mißvergngen Gelegenheit. So viel ihm auch das Glck zuwendet, so ansehnlich auch die Ehrenstelle ist, zu der es ihn verhilft, so wird er es doch jederzeit mit einem finstern Verdruß ungerecht nennen, weil es nie im Stande seyn wird, seine eingebildeten Verdienste nach Wrden zu belohnen. […] Jede kleine Beleidigung, jede Demthigung, welche ihm etwas von der großen Achtung gegen sich selbst benimt, oder ihm zeigt, daß andere ihn nicht so viel achten als er sich selbst, wird ihn aufs usserste niedergeschlagen machen, ja vielleicht gar zu den ussersten Ausschweifungen verleiten.“ (Anonym (1764), 492 f.) 224 Friedrich II. (1770). In der franzçsischen Version Essai sur l’amour propre envisag comme principe de morale (Berlin 1770) verwendet Friedrich II. den Ausdruck „amour-propre“, bezieht sich damit aber, wie aus der Synonymverwendung von „Selbstliebe“ und „Eigenliebe“ in der deutschen Version ersichtlich wird, nicht auf die von Rousseau vorgenommene Unterscheidung in zwei verschiedene Ausdrcke und Begriffe fr Selbstaffirmation. 225 Friedrich II. hat zuvor die bisherigen Beweggrnde zur Tugend und zu sittlichem Handeln kritisiert, die aus seiner Sicht, von den Stoikern angefangen ber die

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wohl fr gutes wie fr nicht tugendgemßes Verhalten verantwortlich und zudem bei allen Menschen, egal ob einsichtig und reflektiert denkend oder nicht, anzutreffen ist, eignet sie sich, um einen allgemeinverbindlichen Grundsatz aus ihr abzuleiten.226 Da der eigene Nutzen unter allen Grnden, die als Auslçser und Antrieb fr Handlungen herangezogen werden kçnnen, „der strkste und berzeugendste“ ist, setzt Friedrich II. bei diesem Grund an, um den „wahre[n] Vorteil“ fr mçglichst viele Menschen hervorzuheben.227 Indem er die Vorteilserwgung, die hier als „Glckseligkeit“ bezeichnet wird, auf einen ußeren und einen inneren Aspekt bezieht, gibt er dem Konzept des Eigeninteresses die nçtige Differenziertheit, die sowohl das Streben nach çffentlicher Anerkennung und materiellem Wohlstand als auch die Zufriedenheit mit sich selbst und damit eine innere Gemtsruhe integrieren kann. Der ußere Aspekt ist willkrlich und beliebig, weil verschiedene Menschen nach unterschiedlichen Dingen streben und mitunter die gleichen Dinge geachtet wie auch verachtet werden kçnnen. Diesen ußerlichen Gegenstnden kommt somit kein inhrenter Wert zu, sie sind nicht an sich und unter allen Umstnden erstrebenswert. Deshalb sind sie nicht dazu geeignet, als allgemeinverbindliche Richtschnur zu dienen. Dies hat der innere Aspekt zu leisten, der so konzipiert ist, daß die affirmative Selbstbezogenheit verschiedene semantische Nuancierungen enthlt, die mit „Selbsterhaltung“, „Selbstbilligung“, „Selbstschtzung“ und „Selbstachtung“ bezeichnet werden kçnnten. Mit dieser vielseitigen Bestimmung soll dem Vorwurf begegnet werden, tugendhaftes Handeln sei notwendigerweise eine Haltung, in der das agierende Selbst den eigenen Nutzen vollstndig und damit selbstlos verleugnet. Da sich fr Friedrich II. das Eigeninteresse nicht in der Begierde nach „Reichthmern und Ehrenstellen“ erschçpft, sondern verschiedene ,Bestandteile‘ hat,228

Platoniker, Epikureer bis hin zum Juden- und Christentum, wenig erfolgreich gewesen seien. (Vgl. Friedrich II. (1770), 3–10.) 226 „Diese so mchtige Treibfeder [fr die Tugend; F.B.] ist die Selbstliebe, diese Aufseherin ber unsere Erhaltung, diese Stifterin unsers Glcks, diese unerschçpfliche Quelle unserer Laster und Tugenden, dieser verborgene Grund aller menschlichen Handlungen.“ Aus diesem Grund ist es sinnvoll, diesen Grundsatz „selbst zur Quelle des Guten, der Wohlfahrth, und der allgemeinen Glckseligkeit zu machen“. (Friedrich II. (1770), 10 f.) 227 Friedrich II. (1770), 11 f. 228 Zu diesen Bestandteilen der Selbstliebe gehçren (1) die Liebe zum Leben und zur eigenen Erhaltung, (2) das Verlangen, glcklich zu sein, (3) die Furcht vor Spott und Schande, (4) die Begierde nach Ruhm und Anerkennung, (5) das Bestreben nach allem, was man als vorteilhaft erachtet sowie (6) die Abneigung vor allem, was

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begreift er die Selbstaffirmation grundlegend als eine Haltung, die um ihrer selbst willen eingenommen wird: Gerade weil es um das tugendhafte Verhalten des einzelnen geht, muß jeder einzelne auch ein Interesse an diesem Verhalten in bezug auf sich selbst nehmen. Diese in einem umfassenderen Sinn verstandene Sorge um das eigene Selbst erhlt ihre konkrete Ausrichtung durch die Fhigkeit zur Einschtzung bestimmter Sachverhalte, die das eigene Selbst betreffen, so daß „weiter nichts nçthig [ist], als die Menschen recht urtheilen zu lehren“.229 Letztlich luft das Pldoyer fr die Liebe zu sich selbst als Grundlage der Moral auf ein Erziehungsprogramm hinaus, das zum Teil hnlichkeiten mit den berlegungen Rousseaus aufweist. Wie dieser erkennt Friedrich II. die affirmative Selbstbezogenheit als das konstitutive Moment menschlicher Natur an, welches vernnftiger Kultivierung bedarf, bezieht sich allerdings nicht auf die Wirksamkeit einer natrlichen, inneren Religion. In seiner Perspektive scheint das vorgngige Interesse an sich selbst also weniger ein Grundsatz zu sein, von dem sich dann weitere (Verfahrens-)Regeln ableiten ließen, sondern vielmehr eine unumgngliche Voraussetzung, damit berhaupt von Moral, in welcher Form auch immer, die Rede sein kann. Die Liebe zum eigenen Selbst wird auf diese Weise, wie auch bei Hamann, aus einer pejorativen Bestimmung herausgelçst und als funktionale Bedingung der Mçglichkeit menschlichen Handelns gesetzt. Indem es nicht mehr per se als innerer Widersacher begriffen wird, kann das Interesse am eigenen Selbst nun danach beurteilt werden, unter welchen spezifischen Voraussetzungen seine Ausprgung erfolgt und an welchen konkreten Punkten im Verhltnis des einzelnen zu seinen Mitmenschen in einer Gesellschaft es sich orientiert.230 Dieser komplexere Modus der Beschreibung rehabilitiert somit die Selbstliebe als ein konstitutives Prinzip und bercksichtigt den je individuellen Bezug und das Selbstverstndnis des einzelnen.

als fr die Selbsterhaltung schdlich angesehen wird. (Vgl. Friedrich II. (1770), 23 f.) 229 Die Frage lautet also: „Was soll ich thun, was soll ich meiden, um diese noch rohe und schdliche Selbstliebe ntzlich und lobenswert zu machen?“ (Friedrich II. (1770), 24) 230 „Kurz, die verschiedenen Triebfedern der Eigenliebe weislich regieren und alle Vortheile, die aus guten Handlungen entspringen, demjenigen wieder zueignen, welcher der Urheber derselben ist; dies ist das Mittel, aus dieser Triebfeder des Guten und Bçsen das Hauptwerkzeug zur Befçrderung der Tugenden und Verdienste zu machen.“ (Friedrich II. (1770), 27)

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Friedrich II. beschließt seine Untersuchung mit dem Verweis auf die Bedeutung des guten Beispiels, welches etwa Lehrer, in diesem Fall Philosophen und Theologen, neben der verstndlichen Vermittlung ihrer Kenntnisse abgeben sollen, um durch solcherart Anregung, Vorbild und Einfluß die Selbstliebe jedes einzelnen fr tugendhafte Handlungen zu motivieren.231 Wer garantiert jedoch fr die Charakterstrke und Fehlerlosigkeit dieser Autorittspersonen, d. h. wer erzieht den Erzieher? Auf welchen Bezugspunkt kann das Prinzip der Selbstliebe sich in der Beurteilung berufen? Und ist die bloße Vorstellung von einer wohlgeordneten Selbstliebe ausreichend, den Bestimmungsgrund ihrer Rechtmßigkeit abzugeben? Bereits ein zeitgençssischer Rezensent, Friedrich Germanus Ldke, hat auf diese problematischen Fragen aufmerksam gemacht.232 Denn Friedrich II. vertraut tatschlich allein auf die Wirkung der Selbstliebe, die diese wiederum aus sich selbst heraus zu generieren scheint, wobei ungeklrt bleibt, ob die eigene Einsicht in ein recht verstandenes und gemeinschaftsvertrgliches Eigeninteresse oder allein die Erziehung zu bestimmten Verhaltensformen (oder auch eine Kombination aus beidem) das ausschlaggebende Moment bildet. Ein Einwand setzt bei der Tatsache an, daß zahlreiche Menschen zwar meinen, einer wohlverstandenen Liebe zu sich selbst zu folgen, sich aber gerade in der Frage der Richtigkeit ihrer Auffassung irren oder sogar selbst tuschen – etwa aus Bequemlichkeit oder Furcht vor Unannehmlichkeiten. Hier relativiert Ldke die Auffassungen Friedrichs II.233 und vermutet, dessen als Grundsatz der Moral eingefhrte Selbstliebe bençtige selbst „allgemein erkannte und als wahr empfundene Grundstze“, um „recht geordnet“ werden zu kçnnen.234 Fr ihn sind diese Grundstze und damit das regulative Moment der Selbstaffirmation in der Religion begrndet, im Glauben an die Unsterblichkeit der Seele sowie die Instanz eines bergeordnet wirksamen und allwissenden Richters. Auch Gotthilf Samuel Steinbart sieht sich in seiner Replik auf den Essay Friedrichs II., dessen Auffassung er zunchst verteidigt, letztlich doch gençtigt, aufgrund der wenig berzeugenden Bestimmung des Prinzips der 231 Vgl. Friedrich II. (1770), 29 ff. 232 Ldke (1771), bes. 64 ff. 233 „Uns kommt es wenigstens so vor, als ob es unzhlige Flle gbe, wo das sonst ganz wahre und wirklich erste Principium aller Tugend, die Selbstliebe des Menschen, dennoch fr sich allein eine viel zu schwache Triebfeder der Moralitt ist, und von schlecht unterrrichteten, oder durch allerley Leidenschaften getriebenen Menschen, aus denen der große Haufe doch besteht, sogar zu Lastern kann gemißbraucht werden.“ (Ldke (1771), 66) 234 Ldke (1771), 67.

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Selbstliebe auf eine Position zurckzukommen, wonach Begrndung und Rechtfertigung fr angemessenes Handeln aus Interesse am eigenen Selbst auf einer religiçsen Ebene mit der Offenbarung als regulatives Leitbild verhandelt werden.235 Im Gegensatz zu Friedrich II. erlutert Steinbart dafr im ersten Teil seiner Abhandlung, der noch nicht das Religiçse als den unbedingten Bezugspunkt menschlicher Selbstverhltnisse benennt, ausgehend von der Kçrpermetapher den funktionalen Aspekt affirmativer Selbstbezogenheit: So, wie sich die einzelnen Bestandteile des Kçrpers zueinander verhalten und deren naturgemße Wirksamkeit bei Krankheiten und schmerzhaften Zustnden wiederhergestellt wird, lassen sich auch Neigungen und Triebe als die inneren Bestandteile der Seele und deren Movens verstehen. Da sich selbst zu lieben demzufolge bedeutet, alle seine Neigungen, aus denen sowohl gute als auch unerwnschte Handlungen resultieren kçnnen, zu lieben bzw. erst einmal zu akzeptieren, kommt es auf die „harmonische Befriedigung aller natrlichen Triebe“ an, wozu allein die Tugend imstande ist.236 Die Wahl des organologischen Modells gibt Steinbart die Mçglichkeit, eine Art ,natrliches‘ Ordnungsprinzip im Selbstverhltnis des einzelnen wie auch in den Beziehungen von Menschen untereinander anzunehmen. Aus dem ,naturgemßen‘ individuellen Streben, das allgemeine Wohlwollen der Mitmenschen zu verdienen, soll eine ausgeglichene Balance im Zusammenleben einer Gesellschaft resultieren, die jedoch auf tatschliche Gegenseitigkeit angewiesen ist.237 Steinbart kann damit noch beschreiben, weshalb es etwa ein allgemeines Verstndnis fr die ,wahre‘ Ehre als Hochschtzung des eigenen Werts durch andere im Unterschied zu eher zweifelhaften und bloß ußerlichen Ehrerbietungsbezeugungen gibt. Die argumentativen Schwierigkeiten beginnen aber dort, wo es um das entsprechende Handeln aus Einsicht geht. Denn offensichtlich wollen einerseits die meisten Menschen dieses erkannte (oder vielleicht nur empfundene) ,Richtige‘ zum Maßstab ihrer Handlungen machen, andererseits hindern sie konkrete ußere Umstnde stetig daran, gerade in diesem 235 Steinbart (1770). Ldke hat in seiner Rezension auch dieses Buch besprochen, siehe a.a.O., 69–76. 236 Steinbart (1770), 10 f., hier 11. 237 Vgl. Steinbart (1770), 14: „Denn siehe, die Menschen lieben sich selbst, und daher werden sie auch dich lieben, so bald sie bemerken, daß du ihren Nutzen befçrderst, und ihren Wnschen zuvorkommst.“ Dieser Zusammenhang kann nur dann unproblematisch sein, wenn die Liebe jener Menschen zu sich selbst bereits als eine ,richtige‘ verstanden wird, womit auch die Zuneigung zum Wohltter vom Verdacht des bloß vortuschenden Eigennutzes frei wre.

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Beweggrund ihren Vorteil zu sehen.238 Die organologische Konzeption zeigt hier ihre Schwche als Beschreibungsmodus fr die Wirksamkeit der Selbstaffirmation als Grundsatz moralischen Handelns: Die Bestandteile des Kçrpers sind von einem bergeordneten organischen Prinzip abhngig, wobei von den einzelnen Bestandteilen nicht verlangt wird, die Wirkweise des gesamten Organismus umfassend begreifen zu mssen. Whrend ein solches bergeordnetes Prinzip noch die affirmative Selbstbezogenheit eines selbstndigen Individuums, welches seine vielfltigen Neigungen und Begierden beherrscht, zutreffend zu beschreiben vermag, stçßt jedoch die bertragung auf gesellschaftliche Verhltnisse an ihre Grenzen. Zusammenfassend muß die deutschsprachige Diskussion um die Mitte des 18. Jahrhunderts als eher zurckhaltend und wenig ambitioniert charakterisiert werden. Abgesehen von den lexikalischen Eintrgen, die allerdings bereits etablierte semantische Differenzierungsbemhungen weiter tradieren, sind neben Hamann, der eine innovative, gleichwohl voraussetzungsreiche Konzeption vorlegt, und dem letztlich nicht berzeugenden Versuch Friedrichs II. nur wenige ausfhrliche Anstze erschienen, die sich um eine umfassende Erluterung affirmativer Selbstverhltnisse und deren Bezug zu moralischen Begrndungen bemhen. Insofern sind fr unsere Untersuchung neben den Moral-Sense-Theorien vor allem die wenigen, dafr aber kontinuierlichen Bemerkungen Kants in seinen verçffentlichten Werken sowie Vorlesungsmanuskripten aufschlußreich, um ein vollstndigeres Bild von der Struktur und der mçglichen Normativitt affirmativer Selbstverhltnisse zu bekommen. 2.2.2 Vorlesung zur Moralphilosophie Die folgenden Ausfhrungen beziehen sich auf die Vorlesung zur Moralphilosophie, wie sie von Kant ab Mitte der 1770er Jahre gehalten wurde

238 Vgl. Steinbart (1770), 26 ff. Anonym (1774a) rckt vor allem die Verschiebung des Maßstabs der Beurteilung ber die Stellung des Menschen in der Welt in den Fokus seiner Kritik: Die „natrliche Neigung der menschlichen Natur zum Guten“ wird demnach durch falsche Erziehung korrumpiert, da der Bereich der Selbstaffirmation sich dann bloß noch auf das eigene Selbst und dessen unmittelbares Umfeld bezieht. Eine adquate Selbsteinschtzung gelingt somit nur, wenn der Blick demtig auf die eigentliche Relation zwischen dem menschlichen Dasein und dem gesamten Universum gerichtet ist.

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

und in mehreren Mitschriften erhalten ist.239 Im Zusammenhang mit der Erçrterung der Grundlagen von Pflichten gegen sich selbst (Abschnitt 1.1) ist bereits deutlich geworden, inwieweit mit der Selbstschtzung eine Begrndungsinstanz besteht, die sowohl den Schutz der eigenen Person als auch die Wrde der Menschheit garantieren soll.240 Damit versieht Kant den Ausdruck „Selbstschtzung“ mit einer Bedeutung, die ber die bloße Gewogenheit und wertschtzende Anerkennung gegenber dem eigenen Selbst hinausgehen muß, auf welche mit dem Ausdruck „Selbstgunst“ verwiesen wird. Die Verwendung dieses Ausdrucks ist ungewçhnlich, obwohl er zunchst eine konsequente Erweiterung des Stamm-Morphems „Gunst“ zu sein scheint.241 Kant fhrt jedoch hier mit „Selbstgunst“ einen Neologismus ein, dessen Bedeutung von der positiv konnotierten „Gunst“ abweicht und der im gesamten Werk nur zweimal, und zwar in der Vorlesung im Rahmen der Erçrterung der „geziemenden Selbstschtzung“ vorkommt. Abgesehen davon, ob sich eine Selbstgunst in der von „Gunst“ ausgehenden Bedeutung berhaupt sinnvoll beschreiben lßt, bleibt die Frage bestehen, welche Funktion die Einfhrung von zwei offensichtlich recht hnlichen affirmativen Selbstbezugnahmen an dieser Stelle zu erfllen hat. 239 Wie bereits in Kap. 1, wird hier auf die Edition Kant (2004) mit der Sigle VM zurckgegriffen, darber hinaus erfolgen Verweise auf die Praktische Philosophie Powalski (Sigle AA), da hier zum Teil signifikante Unterschiede bestehen. Siehe zu Fragen der Datierung und zu den Unterschieden zwischen den Fassungen von Kaehler, Powalski, Collins und Mrongovius die Einleitung von Gerhard Lehmann in AA XXVII/2/2 1037 – 1062. 240 VM 181; 227: „Das principium der Pflichten gegen sich selbst besteht nicht in der Selbstgunst, sondern in der Selbstschtzung, das heißt, unsere Handlungen mssen bereinstimmen mit der Wrde der Menschheit, so wie das principium des Rechts heißt neminem laede, so kçnnte man hier sagen, noli humanam naturam in te ipso laedere.“ 241 Die „Gunst“, die man jemandem erweist, findet ihren Grund in der „Hochachtung, welche der andere bey uns gegen sich erwecket. Hieraus folgt, daß wir denselben unserer Zuneigung wrdig schtzen. Es mssen also an dem andern, dem wir gnstig sind, einige Eigenschafften sich befinden, welche uns gefallen, und also Hochachtung und daher flssende Zuneigung in uns zeugen. Ist nun das, was uns an dem andern wohlgefllt, wrcklich gut, so ist unsere Gunst vernnfftig, unvernnfftig aber ist sie, wo es nicht die Bewandtnis hat.“ (Zedler (1732–1754), Bd. 11, Sp. 1406) Gemß dieser Definition mßte der unbliche Ausdruck „Selbstgunst“ auf eine hnliche Form affirmativer Selbstbezugnahme verweisen, wie sie in den Ausdrcken „Selbstliebe“, „Selbstschtzung“ und „(Selbst-)Achtung“ hervortritt, zumal auch hier eine qualitative Bestimmung (vernnftig/unvernnftig) vorgenommen werden kann.

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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Die „Entscheidung“ das eigene Selbst betreffend242 bezieht sich in der Vorlesung auf eine differenzierte Vergleichsrelation, der gemß die beurteilende Einschtzung seiner selbst sich nicht in einer singulr ausgerichteten Bewertung erschçpft, sondern an verschiedenen Bewertungsmaßstben orientiert ist. Zunchst werden daher die ,Pole‘ bestimmt, in deren Grenzen eine Bewertung stattfinden kann: „Zu der geziemenden Schtzung seiner selbst gehçrt auf der einen Seite die Demuth, auf der andern Seite der wahre edle Stoltz; die entgegengesetzte Seite hievon ist die Niedertrchtigkeit.“ (VM 184; 230) Neben dieser Bestimmung, wie Selbstbewertungen vorgenommen und mit emotionalen Zustnden verbunden werden kçnnen, ist nun der Maßstab entscheidend, der die jeweiligen Vergleichsrelationen einer Person konstituiert: Wir haben Ursache von unserer Person eine kleine Meynung zu hegen, aber in Ansehung unserer Menschheit sollen wir eine große Meynung haben, denn wenn wir uns mit dem heiligen moralischen Gesetz vergleichen, so finden wir, wie weit wir abstehen, um mit demselben zu congruiren und ihm adaequat zu seyn. (VM 184; 230 f.)

Die Demut ist fr Kant die einzig angemessene Reaktion auf den Vergleich der eigenen Person mit dem moralischen Gesetz. Hinsichtlich der Demut ist es zudem mçglich, grundstzlich zwischen zwei Ebenen dieses Vergleichs unterscheiden zu kçnnen: (i) Vom Standpunkt der einzelnen Person aus betrachtet, tritt die Empfindung der Demut dann hervor, wenn diese einzelne Person sich in das vergleichende Verhltnis zum moralischen Gesetz stellt und aus dieser Relation den Maßstab fr die eigene Selbstbewertung bezieht. Die daraus resultierende „kleine Meynung“ und demtige Haltung einer Person ist bei Kant jedoch keineswegs als eine Abwertung im Sinne einer Erniedrigung zu verstehen, sondern vielmehr eine intendierte bertragung des in der christlichen Moralvorstellung mit Blick auf das menschliche Verhltnis zu Gott entwickelten Konzepts der Demut auf eine Moraltheorie, in der das moralische Gesetz explizit mit dem Evangelium verglichen wird.243 Zweifellos hat die Vergleichsrelation von 242 Der korrespondierende Abschnitt in Baumgartens Ethica ist mit „Diiudicatio tui ipsius“ berschrieben. 243 VM 185 f.; 232 ff.: „Das Evangelium lehrt uns nicht die Demuth, sondern macht uns demthig. […] Alle Begriffe der Alten von der Demuth und allen moralischen Tugenden waren nicht rein und congruirten nicht mit dem moralischen Gesetz, das Evangelium allein ist das erste, was das moralische Gesetz in aller Reinigkeit vortrgt, und nichts hat, so weit uns die Geschichte Beweise geben kann, das moralische Gesetz so rein vorgetragen, als das Evangelium.“ Im Triebfedern-Kapitel der Kritik der praktischen Vernunft (AA V 71 – 89) wird dieser Vergleich erneut

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

einzelnen Personen und moralischem Gesetz hier oberste Prioritt, da (ii) die Bewertung des eigenen Selbst ber den Vergleich mit anderen Personen lediglich nachgeordnet ist. Allerdings besteht gerade mit dieser zweiten Art des Vergleichs eine wichtige Komponente, die es einer Person berhaupt erst ermçglicht, eine „grosse Meynung“ von sich als Person und damit auch von der Menschheit in seiner Person haben zu kçnnen. Denn der „innere Wert“ einer Person verweist in dieser Perspektive auf die natrliche Gleichwertigkeit aller Personen, ber die eine Herabsetzung seiner selbst im Vergleich mit anderen, die hier als „kriechende Gemthsart“ und „Mçnchstugend“ (VM 185; 231) bezeichnet wird, als unangemessen und nicht zu rechtfertigen anzusehen ist.244 Kant unterscheidet also explizit zwei Arten der Selbstschtzung: (1) Als „Selbstschtzung der Liebe“245 bzw. „Selbstgewogenheit und SelbstGunst“ ist die „pragmatische Selbstschtzung nach Regeln der Klugheit“ insofern „billig“ (also erlaubt), als „sie die Gleichheit zu beobachten sucht“ (VM 185; 232), der gemß von keiner Person gefordert werden kann, sich anderen Personen gegenber zu erniedrigen oder minderwertiger zu fhlen. Im Umkehrschluß beinhaltet die derart zu schtzende Integritt einer Person im sozialen Kontext zudem den Anspruch des einzelnen, von anderen Personen die Beachtung dieses Gleichheitsgebots einzufordern. (2) Als „moralische Selbstschtzung“ beruht das affirmative Selbstverhltnis einer Person auf „der Wrde der Menschheit“ (ebd.), weshalb es als einzigen Bezugspunkt das moralische Gesetz hat. In dieser Art des Vergleichs, so drfen wir ergnzen, ist jede Person auf sich selbst im Hinblick auf das bezogen, was sie als Person wesentlich ausmacht. Der Maßstab der Bewertung orientiert sich hierbei an einem verbindlichen normativen Horizont, dessen Unabhngigkeit von zuflligen Verhltnisbestimmungen im Kontext einer sozialen Gemeinschaft die Voraussetzung dafr schafft, eine mçgliche Selbstberhebung im aufgegriffen und verweist hier (83 ff.) besonders auf die enge Verbindung, die Kant zwischen der christlichen Morallehre und seiner eigenen Moraltheorie sieht. Siehe zur Bedeutung von „Demut“ auch den Eintrag bei Zedler (1732–1754), Bd. 7, Sp. 552. 244 Mit Blick auf die gesamte Textstelle lßt sich der „wahre edle Stoltz“ mit der „grosse [n] Meynung“ identifizieren, die eine Person von sich als Person hat; desgleichen scheint die „Niedertrchtigkeit“ gleichbedeutend mit der „kriechende[n] Gemthsart“ sowie der „Mçnchstugend“ zu sein (vgl. VM 184 f.; 230 f.). 245 In Moralphilosophie Collins und Moral Mrongovius heißt es: „Selbstschtzung der Selbstliebe“ (AA XXVII/1 349; AA XXVII/2,2 1487).

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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„moralische[n] Eigendnkel“ (ebd.) bzw. durch den bloßen Vergleich mit anderen Personen zu verhindern. Die „moralische Demuth“ (ebd., passim) relativiert somit die Selbstbeurteilung einer Person und verweist auf den objektiven Bewertungsmaßstab des moralischen Gesetzes, den jede Person auf sich selbst als Person zu beziehen hat. Whrend die „pragmatische Selbstschtzung“ (1) das Verhltnis zwischen Personen als Personen nivelliert, indem eine Gleichwertigkeit anerkannt wird, verweist die „moralische Selbstschtzung“ (2) auf die wesentliche Konstitutionsbedingung einer Person (und Persçnlichkeit): Kant versucht hier, eine alternative Konzeption zum moralischen Relativismus und Probabilismus zu etablieren. Jede einzelne Person ,definiert‘ sich nicht ber das spezifische Verhltnis zu anderen Personen, sondern findet ihren maßgeblichen Bezugspunkt in dem fr alle Personen gleichermaßen verbindlichen moralischen Gesetz. Da jedoch dieses moralische Gesetz einerseits die prinzipielle Mçglichkeit der Verwirklichung seiner Ansprche in den Vollzgen einer Person garantiert, andererseits aber zugleich die tatschliche Unerreichbarkeit dieses gedachten Idealzustandes sittlicher Vollkommenheit aufzeigt, kann es zu zwei depravierten Zustnden kommen: Im moralischen Eigendnkel berschtzt eine Person sich in ihren wirklichen moralischen Vorzgen und bersieht damit den eigentlichen Gehalt der ihr mçglichen Verwirklichung angesichts eines moralischen Gesetzes;246 in eine Mutlosigkeit kann hingegen jemand geraten, der die tatschliche Unerreichbarkeit des Idealzustandes sittlicher Vollkommenheit als Vergeblichkeit seiner eigenen Bemhungen interpretiert und „alles Zutrauen auf sich aufgiebt“ (VM 187; 234). Dem Zustand der unangemessenen Selbstberschtzung in moralischen Angelegenheiten meint Kant mit einer verstrkten Aufklrungsarbeit in bezug auf das moralische Gesetz – „in seiner vçlligen Reinigkeit vorgetragen“ (ebd.) – entgegen- und somit auf die angemessene Demut 246 Kant bestimmt den „moralischen Eigendnkel“ (bzw. die „Arroganz“, vgl. VM 198; 247) als eine Selbstberhebung gegenber dem moralischen Gesetz, bei der sich jemand zu viel auf seine eigenen Fhigkeiten in bezug auf eine dem Gesetz entsprechende Verwirklichung einbildet. Dagegen ist die moralische Beurteilung seiner selbst im bloßen Vergleich mit anderen Menschen „eigentlich kein moralischer Eigendnkel“ (VM 186; 232). Vgl. dazu den signifikanten Schreibfehler in Moral Mrongovius, der damit gerade das Gegenteil ausdrckt, was jedoch in keiner anderen Mitschrift der Vorlesung enthalten ist: „Ich kann immer glauben: ich bin beßer als andere, obgleich ich, wenn ich gleich beßer als die schlechtesten bin, dennoch gar nicht viel beßer bin, es ist dieses also eigentlich ein Moralischer Eigendnkel.“ (AA XXVII 2,2 1486 f.; Hervorh. F.B.)

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

hinwirken zu kçnnen. Gegen die Mutlosigkeit angesichts der niemals vollstndig zu erfllenden Ansprche des moralischen Gesetzes kann lediglich die Hoffnung auf gçttlichen Beistand dienen, wobei sich Personen nur dann als wrdig fr diese Hilfe erweisen, wenn sie „alles gethan [haben], was nach [ihren] Krfften mçglich war“ (VM 187; 235). Diese berlegung ist in argumentativer Hinsicht problematisch, da hier nicht erlutert wird, woher der Maßstab fr das von einer Person gemß ihren Mçglichkeiten zu Leistende zu nehmen ist, ohne zu einer relativistischen Erklrung zu gelangen.247 Zudem scheint Kant an dieser Stelle zu sehr der als Analogbeziehung gedachten Parallele von Evangelium und moralischem Gesetz zu vertrauen, um von einer unmittelbar einsichtigen Glaubenszuversicht ausgehen zu kçnnen. Ohne diesen Bezug auf eine angenommene ,gçttliche Ergnzung‘ zum eigenen Bestreben lassen sich moraltheoretisch jedenfalls noch keine berzeugenden Grnde vorbringen, warum man als Person trotz oder gerade wegen der offensichtlichen Vergeblichkeit versuchen sollte, soweit als mçglich den gebietenden Vorgaben eines moralischen Gesetzes gemß zu handeln. Aufschlußreich ist daher der letzte Satz in diesem Abschnitt der Vorlesung: Kant verweist hier neben dem zuvor behaupteten gçttlichen Beistand indirekt auf die Einflsse von seiten der Moral-Sense-Theorien und beruft sich auf eine (intuitive) Empfindung moralisch guter und schlechter Handlungen.248 247 Siehe ausfhrlich zur Rolle der Hoffnung in bezug auf die Glckswrdigkeit moralischer Handlungen in einer dementsprechend zu verstehenden Einheit von Moral und Glck Wesche (2012), insbes. 51 ff. 248 VM 188; 235 f.: „Die Verringerung des Wehrts der menschlichen Tugenden muß nothwendig den Schaden zuwege bringen, daß der Mensch hernach alles sowohl den niedertrchtigen als wohltthigen Menschen fr einerley hlt, denn alsdenn ist bey dem wohlthtigen auch keine gute Gesinnung. Ieder Mensch wird doch bey sich empfinden, daß er doch wenigstens einmal eine gute Handlung aus moralischer Gesinnung gethan hat, und daß er derselben noch mehr zu thun fhig ist, obgleich sie noch immer sehr unrein seyn und niemals dem moralischen Gesetz vçllig gleich seyn werden, so nhern sie sich doch immer mehr und mehr demselben.“ (Hervorh. F.B.) Weil das Gewissen als „ein Instinct sich selbst nach moralischen Gesetzen zu richten“ (VM 188; 236) verstanden wird, wobei die „natrliche[n] moralische[n] Gesetze […] keinem unbekannt seyn“ kçnnen (VM 194; 243), scheint Kant bei der Konzeption des natrlichen Gewissens in einer dem Moral Sense hnlichen Weise an eine Art instinktive moralische Wahrnehmungsfhigkeit zu denken: „Wenn das Gewißen nichts natrliches wre, so wrden wir wenn wir unter wilde Leute kmen, nicht sehen kçnnen ob sie gut oder bçse seyn (handeln).“ (AA XXVII/1 198; Hervorh. F.B.) Die Frage nach der motivationalen Kraft ist damit jedoch nur ungengend beantwortet: Zwar scheint in der Hoffnung auf die prinzipiell mçgliche Entsprechung der persçnlichen Bemhungen mit den Vor-

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Anders als in der Kaehler-Mitschrift geht Kant in Praktische Philosophie Powalski vor der Erçrterung der Selbstschtzung zunchst auf verschiedene Formen der Mißbilligung ein, die in der Verachtung eines Menschen, der die Pflichten gegen sich selbst bertreten hat, ihren prgnantesten Ausdruck findet und ber den bloßen Haß hinausgeht:249 Wenn ich etwas haße, so verringere ich nicht den Werth eines Dinges, sondern nur das Verhltniß in welchem es mir schdlich ist, der innere Werth einer Person und einer Sache wird gar nicht gehaßt, denn nur die Verachtung trifft den inneren Werth. Die Verachtung ist das nothwendige der Mißbilligung in Ansehung des inneren Werths der Person, und das ist Nichtswrdig. Nichtswrdig zu seyn ist weit schlimmer als Haßenswrdig, denn hierinn kann er doch noch in einigen Stkken Achtungswrdig seyn, der Nichtswrdige aber ist in keinem Stkke Achtungswrdig, die Verachtung ist die ußerste Bestrafung eines Menschen, der noch ein wenig Ehre hat. (AA XXVII/1 192 f.)

Gegenber der lexikalisch einschlgigen Verwendung von „Selbstverachtung“ (vgl. die Abschnitte 2.1.1 u. 2.1.5) erfolgt hier im Kontext moralphilosophischer Erçrterungen eine Bedeutungsverengung, der gemß sich eine „Verachtung“ nicht mehr auf den relationalen Vergleich mit anderen Menschen in einer Gesellschaft beruft, sondern ausschließlich mit Blick auf den „inneren Wert“ einer Person zu einer Beurteilung fhrt. Damit sich eine Person dieses inneren Wertes bewußt werden kann, bedarf es eines dreistufigen Erkenntnisprozesses, nmlich zunchst der Selbsterkenntnis, dann der Erkenntnis der moralischen Gesetzmßigkeiten und schließlich der Erkenntnis der Welt, insofern in ihr Moralitt wirksam werden kann (vgl. AA XXVII/1 193). Kant erçffnet damit eine Perspektive, in der die Selbstschtzung in einer engen Verbindung steht zur Erkenntnis des eigenen Person-seins, die wiederum in ihrem Verhltnis zur Erkenntnis normativer Strukturen und Handlungsrume zu begreifen ist. Wir mßen hier die wahre Bestimmung des Menschen betrachten. Die Wrde und auch die Gebrechlichkeiten sind die Bedingungen der Sittlichkeit oder die Grnde, unter denen die Handlungen mit den allgemeinen Gesezzen bergaben des moralischen Gesetzes ein gewisser ,Anreiz‘ zu liegen, auch dementsprechend zu handeln. Wie aber die Hoffnung auf (gçttlichen) Beistand eine genuin eigene Motivation und nicht nur unttiges Vertrauen auf das Zutun dieses Beistands gewhrleisten kann, wird nicht deutlich. 249 Es ist an dieser Stelle nicht eindeutig zu entscheiden, ob Kant die (berechtigte) Verachtung gegenber einer Person fr den Fall einer „Uebertretung der Pflicht gegen sich selbst“ (AA XXVII/1 192) reserviert oder auch die Verletzung der Pflichten gegen andere als verachtungswrdig begreift, wofr die an einer anderen Stelle erwhnte Verbindung mit der Wrde der Menschheit (s.u.) spricht.

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einstimmen. […] Die Bestimmung der Menschlichen Natur ist die, wie er sich dem moralischen Gesezz gemß verhalten soll, er muß sich 1. als ein Mensch 2. als ein privat Subject erkennen. – Alle Pflichten sind von der Art, daß sie sich hauptschlich auf die Wrde der Menschheit grnden. Die Menschheit in meiner eigenen Person kennen, ist die Wrde der Welt kennen. Wenn der Mensch seine eigene Wrde nicht kennt, so hat er auch nicht BewegungsGrnde seine Wrde zu befçrdern. (AA XXVII/1 193 f.)

