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German Pages [246] Year 2013
Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst
Band 7
herausgegeben von Uwe Baumann, Michael Bernsen und Paul Geyer
Vincenzo Ferrone
Die Aufklärung – Philosophischer Anspruch und kulturgeschichtliche Wirkung Aus dem Italienischen übersetzt von Katja Montino
V& R unipress Bonn University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0160-4 ISBN 978-3-8471-0160-7 (E-Book) Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fondazione Luigi Firpo – www.fondazionefirpo.it Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Francisco Goya: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Radierung, Aquatinta, 206 x 129 mm (Blatt). Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv. Nr.: A 112505. Foto: Herbert Boswank Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erste Vorlesung – Die Aufklärung der Philosophen: Nachdenken über die Doppelnatur des Kentauren I.
Historiker und Philosophen: die kategoriale Ausnahme-Erscheinung der Aufklärer . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Kant: Was ist Aufklärung? Die Emanzipation des Menschen durch den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Hegel: die Dialektik der Aufklärung als philosophisches Problem der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Marx und Nietzsche: der Weg der Aufklärung von der bürgerlichen Ideologie zum Willen zur Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Horkheimer und Adorno: der totalitäre Zug in der Dialektik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Foucault: die Rückkehr des Kentauren und das Ende des Menschen
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VII. Postmoderne und Gegenaufklärung: von der Disputation zwischen Cassirer und Heidegger zur katholischen Aufklärung von Papst Benedikt XVI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V.
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Inhalt
Zweite Vorlesung – Die Aufklärung der Historiker: der revolutionäre Bruch im System des Ancien Régime Für eine Apologie der historischen Erkenntnis: jenseits der Doppelnatur des Kentauren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die Wissenschaft im 18. Jahrhundert und die Epistemologia imaginabilis der Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Zum Paradigma Aufklärung – Französische Revolution: Zwischen Mythos des politischen Denkens und epistemologischer Blockade .
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IV. Das 20. Jahrhundert und die Aufklärung als Problem der Historiker : von der Geschichte der Politik über die Sozialwissenschaft zur Kulturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . .
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Was war die Aufklärung? Der Humanismus der Modernen im europäischen Ancien R¦gime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Chronologie und Geographie einer kulturellen Revolution . . . . .
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VII. Politisches Erwachen und natura naturans: das Problem der Spätaufklärung und die Krise des Ancien R¦gime . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
V.
Einleitung
Lebendige Aufklärung Um es mit Marx zu sagen, ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst der Aufklärung. Obwohl mehrmals totgesagt, wandelt es nach wie vor unbeirrt mitten unter uns und lächelt mit leisem Spott, trotz manch bitterer Niederlage. Ruhelos und kaum greifbar spukt es immer noch in den Köpfen derjenigen herum, die lieber glauben wollen, ein düsterer und rätselhafter Gott sei der Herr der Schöpfung, statt die dramatische Erkenntnis zu wagen, dass Freiheit und Verantwortung in den Händen des mündigen Menschen selbst liegen. Nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 glaubte so mancher, dass nun die Stunde der Abrechnung mit dem Erbe der Aufklärung gekommen sei, mit dieser kühnen geistigen Strömung, die im Laufe des 18. Jahrhunderts den Anspruch erhoben hatte, den Menschen als das Maß aller Dinge einzusetzen. In diesem offenen Kampf gegen die seit Jahrhunderten lang verfestigte Denkweise des alten Europa ging es um nichts weniger als um Emanzipation: der Traum war die Überwindung des Ancien R¦gime allein durch die geistigen Fähigkeiten des Menschen selbst, durch Erkenntnis und Erarbeitung neuen Wissens. Die Waffe dieses neuen bürgerlichen Publikums war allein der kritische Verstand. Sapere aude – Wage zu wissen, arbeite dich aus deiner selbstverschuldeten Unmündigkeit heraus, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen und lasse dich nie von den auctoritates und den überkommenen Meinungen beeindrucken, antwortete Kant 1784 in einem seltenen überschwänglichen Moment der Begeisterung auf die Frage, was denn Aufklärung sei. Unter dem Deckmantel der liberalen Moderne versuchten einige namhafte Reaktionäre sogar, unauffällig einige der längst überwunden geglaubten Prinzipien des Ancien R¦gime wieder aufleben zu lassen, wie etwa die Herrschaftsrechte Gottes sowie der kirchlichen Hierarchien, die damit begründete natürliche Ungleichheit der Menschen, die verbrieften Privilegien einer kleinen Minderheit, die Betonung der Pflichten zu ungunsten der Rechte, das Schüren von Konflikten
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Einleitung
zwischen Schichten und Völkern, um jegliches Bestreben nach Weltbürgertum zu hintertreiben. Nach wie vor gibt es Leid und Unrecht, und jede Hoffnung auf Emanzipation in diesen finsteren Zeiten scheint vergebens. Gerade die völlig unerwarteten Vorgänge von 1989 bewirkten jedoch einen regelrechten Befreiungsschlag, und genau besehen widerlegten sie geradezu die sterilen und mittlerweile veralteten Interpretationsmuster einer Geschichtsphilosophie, die von den harten Tatsachen hinweggefegt wurde. Durch den Sturm der Entrüstung, den diese Ereignisse auslösten, schimmert jedoch so etwas wie Hoffnung. Immerhin bedeutet dieses letztlich doch als positiv empfundene Ereignis den Untergang der menschenverachtenden kommunistischen Diktaturen und damit auch das Ende vom Mythos des unvermeidlichen Klassenkampfes als vorgeblich notwendiger Phase auf dem Weg zu materiellem Fortschritt, ohne Rücksicht auf Freiheit und Menschenrechte. Die Hoffnung auf eine Zukunft jenseits aller Illusionen und ständig wiederkehrender Enttäuschung erwachte aufs Neue, so dass allerorten das Bedürfnis zu spüren ist, die Aufklärer wieder zu befragen. Fragen, die in der Vergangenheit kaum gestellt wurden, rufen allenthalben neue Untersuchungen hervor, Fragen an diese umwälzende geistige Bewegung, die sich der Emanzipation und Befreiung des Menschen verschrieben hatte und deren Auswirkung und langfristige Folgen nur mit der Christianisierung des Abendlandes vergleichbar sind. In die alte Frage nach den komplexen Zusammenhängen zwischen Aufklärung und Französischer Revolution, bis heute Dogma und Streitpunkt der europäischen Geschichtswissenschaft, ist endlich Bewegung gekommen. Eine neue historiographische Ära im Zeichen der Diskontinuität zeichnet sich nach und nach ab, frei von jedweden teleologischen Hypothesen sowie mannigfachen ideologischen Zwängen eines vorgegebenen Denkmusters, wonach die Aufklärung letztendlich sowohl deterministisch gesehen, als auch unter einem organischen Aspekt immer der Wegbereiter der Französischen Revolution gewesen sei. Die Vorstellung einer ungebremsten Revolutionsdynamik, die angeblich die ganze abendländische Gesellschaft erfasst haben soll, ließ die deutlichen Reformimpulse der frühen Aufklärung völlig außer acht, und beachtete auch nicht deren spezifische Formen und Inhalte, die ständig zwischen utopischen Entwürfen und reformerischem Wunschdenken schwankten. Die heutige Historiographie steht vor der Aufgabe, der Aufklärung Würde und Deutungsautonomie iuxta propria principia zurückzugeben. Dieses komplexe geistige Gedankengebäude wurde eben nicht nur, wie von der bisherigen allein auf das Revolutionsgeschehen fokussierten Ideengeschichte behauptet, von einer kleinen Elite weniger Intellektuellen getragen, die das revolutionäre Gedankengut in ihren Zirkeln entwickelt haben sollen. Darüber hinaus bildete sich in erster Linie allmählich eine neue gesellschaftlich relevante Schicht auf-
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geklärter Bürger, wie kürzlich erschienene Untersuchungen bündig und detailgenau nachgewiesen haben. Darin wird das Bild einer ziemlich breiten und bereits konsolidierten Trägerschicht gezeichnet, die von kritischem Geist durchdrungen ist, was im Ancien R¦gime noch ungewöhnlich war. Es entwickelten sich neue Formen des Selbstverständnisses, also auch dementsprechende Wertvorstellungen und Interessensvertretungen mit ihren spezifischen Sprachgepflogenheiten, die sich in einer neuen Denkweise nunmehr öffentlich ausdrückten. Aus alle dem ergibt sich die zentrale Bedeutung einer gelebten Aufklärung als Lebenserfahrung: gemeint war damit eine bis dahin unbekannte Art und Weise des In-der-Welt-Seins. Es handelte sich um einen Bruch mit der Vergangenheit, um eine neue Sichtweise des Wechselspiels von Natur und Kultur, Sein und Sein-sollen, von historischer Bedingtheit einerseits und einem Angebot vielfältiger Möglichkeiten andererseits. Im Mittelpunkt all dieser Überlegungen stand jedoch der Mensch mit all seinen Fähigkeiten und seinen Schwächen, mit der wachsenden Einsicht in seine Endlichkeit, eine ebenso aufrührende wie auch unerbittliche Erfahrung. Dazu kam die Notwendigkeit, immer wieder die Glaubensfragen auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen, ebenso wie die Grundlagen der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung. Aus diesem Geflecht entstand allmählich die moderne Zivilgesellschaft, ohne die zur damaligen Zeit kein emanzipatorisches Programm denkbar gewesen wäre. Diderot sprach bereits in den frühen 60ern des 18. Jahrhunderts, und zwar in seiner berühmten Einleitung zum Werk Boulangers, zurecht und voller Stolz von dem laufenden Versuch, eine neue geistige Identität des Abendlandes zu formen und in den Weltenlauf selbst einzugreifen, ja, die Geschichte mit den eigenen Händen zu gestalten. In diesem Vorwort wollte Diderot das Lebenswerk derjenigen würdigen, die mit republikanischem Geist gegen Fürstenwillkür und alte Herrschaftsformen angingen, gegen das soziale und wirtschaftliche System der Korporationen sowie gegen religiöse Intoleranz und Missachtung der Menschenrechte: »On a dit l’Europe sauvage, l’Europe payenne, on a dit l’Europe chr¦tienne, peut-Þtre dirait-on encore pis, mais il faut qu’on dise enfin l’Europe raisonnable«. Die jüngsten Ereignisse machen es notwendig, die traditionelle Historiographie der Aufklärung im Westen chronologisch und geographisch neu zu definieren. Die sogenannte »Spätaufklärung«, die das letzte Viertel des Jahrhunderts und vor allem die Jahre zwischen der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 dominierte, hat sich als entscheidende Epoche erwiesen. Genau diese Jahre müssen also tiefschürfend untersucht werden, um die ursprünglichen und entscheidenden Züge der Aufklärung freizulegen, denn die Ursachen für spätere Widersprüche und polemische Auseinandersetzungen, die sich bis in unsere Tage ungebrochen fortsetzen, wurden bereits früh gelegt. In jenen Jahren lag die Aufklärung eben nicht in den
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Einleitung
Händen einiger weniger Traumtänzer und politischer Verschwörer, sondern durchdrang alle Daseinsbereiche und wurde zur vorherrschenden Geisteshaltung der europäischen Kultur : sie wurde zum Aufsehen erregenden Phänomen la mode, dessen politische und gesellschaftliche Ausstrahlung sowohl Anhänger wie auch Gegner beeinflusste und Freunden wie Feinden ihre Ausdrucksweise aufzwang. Ihre Ideen, Werte und kulturellen Riten prägten Akademien, Freimaurerlogen, Salons, universitäre Kreise, Lesezirkel und sogar die Politik der Höfe. Von Petersburg bis Philadelphia, von London bis Neapel, von Paris bis Berlin, und selbst in kleinstädtischem Milieu stellte die Aufklärung endgültig den neuen Gedanken der Menschenrechte in den Mittelpunkt ihres republikanischen Politikbegriffs, der als Prozess einer stetig fortschreitenden Teilhabe am politischen Geschehen verstanden wurde. Das schlug sich zuerst in der Forderung nach einer verbindlichen Verbriefung der Menschenrechte nieder und weitete sich schließlich bis zu den droits politiques aus, wie sie Condorcet zu nennen pflegte. Endgültig aus der Taufe gehoben wurden sie dann von der öffentlichen Meinung, einem ausgebauten Verlagswesen und der Entstehung neuer politischer und gesellschaftlicher Formen der Kommunikation. Dieses komplexe Beziehungsgeflecht soll im vorliegenden Buch untersucht werden. Nicht nur Philosophen, Gelehrte, Herrscher oder Staatsmänner jeglichen Ranges, sondern auch Maler, Musiker, Literaten sowie mehr oder minder berühmte Künstler setzten sich mit einer gelebten Aufklärung auseinander. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Voltaires Rückkehr nach Paris und sein triumphaler Erfolg an der Com¦die francaise im März des Jahres 1778 in allen europäischen Blättern begeistert aufgenommen wurde. Die zwar späte, aber symbolisch bedeutsame Anerkennung sowohl seiner Person als auch der Generation der Enzyklopädisten markierte allerdings auch den deutlichen Übergang zur nächsten Generation, zu Raynal und Condurcet, zu Filangieri und Pagano, zu Alfieri, Jefferson, Jovellanos, Goya, David, Lessing, Goethe, Beaumarchais, Mozart und vielen anderen. Es war diese Generation, die als blutjunge Leute in dem Jahrzehnt, das der Französischen Revolution vorausging, am eigenen Leibe ihre Erfahrungen mit dem fordernden Humanismus der Aufklärung machten, der sich am Anfang des nächsten Jahrhunderts scharf vom früheren Humanismus des Christentums absetzte. In den Gemälden, der Musik, den Romanen, in den rechtstheoretischen und wirtschaftlichen Traktaten, auf der Bühne, im bürgerlichen Alltagsleben und im politischen Engagement einiger Persönlichkeiten lässt sich diese abstrakte »Inthronisierung« des Menschen überhaupt nicht erkennen. Von diesem individuellen Subjekt, das Foucault zufolge das erkenntnistheoretische Projekt der Aufklärer gekennzeichnet haben soll, ist wenig zu bemerken. Ebenso wenig geht es lediglich um eine banale Wiederholung von Ideen, die aus der ersten Jahrhunderthälfte, also aus der Zeit der Enzyclop¦die stammen, und angeblich bis zu
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ihrem vorzeitigen Ende tot geredet wurden. Statt dessen lässt sich etwas völlig Unbekanntes und im Vergleich zu den vorhergehenden Jahren Originelles beobachten: es entstand ein leidenschaftlicher, jedoch verantwortungsvoller Impetus mit dem erklärten Ziel, eine gerechtere und humanere Gesellschaft zu schaffen, vom Menschen für den Menschen gemacht, zum Schutz der Rechte des Individuums. Das lief auf die wahrhaft revolutionäre Forderung hinaus, dass der Mensch das natürliche Recht habe, nach seinem Glück zu streben. Die Suche nach Glückseligkeit wurde somit zum ethischen Postulat einer neuen allgemeinen Moral. Man hatte damals die Krise des Ancien R¦gime vor Augen, dessen jahrhundertealtes Gebälk gerade aus den Fugen ging, da es dem Druck der gewaltigen wirtschaftlichen Transformationen nicht standhalten konnte. Die Zunahme des Handels, die beginnende globale Verflechtung der Interessen, die Erfahrung des Siebenjährigen Krieges (1756 – 1763), der als Vorform der Weltkriege bezeichnet werden kann, leitete den Anfang der Kolonialgeschichte und des modernen Imperialismus ein. Das Beste am geistigen Erbe der Spätaufklärung besteht zweifellos noch heute in der definitiven Formulierung der Menschenrechte und deren Verwendung als Speerspitze des Abendlandes. Doch kam es durch die relative Politisierung des intellektuellen Lebens in all seinen vielfältigen Facetten zu folgenschweren Entscheidungen, die sofort mit der bitteren Realität jener Jahre aneinander gerieten, woraus nicht überbrückbare Gegensätze erwuchsen. Als wesentliches Merkmal dieser spezifischen Phase der Aufklärung muss daher ihr zutiefst experimenteller und problematischer Charakter gesehen werden, samt dessen inneren Widersprüchen, seinem Glanz und Elend. Man ist versucht zu sagen, dass die Spätaufklärung, die sich selbst als historisch verstand, alles andere als eindimensional war. Zwar betonen wir heute, wenn wir von der Aufklärung als der Moderne sprechen, ihren fast vollendeten und definitiven Charakter. In Wirklichkeit dürfte es sich jedoch dabei eher um ein Laboratorium der Moderne gehandelt haben. Obwohl noch viel Arbeit vor uns liegt, um diese historisch so wichtige Phase zu rekonstruieren, sollten einige wenige Hinweise auf die erheblichen Schwierigkeiten und auf deren vielfältige Lösungsvorschläge genügen, um den Begriff des »Laboratoriums« zu rechtfertigen. Wie war es möglich, Menschenrechte glaubwürdig und wirksam zu vertreten, wenn gleichzeitig im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der moderne Sklavenhandel zunahm? Nun, man darf nicht vergessen, dass es mehrerer Jahrhunderte und einer langen Sedimentierung bedurfte, damit diese subjektiv verstandenen Rechte als solche überhaupt hervorgebracht werden konnten. Zu diesen notwendigen Requisiten zählten: erstens, dass sie dem Menschen als Menschen natürlich innewohnend seien; zweitens, dass sie für alle Individuen gleich seien, und zwar ohne Rücksicht auf Geburt, Stand, Nationalität, Religion, Geschlecht sowie Hautfarbe; drittens, dass sie allgemein seien, d. h. weltweit
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gültig; viertens, dass sie unantastbar und unverjährbar seien gegenüber jedweder politischen oder religiösen Institution. Der millionenfache Handel mit afrikanischen Sklaven, hauptsächlich in Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika, der selbsternannten Heimat von Recht und Freiheit, forderte in Europa, wo die neuen Ideen leidenschaftlich vertreten wurden, die Redlichkeit politisch kohärenten Handelns geradezu heraus. Das aufklärerische Denken hatte gerade mit seiner Schwerpunktsetzung auf das Prinzip der Unantastbarkeit die verstreuten und de facto harmlosen Bezüge der subjektiven Rechte auf das Naturrecht, das auf rechtsphilosophische Überlegungen vergangener Jahrhunderte zurückging, in ein machtvolles politisches Instrument umgesetzt. Hier sahen sich nun aber diejenigen, denen es gelungen war, das Ancien R¦gime zu destabilisieren, zum ersten Mal mit den kruden ökonomischen Interessen von Investitoren und Kolonialstaaten konfrontiert. Die von den Erneuerern gewollte Politik der Werte musste sich an der Realität messen lassen und mit den Interessen der konservativen Kräfte verhandeln. Das rasante Anwachsen von Wissenschaft und Technik im 18. Jahrhundert, also das neue »Wissen vom Menschen« sandte unterschiedliche Impulse aus: einerseits Ruhm und Ehre eines Humanismus, der sich die wissenschaftlichen Errungenschaften im Dienst der Menschheit auf die Fahne geschrieben hatte – und keineswegs umgekehrt, wie es der eine oder andere verspätete Positivist suggerieren wollte. Die Entdeckung der Weltgeschichte, das heißt das vollkommen neue Überdenken der Geschichte aus aufklärerischer Sicht, deutete den Weltenlauf als kontinuierlichen Prozess emanzipatorischer Bewegungen, wie das Streben der Nationen nach Glück und Wohlstand, das ethische Postulat der Gleichheit und der Menschenrechte als Grundlage einer neuen universellen und rational begründeten Moral. Andererseits rückten Studien zur Physiologie, der vergleichenden Anatomie, streng wissenschaftliche Untersuchungen zur Anthropologie die Unterschiede und Besonderheiten von Individuen und Arten in den Mittelpunkt, was bewusst oder unwissentlich zu ersten rassistischen Thesen führte. Selbst die große Frage nach der religiösen Identität des Abendlandes, die erstmals mit dem definitiven Zusammenbruch der Respublica christiana im 16. Jahrhundert aufgeworfen worden war, und später zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch die aufklärerische Debatte endgültig akut wurde, erlebte im letzten Drittel des Jahrhunderts tiefgreifende Veränderungen. Eine Sache war es zum Beispiel, weiterhin in einem engen Kreis weniger Intellektueller heimlich zusammenzukommen, um über Atheismus zu diskutieren. Etwas ganz anderes war es aber, diese kompromisslosen Ideen mittels publizistischer, im übrigen erfolgloser Kampagnen unters breite Volk bringen zu wollen, wie es sich einige Anhänger der radikalen Aufklärung zur Aufgabe gestellt hatten. Eine Sache war es, sich untereinander bis aufs Blut über abstruse theologische Fragen zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen und
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den großen Offenbarungsreligionen zu streiten. Etwas ganz anderes war es dagegen, ein Thema wie eine neue Universal- und Naturreligion, die allen Völkern der Erde gemein sein sollte, also rational begründet, ohne Dogmen, Kirchen, Hierarchien und Priester, zunächst in den elitären Kreisen zu verankern und dann in die breite Bevölkerung hinauszutragen. Verkündet werden sollte die Existenz eines fernen und eigentlich wenig interessierten Gottes, der sich um die menschlichen Belange kaum kümmert und dessen alleinige Funktion gerade deshalb nur darin bestehen sollte, Freiheit und Eigenverantwortlichkeit des Menschen zu garantieren, und nicht die Macht kirchlicher Institutionen zu legitimieren. Der Humanismus der Spätaufklärung machte sich die Losungen der italienischen und französischen Freidenker des 16. und 17. Jahrhunderts zu eigen, die Gedanken von Voltaire und Rousseau ebenso wie die Ideen der niederländischen und englischen Freethinkers, ging aber noch darüber hinaus. Die Spätaufklärung begnügte sich nicht damit, den Verrat am unbedingten Gebot der Nächstenliebe des Evangeliums durch die kirchlichen Institutionen des Christentums anzuprangern, sie wetterte überhaupt gegen die Infme, d. h. gegen die machtkorrumpierte Konstantinische Kirche, gegen die Brutalität der Inquisition, und nicht zuletzt gegen den Fanatismus und die Intoleranz Luthers und Calvins. Darüber hinaus setzte sie sich aber auch in den Romanen, Gemälden, Theaterund Musikstücken jener Zeit mit der dramatischen Bedingung der menschlichen Existenz auseinander, mit der nicht weg zu diskutierenden Präsenz des Bösen und mit dem Bedürfnis, trotz alledem am Wert einer religiösen Erfahrung fest zu halten, um dem Leben einen Sinn zu verleihen. Und aus diesen ersten Analysen sowohl über Würde und Möglichkeiten der Person, als auch über die Grenzen und die Endlichkeit des Menschen, samt dessen Niedertracht und Machtwillen, ging der Kampf um Toleranz und um individuelle Freiheitsrechte gestärkt hervor. Die klare Trennung von Politik und Religion sowie von Kirche und Staat, wie sie von Locke und Voltaire gefordert wurde, und zwar mit dem Hinweis auf den kühnen Spruch aus dem Evangelium , wurde endlich zu einer verfassungsrechtlichen Frage, die Juristen wie Filangieri, Politiker wie Jefferson und politisch interessierte Intellektuelle wie Lessing gleichermaßen begeisterte. Rousseau hatte gefordert, das religiöse Gefühl solle wieder ins Herz der Menschen einziehen, wo hingegen der öffentliche Raum der Bildung einer neuen bürgerlichen, christlichen und toleranten Religion vorbehalten sei, womit das Prinzip von Menschenfreundlichkeit und Menschenrechten quasi heilig gesprochen wurde. Diese Rousseau’sche Forderung, die Heiligsprechung der Natur, wurde zum Credo der Freimaurer-Logen und der Anhänger von Spinozas Pantheismus. Der neue Humanismus der Spätaufklärung war also klar diesseitsgerichtet und wollte dem Individuum schon auf Erden das Naturrecht auf Glück garan-
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Einleitung
tieren. Aus diesem Grund ging man ganz konkret auf Fragen der sozialen Rechte ein und wie diese garantiert werden sollten, wie zum Beispiel das Recht auf Arbeit und öffentliche Schulbildung, die Wahrung des Existenzrechts gegenüber den zunehmenden Übergriffen der Korporationen auf das aufklärerische Milieu, und das auch noch angeblich im Namen der Freiheit, bis hin zur Ausarbeitung von ersten Formen gesellschaftlicher Organisation, die wir heute als soziale Marktwirtschaft bezeichnet würden. Als wahres Laboratorium der Moderne, das sie war, ist diese Epoche noch zu erforschen. Doch abgesehen von ihren schwierigen und widersprüchlichen Anfängen, wo unterschiedliche Rechtsvorstellungen aufeinander stießen, hat die Aufklärung den nachfolgenden Jahrhunderten ein eminent wichtiges Erbe hinterlassen, und zwar den abendländischen Wertekanon mit seinen geistigen Idealen, der – wie bereits anfangs erwähnt – den ewig Gestrigen, die bis heute von einer unmöglichen Rückkehr des Ancien R¦gime träumen, ein Dorn im Auge ist. Die Erarbeitung einer allgemeinen Moral, welche die Gleichheit aller Menschen anerkennt, auf gleichen und allgemeinen Rechten gründet, dem Toleranzgedanken verpflichtet ist, einen maßvollen, niemals anmaßenden Gebrauch der Vernunft als Instrument des friedlichen Miteinanders fordert, hat bis heute nichts von ihrer existentiellen Bedeutung verloren. Ebenso mahnt aufgeklärtes Denken die Religionen, nie die zentrale Stellung und Würde des Menschen zu vergessen und ihn nicht auf eine bloße Spielfigur im göttlichen Heilsplan zu reduzieren. Bis heute dient ein solches Denken als Damm gegen die vom Menschen selbst gerufenen Dämonen, wie sie bereits Goya in seinen Bilderwelten so beeindruckend skizzierte, bis heute bietet dieses Denken ein vertretbares Lebensprogramm für alle Menschen, die guten Willens sind. Dieses Buch will die Aufklärung gegen die wiederholten Angriffe ihrer Verächter verteidigen, es wurde jedoch im Bewusstsein geschrieben, dass die Suche nach historischer Wahrheit immer noch im öffentlichen Raum verhandelt werden soll und muss. Im Oktober 2005 hielt ich am CollÀge de France eine Serie von Vorlesungen mit dem Titel Les LumiÀres dans l’Europe d’Ancien R¦gime entre histoire et historiographie; die ersten zwei Vorlesungen dieses Kurses stehen im vorliegenden Buch zur Diskussion. Die dritte und vierte Vorlesung, den Menschenrechten und dem politischen und intellektuellen Wirken von Vittorio Alfieri gewidmet, werden zu einem späteren Zeitpunkt herausgegeben. Die vorliegenden Vorlesungen suchen einen Beitrag zur historischen Wirkung der Aufklärung in ihrer ganzen Bandbreite und unter verschiedenen Gesichtspunkten zu leisten. Ich bin mir allerdings völlig im Klaren, dass es ganz unmöglich ist, die Fülle dieser Bewegung zur Gänze auszuleuchten. Doch es besteht auch die dringende Notwendigkeit, ihre eigentliche Bedeutung heraus zu arbeiten, um den bis heute anhaltenden Manipulationsversuchen entgegenzuwirken, aber auch um allen Verklärungsabsichten Einhalt zu gebieten. Sowohl
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zum einen wie zum anderen boten mir die Kollegen aus Paris reichlich Gelegenheit. Das CollÀge de France und seine Zuhörerschaft, die nicht nur aus angesehenen Kollegen und Spezialisten besteht, erwartet traditionsgemäß vom jeweiligen Gastprofessor, nicht nur die Ergebnisse seiner Untersuchungen zu präsentieren, soweit auch, soweit möglich, deren eventuellen Widerhall im öffentlichen Raum abzuschätzen. Um der nötigen Klarheit willen habe ich deshalb meine Arbeitshypothesen deutlich von den in Fachkreisen hinlänglich gebilligten ideologischen Voraussetzungen und Ergebnissen abgegrenzt. Zudem habe ich es für notwendig und hilfreich befunden, die Ansichten jeweils der Geschichtswissenschaft bzw. der Philosophie entstehungsgeschichtlich voneinander zu trennen und bisweilen sogar polemisch einander gegenüberzustellen. Der Ursprung dieser in dreißig Jahren langsam herangereiften Verfahrensweise liegt weit zurück und hat meine eigene Entwicklung an der Geisteswissenschaft der Universität Turin stark geprägt. Bereits seit jenem fernen Julitag im Jahr 1977, als ich meinem Lehrer und Meister Franco Venturi meine Dissertation über das 18. Jahrhundert in Frankreich zur Diskussion überreichte, war ich von dessen bizarrer und singulärer Herangehensweise an das Thema der Aufklärung fasziniert. Venturis Ansatz verdiente es, wie ich überzeugt war, vertieft zu werden. Seitdem fühle ich mich, übrigens auf Einladung Venturis – mir unvergesslich -, in den »Club der ewigen Aufklärer« aufgenommen. Diese Bezeichnung, wortwörtlich, der »ewigen Aufkärer«, stellte mich allerdings von Anfang an vor ein gewaltiges Problem erkenntnistheoretischer Natur : welchen Sinn macht es, eine wenn auch ironisch gemeinte Präsensform zu benutzen, so als existierte bis heute eine Philosophie »ewiger« Aufklärung? Sollte hinter dieser Aufnahme in den illustren Club etwas anderes stecken als lediglich das stolze Bewusstsein eines andauernden ruhmreichen Erbes der Vergangenheit? Eine erste Antwort darauf erhielt ich erst viel später, als ich die Werke von Benedetto Croce las und die Herausbildung des italienischen Geschichtsbildes im 20. Jahrhundert studierte. In dem Band La storia come pensiero e come azione (»Die Geschichte als Gedanken und als Tat«) aus dem Jahre 1938 definierte Croce, wie immer unschlüssig zwischen Kant und Hegel pendelnd, die Aufklärung lapidar als eine ideale und »ewige« Kategorie des Geistes. Aufklärung sei, so Croce, eine allgemeine Form des menschlichen Geistes, also eine Denkkategorie, bezeichne aber gleichzeitig eine bedeutende Epoche in der europäischen Geschichte. Besser hätte nicht definiert werden können, was ich auf den folgenden Seiten als das Paradigma der Doppelnatur des Kentauren bezeichne, nämlich die folgenreiche Vermischung von Geschichte und Philosophie. Venturi selbst hielt zwar nicht viel von Literaten und Philosophen und ließ keine Gelegenheit aus,
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sich als Historiker zu bezeichnen, doch Croces Überlegungen zur Aufklärung übten nichtsdestotrotz eine große Faszination auf ihn aus. Und er war nicht der Einzige. Tatsächlich scheint die aktuelle Debatte die Anziehungskraft dieses Paradigmas ungebrochen bis heute zu spüren – und das beileibe nicht nur in Italien. Daher wird im ersten Abschnitt des vorliegenden Buches die Entstehung und Entwicklung dieses Paradigmas detailliert nachgezeichnet, ebenso dessen enorme Bedeutung für die Arbeitshypothesen der Historiker, und nicht zuletzt dessen Einfluss auf die progressive Fokussierung der Aufklärung als philosophisches Problem der Moderne. Im Mittelpunkt steht also die Suche nach einer ultima ratio in der Natur des Menschen selbst, d. h. des Individuums. Die wichtigsten und bedeutendsten Antworten, die in Europa auf diese Fragestellung gegeben wurden, führen mich bis zu den unerwarteten Kehrtwendungen in der Gegenwart: die Destrukturierung der aufklärerischen Idee seitens der so genannten postmodernen Philosophen, vor allem aber die radikal neue historische Situation nach der Erfahrung der Totalitarismen im 20. Jahrhundert, der Shoah und der so genannten »anthropologischen Wende« des Zweiten Vatikanischen Konzils haben nämlich dazu geführt, dass dieses Problem nicht mehr nur unter philosophischem, sondern auch unter theologischem Gesichtspunkt neu beleuchtet wird. Dabei haben sich insbesondere Joseph Ratzinger, aber auch andere namhafte katholische Wissenschaftler hervorgetan. Ich grenze mich dabei scharf von der gängigen Meinung derer ab, die in der Aufklärung ausschließlich den philosophischen Aspekt sehen wollen und damit Mystifizierungen sowohl ideologischer als auch politischer Natur Vorschub leisten, was fern jeglicher Geschichtswahrheit liegt. Im zweiten Abschnitt zeige ich dementsprechend den aktuellen Forschungsstand zum historischen Phänomen auf, d. h. es geht darum, die Aufklärung als geistige Revolution des Ancien R¦gime zu verstehen. Diese kritische Betrachtung versteht sich als Beitrag zur Notwendigkeit, künftige Historikergenerationen davon zu überzeugen, dass allzu bequeme Wahrheiten endlich aus dem Weg geräumt werden müssen. Dazu gehören in erster Linie festgefahrene Meinungen teleologischer Natur, ebenso der politische Mythos der Wechselwirkung zwischen Aufklärung und Französischer Revolution, ferner das vermeintlich einheitliche Weltbild der Aufklärung, wobei kaum zwischen der aufklärerischen Hochschätzung der Wissenschaft und der davon grundverschiedenen Position des Positivismus unterschieden wird. Und nicht zuletzt müssen die Nationalismen, deren Ideologien gerade im letzten Jahrhundert so viel Leid über die Menschheit gebracht haben, historiographisch genauer unter die Lupe genommen werden. Für das neue vereinte Europa, das jetzt zusammenwachsen soll, ist es unabdingbar, sich seiner tragfähigen geschichtlichen Wurzeln im Weltbürgertum des 18. Jahrhunderts zu besinnen. Leitbegriffe wie Toleranz und Freiheit, sowie generell das Verständnis
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der Menschenrechte, die bereits von den Aufklärern propagiert und zur politischen Sprache der Moderne erhoben wurden, müssen zur Sprache Europas werden, als Angebot für alle Völker dieser Erde. Danksagung Seit meiner ersten Beschäftigung mit der Welt der Aufklärung fand ich tatkräftige und verständnisvolle Hilfe bei den Kollegen Raffaele Ajello, Elvira Chiosi, Massimo Firpo, Luciano Guerci und Marisa Perna, denen ich freundschaftlich verbunden bin. Ihnen gilt mein verbindlichster Dank. Ohne die großzügige Unterstützung durch Institutionen wie die Turiner Stiftungen Fondazione Einaudi und Fondazione Firpo, die Êcole Normale Sup¦rieure von Paris und das Institute for Advanced Studies von Princeton, wo ich 2004 bei Jonathan Israel zu Gast war, hätte dieses Buch nicht entstehen können. Ein besonderer Dank geht an Giuseppe Rutto, Franco Motta und Gerardo Tocchini, die mir bei der letzten Durchsicht des Manuskripts behilflich waren. Anlässlich der nunmehr vorliegenden deutschen Übersetzung meines Buches über die Aufklärung möchte ich zudem darauf hinweisen, dass der eigentliche Kern dieser Vorlesungen am CollÀge de France während meiner Lehrtätigkeit an der Universität Ca’Foscari in Venedig entstanden ist. In den lebhaften Debatten mit Studenten und Kollegen auch aus anderen Fachbereichen wie etwa der Germanistik habe ich viel gelernt. Besonderen Dank schulde ich Antonio Trampus, Giuliano Baioni und Ulrike Kindl, deren Engagement das Zustandekommen dieser schwierigen Übertragung ins Deutsche ermöglicht hat. Gewidmet sei das Buch den drei Freunden, die meinen Werdegang als Historiker der Aufklärung entscheidend geprägt haben: Margaret Candee Jacob, Daniel Roche, Giuseppe Ricuperati.
Erste Vorlesung – Die Aufklärung der Philosophen: Nachdenken über die Doppelnatur des Kentauren
I. Historiker und Philosophen: die kategoriale Ausnahme-Erscheinung der Aufklärer
Was wissen wir über die Aufklärung? Auf den ersten Blick sehr viel. Die internationale, kaum mehr zu überblickende Bibliographie zum Thema wächst und wächst stetig.1 Das 19. Jahrhundert hat viel Mühe darauf verwendet, die »aufklärerische Frage« zu untersuchen, die sich zunehmend zu einem neuralgischen Punkt innerhalb der Studien zur Entstehung der europäischen Moderne entwickelt hat. So kam es zu neuartigen und eindrucksvollen Deutungen, man stieß auf problematische Streitfragen, man deckte bis dahin vernachlässigte, ja sogar unbekannte Begebenheiten und Personen auf, übernahm aber auch gängige Interpretationsmuster und Deutungsverfahren, ohne diese zu hinterfragen. Dazu fehlte es nicht an ideologischen Vorurteilen und eindeutig apologetischen Absichten. All das hatte nichts anderes zur Folge, als bereits bekanntes Wissen wieder und wieder in Umlauf zu bringen. In den vergangenen Jahrhunderten befehdeten unterschiedliche Positionen sich gegenseitig, und an diesen politischen und kulturellen Grabenkämpfen hat sich bis heute nichts geändert. Auf unser Jahrhundert wartet nun die schwierige Aufgabe, die Aufklärung neu zu überdenken, deren Spuren nachzugehen und ihre Bedeutung und vielfältigen geschichtlichen Formen in den Kontext der Geistesgeschichte des Abendlandes einzubetten. Um der Verdunkelungsgefahr entgegenzutreten und die Wahrheit ans Licht zu bringen ist es erforderlich, zunächst den derzeitigen Forschungsstand genau zu bestimmen, um dann im nächsten Schritt die Untersuchungsergebnisse präzise auszudifferenzieren, wobei die neuen Erkenntnisse klar und deutlich vom altbekannten Wissensstand abzutrennen sind. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass es wie bisher zu unzulässigen Kontaminationen kommt, die unserem Wahrheitsbedürfnis entgegenstehen und unser Bemühen um Aufklärung der Vergangenheit erschweren. Der Ansatz, sowohl die tiefen Unterschiede, als auch die engen Kontakte und die gegenseitige geistige Befruchtung zwischen Philosophen und Historikern 1 Vgl. Antonio Trampus, Orientamenti bibliografici, in: V. Ferrone / D. Roche (Hrsg.), L’Illuminismo. Dizionario storico, Laterza, Roma-Bari, 1997, S. 593 ff
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Die Aufklärung der Philosophen
der Aufklärung zu untersuchen, könnte viel versprechend sein und zieht sich deshalb als roter Faden durch die vorliegenden Beiträge. So dürften sich viele kontroverse Aspekte diskutieren lassen und eine solide Basis schaffen für die historiographische Neubewertung, die von der künftigen Forschergeneration in Angriff genommen werden muss und nicht länger hinausgezögert werden sollte. Geht man vom Bild der doppelten, sowohl philosophischen als auch historischen Natur dieses kognitiven Paradigmas aus, wovon das 18. Jahrhundert seit den Anfängen gekennzeichnet ist, dann muss man in erster Linie über dessen atypischen Ausnahmecharakter im historiographischen Panorama nachdenken. Tatsächlich ist es ganz und gar unmöglich, die Doppelnatur der Aufklärung, diese Art von Zwitterstellung, die ich in das Bild des Kentauren2zu fassen suche, im Maßstab eins zu eins auf andere traditionelle Geschichtskategorien, wie zum Beispiel auf Humanismus, Renaissance oder Barock zu übertragen. Zwar mag das philosophische Profil bei deren Definition eine Rolle gespielt haben, doch war diese bloß von untergeordneter Bedeutung3. Doch nun, im 18. Jahrhundert, erleben wir zum ersten Mal, dass sich eine geistige Strömung auf kritisch-philosophischer Ebene öffentlich selbst benennt und sich in dieser auch wieder erkennt. Dieser Akt der Autoidentifikation revolutionierte alle bisherigen Ansichten über Zeit und Geschichte von Grund auf. Damit wurden die Weichen für das moderne Verständnis von Zeitgeschichte im Abendland gestellt und eine leidenschaftliche Diskussion angestoßen, die bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossen ist, da sie sich zum Teil mit der Debatte um die wesentlichen Charakterzüge der so genannten Moderne überschneidet4. Doch angesichts der komplexen Fragestellung sollte man der Reihe nach vorgehen. Hegel als »Vater der Aufklärung« zu bezeichnen, mag sowohl verwirrend als auch paradox klingen. In Wirklichkeit ist diese Behauptung alles andere als das, allerdings nur, wenn man das Augenmerk auf die Rezeptionsgeschichte der Aufklärung richtet. Denn dann erkennt man den herausragenden Einfluss, den Hegels Denken auf die Deutung der Aufklärung hatte und bis auf den heutigen 2 Die italienische Bezeichnung des »Ircocervo«, eines fabulösen Mischwesens aus Hirsch und Ziege, hat unter den Fabeltieren der deutschsprachigen Tradition kein direktes Gegenstück. Ein »Ircocervo« bezeichnet einfach ein Unding, eine unfeine Mischung aus Kraut und Rüben; die Doppelnatur des Kentauren, eines Zwitterwesens mit Pferdeleib und menschlichem Oberkörper, entspricht noch am ehesten, wenigstens bildlich, der Vorstellung eines »Ircocervo«, wenn die mythologischen Assoziationen des Kentauren auch mit der Zwitterstellung der Aufklärung zwischen Philosophie und Historiographie nichts zu tun haben. (Anm. d. Ü.) 3 Eine ähnliche Überlegung gilt auch für Epochenbezeichnungen wie z. B. »das Mittelalter«, womit sowohl ein historischer Zeitrahmen als auch eine geistige Realität definiert wird. Vgl. G. Sergi, L’idea di medioevo. Fra storia e senso comune, Donzelli, Roma, 2005. 4 Zum Thema des jeweils unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Horizonts im Okzident und in der islamischen Welt vgl. J. Le Goff, Histoire et m¦moire, Gallimard, Paris, 1988.