Auffllig ist hier die enge Verknpfung von Pflichten – sowohl gegen sich selbst als auch gegen andere – mit der Wrde der Menschheit, die einen unmittelbaren Einfluß auf das affirmative Selbstverhltnis einer Person hat. Denn der innere Wert einer jeden Person erfhrt seine relationale Bestimmung in der Vergegenwrtigung der Bezogenheit des einzelnen Menschen auf eine allgemeinere Vorstellung von der Menschheit, die in jeder Person ihre Verwirklichung findet, sowie auf ein moralisches Gesetz, welches eine allgemeinverbindliche Gltigkeit in Form eines Anspruchs formuliert. In Praktische Philosophie Powalski wird im Gegensatz zur Kaehler-Mitschrift dieser innere Wert bzw. der Wert des Menschen besonders hervorgehoben, so daß hier noch einmal eine spezifische Akzentuierung des wertenden und beurteilenden Gestus der Selbstschtzung erfolgt: In der Vergleichung mit andern Menschen ist kein bestimmtes Maaß; alle Moralitaet grndet sich nicht auf Beyspiele sondern auf die Idee und auf das Gesezz der Vernunft. […] Ohne ein richtiges Gesetz haben wir gar kein Maaß uns zu beurtheilen, diejenigen die sich absolut schzzen wollen, mßen sehen, daß das Gesezz wonach sie sich schzzen, auch richtig sey. Wenn das Gesezz nicht praecise ist, dann ist die Schzzung unserer ganz corrupt. (AA XXVII/1 195)250

An dem Kriterium der Werthaftigkeit orientiert sich dann auch die Bestimmung der affirmativen Selbstbezugnahme, die eine Unterscheidung beibehlt, die Kant bereits in den Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen (vgl. Abschnitt 2.2.1) eingefhrt hat. Mit der Differenzierung der hnlichen Empfindungen Liebe und Achtung ergibt sich nun die Mçglichkeit, eine weitere Demarkationslinie zwischen der pragmatischen (komparativen) und moralischen (absoluten) Selbstschtzung zu ziehen, die nun nicht mehr nur auf das dem Vergleich zugrundeliegende Verfahren, sondern zudem auf den Charakter des affirmativen Selbstverhltnisses bezogen ist. Die Liebe zum eigenen Selbst (moralische Eigenliebe, Philautie) lßt sich von der Selbstschtzung abgrenzen, als „eine 250 In Praktische Philosophie Powalski wird die moralische Selbstschtzung als „absolute“ und die pragmatische Selbstschtzung als „comparative“ bezeichnet.

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Neigung mit sich selbst ber das Urteil der Vollkommenheit wohl zufrieden zu seyn“. Damit wird sie als eine Form des moralischen Urteils verstanden, welches „sich nicht selbst mit dem moralischen Gesetz als der Richtschnur sondern mit Beyspielen“ prft (VM 198; 247).251 Von der Liebe ist die Schtzung unterschieden, die Schtzung geht auf den innern Wehrt, die Liebe aber auf den Verhltnisweisen Werth der Beziehung aufs Wohlergehen hat. Wir schtzen das, was einen innern Werth hat und lieben das was verhltnisweise einen Werth hat; zE. Verstand hat einen innern Werth ohne zu erwegen, worauf er angewandt wird; der die Pflichten gegen sich selbst beobachtet, der seine Person nicht entehrt, ist schtzenswerth, der gesellig ist, ist liebenswerth. So kann das Urtheil von uns entweder uns liebenswerth oder achtungswerth vorstellen. […] Allein der Mensch muß nicht suchen so liebenswert, als schtzens- und achtenswerth zu seyn. (VM 199; 248 f.)

Als pragmatische Selbstschtzung kann die Eigenliebe in zweifacher Hinsicht nicht das erfllen, was der moralischen Selbstschtzung zukommt und entsprechende Achtung hervorruft: Die Liebe zum eigenen Selbst gefllt sich einerseits in der Relation zu anderen, zufllig weniger vorzglichen Menschen und hat darin ihren Maßstab. Andererseits reicht es ihr mitunter auch schon, an die eigene gute Gesinnung zu glauben und trotzdem – oder gerade deshalb – unttig zu bleiben.252 Neben der Trennung von Liebe und Achtung versucht Kant damit auch, den grundlegenden Unterschied von adoptierter und wahrer Tugend auf das Verhltnis von pragmatischer und moralischer Selbstschtzung zu bertragen. In beiden 251 Von dieser Bestimmung ausgehend ließe sich eine umfassende Kritik des moralischen Beispiels entwickeln, die im Zusammenhang mit der Frage nach einer angemessenen ethischen Didaktik dem Problem nachzugehen htte, wie die anschaulichen „Beyspiele moralischer Menschen [als] Maasstbe aus der Erfahrung“ mit dem umfassenden, aber gleichwohl abstrakten Anspruch eines Moralgesetzes als „Maasstab aus der Vernunfft“ (VM 198; 247) in bereinstimmung zu bringen sind bzw. welchen Anforderungen moralische Beispiele gengen mssen, um tatschlich als moralische Beispiele gelten zu kçnnen. 252 VM 199 f.; 248 ff.: „Der aber in Ansehung seiner Selbst die wesentlichen Zwekke der Menschheit genau zu erfllen glaubt der glaubt achtungswerth zu seyn; wenn ein Mensch glaubt guthertzig zu seyn und durch leere Wnsche das Wohl aller Menschen befçrdert, der verfllt in die Philautie. Daß sich der Mensch alles Gute gçnnt ist wohl natrlich, aber daß er von sich eine gute Meynung hege ist nicht natrlich. […] Die moralische Philautie, wo der Mensch in Ansehung seiner moralischen Vollkommenheiten eine hohe Meynung von sich hat, ist verchtlich, sie kommt daher, wenn man seine Gesinnungen fr gute Gesinnungen hlt […].“ Dies ist wohl u. a. gegen solche Moraltheorien gerichtet, wie sie Helvetius mit dem ausschließlichen Bezug auf das ,persçnliche Interesse‘ vertritt (vgl. Abschnitt 2.2).

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Zusammenhngen ist demnach der Bezugspunkt des Vergleichs entscheidend, aber nicht vollstndig ohne den korrelierenden Widerstreit zwischen der intuitiven Empfindung der Liebe und der aus einer reflektierten Vernunftttigkeit resultierenden Achtung. Mit dieser distinkten Gegenberstellung spitzt Kant in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie eine Dichotomie weiter zu, die letztlich nur noch zwei bestimmende Relationen zuzulassen scheint: Entweder beurteilt eine Person ihr Handeln pragmatisch im zufllig-willkrlichen Vergleich mit anderen Personen und erweist sich damit im gnstigen Fall als liebenswert oder die Bewertung ihrer selbst erfolgt ,wahrhaft‘ moralisch und orientiert sich an einem allgemein-verbindlichen Moralgesetz.253 Gerade mit Blick auf die Erçrterungen zur „Eigenliebe“ zeigt sich, wie sehr hier eine Hervorhebung der moralischen Selbstschtzung (der notwendig eine Achtung korrespondiert) forciert wird: Um die pragmatische Selbstschtzung als ,bloß vergleichsweise‘ Beurteilung in deutlicherer Form nachordnen zu kçnnen, nivelliert Kant in den Vorlesungen eine begriffliche Komplexitt der affirmativen Selbstbezglichkeit, die noch bei Baumgarten Bestand hatte.254 Die Folge ist eine schrfere, aber fr die weitere Entwicklung der kantischen Ethik notwendige Konturierung des personalen Selbstverhltnisses, in der nicht mehr die Balance verschiedener Vergleichsrelationen, sondern eine kategoriale Verschiedenheit der Selbstbewertungsprozesse und -verfahren wirksam ist.255 253 In Praktische Philosophie Powalski kçnnte eine weniger distinkte und vielmehr graduelle Unterscheidung einschlgig sein, wie die Rede von der Eigenliebe als „exceßus in der Selbstschtzung“ (AA XXVII/1 200) nahelegt. 254 Vgl. AA XXVII/2,1 920 f., wo die Liebe zu sich selbst (amor tui ipsius/philautia) in die wohlgeordnete (ordinata), die unordentliche (inordinata), die sehende (oculata), die blinde (coeca), die tçrichte (stulta) sowie die nrrische (stolida) Selbstliebe unterteilt ist und somit auf einer Ebene der semantischen Differenzierung verbleibt, wie sie auch in zeitgençssischen Lexika wiedergegeben wird, die dieses Spektrum allerdings bereits weitgehend auf das Schema vernnftig/unvernnftig beschrnken. 255 Vgl. zu dieser verstrkten Gegenberstellung, wo zudem der Unterschied zwischen Wohlgefallen und Wohlwollen bestimmend ist, in Praktische Philosophie Powalski: „Die Selbstschzzung und Eigenliebe sind von einander unterschieden. Die Selbstschzzung ist das Urtheil ber seinen eigenen Werth. Die Eigenliebe ist die Liebe des Wohlwollens gegen sich selbst. Die Selbstschzzung besteht in dem Urtheil wie viel man in seinen eigenen Augen werth ist. Man muß sich nach seinem eigenen Maaß vergleichen, und nicht nach andern Menschen; denn dies ist eine comparative Schzzung und die hat nicht ein sicheres Maaß. Die Liebe des Wohlgefallens und die Selbstschzzung schzt nicht alle Menschen zu ihrem Vortheil. Die Eigenliebe trifft nicht das Wohlgefallen sondern das Wohlwollen; sie

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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2.2.3 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785/86) und Kritik der praktischen Vernunft (1788) Die in den Vorlesungen angedeutete Verstrkung der Bezogenheit affirmativer Selbstverhltnisse auf das moralische Gesetz wird in den zwei zentralen Publikationen zur Moralphilosophie besonders deutlich: Da die Achtung fr das Gesetz 256 hier nicht nur einen zentralen systematischen Punkt markiert, sondern gerade auch das Selbstverstndnis einer moralisch handelnden Person begrnden soll, verfestigt sich im Zuge der transzendentalphilosophischen Fundierung der kantischen Ethik eine weitgehend dualistische Beschreibung der Vermçgen des Menschen. Dieser Dualismus ist ein wesentliches Merkmal, und der Widerstreit in bezug auf den Menschen als zugleich sinnlich-affiziertes und vernnftiges Lebewesen wird fr die argumentative Verteidigung der vernunftbasierten Ethik geradezu lanciert: Weil eine Person fhig ist, ihre Handlungen nach Vernunftgrnden zu bestimmen, und sich damit auf ein allgemein-verbindliches moralisches Gesetz bezieht, kann und soll sie den sinnlichen Neigungen und Trieben widerstehen. Durch die konsequente Verlagerung des Begrndungsmoments moralischer Handlungen auf die (praktische) Vernunft erweitert Kant die in den Vorlesungen entwickelte Differenz von ,wahrer‘ moralischer Selbstschtzung, die dort den allein gltigen Maßstab der einer Person angemessenen Beurteilung bildet, und ,adoptierter‘ pragmatischer Selbstschtzung, der zwar die Befhigung zu einer begrndeten Selbstbewertung abzusprechen ist, die aber lediglich in ihren geht auf den Wunsch, den man thut in Ansehung seiner Glckseeligkeit. Die Liebe zu der hçchsten Glckseeligkeit und also die Liebe zu sich selbst ist ganz richtig. Sich selbst aber lieben mit Ausschließung anderer macht die Selbstliebe fehlerhaft, weil ich alsdenn gleichgltig in Ansehung der Glckseeligkeit anderer bin.“ (AA XXVII/1 200) In dieser Vorlesung unterscheidet Kant noch teilweise zwischen Selbstliebe und Eigenliebe, wobei nicht ganz eindeutig ist, ob die Philautie, die aufgrund des Wohlgefallens an sich selbst jedenfalls keine Eigenliebe ist, mit der Selbstliebe identifiziert werden kann (vgl. ebd.). 256 Es heißt bei Kant sowohl „Achtung fr das Gesetz“ als auch „Achtung vor dem Gesetz“, was unproblematisch ist, da beide Prpositionen auf das unpersçnliche Nomen angewendet werden kçnnen. Fr das moralische Gesetz gelten damit, sofern man die Prpositionen in ihrer Funktion ernst nimmt, sowohl der Aspekt der Beachtung (Einbeziehung und Bercksichtigung des Gesetzes bei allen Entscheidungen) als auch der Aspekt der Hochachtung (wertschtzende und respektierende Haltung gegenber dem Gesetz). Anderen Achtungsverhltnissen (gegenber der Person, der Menschheit etc.) fehlt diese zweifache Ausrichtung, da hier zumeist die Prposition „fr“ einschlgig ist.

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unverhltnismßigen Ausprgungen als tatschlich negativ angesehen wird. Mit dieser Erweiterung findet die moralische Selbstschtzung nicht einmal mehr als Ausdruck Eingang in die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Kritik der praktischen Vernunft. 257 Sondern sie wird von vornherein als Achtung fr das moralische Gesetz und damit als Bewußtsein der unmittelbaren Unterordnung des eigenen Willens unter sowie der Bestimmung durch dieses Gesetz eingefhrt.258 Mit dieser umfassenden Identifizierung als Achtung fr das moralische Gesetz erfhrt die moralische Selbstschtzung eine weitreichende systematische Vernderung: In den Vorlesungen, die wir bis hierher betrachtet haben, war der Charakter der affirmativen Selbstbezugnahme und damit der personale Status wesentlich durch den von einer Person selbstttig vorgenommenen Vergleich im Hinblick auf ein verbindliches moralisches Gesetz bestimmt worden. Nun wird die Achtung fr das Gesetz als eine Art ,Kristallisationspunkt‘ konzipiert, von dem her sich ein affirmatives Selbstverhltnis berhaupt erst denken und begrnden lßt. Und dies ist der eigentliche Kernpunkt, in welchem sich Kant von allen seinen Zeitgenossen unterscheidet. Mit diesem Umschwung hat sich das Verstndnis der moralischen Selbstschtzung gewandelt, so daß diese nun nicht mehr als ein regulatives Verfahren zur angemessenen persçnlichen ,Selbstverortung‘, sondern als zentrales Element fr die Konstitution einer Person sowie einer (moralischen) Persçnlichkeit zu begreifen ist. Damit ist in sprachlicher wie be257 Mit einer Ausnahme im Zusammenhang mit der demtigenden Wirkung des moralischen Gesetzes: Da dieses objektiv, „d.i. in der Vorstellung der reinen Vernunft, ein unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens ist, folglich diese Demtigung nur relativ auf die Reinigkeit des Gesetzes stattfindet, so ist die Herabsetzung der Ansprche der moralischen Selbstschtzung, d.i. die Demtigung auf der sinnlichen Seite, eine Erhebung der moralischen, d.i. der praktischen Schtzung des Gesetzes selbst, auf der intellektuellen, mit einem Worte Achtung frs Gesetz […].“ (AA V 79) An dieser Stelle erfolgt der bergang von einer moralischen Selbstschtzung, die hier wohl lediglich als eine Art moralischaffektive Selbstbewertung einer Person verstanden wird, zu einer praktischen Schtzung und damit zugleich einer Achtung fr das Gesetz. In dieser neuartigen Bezglichkeit ist die sich selbst bewertende Person nicht mehr unmittelbar sich selbst verbunden, sondern mittelbar ber das moralische Gesetz. 258 Die Vernunft erzwingt fr das Prinzip der allgemeinen Gesetzgebung „unmittelbare Achtung“, womit eine „Schtzung des Wertes“ einhergeht, die weit ber alle Werthaftigkeit hinausgeht, die „durch Neigung angepriesen wird“. Handlungen aus Pflicht sind folglich durch die „reine[.] Achtung frs praktische Gesetz“ bestimmt und der Wert des damit verbundenen „an sich guten Willens“ ist absolut. (AA IV 404)

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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grifflicher Hinsicht verdeutlicht, daß die moralische Selbstschtzung, nun verstanden als Achtung fr das Gesetz, aus der vormaligen Wechselbeziehung mit der Empfindung der Achtung entlassen wurde, denn sie ist nicht lnger ein „durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefhl“ (AA IV 402; Anm.). Die Empfindung der Achtung wird in diesem Zusammenhang also nicht erst durch die moralische Schtzung eines Selbst hervorgerufen, sondern ist mit dieser Selbstschtzung identisch. Damit kehrt sich einerseits die Beziehung von Ursache und Wirkung um: „Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als Ursache desselben angesehen wird.“ (Ebd.) Zum anderen gibt diese konzeptionelle Neuausrichtung einen ersten Hinweis darauf, wie wir den heute gebruchlichen Ausdruck „Selbstachtung“ aus einer kantischen Perspektive begrifflich zu fassen haben: In einer anspruchsvollen Bestimmung wird hier die moraltheoretische Prmisse vorausgesetzt, wonach das moralische Gesetz unmittelbar, unbedingt und vor aller Reflexion eine Person ,affiziert‘ und damit zugleich eine Einsicht in die Verbindlichkeit und ein moralisches Gefhl der Achtung evoziert.259 Erst mit dieser identifizierenden Gleichzeitigkeit von moralischer Selbstschtzung und Empfindung der Achtung zeigt sich die Tragweite der Behauptung Kants in der Metaphysik der Sitten, jeder Mensch habe prinzipiell moralische Selbstschtzung/Selbstachtung.260 Fr den Status affirmativer Selbstverhltnisse und die Reichweite der Begrndung eines normativen Anspruchs wirkt sich dieser entscheidende Schritt in zweifacher Hinsicht aus: Einerseits ist es Kant nun mçglich, die ,Verortung‘ einer Person in einem normativen Kontext aus einer vagen Verhltnisrelation zu lçsen und in eine apodiktische Beziehung mit dem moralischen Gesetz und der (praktischen) Vernunft zu berfhren. Die Unmittelbarkeit der Achtung, in der sich eine von der Vernunft ausgehende und sich zugleich sinnlich auswirkende Vorstellung von einem Wert ausdrckt, soll dabei die Geltung dieser vermittelten Selbstbezugnahme garantieren. Andererseits wird damit den bislang entwickelten Formen affirmativer Selbstverhltnisse nicht nur die Funktion abgesprochen, in legitimer Weise 259 Siehe dazu Brezina (1999), 188 – 213, sowie Massey (1983), der den Achtungsbegriff Kants an dessen Werttheorie knpft und die Depravation von Selbstachtung damit nicht mit der Nichtbeachtung moralischer Rechte erklrt, wie etwa Hill (1991c u. 1991b). 260 Vgl. Abschnitt 1.2.3.

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

als begrndete Selbstverhltnisse gelten zu kçnnen. Diese sind nunmehr vor allem dem Verdacht ausgesetzt, daß sie die ,wahre‘ Selbstschtzung einer Person und damit die Achtung vor dem Gesetz korrumpieren, da sich in ihnen lediglich partikulare Neigungen zeigen, die mit Blick auf ein verbindliches moralisches Gesetz gerade nicht zu verallgemeinern sind.261 Angesichts der Wirksamkeit eines kategorischen Imperativs zur berprfung der Maximen, die einer individuellen Handlungsentscheidung zugrunde liegen, erhlt die „Selbstliebe“ eine dezidiert negative Konnotation und bildet den Kontrast zu Handlungen, die sich aus der Achtung vor dem Gesetz und dem damit verbundenen Charakter von Pflichten ableiten.262 Weil fr Kant bei der Bestimmung von Handlungen niemals auszuschließen ist, „daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe, unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee [von moralischen Grnden und der Vorstellung einer Pflicht], die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei“ (AA IV 407), lehnt er die Verteidigung einer „mehr oder weniger verfeinerten Selbstliebe“ (AA IV 406) endgltig ab und setzt damit eine deutliche Zsur zu den Vorlesungen, in denen noch eine differenziertere Sicht zugunsten einer ,angemessenen‘ Form der Selbstliebe bzw. Eigenliebe zu finden ist. Diese Zsur, wie sie hier zunchst in einer Art ,berblicksdiagnose‘ umrissen wurde, bedeutet jedoch nicht per se einen Rckschritt in der Begrndung affirmativer Selbstverhltnisse. Vielmehr werden vormals relational bestimmte Selbstverhltnisse von moralischen Selbstbezugnahmen unterschieden und diese dann auf einer ganz anderen Begrn261 So etwa mit Verweis auf die Erçrterung der zwei kasuistischen Flle der Selbsttçtung und des falschen Versprechens beim Borgen von Geld: Kant fragt sich, ob das Prinzip der Selbstliebe, nmlich sich nach individuellem Dafrhalten fr den Suizid zu entscheiden, ein allgemeines Naturgesetz werden kçnne, was rigoros verneint wird, weil hier die Motivation zur Lebenserhaltung und diejenige zur Beendigung des Lebens einander widersprechen und eine Pflichtwidrigkeit entsteht. In analoger Weise ist das Borgen von Geld mit dem bewußt falschen Versprechen, es zurckzuzahlen, zwar zunchst mit dem eigenen knftigen Wohlbefinden vereinbar, widerspricht jedoch letztlich der Rechtmßigkeit, die in der Institution des Versprechens auf Basis gegenseitigen Vertrauens wirksam ist, und gefhrdet damit das eigene Wohlergehen. (Vgl. AA IV 422 u. 431 f.) 262 AA IV 427, Anm.: „Die Tugend in ihrer eigentlichen Gestalt erblicken, ist nichts anders, als die Sittlichkeit, von aller Beimischung des Sinnlichen und allem unechten Schmuck des Lohns, oder der Selbstliebe, entkleidet, darzustellen. Wie sehr sie alsdenn alles brige, was den Neigungen reizend erscheint, verdunkele, kann jeder vermittelst des mindesten Versuchs seiner nicht ganz fr alle Abstraktion verdorbenen Vernunft leicht inne werden.“

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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dungsebene erçrtert. Es ist daher sinnvoll, noch einmal schrittweise den fr unsere Untersuchung relevanten systematischen Hauptpunkten in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft nachzugehen, um die Bedingungen und Mçglichkeiten, aber auch die Grenzen dieser Konzeption hervorheben zu kçnnen.263 Denn die Achtung fr das moralische Gesetz, die aus der moralischen Selbstschtzung in den Vorlesungen hervorgeht, ist zwar ein zentrales, aber nicht das einzige Element innerhalb der kantischen Moralphilosophie, welches den Status von affirmativen und moralischen Selbstverhltnissen gnzlich neu bestimmt. 1. Schritt: Zu Beginn der einleitenden Bemerkungen ist es der gute Wille, bei dem die Begrndung ansetzt. Der gute Wille ermçglicht es berhaupt erst, allgemein-zweckmßige Prinzipien fr die Bestimmung von Handlungen zu formulieren und kann deshalb auch „ohne Einschrnkung fr gut […] gehalten werden“ (AA IV 393). Im Gegensatz zu allen zuflligen Eigenschaften und menschlichen Vorzgen eignet diesem guten Willen ein unbedingter innerer Wert, der uneingeschrnkt und ohne Einfluß anderer Faktoren besteht. Der absolute innere Wert des guten Willens ist dabei nicht nur ohne ußere Einflußfaktoren bestimmt, sondern steht zudem in keiner Beziehung zu bedingten Zwecken und zu den faktischen Auswirkungen der durch ihn bewirkten Handlungen. Einige Eigenschaften und Vorzge des Menschen kçnnen zwar die Befçrderung des guten Willens erwirken und werden deshalb auch wertgeschtzt, aber dieser Wert ist dann lediglich bedingt und nicht „schlechthin gut“. (AA IV 394) 2. Schritt: Der gute Wille ist Ausdruck der Vernunft als ein praktisches Vermçgen, welches allen Menschen (bzw. allen mit Vernunft begabten Wesen) zukommt und gemß seiner Allgemeinheit der „Privatabsicht des [einzelnen] Menschen“ (AA IV 396) notwendig entgegenstehen muß. Kant identifiziert diese Privatabsicht mit dem Streben nach der eigenen Glckseligkeit, das als solches nicht verwerflich ist, aber keinen Anspruch auf Allgemeingltigkeit erheben kann. Zwar ist fr die erfolgreiche Verwirklichung der eigenen Glckseligkeit auch die Bercksichtigung bestimmter Prinzipien nçtig, allerdings lassen sich nur ber das praktische 263 Ich beschrnke mich hierbei auf die Hervorhebung der wichtigsten Punkte und werde somit keine erschçpfende Interpretation der kantischen Ethik vorlegen. Die mit den folgenden Ausfhrungen verbundene Absicht zielt vielmehr auf eine interpretierende Rekonstruktion, die es erlaubt, das Verhltnis von affirmativen und moralischen Selbstverhltnissen zu bestimmen.

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

Vermçgen der Vernunft allgemein-zweckmßige Prinzipien formulieren, die dann auch Grundstze heißen. Prinzipien haben somit zunchst eine erweiterte Bestimmung und bezeichnen Regeln, die mit Blick auf einen zu erreichenden Zweck zu whlen sind, whrend Grundstze als Prinzipien zu verstehen sind, die allgemeine Gltigkeit beanspruchen und ihren Zweck in sich haben. Grundstze sind also keine passablen Prinzipien fr einen bestimmten Zweck, sondern bereits – mit Blick auf alle mçglichen Zwecke – selbst zweckmßig.264 3. Schritt: Damit wird die Wirksamkeit des Begriffs der Pflicht unmittelbar verstrkt, denn in der Unterscheidung zwischen ,bloßen‘ Prinzipien und allgemeingltigen Grundstzen wird auch ersichtlich, welche Handlungen aus Pflicht erfolgen und welche lediglich pflichtmßig sind. Entscheidend ist dabei die ,Blickrichtung‘: Handlungen aus Pflicht bestimmen sich ausschließlich gemß den Grundstzen des moralischen Gesetzes unabhngig von etwaigen Vorteilen oder Nachteilen fr den jeweils Handelnden oder den Betroffenen der Handlung. Demgegenber kçnnen pflichtmßige Handlungen zwar in ihrer konkreten Ausbung den Handlungen aus Pflicht zum Verwechseln hnlich sein, allerdings beziehen sie sich auf die Verwirklichung eines bestimmten Zwecks, wobei der kalkulierende Gebrauch erfolgversprechender Prinzipien maßgeblich ist. Die Befçrderung der eigenen Glckseligkeit versteht Kant als natrliche Neigung, die nicht als Pflicht geboten werden kann und sich darin von der Allgemeingltigkeit des moralischen Gesetzes abhebt. Mit Blick auf das christliche Gebot der Nchstenliebe wird zudem die pathologische Liebe, die als Neigung keine Pflicht sein kann, von der praktischen Liebe als „Wohltun aus Pflicht, selbst, wenn dazu keine Neigung treibt“ (AA IV 399), unterschieden. Ob sich diese Differenzierung auch auf affirmative und moralische Selbstverhltnisse bertragen lßt, werden die weiteren Ausfhrungen zeigen. 4. Schritt: Aus der Verbindung des unbedingten guten Willens mit den Grundstzen, die dem moralischen Gesetz der praktischen Vernunft entsprechen, sowie den Pflichten gehen die Wrde und der Wert der darauf gegrndeten sittlichen Begriffe unmittelbar hervor. Das personale Selbst erhlt erst in der Achtung vor dem Gesetz, die zugleich eine Identifikation 264 Kant sieht also wie die Moral-Sense-Theoretiker den Ausgangspunkt fr moralische Begrndungen nicht in einem Vorteil oder Nutzen. Allerdings zieht er aus dieser Feststellung gnzlich andere Schlußfolgerungen. Siehe dazu auch die polemischen Bemerkungen zum „eingepflanzte[n] Sinn“ (AA IV 425 f.).

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ist, und damit ber das Bewußtsein seiner reinen praktischen Vernunft (bzw. seines praktischen Vermçgens) den Grad an (moralischer) Selbstgewißheit, der fr Kant den Ausgangspunkt einer konsequenten Begrndung seiner Moraltheorie markiert. Zwischenbemerkung: Das personale Selbst wird in eine Bezglichkeit gestellt, die neben dem auf die praktische Vernunft bezogenen moralischen Begrndungsanspruch eine weitreichende Vorstellung von einem moralischen Wert enthlt. Somit soll das Selbst sich und die ihn betreffende Selbstverhltnismßigkeit nicht mehr ber gnzlich oder teilweise empirisch bedingte Begrndungsmomente erschließen, sondern ganz und gar von Grundstzen ausgehen.265 Kant schließt damit einen betrchtlichen Teil der bislang besprochenen affirmativen Selbstverhltnisse als nicht zur Metaphysik der Sitten gehçrig aus der Moraltheorie aus. Es stellt sich damit jedoch die Frage, zu welchem Bereich etwa die pragmatische Selbstschtzung gehçrt, wenn die moralische Selbstschtzung nunmehr als Achtung fr das Gesetz zu verstehen ist? Die Vermutung liegt nahe, daß ber diese Art der Selbstverhltnisse von nun an die Anthropologie zu handeln habe, allerdings werden sie, wie ein Blick in die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1797/98) zeigt, dort nicht mehr in extenso aufgefhrt. Von den thematischen Aspekten, die noch in den Vorlesungen zu finden sind, ist dort lediglich ein kurzer Abschnitt ber den Egoismus verblieben.266 Kant streicht somit in bezug auf affirmative Selbstverhltnisse das empirischanthropologische ,Element‘ fast vollkommen aus seinen berlegungen, um die kritische Moraltheorie noch berzeugender explizieren zu kçn265 Daher auch die Kritik an den moralischen Beispielen: „Man kçnnte auch der Sittlichkeit nicht bler raten, als wenn man sie von Beispielen entlehnen wollte. Denn jedes Beispiel, was mir davon vorgestellt wird, muß selbst zuvor nach Prinzipien der Moral beurteilt werden, ob es auch wrdig sei, zum ursprnglichen Beispiele, d.i. zum Muster zu dienen, keineswegs aber kann es den Begriff derselben zu oberst an die Hand geben.“ (AA IV 408) 266 Der moralische Egoist ist demzufolge „der, welcher alle Zwecke auf sich selbst einschrnkt, der keinen Nutzen worin sieht, als in dem, was ihm ntzt, auch wohl als Eudmonist bloß im Nutzen und der eigenen Glckseligkeit, nicht in der Pflichtvorstellung den obersten Bestimmungsgrund seines Willens setzt. Denn weil jeder andere Mensch sich auch andere Begriffe von dem macht, was er zur Glckseligkeit rechnet, so ist’s gerade der Egoism, der es so weit bringt, gar keinen Probierstein des echten Pflichtbegriffs zu haben, als welcher durchaus ein allgemein geltendes Prinzip sein muß. – Alle Eudmonisten sind daher praktische Egoisten.“ (AA VII 130)

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nen.267 Der Preis dieser Fokussierung auf ein dezidiert moralisches Selbstverhltnis besteht indes darin, einen wichtigen Aspekt in der Konstitution einer Person nicht mehr thematisieren zu kçnnen. Denn die Person verliert bei Kant einen Raum der besttigenden Explikation ihrer selbst, der ihr mit einem differenzierteren Verstndnis von affirmativen Selbstverhltnissen noch offen gestanden hatte. Allerdings scheint die pragmatische Selbstschtzung dafr in dem Streben nach individueller Glckseligkeit aufzugehen und deren systematische Stelle einzunehmen, woraus die folgenden Schritte resultieren. 5. Schritt: Die Bestimmung des Pflichtbegriffs erfhrt eine Erweiterung, indem zwischen engeren und weiteren Pflichten unterschieden wird. Whrend die engeren Pflichten voraussetzen, daß die Maximen der Handlungen aus Pflicht zugleich als ein allgemeines Gesetz gewollt werden mssen, womit eine unbedingte Notwendigkeit verbunden ist, widersprechen die weiteren Pflichten zwar nicht der Vernunft, lassen sich aber nicht verallgemeinern.268 Gegenber den Anforderungen des kategorischen 267 Eine Ausnahme sind die weiterhin gehaltenen Vorlesungen zur Moralphilosophie; siehe Abschnitt 2.2.4. 268 Kant erweitert hier den Anspruch an den Pflichtcharakter von Handlungen in Verbindung mit der reinen praktischen Vernunft, behlt aber zugleich, wohl ausgehend von Ciceros Bestimmung der vollkommenen Pflichten (officium perfectum) und mittleren Pflichten (officium medium) in De officiis, eine grundstzliche Unterscheidung bei: Dort war zwischen einem Handeln, welches auf das hçchste Gut und damit auf das ,Rechte‘ bezogen ist, und einem Handeln, welches auf Vorschriften und zu begrndenden probaten Vorgehensweisen (ratio probabilis) beruht, unterschieden worden (vgl. Cicero (2003), 1,7 f.). Die von Garve (1783a) angefertigte bersetzung von De officiis war in Kants Besitz, vermutlich kannte er auch die umfangreichen Erluterungen in Garve (1783b) zu diesem Werk. Darin erlutert Garve u. a. die stoische Unterscheidung der verschiedenen Pflichten: „[D]ie Handlungen des Menschen haben eine doppelte Beziehung: eine auf das Herz und den Geist des Menschen, woraus sie entstehen; eine andere auf die Erfolge in der Welt, die dadurch veranstaltet werden. Die Vollkommenheit, das wahre Gute, liegt nur im Menschen; in dem innern seiner geistigen Natur; in seinen Vorstellungen, seinen Neigungen. Die ußern Handlungen, kçnnen also nur in der ersten der gedachten Beziehungen, gut oder bçse seyn: sie kçnnen nur insofern an Vollkommenheit Antheil nehmen, als sie Ausdrcke der Vortrefflichkeit der Seele sind.“ (Bd. 1, 18 f.; ausfhrlich ebd., 21 – 38) Zur Selbstschtzung ebd., 57 ff.: „[D]er Mensch, welcher Kraft haben soll, etwas zu ertragen oder zu thun, muß sich selbst fr etwas halten. Ohne ein Bewußtsein seiner Wrde, ist ihm weder die Erhabenheit ber die ußern Dinge, noch eine sehr lebhafte Kraftußerung, mçglich. [D]ie Selbstschtzung ist alsdann ein Motif, das seine Krfte aufbietet, sich seiner Wrde gemß zu beweisen.“ Gibert (1994) geht vor

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Imperativs (vgl. AA IV 416 ff.) ist der hypothetische Imperativ der Klugheit als ein assertorisch-praktisches Prinzip auf eine wirkliche (und nicht bloß mçgliche) Absicht gerichtet, um deren Erfllung durch die pragmatische Wahl der dafr notwendigen Mittel und die damit einhergehende Ausrichtung des Willens zu gewhrleisten. Dieses ,anratende‘, aber nicht zu verallgemeinernde Sollen bezieht sich u. a. auf die individuelle Glckseligkeit, die als natrliche Absicht allen vernnftigen Wesen zukommt.269 6. Schritt: Der Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen sowie weiteren und engeren Pflichten entspricht die Trennung zwischen materialen und formalen Prinzipien fr die Bestimmung von Handlungen. Fr die materiale Bestimmung ist das subjektive Begehren als Wirksamkeit einer Triebfeder maßgeblich, whrend in einer formalen Bestimmung das objektive Wollen den alleinigen Bewegungsgrund markiert.270 7. Schritt: Da die materialen Prinzipien lediglich einen relativen, die formalen Prinzipien jedoch einen absoluten Wert haben, der von bedingten Zwecken unabhngig ist und der aus der Notwendigkeit des praktischen Gesetzes hervorgeht, ist jedes vernnftige Wesen qua praktisches Vermçgen der Vernunft, die eigenen Handlungen gemß eines objektiv-formalen Prinzips zu bestimmen, ein Zweck an sich selbst. (Vgl. AA IV 428) 8. Schritt: Zu der Allgemeinheit des praktischen Gesetzes und dem Selbstzweck von Vernunftwesen kommt die Vorstellung von einem allgemein gesetzgebenden Willen, der zugleich selbstgesetzgebend ist. Der objektive oberste Bewegungsgrund des Wollens schrnkt in der Bestimallem den terminologischen Bezgen nach; van der Zande (1995 u. 1998) erlutert Garves bersetzung im Kontext der sog. populren Philosophie. 269 AA IV 415 f.: „Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei allen vernnftigen Wesen […] als wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloß haben kçnnen, sondern von der man sicher voraussetzen kann, daß sie solche insgesamt nach einer Naturnotwendigkeit haben, und das ist die Absicht auf Glckseligkeit. Der hypothetische Imperativ, der die praktische Notwendigkeit der Handlung, als Mittel zur Befçrderung der Glckseligkeit, vorstellt, ist assertorisch. Man darf ihn nicht bloß als notwendig, zu einer ungewissen, bloß mçglichen Absicht, vortragen, sondern zu einer Absicht, die man sicher und a priori bei jedem Menschen voraussetzen kann, weil sie zu seinem Wesen gehçrt.“ 270 AA IV 427: „Praktische Prinzipien sind formal, wenn sie von allen subjektiven Zwecken abstrahieren; sie sind aber material, wenn sie diese, mithin gewisse Triebfedern, zum Grunde legen.“

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mung von Handlungen alle subjektiven Zwecke notwendig ein, aber diese Beschrnkung ist zugleich ein Ausdruck des praktischen Vermçgens der Vernunft einer Person in bezug auf sich selbst. Mit diesem Willen, der die formalen Bestimmungsgrnde seines Wollens aus der praktischen Vernunft bezieht, begreift sich eine Person selbst als Ausgangspunkt einer von ihr bewirkten, autonomen Bestimmung, der kein individuelles Interesse mehr zugrunde liegt.271 9. Schritt: Die Wrde eines vernnftigen Wesens besteht darin, daß es das praktische Gesetz als sein Gesetz begreift, wobei der eigene selbstgesetzgebende Wille zum unmittelbaren Gegenstand der Achtung wird: Die Gesetzgebung […], die allen Wert bestimmt, muß […] eine Wrde, d.i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, fr welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schtzung abgibt, die ein vernnftiges Wesen ber sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Wrde der menschlichen und jeder vernnftigen Natur. (AA IV 436)272

10. Schritt: Autonomie, Achtung und Wrde werden mit der Vorstellung von einem Reich der Zwecke weiter verschrnkt und auf das Selbstverstndnis eines jeden vernnftigen Wesens bezogen: Gemß seines praktischen Vermçgens ist dieses in der Lage, die Maximen seines Willens in bereinstimmung mit dem allgemeinen Gesetz zu bestimmen. Diese Bestimmung erfhrt eine Person jedoch nicht als ,von außen‘ aufgezwungen, sondern sie stellt sich selbst aus eigener Einsicht unter die objektive Wirksamkeit dieses Gesetzes. Sich als selbstgesetzgebend zu begreifen, ruft unmittelbare Achtung fr sich hervor, und das eigene Bewußtsein, ein Zweck an sich selbst zu sein, entspricht der Haltung allen anderen Personen 271 AA IV 432: „Denn wenn wir einen solchen [allgemein-gesetzgebenden Willen] denken, so kann, obgleich ein Wille, der unter Gesetzen steht, noch vermittelst eines Interesses an dieses Gesetz gebunden sein mag, dennoch ein Wille, der selbst zu oberst gesetzgebend ist, unmçglich so fern von irgend einem Interesse abhngen; denn ein solcher abhngender Wille wrde selbst noch eines andern Gesetzes bedrfen, welches das Interesse seiner Selbstliebe auf die Bedingung einer Gltigkeit zum allgemeinen Gesetz einschrnkte.“ 272 Pfordten (2006) gibt eine differenzierte und grndliche Analyse des Wrdebegriffs, der sich bei Kant einmal auf die Selbstgesetzgebung (in der Grundlegung), spter jedoch auf die Selbstzweckhaftigkeit (in der Metaphysik der Sitten) bezieht. Siehe zudem Hruschka (2002) sowie mit Blick auf das problematische Verhltnis von menschlicher Wrde und menschlicher Natur Bayertz (1995), bes. 473 ff. Eine der ausfhrlichsten Studien zu diesem Thema hat Lçhrer (1995) vorgelegt (siehe dort v. a. 34 ff.).