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Tag auf viele europäische Aufklärungsforscher ausübt. Dialektisch ausgedrückt, sah Hegel die Aufklärer als »denkende Realität«, als zugleich logische und geschichtliche Kategorie einer Phänomenologie des Geistes. Auf diese Sonderstellung und der nicht zu unterschätzenden Bedeutung für die Geschichtsschreibung werden wir noch zu sprechen kommen. Dennoch, es waren eben zweifellos die Philosophen selbst, die die Weichen für die künftige Lesart der Aufklärung gelegt haben, nämlich als Kategorie und spezifischen Begriff für die Entwicklungsgeschichte der Moderne. Noch heute besteht die gefährlichste Falle, zugleich die größte Herausforderung darin, ein klares und präzises Konzept zu erarbeiten, das eine solide theoretische Grundlage für die Auseinandersetzung mit den Aufklärern bilden könnte. Ohne die Erkenntnis, dass geschichtliche Prozesse einer genauen politischen Sprache bedürfen, ohne die sie nicht denkbar sind, können kaum brauchbare Einsichten in die historische Dimension dieses Themas gewonnen werden5. Tatsächlich wurde die Begriffsbildung der Aufklärung, wie sie uns als kategoriale Ausnahmeerscheinung für die Geistesgeschichte des Abendlandes überliefert ist, hauptsächlich von zeitgenössischen Denkern wie Montesquieu, Voltaire, Hume, Gibbon und vielen anderen geleistet. Deren Auffassung von Universalgeschichte und die Idee von Geschichte selbst wurde überhaupt erst möglich, als diese Aufklärer die epochale Neuheit der »geschichtlichen Zeit«, einführten. Diese säkularisierte Zeit gründete auf geistiger, vor allem aber auf anthropologischer Ebene auf der Abfolge von Vergangenheit und Zukunft, sowie auf dem Wechselspiel von Zeiterfahrung und Zeiterwartung. In diesem Zusammenhang würde heute kein seriöser Wissenschaftler mehr dem Urteil zustimmen, demzufolge die aufklärerische Geschichtsschreibung »anti-historisch« sei, denn diese Lesart entstammt dem politisch und ideologisch gefärbten Zeitgeist des 19. Jahrhunderts. Nur schwerlich könnte man Reinhard Koselleck widersprechen, der sich Wilhelm Diltheys6 bekannter Rehabilitierung der Aufklärung anschließt, wenn er schreibt: »Unser moderner Geschichtsbegriff ist ein Ergebnis aufklärerischer Reflexion über die anwachsende Komplexität der Geschichte überhaupt«. Geschichte wird damit endlich
5 Zu dieser Debatte siehe das Stichwort »Aufklärung« in O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschand, Klett-Cotta, Stuttgart, 1972, Bd. 1, S. 240 ff. 6 Vgl. W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte [1883], ebenso Studien zur Geschichte des deutschen Geistes: Leibniz und sein Zeitalter. Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung. Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Teubner et al., Stuttgart, 1959 (unverändert übernommen in Gesammelte Schriften, Bände 1 – 24, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006.
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aus sich heraus verstanden, als »Geschichte an und für sich«, als »eine Geschichte schlechthin« mit ihrer autonomen Semantik, die es vorher so nicht gab7. Tatsächlich kulminierte im Laufe des 18. Jahrhunderts ein langer und komplizierter Prozess, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts angestoßen worden war. Bezeichnenderweise hatte sich bei den Zeitgenossen in dieser Phase ein Bewusstsein ausgebildet, in einer Zeit des Aufbruchs zu leben, in einer »modernen Zeit«, die sich von der vorhergegangenen anscheinend grundlegend unterschied. Ein Zeitalter, das sich einerseits durch die eigene Andersheit in Bezug auf die Vergangenheit und deren kritische Überarbeitung auszeichnete und zugleich durch die Fähigkeit bestach, eine gänzlich neue, weil zukunftsträchtige Gegenwart zu entwerfen. Viele sprachen von dieser modernen Geschichte als einem Zeitabschnitt, in dem alle früheren Sicherheiten wegbrachen. Der Begriff ›modern‹ leitet sich denn auch von dem Wort modus ab, im Sinne von Bewegung, von Seinszustand in stetigem Werden8. Dass Voltaire in seinem Essai sur les moeurs die Begriffe einer ›histoire ancienne‹ prägte, die dieser ›histoire moderne‹ vorausgegangen war, von ›temps modernes‹, von einem ›progrÀs de l’esprit humain‹, ist keineswegs ein Zufall, sondern zeigt nur einmal mehr, dass diese bedeutenden Formeln bereits in den allgemeinen Sprachgebrauch der Geschichtsschreibung Einlass gefunden hatten. Voltaire setzte 1765 den Begriff ›philosophie de l’histoire‹ in die Welt, was eine bestimmte Auslegung der geschichtlichen Ereignisse voraussetzte: ein solches Geschichtsbild war der christlichen Heilsgeschichte, wie sie Augustinus vertrat und wie sie von Bossuet 1681 in seinem religiösen Grundwerk Discours sur l’histoire universelle noch einmal bestätigt wurde, diametral entgegengesetzt9. Anders gesagt, am Ende des 18. Jahrhunderts setzten die Aufklärer einer Jahrtausende alten theologisch verstandenen Geschichtsauffassung ein vollkommen neues, philosophisch begründetes Geschichtsbild entgegen. Von da ab gab es kein Zurück mehr zu einem eschatologisch geprägten Weltbild, auf dem bis zu diesem Zeitpunkt das christliche Denken basierte, und das zudem eine der tragenden Säulen des kirchlichen Machtsystems bildete. Politik und Logik des absolutistischen Fürstenstaates hatte bereits im Jahr7 Vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1979, S. 12. Erst die Aufklärung, so Koselleck, habe aus der diffusen Geschichte im Plural einen Allgemeinbegriff gemacht, eine »Geschichte als Kollektivsingular ohne Bezugnahme auf ein zugehöriges Subjekt bzw. durch die Erzählung bestimmbares Objekt.« (Ibidem, S. 264). 8 Vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, a. a. O., S. 266 f. 9 Vgl. Voltaire, Essai sur les moeurs et l’esprit des nations, GenÀve, 1765. Schon Karl Löwith wies in seinem Essay Meaning in History : The Theological Implications of the Philosophy of History, (Chicago, 1949), darauf hin, dass Voltaire als erster Intellektueller wie ein philosophischer Historiker argumentiert habe, in offenem Gegensatz zur damals üblichen theologischen Auffassung von Geschichte.
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hundert zuvor die kirchliche Vorherrschaft über das Gewissen unterminiert, da er das Recht auf Zukunftsdenken für sich beanspruchte: Vernunft, nicht Glaube, rational begründete Prognose, nicht Prophezeiung sollten den Menschen lenken. Im Gefolge der Aufklärung entstanden grandiose Geschichtsentwürfe, wodurch das religiöse eschatologische Verständnis von Zeit, wie es Augustinus so einzigartig in seinem Hauptwerk Vom Gottesstaat beschrieben hatte, unwiderruflich von einem diesseitigen Zeitbegriff abgelöst wurde, infolgedessen die irdische Planbarkeit der Zukunft nun in den Händen der Menschen und der Völker lag. Das führte auch zu einer gewandelten Zeitauffassung: Zeit verlief demnach nicht mehr einfach linear, sie war keine Form, die alle Geschichten in ihrem zyklischen Kreislauf in sich aufnahm, sondern sie wurde selbst zu einer dynamischen Größe, ihr wurde mithin eine historische Eigenschaft zugesprochen. Auf diese Weise stellte sich Geschichte nicht mehr als zeitlicher Ablauf dar, sondern als Zeit schlechthin10. Die Folge war natürlich eine alles umwälzende erkenntnistheoretische Revolution. Dem »naiven Realismus« der historia magistra vitae, wie Cicero noch sagt, wonach also Geschichte in ihrem chronistischen Sinne als eine festgeschriebene Sammlung von Beispielen verstanden wurde, als Katalog und speculum vitae humanae, verbürgt allein durch Augenzeugenschaft und immer gleichbleibend, wurde das perspektivische Modell gegenüber gestellt. Die Perspektive wurde als unabdingbares, gnoseologisches Element erkannt, als ganz und gar legitim und sogar entscheidend für die Geschichtswissenschaft, wie wir sie heute verstehen. Die Aufklärer ließen sich von ganz bestimmten ideologischen und philosophischen Ideen leiten: so gingen sie zum Beispiel davon aus, dass die Menschheit in ihrer Zivilisationsgeschichte verschiedene Stadien durchlaufen würden und glaubten fest an deren stetig fortschreitende Vervollkommnung. Die Werke der Aufklärer machte den Geschichtswissenschaftlern klar, dass die Quellenkritik allein, wenngleich nicht zu unterschätzen, keineswegs ausreichte, um die Geschichte »in sich und für sich« zu verstehen, da diese Methode sich noch zu stark an die mittlerweile veraltete Wissenstradition an10 Laut Koselleck hat sich der »heutige Begriff der Geschichte erst gegen Ende des 18. Jh.s herausgebildet. »Er ist ein Ergebnis lang anhaltender theoretischer Reflexionen der Aufklärung. Zuvor gab z. B. die Geschichte, die Gott mit der Menschheit veranstaltete, aber es gab keine Geschichte, deren Subjekt die Menschheit gewesen wäre oder eine Geschichte, die als Subjekt ihrer selbst gedacht werden konnte. Zuvor gab es Geschichten im Plural, vielerlei Geschichten, die sich ereigneten und die als Exempel zum Unterricht der Moral, der Theologie für das Recht und in der Philosophie dienen mochten. […] Wenn jemand vor etwa 1780 gesagt hätte, er studiere Geschichte, dann hätte ihn der Gesprächspartner gefragt: welche Geschichte? Geschichte wovon? Reichsgeschichte oder Geschichte der theologischen Lehrmeinungen oder etwa die Geschichte Frankreichs? Geschichte war, wie gesagt, nur denkbar mit einem ihr vorgeordneten Subjekt, das Veränderung erleidet oder an dem sich Wandel vollzieht«. (R. Koselleck, Vergangene Zukunft, a. a. O., S. 262 – 263).
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lehnte. Um den erkenntnistheoretischen Prozess voranzutreiben, bedürfe es dagegen anderem. Einerseits müsse die heuristische Funktion der Philosophie erkannt werden, und andererseits sei zu akzeptieren, dass die Geschichte nicht ein für alle Mal geschrieben sei, sondern beständig neu geschrieben werden müsse, dass die Wahrheit ein Kind ihrer Zeit sei und somit von dieser geprägt, sowohl was den kritisch-philologischen Aspekt betreffe als auch in Hinsicht auf die Formulierung bestimmter »Standpunkte« und Geschichtsbewertungen, die wiederum allein aus ihrer Zeit heraus zu deuten seien11. Kein Geringerer als Goethe brachte die tiefe Bedeutung dieser Revolution des abendländischen Geistes auf bewunderungswürdige Weise auf den Punkt: »Dass die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben«. Die gleiche Überzeugung trifft man bei Hegel an, der, so Koselleck, »seine philosophische Weltgeschichte von der Subjektivität der Besserwisser abhob« und deren geistiges Prinzip als »Totalität aller Gesichtspunkte« definierte12. Hier, in diesem intellektuellen Kontext sind die Anfänge unseres heutigen Verständnisses der Aufklärung als einzigartigen Zwitterwesens, das heißt in ihrer zugleich geschichtlichen und philosophischen Natur zu verorten. Als in diesem Zusammenhang das Nachdenken über den Beginn der Moderne in der abendländischen Geschichte begann, sollte diese Konzeption sich sehr bald als ausschlaggebend durchsetzen, denn es war eine Moderne, die dazu verdammt war, nur aus sich selbst heraus ein eigenes Selbstverständnis mit nur ihr eigenen Normen hervorzubringen13.
11 Davon wird in der zweiten Vorlesung ausführlicher die Rede sein. Vorläufig soll der Hinweis auf das Buch von A. Momigliano genügen: Sui fondamenti della storia antica, Einaudi, Torino, 1984 (Originalausg.: Essays in Ancient and Modern Historiography, 1977), wo das Problem der unvermeidlichen Relativität im modernen Geschichtsdenken eingehend diskutiert wird. Die heutige Auffassung von Geschichte zwinge zu einer »ständigen Revision von Dingen in ständigem Wandel«, bei gleichzeitigem Anspruch, eine klare Unterscheidung zwischen wahr und falsch keinesfalls aufgeben zu wollen. 12 Siehe dazu R. Koselleck, Vergangene Zukunft, a. a. O., S. 195 (Goethezitat) und S. 198 (Hegelzitat). 13 Vgl. dazu Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1966 (Neuausgabe 1996): erst der säkularisierte Blick auf Zeit und Geschichte habe es, so Blumenberg, der Moderne ermöglicht, sich deutlich von der Vergangenheit abzusetzen und ein eigenes Zukunftsmodell zu entwickeln.
II. Kant: Was ist Aufklärung? Die Emanzipation des Menschen durch den Menschen
Im Jahre 1784 schrieb Kant in der »Berlinischen Monatsschrift« eine kurze Erläuterung mit dem Titel Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, die sehr präzise zusammenfasst, wie wichtig den Zeitgenossen die allgemeine Suche nach einem Sinn, einem Ziel im Geschichtsprozess war und vor allem welch herausragende Bedeutung die Frage nach dem kulturellen Phänomen der Aufklärung, wie es die deutschen Gelehrten mittlerweile nannten, darin zunehmend einnahm. Kant unterscheidet zum einen scharf zwischen der bloßen Erzählung von Ereignissen, der »eigentlichen bloß empirisch abgefassten Historie« von, zum anderen, der »Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat«1. Diesem Grundgedanken zufolge war der Gattung Mensch, als Menschheit in ihrer grundlegenden Einheitlichkeit, jenseits aller Wechselfälle des Lebens, eine stetige Anlage zum »Fortschritt« eigen. Die Nachweise für diese These sind im Umfeld einer allgemeinen Geschichtsauffassung auszumachen, die Natur und Moral, Sein und Sein-müssen, biologischen Determinismus und menschliche Freiheit ineinander verwob. Erbracht wurden diese Nachweise auf zweierlei Art und Weise: einmal in den von Bonnet, Haller und Blumenbach in ihren Abhandlungen zur Epigenetik und zum Präformismus der Arten formulierten Naturgesetzen. Zum anderen an der konkreten Bedeutung der Französischen Revolution, die Europa erschütterte. Kant sah in diesem Ereignis von so großer Tragweite, ungeachtet des Jakobinischen Terrors und der vielfältig verübten Greueltaten, ein deutliches historisches Zeichen, dass dem Menschengeschlecht eine moralische Anlage innewohne, sich positiv zu engagieren und sich kollektiv am Aufbau eines moralischen Ideals des Guten und Fortschreitens zu 1 Vgl. I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: Kants gesammelte Schriften, Akademie-Textausgabe (photom. Abdruck der Ausgabe hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1912/1923), De Gruyter, Berlin, 1968, Bd. VIII, S. 15 – 32. Siehe dazu ebenso M. Riedel, »Historie oder Geschichte? Sprachkritik und Begriffsbildung in Kants Theorie der historischen Erkenntnis«, in: J. Mittelstraß / M. Riedel (Hrsg.), Vernünftiges Denken, De Gruyter, Berlin-New York, 1978.
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beteiligen, ebenso wie an der Verteidigung von Freiheit und individuellen Rechten: »Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergisst sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte.«2. Kant benutzte den Begriff »Aufklärung« schon in seiner ersten Abhandlung über die Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) als Synonym für Motor und wesentliche Bedingung des Fortschritts, jedoch ohne den Begriff weiter zu erläutern. Er beschränkte sich darauf hervorzuheben, welche Auswirkungen eine »stetige Aufklärung« auf die Menschengattung habe, nämlich jene moralische Gesinnung, die zur »Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft« führe, indem man eine Verfassung und Traktate erarbeite, die Freiheit, Frieden, Sicherheit innerhalb und außerhalb der Staaten garantieren sollen. Wenn auch der einzelne Mensch (aus so »krummem Holz«, wie er gemacht ist), zu oft in seiner Niedertracht gefangen bleibe, so zeige doch die Beobachtung der Natur, dass dagegen die Gattung Mensch durch die Aufklärung in den Stand gesetzt werden könne, das Ziel einer »allgemeinen weltbürgerlichen Ordnung« zu erreichen, die allen Menschen die gleichen Rechte einräumen würde, ohne Ausnahme und Partikularismen. Die Natur, so Kant, bedürfe »einer vielleicht unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert, um endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung zu treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist.« Und diese Keime seien unzerstörbar. Die allgemeine Geschichte bezeuge, dass trotz aller Rückschritte, Kriege und Übel ein mehr, »ein Keim der Aufklärung übrig blieb, der, durch jede Revolution mehr entwickelt, eine folgende noch höhere Stufe der Verbesserung vorbereitete«3. Wenige Monate darauf nahm Kant das Thema erneut auf, denn das Argument stand nunmehr im Mittelpunkt einer Kontroverse. In der Berlinischen Monatsschrift erschien einer seiner berühmtesten Aufsätze, und zwar die Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Darin beschreibt Kant die Aufklärung als vernunftgeleitete Handlung, die von einem starken »Geist der Freiheit« angetrieben wird, und die zugleich mit einem natürlichen Erkenntnisbedürfnis verbunden ist. Es handelt sich also um eine, 2 Vgl. I. Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), in Kants gesammelte Schriften, AkademieWerkausgabe, a. a. O., Bd. VII, S. 88. In dieser Schrift geht es um die »erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei.« 3 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in Kants gesammelte Schriften, Akademie-Textausgabe, a. a. O., Bd. VIII, S. 29 – 30.
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wie wir heute sagen würden, geistige Haltung, die in der Lage ist, das »beständige Fortschreiten zum Besseren« zu garantieren, sprich, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen«. Diese Haltung führte damals jedoch, konsequent zu Ende gedacht, zu Aktionen, die sich mit der schon gegebenen Welt des Ancien R¦gime nicht in Einklang bringen ließen: so ergab sich zum Beispiel zwingend die Notwendigkeit, mit dem Primat der Tradition als moralischem Vorbild zu brechen, das Gegebene schon in seinem Fundament zu kritisieren, den Mut zu haben, die in allen Bereichen Jahrhunderte lange Vorherrschaft der auctoritates anzuzweifeln, um stattdessen das Recht des Menschen auf Streben nach Glück zu behaupten. Obschon Kant diesen Sachverhalt zwar nicht verschwieg, so sah er doch davon ab, ihn allzu sehr hervorzuheben, um Konflikte zu vermeiden. Kant zufolge war die Aufklärung eigentlich, vereinfacht gesagt, nichts anderes als ein mutiger Entschluss zum Handeln, eine leidenschaftliche Einladung, die Emanzipation zu wagen: tatsächlich bedeutete Aufklärung für ihn den »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung«4. Damit war die Aufklärung als Recht und zugleich als Pflicht zur Emanzipation des Menschen durch den Menschen selbst definiert, unausbleiblich, auch wenn man sie als einzelner Mensch auf einige Zeit aufschieben könne, aber nicht grundsätzlich verleugnen dürfe, denn das würde bedeuten, »die heiligen Rechte der Menschheit zu verletzen und mit Füßen zu treten«, mithin den »Fortgange der Menschheit zur Verbesserung« zu vernichten. »Ein Zeitalter«, so präzisierte Kant, »kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muss, seine […] Erkenntnisse zu erweitern«. Und aus diesem Grund nannte er explizit die zu akzeptierenden Grenzen im Gebrauch des Verstandes: »Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft – zum Beispiel – muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen«. Anders verhalte es sich dagegen mit dem Privatgebrauch aufklärerischen Denkens im Amt oder einem bürgerlichen Posten. Geistliche oder Offiziere im Dienst, um nur zwei Beispiele zu nennen, müssten gehorchen, ihre Freiheit sei eingeschränkt, da man von ihnen den Respekt vor Satzungen und Direktiven einfordere. Absolut frei seien eben dieselben Personen hingegen, wenn sie als Bürger und Gelehrte von ihrem Recht 4 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in Kants gesammelte Werke, AkademieTextausgabe, a. a. O., Bd. VIII, S. 35.