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gegenber, die ebenfalls Zwecke an sich selbst sind. Die darauf aufbauende systematische Verbindung ist ein als Ideal vorgestelltes Reich der Zwecke, worunter Kant einen mçglichen intelligiblen Zusammenschluß aller Personen unter gemeinschaftlichen Gesetzen versteht, wobei von den Privatabsichten der einzelnen Personen abstrahiert wird.273 Das Selbstverstndnis einer Person ist hier sowohl auf den Aspekt der Teilhabe an der Wirksamkeit eines allgemeinen Gesetzes als auch auf das individuelle Bewußtsein, eine selbstbewirkte Bestimmung seiner selbst vorzunehmen, bezogen.274 11. Schritt: Im Hinblick auf das vorgestellte und als mçglich gedachte Reich der Zwecke nimmt Kant nun eine distinkte Unterscheidung von Wertbestimmungen vor, wobei der absolute Wert mit Wrde und der relative Wert mit Preis identifiziert wird.275 Die Wrde der Menschheit als Ausdruck einer vernnftigen Natur wird somit zur Grundlage eines dezidiert moralischen Selbstverhltnisses: Eine Person achtet sich selbst, wenn sie ihre eigene Selbstzweckhaftigkeit angesichts des praktischen Vermçgens der Vernunft erkennt und in selbstbewirkter Bestimmung der eigenen Handlungen gemß dem praktischen Gesetz verwirklicht. Das je individuelle Streben nach Glckseligkeit wird in diesem Zusammenhang als ein beschrnktes affirmatives Selbstverhltnis verstanden, welches der Vorstellung von einem allgemeinen Zweck der Menschheit notwendig untergeordnet und lediglich in bezug auf die Erhaltung der psycho-physi-

273 AA IV 433: „[V]ernnftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hierdurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernnftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze, d.i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen auf einander, als Zwecke und Mittel, zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen kann.“ 274 Siehe dazu auch Gerhardt (1999), 131 ff. 275 AA IV 434 f.: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als quivalent, gesetzt werden; was dagegen ber allen Preis erhaben ist, mithin kein quivalent verstattet, das hat eine Wrde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedrfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedrfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d.i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemtskrfte, gemß ist, einen Affektionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d.i. Wrde.“

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schen Konstitution der Person als Grundlage einer moralischen Persçnlichkeit verbindlich ist. (Vgl. ausfhrlich dazu AA IV 435 ff.) Zusammenfassend wird deutlich, daß Kant innerhalb seiner ausgearbeiteten Moraltheorie die Bewertungsmaßstbe fr eine personale Selbstbezugnahme in einer klaren Distinktion gewichtet und auf die Unterscheidung zwischen formalen und materialen (praktischen) Prinzipien bzw. zwischen einem oberen (intelligiblen) und unteren (sinnlichen) Begehrungsvermçgen bezieht. Die eigene Glckseligkeit ist dabei als ein materiales Prinzip auf eine grundstzliche Weise von formalen Prinzipien verschieden und kann insofern nicht mit diesen verglichen werden. Dies trifft selbst dann zu, wenn sie als eine nicht-individualisierte Glckseligkeit im Sinne einer allgemeinen Wohlfahrt unter Einhaltung genereller Regeln (die aber eben nicht die universellen Regeln des moralischen Gesetzes sind) vorgestellt wird.276 Weil Kant das Streben nach eigener Glckseligkeit und damit auch die Selbstliebe als eine sinnliche Neigung versteht und die Achtung vor dem Gesetz mit einem apriorischen Gefhl identifiziert, kann er die Wirksamkeit bzw. den Einfluß der formalen Bestimmungsgrnde im Gegensatz zu den materialen strker hervorheben und hierarchisieren: Alle Neigungen [der selbstbezogenen Frsorge] machen die Selbstsucht (solipsismus) aus. Diese ist entweder die der Selbstliebe, eines ber alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst (philautia), oder die des Wohlgefallens an sich selbst (arrogantia). Jene heißt besonders Eigenliebe, diese Eigendnkel. Die reine praktische Vernunft tut der Eigenliebe bloß Abbruch, indem sie solche, als natrlich, und noch vor dem moralischen Gesetze einschrnkt; da sie alsdenn vernnftige Selbstliebe genannt wird. Aber den Eigendnkel schlgt sie gar nieder, indem alle Ansprche der Selbstschtzung, die vor der bereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen, nichtig und ohne alle Befugnis sind, indem eben die Gewißheit einer Gesinnung, die mit diesem Gesetze bereinstimmt, die erste Bedingung alles Werts der Person ist […]. (AA V 73)

Somit zielt die von der reinen praktischen Vernunft ausgehende Einschrnkung nicht auf ein „sowohl als auch“ von materialen und formalen Prinzipien, sondern ganz klar auf eine Dominanz der formalen Bestimmungsgrnde gemß dem moralischen Gesetz. Gerade weil die Achtung fr dieses Gesetz als ein apriorisches Gefhl, mithin als eine Wirkung auf die subjektiven Bestimmungsgrnde gedacht ist, kçnnen formale Prinzipien letztlich sogar auf dem ,Gebiet des Sinnlichen‘ einschrnkend 276 Vgl. zu den materialen praktischen Prinzipien und damit zu dem Prinzip der Selbstliebe ausfhrlich AA V 22 ff. u. 33 ff.

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wirksam werden. Das allgemein-praktische, moralische Gefhl wird damit zum bestimmenden Gegenspieler des individuellen, pathologischen Gefhls, womit die pathologische Selbstliebe sich einer praktischen Liebe zum eigenen Selbst zu beugen hat, die ber das Vermçgen der praktischen Vernunft vermittelt ist, als Achtung vor dem Gesetz auftritt und nur in dieser Hinsicht Selbstachtung ist.277 Diese Konzeption von Selbstachtung, die in den Kontext einer voraussetzungsreichen und anspruchsvollen Moraltheorie gestellt ist, zeigt die explizite Verengung affirmativer Selbstverhltnisse auf explizit moralische Selbstverhltnisse auf, die in dieser Form auch keine parallel vorhandenen Vorstellungen von Selbstbezugnahmen mehr zuzulassen scheint. Aber wo wre dann noch ein ,Ort‘ fr die anderen Formen affirmativer Selbstverhltnisse vorhanden? In der Zwischenbemerkung ist bereits ersichtlich geworden, daß die Anthropologie, zumindest aus der kantischen Perspektive, diese Aufgabe nicht zu bernehmen bereit ist, womit jedoch das Phnomen, also das pathologische Gefhl der Liebe bzw. affirmativen Hinwendung zum eigenen Selbst, nicht ,aus der Welt geschafft‘ ist. Ganz im Gegenteil: Affirmative Selbstverhltnisse (die noch keine moralischen Selbstverhltnisse sind) haben einen deutlichen Bezug zu Moral und Ethik, denn sie betreffen Lebewesen, die in der Lage sind, sich selbst zu begreifen und ihr eigenes Handeln zu reflektieren. Denn die Vorstellung von einer Art grundstzlicher Selbstbezogenheit, die sich zumindest als ,vormoralisch‘ ausweist, jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen tatschlich moralische Relevanz erlangt, ist allem Anschein nach ein unverzichtbarer Aspekt dessen, was eine Person in ihrer Konstitution ausmacht. Es stellt sich dabei allerdings bestndig die Frage, in welchem Verhltnis affirmative Selbstverhltnisse (in diesem erweiterten Sinn) zu ausdrcklich moralischen Selbstverhltnissen stehen kçnnen oder ob mit Kant immer von einem prinzipiellen Widerstreit dieser beiden Formen der Selbstbezogenheit ausgegangen werden muß. Mit Blick auf die Grundlegung und die Kritik der praktischen Vernunft bleibt in der Begrndung des personalen Selbst eine Divergenz bestehen, die deutlich den ,Sprung‘ in der kantischen Begrndung markiert278 und m. E. nur entschrft werden kann, wenn sie wenigstens zum Teil in eine genetische Perspektive berfhrt wird. Obwohl das Prinzip der Selbstliebe 277 Siehe zur Begrndung der Wirkung der Achtung fr das Gesetz auf das selbstbezogene Streben nach Glckseligkeit AA V 73 – 76 sowie zum TriebfedernKapitel u. a. Hahn (2008), 72 ff. 278 Vgl. Abschnitt 1.2.3.

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nicht zu verallgemeinern ist – zumindest nicht in einer so anspruchsvollen Form wie die formalen Grundstze bei Kant –, ist dieses affirmative Selbstverhltnis doch insofern allgemein, als jeder fr sich das eigene Wohlergehen anstrebt. Dieses Prinzip taugt zwar nicht zur umfassenden Bestimmung von Handlungen gegenber anderen Personen und damit zur Begrndung einer Moraltheorie, bleibt aber dennoch ein notwendiges Element der Verstndigung ber das eigene Selbst-sein. Kant unterminiert diese Perspektive und erlegt jedem vernnftigen Selbst den geltungsbedingten Anspruch auf, sein eigenes Selbstverhltnis apriorisch aus Grundstzen abzuleiten, die vor aller empirischen und damit auch sozialen Erkenntnis zu begreifen sind. Folglich stellt er uns vor die Alternative, entweder die Prmisse einer unmittelbar sich einstellenden Achtung fr das moralische Gesetz als Geltungsgrund zu akzeptieren oder nach einer anderen Begrndungsmçglichkeit zu suchen. Denn wenn das Konzept einer apriorischen Erkenntnis des eigenen moralischen Selbst zweifelhaft wird, da es die entscheidende Frage aufwirft, wie eine solche Erkenntnis eigentlich praktisch vonstatten ,geht‘, muß eine alternative Beschreibung zumindest versuchen, den ausschließenden Gestus von formal-moralischen Selbstverhltnissen gegenber material-affirmativen Selbstverhltnissen zu berwinden. Bevor die Anfnge fr einen solchen Versuch in Kapitel 3 umrissen werden kçnnen, gilt es, in einer abschließenden Betrachtung die spte Vorlesung zur Moralphilosophie sowie die etwa zeitgleich erschienene Schrift Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft in den Blick zu nehmen und diese mit der bereits erarbeiteten Position der moralphilosophischen Werke der 1780er Jahre zu vergleichen. 2.2.4 Metaphysik der Sitten Vigilantius Diese Vorlesung, die Kant in der ersten Hlfte der 1790er Jahre gehalten hat, gibt mit Blick auf die Erçrterung affirmativer Selbstverhltnisse zum Teil Auffassungen wieder, die schon in den Vorlesungen der 1770er Jahre erwhnt werden. Darber hinaus zeichnet sich hier aber bereits eine Entwicklung ab, die einige der spteren Aussagen in der Metaphysik der Sitten (1797/98) wesentlich beeinflußt.279 So wird mit der Unterscheidung 279 Es ist bemerkenswert, daß Kant trotz der bereits erschienenen Grundlegung und Kritik der praktischen Vernunft in dieser spten Vorlesung noch weitgehend an der Struktur der Vorlesungen aus den 1770er Jahren festhlt, was etwa an der hnlichen

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von sogenannten Schuldigkeitspflichten (officia debiti) und verdienstlichen oder Liebespflichten (officia meriti) das Verhltnis zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten vorweggenommen. Die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst betreffen den Menschen ausschließlich als ein moralisches Wesen und beziehen sich auf eine formale „bereinstimmung der Maximen [des] Willens mit der Wrde der Menschheit in [der] Person“, mithin sind sie einschrnkende (negative) Pflichten, nach Prinzipien gemß eines moralischen Gesetzes zu handeln und fr sich selbst als Mensch und Person den Vorzug der inneren Freiheit nicht zu verleugnen. Dementsprechend werden unvollkommene Pflichten gegen sich selbst als Verbindlichkeit verstanden, in Ansehung des Zwecks der Menschheit in der eigenen sowohl psycho-physischen wie auch moralischen Person die natrlichen Anlagen und Fhigkeiten zu kultivieren. Mithin sind sie erweiternde (positive) Pflichten, die eine materiale Vervollkommnung eines jeden Menschen als Person einfordert, dies aber in Ermangelung einer formalen Bestimmung nur in heterogener und damit unvollkommener Weise tut. (Vgl. AA VI 419 f., 446 f.) In der Vorlesung werden die Schuldigkeitspflichten durch das moralische Gesetz bestimmt und entweder durch ußeren Zwang oder innere Nçtigung zur Handlung gebracht. Demgegenber sind die verdienstlichen Pflichten „nicht unmittelbar durch’s Gesetz, sondern durch den damit verbundenen Zweck bestimmt“ (AA XXVII/2,1 600), der den alleinigen Grund der Verpflichtung zur Hervorbringung einer Handlung enthlt. Allerdings sind die verdienstlichen Pflichten abhngig von der formalen bereinstimmung mit den Schuldigkeitspflichten und somit lediglich eine (freiwillige) Erweiterung derselben: Daher sind auch die principia der Ethic nicht aus der Natur der Person des Menschen abzuleiten, sondern sie mssen synthetisch entwickelt werden, weil die officia meriti jederzeit den officiis debiti nur zugesetzt werden kçnnen […]. Nur dann kann dies [die officia meriti] Pflicht seyn, wenn es mit der Beobachtung strenger Pflichten [officia debiti] bestehen kann […]. (AA XXVII/2,1 600)

Was die ,schuldigen‘ bzw. Rechtspflichten gegen das eigene Selbst anbelangt, so hat der Mensch die rechtliche Befugnis ber sich und „gehçrt sich selbst an“ (homo est sui iuris). Dieses Verhltnis der Zugehçrigkeit legitithematischen Einteilung deutlich wird. Zudem ist hier die Unterscheidung von formalen und materialen Bestimmungsgrnden fr Handlungen lngst nicht so stark ausgeprgt, wie dies die vorangegangenen Bemerkungen in der Kritik der praktischen Vernunft vermuten lassen wrden.

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miert sich aus dem „Recht der Menschheit“, der jede Person als intellektuelles Wesen angehçrt.280 Damit differenziert Kant das Selbstverhltnis von Personen und grenzt die intellektuelle Zugehçrigkeit distinkt von einem Grundsatz der materialen Verfgbarkeit ab, in welchem die Person sich als Eigentum ihrer selbst versteht (homo est mancipium sui bzw. dominius sui ipsius), was zu der expliziten Ablehnung einer partialen oder totalen Verfgung ber den eigenen Kçrper fhrt.281 Diese Ablehnung schließt auch die berlassung der Verfgung ber die eigene Person an andere Personen ein. (Vgl. AA XXVII/2,1 601 f.) Auffllig sind nun die drei Aspekte, auf denen die unbedingten und von der negativen Freiheit ausgehenden Pflichten der Menschheit in einer Person beruhen: 1) der Mensch kann nicht ber seine Substanz disponiren: denn er wrde ber seine Persçnlichkeit selbst, innere Freiheit, oder Menschheit in seiner Person selbst verfgen. [E]r ist als phaenomen dem noumenon obligirt.282 […] 2) Er kann nicht ber die Causalitt der Menschheit, d.i. der Freiheit disponiren, insofern dies die ußere Freiheit zum opposito der inneren ad 1 ist. Er kann sich daher seiner Freiheit nicht berauben, welches geschehen wrde, wenn er den Inbegriff seiner Krfte und Vermçgen zum willkrlichen, absoluten, unerlaubten Gebrauch eines anderen hingeben wollte: Es gehçren diese Krfte der Menschheit in seiner Person und nicht ihm an […].

280 Dazu AA XXVII/2,1 603: „Die Pflichten gegen sich selbst beziehen sich nicht auf den Menschen als ein physisches Subjekt, sondern jederzeit auf das Recht der Menschheit in seiner Person, oder das Recht, was sie auf ihn und seine Person hat. [A]lle und jede Pflichten [sind] entweder vollkommen oder Rechts-/ oder Liebespflichten, mithin auch Pflichten gegen sich selbst von dieser zweyfachen Natur, nachdem sie nmlich auf das Recht der Menschheit, oder auf den Zweck der Menschheit in einer Person, Bezug nehmen.“ (Hervorh. F.B.) Die Kritik richtet sich gegen Baumgartens Einteilung der Pflichten gegen sich selbst in 1) allgemeine Pflichten, 2) in bezug auf die Seele und 3) in bezug auf den Kçrper. Kant sieht hingegen in der Person, als „ein Wesen, so Freiheit im Gebrauch seiner Krfte hat“, den einzigen Bezugspunkt solcher Pflichten. (Vgl. AA XXVII/2,1 607) 281 Kant gibt hier (AA XXVII/2,1 603) mit Verweis auf das Verbot der Selbsttçtung bereits hnliche kasuistische Flle wie spter in der Metaphysik der Sitten an (siehe dort AA VI 422 – 424). 282 AA XXVII/2,1 602: „Das Sinnenwesen ist von dem noumeno als intellectuellem Wesen seiner Gewalt nach so abhngig, daß es derselben subordinirt, und die Substanz des Sinnenwesens ihm von ersterem nur anvertraut ist.“ Siehe zum Verhltnis von homo phaenomenon und homo noumenon ausfhrlich Abschnitt 1.2.3.

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3) Er muß seine Ehre sich erhalten, i. e. das justum aestimum sui ipsius vel humanitatis in sui ipsius persona, da die Menschheit ein unverletzliches Heiligthum ist. (AA XXVII/2,1 601 f.)

Wir finden das iustum sui ipsius aestimium (gehçrige bzw. rechtmßige Selbstachtung oder Selbstschtzung) aus Baumgartens Ethica an dieser Stelle als quivalent der Menschheit in der eigenen Person wieder. Die Einteilung des Textes legt eine Zuordnung unter die vollkommenen Pflichten nahe, wobei zunchst einerseits eine Parallele zur Identifikation von moralischer Selbstschtzung und Achtung fr das Gesetz in der Grundlegung aufscheint, andererseits jedoch mit Ehre und der Aufrechterhaltung der eigenen Achtung gegenber anderen Menschen durchaus ein anderes Selbstverhltnis gemeint sein kçnnte.283 Wenn die hier bezeichnete eigene Achtung als moralische Selbstschtzung zu den Rechts- bzw. vollkommenen Pflichten zu rechnen ist und als „Liebe des Rechts der Menschheit in sich“ (AA XXVII/2,1 604) offensichtlich auch auf eine Verbindlichkeit bezglich gesellschaftlicher Reputation gegrndet ist, bleibt fraglich, ob (1) diese Pflicht zur Erhaltung der Achtung vor sich selbst und vor anderen zugleich eine Rechts- und Liebespflicht ist oder ob (2) fr die Liebespflichten eine separate Form der Verbindlichkeit besteht. Gegen (1) spricht, daß Liebespflichten zwar nur in bereinstimmung mit den Rechtspflichten gedacht werden kçnnen, aber gerade von diesen hçchsten Pflichten zu unterscheiden sind. Pflichten sind demnach entweder vollkommen oder unvollkommen. Bei nherer Betrachtung der Textstelle, in der Kant gegen die irrtmliche Auffassung, es gebe keine Pflicht gegen sich selbst, argumentiert und die das Verstndnis von (1) zu sttzen scheint, zeigt sich noch ein weiteres Verhltnis: [Die eigene Glckseligkeit] ist aber blos die Absicht die Jeder zu erreichen sucht, die garnicht befohlen werden darf, und die Maximen, die dazu gehçren, sind nur practische oder pragmatische Regeln, Regeln der Klugheit, – etwas, was aber ganz verschieden von den Pflichtgeboten ist, sie mçgen Rechtspflichten oder Liebespflichten betreffen: nur freilich begreift letzteres der Solipsismus oder practische Egoismus als Liebe zu sich selbst und seiner Person, nicht als Liebe des Rechts der Menschheit in sich. (AA XXVII/2,1 604)

283 AA XXVII/2,1 602: „[Der Mensch] muß vermçge seines commercii mit andern sich seine eigene Achtung von anderen d.i. seine Ehre erhalten, d.i. er muß in keiner Rcksicht durch sein Betragen Grund geben, seinen guten Namen (bonae ex aestimatione) Abbruch zu thun.“

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Sobald im letzten Satz der vermutlich unvollstndige Passus „als Liebe des Rechts der Menschheit in sich“ erweitert wird zu „als Liebe des Rechts und des Zwecks der Menschheit in sich“, womit Rechts- wie Liebespflichten entsprechend bercksichtigt sind, ergibt sich eine dichotomische Struktur von Selbstverhltnissen: Auf der einen Seite befindet sich dann eine Liebe oder Achtung, die als unvollkommene oder vollkommene Pflicht geboten ist. Auf der anderen Seite steht dieser Pflicht eine Selbstbezogenheit entgegen, die als Selbstliebe ausschließlich die je eigene Glckseligkeit einer Person betrachtet. Wenn dies zutrifft, sind drei Varianten eines affirmativen Selbstverhltnisses aufgefhrt, von denen zwei auf einer Verbindlichkeit beruhen und damit moralisch relevant sind. Damit ist zwar die Unklarheit von (1) beseitigt,284 allerdings ist mit Blick auf (2) noch nicht deutlich geworden, worin das unterscheidende Merkmal zwischen der vollkommenen und unvollkommenen Pflicht zur Erhaltung der Ehre und eigenen Achtung besteht. Um dieses spezifizierende Merkmal innerhalb von Verpflichtungsverhltnissen benennen zu kçnnen, ist es hilfreich, die Abgrenzung zur dritten Variante, der nicht-pflichtgebundenen Selbstliebe, vorzunehmen. Zunchst kommt Kant auf eine terminologische Schwierigkeit zu sprechen, die den Bestandteil „Liebe“ in „Liebespflichten“ betrifft, der zwei Bedeutungen haben kann: Man versteht darunter einen habitum a) entweder seine eigenen Neigungen zu befriedigen, und dies ist Selbstliebe philautie, oder b) die Zwecke anderer in seiner eigenen Person zu befçrdern: dies letztere ist nur die richtige Bedeutung, da derjenige nur die Pflicht der Liebe erfllt, d.i. den andern liebt, wenn er zur Befçrderung der Zwecke desselben sich selbst thtig zeigt. (AA XXVII/2,1 607; Hervorh. F.B.)

Neben der Liebe zu sich selbst, die der Befriedigung der eigenen Neigungen dient, ist hier von Liebespflichten in zweifacher Hinsicht die Rede: Diese Form der verbindlichen Liebe hat die Befçrderung der Zwecke anderer Menschen in der eigenen Person zur Aufgabe. Sie ist also einerseits keine Pflicht gegen sich selbst, sondern zunchst gegen andere: Wir sollen die Zwecke anderer befçrdern. Andererseits soll die Befçrderung dieser Zwecke in der eigenen Person erfolgen, so daß wiederum die Pflicht besteht, sich selbst als Mensch in der eigenen Person nicht zu verleugnen. Man soll sich 284 Dies setzt allerdings voraus, daß man die Einteilung des Textes weniger streng interpretiert und die Nebenbemerkung (siehe obiges Zitat), die in § 72 unter die „analyse der officiarium gegen sich selbst“ (AA XXVII/2,1 601) gestellt ist, zumindest in Punkt (3) auch auf die unvollkommenen bzw. Liebespflichten bezieht.

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in die Lage versetzen, den Zwecken anderer Menschen oder – was hier gemeint sein drfte – der Menschheit zu gengen. Die Liebe der Liebespflichten ist also eine ,gebundene‘ Zuneigung, in der das affirmative Verhltnis zum eigenen Selbst nicht unabhngig von einem bergeordneten Zweck, der zugleich in allen anderen Menschen bercksichtigt werden muß, zu denken ist.285 ber die verbindliche Zuneigung zu dem Zweck der Menschheit ist die begrndete Liebespflicht in ein wechselseitiges Verhltnis eingebunden, in welchem die Verpflichtung sich selbst gegenber nicht von der Verpflichtung anderen gegenber zu trennen ist.286 In welcher Verbindung steht aber nun die Selbstliebe als Befriedigung der eigenen Neigungen zu diesen Liebespflichten, mit denen sie nicht zu verwechseln ist, bzw. zu Pflichten berhaupt? Unter ,Philautie‘ versteht Kant allgemein die „gute[.] Meinung von uns selbst“, die jedoch im eigentlichen Sinn nur fr die Selbstbewertung mit der Zuschreibung ,liebenswrdig‘ zutrifft. Jemand, der sich selbst als ,achtungswrdig‘ bewertet, gilt hingegen als arrogant. Diese Unterscheidung in der Selbstzuschreibung setzt sich in der Einteilung der Selbstliebe in die (1) Liebe des Wohlwollens (,liebenswrdig‘) und (2) in die Liebe des Wohlgefallens (,achtungswrdig‘) gegen sich selbst fort. Beide Ausprgungen der Selbstliebe sind an sich nicht negativ konnotiert, sondern jeweils nur in ihren ausschließenden Formen. So ist „bey allen Menschen ganz unbegrenzt eine Liebe des Wohlwollens gegen sich selbst, und die wird also erst Fehler, wenn sie andere von unserer Liebe oder Neigung fr sie ausschließt“ (AA XXVII/2,1 620).287 Bei der Einteilung der Selbstliebe wird somit eine vergleichbare Struktur wie bei den Liebespflichten eingefhrt: Als Selbstbezogenheit, die nicht nur die individuelle Person, 285 AA XXVII/2,1 620: „Liebe ist, allgemein genommen, der Bestimmung des Willens zur strengen Pflicht opponirt, und besteht in der Neigung oder dem Willen, die Zwecke anderer zu befçrdern. So wie Liebespflicht in opposito gegen Rechtspflicht jederzeit auf die Uebereinstimmung mit den Zwecken anderer, und also auf die Befçrderung derselben hinausgeht.“ 286 Wohingegen bei den Rechtspflichten ein Primat der Pflichten gegen sich selbst als Voraussetzung fr die Bewahrung der Fhigkeit, sein Handeln nach Prinzipien bestimmen zu kçnnen, und damit der Erhaltung der moralischen Persçnlichkeit vorliegt. 287 Obwohl mit Blick auf die Liebe des Wohlgefallens gegen sich selbst eine andere Einschtzung wirksam zu sein scheint: „Auch diese ist Philautie, wenn sie ausschließend gegen sich selbst ausgebt wird, wird aber auch vernunftwidrig.“ (AA XXVII/2,1 621) Hier ist erst die Merkmalsbeschreibung ,ausschließend‘ kennzeichnend fr die Selbstliebe, die damit als solche eine negative Bedeutung bekommt.

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

sondern immer zugleich auch die mit den eigenen Handlungen bzw. Unterlassungen konfrontierten Mitmenschen betrifft, steht die Selbstliebe in einem Relationsverhltnis, in welchem die Liebe zum eigenen Selbst ein Gegengewicht in der Liebe gegen andere und im Zweck der Handlung an sich erhlt. Da fr die Selbstliebe des Wohlwollens der Grundsatz gilt, nicht eigenntzig zu sein, besteht dieser in zweifacher Hinsicht: 1) Handle nicht eigenntzig, d.i. handle nicht blos deines eigenen, sondern auch des Nutzens anderer wegen; liebe also in der Rcksicht auch andere, und schließe sie nicht von deiner Selbstliebe aus. 2) Handle uneigenntzig, d.i. handle nicht blos aus dem princip des Nutzens, sondern auch der Pflicht. In letzterer Rcksicht ist die Pflicht gegen sich selbst, die Achtung gegen das Recht der Menschheit, die Triebfeder der Handlung und die Bedingung, unter welcher das Wohlgefallen vernnftig wird; wogegen diese [Triebfeder] bey Seite gesetzt wird, wenn man die Selbstliebe blos auf den Nutzen der Handlung einschrnkt. Es folgt dies aus der Natur einer Pflicht, die nicht aus dem Nutzen als Zweck, sondern aus der Bedingung der Handlung an sich bestimmt werden muß, widrigenfalls sie Klugheitsregel werden wrde. (AA XXVII/2,1 621)288

Obwohl die Selbstliebe ganz allgemein ber die „Liebe“ als Neigung oder Willen, „die Zwecke anderer zu befçrdern“ (AA XXVII/2,1 620) bestimmt worden war, wird sie nun ausdrcklich durch Pflichtverhltnisse reglementiert. Dies ist einigermaßen erstaunlich, denn die Neigung kann nur die Selbstliebe betreffen, wohingegen der (nicht strenge) Wille aus den Liebespflichten hervorgeht. Eine Pflicht, sich selbst zu lieben, kann es auch von Kants Standpunkt aus nicht geben, scheinbar aber die Verpflichtung, den mçglichen Exzessen der natrlichen Selbstliebe zu begegnen. Insofern jedoch „Liebe“ bedeutet, die Zwecke anderer zu befçrdern, „Selbstliebe“ auf ebendiese Zwecke in der eigenen Person bezogen ist und „Zweck“ hier jeweils auf den Zweck der Menschheit zielt, wre die Selbstliebe nicht mehr von den Liebespflichten zu unterscheiden.289 Fr die Selbstliebe muß also gelten, daß sie tatschlich nichts weiter als die Befriedigung der eigenen 288 Siehe dazu auch die lexikalische Bestimmung von vernnftiger und unvernnftiger „Selbst-“ bzw. „Eigenliebe“ in den Abschnitten 2.1.2 und 2.1.3. 289 Dies drckt sich auch in der Erluterung der Liebe des Wohlwollens gegen sich selbst aus: „[D]iese ausschließend gegen sich selbst gefaßt, mithin ohne Rcksicht auf die Pflicht der Liebe gegen andere, ist der Solipsismus oder Eigennutz.“ (AA XXVII/2,1 620) Es bleibt unklar, inwiefern die Selbstliebe hier „Rcksicht auf die Pflicht der Liebe gegen andere“ nehmen kann, ohne selbst in ein Verpflichtungsverhltnis zu geraten, in welchem die Befçrderung der Zwecke anderer in bereinstimmung mit der Befçrderung der eigenen Zwecke, verstanden als Zwecke der Menschheit in der eigenen Person, gedacht ist.

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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Neigungen ist (vgl. AA XXVII/2,1 607) und als solche von mçglichen Zwecken der Menschheit in der eigenen Person oder der notwendigen bereinstimmung der eigenen Handlung mit den Zwecken anderer nichts weiß. Die „Liebe“ in Selbstliebe ist, anders als die Bemerkungen im Text suggerieren (vgl. AA XXVII/2,1 620 u. 621), damit aber von der „Liebe“ in den Liebespflichten verschieden und bedeutet dann gerade nicht die Neigung, eigene oder die Zwecke anderer zu befçrdern.290 Das Verstndnis von Selbstliebe erweist sich anhand dieser terminologischen Feinheit als schwankend: Zum einen kann die Selbstliebe als eine an sich natrliche und unverfngliche Selbstbezogenheit verstanden werden, die jedoch ,vernunftwidrig‘ wird, sobald sie ausschließend ist und ohne Bercksichtigung etwaiger Pflichten anderen gegenber agiert. Der Selbstliebe muß hier also ein regulatives Moment auf seiten der Verbindlichkeit korrespondieren. Zum anderen scheint Selbstliebe aber zum Teil bereits als ,vernnftige‘ Selbstliebe und damit per se als in Verpflichtungsverhltnisse eingebunden konzipiert zu sein. In diesem Fall wre in der Selbstliebe schon das Bewußtsein der Zwecke, die es in der eigenen Person und in anderen Menschen zu befçrdern gilt, angelegt. Ein ,Verstoß‘ oder vielmehr eine ,unvernnftige‘ Neigung bedrfte dann nicht eines regulativen, dafr aber eines vernnftigen Moments der reflektierten berlegung. Des weiteren kann Selbstliebe auch unter einem pejorativen Vorbehalt stehen und als bloßer Drang zur Befriedigung der eigenen Neigungen prinzipiell verdchtig sein.291 Whrend es bei der Selbstliebe des Wohlwollens auf die adquate Bercksichtigung sowohl der eigenen wie auch der Zwecke anderer, mithin auf einen Ausgleich ankommt, nimmt die Selbstliebe des Wohlgefallens eine andere Ebene ein. Denn das Wohlgefallen an sich selbst ist eine Selbsteinschtzung bzw. Bewertung des eigenen (moralischen) Werts, so daß selbst eine angemessene Selbstliebe des Wohlwollens zusammen mit einer unangemessenen und ,vernunftwidrigen‘ Selbstliebe der Selbstschtzung292 bestehen kann und damit beide Ausprgungen der Selbstliebe voneinander unabhngig sind. [W]er sich selbst allein gefllt, setzt sich in Gefahr, daß er außer Stande ist, seine Fehler zu prfen, und zu bessern, sowie sich im Verhltniß gegen andere einen gewissen moralischen Werth anzudichten, den er sich erst erwerben 290 Es sei denn, man geht hier von einer ambivalenten Bedeutung von „Zweck“ aus, wovon ich absehe. 291 Vgl. Fn 287. 292 Vgl. Fn 245.