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und ihrer Pflicht zur Kritik Gebrauch machten und öffentlich ihre Gedanken äußerten. Keine Einschränkung der Freiheit sollten hingegen die Gelehrten erfahren, als Mitglieder einer idealen Gelehrtenrepublik, die als Modell zum Wohl für das ganze Menschengeschlecht wirken sollte. »Caesar non est supra grammaticos«, unterstrich Kant. Hatte sich auf dem Feld der Politik und »Gesetzgebung« bei den Fürsten selbst die Einsicht durchgesetzt, dass ein Recht auf Kritik letztlich auch ihnen »zuträglich« sei, und also bereit waren, Kants Aufruf, »den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln«, Gehör zu schenken, so gab es in Religionsdingen noch viel zu tun. Denn hier herrschte nach wie vor ein rückwärts gewandter Blick auf festgefahrene Traditionen. Intoleranz und Autoritätsdenken verhinderten nach wie vor den Übergang zur Moderne, der sich auf anderen Gebieten bereits Bahn gebrochen hatte. In diesem Sinne erscheint die dringliche Aufforderung des Apostels Paulus im Brief an die Römer, den Worten Jesu Glauben zu schenken, um gerettet zu werden, dem von Kant gewählten Motto des Sapere aude!, das hingegen auf Horaz zurückgeht, diametral entgegengesetzt. Der vorprogrammierte Zusammenstoß zwischen geoffenbartem Glauben und aufklärerischem Vernunftgebrauch kulminiert im folgenden Satz: »Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die des Ausganges der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste ist.« Prägnanter hätte man den klaren Widerspruch zwischen dem Aufruf zu glauben und der Aufforderung, den eigenen Verstand zu gebrauchen, nicht formulieren können. Hier lag der eigentliche Knotenpunkt auf dem Weg der Emanzipation. Am Ende seines Gedankengangs, nach dem Versuch darzulegen, was er unter Aufklärung verstehe, war es Kant nicht länger möglich, der Frage auszuweichen, die damals die Zeitgenossen vornehmlich bewegte: »Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?« Er verneint. Das 18. Jahrhundert sei kein »aufgeklärtes Zeitalter«, sondern nur ein »Zeitalter der Aufklärung«. Dass die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzen genommen, schon imstande wären oder auch nur in Stand gesetzt werden könnten, »in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, dass jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger
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werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung oder das Jahrhundert Friederichs«5. Damit bekräftigte Kant seine Auffassung, dass die Aufklärung weder eine präzise und unwiederholbare Geschichtsepoche sei, denn in der Vergangenheit seien ja die Bedingungen für einen freien und öffentlichen Gebrauch des Verstandes bereits auf die ein oder andere Art in Erscheinung getreten und konnten also auch in Zukunft wieder auftauchen. Ebenso wenig sei sie eine logische, historisch determinierte Kategorie des Denkens, denn die Formen des Verstandes mit den ihr innewohnenden Möglichkeiten und Beschränkungen seien stets dieselben. Es handele sich vielmehr um eine spezifische Verstandestätigkeit. Die historischen Bedingungen hingegen für den Fortgang des Menschengeschlechts hin zum Ideal eines in der Zukunft liegenden aufgeklärten Zeitalters, seien überhaupt erst zu schaffen. Diese an sich eindrucksvolle Darstellung öffnete allerdings einer bis heute weit verbreiteten Sichtweise Tür und Tor, die die Aufklärung lediglich als geistige Haltung definieren möchte, als politischen Mythos, als Fortschrittsglauben und allgemein als Philosophie des Menschen, der für sein Schicksal selbst verantwortlich sei. Oder auch als Utopie, die in verschiedenen und immer neuen Anläufen von »Neo-Aufklärungen«6 die Emanzipation des Menschen durch den Menschen in die Tat umsetzen soll. Im übrigen hatte Kant seine Überlegungen mit einem radikalen Neuansatz besiegelt, wobei das Individuum sowohl in seiner Autonomie als auch in seiner erkenntnistheoretischen Beschränkung neu verhandelt wurde. Genau dahin liegen Stärke, Reiz und Aktualität des Kant’schen Denkens. In seinen Augen hatte sich das Bild der alten Metaphysik nach dem durchschlagenden Erfolg der naturwissenschaftlichen Revolution, die mit dem Werk von Galilei und Newton ihren Gipfelpunkt fand, vollkommen gewandelt, und zwar auf Grund des mächtigen Emanzipationsschubes, den die neuen Wissenschaften auf das Leben der Menschen hatte. Damit fand Kant sich in Übereinstimmung mit Diderot, Rousseau, Filangieri und vielen anderen. 1798 schrieb er, sozusagen als krönenden Abschluss seines Gedankengebäudes: »Ich habe aus der Kritik der reinen Vernunft gelernt, dass Philosophie nicht etwa eine Wissenschaft der Vorstellungen, Begriffe und Ideen, oder eine Wissenschaft aller 5 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in Kants gesammelte Werke, AkademieTextausgabe, a. a. O., Bd. VIII, S. 40. 6 Beispiele für eine kämpferische Neo-Aufklärung gibt es durchaus auch im Italien des 20. Jh.s, siehe dazu M. Pasini / D. Rolando (Hrsg.), Il neoilluminismo italiano. Cronache di filosofia (1953 – 1962), Il Saggiatore, Milano, 1991. Einschlägiger ist jedoch die ironisch gemeinte Polemik von Karl Marx gegen Bruno Bauer und die liberalen Junghegelianer in den Essays Zur Judenfrage von 1843 – 44. Cfr. K. Marx / F. Engels, Werke, hrsg. vom Institut für MarxismusLeninismus beim Zk der SED, Dietz Verlag, Berlin (Ex-DDR), 1956ff, Bd. I, Deutsch-Französische Jahrbücher, Ss. 347 – 377.
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Wissenschaften, oder sonst etwas Ähnliches sei; sondern eine Wissenschaft des Menschen, seines Vorstellens, Denkens und Handelns; sie soll den Menschen nach allen seinen Bestandtheilen darstellen, wie er ist und sein soll, d. h. sowohl nach seinen Naturbestimmungen, als auch nach seinem Moralitäts- und Freiheitsverhältnis«7.
7 Vgl. I. Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), in Kants gesammelte Werke, Akademie-Textausgabe, a. a. O., Bd. VII, S. 69.
III. Hegel: die Dialektik der Aufklärung als philosophisches Problem der Moderne
Kant war nicht der einzige, der am Ende des 18. Jahrhunderts über das Verhältnis der Aufklärer zur allgemeinen Geschichte nachdachte. In der »Berlinischen Monatsschrift« erschienen heftige polemische Schriften und Gegenschriften namhafter Autoren1, die Aufsehen erregten. Die Debatte löste eine Flut von Beiträgen und Artikeln aus, was bewies, wie brennend aktuell die Frage nach dem historischen Selbstverständnis der Moderne war, die durch die Reflexion über das Wesen der Aufklärung angestoßen worden war. Es war kein Zufall, dass ausgerechnet die Jesuiten, die von jeher ein wachsames Auge auf intellektuelle Konfrontation und deren politische Auswirkungen hatten, den Begriff der katholischen Aufklärung als polemisches Gegenstück zu der falschen Aufklärung von Kant und seinen Gesinnungsgenossen2 prägten. Trotz des enormen damaligen Interesses wurde diese Debatte bald vergessen, da sie von der weitaus langlebigeren Diskussion um Hegels Beiträge zur Aufklärung in den Schatten gedrängt worden war. Es war Hegel, der am Anfang des 19. Jahrhunderts, also zwischen der Napoleonischen Epoche und der Restauration, das Fundament für die philosophische Aufklärung legte, die bis heute die Diskussion dominiert. Hegel vertrat eine völlig andere philosophische Auffassung als Kant und die Aufklärer: er lenkte den Blick vom Primat des Subjekts, das sich im Spiegel betrachtet, auf den Schöpfergeist, der Realität schafft, und verneinte die Vorstellung, dass der Mensch in seiner autonomen Endlichkeit im Mittelpunkt des theoretischen Interesses stehen könne. Hegel entwirft die Vorstellung eines Menschen, der organisch mit dem Universum und einer ewig waltenden Natur verbunden ist, und gibt dementsprechend dem Einzelnen in seiner abstrakten 1 Vgl. E. Tortarolo, La ragione della Sprea. Coscienza storica e cultura politica nell’illuminismo berlinese, il Mulino, Bologna, 1989, S. 261 ff. Einen guten Überblick bietet die Textsammlung von N. Merker (Hrsg.), Kant: Che cos’À l’Illuminismo? »Con altri testi e risposte di Erhard, Forster, Hamann, Herder, Laukhard, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wedekind, Wieland«, Editori Riuniti, Roma, 1987. 2 Vgl. A. Trampus, I gesuiti e l’Illuminismo. Politica e religione in Austria e nell’Europa centrale (1773 – 1798), Olschki, Firenze, 2000, S. 252 ff.
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Determiniertheit, der seine eigene Glückseligkeit verfolgt, weniger Raum. Da wo sich Kant zu einer Reflexionsphilosophie vorgewagt hatte, in erster Linie verstanden als »Wissenschaft des Menschen«, versuchte Hegel diese Position in seiner Phänomenologie des Geistes zu überwinden, darin völlig in Einklang mit seiner Lutherschen Bildung. In dieser neuen Wissenschaft wird der Creator Spiritus der johanneischen Tradition und der Begriff der göttlichen Dreifaltigkeit des Christentums wiederbelebt und das werdende Wissen als Prozess der dialektischen Selbstentfaltung des Weltgeistes verstanden. Das gemeinsame Interesse an der Moderne und ihrer Stellung in der Weltgeschichte verband Hegel mit dem 18. Jahrhundert und war für ihn die philosophische Frage par excellence: ihm zufolge waren das Selbstbewusstsein der Moderne und die sich entwickelnde Aufklärung, verstanden in ihrem dialektischen Wesen3, unmittelbar mit dieser Frage verknüpft. Anders als die Aufklärer sah Hegel den hohen Preis, den die Diskontinuität forderte, er sah die dramatischen Probleme, die der Bruch zwischen Tradition und Moderne mit sich brachte. Er fragte sich, wie es möglich sein solle, mit einem einzigen Handstreich die Vergangenheit zu verurteilen und auszulöschen und das Subjekt als Protagonisten einzusetzen? Hegel zufolge war es gefährlich, vor allem aber einseitig, in der Moderne allein die positive Fortschrittserwartung zu sehen, die Idee einer für die Zukunft offenen Gegenwart, ungeachtet der Krisen und furchtbaren »Spaltungen«, (die überhaupt das Bedürfnis nach Philosophie erst aufkommen ließen), nicht zu vergessen die Prozesse, die das Individuum in seiner geschichtlichen Entfaltung zu einem unglücklichen Selbstbewusstsein und durch das subjektivistische Prinzip letztendlich zu Entfremdung führen. Die Französische Revolution und die Gemetzel der napoleonischen Kriege ließen denn auch wenig Raum für eine heitere Sicht der Wirklichkeit und der menschlichen Belange. Dieses Prinzip der Subjektivität, welches angefangen vom cogito ergo sum des Descartes bis hin zum absoluten Selbstbewusstsein Kants das Verständnis der Moderne geprägt hatte, konnte unmöglich alle Aspekte des Geisteslebens umfassen. In den Formen des Individualismus konnte sich zwar das Recht auf freien Gebrauch der Urteilsfähigkeit angesichts des politischen Handelns ausdrücken, ebenso aber auch eine »atomistische Subjektivität«, die der stetigen Entzauberung und Objektivierung der Natur durch die naturwissenschaftliche Revolution Vorschub leistete. Hegel war sich jedenfalls dessen bewusst, dass sich neben dem positiven Fortschrittsdenken, das dieser Epoche eigen war, ein allgemeines Gefühl der Krise breit machte, ein 3 Jürgen Habermas bezeichnet Hegel, völlig richtig, als den eigentlichen Begründer der philosophischen Moderne. Siehe dazu J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Suhrkamp, Franfkurt/M., 1985.
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Empfinden von tiefer existentieller Unbehaglichkeit. Schließlich war man Zeitzeuge von solch dramatischen Ereignissen wie dem Todeskampf des Ancien R¦gime oder auch der gewaltsamen Abwicklung Jahrhunderte alter Bräuche und Traditionen. Die Philosophie Kants war auf der subjektiven Reflexion und Autonomie der Vernunft in ihrer ganzen Wirklichkeit gegründet, was, so Hegel, unvermeidlich zu Kontinuitätsbrüchen und Zäsuren, und in der Gegenwart zu Formen der Entfremdung führen musste. Dem stellte Hegel seine Philosophie der Einheitlichkeit und »Versöhnung« gegenüber. Letztere ist ein Schlüsselbegriff der Phänomenologie des Geistes, die sich als Wissenschaft versteht und auf zwei Voraussetzungen beruht: erstens auf der Konzeption einer Theorie des absoluten Geistes und zweitens auf der Grundlage der Spaltung von Sein und Nicht-Sein, Begriff und Sein, Endlichkeit und Unendlichkeit, also eines Seins »außerhalb-des-Bewusstseins-der-Totalität«. Die Aufgabe der Philosophie bestand nun laut Hegel darin, diese Einheitlichkeit wiederherzustellen, wobei Versöhnung nicht als Verstandeskunst aufgefasst wurde, sondern eher als vom Verstand getätigte Reproduktion dessen, was das Wesen des Geistes in seiner Manifestation sei, das heißt: »Die Aufgabe der Philosophie besteht aber darin, diese Voraussetzungen zu vereinen, das Sein in das Nichtsein – als Werden, die Entzweiung in das Absolute – als dessen Erscheinung, das Endliche in das Unendliche – als Leben zu setzen«4. In diesem Bezugsrahmen wurde in der Phänomenologie des Geistes, unter dem Deckmantel der Kritik und der Dialektik der Aufklärung selbst, die Auseinandersetzung um das Selbstverständnis der authentischen Bedeutung der Aufklärung abgehandelt, und zwar ging es vorwiegend um den Begriff des Geistes in seiner immanenten, notwendigen Entwicklung, und um das Konzept der Vernunft als Wirklichkeit im Sinn einer »Einheit von Wesen und Existenz«. Die Aufklärung wurde als Entwicklungsstadium und logisches Moment im Leben des Geistes identifiziert, und gleichzeitig als entscheidende Epoche in der Weltgeschichte. In der Phänomenologie des Geistes sollte das werdende Wissen dargelegt, die verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen des Weges in sich gefasst werden. Hegel zeichnet Momente, Gestalten, Entwicklungsstufen und Entwicklungszustände des Geistes auf seinem verschlungenen dialektischen 4 G.W.F. Hegel, Werke in 20 Bänden, Theorie-Werkausgabe, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1971, Bd. 2 – Jenaer Schriften 1801 – 1807, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801), S. 25. Wie aktuell diese Überlegungen nach wie vor sind, beweist das lebhafte Interesse Gadamers an Hegel. So schrieb Gadamer 1962, es sei allein der Hegelsche Geist, der die Grundlage einer radikalen Kritik am Subjektivismus bieten könne. Hegels Geistprinzip, das jede Subjektivität des Ichs überwinde, finde seinen idealen Niederschlag im Sprachvermögen, und es sei kein Zufall, dass die Sprache als Phänomen immer stärker in den Mittelpunkt der zeitgenössischen Philosophie rücke. Siehe dazu G. Vattimo (Hrsg.), Filosofia ’68, Laterza, Roma-Bari, 1987, S. 89.
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Weg nach, durch welchen der Geist reines Wissen oder absoluter Geist wird. In dieser neuen Wissenschaft, in der das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein, die beobachtende und handelnde Vernunft beobachtet werden, lässt sich die Aufklärung geschichtlich präzise in eine Phase der Krise und der entfremdeten Welt einordnen, und zwar eine dramatische Endphase, in der der kulturelle Fortschritt als Entfremdung des natürlichen Seins empfunden wird. In der dialektischen Bewegung, wie Hegel sie definiert, ist der Weltgeist auf der ersten Stufe im Zustand des An-Sich-Seins, auf der zweiten im Zustand des Anders-Seins und auf der dritten Stufe im Zustand des An-Und-Für-Sich-Seins: »Denn diese Bewegung, wenn wir sie näher betrachten, ist unmittelbar das Gegenteil ihrer selbst. Sie setzt nämlich einen Unterschied, welcher nicht nur für uns kein Unterschied ist, sondern welchen sie selbst als Unterschied aufhebt.«5 Die Aufklärung stellt darin die dritte und höchste Stufe dar, der Geist findet zu sich selbst zurück. Als abstrakte, inhaltsleere Vernunft bringt sie »als reines Wissen« den Geist »durch seine Tätigkeit selbst hervor«. »Die Aufklärung«, präzisiert Hegel – und kommt so zu dem entscheidenden Punkt seiner Abhandlung – »vollendet auch an diesem Reiche, wohin sich der entfremdete Geist, als in das Bewusstsein der sich selbst gleichenden Ruhe rettet, die Entfremdung« und zwar indem sie einen Krieg gegen das »Entgegengesetzte« entfacht, gegen die andere Seite des »reinen Bewusstseins«, gegen den »Glauben«, verstanden als Einsicht ohne Inhalt; »sie verwirrt ihm die Haushaltung, die er hier führt, dadurch, dass sie die Gerätschaften der diesseitigen Welt hineinbringt, die er als sein Eigentum nicht verleugnen kann, weil sein Bewusstsein ihr gleichfalls angehört«.6 In dem unerbittlichen und dramatischen Kampf der Aufklärung gegen den Glauben, in ihrem fanatischen »Ausrotten des Irrtums« durch das Entlarven von Aberglauben und Wunderglauben, gegen den Volksglauben, gegen die Priesterschaft und jegliche Art von Offenbarung, die auf Traditionen begründet war, sei den Aufklärern der Glaube sogar als Lüge erschienen. Der Grund des Glaubens sei unterschätzt und auf »Irrtum und Vorurteil« reduziert worden. Der unüberwindbare Widerspruch zwischen menschlichem und göttlichem Recht sei nur eines von zahlreichen Beispielen, die zu einer Spaltung und umfassenden Krise geführt hätten, zu einer scharfen Auseinandersetzung ohne Rücksicht auf Verluste, zu einem unversöhnlichen »Kampf mit dem Entgegengesetzten«, das heißt, zwischen dem Glauben und den Aufklärern in ihrer Unfähigkeit zur Versöhnung. Es mag genügen, darauf hinzuweisen, dass die reine Einsicht des 5 G.W.F. Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, a. a. O., Bd. 3 – Phänomenologie des Geistes, S. 126. 6 G.W.F. Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, a. a. O., Bd. 3 – Phänomenologie des Geistes, S. 362.