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

muß. Dieses kann man nicht unbeschrnkt bey allen Menschen und ohne Grenzen annehmen: daß er sich selbst gefallen solle, wenn er sich nach den dazu erforderlichen Bedingungen prft. (AA XXVII/2,1 621)

Worin besteht nun diese Prfung nach den „erforderlichen Bedingungen“? Indem sich eine Person mit anderen Personen vergleicht, vermeidet sie den Fehler der Arroganz und gestaltet die Selbstliebe des Wohlgefallens in eine Instanz der Selbstschtzung um. Das Prfverfahren orientiert sich dabei zunchst an dem Unterschied zwischen Rechts- und Liebespflichten. Aus der Erfllung der ,schuldigen‘ Pflichten kann dabei lediglich ein „minimum der Selbstschtzung unseres eigenen Werthes“ (AA XXVII/2,1 622) hervorgehen, da die Rechtspflichten eine Pflichthandlung ausschließlich anhand des moralischen Gesetzes bestimmen und somit eine etwaige Anspruchshaltung anderen Personen gegenber entfllt. Die Erfllung einer Rechtspflicht kann sich eine Person also nicht als ,eigene Leistung‘ zurechnen, denn die Verbindlichkeit gegenber dem moralischen Gesetz besteht unabhngig von der eigenen Person und ist von dieser, anders als bei den ,verdienstlichen‘ Pflichten, nicht erst zu konstituieren. Denn durch diese Pflichthandlungen, wodurch wir, außer der erfllten eigenen Verbindlichkeit [gegenber dem moralischen Gesetz], noch andere obenein uns verbinden, mithin mehr geschieht als wozu wir schuldig sind, […] wird […] ein gegrndetes Wohlgefallen gegen sich selbst erzeugt, welches uns befugt und pflichtig macht, in uns selbst einen moralischen Werth zu legen […]. (AA XXVII/2,1 622)

In der Unterscheidung zwischen Rechts- und Liebespflichten liegt fr Kant ein zentrales Moment der moralphilosophischen Begrndung, denn die „Zufriedenheit mit sich selbst, [die] aus einer unproportionirten Selbstschtzung“ (AA XXVII/2,1 624) entsteht, ist nicht geeignet, eine wirklich verbindliche Ethik (ethica rigorosa [rigida]) hervorzubringen. Diese kann sich im Gegensatz zu einer nachsichtigen und zwanglosen Ethik (ethica laxa) auf die geforderte bereinstimmung mit dem unbedingten moralischen Gesetz beziehen und vermeidet daher Fehleinschtzungen, relativierende Einschrnkungen und situationsbedingte Selbstentschuldigungen. Die ,Unrechtmßigkeit‘ der Selbstliebe des Wohlgefallens kann ihren Grund also in einer indifferenten Haltung gegenber der spezifischen Funktion von Rechts- und Liebespflichten bzw. Pflichten allgemein haben. Zudem betrifft dies auch ein Verfehlen der rechtmßigen Selbstschtzung (iustum sui ipsius aestimium). Diese

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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besteht in der Beurtheilung seines moralischen Werths, d.i. in der Prfung seiner Handlung mit der Uebereinstimmung oder Abweichung von demjenigen, was das moralische Gesetz sagt, sowie inwiefern die Handlung nicht blos dem Gesetz gemß, sondern um des Gesetzes Willen allein, ohne Interesse oder andere Zwecke unternommen ist […]. (AA XXVII/2,1 609)

In dieser Selbstschtzung, die bekanntlich eine Pflicht gegen sich selbst ist (s. o.), betrachtet und bewertet sich eine Person in einer zweifachen Perspektive: (1) Mit Blick auf den Wert der Menschheit in der eigenen Person sieht sich eine Person als intelligibles Wesen, welches diesen Wert als die umfassende Bestimmung seines eigenen Daseins begreift und deshalb auch auf die eigenen Handlungen bezieht. Eine „vçllige bereinstimmung oder den ganzen Werth der Menschheit zu erreichen“ muß ein kaum zu verwirklichendes Unterfangen bleiben. (2) ber die Anerkennung des Werts des Menschen in der eigenen Person bzw. die Selbstschtzung als Mensch vergleicht sich eine Person in Ansehung der eigenen Neigungen und Triebe mit dem Gesetz der Menschheit und versucht, jene zu berwinden und die eigenen Handlungen mit diesem in bereinstimmung zu bringen. (Vgl. AA XXVII/2,1 609) Whrend sich in (1) die Person ausschließlich als intelligibles Wesen (homo noumenon) versteht, welches die Bestimmung der Zwecke nach dem moralischen Gesetz vornehmen kann, steht in (2) die Verbindung des sinnlichen Menschen (homo phaenomenon) mit dem Intelligiblen im Vordergrund. Aber sowohl (1) als auch (2) beziehen sich auf den Fixpunkt des fr die Menschheit relevanten moralischen Gesetzes. Damit wird die Selbstschtzung, anders als in den Vorlesungen der 1770er Jahre, nicht mehr in eine pragmatische und eine moralische Selbstschtzung unterschieden, sondern rckt vielmehr in unmittelbare Nhe zur Achtung fr das Gesetz. Diese Achtung ist, wie Kant in der Auseinandersetzung mit Schillers ber Anmut und Wrde bemerkt, ein „moralischer Zwang“, der auf dem Gefhl beruht, die eigenen Handlungen gegen die Neigung und gemß dem Pflichtgesetz bestimmen zu kçnnen. Das Gefhl der Achtung ist jedoch freiwillig, und in seiner nçtigenden Beharrlichkeit einzig durch die Wrde des Gesetzes bedingt. (AA XXVII/2,1 623 f.) Fr die Selbstschtzung bedeutet dies, daß sie als ,rechtmßige‘ Selbstschtzung bereits immanent auf das Gefhl der Achtung bezogen ist und um den Wert der Menschheit sowie des Menschen in der eigenen Person weiß, letztlich also das urteilende und lebenspraktische Pendant zur Achtung

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

darstellt.293 Als ,unrechtmßige‘ Selbstschtzung versagt sie jedoch nicht nur in ihrer Urteilsfhigkeit in bezug auf das moralische Gesetz und den Zweck der Menschheit, sondern steht der Achtung geradezu diametral entgegen. Whrend in den 1770er Jahren die Selbstschtzung entweder als vergleichende Bewertung oder als absolute Bezugnahme auf das moralische Gesetz bestimmt wurde, besteht der wesentliche Unterschied nun in der Frage, ob das moralische Gesetz als Grundlage des eigenen Pflichtverstndnisses geachtet wird oder nicht. Eine mçgliche Einbeziehung der ,bloß‘ relationalen Selbstschtzung als ein bestimmendes Element von Anerkennungs- und Wertschtzungsbeziehungen in einer Gesellschaft scheint damit endgltig ausgeschlossen. 2.2.5 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/94) Etwa zeitgleich mit der Metaphysik der Sitten Vigilantius entsteht auch die Religionsschrift. Kant kann sich hier auf die moraltheoretischen Bestimmungen aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sowie der Kritik der praktischen Vernunft beziehen, um von da aus das Verhltnis von philosophischer Vernunftkritik und christlicher Religion zu bestimmen. Fr unsere Untersuchung ist insbesondere der erste Teil (AA VI 19 – 53) aufschlußreich, da hier das Selbstverhltnis des Menschen noch einmal in einer etwas vernderten Diktion vorgestellt wird und in dieser Form einen der Ausgangspunkte fr die Erçrterung in Kapitel 3 markiert. Angesichts der Frage, ob der Mensch (moralisch) gut oder bçse ist, positioniert sich Kant entschieden als ,Rigorist‘ gegen die Verteidigung „moralische[r] Mitteldinge[,] weil bei einer solchen Doppelsinnigkeit alle Maximen Gefahr laufen, ihre Bestimmtheit und Festigkeit einzubßen“ (AA VI 22). Entscheidend ist fr ihn allein, welche Maxime fr die Bestimmung der Willkr zugrunde gelegt wird, wobei eine Maxime nur entweder gut oder bçse sein kann. Die konkrete Wahl einer guten oder bçsen Maxime lßt sich jedoch selbst nicht begrnden, denn sie erfolgt in einem Akt der Bestimmung von Handlungen aus Freiheit, der als ein solcher nicht zu ,hintergehen‘ ist. Obwohl also der Mensch gemß seines praktischen Vermçgens der Vernunft eine Veranlagung zum Guten in sich 293 Und in dieser Form muß sie wohl auch unter die Liebespflichten gerechnet werden. Damit wre der bergang von der Selbstliebe zu den Liebespflichten jedoch weniger distinkt als von Kant angedeutet.

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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hat, ist damit noch nicht entschieden, daß diese Veranlagung auch entsprechend verwirklicht und umgesetzt wird. An dieser Stelle kommt in Kants Erçrterung nun der „Hang zum Bçsen“ (AA VI 30 u. passim) ins Spiel, der in enger Verbindung zum Prinzip der Selbstliebe steht. Um zu verstehen, wie die Selbstliebe immer auch anfllig fr den Hang zum Bçsen bleibt, ist zunchst die Unterteilung der drei Anlagen in der Bestimmung des Menschen zu beachten: Die physische (,mechanische‘) Selbstliebe bedarf keiner Vernunft und ist als ,animalische‘ Form der Selbstbezogenheit in (a) der Selbsterhaltung, (b) dem Fortpflanzungstrieb sowie der elterlichen Frsorge und (c) im Bedrfnis nach menschlicher Gemeinschaft prsent. Die ebenfalls physische, aber vergleichende Selbstliebe erfordert Vernunft und bezieht sich auf die relationale Bestimmung des eigenen Wertes innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft (Kultur). Hierbei ist zwar der Grundsatz einer allgemeinen Gleichheit maßgeblich, dieser bewahrt jedoch nicht vor den negativen Auswirkungen des Neides, der Eifersucht etc. Diese Form der Selbstliebe trgt deutliche Zge der pragmatischen bzw. komparativen Selbstschtzung in den Vorlesungen der 1770er Jahre. „[D]ie Empfnglichkeit der Achtung fr das moralische Gesetz, als einer fr sich hinreichenden Triebfeder der Willkr“, ist die Veranlagung fr eine Persçnlichkeit. Die Persçnlichkeit selbst konstituiert sich, wie die Ausfhrungen zur Grundlegung und zur Kritik der praktischen Vernunft gezeigt haben, in der Achtung vor dem Gesetz und damit ber die Idee des moralischen Gesetzes. Allerdings ist erst die tatschliche Bercksichtigung dieser (unvermeidlichen) Achtung als Triebfeder der eigenen Handlungen der eigentliche Grund fr die Hervorbringung einer Persçnlichkeit. Insofern sieht Kant in der Fhigkeit, die Achtung nicht nur empfinden, sondern sie auch selbstttig den eigenen Handlungen zugrunde legen zu kçnnen, einen wesentlichen Bestandteil der grundstzlichen Veranlagung des Menschen zum Guten. (Vgl. AA VI 25 ff.) Bemerkenswert ist, daß alle drei Veranlagungen gleichberechtigt zur ursprnglichen Natur des Menschen gerechnet werden und als solche nicht nur gut, sondern auch Anlage zum Guten sind. Obwohl also die physische (1) und die vergleichende (2) Selbstliebe auch zweckwidrig gebraucht werden kçnnen, ist deren Wirksamkeit und Bedeutung fr das menschliche Leben nicht prinzipiell in Frage gestellt. Wichtig ist vor allem mit Blick auf die dritte Veranlagung, nmlich eine (moralische) Persçnlichkeit sein zu kçnnen, welche Maxime der eigenen Willkr tatschlich als oberster Bestimmungsgrund dient. Die Verkehrtheit, und damit eben auch der Hang zum Bçsen, ergibt sich aus der Umkehrung der Verhltnisse in der Un-

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terordnung der Bestimmungsgrnde: Wenn ein Handelnder zwar auch das moralische Gesetz zu bercksichtigen vermag, aber den Ausgangspunkt der Bestimmung seiner Handlung im Prinzip der Selbstliebe sieht, so ist dies verkehrt, weil gemß der kantischen Auffassung das moralische Gesetz die oberste Bedingung fr die Bestimmung der Maxime sein soll und erst in nachgeordneter Bedingtheit die Befriedigung der eigenen Glckseligkeit in den Fokus rcken kann. Die Selbstliebe bzw. das Prinzip derselben begnstigt somit die Wahl der verkehrten, ,bçsen‘ Maxime, indem sie von dem ,eigentlichen‘ Bestimmungsgrund der Willkr ablenkt.294 Dabei ist die ,Boshaftigkeit‘ keineswegs offensichtlich, denn die Handlungen einer Person kçnnen durchaus dem (moralischen) Gesetz gemß und damit legal sein, ohne doch dieses Gesetz selbst zur Grundlage der Handlungsbestimmung zu machen und damit tatschlich moralisch zu sein.295 Ausgehend von dieser Unterscheidung in Legalitt und Moralitt von Handlungen formuliert Kant die Dichotomie in einen virtus phaenomenon und einen virtus noumenon. Whrend bei jenem eine Reform, also eine sukzessive Hinwendung zu sittlich nicht zu beanstandenden Handlungsvollzgen mçglich ist, muß bei diesem notwendig eine Revolution erfolgen, da es mit Blick auf ein moralisches Gesetz keine ,schleichende‘ Entwicklung vom Schlechten zum Guten geben kann. Denn erst durch die radikale Vernderung der Denkungsart ist gewhrleistet, daß eine Person sich in ihren Handlungen tatschlich auf den ,richtigen‘ Bestimmungsgrund beruft, der aus der Achtung vor dem moralischen Gesetz hervorgeht, und

294 Daher auch die Feststellung, der Mensch kçnne „sich nur auf moralische Art selbst lieben“, weshalb die vernnftige bzw. moralische Selbstliebe letztlich als eine „Vernunftliebe seiner selbst“ bezeichnet werden muß (AA VI 44 ff., hier 45 f.). 295 AA VI 30 f.: „Es ist aber zwischen einem Menschen von guten Sitten (bene moratus) und einem sittlich guten Menschen (moraliter bonus), was die bereinstimmung der Handlungen mit dem Gesetz betrifft, kein Unterschied (wenigstens darf keiner sein); nur daß sie bei dem einen eben nicht immer, vielleicht nie, das Gesetz, bei dem andern aber es jederzeit zur alleinigen und obersten Triebfeder haben. Man kann von dem ersteren sagen: er befolge das Gesetz dem Buchstaben nach (d.i. was die Handlung angeht, die das Gesetz gebietet); vom zweiten aber: er beobachte es dem Geiste nach (der Geist des moralischen Gesetzes besteht darin, daß dieses allein zur Triebfeder hinreichend sei. Was nicht aus diesem Glauben geschieht, das ist Snde (der Denkungsart nach). Denn, wenn andre Triebfedern nçtig sind, die Willkr zu gesetzmßigen Handlungen zu bestimmen, als das Gesetz selbst (z. B. Ehrbegierde, Selbstliebe berhaupt. Ja gar gutherziger Instinkt, dergleichen das Mitleiden ist): so ist es bloß zufllig, daß diese mit dem Gesetz bereinstimmen: denn sie kçnnten eben sowohl zur bertretung antreiben.“

2.2 Affirmative Selbstverhltnisse bei Kant

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nicht vorrangig selbstbezogene Interessen verfolgt. (Vgl. AA VI 14 u. 46 ff.) Im Modus des virtus phaenomenon geht es somit um die Funktionalitt von Handlungen, die einen konfliktfreien Zusammenhalt in einer sozialen Gemeinschaft garantieren kçnnen. Der jeweils Handelnde ist sich dabei (noch) nicht bewußt, daß die Beweggrnde seines Handelns auf einer anderen Grundlage basieren mßten, da ihm zunchst der Nachweis ber die Entsprechung seiner Handlungen mit einer gesellschaftlich sanktionierten Struktur von Regeln gengen kann. Erst mit dem virtus noumenon ist das (moralische) Bewußtsein vorhanden, objektive und formale Bestimmungsgrnde auf die eigenen Handlungen zu beziehen, wodurch diese nicht mehr bloß dem moralischen Gesetz und den daraus resultierenden Pflichten gemß sind, sondern unmittelbar aus diesen hervorgehen. Die distinkte Trennung von virtus phaenomenon und virtus noumenon verluft somit zwischen den beiden empirischen Formen der affirmativen Selbstbezogenheit (s. o.), die ihren Ursprung ,in der Zeit‘ haben, und der intelligiblen Selbstbezugnahme einer moralischen Persçnlichkeit, die wesentlich auf der Vernunft beruht.296 Die von Kant vorgenommene Unterscheidung ist bezeichnend und zugleich konsequent: Nur indem materiale (empirische) und formale (intelligible) Bestimmungsgrnde distinkt auseinander gehalten werden, ist die Begrndung einer auf die praktische Vernunft bezogenen Moraltheorie, die jegliche Zuflligkeit und Willkrlichkeit ausschließen kann, berhaupt erst mçglich. Allerdings ist diese systematische Vorgehensweise nicht minder problematisch, denn sie verstrkt offensichtlich einen Hiatus im Verhltnis von Genese und Geltung normativer Ansprche. Whrend sich mit Blick auf die genetischen Voraussetzungen der Handlungen von Personen in einer sozialen Gemeinschaft durchaus die Redeweise von einer sukzessiven Reform rechtfertigen lßt, bleibt hinsichtlich der prononcierten Revolution unklar, wie sich eine solche Umkehrung des personalen Selbstverhltnisses vçllig unabhngig von dem unweigerlich gegebenen Lebenskontext vollziehen soll, den jedes Individuum nun einmal hat. Denn eine Revolution bedarf eines konkreten Anlasses, um berhaupt wirksam werden zu kçnnen, und dieser Anlaß ist meiner Ansicht nach nicht ohne Bercksichtigung der tatschlichen Verhltnisse in einer immer auch kontingenten Welt zu benennen. 296 Siehe zur Unterscheidung von Vernunftursprung und Zeitursprung ausfhrlich AA VI 39 ff.

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2. Selbstachtung und Selbstschtzung

Es soll dabei unbestritten bleiben, daß Kants Argumentation sich auf die Bestimmungsgrnde richtet, und in diesem Zusammenhang das Materiale vom Formalen zu trennen hat. Gleichwohl markiert gerade der Vernunftursprung eine Verbindung zwischen diesen Bereichen, die auf eine Entwicklung hin angelegt sein muß: Um zu der Einsicht zu gelangen, daß es angesichts des praktischen Vermçgens der Vernunft nicht die zuflligen materialen, sondern die allgemeingltigen formalen Bestimmungsgrnde ausgehend vom moralischen Gesetz sind, die das eigene Handeln bestimmen sollen, ist eine ,berleitung‘ bzw. Anregung zu einer ,neuartigen Perspektivierung‘ nçtig. Denn wie bereits in den Abschnitten 1.2.3 und 2.2.3 ersichtlich geworden ist, erschließt sich nicht ohne weiteres, wie die von Kant zur apriorischen Grundlage seiner Erçrterung gemachte Achtung fr das Gesetz ausgelçst werden kann. In diesem Zusammenhang wird nmlich eine semantische Komponente von Achtung bedeutsam, die sich auf die Achtsamkeit (im Sinne von „seine Aufmerksamkeit auf etwas richten“297) bezieht: Das Achten des Gesetzes und damit seiner selbst ist eine Ttigkeit bzw. eine zur Haltung gewordene Ttigkeit, die eine intendierte (intelligible) Ausrichtung auf das Geachtete und damit eine Hinwendung impliziert. Indem Kant die Achtung zum Ausgangspunkt seiner in weiten Teilen schlssigen Moralphilosophie macht, dabei aber deren immanent genetischen Aspekt unterschlgt, droht der gesamte begrndungstheoretische berbau fragwrdig zu werden, sobald die Evokation der Achtungsbeziehung nicht berzeugend gesichert ist. Die subjektiven Vorbedingungen, zu denen die Achtung ja gehçrt, sind als solche nicht ber ein Verpflichtungsverhltnis zu erzwingen oder einzufordern. Aber zugleich muß der Anspruch einer normativen Begrndungsleistung erfllt sein, womit sich die drngende Frage stellt, was die nçtigen Voraussetzungen dafr sind, daß bei einer Person die reflektierte Einsicht in das praktische Vermçgen der Vernunft entsteht. Das Gefhl der Achtung kommt in der kantischen Bestimmung nicht ohne den immanenten Bezug auf einen bereits eingenommenen moralischen Standpunkt aus. Die Frage ist jedoch: Wie gelangt eine Person auf diesen Standpunkt? An diesem Punkt setzen die folgenden berlegungen an, in denen der Versuch unternommen werden soll, eine Form der Beschreibung zu konturieren, mit der sich die Bedingungen und Mçglichkeiten zur Hervorbringung gehaltvoller Selbstachtungsbeziehungen erlutern lassen, ohne die eine Verteidigung des kantischen Bestimmung m. E. nicht auskommt. 297 Vgl. Fn 77.

3. Performative Selbstverhltnisse Inhalt und Ziel des vorhergehenden Kapitels war es, von einer begriffsgeschichtlichen Einfhrung ausgehend, die Bedeutung und den Status affirmativer Selbstverhltnisse in der Moralphilosophie Kants ber eine systematische Rekonstruktion zu bestimmen. Von dieser Grundlage aus ist nun zu der einleitenden Kritik an der Begrndung von Selbstachtung zurckzukommen. Im ersten Kapitel (Abschnitt 1.2.3) war in der Charakterisierung von Selbstschtzung und Selbstachtung als „sthetische Vorbegriffe“ deren eigentmlicher Status deutlich geworden: Man kann laut Kant zwar nicht verpflichtet sein, diese Dispositionen zu haben, jedoch sollen sie zugleich der Ausgangspunkt jeglicher Verbindlichkeit fr Pflichten sein. Weil Selbstschtzung und Selbstachtung jedem Menschen zukommen, so die zentrale These Kants, kann man zwar nicht zu diesen natrlichen Gemtsanlagen verpflichtet werden, aber man kann auf sie hin verpflichtet werden. Eine subjektive Disposition kann also nicht geboten sein oder normativ eingefordert werden, jedoch ist sie unabdingbar, damit man Pflichten berhaupt als solche verstehen und auf sich selbst beziehen kann. Diese These sttzt sich auf die wichtige Prmisse, wonach Selbstschtzung und Selbstachtung nicht nur natrliche Dispositionen, sondern zudem notwendig sind. An diesem markanten Punkt der Argumentation zeigt sich, wieviel von der Akzeptanz dieser Prmisse abhngt. Denn diese ist das entscheidende Scharnier im bergang von einer Nicht-Verbindlichkeit zu einer Verbindlichkeit von Pflichten gegen sich selbst und andere. Im Abschnitt 1.2.3 habe ich bereits in Anstzen die Plausibilitt einer derart voraussetzungsreichen Prmisse in Zweifel gezogen und werde im folgenden auf Grundlage der exegetischen Rekonstruktion in den Kapiteln 1 und 2 mit einer differenzierteren Erçrterung fortfahren. Dazu ist es zunchst (3.1) notwendig, sich noch einmal das grundlegende Problem in der Auseinandersetzung mit Kant zu vergegenwrtigen und Fragen zu formulieren, die eine mçgliche Lçsung in den Blick nehmen. In einem zweiten Schritt (3.2) wird es darum gehen, die Struktur von Achtungsverhltnissen zu analysieren und eine hilfreiche systematische Unterscheidung von (Selbst-)Achtung und (Selbst-)Wertschtzung vorzunehmen. Da eine solche Unterscheidung allein noch nicht ausreichend ist, gilt es im darauf folgenden Abschnitt (3.3), das Verhltnis von

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3. Performative Selbstverhltnisse

Selbstachtung und Selbstschtzung nher zu bestimmen und als einen wechselseitigen Verweisungszusammenhang auszuweisen. Um die Komplexitt dieses Verweisungszusammenhangs zwischen Achtung, Wertschtzung, Selbstachtung und Selbstschtzung erçrtern zu kçnnen, wird die Formel vom „Umgang mit anderen als Umgang mit sich selbst“ eingefhrt und erlutert (3.4), bevor diese schließlich anhand des exemplarischen Falls von wechselseitigen Verweisungszusammenhngen im Kontext des Spiels darzustellen ist (3.5).

3.1 Die Ausgangslage Die kommentierende Analyse der Struktur affirmativer Selbstverhltnisse im zweiten Kapitel hat gezeigt, wie vielfltig diese Form der Selbstbezugnahme tatschlich ist. Das Spektrum reicht dabei von einem basalen psycho-physischen Selbstgefhl (Selbsterhaltung) ber die evaluative Bewertung des eigenen Selbst innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes (Selbstschtzung) bis hin zu einer Wertschtzung seiner selbst als rational begrndete Achtung fr das eigene moralische Vermçgen (Selbstachtung). Eine grundstzliche Mçglichkeit, Abgrenzungen innerhalb dieses Spektrums vorzunehmen, besteht in der Orientierung an den ußersten Grenzbestimmungen, also einerseits einer psycho-physischen Empfindung der Selbstwahrnehmung und andererseits einer rational reflektierten Gewißheit seiner selbst als moralische Persçnlichkeit. Diesen Grenzbestimmungen entspricht offensichtlich ein weitgehend psychologisches bzw. ein weitgehend rationales Konzept. Allerdings scheint dieses Unterscheidungskriterium nicht durchgngig zuverlssig hinsichtlich einer Binnenabgrenzung von Selbsterhaltung298, Selbstschtzung und Selbstachtung zu sein: Denn zumindest die affirmativen Selbstverhltnisse im engeren Sinn (Selbstschtzung und Selbstachtung) lassen sich nicht getrennt voneinander bestimmen, da hier der bergang von ,eher psychologischen‘ zu ,eher rationalen‘ Bestimmungsmomenten komplex ist und einige funktionale

298 Ein solches grundlegendes Interesse an der Erhaltung seiner selbst findet einen bestimmenden Ausdruck in der Oikeiosis-Lehre, gemß der die instinktive Vertrautheit mit sich selbst und damit das Sich-sorgen um etwas, das einen selbst betrifft, als eine natrliche Basis fr das Verstndnis des Menschen als eines moralisch agierenden Wesens angenommen wird (vgl. Fn 159 f.).

3.1 Die Ausgangslage

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bereinstimmungen zudem einen immanenten Vergleich erforderlich machen.299 Um die Selbstachtung distinkt von anderen affirmativen Selbstverhltnissen wie der Selbstschtzung abgrenzen zu kçnnen, muß Kant die Selbstachtung als Achtung fr das Gesetz bestimmen und damit vom ußersten Bezugspunkt des genannten Spektrums, dem praktischen Vermçgen der Vernunft ausgehen. Im Gegensatz zu seinen frhen moralphilosophischen Schriften, die noch die Verhltnismßigkeit zwischen Selbstschtzung und Selbstachtung hervorgehoben hatten, wird sptestens mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine Unterscheidung manifest, die nicht mehr graduell ist, sondern die kategoriale Verschiedenheit der Selbstachtung hervorhebt. Obwohl diese dichotomische Opposition von selbstbezglichen Wertschtzungsverhltnissen ein notwendiges Element fr die Begrndung der kritischen Moralphilosophie ist, findet sie in der gegenwrtigen Beschftigung mit affirmativen Selbstverhltnissen kaum Bercksichtigung, da vorrangig die Selbstachtung, nicht aber die Selbstschtzung in den Fokus gerckt wird. Selbstachtung, verstanden im kantischen Sinne, kann entweder (sehr stark) als identisch mit der Achtung fr das moralische Gesetz oder (etwas weniger stark) als Kombination von dieser Achtung und der Erfahrung selbstbestimmten Handelns aus Freiheit aufgefaßt werden. Dabei bleiben aber zumindest zwei wesentliche Fragen verdeckt: (a) Wie entsteht Selbstachtung? Das heißt, welche Voraussetzungen mssen erfllt sein, damit eine Person sich selbst ,aus freien Stcken‘ und gemß einer formalen Verbindlichkeit in ihren Handlungen als moralische Persçnlichkeit bestimmt? (b) In welchem Verhltnis stehen Selbstschtzung und Selbstachtung zueinander? Ist Selbstschtzung eine (begriffliche oder 299 Dillon (1997) verweist auf die differenzierte Binnenstruktur von Selbstachtung, die u. a. eine starke emotionale Konnotation enthlt. Zwischen einem intellectual und einem experiential understanding in der individuellen Selbstwahrnehmung unterscheidend (239 f.), entwirft sie das Konzept eines basal self-respect (eine Art grundstzliches Selbstvertrauen), welches als nicht-konditionierte Zuneigung die Voraussetzung fr rationale Selbstbezugnahmen ist und von den historischen und soziopolitischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft abhngt (241 ff.). Damit wird das Konzept der Selbstachtung nicht nur erheblich przisiert, sondern zudem aus einer rein selbstbezglichen Verknpfung gelçst und im Kontext seiner Verwirklichung situiert. Siehe zudem Chazan (1998), die den immanenten Zusammenhang von Selbstliebe, Selbstschtzung und Selbstachtung betont. Ausgehend von Kants Achtungsbegriff hat Hudson (1980) eine Differenzierung in vier Typen von Achtung (evaluative/directive/institutional/obstacle respect) vorgeschlagen, allerdings ohne direkten Bezug auf self-respect.

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3. Performative Selbstverhltnisse

kausale) Voraussetzung fr Selbstachtung oder steht das eine Verhltnis zu sich selbst vçllig unvermittelt neben dem anderen? Obwohl Kant einige wenige Andeutungen macht, daß das Einnehmen einer Haltung, die sich als Achtung fr die eigene moralische Persçnlichkeit ausdrckt, auf einer Entwicklung beruht und sogar so etwas wie „bung“ (AA VI 397) erfordert, bleibt unklar, unter welchen Bedingungen die in der Religionsschrift benannte ,Revolution‘ in der Denkungsart vollzogen werden kann. Auffllig ist indes, daß Selbstschtzung als unverzichtbarer kontrastiver Hintergrund positioniert wird, um Selbstachtung zu begrnden: Insbesondere in der Kritik der praktischen Vernunft verweist Kant auf die umfassende Wirkung der Achtung fr das Gesetz, die allerdings erst aus der zuvor erfolgten Annullierung der Ansprche aller nicht-moralischen affirmativen Selbstverhltnisse (vgl. AA V 71 ff.) hervorgehen kann. Damit wird offensichtlich eine zeitliche Reihenfolge vorausgesetzt, in der eine individuelle Selbstbezugnahme bereits bestehen und ausgebildet sein muß, um eine Konversion angesichts des moralischen Gesetzes erfahren zu kçnnen. Ob zudem ein kausaler Zusammenhang besteht, in welchem die gelingende Selbstachtung unmittelbar von einer auf gesellschaftlicher Anerkennung beruhenden Haltung der Selbstschtzung abhngig ist, muß zunchst offen bleiben. Das Konzept der moralischen Selbstachtung, wie es Kant entwirft, bençtigt jedenfalls die kontrastive Positionierung der brigen affirmativen Selbstverhltnisse (wie etwa Selbstliebe), um aufzeigen zu kçnnen, was moralische Selbstachtung gerade nicht ist. Somit sind die Bemerkungen im Abschnitt ber die sthetischen Vorbegriffe in der Metaphysik der Sitten (vgl. AA VI 399) nicht so zu verstehen, daß mit „Selbstschtzung“ die „pragmatische“ bzw. „komparative Selbstschtzung“ gemeint sein kann, denn diese setzt einen erfahrungsabhngigen Bezug zu einer Gesellschaft voraus und lßt sich daher nicht als apriorische, sthetisch-moralische Veranlagung begreifen.300 Ein anderer Kandidat kçnnte das psycho-physische Selbstgefhl sein, welches auf die Erhaltung seiner selbst gerichtet ist und insofern Bezge zur stoischen Vorstellung einer instinktiven Selbstaffirmation aufwiese.301 Problematisch ist dabei jedoch die Klammerstellung von „Selbstschtzung“, die eine synonyme Bedeutung mit „Achtung fr sich selbst“ nahelegt. Damit wrde die „Achtung fr sich selbst“ reduziert auf eine semantische Komponente des Achtungsbegriffs, die bloß auf die Aufmerksamkeit und 300 Siehe dazu die Erçrterung in Abschnitt 1.2.3. 301 Siehe Fn 159 f.

3.1 Die Ausgangslage

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Beachtung seiner selbst bezogen ist,302 was allerdings der gehaltvollen Bestimmung in einem spteren Abschnitt („Von der Achtung“, AA VI 402 f.) widerspricht. Es ist daher berzeugender, an dieser Stelle bei Kant „Selbstschtzung“ mit der moralischen Selbstschtzung zu identifizieren und der „Achtung fr sich selbst“ die starke Bestimmung zu unterlegen, die als Achtung fr das Gesetz und damit fr die eigene moralische Persçnlichkeit in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft entfaltet worden ist. Aber selbst mit dieser Interpretation ist nicht abschließend zu klren, inwiefern in diesen Achtungsbegriff gleich mehrere Aspekte eingehen: Einerseits vertritt Kant das Konzept einer nicht graduierbaren Achtung fr sich selbst, die den Eigenwert einer Person betont, andererseits scheint er den Achtungsbegriff zumindest auch so zu verstehen, daß er sich außerdem noch auf persçnliche moralische Verdienste beziehen kann.303 Wenn wir uns zunchst auf den starken Anspruch von Achtung konzentrieren, der bei Kant den nicht-graduierbaren Eigenwert einer Person mit der Achtung fr das moralische Gesetz und das selbstbestimmte Handeln aus Freiheit in Verbindung bringt, stehen zwei Fragen im Mittelpunkt: 1) Wie ernst ist der kantische Achtungsanspruch eigentlich zu nehmen und lßt er gegebenenfalls Modifikationen zu? 2) Gengt der bloße Verweis auf die Natrlichkeit bzw. ,Naturnotwendigkeit‘ der „Gemtsanlagen“, zu denen die Selbstachtung gehçrt, um diese Prmisse hinreichend plausibel zu machen? Beide Fragen sind miteinander verknpft und treten vor allem dann deutlich hervor, wenn die Position Kants in einer eher konservativen Lesart vorgetragen wird, die ich im folgenden noch einmal bewußt zuspitze: Kant bestimmt Selbstachtung als eine sthetisch-moralische ,Vorbedingung‘ fr die Ttigkeit der praktischen Vernunft. Diese Bedingung muß also notwendigerweise erfllt sein, damit die praktische Rationalitt eines vernnftigen Individuums gewhrleistet ist. Erfllt ist diese Bedingung deshalb, weil jeder Mensch bereits Selbstachtung in dem Sinne ,hat‘, daß sie ihm als natrliche Wesensanlage zukommt. Das Gefhl der Achtung fr das praktische Gesetz, welches dann auch die ,eigentliche‘ bzw. ,richtige‘ Selbstachtung ist, wird dabei derart auf die praktische Rationalitt bezogen, daß es nicht mehr als ein ,intellektuell gewirktes Gefhl‘ (wie noch in der 302 Siehe Fn 77. 303 Siehe zu der Nicht-Graduierbarkeit von Selbstachtung (als Achtung vor dem Eigenwert mit egalisierender Funktion) und den weiteren Achtungsarten hinsichtlich Verdienst und Status Wolf (1997), 369 f.

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3. Performative Selbstverhltnisse

Kritik der praktischen Vernunft), sondern als eine Art ,praktisch-rationale Einstellung‘ wirksam wird. Mit dieser Bestimmung versucht Kant einerseits, die Bedingungen fr das ,Haben‘ von Selbstachtung an eine natrliche subjektive Disposition zu binden, um andererseits diese Disposition konsequent zu ,objektivieren‘ und von der subjektiven Erlebnisqualitt abzulçsen. Damit nimmt er aber der Achtung einen der interessantesten und wesentlichsten Aspekte. Denn die eigentliche reflexive Bezugnahme auf das eigene Selbst erfolgt im Gefhl der Achtung fr das moralische Gesetz, und dieses Gefhl ist bei Kant bereits mit der Spontaneitt der praktischen Rationalitt verwirklicht. Der Selbstachtungsbezug wird also direkt mit dieser Spontaneitt begrndet: Weil die praktische Rationalitt notwendigerweise und unmittelbar das Gefhl der Achtung fr das moralische Gesetz in uns hervorbringt, deshalb haben wir darin eine Achtung fr uns selbst. Kant verschrnkt somit die immer schon als ,faktisch vorhanden‘ aufgefaßte praktische Rationalitt mit dem reflexiven Selbstbezug, der ebenfalls als immer schon verwirklicht begriffen wird. Es ist dabei unerheblich, wie dieser reflexive Selbstbezug konkret hervorgebracht wurde, denn die Begrndung beruht bei Kant auf einem transzendentalen Argument: Um sich als ein praktisch-rational handelndes Wesen verstehen zu kçnnen, muß implizit vorausgesetzt werden, daß damit zugleich ein vernnftiger Selbstbezug gegeben ist. Zwar lßt sich daraus keine ontologische Aussage gewinnen, wonach aus der Spontaneitt praktischer Vernunft auf das ,tatschliche‘ Vorhandensein von Selbstachtung bzw. des Gefhls der Achtung geschlossen werden kann. Aber es gehçrt eben zum Begriff der praktischen Rationalitt, daß er nicht ohne einen solchen Selbstbezug zu verstehen ist, weshalb dieser begrndungslogischen Verschrnkung vor allem eine moralepistemische Funktion zum Verstndnis praktischer Rationalitt zukommt. Entsprechend dieser Interpretation sind nun die Mçglichkeiten und Grenzen einer solchen Achtungskonzeption besser zu sehen: Da Kant die Selbstachtung auf die Achtung fr das praktische Gesetz verengt, fhrt er ein starkes Begrndungsverhltnis fr Achtung ein, wonach das zu Achtende – nmlich der Eigenwert der Person – notwendige und hinreichende Bedingung fr die Achtung ist. Diese wichtige Implikation sichert das in einer transzendentalen Argumentation nicht zu hintergehende praktischrationale Selbstverstndnis, welches damit zwingend notwendig mit der Achtung fr sich selbst verknpft ist. Daraus resultiert auch die argumentative Strke dieser Position: Denn selbst gegen den Verweis auf empirische Flle, in denen sich Personen offenkundig so verhalten, daß man ihnen schwerlich ein ausgeprgtes moralisches Selbstverstndnis un-

3.1 Die Ausgangslage

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terstellen mçchte, kann mit einiger Plausibilitt der Einwand geltend gemacht werden, daß eine solche Achtung fr sich selbst immer schon vorauszusetzen ist, sofern man prinzipiell von einer transzendentalphilosophisch begrndeten praktischen Rationalitt ausgeht. Hier zeigt sich dann allerdings die strikte Distinktion des ,Habens‘ und ,Nicht-Habens‘: Entweder versteht sich ein aus Freiheit handelndes Subjekt in seiner praktischen Rationalitt und ,hat‘ darin zugleich seine Selbstachtung, oder die Einsicht in die eigene praktisch-rationale Verfaßtheit fehlt, wodurch auch jeglichem vernnftigen Selbstbezug der Boden fr eine Begrndung entzogen ist. Das aus dem starken Achtungsverhltnis hervorgehende transzendentale Begrndungsmoment dreht sich somit bestndig um den wechselseitigen Verweis der praktischen Rationalitt auf Selbstachtung und vice versa. Was leistet diese Begrndung? Ein wesentlicher Vorteil ist, daß eine kantische Theorie moralischer Subjektivitt auf die Frage nach dem normativen Gehalt von Selbstachtung einerseits eine sehr berzeugende Antwort geben kann: Der Eigenwert einer Person wird normativ ber das praktisch-rationale Selbstverstndnis bestimmt. Andererseits ist die Geltung dieses starken Begrndungsanspruchs unmittelbar von der zugrundeliegenden Prmisse abhngig: Die normative Kraft des Eigenwerts einer Person steht und fllt mit der Akzeptanz des transzendentalen Arguments. Da dieses Argument an die subjektivittstheoretische Konzeption gebunden und damit ,unhintergehbar‘ ist, lßt sich die Achtung fr sich selbst und andere auch nur im Rahmen dieser argumentativen Voraussetzung begrnden. Man kann dieser Beschrnkung, im konsequenten Rckgriff auf Kant, damit begegnen, daß man das praktisch-rationale Selbstverstndnis zu einer Selbstverstndlichkeit erklrt. Aber fr wie selbstverstndlich und in sich selbst begrndet kçnnen wir unser praktisch-rationales Selbstverstndnis eigentlich halten? Denn auch eine kantische Subjektivittstheorie der Moralitt kommt letztlich nicht ohne den Bezug auf soziale Praktiken aus, in denen sie sich verwirklichen und bewhren muß – selbst wenn eine solche moralische Theorie nicht aus diesen Praktiken heraus begrndet werden soll. Zu einer sozialen Praxis ist auch die Entwicklung und Ausprgung eines praktisch-rationalen Selbstverstndnisses zu rechnen, weshalb ich bereits in Abschnitt 1.2.3 in ersten Anstzen dafr argumentiert habe, den je individuellen Selbstbezug als eine performative Notwendigkeit und damit als einen besonderen Vollzug zu verstehen: Dieser reflexive Selbstbezug stellt zwar eine allgemeine Befhigung vernnftiger Lebewesen dar, aber er muß eben auch von jedem einzelnen dieser Lebewesen

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3. Performative Selbstverhltnisse

tatschlich realisiert werden. Und weil man aus alltglicher Erfahrung weiß, wie schwierig es mitunter sein kann, unter allen Lebensumstnden zu einer moralisch integren Haltung sich selbst und anderen gegenber zu gelangen und diese auch zu bewahren, halte ich gerade diese Selbstbezugnahme fr keineswegs ,selbstverstndlich‘ oder gar fr „ein eher triviales Vermçgen“.304 Es ist deutlich geworden, daß im Rahmen einer an Kant orientierten Begrndung die wichtige Frage unbeantwortet bleiben muß, wie und unter welchen Bedingungen ein Mensch in ein bestimmtes Verhltnis zu sich selbst gelangt, d. h. wie die entwicklungslogische Einsicht in die eigene praktisch-rationale Verfaßtheit beschaffen ist und was in einer moralischen Selbsterkenntnis die Anerkennung der Verbindlichkeit von Pflichten gegen sich selbst verbrgt. Der eigentlich erklrungsbedrftige bergang vom ,Nicht-Haben‘ zum ,Haben‘ der Selbstachtung ist somit ein blinder Fleck dieses Konzepts, da der Vorgang der Entstehung von Achtung in eine zeitlose Schnittstelle des Vorher-Nachher verlegt wird. Innerhalb der kantischen Argumentation ist dies unproblematisch, weil hier widerspruchsfrei die Achtung fr sich selbst und andere begrndet werden kann. Ein Problem entsteht jedoch, wenn man nicht mehr bereit ist, die aprio304 Hahn (2008), 55, macht diese Auffassung geltend und verweist dabei auf Gerhardt (1999), 102. Dort heißt es: „Ich fhle mich als ganze Person gefordert und muß infolgedessen aus Selbstachtung etwas tun. Die Lçsung eines moralischen Problems ist nur durch eine eigene Initiative, nur durch einen Akt, der von mir selbst ausgeht, zu lçsen – es sei denn, die Herausforderung entfllt.“ (Hervorh. im Original) Aber dieses Gefordert-sein „als ganze Person“ setzt bereits die Selbstkonstitution einer Persçnlichkeit voraus, die sich dann im Bewußtsein ihrer Selbstachtung und angesichts von Herausforderungen tatschlich gefordert fhlen muß. Ebenso verhlt es sich, wenn Selbstachtung an die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs gebunden ist: Die allen vernnftigen Lebewesen zukommende Fhigkeit, sich Zwecke setzen zu kçnnen, mag in gewisser Hinsicht selbstverstndlich und vielleicht sogar trivial sein; sich selbst hingegen sowohl als ein individuelles als auch (allgemein-)vernnftiges Wesen zu verstehen und sich von dieser Erkenntnis ausgehend als einen Zweck an sich, mithin als einen absoluten und unvergleichbaren Wert (Wrde) zu begreifen, ist demgegenber jedoch nur insofern selbstverstndlich, als hier ein Individuum gerade eine aus sich selbst hervorgehende Verstndnisleistung zu erbringen hat. Diese Auffassung geht von einem starken Subjektbegriff aus, der als ethische Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen, wie sie etwa Kant entwickelt hat, ein basaler Aspekt des ,westlichen Denkens‘ ist. In anderen, kollektivistischen Kulturen, z. B. in asiatischen Gesellschaften, steht hingegen vielmehr die Achtung dem anderen gegenber im Vordergrund, wobei die individuelle Selbstbezugnahme etwa ber Kategorien von Scham und der Achtsamkeit vermittelt ist.

3.1 Die Ausgangslage

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rische Prmisse des transzendentalen Arguments zu akzeptieren: Und weil gerade von dieser Prmisse so viel abhngt, ist es mçglich, deshalb gleich das gesamte Projekt einer kantischen Moralphilosophie in Zweifel zu ziehen. Denn was spricht fr die Plausibilitt der Voraussetzungen des Arguments? Ob ein praktisch-rationales Selbstverstndnis – wie von Kant angenommen – gewissermaßen zu unserer anthropologischen Grundausstattung gehçrt, kann zumindest fragwrdig sein: Es besteht nmlich zumindest prima facie nicht unbedingt ein zwingender Grund, um von einem Handelnden ber die bloß zweckrationalen Motive fr eine Handlung hinaus noch weitere, und zwar moralische Rechtfertigungen zu verlangen. In einer solchen Begrndung kçnnte man schließlich nur beim moralischen Selbstverstndnis des Handelnden ansetzen und zu ihm sagen: Weil du jemand bist, der sich auf eine bestimmte, normativ verbindliche Art und Weise versteht, solltest du dein Handeln um deiner selbst willen nach moralischen Gesichtspunkten ausrichten. In diesem Gestus des Einforderns ist das „du“ kein Zufall, denn wir fordern ein solches Selbstverstndnis von anderen, weshalb aus dem Ich das Moralische folgt. Diese Aufforderung liefe jedoch dann ins Leere, wenn der Betreffende es ablehnt, sich prinzipiell auf ein bereits normativ bestimmtes Selbstverstndnis und damit auf einen moralischen Standpunkt festlegen zu lassen; das heißt, er kann zwar schwerlich behaupten, sich nicht wenigstens in irgendeiner Weise selbst zu verstehen, allerdings muß es eben nicht notwendigerweise ein moralisches Selbstverstndnis sein, von dem aber auch die kantische Ethik ausgehen muß. Die transzendentale Argumentation wrde gemß dieser Sichtweise einem ,freischwebenden Plateau‘ gleichen, von dem aus lediglich versucht werden kann, die Zweifler, die Zçgernden und nach weiteren Grnden Fragenden zu einem mutigen Sprung auf dieses Plateau zu berreden. Allerdings kann es sich vom Standpunkt der transzendentalen Argumentation aus betrachtet gar nicht um ein solches Plateau handeln, denn Kant versucht ja gerade, dieses Verhltnis der Differenz zwischen einem moralischen und einem nicht-moralischen Selbstverstndnis als ein Scheinverhltnis auszuweisen: Indem man sich als praktisch rational versteht, so das Argument, kann man nicht umhin, sich zugleich als moralisch zu verstehen. Obwohl sich also fr Kant dieses Problem aufgrund der transzendentalen Voraussetzungen nicht stellt, bleibt es als Problem hinsichtlich dieser Voraussetzungen dennoch bestehen. Allerdings hat es die kantische Ethik wahrlich nicht verdient, mit einem schlichten Verweis auf die mçgliche Nicht-Plausibilitt des transzendentalen Arguments in Gnze

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3. Performative Selbstverhltnisse

verabschiedet zu werden. Vielmehr ist zu fragen, ob es nicht Wege gibt, diese anspruchsvollen Voraussetzungen so zu modifizieren, daß diese Ethik auch mit den konkreten Handlungsvollzgen in sozialen Praktiken vereinbar ist. Welche Problemstellung ist dabei zu bewltigen? Zunchst muß geklrt werden, wie die im bisherigen Verlauf dieser Untersuchung vorgestellten affirmativen Selbstverhltnisse in diese Modifikation zu integrieren sind und in welcher Hinsicht sie normativ relevant werden. Diese Frage ist auf mehreren Ebenen zu verorten, nmlich der funktionalen, der kategorialen und der analytischen Ebene, die jedoch implizit zusammengehçren und aufeinander verweisen: 1) Auf einer kategorialen Ebene ist in der Moralphilosophie Kants ein kognitiver Aspekt hinsichtlich des principium diiudicationis (Prinzip der Beurteilung) von einem emotionalen Aspekt, der fr das principium executionis (Prinzip der Ausfhrung) verantwortlich zeichnet, zu unterscheiden. Somit weist eine Theorie des Gefhls der Achtung dieses als ein moralisches Gefhl aus, welches fr die Handlungsmotivation bzw. als Triebfeder entscheidend ist: Wie bereits in der Betrachtung der Vorlesung zur Moralphilosophie (Abschnitt 1.1) deutlich geworden ist, besteht auch fr Kant eine signifikante ,Lcke‘ zwischen der kognitiven Einsicht, wann ein Urteil moralisch gerechtfertigt ist, und dem daraufhin tatschlich erfolgenden moralischen Handeln. Von „Einsicht“ ist mit Blick auf diese Unterscheidung im Sinne von „moralisches Wissen“ die Rede. Dem moralischen Gefhl bzw. dem Gefhl der Achtung obliegt es demnach, dem moralischen Wissen mit seinen gerechtfertigten Grnden fr eine Handlung die nçtige motivationale Kraft zu verschaffen, um moralisch richtiges Handeln wirksam werden zu lassen.305 Die Frage nach der Selbstachtung bezieht sich also hierbei auf die emotionale Motivation zu Handlungen, die kognitiv als moralisch relevant beurteilt worden sind. 2) Auf einer funktionalen Ebene ist zu fragen, welche verschiedenen Formen affirmativer und moralischer Selbstbezugnahmen es gibt, und wodurch sich deren jeweilige Funktion bestimmt. Grundstzlich ist dabei zu unterscheiden, ob die Achtung sich selbst gegenber den Status (a) einer bloßen Bercksichtigung (,Beachtung‘) der eigenen Belange, (b) der Anerkennung des Eigenwerts als Person, (c) der Wertschtzung eigener (moralischer) Verdienste oder (d) eines moralischen Gefhls erhlt. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung 305 Siehe dazu u. a. Kçhl (1990), 115 – 118.

3.1 Die Ausgangslage

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lßt sich dann klren, welche Merkmale die einzelnen Achtungsformen auszeichnen, auf welche ,Gegenstnde‘ sich diese Selbstverhltnisse jeweils beziehen und wie sie entstehen. 3) Auf einer analytischen Ebene ist schließlich die Entscheidung zu treffen, ob affirmative und moralische Selbstbezugnahmen (und hier wiederum insbesondere die Selbstachtung) rein begriffsanalytisch und hinsichtlich moralischer Begrndungskontexte zu rekonstruieren sind oder zunchst in ihren temporalen bzw. kausalen Vollzgen ausgewiesen werden mssen. In meinen bisherigen Erçrterungen in Kap. 1 und 2 habe ich hauptschlich versucht, den Anforderungen auf der funktionalen Ebene gerecht zu werden, um mit Blick auf die gesamte Moralphilosophie Kants zeigen zu kçnnen, daß sich die Theorie des Gefhls der Achtung (vor dem moralischen Gesetz) nicht umstandslos auf affirmative und moralische Selbstverhltnisse bertragen lßt und eine differenzierte Betrachtung erforderlich macht. Der wichtigen Frage auf der kategorialen Ebene, ob und inwieweit das Gefhl der Achtung auch als Achtung fr sich selbst einen motivationalen Charakter fr die Herbeifhrung moralisch gerechtfertigter Handlungen aufweisen kann, bin ich insofern ausgewichen, als hier zunchst die bereits genannte Voraussetzung zu beachten ist: Wenn das Gefhl der Achtung vor dem moralischen Gesetz gemß den Ausfhrungen in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft mit der Selbstachtung zu identifizieren ist, dann setzt die motivationale Kraft dieses moralischen Gefhls ein bereits bestehendes moralisches Selbstverstndnis voraus. Auf der analytischen Ebene lßt sich berzeugend darlegen, daß fr Kant jedes genuin moralische Achtungsverhltnis von der Wirkung des moralischen Gesetzes abhngig sein muß, da das Gefhl der Achtung durch dieses Gesetz bedingt ist. Weil es dabei um die Frage der Rechtfertigung einer moralischen Beurteilung geht, wird den Gefhlen, selbst wenn es moralische sind, die Funktion abgesprochen, daß sie vor aller vernnftigen Einsicht eine moralisch relevante Entscheidung treffen kçnnen. In analytischer Hinsicht muß sich die kantische Begrndung also nicht auf temporale oder empirisch-kausale Bedingungen einlassen, da sie rein begrifflich argumentiert. Der neuralgische Punkt bleibt damit das vorauszusetzende moralische Selbstverstndnis (aus der Vernunftanlage bzw. die Spontaneitt der Vernunft): Denn dieses wird nicht nur begrifflich im Rahmen der transzendentalen Argumentation vorausgesetzt, sondern muß – sofern eine Moraltheorie nicht zur analytischen Spiegelfechterei verkommen soll – auch in

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3. Performative Selbstverhltnisse

seiner praktischen Wirksamkeit auszuweisen sein.306 Wenn bezweifelt werden kann, daß ein moralisches Selbstverstndnis zu unserer anthropologischen Grundausstattung gehçrt, und wenn das Einnehmen des moralischen Standpunktes nicht selbstverstndlich ist, sondern ,auf welche Weise auch immer‘307 zu erfolgen hat, und zudem fr die moralische Selbstbezugnahme (als Selbstachtung) unverzichtbar ist, so scheint mir, nach allen bisher vorgetragenen Ergebnissen, dieses Problem das zentrale zu sein: Wie gelangt man zu seinem eigenen moralischen Selbstverstndnis und damit zu der Einsicht, daß man selbst es ist, der sich in einer existentiellen und moralisch relevanten Weise bedeutsam werden kann? Denn wenn es unstrittig ist, daß wir uns als Wesen, die immer schon in soziale Praktiken eingebunden sind, vorfinden und darin ein grundlegendes Selbstverstndnis als individuelle Subjekte in menschlichen Gemeinschaften haben, dann ist zu klren, welchen Status dieses Selbstverstndnis eigentlich hat: Beziehen wir uns in diesem Selbstverstndnis auf mehr oder weniger kontingente Quellen und bleiben somit ,bloß‘ affirmativ, oder werden zudem bestimmte Kriterien wirksam, die eine dezidiert moralische Selbstbezugnahme kennzeichnen? Es ist in diesem Zusammenhang auch verschiedentlich die Frage gestellt worden: Warum berhaupt moralisch sein? Die Antwort beruft sich dabei meist auf ein intersubjektiv vermitteltes Begrndungsverfahren, welches unter der Voraussetzung der prinzipiellen Bereitschaft zur Anerkennung rational berzeugender Grnde von einem bereits bestehenden vernnftigen Interesse des Einzelnen ausgeht.308 Unsere Frage setzt dagegen 306 Insofern bleibt der konzise berblick von Niehues-Prçbsting (2001) ambivalent: Zwar haben wir nach Kant deshalb Achtung, weil wir Moral haben und nicht umgekehrt (8), und zudem ist – zumindest gemß der kritischen Moralphilosophie – jede wirkliche Achtung zugleich Selbstachtung (9). Aber wenn es heißt: „Wer nicht zur Selbstachtung findet, gelangt nicht zur Moralitt; und wer jene verliert, verliert auch diese.“ (10), dann wird gerade die Unterscheidung von Moral und Moralitt bedeutsam: Wenn wir Kant ernst nehmen, dann ,haben‘ wir immer schon Moral (den moralischen Standpunkt), der uns unmittelbar Achtung fr das Gesetz und fr uns selbst abnçtigt. Hinsichtlich der Moralitt als der durch Freiheit verbrgten Verwirklichung der Moral kçnnen wir uns dann nur ber uns selbst, d. h. ber unseren bestehenden moralischen Status tuschen, denn fr Kant ist nicht das ,Finden‘ der Selbstachtung relevant, sondern – vom moralischen Standpunkt aus – die Einsicht in die begrndete Rechtfertigung von Handlungen. 307 Kçhl (1990) formuliert zwar so das Problem des moralischen Selbstverstndnisses bei Kant (150 ff.), geht jedoch auf die eigentliche Frage nach dessen Entstehung nicht weiter ein. 308 Vgl. dazu exemplarisch Bayertz (2006) und P. Singer (1994), 397 – 423.

3.2 Eine ,Logik der Selbstachtung‘

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bereits auf der Ebene an, auf der ein Individuum berhaupt dazu kommt, ein bewußtes Interesse an sich selbst und damit an einem bestimmten Dasein innerhalb einer Gesellschaft zu nehmen. Wie ist einer Klrung dieser Frage nher zu kommen? Eine Mçglichkeit besteht darin, sich die sozialen Praktiken genauer anzuschauen, in denen affirmative (Selbst-)Verhltnisse in einer fr uns selbstverstndlichen Weise bestehen und auch als solche verstanden werden. Da es gerade diese Praktiken sind, derentwegen wir uns verwahren, das transzendentale Argument unvoreingenommen zu akzeptieren, und da sich auch dieses Problem berhaupt erst aus der Perspektive der sozialen Praktiken gestellt hat, stehen die Chancen nicht schlecht, daß sich von dort ausgehend ein Ansatz zur Modifikation des kantischen Arguments beschreiben lßt. Bereits der alltglichen ,Rede‘ von Achten und (Wert-)Schtzen scheint eine Art ,Logik der Selbstachtung‘ zugrunde zu liegen. Sie mag uns einen ersten Hinweis auf eine mçgliche Nhe zwischen sozialer Praxis und philosophischer Bestimmung geben.

3.2 Eine ,Logik der Selbstachtung‘ Im folgenden werden in einer deskriptiven Analyse die Parallelen zwischen der Achtung und Wertschtzung anderer sowie der Achtung und Wertschtzung fr sich selbst aufgezeigt. Denn sobald es um die Beantwortung der Frage geht, was Selbstachtung eigentlich ist, bietet sich ein Rckgriff auf das fr diese Selbstbezugnahme grundlegende Verhltnis der Achtung an. Dessen einfache funktionale Grundstruktur ist: Jemand achtet jemanden fr etwas bzw. hinsichtlich von etwas.309 Der Achtende und der Geachtete stehen dabei blicherweise in einer Relation zueinander und sind ausnahmslos Personen. Weshalb kann sich Achtung nur auf Personen beziehen? Dies wird deutlich, wenn man sich anschaut, fr was jemand geachtet wird: Gemß einer natrlichen Intuition des normalen Sprachgebrauchs setzt die Tatsache, daß jemand fr etwas geachtet wird, zumindest die basale Zuschreibung einer selbstttigen Handlungskompetenz voraus. Jemanden 309 Es gehçrt m. E. nicht nur zur funktionalen, sondern auch zur begrifflichen Bestimmung von Achtung, daß diese immer auf einen Punkt verweist, ber den sie dann als eine bestimmte Achtung fr etwas verstanden wird. Es mag zwar durchaus spontane Achtungsempfindungen geben, fr die sich prima facie kein Verweis auf deren Bezugspunkt angeben lßt. Aber eine Achtung ohne den Verweis, weshalb jemand jemanden achtet, ist unbestimmt und leer, womit diese Variante eines Achtungsverhltnisses fr die weitere Betrachtung entfllt.

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3. Performative Selbstverhltnisse

fr etwas zu achten bedeutet, ihn dafr zu achten, daß er das, wofr man ihn achtet, selbstttig und im Bewußtsein seines eigenen Handlungsvollzugs verursacht hat bzw. dafr verantwortlich ist.310 Deshalb ist es nicht sinnvoll, etwa ber Tiere aussagen zu wollen, man achte sie fr eine bestimmte Eigenschaft oder Fhigkeit: Die tatschliche Verwendung solcher sprachlichen Bekundungen ist damit zwar nicht ausgeschlossen, aber gerade in diesem Gebrauch scheint ein zentrales Moment in der Bedeutung von Achtung verloren zu gehen. Denn jemanden zu achten meint eben auch, den Geachteten als einen prinzipiell ,Gleichen‘ anzuerkennen: Und der Geachtete wird fr etwas geachtet, was der jeweils Achtende in dieser Art und Weise ebenso vollbringen oder in einer bestimmten Haltung verkçrpern kçnnte. Die Achtungsbeziehung steht damit in einer Spannung, denn sie ist zugleich auf zwei sehr unterschiedliche Pole bezogen: Einerseits betont die Achtung gegenber jemand anderem dessen prinzipielle ,Gleichwertigkeit‘ mit dem Achtenden, andererseits gilt sie gerade auch der Individualitt und der genuinen Leistung des Geachteten. Aus diesem Grund kann sich die Achtung anderen gegenber ausschließlich auf Personen beziehen, weil nur Personen in der Lage sind, sich untereinander in einer prinzipiell gleichen Weise basale Handlungskompetenz zuschreiben zu lassen und zugleich die nçtige Individualitt mitbringen, um die fr Achtungsbeziehungen typische Differenz zu gewhrleisten. Denn obwohl Achtung bislang in einer vergleichsweise modernen Auffassung als ein interpersonales Verhltnis zwischen prinzipiell Gleichen verstanden wurde, beruht dieses soziale Phnomen doch auf einer notwendigen Asymmetrie: Klar wird das am Beispiel der Hochachtung, die vielleicht mittlerweile etwas aus der Mode gekommen ist, aber in gegenwrtigen Praktiken lediglich andere Formen angenommen hat, die auch wir fr angemessen halten. Hochachtung bezeugt man einem hçhergestellten Wrdentrger und es ging historisch vor allem darum, die stndisch bedingten Unterschiede zwischen dem Achtenden und dem Geachteten zu manifestieren. Die Achtung war hierbei als ein ,Aufblicken‘ zu dem gesellschaftlich Hçhergestellten zugleich Ausdruck einer interpersonalen Differenz, die zwar variierende Statuszuschreibungen nach sich zog, aber auch von beiden Seiten so verstanden wurde, daß die Achtung erwartet werden durfte bzw. man sich dazu verpflichtet zu fhlen hatte. 310 Es gengt hierbei bereits, daß ihm dieses Bewußtsein von seinen Mitmenschen zugeschrieben wird.

3.2 Eine ,Logik der Selbstachtung‘

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Obwohl dieses spezifische Distinktionsmerkmal im modernen Verstndnis bzw. in der moralphilosophischen Rede von Achtung so nicht mehr prsent ist, bleibt doch im Verhltnis zwischen dem, der achtet, und dem, der geachtet wird, ein Moment der Differenz bestehen. Jemand wird fr etwas geachtet, weil derjenige, der ihn achtet, im Handeln (resp. dem Verhalten oder der Haltung) des Geachteten dieses etwas als eine ,Eigenschaft‘ oder ,Fhigkeit‘ betrachtet, die ihn im Moment von dem anderen unterscheidet. Denn die Achtung einer anderen Person gegenber erfllt eben auch die Funktion, mit der achtenden Bezugnahme jemanden ausdrcklich in seiner individuellen Leistung hervorzuheben und ihn in besonderer Weise zu beachten. Das schließt nicht aus, daß der Achtende, indem und obwohl er achtet, zugleich dieselbe ,Eigenschaft‘ oder ,Fhigkeit‘ wie der Geachtete haben kann – aber er kçnnte diese im Moment auch nicht haben, dazu jedoch prinzipiell in der Lage sein. Jemanden zu achten bedeutet also, sowohl die momentane Differenz zu dem Geachteten anzuerkennen als auch zugleich das Bewußtsein dafr auszudrcken, daß man selbst potentiell dazu in der Lage ist, in gleichberechtigter Weise diese Differenz durch eigenes Handeln zu berwinden. In diesem bipolaren Fokus – auf die differente Individualitt einerseits und auf die ,Gleichwertigkeit‘ der Personen, zwischen denen eine Achtungsbeziehung besteht, andererseits – scheint ein Grund fr die Schwierigkeiten zu liegen, die mit dem Verstndnis von Achtung einhergehen. Denn diese Parallelitt von Differenz und Gemeinsamkeit ist nicht in allen Fllen gleichmßig und ausgewogen: Neben der Hochachtung, bei der die Differenz zum Teil berdeutlich betont wurde,311 kennen wir eben auch eine Form der Achtung, bei der fast ausschließlich die gleichberechtigte Gemeinsamkeit hervorgehoben wird. Dieser unterschiedlichen ,Gewichtung‘ entspricht dann auch die je besondere Struktur dieser Achtungsverhltnisse: Whrend die Hochachtung auf einer starken Asymmetrie beruht, bei der dem Achtenden bewußt wird, wie wenig er selbst im Vergleich zu dem Geachteten vermag, besteht die Achtung zwischen gleichberechtigten Personen in einem nur sehr schwach asymmetrischen bzw. weitgehend symmetrischen und somit wechselseitigen 311 Bis hin zu kçrperlichen Unterwerfungsgesten wie dem Niederknien, der bertriebenen und bis mçglichst nah zum Boden reichenden Verbeugung etc. Hier zeigt sich, wie sehr die zwar asymmetrische, aber auf einem Minimum an wechselseitiger Bezugnahme beruhende Hochachtung in die Nhe der Mißachtung rckt: Wenn der formalisierte Akt der Hochachtungsbezeugung nur noch dazu dient, den zur Hochachtung Verpflichteten zu demtigen, erschçpft sich der eigentliche Gehalt dieser Achtung in einer pervertierten Konvention.

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3. Performative Selbstverhltnisse

Verhltnis der Bezugnahme. Jemanden in dieser Weise zu achten meint, ihn fr etwas zu achten, was fr einen selbst bedeutsam ist, fr das man also auch selbst die Achtung der anderen beansprucht. Aber wofr achtet man jemanden in dieser Weise? Da Achtung bislang allgemein und noch wenig bestimmt in den Blick genommen wurde, kann der Eindruck entstehen, man kçnne jemanden auch fr etwas vçllig Beliebiges achten. Daß jedoch bestimmte Kriterien gelten mssen, wird klar, wenn man sich fragt, wofr jemand nicht geachtet oder sogar verachtet wird: So wird z. B. niemand fr eine offenkundig ungerechte oder grausame Handlung geachtet. Woran liegt das? Weil man sich vor der Grausamkeit eines anderen zwar frchten oder sogar die Radikalitt in der Grausamkeit faszinierend finden kann, ihn dafr aber niemals achten wird, scheint in dem ,Aufblicken‘ zu einem Geachteten zugleich ein Moment der Identifikation wirksam zu sein: Das, wofr jemand geachtet wird, gehçrt dann unmittelbar zum Selbstverstndnis des Achtenden und ist deshalb Gegenstand der Achtung. Wenn also eine Person fr sich selbst in Anspruch nimmt, nicht ungerecht oder grausam behandelt werden zu wollen und diese Haltung auch anderen Personen gegenber vertritt, dann kann ein wichtiger Grund dafr, jemand anderen zu achten, dessen entsprechend gerechte bzw. Grausamkeit ausdrcklich ablehnende Handlungsweise sein.312 Aber ist die Achtung anderen Personen gegenber damit nicht bloß affirmativ? Denn man kçnnte einwenden, die (positiv wertende) Zustimmung zum gerechten Handeln des Geachteten sei ,im Prinzip‘ nichts anderes als z. B. die (positiv wertende) Zustimmung zu einer guten Note, die das eigene Kind in der Schule bekommen hat. Dem Vorwurf der Beliebigkeit affirmativer Bezugnahmen kann jedoch begegnet werden, indem man sich dieses ,Prinzip‘ etwas genauer anschaut: Jemanden zu achten meint, so war gesagt worden, ihn in seiner bestimmten Differenz wie auch in seiner ,Gleichwertigkeit‘ in den Blick zu nehmen. Jemanden fr eine gerechte Handlung zu achten, impliziert demnach, diese eine fr 312 Dies steht nicht im Widerspruch zur asymmetrischen Hochachtung: Sofern diese als eine ,echte‘ Hochachtung verstanden wird, d. h. keinen bloß konventionellen oder gar erzwungenen Akt ritualisierter Unterwerfung darstellt, kann auch auf der Seite des Achtenden von einer Identifikation mit den im Achtungsbezug hervorgehobenen Wertvorstellungen ausgegangen werden. So ist etwa die Hochachtung fr religiçse Oberhupter wie den Papst oder verschiedene Patriarchen nicht ausschließlich vom Rang des Wrdentrgers innerhalb einer kirchlichen Hierarchie, sondern gerade auch von der Bedeutung des gemeinsam geteilten Glaubens abhngig.

3.2 Eine ,Logik der Selbstachtung‘

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Gerechtigkeit exemplarische Handlungsweise differenzierend hervorzuheben und zugleich zu betonen, daß fr einen selbst als Achtenden der ,Wert‘ gerechter Handlungen bedeutsam ist. Anders verhlt es sich bei dem Schulnoten-Beispiel: Wenn das eigene Kind eine gute Note aus der Schule mitbringt, dann kçnnen die Eltern auf den ,Wert‘ dieser Note sehr unterschiedlich reagieren. Einige mçgen diese Leistung des Kindes fr selbstverstndlich halten (kçnnen), da sie aufgrund der intellektuellen Begabung des eigenen Nachwuchses keinerlei Zweifel an dessen Leistungsfhigkeit hegen. Andere urteilen vielleicht differenzierter und beziehen die im Unterricht gestellten Anforderungen, die pdagogische Befhigung des Lehrers sowie die momentane Befindlichkeit des Kindes mit in ihre Einschtzung ein, weshalb sie etwa zu dem Schluß kommen, daß ihr Kind unter diesen Umstnden mit dieser (oder auch einer weniger guten) Note eine beachtliche und durchaus wertzuschtzende Leistung erbracht hat. Ein gemeinsames Merkmal dieser (jeweils mehr oder weniger) affirmativen Einschtzungen besteht in der relativen Unabhngigkeit des affirmativ Wertenden von dem zu Bewertenden: Die Note des Kindes in der Schule hat in dieser Hinsicht nichts mit den Eltern zu tun, die ja lngst nicht mehr in der Schule sind, um Noten zu bekommen. Sie bewerten die Leistung aufgrund bestimmter Maßstbe, die sich mitunter erheblich von denen anderer Eltern, der Lehrer und der Schler unterscheiden. Und selbst bei dem Vergleich von Noten, den Kinder untereinander in einer Schulklasse vornehmen, kann man sagen, daß hier zwar ebenfalls erhebliche Einschtzungsdifferenzen auftreten, dies aber nichts mit den Schlern als Personen zu tun haben sollte: So lßt sich das Phnomen beobachten, daß entweder gute Schler (,Streber‘) oder gerade Schler mit schwachen Leistungen von ihren Mitschlern aufgrund dieser im Klassenvergleich gewonnenen Einschtzung z. B. verbal angegangen oder gar aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Allerdings kann ein selektives Bewertungskriterium (Note im Fach) im Rahmen eines spezifischen Kontextes (Schule) kein hinreichender Grund fr die Mitschler sein, jemanden als Person zu mißachten, weshalb es ein wichtiger pdagogischer Auftrag ist, den Unterschied zwischen leistungsbezogener Beurteilung und prinzipieller Achtung zu vermitteln. Ein wesentliches Kriterium bei der Unterscheidung von Achtung und anderen affirmativen Bezugnahmen scheint demnach das Kriterium einer weitgehenden Verallgemeinerbarkeit zu sein: Whrend bei der Achtung fr eine gerechte Handlung der Bezugspunkt – die Gerechtigkeit – einen allgemeinverbindlichen Maßstab fr die achtende Wertschtzung darstellt, sind die Kriterien fr eine bloß affirmative Wertschtzung aufgrund ihrer

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3. Performative Selbstverhltnisse

Heterogenitt nur in sehr begrenztem Maße verallgemeinerbar. Denn die Akzeptanz dieser evaluativen Kriterien ist von vielfltigen Voraussetzungen abhngig, zu denen neben kontextspezifischer Informiertheit und Sachkenntnis auch soziale Faktoren wie Alter, Geschlecht, Beruf, Lebenserfahrung u.v.m. gehçren. Zudem finden diese Kriterien sowohl bei demjenigen Anwendung, der bewertet wird, als auch bei dem, der die Bewertung vornimmt. Nach den Ausfhrungen im zweiten Kapitel kçnnen wir diese zweite Form der affirmativen Bezugnahme als (Wert-)Schtzung des anderen kennzeichnen und sinnvoll von Achtung, wie sie im ersten Fall vorkam, abgrenzen. Denn obwohl sich beide Formen der wertenden Bezugnahme auf andere recht hnlich sind, geht es bei der Wertschtzung des anderen im Gegensatz zur Achtung vorrangig um die relationale Bezogenheit auf die je spezifischen kontextuellen Umstnde und jeweils gltigen Maßstbe, an denen sich das in der Wertschtzung ausdrckende Urteil bemißt. Zu Verwirrungen kann es kommen, weil Achtung und Wertschtzung sich nicht nur hnlich sind, sondern zudem in sozialen Praktiken oft gemeinsam auftreten. Ein Beispiel kann diesen Zusammenhang verdeutlichen: Wenn ich einen Kollegen am Institut fr Philosophie schtze, dann beziehe ich mich damit auf einen vertikalen Bewertungsmaßstab und vergleiche seine beruflichen Leistungen in Lehre und Forschung mit denen anderer Kollegen. Das Kriterium meiner Bewertung ist dabei, wie gut dieser Kollege als professionell ttiger Philosoph im Vergleich mit anderen Kollegen hinsichtlich dieser beruflichen Ttigkeit ist. Zudem werden jedoch weitere Kriterien ins Spiel kommen, die meine Wertschtzung hinsichtlich der professionellen Befhigung beeinflussen, etwa die Tatsache, daß dieser Kollege ursprnglich aus sozial schwierigen Verhltnissen kommt und sich sein Studium sowie die Promotion mit zeitaufwendigen Nebenjobs finanzieren mußte, um den jetzigen Beruf berhaupt ausben zu kçnnen, oder nebenher umfangreiche familire Pflichten zu erfllen hat. Und da faktisch die Karrierestruktur nicht nur im Bereich der universitren Philosophie nach wie vor mnnerzentriert ist, mag sich auch der Umstand auswirken, wenn der Kollege in unserem Beispiel eine Kollegin, also eine Frau ist, die sich besonderen sozialen Anforderungen zu stellen hat. Eine solche Bewertungsstruktur folgt also komplexen und wechselseitig aufeinander bezogenen Parametern, die sich an sozialen Konventionen, individuellen Lebenserfahrungen und damit verbundenen Wertauffas-

3.2 Eine ,Logik der Selbstachtung‘

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sungen sowie gesellschaftlichen Erwartungshaltungen orientiert.313 Diese Parameter haben wir selbstverstndlich auch im Blick, wenn andere urteilen, da wir diese Beurteilungen miteinander vermitteln: Ein Student kçnnte seine Wertschtzung fr einen Philosophiedozenten zum Ausdruck bringen, wobei ich als ,Beobachter‘ diese wertschtzende Haltung meinem Kollegen gegenber wiederum einzuordnen weiß, denn dieser Student wertet von einem bestimmten Standpunkt und damit im Wortsinn von einer ,Perspektive‘ als Student aus, was ihm an einem Seminar bei diesem Dozenten gefallen hat – eine Auffassung, die ich selbst, von einem anderen Standpunkt aus (als Dozent) urteilend, nicht unbedingt teilen muß, aber als einen mçglichen Standpunkt unter mehreren gelten lassen kann. Als wertschtzende Person muß man zwar gegebenenfalls Grnde fr diese Art der Bezogenheit auf eine andere Person angeben kçnnen. Allerdings gengt es dabei, den eigenen Standpunkt innerhalb eines komplexen Bewertungssystems auszuweisen. Indem man sich auf bestimmte relationale Bewertungsmaßstbe und -kriterien beruft, mssen diese nicht umfassend verallgemeinerbar sein, sondern lediglich einem Mindestmaß an intersubjektiver Gltigkeit entsprechen. Nun kann der Student meinen Kollegen einerseits aufgrund einer gelungenen Veranstaltung schtzen, und zwar insofern er in ihm ein Vorbild fr sein eigenes Denken oder sogar fr seine Berufswahl gefunden hat. Andererseits kçnnen Studenten den Kollegen zugleich dafr achten, daß er sie als gleichberechtigte Persçnlichkeiten im Gesprch anerkennt, ihnen mithin nicht das Gefhl gibt, aufgrund der zwar faktisch bestehenden, aber in dieser Hinsicht unerheblichen institutionellen Autorittsstruktur als Personen weniger wichtig als er selbst zu sein.314 Die Achtung entspricht also neben der vertikalen Wertschtzung einem horizontalen Verhltnis ,auf Augenhçhe‘, die das genuine Interesse an der eigenen Person mit einschließt. Nach den Grnden gefragt, weshalb er jemanden achtet, kann der Achtende sich also nicht wie bei der Wertschtzung lediglich auf die Begrndung anhand der jeweils angewandten Beurteilungsschemata und konventionellen Maßstbe berufen. Sondern er muß das Verallgemeiner313 Im brigen kann sich die Wertschtzung gemß dieser Bewertungsstruktur dann auch auf Tiere beziehen: So kann man etwa einen Hund durchaus fr seinen Gehorsam, Apportierfhigkeiten oder die Befhigung zum Hten von Schafen etc. im Vergleich zu anderen Hunden und Hunderassen schtzen. Nicht jeder muß diese Wertschtzung teilen, denn einige haben schlicht kein Interesse an Hunden. 314 In der Bestimmung von Person bzw. Persçnlichkeit orientiere ich mich hier an den Ausfhrungen im ersten Kapitel, die einer weitgehend kantischen Interpretation folgen.