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sich selbst entfremdeten Geistes, in der Zielgerichtetheit der Reflexionsphilosophie, nicht zögerte, die Religion in die weltliche Kategorie der Nützlichkeit zu versetzen, die sich selbst hervorgebracht hatte. Somit wird der Glaube, als Objekt und als Ware, auf den »reinen Nutzen selbst« reduziert. Das gleiche Schicksal widerfährt jedoch dem Menschen: »Wie ihm alles nützlich ist«, so Hegel, »so ist er es ebenfalls und seine Bestimmung ebensosehr, sich zum gemeinnützlichen und allgemein brauchbaren Mitgliede des Trupps zu machen. […] Wo er aber sich befindet, ist er recht daran, er nützt anderen und wird genützt«.7 Aus dem Herrn der Welt wird ein untergebener Diener. In Wirklichkeit führte gerade die Logik der Dialektik, die Annahme eines unruhigen Geistes, nach dem endlichen Sieg der Aufklärung sehr bald zu einer wiederum dialektischen Umwälzung, und zwar zum Hervortreten neuer Momente und neuer Gestalten: es zeigte sich die dunkle Seite des Prinzips der Subjektivität und der ihr innewohnenden Konflikte. Kaum hatte der unaufhaltsamen Lauf zum absoluten Geist den »Himmel auf die Erde herunter verpflanzt«, kaum war also der Sieg errungen, enthüllte sich der Triumph als Trugschluss. Die Aufklärung habe »die schöne Einheit des Vertrauens und der unmittelbaren Gewissheit« des Glaubens zerrissen, und damit »sein geistiges Bewusstsein durch niedrige Gedanken der sinnlichen Wirklichkeit« verunreinigt. »Über jenes absolute Wesen gerät die Aufklärung selbst mit sich in den Streit, den sie vorher mit dem Glauben hatte und teilt sich in zwei Parteien,«8 und zwar einerseits in die Betrachtungsweise des atheistischen Materialismus und anderseits in die Gedankenwelt des Deismus, einer Religion ohne Kirchen, die nun ihrerseits das Glaubensprinzip, das sie gerade noch bitter bekämpft hatten, verteidigten. Weiterhin ungelöst blieb dabei das nach wie vor wesentliche Problem der Entfremdung des Geistes, genährt durch »diesen Makel des unbefriedigten Sehnens« der Aufklärung selbst, »als Tun und Bewegung an dem Hinausgehen über ihr Einzelwesen«. Gemeinsam sei den beiden Betrachtungsweisen, so Hegel, das reine »Fürsichsein«, das »reine Denken in sich selbst«. Tatsächlich seien beide Betrachtungsweisen »zum Begriffe der Cartesischen Metaphysik gekommen, dass an sich Sein und Denken dasselbe ist […] das Denken ist Dingheit, oder Dingheit ist Denken«9. 7 G.W.F. Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, a. a. O., Bd. 3 – Phänomenologie des Geistes, S. 416. 8 G.W.F. Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, a. a. O., Bd. 3 – Phänomenologie des Geistes, S. 425. Vorher schreibt Hegel, immer im Abschnitt über die Wahrheit der Aufklärung, wie es soweit kommen konnte: »Der Glauben ist in der Tat hiermit dasselbe geworden, was die Aufklärung, nämlich das Bewusstsein der Beziehung des an sich seienden Endlichen auf das prädikatlose, unerkannte und unerkennbare Absolute; nur dass sie die befriedigte, er aber die unbefriedigte Aufklärung ist.« (Ibidem, S. 423). 9 Ibidem, S. 427.
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Daher rühre der unaufhaltsame Wille der Einsicht, den »reinen Gedanken« in »reines Ding« zu verwandeln und damit sich selbst im Reich der Nützlichkeit zu objektivieren; somit sei auch zu erklären, wie »die neue Gestalt des Bewusstseins, die absolute Freiheit« hervortrete, »eine Gestalt, die sich nach der Niederlage des Glaubens auf den Thron der Welt erhebt, ohne dass irgendeine Macht ihr Widerstand zu leisten vermöchte. Hiermit ist der Geist als absolute Freiheit vorhanden; er ist das Selbstbewußtsein, welches sich erfaßt, dass seine Gewißheit seiner selbst, das Wesen aller geistigen Massen der realen so wie der übersinnlichen Welt«. Was Wunder, dass seine schrankenlose Tätigkeit, die nicht zwischen Wirklichkeit und Gedanken unterschied, am Ende »Tod und Schrecken«10 produzierte, bevor sie sich in einer neuen Phase der Versöhnung beruhigte? Wir könnten fortfahren, dem obskuren und manchmal unentzifferbaren Verlauf der Phänomenologie des Geistes im Detail zu folgen, in dessen komplexer logischer und dialektischer Definition der Aufklärung als großer philosophischen Fragestellung. Wir könnten noch lange den Brüchen, Widersprüchen und vorübergehenden Versöhnungen nachgehen und dieses Gefühl der Krise heraufbeschwören, wodurch das Sich-Auflösen des Geistes in der Wirklichkeit der Moderne hervorgerufen wurde und das man bei Hegel von Zeit zu Zeit zwischen den Zeilen lesen kann. Allerdings wollen wir nicht das eigentliche Ziel unserer Abhandlung aus den Augen verlieren, nämlich dieses bis heute lebendig gebliebene Denkmuster der Aufklärung zu verstehen, in ihrer Genese als Zwitterwesen zwischen Philosophie und Politik, zwischen theoretischem Geist und praktischem Handeln. Zu dieser Genese gehört auch die bis heute anhaltende europäische Tradition der Aufklärungskritik, die sich seit Hegels Phänomenologie des Geistes verfolgen lässt, also seit der 1807 begonnenen Dialektik-Debatte. Zu diesem Zweck wenden wir uns Hegels berühmten Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte zu, die 1837 posthum erschienen sind. Darin umriss der Philosoph und Denker noch deutlicher und wirkungsvoller seine komplexe Darstellung der Aufklärung aus geschichtlicher und philosophischer Perspektive als »auf den Thron gehobenen Begriff« der letzten und entscheidenden Stufe des entfremdeten und unglücklichen Geistes der Moderne: hier versuche, so Hegel, das subjektive Prinzip, welches der Reflexionsphilosophie Kants zugrunde liegt, die Wirklichkeit zu formen, indem es auf brutalste Art und Weise jede Zuhilfenahme des Prinzips der Autorität, den Rückgriff auf die Vergangenheit und die Kraft der Traditionen ausschließe. Der dafür zu zahlende Preis war eben die Revolution, der Schrecken. Die Reform Luthers dagegen – als 10 Ibidem, S. 439; siehe dazu auch den gesamten Abschnitt zum Thema: Die absolute Freiheit und der Schrecken, S. 431 – 441.
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Genesis der Moderne, verstand Hegel als »Periode des Geistes, der sich als freier weiß, indem er das Wahrhafte, Ewige, an und für sich Allgemeine will«11. Luther habe die geistige Freiheit und die konkrete Versöhnung erworben, indem er die göttlichen und die menschlichen Dinge, Endlichkeit und Unendlichkeit konkret miteinander versöhnte, während die Aufklärung nur im Menschen selbst und in der Natur die Antwort und den Inhalt gesucht hätte. Das habe zu Brüchen und dramatischen Rissen geführt, die man nur verstehen könne, wenn man den wesentlichen dialektischen Zusammenhang zwischen Aufklärung und Französischer Revolution beachte, dem dritten entscheidenden geschichtlichen Stadium der Moderne. »Das Denken ist jetzt die Stufe, auf welche der Geist gelangt ist«12, so Hegel, um dann fortzufahren: »Diese so auf das gegenwärtige Bewusstsein gegründeten allgemeinen Bestimmungen, die Gesetze der Natur und den Inhalt dessen, was recht und gut ist, hat man Vernunft genannt. Aufklärung hieß man das Gelten dieser Gesetze Das absolute Kriterium gegen alle Autorität hat man Vernunft genannt. Aufklärung hieß man das Gelten dieser Gesetze […]. Das absolute Kriterium gegen alle Autorität des Glaubens, der positiven Gesetze des Rechts, insbesondere des Staatsrechts war nun, dass der Inhalt vom Geiste in freier Gegenwart eingesehen werde.«13 Hegel beschrieb die geschichtliche Bestimmung der Aufklärung im Laufe des 18. Jahrhunderts, indem er einmal den Reformen von Individuen von ganz eigentümlicher und einziger Erscheinung wie Friedrich II. und darüber hinaus den politischen Theorien eines Rousseau und den französischen philosophes eine bedeutende Funktion zuschrieb. Außerdem untersuchte er die tiefgehenden Umwandlungen, die das Prinzip der Subjektivität sowie die Reflexionsphilosophie, in deren Zentrum das Subjekt stand und mit Kant seinen Höhepunkt erlebte, auf die Neudefinition der Politik, der Moral, der Religion und jeglicher Form der Erkenntnis gehabt hätten. Die Auffassung der Geschichte seit der Aufklärung sei eine vollkommen andere als noch im Ancien R¦gime, denn es habe sich definitiv ein Bruch mit der Vergangenheit vollzogen. »Mit den Naturgesetzen ist man dem ungeheuren Aberglauben der Zeit entgegengetreten sowie allen Vorstellungen von fremden gewaltigen Mächten, über die man nur durch Magie siegreich werden könne […], man hat Recht und Sittlichkeit als auf dem präsenten Boden des Willens des Menschen gegründet betrachtet«, erklärt Hegel, »da es früher nur als Gebot Gottes, äußerlich aufer11 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe, a. a. O., Bd. 12, S. 491, Dritter Abschnitt: Die neue Zeit. 12 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe, a. a. O., Bd. 12, S. 521. 13 Ibidem, S. 523.
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legt, im alten und neuen Testament geschrieben, oder in Form besonderen Rechts in alten Pergamenten, als Privilegien, oder in Traktaten vorhanden war. Man hat aus der Erfahrung empirisch beobachtet, was die Nationen als Recht gegeneinander gelten lassen (wie Grotius); dann hat man als Quelle des vorhandenen bürgerlichen wie Staatsrechts, in Ciceros Weise, die Triebe der Menschen, welche die Natur ihnen ins Herz gepflanzt habe, angesehen, so zum Beispiel den Sozialitätstrieb, ferner das Prinzip der Sicherheit der Person und des Eigentums der Bürger, sowie das Prinzip des allgemeinen Besten, die Staatsräson«.14 Mit den Aufklärern erreiche, so Hegel, die subjektive Freiheit ohne Fessel, das heißt die erste Voraussetzung der Moderne, ihren Höhepunkt: sie wird zur absoluten Freiheit. Der Wille war zu einem reinen, absoluten Willen geworden, zum Willen »an und für sich«. Von Rousseau, dem zufolge der Mensch sein eigener Wille sei, und also nur frei sein könne, sofern er frei sei zu wollen, war man auf diese Art und Weise zur Kantischen Philosophie gelangt: »Damit bleibt der Wille als Wille abstrakt. Der Wille ist frei nur, insofern er nichts Andres, Äußerliches, Fremdes will, denn da wäre er abhängig, sondern nur sich selbst, – den Willen will. Der absolute Wille ist dies, frei sein zu wollen. Der sich wollende Wille ist der Grund alles Rechts und aller Verpflichtung und damit aller Rechtsgesetze, Pflichtengebote und auferlegten Verbindlichkeiten. Die Freiheit des Willens selbst, als solche, ist Prinzip und substantielle Grundlage alles Rechts […], sie ist sogar das, wodurch der Mensch Mensch wird, also das Grundprinzip des Geistes.«15 Hegel hegte nie den geringsten Zweifel an der Tatsache (und das ist in all seinen Werken nachzulesen), dass die Französische Revolution ihre erste Anregung von der Philosophie erhalten habe und sie von dort ausgegangen sei: »Man hat gesagt, die Französische Revolution sei von der Philosophie ausgegangen, und nicht ohne Grund hat man die Philosophie Weltweisheit genannt, denn sie ist nicht nur die Wahrheit an und für sich, als reine Wesenheit, sondern auch die Wahrheit, insofern sie in der Weltlichkeit lebendig wird«.16 In diesem komplexen Gewirr der Dialektik liege das Geheimnis dieses welthistorischen Ereignisses verborgen, das den Lauf der Weltgeschichte auf ewig verändert habe. Im Gegensatz zu Kant, der in erster Linie das »historische Zeichen« der moralischen Anlage des Menschengeschlechts zum Fortschritt sah, war die Französische Revolution für Hegel der Beweis für die Einseitigkeit und die Gefahr des entfremdeten Geistes, wenn dieser durch die absolute Freiheit des 14 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe, a. a. O., Bd. 12, S. 522. 15 Ibidem, S. 524 f. 16 Ibidem, S. 527 f.
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Subjekts tätig wurde. Anfangs seien die Erwartungen und die Zustimmung, wovon er sich selbst nicht ausnahm, allgemein gewesen. Die Machtergreifung des menschlichen Gedankens in seiner ganzen Autonomie musste zwangsläufig eine Welt bewegen und begeistern, die deren Folgen noch nicht erahnen konnte. Hegel beschrieb diesen ersten Wendepunkt in der Weltgeschichte folgendermaßen: »Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, dass der Nous die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, dass der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen«17. In Wirklichkeit stand keine Versöhnung bevor, sondern das Gegenteil. Die darauf folgenden tragischen Ereignisse verdeutlichten, dass die aus der aufklärerischen Kultur hervorgegangenen Gedanken in ihrer Abstraktion und ihrem Wahrheitsanspruch immer phantastischer und polemischer gegenüber der Wirklichkeit wurden. Da die Aufklärung unerbittlich einer Art Mechanik der Revolution gefolgt sei, die der dialektischen Entwicklung des Geschichtsprozesses innewohne, seien die absolute Freiheit und der zügellose subjektive Wille in die Ablehnung der Traditionen und der Religion in Tugend als Terror umgeschlagen. Damit sei zunächst ein allgemeines Misstrauen in die Welt gekommen, sodann Furcht und schließlich Schrecken: es endete im Blutbad. Tatsächlich trug Hegel mit diesen in Berlin gehaltenen Vorlesungen über die letzten Ergebnisse der aufklärerischen Dialektik und ihren Umschlag in die Tyrannei mehr oder weniger bewusst sein Scherflein zu der langen aufklärungskritischen Tradition bei, die sich bis auf den heutigen Tag fortsetzt. Diese definierte sich in der Restaurationszeit durch die Auseinandersetzung der Romantiker mit der Aufklärung18. Genauso hatte Hegel zuvor den Erkenntniswert der modernen Naturwissenschaften, vor allem den Beitrag Newtons, in Bezug auf die Wahrheitssuche in Frage gestellt und das Weltbürgertum bekämpft, und zwar auch in Hinblick auf die Menschenrechte, die Atomisierung des Subjekts in
17 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe, a. a. O., Bd. 12, S. 529. 18 Zur Aufklärungskritik der Romantiker, vor allem zur kritischen Position Herders, von Novalis, Görres, Hölderlin und weiteren Autoren vgl. V. Ferrone / D. Roche, LIlluminismo nella cultura contemporanea. Storia e storiografia, Laterza, Roma-Bari, 2002, S. 30 ff.
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der bürgerlichen Gesellschaft, wie es von der Aufklärung herbeigewünscht wurde und schließlich auf die Reflexionsphilosophie selbst19. Allerdings hatte sich Hegel nur mit seiner Analyse des dialektischen Prozesses, der dieser Tyrannei zugrunde lag, darüber hinausgewagt, als er die subjektive Vernunft Kants ihres emanzipatorischen Anspruchs entkleidete und darin eine präzise und beunruhigende Neigung zur Herrschaft, einen Zwang zur Wirklichkeit und der Unterwerfung des Subjekts aufdeckte. Die Gründe, die dazu geführt hatten, dass die Revolution in Frankreich und nicht in den deutschen Staaten ausgebrochen sei, bestätigten ihn in seinem Glauben, wie richtig er mit seiner Konzeption der Philosophie, verstanden als »Phänomenologie des Geistes«, auf seinem Weg zur Versöhnung lag. In Deutschland habe es nach Luther und der Reformation keine revolutionären Bestrebungen gegeben, da die deutsch-protestantische Welt schon seit geraumer Zeit »durch eine wahre Revolution« mit der »Wirklichkeit versöhnt« sei: wohl bemerkt durch eine religiöse, nicht durch eine soziale oder politische Revolution. Damit sei nun endlich im Bewusstsein jene Einheit zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Religion und Politik wiederhergestellt, die dem Ur-Christentum eigen gewesen sei. Für Hegel stellte dieses Christentum nicht nur die einzige und authentische Weltreligion dar, (Christus, in seiner doppelten Natur als Menschensohn und zugleich als Person Gottes, habe der Welt Frieden und Versöhnung gebracht), sondern ein geschichtliches Modell für den einheitlichen Geist und der von einer Gemeinde frei gelebten Sittlichkeit. In der katholischen Welt dagegen stehe die Religion auf der einen Seite und der Staat auf der anderen und die daraus folgende Existenz zweier Mächte und zweier Wertsysteme, wovon das eine dem anderen gegenübergestellt sei, habe den sozialen Organismus der Völker von innen ausgehöhlt, sie in den Krieg zwischen Glaube und reiner Einsicht gestürzt und damit die Voraussetzungen für eine tiefe Krise im Europa des 19. Jahrhunderts geschaffen. Mit Hegel wurde die Aufklärung zu einer grundlegenden universellen Kategorie im abendländischen Denken, und seitdem ist sie auf Gedeih und Verderb mit der heißen Debatte um das kritische Selbstverständnis der Moderne verknüpft. Das geschah – wie wir versucht haben aufzuzeigen – durchaus im Rahmen einer bewussten Konzeptualisierung und im Versuch eines vollkommen originellen Verstehens der Ereignisse, nämlich aus einem zugleich geschichtlichen und philosophischen Ansatz heraus. Eben daraus ergab sich diese
19 So schreibt Hegel in der Phänomenologie des Geistes (Theorie-Werkausgabe, a. a. O., Bd. 3, S. 44): »Mit solcher Unwirklichkeit, als die Dinge der Mathematik sind, gibt sich weder das konkrete sinnliche Anschauen noch die Philosophie ab«. Zu Hegels Polemik gegen die Menschenrechte vgl. V. Verra, Introduzione a Hegel, Laterza, Boma-Bari, 19924, S. 30.
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merkwürdige und faszinierende Zwittrigkeit, mit der man sich seitdem zwangsläufig, ob bewusst oder unbewusst, auseinandersetzen muss. Des Weiteren gab Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Aufschluss über diese originelle Weise, die Geschichte zu denken, indem er auf polemische Weise Abstand von der Methodenforschung des mächtigen Standes der Historiker vom Fach nahm, die sich zu jener Zeit an den deutschen Universitäten institutionalisierte. Seine Kritik richtete sich gegen jene, die sich der Illusion hingaben, mit der bloßen Philologie und der vermeintlichen Objektivität der Geschichte zur Wahrheit zu gelangen, während doch der eigene Gedanke nie »passiv« sei, sondern stets seine »Kategorien« mitbringe und »durch sie das Vorhandene« sehe20. Der Geschichtsbetrachtung der »gegenwärtigen Begebenheiten« eines Herodot und Thukydides, die auf dem Augenzeugenbericht gegründet war, und der »reflektierten« Geschichte der Aufklärer, die aus der kritischen Überlegung und den »unterschiedenen Weisen des Nachdenkens« erwuchs, setzte Hegel eine neue Art und Weise der Geschichtsschreibung entgegen, die »philosophische« Geschichte. Diese unterschied sich sowohl von der traditionellen »Geschichte der Theologie« des Augustinus wie auch von Voltaires »Geschichte der Philosophie«. Vielmehr verstand Hegel die Geschichte als moderne Theodicee, die in der Lage sei, Theologie in Philosophie zu übersetzen, in das Fortschreiten des Geistes zum Bewusstsein der Freiheit. Hinter der Schilderung der Geschichte der Völker stecke die Überzeugung, dass »das was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist«21. Aus dem völlig anderen Blickwinkel dieser eindrucksvollen Ausführung betrachtet, erscheint die Aufklärung hier als etwas vollkommen anderes als in der vorhergehenden kantischen Interpretation. In der Philosophie Kants, die ganz auf das Weltbürgertum abzielt, wurde die Aufklärung hauptsächlich als durch die Vernunft bestimmtes menschliches Handeln im Aufeinanderfolgen der aufgeklärten Jahrhunderte in der Vergangenheit und vielleicht auch in der Zukunft definiert. Bei Hegel dagegen war die Aufklärung nichts als eine bestimmte Epoche in der Weltgeschichte, die zufällig ins europäische 18. Jahrhundert fiel, eine Epoche mit ihr eigentümlichen Zügen, die aber bereits der Vergangenheit angehöre, denn das Wirken eines der wichtigsten historischen und logischen Weltgesetzes, nämlich der »Aufhebung«, habe sie bereits dazu gezwungen, sich selbst zu überwinden. Hegel war davon überzeugt, »dass der Geist von seiner unendlichen Möglichkeit, aber nur Möglichkeit, die seinen absoluten Gehalt als 20 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe, a. a. O., Bd. 12, S. 23. 21 Ibidem, S. 540.
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Ansich enthält, als den Zweck und das Ziel, das er nur erst in seinem Resultate erreicht, welches dann erst seine Wirklichkeit ist. So erscheint in der Existenz der Fortgang als ein Fortschreiten von dem Unvollkommnen zum Vollkommneren, wobei jenes nicht in der Abstraktion nur als das Unvollkommene zu fassen ist, sondern als ein solches, das zugleich das Gegenteil seiner selbst, das sogenannte Vollkommene, als Keim, als Trieb in sich hat […]. Das Unvollkommene so als das Gegenteil seiner in ihm selbst ist der Widerspruch, der wohl existiert, aber ebenso sehr aufgehoben und gelöst wird, der Trieb, der Impuls des geistigen Lebens in sich selbst, […] zum Lichte des Bewusstseins, d.i. zu sich selbst zu kommen.«22 Die Epoche, die durch das Entstehen von Liberalismus, Romantik und Restauration gekennzeichnet war, hatte also das Zeitalter Voltaires für immer hinter sich gelassen. Damit war es Aufgabe und Problem der Historiker, die Züge dieser für die Weltgeschichte so entscheidenden Zeit zu erforschen und zu verstehen, angefangen bei dem unleugbaren Zusammenhang zwischen Aufklärung und Revolution, zwischen deren anfänglichem Reformeifer und letztlichem Enden im Terror. Viel komplexer gestaltete sich jedoch die Frage nach der Aufklärung als großem philosophischen Problem der Menschheit, die sich über ihr Schicksal und den Sinn des Daseins klar zu werden versucht, angefangen bei der Endlichkeit und Autonomie des einzelnen Individuums. Hegel formulierte diese Fragestellung hellsichtig in seiner Dialektik, indem er sie mit dem Thema der Selbstauslösung der Krise und deren Überwindung in der Moderne verknüpfte: auf der Grundlage dieser Formulierung sah die Phänomenologie des Geistes die Überwindung der Subjektivität innerhalb der Grenzen der Philosophie der Subjektivität selbst vor. Mit der Zeit offenbarte Hegels Gedankengebäude mehr und mehr sein ganzes Ungenügen und seine Voreingenommenheit, da es, zunehmend losgelöst von seinem historischen Kontext, samt den in seiner Zeit vorherrschenden Ansichten und Meinungen, kaum zu verstehen war. Nichtsdestotrotz wurden der nun zur Verfügung stehende Begriffsapparat und vor allem der komplexe Bezugsrahmen sehr bald zu einem Fixpunkt, der von niemandem, der sich mit diesem Thema auseinandersetzen will, umgangen werden kann. Ob einem das gefällt oder nicht, ist diese dialektische Methode, die Aufklärung philosophisch zu denken und darzustellen, in den vergangenen zwei Jahrhunderten Usus und Praxis geworden und herrscht auch heute noch vor, wenn auch nicht explizit, so doch zwischen den Zeilen. Dieser Erfolg des Hegelschen Denkens lässt sich übrigens gut begründen. Gegenüber den utopischen und optimistischen Betrachtungen bezüglich der Reflexionsphilosophie, wie sie von Kant in der Abhandlung Was ist Aufklärung? 22 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe, a. a. O., Bd. 12, S. 78.
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formuliert wurden, hatte Hegel hellsichtig – jenseits des Lichts mit seinen vielen Widersprüchen und Schattenseiten, wie etwa den Umschlag des emanzipatorischen Gedankens in Barbarei und Terrorherrschaft – die historische und dramatische Bedeutung der Risse und der Entfremdung erkannt, die das Prinzip der Subjektivität in der abendländischen Geschichte gebracht hatte. Der Bruch mit der Vergangenheit und der kontinuierlichen Tradition verlangte einen hohen Preis. Mit diesem distanzierten Blick betrachtete Hegel die Aufklärung. Ausgehend vom absoluten Geist hatte sich Hegel nicht nur darauf beschränkt, die negativen Ergebnisse eines Befreiungsentwurfes aufzuzeigen, der ganz auf der Idee eines autonomen Individuums und des subjektiven Vernunftgedankens aufgebaut war. Darüber hinaus hatte er aber auch auf die Notwendigkeit einer neuen Philosophie der Versöhnung hingewiesen, die mittels der Kunst und der Religion in der Lage sei, die durch die Moderne hervorgerufene Krise zu überwinden. Also ist es nicht weiter verwunderlich, dass die aufklärerische Dialektik zwangsläufig zum Ausgangspunkt für das Nachdenken über das menschliche Los geworden ist: der neue Humanismus, wie er von Voltaire, Rousseau, Kant, Filangieri, Jefferson und vielen anderen formuliert worden ist, konnte von dieser Grundlage aus seine Wirkung entfalten.
IV. Marx und Nietzsche: der Weg der Aufklärung von der bürgerlichen Ideologie zum Willen zur Macht
Marx war der erste, der dem von Hegel vorgezeichneten Weg folgte. Er entwickelte dabei große Originalität und beschwor damit, womöglich entgegen seiner eigentlichen Intention, das negative Urteil herauf, dass ein Großteil der europäischen revolutionären Linken im Rückblick über die Aufklärung und ihre sozialistischen und reformistischen Epigonen fällte. Auf der Grundlage der so genannten materialistischen Dialektik, und ohne sich von dem von mir so bezeichneten »Paradigma des Kentauren«, also von der zwittrigen Natur der Aufklärung zu entfernen, entwickelte Marx, im Gegensatz zur idealistischen Dialektik Hegels, einen vollkommen anderen Ansatz aufklärerischer Dialektik, und zwar privilegierte er, auf historisch-philosophischem Feld, die sozial-ökonomische Analyse. Der Schwerpunkt des dialektischen Mechanismus verlagerte sich somit vom Denken und vom Umgang mit dem Begriff der Reflexion auf den Bereich von Produktion und Handel. Zwangsläufig wurde damit auch die Frage des Selbstbewusstseins auf das Problem des Arbeitsprozesses verschoben. Hegels Begriff der Entfremdung und des unglückliches Bewusstseins sollten behoben und überwunden werden. Die Entfremdung überhaupt des Menschen, laut Marx’ Analyse das Ergebnis klassenspezifischer Enteignung auf ökonomischem und produktivem Terrain, wurde zum Kernproblem philosophischer Betrachtung. Und immer noch sollte diese Entfremdung dialektisch überwunden werden, und zwar durch die revolutionäre Umkehrung der ökonomischen Strukturen: zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte sollte das moderne Industrieproletariat an die Macht kommen. In diesem konzeptionellen Rahmen des neuen historischen und dialektischen Materialismus, der die »Auflösung des Rätsels der Geschichte«, wie Marx es ausdrückte, mit der Gründung der kommunistischen Gesellschaft anstrebte, wurde die Aufklärung unter zwei Aspekten betrachtet, die dialektisch miteinander verknüpft waren. Zum einen galt sie als grundlegendes Strukturmuster der modernen europäischen Gesellschaft mit ihren präzisen ökonomischen und sozialen Charakteristika, auf dem Naturrecht des Eigentums und dem freien Handel begründet und nicht mehr wie zuvor auf dem Ständerecht und dem
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Feudalsystem; daneben wurde sie aber auch unter dem Aspekt des ideologischen Überbaus betrachtet, der von der bürgerlichen Klasse mit Geschick geschaffen worden war. Das eigentliche historische Erbe der »politischen Revolution«, die von der Aufklärung ausgelöst worden war, bestand laut Marx in der Entstehung der »bürgerlichen Gesellschaft«1 durch die Ereignisse der Französischen Revolution. Das Scheitern des Terrors als illusorischer und anachronistischer Versuch, die antike Gesellschaft mit ihrer »real existierenden Demokratie« wieder zu beleben, sollte dabei nicht zu hoch veranschlagt werden. »Nach dem Sturz Robespierres«, schrieb Marx, »beginnt die politische Aufklärung, die sich selbst hatte überbieten wollen, die überschwenglich gewesen war, erst, sich prosaisch zu verwirklichen. Unter der Regierung des Direktoriums bricht die bürgerliche Gesellschaft – die Revolution selbst hatte sie von den feudalen Banden befreit und offiziell anerkannt, so sehr der Terrorismus sie einem antik-politischen Leben aufopfern wollte – in gewaltigen Lebensströmungen hervor. Sturm und Drang nach kommerziellen Unternehmungen, Bereicherungssucht, Taumel des neuen bürgerlichen Lebens, dessen erster Selbstgenuss noch keck, leichtsinnig, frivol, berauschend ist; wirkliche Aufklärung des französischen Grund und Bodens, dessen feudale Gliederung der Hammer der Revolution zerschlagen hatte und welchen nun die erste Fieberhitze der vielen neuen Eigentümer einer allseitigen Kultur unterwirft; erste Bewegungen der freigewordenen Industrie – das sind einige von den Lebenszeichen der neu entstandenen bürgerlichen Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft wird positiv repräsentiert durch die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie beginnt also ihr Regiment. Die Menschenrechte hören auf, bloß in der Theorie zu existieren.«2 In dem Augenblick also, in dem die Aufklärung die moderne bürgerliche Gesellschaft generiert hatte, was sowohl zu einer Autonomisierung des Staates als auch zu der Spaltung in eine öffentliche und in eine private Sphäre führte, hatte sie den archaischen, organizistischen und kommunitaristischen Geist, der im Ancien R¦gime noch überlebte, definitiv begraben. Daraus war eine Gesellschaft von atomisierten, egoistischen Menschen hervorgegangen, die ständig in Konflikte verwickelt waren, eine Masse von Einzelwesen, von einer utilitaristischen Philosophie beherrscht, voneinander getrennt, und selbst im Inneren ihren eigenen Bezugsgemeinschaft entfremdet. Das Idol des egoistischen Menschen wurde an den Pranger gestellt, und dessen angebliche Legitimierung im 18. Jahrhundert durch die Anrufung der Menschenrechte3 als hohle Rhetorik 1 Zur Entstehung des Begriffs einer »bürgerlichen Gesellschaft« vgl. N. Bobbio, Stato, governo, societ, Einaudi, Torino, 1985, S. 23 ff. 2 K. Marx / F. Engels, Werke, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Dietz Verlag, Berlin (Ex-DDR), 1956 ff, Bd. 2, Die heilige Familie (1845), S. 130. 3 Zu Marx’ scharfer Kritik der Menschenrechte als Instrument der Klassengesellschaft und der bürgerlichen Ideologie vgl. vor allem die Essays Zur Judenfrage (1843, veröffentlicht 1844 in
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entlarvt. Das rief die im gesamten 19. Jahrhundert vorherrschende, allerdings durch und durch ideologisch geprägte Grundaussage ins Leben, dass der Individualismus die authentische Chiffre der Aufklärung sei. Dieses griffige Schlagwort fand rasche Verbreitung in allen Lagern und lieferte den Polemisten sowohl des rechten wie des linken Flügels willkommenen Zündstoff, ebenso natürlich auch den Apologeten der katholischen Tradition4. Marx bereicherte diese Matrix Hegelscher Intuition mit seiner raffinierten Analyse des dialektischen Überbaus, die er in den materialistischen Theorien des 18. Jahrhunderts erkannte5. In seinem erst 1932 posthum erschienenen Werk Deutsche Ideologie (1845 – 1846) fuhr er mit der Entlarvung der französischen und englischen Aufklärung fort, in deren Schriften er sowohl eine bürgerliche Ideologie, als auch einen Ausdruck von handfesten Klasseninteressen am Werk sah. Hinter dieser noch rohen Skizze eines Materialismus in fieri verberge sich zwar auf der einen Seite die historisch positive Funktion des Bruchs mit der traditionellen Metaphysik, so Marx, doch auf der anderen Seite zeigte sich erstmals unverhüllt das Bedürfnis der Bourgeoisie nach einer utilitaristischen Theorie der Wirklichkeit, um die beginnende Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu verschleiern und zu legitimieren. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht betrachtete Marx, und darin stimmte er mit Hegel überein, die Aufklärung als einen entscheidenden Moment in der Fortschrittsgeschichte der Menschheit, allerdings sah er, ganz dialektisch, dass die Revolution bisher nur begrenzt und partiell, das heißt politisch, vollzogen sei, während die soziale und ökonomische Umwälzung indes noch ihrer Erfüllung harrte. Laut Marx blieb der von der Aufklärung hervorgebrachte egoistische Bürger in seiner vermeintlichen Freiheit selbst gefangen: er habe das Endziel der menschlichen Emanzipation, nämlich »die Menschheit und das Verhältnis der Menschen untereinander zu sich selbst zurück[zu]führen« mit der politischen Emanzipation verwechselt, »die den Menschen zum einen auf ein den Deutsch-Französischen Jahrbüchern), in K. Marx / F. Engels, Werke, Ausgabe des Instituts für Marxismus-Leninismus, a. a. O., Bd. 1, S. 370 – 377. 4 Zur Erfindung des Theorems, die Kultur der Aufklärung habe im 18. Jh. die Vorherrschaft eines zügellosen Individualismus begründet, vgl. P. Costa, Civitas. Storia della cittadinanza in Europa, Bd. 2: L’et delle rivoluzioni, Laterza, Roma-Bari, S. 630 ff. Costa entlarvt das Konstrukt als ideologische Verzerrung des 18. Jahrhunderts. 5 Marx erarbeitete seine Erkenntnisse während der kritischen Durchsicht von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, wo Hegel den »bürgerlichen Individualismus« aufklärerischer Prägung als »Vorstellung« definiert, die »die in jenen Kreisen schon vorhandenen Gemeinwesen […] wieder in eine Menge von Individuen auflöst. [Sie] hält eben damit das bürgerliche und das politische Leben voneinander getrennt und stellt dieses sozusagen in die Luft, da seine Basis nur die abstrakte Einzelheit der Willkür und Meinung, somit das Zufällige, nicht eine an und für sich feste und berechtigte Grundlage sein würde.« Vgl. G.W.F. Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, a. a. O., Bd. 7 – Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 303, S. 474.
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Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf ein egoistisches und unabhängiges Individuum reduzierte und zum anderen zum Bürger, zu einer moralischen Person«6. Die reformistischen und demokratischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts krankten in diesem Sinne, d. h., wo sie im politischen Wettkampf die Ohnmacht des kantischen Sein-müssen und die abstrakte Vernunft des Intellekts als Absolutes wieder einführten, am gleichen Utopismus wie ihre Vorgänger aus dem 18. Jahrhundert. Den Gipfel erreichte dieser mit Kritik und Anklagen so reich gepflasterte Weg, auf dem die Grenzen und Einseitigkeiten der Aufklärung immer wieder aufs Neue dargestellt wurden, als zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert die revolutionäre Linke der Aufklärung regelrecht der Prozess machte, wobei mit summarischen Urteilen und Dämonisierungen nicht gespart wurde. So ließ zum Beispiel Engels Voltaire und seine sozialdemokratischen Epigonen kurzerhand »in den Topf des Verwerflichen«7 wandern, und Georges Sorel schlug in seinem berühmten, 1908 erschienenen Werk Les illusions du progrÀs in die gleiche Kerbe. Solche Gehässigkeiten arbeiteten indessen nur den erstarkenden restaurativen Kräften der europäischen Rechten zu, die gerade zum Sturm auf das Erbe der Aufklärung bliesen, das wiederum von Liberalen, Sozialisten und Demokraten aus unterschiedlichen Gründen hoch gehalten wurde8. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Marx diesen offenen Groll gegen die Aufklärer nicht gutheißen konnte noch wollte. Letztendlich hing er der Idee der Moderne und der Emanzipation des Menschen durch den Menschen an. Wenn überhaupt, so zielte seine dialektische Kritik der Aufklärung auf eine »Überwindung« und auf eine tiefere Rationalisierung der Wirklichkeit: die Ausbreitung von Industrie und Handel faszinierten ihn, und in seinen Augen war der Kapitalismus eine wesentliche und notwendige, ja heroische Stufe des Fortschritts auf dem Weg zum Kommunismus. Aus diesen Gründen wäre Marx den später von Lukcs, Bloch und Marcuse vorgebrachten Zweifeln an dem effektiven emanzipatorischen Nutzen des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts wohl eher skeptisch begegnet. Seit dem 19. Jahrhundert hält die Deutung des Aufklärungsbegriffs als emanzipatorisches Projekt der Moderne, wie sie von Kant und vor allem von 6 Vgl. K. Marx, Zur Judenfrage, in K. Marx / F. Engels, Werke, hrsg. vom Institut für MarxismusLeninismus, a. a. O., Bd. I, Deutsch-Französische Jahrbücher, S. 370. 7 Vgl. F. Engels, Antidühring (1877 – 78), in K. Marx / F. Engels, Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus, a. a. O., Bd. 20, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, S. 18. 8 Zur Aufklärungskritik zwischen 1890 und 1930 vgl. H. Stuart Hughes, Consciousness and Society : The Reorientation of European Social Thought 1890 – 1930, New York, 1958. Noch schärfer, wenn auch schematischer, skizziert der Essay von Z. Sternhell, The Anti-Enlightment Tradition, New Haven, o. J., den gnadenlosen Prozess, der im genannten Zeitraum der europäischen Aufklärung und ihren Leistungen gemacht wurde.
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Hegel vorgezeichnet worden ist, ungebrochen an und begeistert seitdem ganze Generationen von Philosophen in der ganzen westlichen Welt. Es sei nur an die bis in den hintersten Winkel Europas mannigfach geäußerte Kritik oder Zustimmung sowohl der Rechten als auch der Linken erinnert, oder an die immer wieder vorgenommene Revision der Subjektphilosophie und des Vernunftbegriffs, samt der derzeit letzten Variante als »kommunikative Vernunft«, um es mit den Worten des entschiedenen Aufklärers Habermas zu formulieren. Dennoch wird oft übersehen, dass dieses Projekt im späten 19. Jahrhundert eine radikale Neubewertung erfahren hat, und zwar als die Debatte durch Nietzsche und dessen Werk international neu entfacht und völlig anders problematisiert wurde. Aus philosophischer Warte war nach dem Erscheinen der herben Betrachtungen Nietzsches über die wahre Natur und das wahre Ziel der Aufklärung nichts mehr wie es war. Seine eindrucksvolle und komplexe Antwort auf die mittlerweile hundertjährige Frage Was ist Aufklärung? markierte einen revolutionären Bruch im europäischen Denken. Mit geradezu bilderstürmerischem Furor wurde alles hinweggefegt, was zuvor über Moderne, Vernunft, Individuum, Dialektik, Werte, Emanzipation und den Zusammenhang zwischen Aufklärung und Französischer Revolution gesagt worden war. Doch Nietzsche hielt sich weder bei dem Hegelschen Ansatz einer Dialektik der Überwindung auf, die Marx so fasziniert hatte, noch hatte er viel für die ausgetretenen Pfade der abendländischen Tradition der Metaphysik der Vernunft im kantischen Sinne übrig. Er stellte hingegen das radikal Andere ausgerechnet jener subjektiven Vernunft Kants gegenüber, von der die Aufklärung samt dem Vernunftbegriff ihren Ausgang genommen hatte. Das theoretische Gebäude der Hegelschen Dialektik sollte die Spaltung und Entfremdung des menschlichen Geistes durch die Suche nach einer Philosophie der »Versöhnung« überwinden, welcher die Aufgabe zukam, die aufgerissenen Wunden einer unglücklichen Moderne wieder zu schließen. Mit Nietzsche und seiner postmodernen Vernunftkritik begann hingegen eine neue Ära. Seine Kritik der Moderne richtete sich gegen das »Vergessen«: die Vernunft habe das reine Sein vergessen, sie habe die wahren Werte verdunkelt, die authentische Art zu denken, wie sie dem antiken Menschen noch eigen gewesen sei. Mit dem Begriff der Vernunft und Rationalität sei eine philologisch falsche Auffassung der humanitas des archaischen Griechenlands in die Welt gesetzt worden, die das wahre Wesen der menschlichen Natur mystifiziert habe. Wahr sei einzig und allein der Instinkt des Willens zur Macht. Wenn man diese Betrachtungen liest, ist man noch heute eigentümlich berührt: hier enthüllt die Geschichte der abendländischen Rationalität sowohl ihren Herrschaftsanspruch, als auch ihren grundlegenden Unterschied zu anderen, mittlerweile aufgegebenen Wegen des Denkens, die nichtsdestoweniger im Menschen angelegt sind, wie zum Beispiel das Den-
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ken in den Bildern des Mythos, oder der Versuch einer ästhetischen Weltbewältigung. Es ist, als ob man zum ersten Mal auf einen Gipfel gelangte und nun, endlich, von hoch oben illusionslos in die Abgründe der Geschichte blickte, wo sich das finstere Antlitz der Aufklärung auftut, das von den emanzipatorischen Ideologien immer totgeschwiegen wurde. Nietzsches Angriff auf die Moderne und die damit einhergehende komplexe Neudefinition der Aufklärung als großes philosophisches Problem beginnt eigentlich bereits in seinem ersten bedeutenden Werk, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik von 1872. Darin versuchte Nietzsche, eine als negativ empfundene Entwicklungsgeschichte der Kunst zu erhellen, und zwar schloss er »auf einen ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung«9. Er zeigte im Menschen gegensätzliche Charakterzüge auf, wie Verstand und Mythos, Ich und Nicht-Ich, das Apollinische und das Dionysische. Nur aus der Tragödie schöpfe der Mythos seinen tiefsten Gehalt: der tragische Chor sei das Symbol der Masse der Anhänger des Dionysos, dem kommenden Gott, dessen Rausch das Prinzip der Individuation außer Kraft setze, bis nunmehr wieder endlich eine Wiedergeburt der Tragödie einsetzen könne. Es sei einerseits die Ausbreitung des logischen »Sokratismus« gewesen, die den tragischen Geist verdrängt und beinahe zum Verschwinden gebracht habe. Doch auch jene »neue und unerhörte Wertschätzung des Wissens und der Einsicht«, eine Idee also, die zweifelsfrei aus dem Reservoir der Aufklärung und des Rationalismus am Beginn der Moderne stammte, habe dazu beigetragen, auf den strukturellen Optimismus des »theoretischen Menschen« zu vertrauen, in der Überzeugung, dass Tugend Wissen sei und nur dieses in der Lage sei, die ewige Wunde der menschlichen Existenz zu heilen, ohne Rückgriff auf den Mythos10. Die Forscher, die sich seit Generationen mit Nietzsches Gedankenwelt auseinander setzen, kommen in der Bewertung und Einordnung der teils aufklärerischen und teils positivistischen Phasen dieses widersprüchlichen Denkers zu unterschiedlichen Ergebnissen11. Das Rätsel Nietzsche ist denn auch für unsere Abhandlung von größter Bedeutung. Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass Hegels komplexe Deutung der Aufklärung in ihrer Doppelnatur von Nietzsche in vielen seiner Werke, direkt oder indirekt, in allen nur möglichen Facetten durchgearbeitet worden ist. Nietzsche hat sich mit dem Paradigma des Kentauren gründlich auseinandergesetzt und kam dabei zu überraschenden 9 F. Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von G. Colli / M. Montinari, De Gruyter, Berlin (1967 – 1977), Bd. I, 1980, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, Kapitel 17, S. 111. 10 Ibidem, Kap. 15, S. 98: »Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche«. 11 Vgl. E. Fink, Nietzsches Philosophie, Kohlhammer, Stuttgart, 1960.