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3. Performative Selbstverhltnisse

bare an seiner Achtung ausweisen und zudem auf sich selbst beziehen kçnnen. Da dieser Bezugspunkt der Achtung etwas ist, um dessentwillen nicht nur der Geachtete, sondern jede Person einschließlich des Achtenden prinzipiell geachtet werden kann, findet sich hier auch ein mçglicher Grund fr die normative Verbindlichkeit des zu Achtenden: Weil der Bezugspunkt der Achtung ein Kriterium erfllt, welches prinzipiell jeder Person einen Grund fr die zu erweisende wie auch die zu erwartende Achtung gibt, besteht auch fr den jeweils Achtenden ein kategorial eigenstndiger Bezug zur Achtung gegenber dem Geachteten. Im Gegensatz zur Wertschtzung reicht es nicht aus, lediglich den eigenen Standpunkt anhand sozial-konventioneller Merkmale darzulegen, denn diese Rechtfertigung wirkt nicht unmittelbar auf den Wertschtzenden zurck. So bleibt in unserem Beispiel die Wertschtzung fr meinen Kollegen durch den Studenten fr diesen ,folgenlos‘, da er lediglich nachzuweisen hat, vor welchem Hintergrund sich seine wertschtzende Haltung generiert, und keine weitere Rechtfertigung erforderlich ist. Darber hinaus ist es hinreichend, wenn die wertschtzende Bezugnahme einseitig verluft: Die Wertschtzung fr den Kollegen verpflichtet diesen gegenber dem Studenten zu nichts. Ganz im Gegenteil: Er kçnnte sich sogar dagegen verwahren, falls er selbst von seinen Fhigkeiten eine ganz andere Auffassung hat und dem Studenten die Befhigung abspricht, angemessen ber die Qualifikation von Dozenten urteilen zu kçnnen. Anders verhlt es sich bei der Achtung: Indem die Studenten den Dozenten dafr achten, daß er sie als gleichberechtigte Persçnlichkeiten respektiert, erfolgt eine wechselseitige Bezugnahme auf ein von allen Beteiligten als verbindlich erachtetes Kriterium. Wie stark oder schwach diese wechselseitige Bezugnahme ausgeprgt ist, hngt vom Grad der Asymmetrie bzw. Symmetrie der Achtungsbeziehung ab. Wesentlich ist an der Unterscheidung von Wertschtzung und Achtung, daß zwar beide Formen eine wertende Bezugnahme darstellen, aber sowohl in funktionaler wie auch ,qualitativer‘ Hinsicht verschieden sind: Whrend die Wertschtzung auf variablen Kriterien beruht und aufgrund der relationalen Heterogenitt lediglich situativ und temporr verbindlich ist, impliziert die Achtung aufgrund des verallgemeinerbaren Bezugspunktes, der fr Personen als handelnde Subjekte relevant ist, eine wesentlich konstantere Verbindlichkeit. Fr die Persçnlichkeit des Einzelnen besteht darin eine viel strkere ,Grundierung‘ des eigenen Selbstverstndnisses als in der Wertschtzung.315 315 In dieser Perspektive lßt sich auch die Bewertung grausamer Handlungen besser verstndlich machen (s. o.): Ob eine Handlung gegenber einem anderen Men-

3.2 Eine ,Logik der Selbstachtung‘

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Wenn hinsichtlich interpersonaler Verhltnisse die Begrndung fr eine Unterscheidung in Achtung und Wertschtzung berzeugend ist, stellt sich nun die Frage, ob dies auch fr affirmative Selbstbezugnahmen zutrifft. In funktional-struktureller Hinsicht gelten in der Beziehung zum eigenen Selbst zumindest dieselben Bedingungen wie in der Bezugnahme auf andere Personen: Jemand achtet sich selbst fr etwas bzw. hinsichtlich von etwas. Die Grnde, weshalb jemand auf sich selbst affirmativ Bezug nimmt, kçnnen dabei recht vielfltig sein und werden, sofern sie zufriedenstellend erfllt sind, auch unter der allgemeinen Bezeichnung Selbstwertgefhl zusammengefaßt. Jedoch gibt es markante Unterschiede, denn nicht alle Grnde gelten in der gleichen Weise: Es ist unstrittig, daß etwa beruflicher Erfolg und das Erbringen bestimmter Leistungen – vermittelt ber die anerkennende Wertschtzung anderer – zugleich das Selbstwertempfinden maßgeblich beeinflussen. Aber ein positives Selbstwertgefhl erschçpft sich fr gewçhnlich nicht in einer spezifischen Bewertung der eigenen Leistungsfhigkeit, sondern bezieht sich auf eine Vielzahl von Bewertungskontexten. In einer eher oberflchlichen Betrachtung kçnnte man deshalb vielleicht sagen, daß das Selbstwertgefhl sich aus der ,Summe‘ aller Wertschtzungen zusammensetzt, die eine Person in einer sozialen Umwelt erfhrt und auf sich selbst bezieht. Eine solche Betrachtung verliert jedoch zwei entscheidende Aspekte aus dem Blick: Zum einen setzt sie undifferenziert die Vergleichbarkeit und Zusammengehçrigkeit verschiedenster Wertschtzungen voraus, weshalb die Kombination aus einem sehr guten Marathonlufer, einem miserablen Skat-Spieler und einem passablen Familienvater in einer Person einen wie auch immer zu bezeichnenden und zu bewertenden Hybrid vorstellen mßte. Zum anschen als grausam angesehen wird, variiert mitunter in Abhngigkeit vom situativen Kontext oder gesellschaftlichen Konventionen. So kann fr einen zivilen Staatsbrger generell jede Form institutionalisierter Gewalt als grausam empfunden werden, whrend fr die Exekutive (Polizei, Armee) bestimmte Vorschriften fr die rechtmßige Gewaltanwendung gelten, die ihre Begrenzung in der unangemessen grausamen Ausbung dieser Gewalt haben. Unabhngig von dieser Einund Wertschtzung angemessener Gewaltausbung bleibt aber die prinzipielle Ablehnung von Grausamkeit – denn es gibt Verhltnisse, die fr alle Personen grausam sind – im Selbstverstndnis aller Beteiligten bestehen: Selbst Soldaten im Krieg, die gewaltsam und manchmal grausam gegen ihre Kontrahenten vorgehen, kçnnen schwerlich behaupten, nicht ein genuines Interesse daran zu haben, von Grausamkeit durch andere verschont zu werden. Deshalb kann prinzipiell jeder jemanden achten, der – in welcher Form auch immer – deutlich macht, daß ihm die Vermeidung von Grausamkeit um seiner selbst willen bedeutsam ist und er aus diesem Grund eine bestimmte Handlung vollzogen oder unterlassen hat.

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3. Performative Selbstverhltnisse

deren verleugnet eine solche Perspektive das Kategorische wie auch Relative hinsichtlich der Grnde, die einer affirmativen Selbstbewertung zugrunde liegen: Manche Grnde unterscheiden sich grundstzlich von anderen und sind mit diesen auch nicht zu vergleichen (so stehen etwa Skatspiel und Familie in kontingenter Beziehung zueinander); andere Grnde wiederum gewinnen nur gemeinsam mit weiteren Grnden an Bedeutung oder werden durch diese in ihrem Wert abgeschwcht. So besteht ein offensichtlicher Unterschied darin, ob sich ein positives Gefhl einstellt, weil man ein erniedrigendes, da unter allem verhltnismßigen Wert bezahltes Jobangebot abgelehnt hat oder nachdem man erfahren hat, daß man zum Mitarbeiter des Monats geworden ist: Wenn man sich der Erniedrigung durch unterbezahlte Beschftigungsverhltnisse verweigert, nimmt man in einer kategorial anderen Weise auf sich selbst Bezug als beim relationalen Leistungsvergleich mit anderen Mitarbeitern. Denn whrend fr die Erniedrigung ein weitgehend allgemeinverbindlicher Konsens vorzuliegen scheint – es gibt Arbeitsverhltnisse, die an sich und fr alle Personen erniedrigend sind –, kann die unmittelbar leistungsbezogene Bewertung durchaus ambivalent sein: Der Mitarbeiter des Monats kann etwa darauf verweisen, daß seines Erachtens andere Mitarbeiter mindestens ebenso erfolgreich gearbeitet haben wie er oder daß sich manche Ttigkeitsbereiche (Produktion, Verwaltung, Unternehmensleitung) nicht einfach in dieser Weise miteinander vergleichen lassen. Es bietet sich vor diesem Hintergrund an, auch fr affirmative Selbstbezugnahmen eine konsequente Unterscheidung in Selbstachtung und Selbstschtzung einzufhren. Erst auf diese Weise ist ein hinreichend komplexer Zugriff auf die Verschiedenartigkeit der Grnde fr Selbstaffirmationen gewhrleistet, die im weit gefaßten Begriff vom Selbstwertgefhl verwischt wird. Diese Unterscheidung in Analogie zu Achtung und Wertschtzung allein ist jedoch noch nicht ausreichend, denn Selbstaffirmationen sind als reflexive Bezugnahmen auf das eigene Selbst etwas Besonderes und verlangen nach weitergehenden Erklrungen: (1) Was bedeutet es, sich selbst zu achten? (2) Was bedeutet es, sich selbst wertzuschtzen? (3) Was bringt die Unterscheidung zwischen Selbstachtung und Selbstschtzung? (1) Anders als bei der Achtung liegt bei der Selbstachtung kein interpersonales Verhltnis vor, in welchem man sich auf ein weitgehend verallgemeinerbares Kriterium fr die Bestimmung des Bezugspunkts der Achtung verstndigen kann. Ausgehend von der funktionalen Grundstruktur kçnnte man also zunchst lediglich sagen, daß sich selbst zu achten bedeutet, in sich selbst (irgend)einen Grund fr die Achtung sich selbst

3.2 Eine ,Logik der Selbstachtung‘

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gegenber zu haben. Diese Feststellung kann nun allerdings als willkrlich, zirkulr oder gar trivial aufgefaßt werden – und sie wird vor allem dem, was gemeinhin unter Selbstachtung verstanden wird, noch keineswegs gerecht. Man wird also przisierend sagen mssen, daß es, um sich selbst achten zu kçnnen, eines sozialen Umfeldes bedarf, d. h. anderer Personen, in deren Angesicht man sich als ein Gleicher unter Gleichen verstehen kann. Der Grund, weshalb man sich selbst achtet, ist nicht willkrlich gewhlt, sondern bezieht sich implizit sowohl auf die eigene Person als auch auf alle anderen Personen: Wir achten uns selbst fr etwas, von dem wir annehmen kçnnen, daß es fr alle anderen Personen in gleicher Weise bedeutsam ist. Eine Begrndung, weshalb man sich etwa fr die erfolgreiche Ablehnung eines erniedrigenden Jobangebots selbst achtet, ist somit nicht zirkulr, denn es gibt berzeugende Grnde dafr, daß bestimmte Arbeitsverhltnisse nicht nur fr einen selbst als individuelle Person, sondern allgemein fr alle Personen als erniedrigend anzusehen sind.316 Und sich selbst zu achten ist schließlich auch nicht trivial, weil sich selbst zu achten kein instinktiver oder bloß psycho-physischer Vorgang ist, sondern zumindest ein bewußtes Verstndnis seiner selbst als handlungskompetente Person voraussetzt. (2) Ebenso wie bei der Selbstachtung hat es auch bei Selbstschtzung wenig Sinn, den Fokus ausschließlich auf ein einzelnes Individuum zu legen, um zu verstehen, was es bedeutet, sich selbst fr etwas zu schtzen: Die Auffassung, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, kann sich gerade nicht auf den Einzelnen, sondern nur auf den Menschen als einen Menschen innerhalb einer sozialen Gemeinschaft beziehen. Um sich selbst in seinen individuellen Leistungen und Verdiensten einschtzen und dann auch wertschtzen zu kçnnen, bedarf es bestimmter konventioneller Maßstbe und Kriterien, die in sozialen Praktiken erworben und dabei bestndig auf ihre Gltigkeit hin berprft werden. Damit man sich selbst auf eine hinreichend gerechtfertigte Weise etwa als Mitarbeiter des Monats schtzen kann, scheint es zumindest erforderlich zu sein, sich selbst daraufhin zu befragen, ob die Kriterien fr diese externe Bewertung so be316 Der wichtige Unterschied wird in der entsprechenden Bezeichnung deutlich: Es gibt Arbeitsverhltnisse, die fr bestimmte Personen hinsichtlich ihrer Qualifikation nicht angemessen sind, etwa wenn jemand mit einer akademischen Ausbildung eine einfache kçrperliche Ttigkeit verrichtet, fr die man keine bestimmte Qualifikation bençtigt. Als erniedrigend sind jedoch all jene Arbeitsverhltnisse aufzufassen, die es dem Erwerbsttigen – sei es als Hilfsarbeiter auf dem Bau oder als Dozent an einer Universitt – z. B. nicht erlauben, von dieser Arbeit seinen Lebensunterhalt bestreiten zu kçnnen.

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schaffen sind, daß sie diesen Vergleich und die Hervorhebung vor den anderen Mitarbeitern rechtfertigen kçnnen. Wenn das Kriterium fr die Auszeichnung als bester Mitarbeiter z. B. in einem Versicherungsunternehmen darin besteht, daß der betreffende Versicherungsvertreter rein zahlenmßig die meisten Vertrge abgeschlossen hat und nun die entsprechenden Boni bezieht, dann kçnnte sich dieser Mitarbeiter eventuell kritisch fragen (lassen), ob dieses Kriterium das einzig ausschlaggebende sein kann oder nicht auch andere, wie kollegiale Verantwortungsbernahme im Team oder die nachhaltige Entwicklung des Portfolios zur Steigerung der Kundenzufriedenheit, eine wichtigere Rolle spielen sollten. Die Selbstevaluation bemißt sich also an bestimmten, in einer sozialen Gemeinschaft gltigen Maßstben und Kriterien, ist aber in dieser relationalen Bezogenheit auch in starkem Maße revidierbar, denn der Einzelne kann die Beurteilung anderer immer kritisch daraufhin befragen, ob diese mit seinen eigenen Wertmaßstben bereinstimmt und ob bzw. in welcher Form er die anerkennende Wertschtzung anderer auf die anerkennende Wertschtzung seiner selbst bertragen mçchte. (3) Die konsequente Unterscheidung zwischen Selbstachtung und Selbstschtzung ist nicht nur eine Differenzierung, die bereits in der sozialen Praxis der anerkennenden Wertschtzung verstanden wird, sondern sie kann auch in der philosophischen Bestimmung helfen, eine vorschnelle Einordnung dieser Wertschtzungsverhltnisse unter einen zu weit gefaßten Oberbegriff zu vermeiden. Denn weil der Ausdruck „Selbstschtzung“ im deutschsprachigen Raum scheinbar nicht mehr allgemein gebruchlich ist, unternimmt man entweder den Versuch, den Ausdruck „Selbstachtung“ begrifflich zu erweitern, wodurch z. T. recht unterschiedliche Formen der Selbstaffirmation mit Selbstachtung identifiziert werden, oder man geht von einem sehr weiten Oberbegriff wie z. B. Selbstwertgefhl aus und beschreibt Selbstachtung dann als einen konstitutiven ,Bestandteil‘ oder eine spezifische Variante dieses Gefhls.317 Mit keiner der beiden Varianten ist allerdings zufriedenstellend das Phnomen beschreibbar, daß wir uns im Rahmen sozialer Gemeinschaften fr die verschiedensten Arten von Leistung, Verdienst, emotionaler Zuneigung u.v.m. anerkennend wertschtzen lassen bzw. uns selbst wertschtzen. 317 Siehe exemplarisch Kçhl (1990), der Selbstachtung insgesamt als „Selbstwertgefhl“ zu begreifen scheint (151; siehe zu Selbstachtung insgesamt 147 – 155), und Stoecker (2004), der trotz indifferenter Bestimmung von Achtung und Wertschtzung bereits eine weitergehende Differenzierung von Selbstachtung als „Haltung“ im Blick hat (109 ff.).

3.2 Eine ,Logik der Selbstachtung‘

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Dabei verfgen wir doch – bewußt oder unbewußt – immer auch ber verlßliche Regeln und Zuordnungsprinzipien, die es uns erlauben, trotz der bestehenden hnlichkeiten und Verflechtungen zwischen Wertschtzungsußerungen entscheiden zu kçnnen, in welcher Hinsicht diese fr uns bedeutsam sind. Gerade mit Blick auf die systematische Entwicklung der Moralphilosophie Kants (Kapitel 2) ist deutlich geworden, wie stark dort noch das Bewußtsein fr die Mannigfaltigkeit und zugleich unbestrittene Bedeutung der affirmativen Selbstverhltnisse gewesen sein muß – ein Bewußtsein, das in der Folge, abgesehen von der wegweisenden anglophonen Differenzierung in self-respect und self-esteem,318 weitgehend verlorengegangen ist. Weil Selbstachtung und Selbstschtzung sich einerseits als affirmative Bezugnahmen sehr hnlich sind, sich aber andererseits als kontingente oder normativ verbindliche Wertschtzungen auch grundstzlich unterscheiden lassen, ist eine Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Formen in der Lage, exemplarisch aufzuzeigen, wo 318 Wichtige Vertreter sind Telfer (1968), Darwall (1977), Sachs (1981) und Margalit (1998), 44–48. Telfer unterscheidet einen conative self-respect, der in Anlehnung an den Begriff der Ehre das entweder egoistische oder nicht-egoistische Streben nach wrdigem Verhalten um seiner selbst willen ist und hnlichkeiten mit dem aristotelischen Konzept der vernnftigen Selbstliebe aufweist (vgl. Aristoteles (2003), 1168a–1169b), von einem estimative self-respect als situativ und temporr variable Form der Selbstzuschreibung, in der bereits definitorische Gemeinsamkeiten mit self-esteem enthalten sind. Darwalls Differenzierung von appraisal und recognition respect ist in hnlicher Weise strukturiert, bleibt jedoch in der Bestimmung von recognition respect problematisch: Da hiermit nicht nur das Person-sein, sondern zudem soziale und gesellschaftliche Selbstreprsentationen einbezogen sind, wird die Entscheidung erschwert, ob eine reprsentierte Rolle nur eine funktionale unter mehreren ist oder die konstitutive Reprsentation des Selbst betrifft. Sachs fhrt erstmalig die systematische Unterteilung in self-respect und self-esteem ein und diskutiert deren Verhltnis, wonach zwar ein totaler Verlust von self-esteem, aber nicht von self-respect mçglich ist. Letzterem zustimmend meine ich jedoch, daß selfrespect auch nicht ohne self-esteem auskommt, da self-respect immer auch einen entsprechenden kontextuellen Rahmen sozialer Wertschtzung bençtigt. Fr Margalit ist self-esteem ein ranking concept, wohingegen self-respect Ausdruck einer Zugehçrigkeit ist. Allerdings ist auch die Zugehçrigkeit zur Gruppe der human beings an eine spezifizierende Einteilung geknpft, in der ich mich als Person meinem Person-sein entsprechend verhalten muß (selbst Margalit deutet dies mit dem metaphorischen Verweis auf den good Irishman an). Demgegenber betont Rawls (1994) zwar die zwei Aspekte a person’s sense of his own value und a confidence in one’s ability (440) von Selbstachtung, verwendet aber „self-respect“ und „selfesteem“ synonym; in der bersetzung wird fr diese Ausdrcke konsequent „Selbstachtung“ angegeben, vgl. Rawls (1979), 479 ff.

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und unter welchen Voraussetzungen sich ein normatives Element in menschlichen (Selbst-)Verhltnissen behauptet. Wenn die hier bislang lediglich skizzenartig eingefhrte Trennung der affirmativen Selbstverhltnisse in Selbstachtung und Selbstschtzung wieder strker in die philosophische Debatte aufgenommen wrde, ließe sich nicht nur genauer analysieren, was Selbstachtung in Abgrenzung zu anderen Selbstaffirmationen eigentlich ist, sondern auch besser verstehen, warum Moraltheoretiker wie Kant lange darum gerungen haben, ob und inwiefern bestimmte selbstaffirmative Bezugnahmen berhaupt normativ relevant sein kçnnen. Da zu Beginn dieses Kapitels ersichtlich wurde, daß die Bestimmung von Selbstachtung, wie sie Kant schließlich in seiner spten kritischen Moralphilosophie vorgeschlagen hat, so nicht unbedingt berzeugend ist, kommt die Suche nach einer berzeugenderen Modifikation des transzendentalen Arguments nicht umhin, auf die ursprngliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen der Selbstaffirmationen zurckzugehen. Von der sozialen Praxis des anerkennenden Wertschtzens ausgehend lassen sich m. E. dann auch die entsprechenden Rechtfertigungen und Begrndungsmodi wertschtzenden Verhaltens offen legen und daraufhin befragen, auf welche Weise es einer Person mçglich werden kann, im Laufe ihrer Persçnlichkeitsentwicklung im Kontext sozialer Erfahrungen ein Verhltnis zu sich selbst einzunehmen, welches dann auch der anspruchsvollen Bestimmung gengen kann, die Kant der Selbstachtung gegeben hat.

3.3 Das Verhltnis von Selbstachtung und Selbstschtzung Die im Rahmen einer Art ,Logik der Selbstachtung‘ vorgenommene deskriptive Unterscheidung zwischen Selbstachtung und Selbstschtzung ist nur ein erster Schritt, um der Komplexitt affirmativer Selbstverhltnisse gerecht werden und den darin enthaltenen normativen Anspruch begrnden zu kçnnen. Denn die Beschreibung der Vielfalt affirmativer Selbstbezugnahmen weist fr den Zweck dieser Untersuchung zunchst erst einmal diese zwei analytisch zu trennenden und damit exemplarischen Formen aus, deren spezifische ,Zwischenformen‘ wie Selbstliebe, das Bewußtsein fr eigene moralische Verdienste, das Ehrgefhl etc. noch beliebig ergnzt werden kçnnten. Die wesentliche Aufgabe eines zweiten Schrittes wird es jedoch nun sein, die eigentliche Problemstellung – nmlich wie vor dem Hintergrund komplexer affirmativer Selbstverhltnisse in sozialen Praktiken die Entstehung eines moralischen Selbstverstndnisses mçglich

3.3 Das Verhltnis von Selbstachtung und Selbstschtzung

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ist – anhand einer Systematisierung des Verhltnisses zwischen Selbstachtung und Selbstschtzung anzugehen. Dafr schlage ich vier grundlegende Mçglichkeiten vor, wie diese beiden Formen affirmativer Selbstbezugnahme zueinander ins Verhltnis gesetzt werden kçnnten: 1) Selbstachtung ist die Voraussetzung von angemessener Selbstschtzung 2) Selbstschtzung ist die Voraussetzung fr Selbstachtung 3) Selbstachtung und Selbstschtzung sind vçllig unabhngig voneinander 4) Selbstachtung und Selbstschtzung stehen in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang (1) Wenn Selbstachtung als eine Voraussetzung von angemessener Selbstschtzung verstanden wird, dann liegt dem die Vermutung zugrunde, die Wertschtzung seiner selbst sei aufgrund der Kontingenz und Variabilitt relationaler Bewertungsmaßstbe innerhalb sozialer Praktiken allein nicht hinreichend, um ein dem Selbstverstndnis einer Person entsprechendes Selbstverhltnis zu begrnden. Als ein starkes Argument fr diese Auffassung kann die beliebige Verortung und damit einhergehend die ,Ortlosigkeit‘ des handelnden Subjekts gelten: Das Individuum oder das Selbst, welches sich ausschließlich – vermittelt ber die anerkennende Wertschtzung anderer – selbst wertschtzt, wird nirgendwo tatschlich als dieses Individuum faßbar. Denn wie soll, so lautet hier die kritische Frage, ein Individuum innerhalb einer sozialen Gemeinschaft berhaupt beurteilen kçnnen, inwiefern die jeweils zugrunde gelegten Maßstbe fr die Wertschtzung jeweils bloß situativen Kontextualisierungen entsprechen, wenn der Bezugspunkt einer verallgemeinerbaren Rechtfertigung fehlt, mit dem die verschiedenen Maßstbe auf einen ,grundlegenden Maßstab‘ zurckgefhrt werden? Der Lçsungsvorschlag lautet: Indem sich das Individuum zunchst selbst achtet. Da es zur begrifflichen Bestimmung von Selbstachtung gehçrt, sich als ein aus Freiheit selbstbestimmt Handelnder und damit in seinem Eigenwert als Person zu verstehen, ist diese Form der Selbstaffirmation die grundlegende und bedingungslose Voraussetzung dafr, daß man sich berhaupt erst – mit einem festen Bezugspunkt ,im Rcken‘ – auf eine soziale Wirklichkeit und deren Wertschtzungen beziehen kann. Zu einer solchen Begrndung ist Kant letztlich in seiner spten kritischen Moralphilosophie gelangt, nachdem er im Laufe der Entwicklung dieser Position den Status der verschiedenen affirmativen Selbstbezugnahmen so kategorisiert hat, daß allein die Selbstachtung als Ausdruck und Garant des moralischen Selbstverstndnisses eine Person dazu befhigt, sich selbst als solche zu verstehen und angesichts der Be-

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3. Performative Selbstverhltnisse

liebigkeit sozial-konventioneller Maßstbe als integre moralische Persçnlichkeit zu behaupten. Problematisch kann diese Auffassung nicht nur wegen der dadurch verdeckten Entstehung eines gehaltvollen moralischen Selbstverstndnisses sein, aus dem dann die Selbstachtung hervorgeht. Darber hinaus werden hiermit zwei Formen der Selbstaffirmation aufeinander bezogen, die sich einerseits zwar recht hnlich, aber andererseits auch sehr verschieden sind, weshalb man sich entscheiden muß, in welcher Hinsicht Selbstachtung zur Voraussetzung von Selbstschtzung gemacht werden soll: a) Werden die hnlichkeiten bezglich eines allgemein affirmativen Charakters betont, so muß gezeigt werden, warum es gerade die Selbstachtung ist, die einer sozial bedingten Selbstwertschtzung vorauszugehen hat, denn ebensogut kçnnte dann auch diese als entweder temporale oder kausale Voraussetzung fr Selbstachtung in Betracht kommen. b) Sind hingegen die Unterschiede relevant, so ist nicht immer klar auszuweisen, weshalb eine im Kern moralische Selbstachtung (als Bewußtsein, ein prinzipiell Gleicher unter Gleichen zu sein) generell dazu fhren soll, eine angemessene Urteilsfhigkeit bezglich der eigenen Wertschtzung auszubilden. Denn ein nicht unerheblicher Teil affirmativer Selbstverhltnisse bençtigt gerade nicht diesen Bezugspunkt auf eine moralische Selbstachtung, weil hier gar kein moralisches Selbstverstndnis vorauszusetzen ist.319 (2) In einer umgekehrten Argumentation, welche Selbstschtzung der Selbstachtung vorordnet, kann man die Auffassung vertreten, erst der Umgang mit anderen Menschen in einer sozialen Gemeinschaft und die damit verbundene Erfahrung sozial-konventioneller Wertschtzung erlaube es, ein Selbstverhltnis aufzubauen, dessen ,Gegenstand‘ der prinzipiell gleichberechtigte Wert der eigenen Person ist. Als Argumentationsbasis dient hier die Erfahrung wechselseitiger Anerkennung, die an die Existenz von sozialen Gemeinschaften geknpft ist. Sie wird als das konstitutive Moment dafr verstanden, daß eine Person sich mit ihren genuinen Interessen wiederfinden kann. Erst in der widerstndigen Durchsetzung und Einforderung wertschtzenden Verhaltens durch andere wird demnach eine Person sich ihrer selbst derart bewußt, daß sie 319 Siehe dazu das Beispiel mit dem Mitarbeiter des Monats: Um sich selbst als ein guter, wenn nicht gar den besten Mitarbeiter schtzen zu kçnnen, bedarf es lediglich einer Beurteilung der vergleichsweise hçheren Leistung in quantitativer und/oder qualitativer Hinsicht. Diese Einschtzung ist rein instrumentell bzw. zweckrational motiviert (,Um zum besten Mitarbeiter zu werden, mußt du…‘) und hat daher nichts mit einem moralischen Selbstverstndnis zu tun.

3.3 Das Verhltnis von Selbstachtung und Selbstschtzung

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schließlich in der Lage ist, von allen partikularen Wertschtzungsebenen zu abstrahieren und sich selbst als Person zu achten. Allerdings sind es nur bestimmte affirmative Bezugnahmen der Selbstschtzung, die geeignet sind, auf die moralische Selbstachtung zu verweisen, denn nicht alle affirmativen Bezugnahmen setzen ein moralisches Selbstverstndnis voraus. Eine Theorie, in der die soziale Erfahrung wechselseitig anerkennender Wertschtzung zu einer Voraussetzung und Bedingung fr die Entfaltung einer moralischen Persçnlichkeit mit Selbstachtung werden soll, muß also genau aufzeigen, welche affirmativen Momente in sozialen Verhltnissen diese Entwicklung gewhrleisten und garantieren kçnnen. (3) Eine radikale Alternative zu diesen beiden Positionen besteht in einer vçlligen Separierung von Selbstachtung und Selbstschtzung: Man wrde dann – zum Teil vielleicht bezugnehmend auf eine bestimmte Lesart von Kant – vor allem auf einer kategorialen Verschiedenheit beider Selbstbezugnahmen bestehen und Selbstachtung ausschließlich fr den Bereich des Moralischen reservieren, whrend Selbstschtzung bloß fr den Bereich des Sozialen gilt. Damit lßt sich zwar einerseits klar und ,begrndungssicher‘ ein Bereich der Moral abgrenzen, andererseits stellt sich dann nur noch drngender die Frage, warum man ber den Bereich des Sozialen hinaus auch noch moralisch sein soll. Der Preis fr diese strikt bipolare Fokussierung ist der Verlust einer systematischen Perspektive, die in der Lage wre, den gesamten Bereich affirmativer Bezugnahmen in den Blick zu nehmen und die internen, wechselseitigen Beziehungen zwischen den einzelnen Formen aufzuzeigen. Zudem widerspricht eine solch radikale Unterscheidung, in der keine Verbindungen mehr zwischen Selbstachtung und Selbstschtzung zugelassen sein sollen, unserer genuinen sozialen Erfahrung. Die Grenze zwischen Achten und (Wert-)Schtzen ist nicht trennscharf, sondern lßt bergnge und sogar gleichzeitige Momente zu: Man kann sich als Mensch durchaus dafr schtzen, im Vergleich mit anderen hçher entwickelten Lebewesen die Fhigkeit zu besitzen, als Person mit einer selbstbestimmten Persçnlichkeit auftreten bzw. selbstbestimmt und aus Freiheit handeln zu kçnnen. Zugleich kann man sich und andere dafr achten, gleichberechtigte Personen zu sein. In beiden Fllen schtzt und achtet man sich fr das Person-sein, allerdings nach jeweils verschiedenen Kriterien. Wenn wir es auch als eine Aufgabe von Moraltheorien betrachten, daß sie verstndlich machen sollen, wer wir als Personen sind und wie wir uns zu verstehen haben, dann scheint es angesichts einer reichhaltigen Erfahrung mit sozialen Praktiken des Achtens und Schtzens wenig plausibel zu sein, auf eine radikal distinkte Unterscheidung im Bereich affirmativer Bezugnahmen zu setzen.

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3. Performative Selbstverhltnisse

(4) Eine weitere Mçglichkeit, das Verhltnis zwischen Selbstachtung und Selbstschtzung zu beschreiben, geht von einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang aus: Wie bereits angedeutet wurde, sind beide Formen der affirmativen Selbstbezugnahme exemplarisch sowohl hinsichtlich ihrer hnlichkeit als auch ihrer Verschiedenheit. Um nun die nicht unerhebliche argumentative Last zu mindern, die grundstzlich mit der Begrndung eines kausalen oder auch bloß temporalen Bedingungsgefges gemß (1) und (2) verbunden ist, bietet es sich an, gnzlich auf Erklrungen zu verzichten, die solche Bedingungen voraussetzen mssen. Damit wird der Fokus auf die Tatsache gelenkt, daß Selbstachtung und Selbstschtzung gleichermaßen in sozialen Praktiken prsent sind, eine hinreichende funktionale hnlichkeit besitzen und als Formen affirmativer Selbstbezugnahme derart aufeinander bezogen sind, daß sowohl wechselseitige Verweise als auch entsprechende Abgrenzungen aufgrund der inhrenten Verschiedenheit hervortreten. Selbstschtzung und Selbstachtung werden somit in ihrer jeweiligen Eigenstndigkeit betrachtet: Es muß nicht unbedingt eine kausale Abhngigkeit vorausgesetzt werden, weshalb Selbstschtzung nicht zwangslufig eine vorgngige Bedingung fr Selbstachtung und umgekehrt ist. Selbstachtung ist auch keine bloße Spielart oder Variante von Selbstschtzung: Selbstachtung ist ebensowenig eine ,richtige‘ Form der Selbstschtzung wie diese auch nicht eine degenerierte Form der Selbstachtung ist, denn beide Formen der affirmativen bzw. moralischen Selbstbezugnahme sind in funktionaler wie kategorialer Hinsicht eigenstndig. Als minimale Voraussetzung gilt fr dieses Beschreibungs- und Begrndungsmodell lediglich ein angenommener wechselseitiger Verweisungszusammenhang zwischen Selbstachtung und Selbstschtzung, der im folgenden als zunchst deskriptive Argumentationsperspektive eingefhrt wird. Angesichts der ursprnglichen Problematik, wonach mit der von Kant vorgelegten Deskription von Selbstachtung zugleich auch deren normativer Anspruch zweifelhaft geworden war, erfolgt damit der Versuch, in einer anders strukturierten Deskription den ,Boden‘ fr eine modifizierte normative Argumentationsperspektive zu sichern. Wenn Selbstachtung und Selbstschtzung als verschiedene Formen affirmativer Selbstbezugnahme jeweils nicht aufeinander reduzierbar sind und sich erhebliche Schwierigkeiten bei der Begrndung von temporalen oder kausalen Bedingungsverhltnissen ergeben, dann kçnnte ein Blick auf die internen Verweisungsbeziehungen dazu beitragen, die Entstehung bzw. den ,Ort‘ eines moralischen Selbstverstndnisses genauer zu bestimmen.

3.3 Das Verhltnis von Selbstachtung und Selbstschtzung

227

Mit dem Versuch, Selbstachtung wie auch die anderen Formen affirmativer Selbstbezugnahme entgegen einer gewissen ,Tradition‘ nicht durchgngig von ihrer Negativseite, also von Demtigung, Verletzung oder gar Verlust her zu bestimmen, sondern nach den Voraussetzungen fr eine gelungene Hinwendung zum eigenen Selbst zu fragen, hoffe ich, eine integrative Antwort auf einige Schwierigkeiten in der Bestimmung des Verhltnisses von Selbstachtung zu anderen Selbstaffirmationen geben zu kçnnen. Denn diese Schwierigkeiten sind insofern nicht unbegrndet, als die Bestimmung einer normativ verbindlichen Selbstachtung offensichtlich vor einem Problem steht, welches aus der besonderen Struktur dieses Konzepts resultiert. Whrend bei der Einschtzung der eigenen Kompetenzen und Fhigkeiten in einem sozialen Kontext eine relationale und zudem intersubjektiv vermittelte Zuordnung erfolgt, die von „zu gering“ ber „angemessen“ bis hin zu „unangemessen“ reicht, ist bei Selbstachtung nur die Mçglichkeit gegeben, entweder deren Vorhandensein oder deren Fehlen zu konstatieren. Bereits die Semantik von Achtung konterkariert somit das Bemhen, analog zu relationalen Maßstben der Wertschtzung eine graduelle Bestimmung dafr angeben zu wollen, was genau eine angemessene (normierte, standardisierte) Selbstachtung eigentlich ist.320 Bevor also entlang einer kantischen Konzeption Selbstachtung als subjektiver und objektiver Verpflichtungsgrund begrndet werden kann, ist zu zeigen, wie sich der Zusammenhang zwischen Selbstachtung und anderen Selbstaffirmationen so beschreiben lßt, daß Selbstachtung darin als ausdrcklich moralische Selbstbezugnahme zum Vorschein kommt.

320 Dazu grundlegend Sachs (1981), 346 ff. Aus diesem Grund gehen viele Anstze zunchst von einem intakten und idealtypisch vorgestellten, jedoch teils vage bestimmten Selbstachtungsverhltnis aus, um dann dessen Depravation zu erçrtern; siehe dazu v. a. die bersicht bei Dillon (1992). Letztlich geht diese ,Tradition‘ auf Kant selbst zurck, der etwa in der Metaphysik der Sitten mit den Bemerkungen zum Suizid, zur Selbstbefriedigung oder zur Unterwrfigkeit die Selbstverleugnung von Personen skizziert, die bereits gewußt haben mssen, was ,sie sich schuldig sind‘ und ,wider bessere Einsicht‘ ihre Person ,weggeworfen‘ haben. Mit dem hier zu entwickelnden Ansatz lassen sich eventuell einige der Probleme, wie sie etwa im Zusammenhang mit dem paradox of humiliation auftreten (vgl. Margalit (1998), 115 – 129), wenn nicht lçsen, so doch differenzierter erçrtern.

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3. Performative Selbstverhltnisse

3.4 Der Umgang mit anderen als Umgang mit sich selbst Unter einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang verstehe ich die Struktur von funktionalen Beziehungen zwischen den affirmativen Bezugnahmen, die in Abschnitt 3.2 bereits ansatzweise herausgearbeitet wurden. Fr die relationale Bezugnahme der Selbstschtzung gilt demnach, daß diese nicht ohne eine Vermittlung ber die anerkennende Wertschtzung durch andere auskommt und sich deshalb nach intersubjektiv gltigen Maßstben bemißt. Somit ist die Art und Weise der individuellen Selbstwertschtzung nicht losgelçst von einem sozial-konventionellen Kontext zu verstehen, in welchem bestimmte Maßstbe besttigt oder auch in Frage gestellt bzw. in ihrer Gltigkeit bezweifelt werden kçnnen. Die Wertschtzung seiner selbst ist in hohem Maße auf den Umgang mit anderen angewiesen und erhlt ihre jeweils angemessene Rechtfertigung erst in Bezug auf situativ bzw. rollenspezifisch bedingte und interpersonal vergleichbare Fhigkeiten oder Fertigkeiten. Insofern kann man sich etwa selbst dafr wertschtzen, als Schachspieler ein guter Schachspieler im Vergleich mit anderen Schachspielern zu sein, nicht jedoch fr die Tatsache, ein Schachspieler zu sein und sich darin fr besser als etwa einen Fußballspieler zu halten.321 Der relationale Vergleich beruht auf bestimmten kategorialen Zuordnungen, die eine Vergleichbarkeit erst ermçglichen. Fr die Selbstachtung, die vor allem auf die eigene Persçnlichkeit bezogen ist, scheint zunchst ausschließlich die Beschreibung vom ,Umgang mit sich selbst‘ zutreffend zu sein. Denn viel strker als bei der Wertschtzung eigener Fhigkeiten tritt hier die Selbstbezogenheit als individuelle reflexive Haltung hervor. Um beim Spiel-Beispiel zu bleiben, kçnnte man sagen: Als Person hat man sich dafr zu achten, daß man das prinzipielle Vermçgen besitzt, in selbstbestimmter Weise als Schachspieler oder als Fußballspieler oder in welcher sozialen Rolle auch immer auftreten zu kçnnen. Das Person-sein ist keine Rolle neben oder unter anderen Rollen, sondern die konstitutive Bedingung fr die bernahme einer Rolle. Somit begreift man sich im Vollzug seiner Handlungen als jemand, der selbstbestimmt und aus Freiheit handeln kann, woraus bestimmte 321 Auf einer anderen Ebene kçnnen jedoch z. B. Eltern sehr wohl einschtzen, ob es fr ihren Nachwuchs besser ist, wenn sie in ihrer Freizeit Schach oder Fußball spielen. Der Vergleich bezieht sich dann aber nicht auf das Schach- oder Fußballspielen als solches, sondern auf den Zweck der sinnvollen Fçrderung von bestimmten Talenten, die Kinder mitbringen.

3.4 Der Umgang mit anderen als Umgang mit sich selbst

229

normative Verbindlichkeiten resultieren.322 Ein offensichtlicher Fehler im eigenen Handlungsverstndnis wre es demnach, sich als einen (womçglich guten) Schachspieler wertzuschtzen, diese Fertigkeit aber zugleich als ausschließliche Grundlage der eigenen persçnlichen Identitt zu begreifen, denn damit verkennt man die Voraussetzung des Schachspieler-seins und identifiziert ein partikulares Rollenverstndnis mit der prinzipiellen ,Rollenpotentialitt‘. Diese Achtung fr sich selbst als eine selbstbestimmt handelnde Person ist nicht-graduell und daher auch unabhngig von der grundstzlich referentiellen Struktur der Selbstschtzung: Indem man sich dafr achtet, daß man in seinem Person-sein ein selbstbestimmtes Handeln als Schachspieler initiiert, muß noch keine Wertschtzung dafr vorliegen, wie vergleichsweise gut oder schlecht man als ein solcher Schachspieler ist. Aber als Schachspieler zu agieren, impliziert neben der konstitutiven Selbstwahrnehmung des Schachspieler-seins zudem die qualitative Selbstwahrnehmung des eigenen Schachspielens im Vergleich mit anderen Schachspielern. Handlungen, fr die man sich wertschtzt, weisen also per se einen referentiellen Bezug auf, denn selbst der einsame Bergsteiger hat als Bezugspunkt seiner Selbstbewertung entweder die Art der bisherigen Begehungen (noch nie zuvor, noch nie in dieser Zeit, als nunmehr Jngster/ ltester etc.) oder zumindest den Anspruch der sozial erwarteten ,Vollstndigkeit‘ einer Handlung, nmlich bis zum Gipfel zu gelangen (im Gegensatz zum Abbruch des Aufstiegs vor Erreichen dieses Ziels). Auch die Achtung fr sich selbst kann nun nicht als eine rein solipsistische Selbstbezogenheit gedacht werden, da es zur Bestimmung von Selbstachtung gehçrt, daß man sich darin als prinzipiell Gleicher unter Gleichen versteht. Und um sich als eine gleichberechtigte Person unter anderen verstehen zu kçnnen, bedarf es des tatschlichen Vollzugs von eigenen selbstbestimmten Handlungen aus Freiheit, die damit zugleich den performativen Charakter des Verweisungszusammenhangs aufzeigen: Weil so gut wie allen Handlungen einerseits das Moment der Achtung fr den Eigenwert der handelnden Person und andererseits das Moment der je spezifischen Bewertung und Einschtzung zukommt, stehen sowohl die Achtung fr andere und fr sich selbst als auch die Wertschtzung fr andere 322 Arendt (2003) scheint in einer hnlichen Weise moralisches Verhalten von einem „intercourse of man with himself“ (67) abhngig zu machen, betont aber ausgehend von Sokrates und Platon den solitren Aspekt der Selbstbezugnahme (vgl. v. a. 89 ff., hier 90: „[A]s I am my own partner when I am thinking, I am my own witness when I am acting.“), woraus dann das spezifische Konzept der solitude als „[t]he mode of existence present in [a] silent dialogue of myself with myself“ (98) hervorgeht.

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3. Performative Selbstverhltnisse

und sich selbst in einer dynamischen Spannung zueinander. Durch die Gleichzeitigkeit beider Momente muß nicht mehr bestimmt werden, ob das wertschtzende Moment dem achtenden Moment vorausgeht oder umgekehrt – fr die Konstitution des wechselseitigen Verweisungszusammenhangs ist lediglich entscheidend, daß Handlungen performativ in Gestalt sozialer Praktiken vollzogen werden und beide Momente in sich vereinen. Ein Umgang mit sich selbst als affirmative Selbstbezugnahme ist somit immer auf den Umgang mit anderen angewiesen, denn man kann sich nicht selbst fr etwas schtzen oder achten, so lange man nicht tatschlich handelt und sich darber vermittelt auf andere Personen bezieht. Erst die Mitmenschen in einer sozialen Gemeinschaft sind es, die im Umgang mit einem selbst Wertschtzung oder Achtung ausdrcken kçnnen, die man dann einfordern, annehmen, aber eben auch zurckweisen kann. Umgekehrt ist demzufolge der Umgang mit anderen ebenso abhngig von einem gelingenden Umgang einer jeden Person mit sich selbst: Es ist nicht nur verwirrend, sondern geradezu auch psychisch problematisch, wenn jemand eine einzelne beliebige Fhigkeit zu dem persçnlichen Identittsmerkmal macht und sein Selbstverstndnis ausschließlich aus der gewhrten oder eingeforderten Wertschtzung seiner Mitmenschen beziehen mçchte. Man wrde dann sagen, daß so jemand noch nicht begriffen hat, wovon die Ausbung dieser beliebigen Fhigkeit eigentlich noch abhngt, nmlich davon, sich als ein selbstbestimmt und aus Freiheit Handelnder zu verstehen. Sollte derjenige noch nicht eingesehen haben, daß man zwar fr unterschiedlichste Handlungen wertgeschtzt werden kann, aber zugleich immer auch als ein Handelnder geachtet werden sollte, dann wird man auf andere Handlungen verweisen, in denen er diesen Zusammenhang erfahren kann.323 Und auch jemandem, der sich als selbstbestimmt Handelnder verstehen mag, aber all seine Handlungen fr wertlos hlt, werden wir 323 Dieses Verweisen impliziert dabei einen Anspruch, dessen Einlçsung nicht garantiert ist: Denn das Verstehen und die Mçglichkeit, einen solchen Verweis auf sich beziehen zu kçnnen, sind von der Ansprechbarkeit des Gegenbers fr den Verweis auf eine solche Erfahrung abhngig. Die hier vorgeschlagene Deskription eines intersubjektivistischen Ansatzes, der die Beziehungen zwischen Personen betont, kann jedoch zumindest den Hintergrund konturieren, vor dem persçnliche Bezugnahmen berhaupt erst stattfinden. In diesem Kontext stellt sich dann u. a. auch die Frage nach der Kontroverse um die Unterscheidung zwischen agent-relative und agent-neutral values sowie deren Verbindung zu Selbstverhltnissen, auf die an dieser Stelle nicht nher eingegangen werden kann (siehe dazu ausfhrlich Korsgaard (1993).

3.4 Der Umgang mit anderen als Umgang mit sich selbst

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sagen, daß eine vermeintlich freiheitliche Selbstbestimmung ins Leere laufen muß, wenn sie sich in ihrem Handlungsvollzug nicht auf einen lebensweltlichen Kontext sozialer Gemeinschaften beziehen kann. Die Wechselseitigkeit des Verweisungszusammenhangs betrachte ich hier als ,gleichwertig‘, weil beide Formen affirmativer (Selbst-)Bezugnahme jeweils komplementre Momente in Handlungsvollzgen darstellen.324 Dabei ist zwar klar, daß dem grundlegenden personalen Selbstverstndnis ein gewisser Vorrang zukommen muß, allerdings gewinnt dieser m. E. nur hinsichtlich der analytischen Begrndung von affirmativen Selbstverhltnissen an Relevanz. Fr die Bearbeitung des Problems, wie man zu einem moralischen Selbstverstndnis kommen kann, ist daher vor allem die heuristische Funktion des wechselseitigen Verweisungszusammenhangs bedeutsam: Wenn sich im performativen Vollzug von Handlungen erkennen und erfahrbar machen lßt, wie das Verhltnis zwischen Wertschtzung und Achtung fr sich selbst und andere beschaffen ist, dann kçnnte anhand bestimmter exemplarischer Handlungsvollzge verdeutlicht werden, auf welche Weise und in welcher wechselseitigen Bezglichkeit ein normativ gehaltvolles, moralisches Selbstverstndnis als Voraussetzung fr Selbstachtung entsteht. Darber hinaus bringt der wechselseitige Verweis aber bereits eine gewisse Verbindlichkeit mit sich: Wenn die beiden Momente affirmativer Bezugnahmen derart aufeinander verweisen, daß die eine Perspektive nicht sinnvoll ohne die andere Perspektive zu vertreten ist, dann liegen hier zugleich die ersten Argumente bereit, um einen mçglichen performativen Selbstwiderspruch in hand-

324 Demgegenber hat Sachs (1982) zwar die Bedeutung der individual agency hervorgehoben („The salient notion, alike for self-respect and respect for others, is that of individual agency; and any self-imposed serious limitation on one’s agency, in the absence of good cause for it, constitutes a fundamental failing in self-respect.“ – 122), meint darber hinaus aber, daß es einerseits nicht mçglich sei, andere zu achten, ohne sich selbst zu achten, andererseits aber sehr wohl die Mçglichkeit bestnde, sich (in totaler Weise) selbst zu achten und dabei andere Personen nicht zu achten. Es bleibt hier allerdings unklar, wie eine Person sich selbst fr etwas achten kçnnen soll (in diesem Fall die von Sachs prononcierte individual agency, die auf die eigenen Wnsche Rcksicht nimmt), was sie bei anderen Personen mit der Verweigerung einer Achtungsbeziehung unbercksichtigt lßt. Sachs’ monster of agency mßte zunchst berzeugend darlegen, mit welchen Grnden es seine eigenen Wnsche (wishes) fr beachtenswert hlt, diejenigen der anderen Personen hingegen nicht. Denn hinsichtlich der Fhigkeit, selbstbestimmt zu handeln und sich Zwecke setzen zu kçnnen, besteht keine ausschließliche individuelle Vorrangstellung, da dies als einer allgemeinen Fhigkeit allen Personen zukommt.

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3. Performative Selbstverhltnisse

lungstheoretischer Absicht konturieren zu kçnnen – eine Aufgabe, die ich im Rahmen dieser Untersuchung lediglich andeuten kann. Um diese beiden Funktionen des wechselseitigen Verweisungszusammenhangs von (Selbst-)Achtung und (Selbst-)Wertschtzung anschaulich beschreiben zu kçnnen, werde ich abschließend Spiele als exemplarischen Handlungsvollzug und innerhalb dieser Kategorie noch einmal den paradigmatischen Fall von Sportspielen vorstellen.

3.5 Der wechselseitige Verweisungszusammenhang im Kontext des Spiels Wenn im folgenden Spiele als exemplarische Handlungsvollzge behandelt werden, dann darf diese Rede vom Spiel mit den entsprechenden Regeln, Vorschriften und Konventionen keineswegs berstrapaziert werden, sondern sie soll zunchst lediglich in deskriptiver bzw. heuristischer Funktion den wechselseitigen Verweisungszusammenhangs veranschaulichen. Schließlich ist das menschliche Leben in seiner den gesamten Lebensbereich betreffenden konstitutiven Verfaßtheit eben gerade nicht als ein bloßes Spiel zu begreifen oder in einer durchgngigen Analogie mit diesem zu vergleichen. Aber der Vergleich von Spiel und menschlicher Lebenswirklichkeit ist berechtigt, weil Spiele zu unserer kulturellen Praxis gehçren, die wiederum ein wesentliches Element menschlichen Selbstverstndnisses ist. Der direkte Vergleich von bestimmten Spielregeln mit anderen praxiskonstituierenden bzw. moralischen Regeln und Normen ist daher zwar nicht zu erzwingen. Allerdings lassen sich in bestimmten Spielen unabhngig von den je spezifischen Spielregeln gerade die praxiskonstituierenden und sogar moralischen Regeln wiederfinden, um die es hier geht. Spiele werden also in diesem Zusammenhang insofern behandelt, als sich in ihnen selbstbestimmte Handlungen vollziehen und sich eine Achtung sowohl fr die eigene wie auch fr andere Personen im Wechselspiel mit Wertschtzungsverhltnissen ausdrckt. Grundstzlich stellt sich die Frage: Was sind Spiele eigentlich? Die von Wittgenstein eingefhrte Beschreibung des Sprachspiels ermçglicht es, den Begriff des Spiels zunchst auf einer allgemeinen Ebene zu erfassen und in einen vermittelnden Zusammenhang mit regelfolgendem Handeln zu bringen. In den Philosophischen Untersuchungen werden Spiele in ihrer mannigfaltigen Verschiedenartigkeit wie auch in ihren Gemeinsamkeiten mit dem Konzept der Familienhnlichkeit charakterisiert. Spiele lassen sich

3.5 Der wechselseitige Verweisungszusammenhang im Kontext des Spiels

233

als Spiele nicht eindeutig definieren, sondern werden blicherweise hinweisend in ihrem (Spiel-)Verlauf beschrieben: Dieses eine (konkrete) Spiel und hnliche andere Spiele reprsentieren dann das, was zur Vorstellung des Spiels gehçrt. Ein einzelnes Spiel ist somit ein exemplarischer Fall dieser Vorstellung, wobei die hnlichkeit zwischen den Spielen keine offensichtliche parallele bereinstimmung aufweist, da sich nicht alle Spiele in allen Merkmalen hnlich sein mssen. Vielmehr fhrt die Vorstellung von einer Verwandtschaft auf das Prinzip der anschaulichen Reihe als eine bersichtliche Darstellung, bei der im Durchgehen dieser Reihe ber entsprechende Zwischenglieder die hnlichkeit von zunchst sehr unhnlich erscheinenden Dingen erschlossen werden kann.325 Einige Spiele sind zudem in einem strkeren Maße exemplarisch als andere, je weiter die verwandtschaftliche Reihung fortschreitet, um so ,verschwommener‘ werden die hnlichkeiten. Ihre exemplifizierende Funktion kann dabei durchaus erhalten bleiben, denn es kommt vor allem darauf an, in welcher Hinsicht ein einzelnes Spiel als ein Reprsentant der Vorstellung Spiel begriffen wird.326 Darber hinaus gibt es Definitionen, mit denen Spiele gemß ihren Merkmalen charakterisiert werden kçnnen:327 So sind Spiele ihrem Wesen nach zwecklos, d. h. es handelt sich hierbei um eine Ttigkeit, die um ihrer selbst willen vollfhrt wird. Damit richten sich Spiele nicht auf einen ußerlichen, außerhalb des Spielvollzugs liegenden Zweck, fr dessen Erreichung sie ein bloßes Mittel sind, sondern das Spielen eines Spiels ist ein Zweck an sich. Spiele sind außerdem, im Gegensatz zum alltglichen Leben, in dessen Kontext sie eingebettet sind, nicht-ernst. Diese Bestimmung trifft zwar auf das Verhltnis von Spiel und ,Wirklichkeit‘ zu, aber natrlich werden Spiele als solche durchaus ernst genommen: Ein Spiel kann nur dann wirklich als ein Spiel gespielt werden, wenn man als Spieler das Spiel in seiner Konstitution, seinen Regeln bzw. Konventionen, seinem Verlauf und schließlich auch seinen Konsequenzen wirklich ernst nimmt. So 325 Beispiel: Ein rotes Quadrat und ein grner Ball sind sich weder hinsichtlich der Form noch der Farbe hnlich; indem ein grnes Quadrat als Zwischenglied eingefgt wird, ist die hnlichkeit im Zusammenhang der Reihe ersichtlich. 326 Vgl. dazu Wittgenstein (1999), 276–287, Goodman (1998), 59–65, sowie grundlegend Gabriel (1997), 42 ff. Im Bereich der Sportphilosophie kritisiert Drexel (2004) die modellistische Regelform und stellt ihr die originalistische Regelauffassung Wittgensteins mit handlungsimpliziten und -expliziten Regeln gegenber, die einer institutionalisierten Praxis entsprechen, in der Regel und Regelgebrauch nicht voneinander zu trennen sind. 327 Vgl. im folgenden Grupe (1998), insbes. 466 f.

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3. Performative Selbstverhltnisse

erwartet man etwa als Sportler, daß die anderen Mitspieler, gegen die man antritt und mit denen man sich messen mçchte, dieses Spiel und diesen Wettkampf auch wirklich wollen. Denn ein elementares Moment von herausfordernden Spielen besteht ja gerade in der bereitwilligen Akzeptanz der Voraussetzungen, die ein Spiel erst zu einem Spiel machen. So ist ein Sieg im Sport bedeutend weniger wert, wenn die Mitspieler das Spiel nicht ernst nehmen, die Regeln mißachten und betrgen, das Spiel vorzeitig abbrechen oder den anderen ,gewinnen lassen‘. Ein Spiel ist immer frei gewhlt, denn ein Spiel spielen zu kçnnen, setzt die Abwesenheit von Zwang und Nçtigung unmittelbar voraus. Als ein Mitspieler muß man sowohl dem Spiel selbst als auch den Handlungsvollzgen im Spiel aus ,freien Stcken‘ zustimmen kçnnen. Die Regeln und Konventionen sind dabei kein Zwang, sondern die konstitutive Grundlage, damit ein Spiel in einer fr alle Mitspieler einzusehenden und einzuhaltenden Weise gespielt werden kann. Dies ist jedoch dann nicht mehr gegeben, wenn die Regeln des Spiels so strikt und beschrnkend sind, daß entweder einzelne Mitspieler aufgrund ihrer individuellen Konstitution das Spiel gar nicht adquat spielen kçnnen oder der Handlungsvollzug des Spiels in gravierender Weise die Fhigkeit gefhrdet, berhaupt Spiele spielen zu kçnnen. Ein Spiel ist zudem ,existentiell‘, d. h. es steht fr die nicht austauschbare Erfahrung besonderen Seins, autonome Ttigkeit und die Tatsache, daß sich der Spielende selbst als die Ursache seiner Handlungen erfhrt.328 Somit ist das Spiel auch eine Form menschlicher Selbstvergegenwrtigung. Dieser Aspekt ist zentral fr die performative Struktur von Handlungsvollzgen im Spiel: Der Vollzug eines Spieles lebt davon, daß die beteiligten Mitspieler sich tatschlich als Teilnehmende am Spiel begreifen und sich ihres eigenen personalen ,Beitrags‘ nachhaltig bewußt sind. Das Spiel ist damit dem Gegenwrtigen, dem Augenblicklichen verbunden. Und schließlich werden Spiele als nicht notwendig verstanden. Eine Einschrnkung, fr die ein hnlicher Vorbehalt gilt wie hinsichtlich der Nicht-Ernsthaftigkeit von Spielen: Natrlich sind Spiele lßlich, sofern sie als bloßer Zeitvertreib und nicht ,das wirkliche Leben‘ betreffende Ttigkeit angesehen werden. Aber Spiele gehçren selbstverstndlich zu unseren sozialen Praktiken und erfllen dort eine wichtige Funktion, nmlich die Vergegenwrtigung und auch spielerische ,Erprobung‘ kommunikati328 Auf diese psycho-physische Erfahrung bezieht sich die exemplarische Eigenleistung, die Lenk (1997), bes. 152 ff., als charakteristisch fr den Sport hervorhebt.

3.5 Der wechselseitige Verweisungszusammenhang im Kontext des Spiels

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ven und konkreten Handelns. Daher sind Spiele durchaus sinnvoll und sogar notwendig.329 Mit Blick auf die hier herausgestellten Merkmale, daß Spiele zwecklos, nicht-ernst, frei gewhlt, existentiell, gegenwrtig und nicht-notwendig sind, erweisen sich fr den Aufweis des Exemplarischen an Spielen nun diejenigen Bestimmungen als relevant, die zugleich allgemein charakteristisch fr selbstbestimmtes Handeln aus Freiheit sind: Dazu zhlen die freie Entscheidung und Zustimmung zu Handlungen sowie die bewußt autonome und als solche auch vergegenwrtigte Ttigkeit. Ergnzen lassen sich das ernsthafte und konsequente Wollen im Selbstverstndnis eines Handelnden sowie die bedingte Notwendigkeit bestimmter Handlungen. Letzteres vor allem deshalb, weil es im Spiel wie im Leben nicht nur auf ein Agieren, sondern auch auf ein angemessenes Reagieren ankommt. Offensichtlich lassen sich die genannten Merkmale gut auf den Bereich des Sports beziehen, zumal Sportspiele als paradigmatische Verlaufsformen von Spielen gelten kçnnen. Das Paradigmatische von Sportspielen ist dabei nicht auf die spielstrukturierende Verfahrensweise beschrnkt, sondern es verweist weitergehend in umfassender Weise auf das Verhalten derjenigen, die solche Spiele ausfhren. Genauer gesagt gibt es einen Zusammenhang zwischen Spiel und Leben, der ber das Spiel selbst hinausweist. Insofern die Moral des Sports inzwischen ein eigens etablierter Bereich der Sportphilosophie geworden ist, konzentriert man sich auch hier nicht nur auf die Frage, welche moralische Dimension innerhalb des Sports maßgeblich ist, sondern thematisiert auch, inwiefern das Verhalten im Spiel als Ausdruck moralischen Handelns und damit eines normativen Gesellschaftsgefges zu verstehen ist.330 Sportspiele sind folglich sowohl paradigmatische als auch exemplarische Flle: Als Spiele haben Sportspiele einen paradigmatischen Charakter hinsichtlich zahlreicher weiterer Ttigkeiten, die ebenfalls als Spiele bezeichnet werden kçnnen. Ein Sportspiel ist zudem ein exemplarischer Fall, denn es ,verkçrpert‘ als ein Einzelfall die allgemeine 329 Obwohl Spiele also nicht unbedingt gespielt werden mssen, gehçren sie unmittelbar zu unserem Mensch-sein dazu. Der Mensch muß damit nicht gleich als ein homo ludens verstanden werden, dessen gesamte kulturelle und soziale Praxis auf dem konstitutiven Element des Spiels aufruht. Allerdings zeichnet sich der Mensch, wie brigens auch einige Nicht-Hominiden, u. a. durch die Fhigkeit aus, seine tatschlich (lebens-)notwendigen Handlungen in der Frsorge um seine eigene physische und psychische bzw. intelligible Erhaltung spielerisch vorwegnehmen, bestndig einben und damit weiterentwickeln zu kçnnen. 330 Dazu grundlegend Boxill (2003b); Gerhardt (1997); Albrecht (2006), bes. 223–234.

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3. Performative Selbstverhltnisse

und abstrahierende Vorstellung von einem Spiel in seiner begrifflichen Bestimmung. Werden Sportspiele in ein Verhltnis zum gesellschaftlichen Kontext gebracht, in welchem sie als Spiele stattfinden, lassen sie sich zudem als exemplarische Flle sozialen Handelns verstehen, insofern das Geschehen im Spiel als eine prgnante und dramatisierte Vorfhrung menschlicher Handlungsvollzge begriffen wird. Paradigmatisch – im positiven wie auch negativen Sinne – kçnnen Spiele dieser Art werden, wenn sie als ein Abbild bzw. als ,Mikrokosmos der Gesellschaft‘ in Erscheinung treten.331 Spiele kçnnen eine heuristische Funktion erfllen, indem sie der spielenden Person die Erkenntnis und Einsicht verschaffen, daß sie selbst es ist, die sich in der Ttigkeit des Spiels als Person und in einer bestimmten (Spiel-)Rolle verortet und darber zu einem Verstndnis ihrer selbst gelangt. Das Spiel bleibt dabei jedoch, was es ist – ein Regelspiel, welches in einem bestimmten Sachverhalt (Aufstellung der Spieler etc.) nicht nur das eigentliche Gewinnen zum Ziel hat, sondern auch die selbst bewirkte Ttigkeit fr den Versuch, in einem Spiel und gemß den Regeln des Spiels zu gewinnen.332 Die in einem Spiel geltenden Spielregeln sind also nicht als eine durchgngig analoge Struktur zu moralischen Vorschriften oder Maximen zu verstehen, so vielversprechend diese suggestive Vorstellung auch sein mag: In einer Analogie lassen sich nur diejenigen Aspekte miteinander vergleichen, die in beiden Bereichen, dem inszenierten Spiel und der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit, entsprechende bereinstimmungen aufweisen.333 Eine dieser wesentlichen bereinstimmungen ist in dem wechselseitigen Verweisungszusammenhang des Umgangs mit sich selbst und des Umgangs mit anderen zu sehen: Denn in einem Spiel ist es entscheidend, 331 „[S]port is a microcosm of society, it dramatizes the social order. Sport represents the social order in miniature, exhibiting a ‘slice of life’ in an exaggerated and dramatic form, much as a play dramatizes an episode from life.“ Boxill, (2003b), 1. 332 Vgl. Suits (2004b), 39 ff. Rawls (1999), 33 ff., unterscheidet mit Blick auf Spiele summary rules von practice rules, womit die Verschiedenartigkeit von Regeln, die einerseits den konstitutiven Rahmen fr diese Ttigkeit bereitstellen, andererseits einen gewissen Spielraum fr Anpassungen und Modifikationen lassen, zwar zunchst gut veranschaulicht ist, aber damit nicht umstandslos auf moralische Rechtfertigungen bertragen werden kann. Dieser Vorbehalt gilt auch fr die mit Blick auf (Sprach-)Spiele hilfreiche Unterscheidung von Searle (1983) in regulative und konstitutive Regeln (54–60). 333 Damit sind alle weiteren Merkmale und Eigenschaften, die zu jeweils einem der Bereiche gehçren, nicht per se unbedeutend, sondern lediglich in dieser vergleichenden Hinsicht nicht miteinander in Beziehung zu setzen.

3.5 Der wechselseitige Verweisungszusammenhang im Kontext des Spiels

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sowohl als individueller Mitspieler mit einem bestimmten Selbstverstndnis aufzutreten als auch ein Mitspieler im direkten Kontakt mit anderen Mitspielern sein zu kçnnen. Eine beispielhafte und dramatisch zugespitzte Situation ist dabei die Herausforderung im sportlichen Wettkampf. Die wechselseitige Herausforderung ermçglicht es erst, nach berragenden Leistungen zu streben.334 Im Wettkampf besteht eine Konkurrenzsituation, in der die Mitspieler versuchen, im physischen wie mentalen Vergleich den anderen gegnerischen Spielern berlegen zu sein. Die Wettkampfteilnehmer gehen somit zwar von gleichen und in Form von Regeln normierten Voraussetzungen aus, streben jedoch hinsichtlich des zu erreichenden Ziels jeweils ein individuelles Ergebnis, nmlich das eigene Gewinnen an. Wenn das Gewinnen ein Ziel ist, um dessentwillen das Spiel gespielt und der Wettkampf angenommen wird, dann fallen in der Konkurrenz die Perspektiven der einzelnen Teilnehmer zunchst notwendig auseinander. Allerdings entspricht der Vollzug von sportlichen Spielen als ein bloßes Mittel zum Zweck offensichtlich nicht den intuitiven Vorstellungen davon, was Sport im eigentlichen Sinn sein sollte und welche Grnde man haben kann, sich im sportlichen Wettkampf zu messen. Falls es einem Wettkampfteilnehmer etwa ausschließlich darum geht, ein hohes Preisgeld zu gewinnen, muß er sich die Frage gefallen lassen, weshalb er sich eigentlich den Regeln eines Spiels unterwerfen muß, um dieses Ziel zu erreichen, denn schließlich gibt es genug alternative und vor allem nichtrestriktive Mçglichkeiten, an eine bestimmte Summe Geldes zu kommen.335 Es scheint daher berzeugender zu sein, den sportlichen Wettkampf sowohl als eine Konkurrenzsituation als auch als eine Kooperation mit den anderen Wettkampfteilnehmern zu betrachten. Denn ein Wettkampf ist nicht mçglich ohne die Bereitschaft, sich als Teilnehmer in einem Wettkampf gemß den Regeln des Spiels herausfordern zu lassen. Ein Sportler ist im Wettkampf auf die anderen Sportler als Partner angewiesen, wobei 334 Siehe im folgenden auch Boxill (2003a). Ich verdanke Jan Boxill zudem aufschlußreiche Gesprche zu diesem Thema. 335 Deshalb entsteht beim Profisport wie dem Fußball, der im Fokus einer außerordentlichen Vermarktung steht, ein sportethisches Problem, da Profisportler zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes auf das erfolgreiche Bestehen von Konkurrenzsituationen angewiesen sind, die Motivation des Gewinnes allerdings bei entsprechenden Spieler-Gehltern auf einen Zweck außerhalb des Sports gerichtet ist. Hieraus erwchst die Gefahr, daß Spielregeln bzw. der Spielverlauf durch bestimmte Maßnahmen beeinflußt werden, um das Erreichen dieses Ziels ,um jeden Preis‘ zu gewhrleisten.

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3. Performative Selbstverhltnisse

der Verlauf des Wettkampfs nicht von dessen Ergebnis zu trennen ist. Nur sofern sich alle Teilnehmenden darauf verstndigen, sich in einem Spiel durch ihr bewußtes Selbstverstndnis als Mitspieler allen anderen Mitspielern gegenber entsprechend zu verhalten, ist der Wettkampf eine Herausforderung, die ihren Zweck in sich selbst hat.336 Der Umgang, den der einzelne Mitspieler mit sich selbst hat, indem er sich als Mitspieler begreift, verweist unmittelbar auf den Umgang mit den anderen Mitspielern und ist deshalb wechselseitig, weil die Haltung jedes einzelnen Sportlers der Garant fr ein gelingendes Spiel ist und der Vollzug eines jeden Spiels in der Interaktion und Kooperation mit den anderen die Mçglichkeit der performativen Besttigung der eigenen Haltung gewhrleistet.337 Im Wettkampf schließen sich Konkurrenz und Kooperation daher nicht aus, sondern sind komplementre Bestandteile eines Gesamtprozesses, in dem die Bewhrung der eigenen Fhigkeiten im Vergleich mit anderen unter der Voraussetzung gleicher und fairer Spielbedingungen erreicht wird. Ein ,gut gespieltes Spiel‘ zeichnet sich durch den Willen aller Spielteilnehmer aus, innerhalb eines verbindlichen konstitutiven Rahmens nach Mçglichkeit ,ihr Bestes zu geben‘, sich im Spielverlauf als Mitspieler zu messen und sich dabei als Personen zu achten. Das Ergebnis eines Wettkampfes ist schwer zu prognostizieren, aber unabhngig von Sieg oder Niederlage gilt in einem fr uns auch in ethischer Hinsicht akzeptablen Spiel der Grundsatz: Egal, wer gewinnt – die Verortung der eigenen, nach 336 Daß nicht jede Person konditionell dazu in der Lage ist, etwa einen IronmanWettkampf durchzustehen, wirkt sich nicht als eine Restriktion im Sinne einer Mißachtung der Nicht-Teilnehmenden aus. Das sportliche Krftemessen hat per se seinen Zweck in sich selbst. Wir wrden es aus diesem Grund auch kritisieren, wenn ein Sportler den Eindruck erweckte, er sei darin, daß er den Wettkampf bestreiten kann, in einer generellen Hinsicht besser als die ,Unsportlichen‘. Die Teilnehmer eines Wettkampfs kçnnen sich zudem nur innerhalb des Spiels vergleichend herausfordern, wobei wiederum der Eindruck zu vermeiden ist, der Sieger eines solchen Wettkampfs sei in genereller Hinsicht (als Person) besser als die Unterlegenen. Darber hinaus kann man sich aber selbst als Teilnehmer in seinem Person-sein mißachten, wenn man sich durch eine solche extreme sportliche Bettigung einer Gefhrdung aussetzt, die sptere Handlungsvollzge in absehbarer Weise beschrnkt oder gar unmçglich macht. 337 Den scheinbaren Widerspruch von Konkurrenz und Kooperation lçst Suits (2004a), indem er bei Spielen nicht von konfligierenden Intentionen ausgeht, sondern Spiele als intendierte Konflikte begreift, die als spielerische Auseinandersetzung von den Spielenden tatschlich gewollt sind. Somit ist die Niederlage im Spiel ebenso wie der Sieg etwas Erreichtes und nicht mit dem Verlust vergleichbar, der meistens mit dem Austragen ,wirklicher‘ Konflikte verbunden ist.