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Resultaten, die in der Forderung nach einer neuen Aufklärung ihre Synthese fand. Diese neue Aufklärung sollte eine Vorwegnahme des Nihilismus und einer notwendigen Umwertung aller Werte der Moderne darstellen. Im 1878 erschienenen Werk Menschliches, Allzumenschliches, ein Buch für freie Geister, das dem Andenken Voltaires zu seinem hundertsten Todestag gewidmet war, wurden Reformation und Renaissance sowie Aufklärung aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive als aufeinander folgende Phasen einer einzigen »fortschreitenden Entwickelung« dargestellt. Diesem Prozess habe sich jedoch das Paar Revolution-Reaktion entgegengestellt, was die fortschreitende Entwicklung des Menschen verzögert habe. Nietzsche sah in diesem Paar die Verkörperung einerseits von protestantischer Reformation und katholischer Gegenreformation, sowie andererseits von Französischer Revolution und Romantik. Gemäß diesem Denkschema, das entscheidende Fixpunkte des deutschen Geschichtsbewusstseins Hegelscher Provenienz entweihte, wurde die Reformation abwertend als großes Hindernis der Entwicklung der europäischen Zivilisation angesehen, das heißt als »Protest des inzwischen zurückgebliebenen deutschen Wesens«, das sich als unfähig erwiesen habe, sich den positiven Gewalten der italienischen Renaissance anzuschließen. Ohne Luthers mittelalterliche Vorstellung wäre »die Morgenröthe der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit schönerem Glanze, als wir jetzt ahnen können, aufgegangen«12. Auch in seinem Werk Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile aus dem Jahr 1881 zertrümmerte Nietzsche einen weiteren Schwerpunkt der geschichtsphilosophischen Betrachtungen Hegels zur Aufklärung, und zwar den dialektischen Zusammenhang zwischen Aufklärung und Revolution. Die Revolution wurde, so Nietzsche, als Folge der Aufklärung missverstanden, was in Europa und vor allem in Deutschland zu einer romantischen Kultur und damit einhergehend zu einer Abneigung gegen die Aufklärung führte. »Der ganze große Hang der Deutschen ging gegen die Aufklärung, und gegen die Revolution der Gesellschaft, welche mit grobem Missverständnis als deren Folge galt«13. Diese fortschreitende Entwicklung hätte hingegen in aller Stille, wäre sie nicht vom Terror der Jakobiner unterbrochen worden, ungestört erst auf die Umwandlung der Individuen einwirken können, um schließlich auch die »Sitten und Einrichtungen der Völker« zu verändern. Nun sei jedoch die Zeit reif, den Geist der Aufklärung und der fortschreitenden Entwicklung zurückzurufen;
12 F. Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von G. Colli / M. Montinari, a. a. O., Bd. II, 1980, Menschliches, Allzumenschliches V., § 237, »Renaissance und Reformation«, S. 199 – 200. 13 F. Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von G. Colli / M. Montinari, a. a. O., Bd. III, 1980, Morgenröthe, § 197, »Die Feindschaft der Deutschen gegen die Auflärung«, S. 171.
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daher Nietzsches Forderung, »die Fahne der Aufklärung – die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire – von Neuem weiter [zu] tragen«14. Sicherlich hatte diese neue Aufklärung nichts mit dem ursprünglichen rationalistischen und emanzipatorischen Projekt der Moderne und der historischen Aufklärung gemein, die bis dahin im Zentrum der Debatte gestanden hatten. Seine Wurzeln waren anderswo zu suchen, nämlich in der kruden Einsicht in den menschlichen Willen zur Macht, in jenen befreienden und »fortschreitenden Geist«, den Voltaire, laut Nietzsche der »große Befreier der Menschheit«, symbolisch verkörpere. Voltaire habe mit schneidender Ironie die christlichen Werte demaskiert und damit zunächst den Weg für den Pluralismus der Wahrheiten freigemacht, so dass der notwendige Übergang von einem passiven zu einem aktiven Nihilismus möglich wurde, um schließlich zu der geforderten Umwertung aller klassischen Werte des Abendlandes zu gelangen. So wie das Christentum und die Kirche die Botschaft Jesu verraten hätten, sei die historische Aufklärung nichts als eine Degeneration des ursprünglichen »fortschreitenden Geistes« auf dem Weg zum Willen zur Macht. Zum einen verkündete Nietzsche seine neue Aufklärung, um die gefährlich trostreichen Träume des verhassten Rousseau sowie Kants Gleichheitserklärung aller Menschen zu entmystifizieren, ebenso wie das vermeintlich subjektive Naturrecht, wie es von den Sozialisten wieder aufgegriffen worden sei. Zum anderen galt der Angriff der von den Verfechtern des Christentums gepredigten »Sklavenmoral« als Ausdruck einer degenerierten Weltsicht von Schwachen und Unfähigen. Die moderne Welt, so Nietzsche in seiner radikal-aristokratischen Kritik der abendländischen Moderne in ihren historischen Erscheinungsformen des Christentums und des aufgeklärten Rationalismus, erscheine uns nur deshalb als logisch, weil wir selbst diese Logik entwickelt hätten. In Wirklichkeit sei dieses Denken vollständig irreführend, denn das Leben strebe keineswegs nach Glück, sondern tendiere zur Macht; lieber wolle der Mensch »das Nichts wollen als nicht wollen«. Das Individuum, der christliche Glaube und das Vertrauen der Aufklärer in die Vernunft seien dagegen nur Masken, ein Gaukelspiel, womit der Wille zur Macht uns umhülle. Im Grunde gebe es laut Nietzsche angesichts der Illusion des Fortschritts keine andere Lösung, als mit Anstand und Würde die unausweichliche Wiederkunft des ewig Gleichen zu leben, und diese tragische Erfahrung mit Fassung zu tragen.
14 F. Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von G. Colli / M. Montinari, a. a. O., Bd. II, 1980, Menschliches, Allzumenschliches I., § 26, »Die Reaction als Fortschritt«, S. 47.
V. Horkheimer und Adorno: der totalitäre Zug in der Dialektik der Aufklärung
Das philosophische Problem der Aufklärung erschien in einem völlig anderen Licht, als ein gänzlich unerwarteter Bezugsrahmen auftauchte. Die Rede ist von der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor Adorno, einer Abhandlung, die 1944 im amerikanischen Exil entstand und drei Jahre später in Amsterdam herausgegeben wurde. Das alte zwittrige Mischwesen des Kentauren, wie Hegel es durchdacht hatte, war darin gründlich auf den Kopf gestellt. Weder gab es einen nennenswerten Bezug auf die historische Aufklärung, noch wurde diese chronologisch und kulturell in den Kontext des 18. Jahrhunderts eingebettet. Das vorgegebene Denkmuster der Dialektik wurde in den düstersten Farben neu erörtert und formuliert, angefangen am Beispiel der Odyssee als frühem Zeugnis abendländischer Zivilisation, wobei Odysseus gleichsam als erster Aufklärer, als Wegbereiter und Modell für das sich erst durch die Mythen bildende Selbst stand, bis hin zur totalitären Ära der Hitlerzeit und der Kulturindustrie der amerikanischen Gesellschaft mit ihrem Massenkonsum. Damit wurde natürlich jegliche Geschichtskritik vereitelt. Im Mittelpunkt der angestoßenen Debatte stand die rein philosophische Frage nach dem Wesen und den Ergebnissen, d. h. also die Frage nach der Verantwortung der Aufklärung unter dem Eindruck der Katastrophe des 20. Jahrhunderts, wie sie sich in der Barbarei des Zweiten Weltkrieges manifestiert hatte: »Seit je hat die Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber,« – so eröffneten die Autoren in der Einleitung des Buches ihre unversöhnliche Kampfansage an das vermeintliche geschichtliche Scheitern des emanzipatorischen Projektes der Aufklärung, wie es im Laufe der Jahrhunderte zu verfolgen war, – »die vollends aufgeklärte Welt strahlt im Zeichen triumphalen Unheils«1. Das Projekt, welches eigentlich die Menschen vom Mythos emanzipieren und befreien sollte, sei dialektisch auf den Kopf gestellt 1 M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 1969, S. 9.
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worden, und habe sich paradoxerweise genau in einen totalitären Mythos und eine totalitäre Religion eines völlig instrumentalisierten Rationalismus verwandelt und damit eine unmenschliche, »technologisch erzogene« Gesellschaft geschaffen, die von einer Techno-Wissenschaft beherrscht werde. Die Aufklärung, erläuterten die Autoren in der Vorrede, habe die Krise und die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft genährt und den Okzident in eine »neue Art der Barbarei« gestürzt, die in der Geschichte beispiellos sei. Daraus resultiere die Dringlichkeit, die »Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie« zu verstehen und gleichsam deren Aporie zu klären, nämlich die »Selbstzerstörung der Aufklärung«, denn, so stellten Horkheimer und Adorno besorgt fest, »nicht bloß die ideelle, auch die praktische Tendenz zur Selbstvernichtung gehört der Rationalität seit Anfang zu, keineswegs nur der Phase, in der jene nackt hervortritt.«2 Es muss vorausgeschickt werden, dass die Autoren in diesen mit unzähligen literarischen Zitaten gespickten Philosophischen Fragmenten, wie sie im Untertitel genannt werden, offenkundig gegen Hegels Subjektphilosophie polemisieren wollten, wenn sie von Vernunft und aufklärerischer Rationalität schreiben. Zu diesem Zweck spannten sie einerseits die marxistische Ideologiekritik ein, und andererseits Nietzsches Konzept der Entlarvung der subjektiven Vernunft, die bloß eine Maske sei, um den Willen zur Macht zu verschleiern. Dieser Ansatz, immer wieder und in allen nur möglichen Varianten durchgespielt, ist nun wirklich nichts Neues, wie man zugeben muss, aber das Paradigma der Dialektik gestattet nun einmal keine Abweichung vom System. Hoch explosiv wurde die Mischung erst, – und hierin besteht die Neuheit, – als sich zur Vernunftkritik das wachsende Unbehagen gegenüber den modernen Naturwissenschaften hinzugesellte. Diese seien nunmehr zu einer alles beherrschenden Diktatur der Techno-Wissenschaft verkommen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Sektoren des europäischen intellektuellen Lebenswelt vollzogen hätte.3 »Nietzsche«, so schrieben die Autoren, »hat wie nur wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt« und deren Affinität zu Herrschaft und Macht aufgedeckt.4 Dieser »unerbittliche Vollender der Aufklärung« habe gezeigt, »wie die Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen gipfelt.«5 »Aufklärung aber ist die Philosophie, die Wahrheit mit wissenschaftlichem 2 Ibidem, Vorrede, S. 1 – 8, besonders S. 7. 3 Eine scharfsinnige Darstellung dieses Problemkreises (mit ausführlicher Bibliographie) findet sich im Werk von P. Rossi, Paragone degli ingegni moderni e postmoderni, il Mulino, Bologna, 1989. 4 M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 50 – 51. 5 Ibidem, Vorrede, S. 6.
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System gleichsetzt«6, mit den mathematischen Methoden, mit den theoretischen Betrachtungen in der Sprache eines Galilei und eines Newton, die jedoch stufenweise durch die Suche nach technologischen Innovationen und organisatorischen Modellen abgelöst werden, in denen der Mensch bloß noch aus der Perspektive der »Organisation« betrachtet wird7. Die Technik, die eigentlich dem Menschen dienen sollte, beherrsche nun das Schicksal der Menschen. Und diese dialektische Vorstellung eines zwangsläufigen Umschlagens, welches das Verhältnis zwischen Mensch und Technik auf den Kopf stelle, sei, immer laut Horkheimer und Adorno, in nuce schon im Keim des Aufklärungsgedankens enthalten gewesen. Anerkannt werde von der Aufklärung vorweg nur, »was durch Einheit sich erfassen lässt; ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt. Nicht darin unterscheiden sich ihre rationalistische und empiristische Version. Mochten die einzelnen Schulen die Axiome verschieden interpretieren, die Struktur der Einheitswissenschaft war stets dieselbe.«8 Dahinter stecke als wahrer Lehrmeister und authentischer Interpret Bacon, vielmehr dessen bekannter Ausspruch, Wissen sei Macht und diene den Menschen als absolutes Herrschaftsinstrument über die Natur. In dem Ruf der Aufklärer nach Befreiung von Magie und Mythos sollte das Wissen um die Endlichkeit des Menschen in eine selbstgenügsame subjektive Vernunft umschlagen, während die von den Positivisten, (den »modernen Mythenforschern« des wissenschaftlichen Rationalismus), formulierte »instrumentelle« Vernunft nichts anderes darstelle als die letzte Stufe der Dialektik, die von den jüngsten Verfechtern des Pragmatismus sowie den utilitaristischen amerikanischen Philosophien des beginnenden 20. Jahrhunderts vertreten werde.9 Und eben in der Kritik an dieser instrumentellen Vernunft bestand das eigentliche Ziel Horkheimers und Adornos: es ging um die Freilegung der zunehmenden Entmenschlichung in den Lehrsätzen des logischen Neopositivismus, der den Vernunftgedanken programmatisch aus jeglichem geschichtlichen, metaphysischen und religiösen Zusammenhang reißen wollte, da er letztendlich nach der technologischen Beherrschung der Natur strebte, anstatt um Wahrheit zu ringen. Eine solch abstrakte Vernunft 6 Ibidem, S. 92. 7 Genau schreiben die Autoren: »Denken ist im Sinn der Aufklärung die Herstellung von einheitlicher, wissenschaftlicher Ordnung und die Ableitung von Tatsachenerkenntnis aus Prinzipien, mögen diese als willkürlich gesetzte Axiome, eingeborene Ideen oder höchste Abstraktionen gedeutet werden. Die logischen Gesetze stellen die allgemeinsten Beziehungen innerhalb der Ordnung her, sie definieren sie.« Vgl. M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 88. 8 M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 13. 9 Vgl. M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende [1947], S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 1967. In dieser bedeutsamen Schrift werden viele Thesen der umstrittenen Dialektik der Aufklärung ausführlich erläutert.
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habe sich nicht nur als unfähig erwiesen, eine tragfähige rationalistische Moral zu entwerfen, also durch Normen und Prinzipien die niedrigsten Instinkte des Subjekts zu zügeln und das humane Miteinander auf der Grundlage gemeinsam gewachsener geschichtlicher Werte zu garantieren, sondern habe, ganz im Gegenteil, die haarsträubendsten, völlig vom aufklärerischen Erbe abweichenden Aspekte der Moderne hervorgebracht. Fußend auf Kants Ablehnung gegenüber jeder Art von Autoritätsprinzip, welche dann in Nietzsches Ausspruch vom »Tod Gottes« mündete, habe sich eine Linie von ungehemmtem Individualismus und Utilitarismus breit gemacht, dem ein Warenrausch und die vollkommene Vermarktung des Alltagslebens folgte, bis hin zum unausweichlichen Verfall aller humanistischen Werte. Es gipfelte in den totalitären Regimes, welche, trunken vom Willen zur Macht, die legitimen Erben des impliziten Totalitarismus der instrumentellen Vernunft seien. Die Philosophie dans le boudoir des Marquis de Sade, so Horkheimer und Adorno, führe die aufklärerische Rationalität konsequent zu Ende, geradezu als Paradebeispiel eines aufklärerischen Projektes, das zeigt, was geschieht, wenn der Mensch sich zum absoluten Herrn und Gebieter über sein Schicksal aufschwingt und damit auch seiner Neigung zu Herrschaft und Gewalt freien Lauf lassen kann. In der amerikanischen Kulturindustrie sei der dialektische Umschwung schließlich buchstäblich zum System geworden: Kunst verkam zu Unterhaltungskultur und die Propaganda für das kapitalistische System war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. All das, so postulieren Horkheimer und Adorno, sei der letzte Beweis dafür, wie sich das ursprüngliche Emanzipationsprojekt der Aufklärer in einen gefährlichen Massenbetrug verwandelt habe. Aus dieser von den Aufklärern in der modernen technologisierten Gesellschaft entfalteten Herrschaftslogik scheine es kein Entkommen zu geben, denn »der Fortschritt schlägt immer in Rückschritt um«, und der ökonomische Wohlstand selbst sei im Grunde der wahre Motor, der die geistige Verarmung des Menschen alimentiere. Die Dialektik der Aufklärung endete in einer Bankrotterklärung. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass sich in diesen Ausführungen die Enttäuschung über die Krise der Sozialwissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts niederschlagen, ebenso das Entsetzen über die tragischen Ereignisse der 1930er und 1940er Jahre. Obwohl die Dialektik der Aufklärung von zwei entschiedenen Aufklärern geschrieben wurde, die zu den Mitbegründern der Frankfurter Schule zählen, stellte das Werk für mehrere Generationen von aufmüpfigen Intellektuellen jeder Couleur, Linken wie Rechten, rebellischen Straßenkämpfern wie reaktionären Staatshütern ein regelrechtes Schwarzbuch der Moderne dar, in dem man sich ganz nach Belieben und ohne Rücksicht auf historische Wahrheiten bedienen konnte. Und wie noch zu sehen sein wird, trifft das auch auf die führenden Köpfe des vatikanischen Kulturprojektes zu. Die seltenen Hinweise auf die ursprünglich befreiende und emanzipatorische Natur
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der Aufklärung wiegen weder die apokalyptischen Töne auf, noch die haltlosen Schuldzuweisungen sowie die Einseitigkeit der Behauptung, wonach Aufklärung so totalitär sei »wie nur irgendein System«10. Tatsächlich schütteten Horkheimer und Adorno das Kind mit dem Bade aus, als sie an das Hegelsche DialektikKonzept anknüpften. Der Eindruck ihrer unversöhnlichen Anklagerede kann durch ihren Ansatz, das philosophische Problem der Aufklärung neu beleuchten zu wollen, nur bedingt gemildert werden, auch wenn dies im Bewusstsein der von der Aufklärung im Geschichtsverlauf produzierten Schattenseiten geschah und auch wenn immer wieder darauf hingewiesen wird, die Aufklärung sei primär stets der Wahrheitssuche verpflichtet gewesen, ehe das Prinzip der Naturbeherrschung in den Vordergrund trat. »Wir glauben, in diesen Fragmenten insofern zu solchem Verständnis beizutragen, – so Horkheimer und Adorno – als wir zeigen, dass die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei den eigens zum Zweck des Rückfalls ersonnenen, nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien zu suchen ist, sondern bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst«11. Die Aufklärung – fügten sie schließlich hinzu – »muss sich auf sich selbst besinnen, wenn die Menschen nicht vollends verraten werden sollen«12.