3.5 Der wechselseitige Verweisungszusammenhang im Kontext des Spiels

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besten Krften erbrachten Leistung innerhalb einer sich im Wettkampf messenden Spielergruppe ist eine relative Einschtzung mit ausschließlicher Geltung innerhalb des Spiels, wohingegen die Achtung bzw. der Respekt gegenber allen Spielteilnehmern eine kategoriale Anerkennung des Personseins ist. Ein Sportler kann kein guter Sportler sein, wenn ihm die Vergleichsmçglichkeit mit anderen Sportlern in einem fairen Wettstreit fehlt; ein (vielleicht sonst guter) Sportler verleugnet diese implizite Notwendigkeit, wenn er meint, sich den Sieg in einer Wettkampfsituation mit betrgerischen und damit ungleichen Mitteln verschaffen zu mssen, da er auf diese Weise nicht nur hinsichtlich seiner kooperierenden Konkurrenten, sondern auch bezglich seiner selbst den Grundsatz eines gleichberechtigten Umgangs verletzt.338 Die Form des wechselseitigen Verweisungszusammenhanges, die im Sport und anderen Spielsituationen die bewußte Selbstwahrnehmung des einzelnen Spielers wie auch den Umgang mit seinen Mitspielern strukturiert, findet eine Entsprechung in selbstbestimmten Handlungen innerhalb einer sozialen Gemeinschaft. Selbstverstndlich kann und soll im gesellschaftlichen Kontext der Gedanke des Wettkampfs nicht in der Weise ausgeprgt sein, wie dies paradigmatisch fr den Sport ist. Im sozialen oder gesellschaftlichen Rahmen mag es aber dennoch eine Entsprechung fr die Funktion geben, die der Wettkampf im Sport erfllt. Sie ist uns in dem vertraut, was wir als persçnliche Herausforderung beschreiben kçnnten. Diese begriffliche Beschreibung enthlt zwei Elemente: Zum einen ist es eine Person, eine Persçnlichkeit, die sich gefordert und von einer sozialen Umgebung angesprochen fhlt. Zum anderen besteht eine Herausforderung, ein Anspruch auf Bewhrung, der sowohl von der Person selbst als auch im Umgang mit anderen Personen erhoben wird. In seiner Persçnlichkeit gefordert zu sein, sich selbst im Umgang mit anderen zu verstehen 338 Die destruktiven und moralisch enttuschenden Folgen des Prinzips des winning at all costs betreffen deshalb nicht nur den einzelnen Spieler und die Gruppe der Mitspieler, sondern zudem die Zuschauer von Sport- und Spielereignissen. Denn sobald es fr die Zuschauer nur noch darum geht, daß der favorisierte Sportler oder die favorisierte Mannschaft gewinnt, ohne Rcksicht darauf, wie dieser Sieg erspielt wird, dann ist die Haltung der Zuschauer der deutliche Ausdruck eines gesellschaftlichen Selbstverstndnisses. Der Dokumentarfilm Bigger, Stronger, Faster (Untertitel: Is It Still Cheating If Everyone’s Doing It?) von Christopher Bell (USA 2008) deckt diese stetig auf Superlative ausgerichtete Mentalitt anhand des Mißbrauchs von Anabolika und Steroiden im amerikanischen Profi- und Breitensport auf, der in verstçrender Verbindung zum sog. ,American Dream‘ steht.

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3. Performative Selbstverhltnisse

und das eigene Selbstverstndnis in das Verhalten anderen gegenber zu integrieren, ist eine der grundlegenden Erfahrungen des Alltags in einem Gemeinwesen – und doch nicht selbstverstndlich. Denn die Bezugnahme ist wechselseitig: Eine Person fordert sich selbst, indem sie sich als Persçnlichkeit versteht und gegenber sich selbst einen bestimmten Anspruch formuliert. Um diesen Anspruch hinsichtlich des eigenen Person-seins erheben zu kçnnen, bedarf es des Umgangs mit anderen Personen, wodurch die Erfahrung seiner selbst als ein vernnftiges Lebewesen in Gemeinschaft mit anderen vernnftigen Lebewesen ermçglicht wird. Das persçnliche Gefordertsein innerhalb einer solchen Gemeinschaft setzt wiederum ein Verstndnis seiner selbst voraus, hinsichtlich dessen ein solcher Anspruch erst formuliert werden kann. Im vergleichenden Umgang mit anderen ist eine Person in verschiedenen Rollenkontexten gefordert, so gut als mçglich zu sein, sich durch die anderen und deren Leistungen herausfordern und anspornen zu lassen. Gleichzeitig sind diese Person selbst und die anderen Personen aber unabhngig von einem relationalen Vergleich individueller Leistungen in ihrem Person-sein und damit als Verwirklichungsinstanz verschiedener Rollen zu achten. Die persçnliche Herausforderung besteht also in der verweisenden Parallelitt einer qualitativ bzw. quantitativ vergleichenden und einer kategorialen Dimension des Umgangs mit sich selbst und miteinander. So kann jemand im relationalen Vergleich etwa ein ganz passabler Schachspieler, ein miserabler Langstreckenlufer, ein durchschnittlich begabter Student sowie ein vorbildlicher Vater sein und wird (von sich und von anderen) fr jede einzelne dieser Rollenvollzge mehr oder weniger geschtzt werden. Er selbst erfhrt jedoch die Achtung seiner Person nicht als ,Quersumme‘ aller spezifischen Rollenbewertungen, sondern als Verwirklichungsinstanz dieser Rollen, in denen er sich durch den Vergleich mit anderen (im Schachspiel, beim Laufen und im Studieren) einerseits gefordert fhlen kann, andererseits (in seiner Rolle als Vater) wiederum andere Personen in dieser Rolle herausfordert. Sich selbst in einer angemessenen Weise wertzuschtzen bedeutet demnach, sowohl den Vergleich mit anderen als auch die konkreten Umstnde des Rollenvollzugs in den Blick zu nehmen und davon ausgehend ein entsprechendes Urteil ber die eigenen Fhigkeiten und Verdienste zu fllen. Sich selbst zu achten meint dann, im bewußten Vollzug selbstbestimmter Handlungen die wechselseitige Differenz von spezifischen, interpersonal vergleichbaren Rollenhandlungen und dem eigenen, unvergleichlichen Person-sein als Voraussetzung selbstbestimmten Handelns so aufrechtzuerhalten, daß die

3.6 Abschließende Betrachtung: Noch einmal Werther

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Wertschtzung fr die eigenen Leistungen nicht zum ausschließlichen Konstituens der Selbstachtung wird und diese wiederum sich nicht passiv in ihrem Person-sein gefllt und jeglicher ttigen Bewhrung ihrer Haltung und ihres Selbstverstndnisses verweigert. Wenn der wechselseitige Verweisungszusammenhang als deskriptive Argumentationsperspektive akzeptiert wird, dann kçnnen sich daraus auch Grnde ergeben, jemanden auf seine Selbstachtung hin verbindlich zu verpflichten. Das heißt, innerhalb des Verweisungszusammenhanges kann angesichts des Gestaltungsspielraums von Handlungen in sozialen Gemeinschaften ein normativer Anspruch bestehen, sich selbst sowohl um seiner selbst als auch um der anderen willen zu achten – ein Anspruch, der mitunter auch explizit gemacht werden kann. Exemplarische wechselseitige Verweisungszusammenhnge, wie wir sie etwa in Spielen vorfinden, stellen dabei einen (von mehreren mçglichen) Rahmen fr die individuelle Einsicht bereit, daß es in diesem Zusammenhang wesentlich auf das persçnliche Erkennen ankommt.

3.6 Abschließende Betrachtung: Noch einmal Werther Ob Werther mit seinem verzweifelten Suizid einer Schuldigkeit gegen sich selbst zuwidergehandelt hat, war in der vorliegenden Untersuchung nicht zu entscheiden. Nicht die Frage nach Recht oder Unrecht, Pflicht oder Pflichtverletzung bildete den Ausgangspunkt meiner berlegungen, sondern vielmehr die Ungewißheit, was es eigentlich bedeutet, sich selbst als Person in einer Weise zu verstehen, die es erlaubt, in eine Verbindlichkeit eingebunden und verpflichtet werden zu kçnnen. Bereits kurz nach Erscheinen des Werther legt der Rezensent Christian Garve hinsichtlich der Haltung Werthers sich selbst und anderen gegenber plausibel dar, daß dem jugendlichen Protagonisten etwas fehle, was er ein „allgemeines Menschengefhl“ nennt: Dies macht bei Werthern einen Theil seiner Schuld aus, dass er diese Einschrnkung und Concentration seiner ganzen großen Empfindsamkeit auf jeden kleinen Gegenstand fr ein Verdienst hlt, sich darinn mehr und mehr bt, und alles was seine Aufmerksamkeit auf mehr wichtige Objecte ziehen kçnnte, fr Zerstreuung, fr Abhaltung von dem Streben nach Vollkommenheit ansieht. Daher auch sein Stolz […]. Wenn er einsam die Natur betrachtet, so denkt er an sein Selbst nur in so ferne als er hnlichkeit damit gewahr wird; diese findet er auch in den unbetrchtlichsten Dingen […]. Tritt er aber in die menschliche Gesellschaft ein; ja so kçmmt die unendlich strkere Vorstellung seines Selbst zurck, und er empfindet nur die Un-

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3. Performative Selbstverhltnisse

terschiede, nicht mehr die hnlichkeiten der Andern, besonders je nher ihm diese Andern an Stande und ussern Vorzgen sind. Hat er einen oder wenige Menschen gefunden, die diese Schwierigkeit in sein Herz zu dringen, berwinden und ihm schtzbar werden; so huft er auf diese in seiner Einbildung alle Vollkommenheiten zusammen, die er den brigen Menschen entzieht. Er verachtet und meidet diese brigen so sehr, dass es ihm unmçglich wird, das Gute und Schtzbare, welches er bei nherer Bekanntschaft gewiss an ihnen finden wrde, zu entdecken.339

Werther schafft es also nicht, sich in seinem gesellschaftlichen Umfeld zu orientieren und einen ausgewogenen Umgang mit sich selbst und seinen Mitmenschen zu gestalten. Es wird sich wahrscheinlich niemals aufklren lassen, ob dieses Versumnis eher von Goethes Alter Ego oder der Gesellschaft ausgegangen ist, aber nach meinem Dafrhalten markiert dies auch nicht den entscheidenden Punkt. Viel wichtiger ist die Tatsache, daß Werthers Selbstachtung in dem Maße eine Beschdigung erfhrt, je mehr er sich den anderen Menschen entzieht und je weniger er in der Lage ist, anderen basalen Respekt entgegenzubringen. Er hat sich damit im NichtMenschlichen verloren, der Natur, die er in Graves Beobachtung fr sein eigentliches Sein hlt, jedoch um den Preis, daß ihm sein gesellschaftliches Selbst in allen seinen Facetten als zuwider, arm und verachtenswert erscheint. In der Figur des Werther geht letztlich die radikale und existentielle Dimension des Problems der Unterscheidung von Selbstachtung und Selbstschtzung auf: Wenn sich die bergnge verfehlen, ist man stolz geworden am eigenen Selbst und erfhrt sich darin und daraufhin plçtzlich als isoliert, es tut sich ein Abgrund der Verzweiflung auf. Mit der Unterscheidung von affirmativen und moralischen Selbstbezugnahmen sowie von Wertschtzung und Achtung im Verhltnis zu anderen Menschen haben sich, wie beschrieben, neben Kant vor allem Rousseau, die MoralSense-Theoretiker und Hamann intensiv auseinandergesetzt. Der Verlauf der Ereignisse im Werther zeigt, wie wenig verlßlich die zuflligen Umstnde und Begebenheiten mitunter sein kçnnen, wie schnell sie die Selbstsicherheit des philosophischen Arguments bertrumpfen, und wie außerordentlich plçtzlich ein Mensch aus den gesellschaftlichen Bindungen fallen kann und sich verliert. Wenn ich Garve richtig verstehe, dann bezeichnet das von ihm benannte allgemeine Menschengefhl ein Empfinden, welches die bei Werther scheinbar nicht gelingende wechselseitige Bezogenheit auf sich selbst und andere betrifft. Garve geht so weit, in der „ganzen großen Empfindsam339 Garve (1801), 27 u. 34 f.

3.6 Abschließende Betrachtung: Noch einmal Werther

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keit“ Werthers einen zurechenbaren – moralischen – Fehler zu sehen und sogar von Schuld zu sprechen. Es ist nmlich mehr als eine tautologische Spielerei, daß dieses Empfinden auch empfunden werden muß, um eine tatschliche Empfindung sein zu kçnnen. Denn die Achtung sich selbst und anderen gegenber hat gerade darin ihren wesentlichen Kern und unterscheidet sich deshalb von einem bloß formellen Prozedere. Die begriffsgeschichtlichen Erçrterungen haben gezeigt, wie sehr die Bedeutung des Achtungsbegriffs von der Wahrhaftigkeit der Empfindung gegenber einer Person abhngt, da andernfalls von einer Achtung im eigentlichen Sinn keine Rede mehr sein kann. Um diesen Unterschied verstehen, ihn auf das eigene Selbst beziehen und das allgemeine Gefhl verspren zu kçnnen, ist daher ein Umgang mit anderen Menschen in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang unabdingbar. Zugleich ist aber auch ein Umgang mit sich selbst als ein persçnliches Erkennen erforderlich, damit ein gehaltvoller Umgang mit anderen in diesem allgemeinen Gefhl mçglich ist. Der hier entworfene wechselseitige Verweisungszusammenhang kann nicht den Anspruch erheben, letztgltige Antworten auf die Frage nach dem ,Wesen‘ von Selbstachtung und damit auch der Wrde des Menschen zu geben. Er kann allerdings die situativen Voraussetzungen benennen, in denen wir uns als sich selbst achtende Personen verstehen und dadurch in die Lage versetzt werden, die Wrde in der Person des anderen zu erkennen und zu achten, was sich wiederum unmittelbar auf unser eigenes Selbstverstndnis auswirkt. Dabei ist die Vielfalt der in dieser Arbeit analysierten affirmativen Selbstbezugnahmen weniger der Beweis eines permanenten Scheiterns der Vorstellung von einem gelingenden Verweisungszusammenhang als vielmehr ein Zeichen fr das stetige Bemhen, sich in der wechselseitigen Bezugnahme sowohl auf eine Haltung sich selbst als auch anderen gegenber verstndigen zu wollen. Dieses Bemhen schließt Rck- und Fehlschlge nicht aus, aber es zeugt doch von der zutiefst menschlichen Befhigung, ,etwas aus sich machen‘ zu kçnnen. Indem das Bewußtsein seiner selbst als eine zu selbstbestimmten Handlungen fhige Person nicht mehr als bloß intelligible Festsetzung, sondern zugleich als verwirklichtes Tun begriffen wird, ist neben der Besttigung des bislang erreichten Umgangs die Mçglichkeit einer bestndigen Weiterentwicklung gegeben, die kaum besser als mit Goethes Dauer im Wechsel beschrieben werden kann: „Du nun selbst!“

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Personenregister Abbt, Thomas 94–96 Adelung, Johann Christoph 105 Albrecht, Reyk 235 Arendt, Hannah 229 Aristoteles 60, 99, 221 Augustinus 112, 151

72–78,

Bhr, Andreas 2f. Bauer, Emmanuel J. 120 Baumgarten, Alexander Gottlieb 15, 90, 107f., 124, 161, 168, 184f. Bayertz, Kurt 178, 208 Beauchamp, Tom 7 Bernecker, Sven 26 Boxill, Jan 235–237 Brandt, Reinhard 103 Brezina, Friedrich 69, 171 Burke, Edmund 122f. Campe, Joachim Heinrich 78, 80–82 Chazan, Pauline 199 Cicero 116f., 176 Darwall, Stephen L. 221 Decher, Friedhelm 2 Denis, Laura 14 Dent, N.H.J. 120 Dillon, Robin S. 66, 84, 199, 227 Drexel, Gunnar 233 Eberhard, Johann August 75–81, 148 Engberg-Pedersen, Troels 117 Engbers, Jan 148 Fetscher, Iring 113, 120f. Forschner, Maximilian 116f. Frankena, William 126 Friedrich II. 154–158 Frisch, Johann Leomard 73 Fuchs, Hans-Jrgen 73, 120 Furber, Donald 116

Gabriel, Gottfried 124, 233 Gantar, Kajetan 73 Garve, Christian 123, 176f., 241f. Geerlings, Wilhelm 112 Gerhardt, Volker 7, 27, 179, 204, 235 Gibert, Carlos Melches 176 Giordametti, Piero 123 Gloyna, Tanja 82 Goethe, Johann Wolfgang 1f., 11, 132, 242f. Goodman, Nelson 233 Goy, Ina 134, 136 Grupe, Ommo 233 Hahn, Henning 60, 181, 204 Hamann, Johann Georg 122f., 148–152, 156, 159, 242 Helvetius, Claude Adrien 85–87, 89, 167 Henrich, Dieter 89f., 102 Hill, Thomas E. 10, 19, 55, 59, 171 Hirsch, Emanuel 111 Horn, Christoph 12 Hçrning, Sçren 60 Hruschka, Joachim 178 Hudson, Stephen D. 199 Hhn, Helmut 82 Hume, David 3–11, 89, 102, 110, 123, 135–147 Hutcheson, Francis 11, 102, 110, 123–136, 141, 147 James, David N. 10 Joas, Hans 84 Johnson, Samuel 78, 126 Kading, Daniel 14 Knight, Frank H. 14 Knoche, Susanne 120 Knoepffler, Nikolaus 7, 90 Kçhl, Harald 206, 208, 220 Kondylis, Panajotis 74

256

Personenregister

Kçpke, Wulf 81 Korsgaard, Christine M. 230 Khn, Manfred 3, 29 Kulenkampff, Jens 135 La Rochefoucauld, FranÅois de 115f., 153 Lauener, Henri 58 Leidhold, Wolfgang 127 Lenk, Hans 234 Leppin, Volker 8, 114 Lessing, Gotthold Ephraim 2 Lçhrer, Guido 178 Ldke, Friedrich Germanus 157f. Lhe, Astrid von der 65 Lhr, Rosemarie 83 Lumer, Christoph 84 MacBeath, A. Murray 136 Margalit, Avishai 11, 221, 227 Massey, Stephen J. 59, 171 Meerbote, Ralf 58 Mele, Alfred E. 22 Mercken-Spaas, Godelieve 119 Mohr, Georg 41 Mothersill, Mary 14 Murphy, Jeffrie G. 55 Neuhouser, Frederick

121

Sachs, David 221, 227, 231 Saint-Ral, Csar Vichard de 153 Schaber, Peter 59 Schmidt, Wilhelm 41 Schmucker, Josef 89f. Schçnrich, Gerhard 117 Schrader, Wolfgang H. 123, 126 Schwaiger, Clemens 90 Schweidler, Walter 88 Searle, John 236 Seidler, Michael J. 10 Singer, Marcus G. 14 Singer, Peter 208 Sprague, Elmer 126 Sprute, Jrgen 127, 131 Stark, Cynthia A. 58f. Stark, Werner 17 Starobinski, Jean 111 Steinbach, Christoph Ernst 73 Steinbart, Gotthilf Samuel 157–159 Stoecker, Ralf 59, 220 Striker, Gisela 117 Sturma, Dieter 41, 111 Suits, Bernard 236, 238 Telfer, Elizabeth 221 Timmermann, Jens 14 Tuveson, Ernst 123

Oberhausen, Michael 124 O’Hagan, Timothy 120

van der Zande, Johan 177 Voitle, Robert B. 123

Panknin-Schappert, Helke 126f., 135 Paton, Margaret 14 Paul, Jean 81 Pfordten, Dietmar von der 178 Pieper, Annemarie 150 Piske, Irmgard 123 Pohlmann, Rosemarie 126

Walch, Johann Georg Walch 68, 72f. Warda, Arthur 8, 85, 99, 125, 136 Wesche, Tilo 164 Wick, Warner 14 Wilson, George 22 Wittgenstein, Ludwig 232f. Wittwer, Hctor 2, 10 Wolf, Jean-Claude 59, 201 Wood, Allen 14 Wright, Rosemary 116

Rawls, John 11, 22, 221, 236 Ricken, Friedo 60 Rousseau, Jean-Jacques 110f., 113–123, 154, 156, 242 Rdiger, Andreas 70 Rhl, Uli F.H. 123

Zedler, Johann Heinrich 68–70, 72f., 82f., 105, 126, 160, 162

Sachregister Achtung 9, 19, 49, 56f., 62–66, 69, 74, 76f., 80–88, 91f., 94, 98, 102f., 135, 144f., 154, 160, 166–172, 174f., 178, 180f., 185f., 188, 191–194, 196–204, 206–218, 220, 227, 229–232, 239f., 242f. – Achtung fr das moralische Gesetz 170, 173, 182, 193, 199, 201f. – Hochachtung 69f., 74, 85, 91, 160, 169, 210–212 amor sui/amor privatus 73, 112, 151 Amour de soi 115, 117, 119f. Amour-propre 110, 115f., 119–121, 154 Egoismus 66, 78, 120, 175, 185 Ehre, Ansehen 2, 67–70, 74–76, 84–86, 101, 103–106, 109, 115, 121f., 158, 165, 185f., 221 Eigendnkel 66–68, 73, 77, 105, 163, 180 Eigenliebe 12, 66–68, 70–73, 76–79, 81f., 105, 114–116, 118–121, 128, 152–154, 156, 166–169, 172, 180, 188 Eigennutz 78, 80, 100, 103, 105, 128, 133, 149, 158, 188 Einsicht 6f., 26–28, 30, 35f., 45, 49, 52f., 58, 73, 88, 91, 107f., 111, 113f., 117, 121f., 149, 151f., 154, 157f., 171, 178, 196, 203f., 206–208, 227, 236, 241 Erkenntnis 40–43, 58, 70, 78f., 93, 124, 134, 137f., 149–152, 165, 182, 204, 236 Erkenntnisvermçgen, oberes/unteres 124 Gefhl, moralisches (Gefhl der Achtung) 33–37, 49, 51f., 56–58,

63–65, 89–94, 99, 106, 109f., 113, 122–127, 134–137, 140f., 145, 152f., 171, 180f., 191, 196, 201f., 206f. Gesetz, moralisches (Sittengesetz) 19–22, 24, 29, 31–33, 36, 38, 44–49, 51–53, 55, 57f., 65, 71, 78, 80, 88, 109, 135, 161–183, 185, 190–196, 199–202, 207f. Imperativ 25, 46, 53, 125, 132, 135, 172, 176f., 204, 218 Interesse (Eigeninteresse) 52, 85–87, 116, 118, 120f., 128–133, 135f., 140, 142f., 145, 147, 154–158, 167, 178, 191, 195, 198, 208f., 215, 217, 224 Mißachtung, Verachtung 29, 64, 82, 211, 238 Moral-Sense 110, 123, 129, 135, 159, 164, 174 Nchstenliebe 49, 52, 56, 71, 112, 145, 152, 174 Oikeiosis (instinktive Selbstaffirmation/Selbstsorge) 12, 103, 116f., 198 Person (homo phaenomenon) 1–4, 8–10, 12, 16, 19–21, 27, 29f., 36–49, 53–59, 63–65, 69, 73–76, 86, 88, 92, 96, 98, 107–109, 112f., 127, 130–133, 135f., 139, 141–144, 146f., 153, 160–172, 176, 178–191, 194–196, 199, 201–204, 206, 209–213, 215–219, 221–225, 227–232, 236, 238–241, 243 Persçnlichkeit (homo noumenon) 1, 16, 26, 37–49, 55f., 58, 63, 163, 170, 180, 184, 187, 191, 193, 195,

258

Sachregister

198–201, 204, 215f., 224f., 228, 239f. Pflichten gegen sich selbst 10, 14–21, 23, 25, 27–32, 35–39, 46, 62, 78, 139, 160, 165, 167, 183f., 187, 197, 204 Prinzip 15, 17–20, 22f., 25f., 27f., 30f., 33f., 37, 44, 86, 97, 140, 142–144, 156f., 159, 170, 172–175, 177, 180–183, 187, 193f., 233, 239 – principium diiudicationis (Prinzip der Beurteilung) 206 – principium executionis (Prinzip der Ausfhrung) 206 Regel 17–20, 22, 24f., 31, 33, 46f., 52, 73, 93, 100, 107, 116, 156, 162, 174, 180, 185, 195, 221, 232–234, 236f. Schçnheit 51, 98, 100–103, 105, 141, 144 Selbstachtung 7, 11–13, 37, 40, 49, 51f., 58–63, 65–69, 72, 80–84, 86–89, 98, 108, 110, 146, 155, 171, 181, 185, 197–204, 206–209, 218–229, 231, 241–243 Selbstbestimmung 111, 231 Selbstbewußtsein 12, 40–42, 67, 121 Selbsterkenntnis 26, 36, 41, 48, 117, 132, 149–151, 165, 204 Selbstgunst 28, 62, 160 Selbstliebe 12, 60, 62, 66f., 70, 72f., 76–82, 104f., 114–116, 118–121, 128, 142, 144f., 148–152, 154–158, 160, 162, 168f., 172, 178, 180f., 186–190, 192–194, 199f., 221f. Selbstschtzung 12f., 28f., 31, 37, 40, 46, 49, 51f., 56, 58–63, 65–68, 72, 79–84, 86, 88f., 97f., 104–110, 148, 155, 160, 162, 165f., 168, 171f., 176, 180, 185, 189–192, 197–201, 218–226, 228f., 242 – moralische Selbstschtzung 162f., 166–171, 173, 175, 185, 191, 201

– pragmatische (komparative) Selbstschtzung 162f., 166–169, 175–177, 185, 191, 193, 200 Selbstsucht (selfish, selfishness) 66f., 77f., 80f., 115, 120, 180 Selbstverachtung 68–70, 72, 82f., 165 Selbstwahrnehmung (Apperzeption) 12, 40f., 92, 146, 198f., 229, 239 Selbstwertgefhl 220 Spiel 228, 232–239, 241 Suizid (Selbsttçtung, Selbstmord, Freitod) 1–4, 10, 14, 172, 227, 241 Symbol, das Symbolische 52 Veranlagungen (natrliche Veranlagungen/Dispositionen) 49–56, 58, 119, 193 Veranschaulichung 51f. Verbindlichkeit 8, 14, 16, 20f., 26–28, 30, 32, 35f., 38f., 44–50, 52–55, 58, 63, 65, 67, 79, 93, 101, 103, 124, 133, 151, 171, 183, 185f., 189f., 197, 199, 204, 216, 229, 231, 241 Verdienst 74, 82, 86f., 94–97, 107, 118, 144, 153f., 156, 201, 206, 219f., 222, 240f. Verweisungszusammenhang, wechselseitiger 150f., 198, 223, 226, 228–232, 236, 239, 241, 243 Wert, Wertschtzung 2, 10, 18–23, 25f., 30, 36, 59, 64, 71, 75–77, 81, 83f., 88, 94, 106, 110–112, 115, 119, 146, 155, 158, 162, 165f., 170f., 173–175, 177–180, 189, 191, 193, 204, 209, 213f., 218, 224f., 234 Wissen, moralisches 26, 206 Wrde, Menschenwrde 16–21, 29f., 32, 36, 38, 43, 45, 48f., 51, 54, 59, 60–63, 67, 74–76, 83f., 88, 91f., 99–103, 106–110, 118, 122f., 137, 139, 145, 154, 160, 162, 164–166, 174, 176, 178f., 183f., 188, 191, 200, 204f., 222, 225, 230, 238, 242f.

Stellenregister Baumgarten: Ethica Philosophica AA XXVII 2,1 913 107 AA XXVII 2,1 914 108 AA XXVII 2,1 920f. 168 Goethe: Die Leiden des jungen Werther WA I/19, 121 1 WA I/19, 191 2 Hume: A Treatise of Human Nature PW II 145f. 144 PW II 150 145 PW II 152 145 PW II 231 137 PW II 235 137 PW II 236 137 PW II 236ff. 138 PW II 239f. 138 PW II 240 138 PW II 241 139 PW II 242f. 139 PW II 243f. 139 PW II 245 140 PW II 246 140 PW II 247 141 Hume: Enquiry Concerning the Principles of Morals PW IV 207 143 PW IV 207f. 143 PW IV 212f. 143 PW IV 215 146 PW IV 217 143 PW IV 233 145 PW IV 234 145 PW IV 242f. 146 PW IV 248 142 PW IV 248f. 144 PW IV 251 146f. PW IV 255 145

PW IV 259 140f. PW IV 259–261 141 PW IV 262 138, 141 PW IV 263f. 141 PW IV 264 141 PW IV 265 142 Hume: Of Suicide PW IV 407 4 PW IV 408 4 PW IV 409 5 PW IV 410 5f. PW IV 410f. 6 PW IV 411 5f. PW IV 412 5, 7 PW IV 413 7 PW IV 414 8 Hutcheson: An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue T II 85 127f. T II 86 128f. T II 88 127f. T II 89 130 T II 90 130f., 134 T II 90f. 131f. T II 91f. 132, 136 T II 94 133 T II 95 134 T II 96ff. 134 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht AA VII 127 43 AA VII 130 175 AA VII 321ff. 56

260

Stellenregister

Kant: Bemerkungen zu den Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen AA XX 3 91f., 98 AA XX 8 105 AA XX 10 98 AA XX 14 123 AA XX 44 110, 121 AA XX 51 104 AA XX 52 91 AA XX 95 97 AA XX 97 106 AA XX 123 99 AA XX 130 106 AA XX 167 122 AA XX 183 104f., 115, 121 Kant: Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen AA II 208 91 AA II 211 91 AA II 211f. 91 AA II 212 91f. AA II 212f. 92 AA II 212–215 99 AA II 213 94 AA II 214 99 AA II 215 99f. AA II 215ff. 93 AA II 216 100 AA II 217 101f., 125 AA II 217f. 100 AA II 218 100f. AA II 218f. 103 AA II 220ff. 104 AA II 225 105 Kant: Briefe (Nachlaß) AA X 527f. 125 AA XI 406 62 Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft AA VI 14 195 AA VI 22 192 AA VI 25ff. 193 AA VI 30 193 AA VI 30f. 194

AA VI 39ff. AA VI 44ff.

195 194

Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AA IV 389 90 AA IV 393 173 AA IV 394 173 AA IV 396 173 AA IV 399 174 AA IV 402; Anm. 171 AA IV 404 170 AA IV 406 172 AA IV 407 172 AA IV 408 175 AA IV 415f. 177 AA IV 416ff. 177 AA IV 422 172 AA IV 425f. 174 AA IV 427 177 AA IV 427, Anm. 172 AA IV 428 177 AA IV 428f. 45 AA IV 431f. 172 AA IV 432 178 AA IV 433 179 AA IV 434f. 179 AA IV 434ff. 45 AA IV 435ff. 179f. AA IV 436 178 AA IV 445 125 Kant: Kritik der praktischen Vernunft AA V 22ff. 180 AA V 30ff. 19 AA V 33ff. 180 AA V 40 125 AA V 40f. 125 AA V 68 52 AA V 71–89; AA V 71ff. 161, 200 AA V 73 180 AA V 73–76 181 AA V 79 170 AA V 82ff. 71 AA V 87 45 AA V 161 19

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Stellenregister

Kant: Kritik der reinen Vernunft A 341–405/B 399–433 40 Kant: Kritik der Urteilskraft AA V 203f. 52 AA V 277 123 AA V 352 52 Kant: Metaphysik der Sitten AA VI 221 46 AA VI 222 46 AA VI 222f. 47 AA VI 223 44 AA VI 239 38 AA VI 318–321 38 AA VI 379 38 AA VI 382f. 38 AA VI 384f. 39 AA VI 397 48, 200 AA VI 399 49, 58, 62, 65, 200 AA VI 400 55 AA VI 401f. 56 AA VI 402 57 AA VI 402f. 57, 65 AA VI 404 99 AA VI 406 51 AA VI 417 38 AA VI 417f. 38 AA VI 418 38f. AA VI 419f. 183 AA VI 422–424 184 AA VI 425 62 AA VI 432ff. 99 AA VI 434 55 AA VI 435 58 AA VI 437 58 AA VI 446f. 183 AA VI 449 63 Kant: Metaphysik der Sitten Vigilantius AA XXVII 2,1 600 183 AA XXVII 2,1 601 186 AA XXVII 2,1 601f. 184f. AA XXVII 2,1 602 184f. AA XXVII 2,1 603 184 AA XXVII 2,1 604 185 AA XXVII 2,1 607 184, 186, 189 AA XXVII 2,1 609 191

AA XXVII 2,1 620 AA XXVII 2,1 621 AA XXVII 2,1 622 AA XXVII 2,1 623f. AA XXVII 2,1 624

187-189 187-190 190 191 190

Kant: Moral Mrongovius AA XXVII 2,2 1486f. 163 AA XXVII 2,2 1487 162 Kant: Moralphilosophie Collins AA XXVII 1 349 162 Kant: Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von 1765–1766 AA II 311 123, 125 Kant: Praktische Philosophie Herder AA XXVII 1 39 107 AA XXVII 1 39f. 107 AA XXVII 1 40 108f. AA XXVII 1 41 108, 110 AA XXVII 1 42 109 AA XXVII 1 45 109 Kant: Praktische Philosophie Powalski AA XXVII 1 119 33 AA XXVII 1 190f. 24 AA XXVII 1 192 165 AA XXVII 1 192f. 165 AA XXVII 1 193 27, 165 AA XXVII 1 193f. 165f. AA XXVII 1 195 166 AA XXVII 1 198 164 AA XXVII 1 200 168f. Kant: Reflexionen (Nachlaß) Refl. 1096 (AA XV 487) 63 Refl. 6634 (AA XIX 120) 125 Refl. 7097 (AA XIX 248) 53 Kant: Untersuchung ber die Deutlichkeit der Grundstze der natrlichen Theologie und Moral AA II 298 15 AA II 299 124 AA II 300 124f.

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Stellenregister

Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie VM 20ff.; 22ff. 33 VM 21; 23 33 VM 26; 27 36 VM 36; 42 26 VM 57; 70 33 VM 58; 71 34 VM 68ff.; 85ff. 34 VM 86; 106 34 VM 101; 129 34 VM 171; 215 18 VM 174; 219 29 VM 175; 220 29 VM 176; 220f. 17 VM 176; 221 21 VM 177; 221f. 21 VM 177; 222 17, 21, 23 VM 177f.; 222f. 19 VM 178; 222f. 19 VM 178; 223 20, 22 VM 179; 224 18 VM 179; 225 20 VM 180; 225 20 VM 181; 227 29, 62, 160 VM 182; 227 29 VM 182f.; 229 30

VM 184; 230 161 VM 184; 230f. 161 VM 184f.; 230f. 162 VM 185; 231 162 VM 185; 232 162 VM 185f.; 232ff. 161 VM 186; 232 163 VM 187; 234 163 VM 187; 235 164 VM 188; 235f. 164 VM 188; 236 164 VM 193; 241 29 VM 194; 243 29, 164 VM 198; 247 163, 167 VM 199; 248f. 167 VM 199f.; 248ff. 167 VM 202; 252 31 VM 202f.; 253 31f. VM 203; 254 32 VM 204; 255 33, 35 VM 218; 271 9 VM 222f.; 277f. 10 VM 222; 276f. 9 VM 224; 279 9 VM 364; 451f. 23 VM 364f.; 451f. 27