10 Genau schreiben die beiden Autoren: »Denn Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein System. Nicht was ihre romantischen Feinde ihr seit je vorgeworfen haben, analytische Methode, Rückgang auf Elemente, Zersetzung durch Reflexion ist ihre Unwahrheit, sondern dass für sie der Prozess von vornherein entschieden ist.« Vgl. M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 31. 11 Ibidem, Vorrede, S. 3 – 4. 12 Ibidem, Vorrede, S. 5.
VI. Foucault: die Rückkehr des Kentauren und das Ende des Menschen
Noch in jüngster Vergangenheit haben einige den Weg einer totalen Kritik der Moderne eingeschlagen und dabei die Moderne dezidiert als nihilistisches und offen antihumanistisches Phänomen verteufelt. Von diesem Gesichtspunkt aus wurde, ungeachtet einer nicht von der Hand zu weisenden Anziehungskraft, die eine solche Darstellungsweise ausüben kann, ein derart radikaler Ton in die Debatte gebracht, dass im Vergleich dazu die traditionellen Gemeinplätze der Anti-Aufklärung seitens der epigonalen Spätromantik geradezu wie ein Kinderspiel erscheinen. Unter den bedeutenden Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich erneut des philosophischen Problems der Aufklärung annehmen, und es innerhalb des extremen Bezugsrahmens von Entlarvung und Anklage neu aufrollen, nimmt zweifellos Michel Foucault einen herausragenden Platz ein. Sein Angriff, ausgelöst durch die gründliche Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Kentaur, d. h. mit Hegels Deutung der Aufklärung als Zwitterwesen zwischen Philosophie und Geschichte, zielte direkt auf das Herz des Problems, ohne jedoch der Dialektik und der Phänomenologie des Geistes Raum in seinem Denken einzuräumen1. Zu diesem Zweck entwickelte Foucault ein eigentümliches Geschichtskonzept, welches sich an seinem wahren Lehrmeister Nietzsche orientierte und geradewegs auf den »Tod des Subjekts« abzielte, d. h. 1 Auf die fragende Feststellung, ob denn nicht das 18. Jahrhundert vorwiegend unter dem »Blickwinkel der Befreiung« gesehen werden müsste, antwortete Foucault: »Wie immer bei Machtverhältnissen findet man sich mit komplexen Phänomenen konfrontiert, die der Hegelschen Form der Dialektik nicht gehorchen…« Vgl. M. Foucault, Macht und Körper, in Mikrophysik der Macht, Merve, Berlin, 1976, S. 105 – 106, (orig. Pouvoir et corps, in »Quel corps?«, Nr. 2, Sept.-Okt. 1975, aus dem Französischen übers. von Werner Garst). »Man muss die Archäologie der Humanwissenschaften,« erläuterte Foucault im weiteren Verlauf des Gespräches, »auf die Erforschung der Machtmechanismen gründen, die Körper, Gesten und Verhaltensweisen besetzt haben …« (ibidem, S. 111), und ließ keinen Zweifel daran, welche Rolle er in diesem Prozess dem Intellektuellen zudachte: »Was der Intellektuelle tun kann, ist, Instrumente der Analyse zu liefern, und das ist augenblicklich im Wesentlichen die Rolle des Historikers.« (Ibidem, S. 112).
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die Idee selbst des Subjekts zu liquidieren, also das kantische »Ich denke« auf seiner Suche nach Wahrheit anzufechten, (deren Suche Horkheimer und Adorno dagegen noch am Herzen gelegen hatte), samt dem vermeintlich wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff der traditionellen humanistischen Geisteswissenschaften. Foucaults beunruhigende These vom »Ende des Menschen«2 lässt sich auf zwei Gedankengänge zurückführen: Einmal geht es um das Löschen der rationalistischen Plattform der Erkenntnis gemäß der aufklärerischen Schemata Kants, wie sie im ausgehenden 18. Jahrhundert ausgearbeitet worden waren, und zweitens um die Erarbeitung einer modernen episteme. Dieser Dekonstruktion der Konzepte widmete Foucault die geballte Kraft seiner intellektuellen Energie und zwar tat er nichts weniger, als den entscheidenden Zusammenhang zwischen menschlicher Erkenntnisfähigkeit und Erziehung zur Tugend anzuzweifeln, also die Grundlage der aufklärerischen Identität, die sie als solche auszeichnet. Er sah hingegen die Verflechtungen zwischen Wissen und Macht: »Die Machtausübung bringt ständig Wissen hervor und umgekehrt bringt das Wissen Machtwirkungen mit sich«3, und entlarvte schließlich das unaufhaltsame Wirken zunehmender Disziplinierung, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Abendlandes zieht, bis hin zur Machttechnik der Moderne, die sich zwar unter dem Deckmantel der Emanzipation und Wahrheitssuche verbirgt, in Wahrheit aber nur den letzten Ausdruck des ursprünglichen Willens zur Macht darstellt. Nach wie vor stellt dieses Gedankengebäude eine Herausforderung für Philosophen und Geschichtswissenschaftler dar, die – nolens volens – noch nicht ausdiskutiert ist. Die Fragestellung ist noch vollkommen ergebnisoffen. Foucault befindet sich damit sowohl in Widerspruch gegen die Historiker der Annales-Forschung, die sich von einem teleologischen und kausalen Modell leiten lassen und daher noch dem Positivismus und der Eindeutigkeit des anthropologischen Denkens verhaftet sind, als auch gegen die idealistische Geschichtswissenschaft mit ihrer historiographischen Matrix des denkenden Subjekts. Jedes hermeneutische Konzept wehrt sich schließlich gegen eine 2 Cfr. M. Foucault, Les mots et les choses. Une arch¦ologie des sciences humaines, Paris, 1966; (dt.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1971). Bereits im Vorwort gibt Foucault ohne viel Federlesens zu bedenken, »dass der Mensch lediglich eine junge Erfindung ist, eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt, eine einfache Falte in unserem Wissen, und dass er verschwinden wird, sobald unser Wissen eine neue Form gefunden haben wird«. (Ibidem, S. 27). Und am Schluss seiner fulminanten Studie wird diese These, mit explizitem Rückgriff auf Nietzsche, vollinhaltlich bestätigt: »Heutzutage, und wiederum ist es Nietzsche, der von fern den Wendepunkt anzeigt, ist es nicht sosehr das Fehlen oder der Tod Gottes, der bestätigt wird, sondern das Ende des Menschen ….« (ibidem, S. 460). 3 Cfr. M. Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin, Merve Verlag, 1976, S. 45. (Erstmals veröffentlicht im »Magazine litt¦raire« n. 101, 06.1975 – Entretient sur la prison: le livre et sa methode, Gespräch mit J.-J. Brochier, dt.: Räderwerke des Überwachens und Strafens, aus dem Französischen von Walter Seitter.)
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programmatische These, die den Sinnbegriff »von außen« generiert sieht, als abhängig vom jeweiligen Kontext, und die noch dazu erklärt, dass alles, was wir auch denken, immer schon gedacht sei. Foucaults Analyse-Instrument zur Untersuchung der Geschichte ist hingegen ganz eigener Art, und zwar bezeichnete er sie als »genealogische« Geschichtsschreibung: »Man muss sich vom konstituierenden Subjekt befreien, vom Subjekt selbst befreien«, fordert Foucault, »d. h. zu Geschichtsanalyse gelangen, die die Konstitution des Subjekts im geschichtlichen Zusammenhang zu klären vermag. Und genau das würde ich Genealogie nennen, d. h. eine Form der Geschichte, die von der Konstitution von Wissen, von Diskursen, von Gegenstandsfeldern usw. berichtet, ohne sich auf ein Subjekt beziehen zu müssen, das das Feld der Ereignisse transzendiert und es mit seiner leeren Identität die ganze Geschichte hindurch besetzt«4. Bereits in seinem ersten größeren Werk Folie et d¦raison: histoire de la folie l’age classique (1961)5 hatte Foucault sein besonderes Augenmerk auf die perfiden und verborgenen Auswirkungen der Rationalität gerichtet und ganz besonders auf den lauthals verkündete humanitäre Gesinnung der Aufklärer in der abendländischen Geschichte. Die Analyse der Transformation des Wahnsinns in Krankheit und die Geburt der modernen Psychiatrie am Ende des 18. Jahrhunderts sowie die daraus resultierende Erfindung und Institution der psychiatrischen Anstalten führten Foucault zu einer Verurteilung der dunklen und unmenschlichen Seite des so genannten wissenschaftlichen Fortschritts. Laut Foucault habe ausgerechnet dieser hochgelobte Fortschritt den fatalen Bruch in der Erfahrung des Wahnsinns ausgelöst, denn im Laufe der Geschichte, bis weit ins klassischen Zeitalter, sei der Wahnsinn als ein Zeichen von Heiligkeit mit sakraler Scheu betrachtet worden, und noch in der Renaissance galt er als eine besondere Form der ironischen Vernunft, wie z. B. bei Erasmus von Rotterdam oder bei Dichtern wie Shakespeare und Cervantes. Die strikte Trennung von Vernunft und Un-Vernunft, die systematische Ausschließung der an Wahnsinn leidenden Menschen, was in ihrem Ausmaß nur der im Mittelalter in Europa vorgenommenen Aussonderung der Leprakranken vergleichbar sei, verschlei4 Vgl. M. Foucault im Gespräch mit A. Fontana und P. Pasquino anlässlich der italienischen Ausgabe der Mikrophysik der Macht, (Microfisica del potere. Interventi politici, Einaudi, Torino, 1977, S. 11). Die Textstelle bezieht sich auf Foucaults Essay über Nietzsche, die Genealogie, die Historie (ursprüngliche Fassung: Nietzsche, la g¦n¦alogie, l’histoire, in »Hommage Jean Hyppolite«, Paris, 1971, wieder abgedruckt in: M. Foucault, Dits et ðcrits. Gallimard, Paris, 1994, Tome II, S. 136 – 156); dt. in M. Foucault (Hrsg.), Von der Subversion des Wissens, Fischer, Frankfurt/M., 1987, S. 69 – 90. 5 M. Foucault, Folie et d¦raison: histoire de la folie l’age classique, Gallimard, Paris, 1961; dt.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, aus dem Französischen übers. von Ulrich Köppen, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1969 (geringfügig gekürzt).
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erte, so Foucault, nur notdürftig das dramatische Ende des antiken Dialogs zwischen Rationalität und Irrationalität und leitete stattdessen die Phase der Isolierung des Kranken ein, und das auch noch mit der Ausrede, das Leiden zu behandeln und so den psychisch Erkrankten bestmöglich zu helfen. Mit der Geburt der Psychiatrie hatte sich definitiv etwas viel Perfideres vollzogen als nur die Kontrolle über den Körper in entsprechenden Internierungsstrukturen, denn zum autoritären Monolog des wissenschaftlichen Vernunftdenkens seitens der Psychiater kam erschwerend das den Geisteskranken verordnete Schweigen hinzu. Daraus ergab sich so etwas wie eine monströse moralische Auslöschung der Person, was noch viel demütigender war als die rein physische Absonderung. Die Despotie der Vernunft begnügte sich nicht damit, den Körper einzuschließen, sondern sie strebte darüber hinaus die absolute Kontrolle über das Subjekt an: unter der Ausrede, die Kranken heilen und wieder zu brauchbaren Mitgliedern der Gesellschaft machen zu wollen, ging es in Wirklichkeit um die totale Macht über den Geist. Diesem Problemfeld der recht wenig untersuchten historischen Konsequenzen rationaler Erkenntnis mit dem Ergebnis von Wissen und Macht widmete sich Foucault erneut in späteren Arbeiten wie Naissance de la clinique (1963)6, und im anspruchsvollen Werk Les mots et les choses (1966) zeichnete er schließlich die kulturellen Leitlinien nach, die sich im Abendland durch die Jahrhunderte hindurch herausgebildet hatten, die Normen des naturwissenschaftlichen Denkens wie die Grammatiksysteme philologischen Philosophierens, also die sogenannte episteme, wonach sich der Organisationsprozess der Erkenntnis vollzogen hatte. Auch in diesem letzten Fall sah Foucault sein Hauptziel darin, den Wahrheitsanspruch der modernen episteme in Zweifel zu ziehen und damit die Illusion der Erkenntnis gründlich zu entlarven. Schließlich seien diese ideologischen Voraussetzungen des modernen Denkens erst um 1800 überhaupt begründet worden, samt der angeblichen »Entdeckung des Menschen« und der vermeintlichen Objektivität der Humanwissenschaften. Erst im 1975 erschienenen Werk Surveiller et punir. Naissance de la prison, das Foucault aufgrund seiner eminenten Bedeutung und epistemologischen Reife nicht zufällig sein »erstes Buch« nannte, wurde allerdings die Aufklärung selbst zum Gegenstand seiner polemisch geführten Auseinandersetzung. Das Thema der Aufklärung sah er als geschichtliches Hinterland, gewissermaßen als Bezugsfeld der modernen Technologie mit ihrem Anspruch auf absolute Macht über den menschlichen Körper. Die authentische, d. h. also laut Foucault die 6 M. Foucault, Naissance de la clinique. une arch¦ologie du regard m¦dical,, PUF, Paris, 1963 (zweite, revidierte Ausgabe 1972); dt.: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Hanser, München, 1973; ungek.Ausgabe, aus dem Französischen übers. von Walter Seitter. Fischer, Frankfurt/M., 1988.
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»genealogische Geschichte« jener unbegreiflichen »Milde«7, mit der vermeintlichen Humanität der Strafen nach der Strafrechtsreform von Aufklärern wie zum Beispiel Beccaria, Dupaty und Pastoret im Gefolge, lieferte ihm den roten Faden für eine Untersuchung, die auf provozierende Weise die Wechselwirkung zwischen den neuen Geisteswissenschaften und den Idealen einer Emanzipation aufdecken will, welche in Wahrheit nur die definitive Selbstbehauptung des Individuums und letztlich die Geburt der modernen Disziplinargesellschaften einleitet, samt deren fatale Begleiterscheinungen als da sind Institutionen wie Gefängnisse, Irrenanstalten, Kasernen und die gnadenlose Maschinerie der Fabriken. Der zunehmende Bedarf, Vorgänge zu rationalisieren, zu klassifizieren und zu vermessen, den menschlichen Körper zu dressieren, zu erziehen und zu strafen, d. h. ihn im Zuge der neuen Erkenntnisse zu »heilen« sei ein Prozess, der sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt beobachten ließe, und er verlief, laut Foucault, parallel mit der Entdeckung des menschlichen Körpers als Objekt und Zielscheibe der Macht, nämlich mit dem spontanen Ausbau von Herrschaftsinstrumenten, die dazu dienen sollten, den Körper zu bezwingen und zu unterjochen, um den Menschen zugleich gefügig und verwertbar zu machen. »Die Aufklärung, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplin erfunden«8, erklärte Foucault und versuchte, die Zwangsmechanismen der modernen Disziplinargesellschaften aus geschichtlicher Sicht bloßzulegen, die Fülle an Instrumenten von Gewalt und Herrschaft, die z. B. aus dem humanen Denken eines Menschenfreundes wie Beccaria erwuchs. Mit der Einrichtung des Gefängnisses habe sich die von den Aufklärern mitgetragene neue Machtinstanz der Bestrafung nur wenige Jahrzehnte später exemplarisch in ein Monopol zur Überwachung und Umerziehung verwandelt. Über Adorno und Horkheimer hinaus, die es gewagt hatten, hinter den aufklärerischen Utopien und der philosophischen Entfaltung der instrumentellen Vernunft die Gefahr einer technologisierten Gesellschaft mit ihrem Hang zu brutalem Totalitarismus aufzuzeigen, erhob Foucault den Anspruch, den geschichtlichen Nachweis für dieses planvoll inszenierte Projekt geliefert zu haben, da er die Geburt der totalen Machtinstitutionen, wie sie bis heute fortbestehen, dokumentiert habe. Der Zorn der angerufenen und zugleich herausgeforderten Zunft der Historiker ließ nicht lange auf sich warten.9 7 M. Foucault, Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris, 1975; dt.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, aus dem Französischen übers. von Walter Seitter, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1976 [1994], Kap. 2 – »Bestrafung«, Teil 2: »Die Milde der Strafen«. 8 Ibidem, S. 285. 9 Zur scharfen Kritik der Historiker an vielen allzu gewagten Thesen Foucaults vgl. J. Q. Merquior, Foucault, London, 1985. Besonders aufschlussreich ist ein Vergleich der ungefähr zeitgleich durchgeführten Studien von F. Venturi und M. Foucault zum Werk von Beccaria.
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In seiner 1978 gehaltenen Vorlesung an der Sorbonne mit dem Titel Qu’est-ce que la critique? (Critique et Aufklärung) kam Foucault explizit auf das Thema der Aufklärung zurück. Hierin rechnete er auf ungemein luzide und definitive Art und Weise, ausgehend von Kants Thesen, mit zwei Jahrhunderten Aufklärungsgeschichte ab und stellte gleichzeitig die alte Frage wieder neu, allerdings unter, wie man heute würde, postmodernen Aspekten. Foucaults letzte Auseinandersetzung mit dem Thema der Aufklärung geht auf seine späten, kurz vor seinem Tod im Jahre 1983 gehaltenen Vorlesungen am CollÀge de France zurück, mit dem Titel Qu’est-ce que les lumiÀres? Qu’est-ce la R¦volution? Es handelt sich um die letzte entscheidende Phase in Foucaults historischer Diskursanalyse, in der er sich der Geschichte der Sexualität widmete, sowie dem Versuch, eine Genealogie des modernen Subjekts durch dessen Selbstformierung zu zeichnen. Im Grunde sah Foucault das Individuum als Subjekt eines biogenetischen Sexualitätsmodells, was auf eine Geschichte der Sexualität als Geschichte des Subjekts hinausläuft. Nachdem Foucault sich in seinen früheren Werken mit der Macht an sich, dem Zusammenhang von Wissen und Herrschaftsformen, der Einrichtung von Asylen und Gefängnissen beschäftigt hatte, stand nun der beichtende, christliche Mensch in der abendländischen Geschichte der Sexualität im Zentrum seiner Überlegungen. Tatsächlich entstand parallel zur Beichtpraxis auch die moderne scientia sexsualis, in deren Vordergrund nicht mehr, wie noch in der Antike üblich, die Praktiken für Lust und Vergnügen standen, also die ars erotica, sondern die nunmehr auf die Kontrolle der Sexualität und die Überwachung der Leidenschaften gerichtet war. Die christlich geprägte Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen, stellt dabei für Foucault ein entscheidendes Moment in der abendländischen Geschichte dar. Und wirklich hatten die Praxis des Eingestehens von eigenen Fehlern im Lichte des Glaubens und der Selbsterforschung durch die Beichte die antike Lebenskunst ersetzt, und zwar durch die Furcht einflößende Technologien des Selbst, die auf einer zensorischen Instanz der Introspektive begründet waren. Dieser umwälzenden christlichen Politik der Wahrheit widmete Foucault besonders viel Raum: in einem Vorlesungszyklus, den er im Herbst des Jahres 1983 an der Universität von Berkeley in Kalifornien hielt, ging Foucault in der Antike, vor allem im archaischen Griechenland, auf Spurensuche und machte deutlich, dass in eben diesem Griechenland die Wurzeln der Wahrheitsanalyse zu suchen seien. Foucault weitete das heikle Nachdenkenswert ist vor allem die unterschiedliche Auseinandersetzung mit dem Strafrecht und dem Recht zum Verhängen von Strafen im Europa des 18. Jahrhunderts. Unter den deutschen Historikern war es vor allem Hans-Ulrich Wehler, der Foucaults Vorgehen einer grundsätzlichen Kritik unterzog, vgl. H.-U. Wehler : Die Herausforderung der Kulturgeschichte, C.H. Beck, München, 1998, S. 45 – 95. Zu einer scharfen Auseinandersetzung kam es schon früher mit dem Philosophen Habermas, siehe dazu Jürgen Habermas Der philosophische Diskurs der Moderne, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1985, S. 279 ff.
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Problem der Genealogie der Wahrheit auf die doppelte Frage aus, wie und auf welche Weise sich diese besondere Form der Veridiktion in die Wirklichkeit einfüge, womit Foucault einen Begriff der Wahrheit impliziert, der sich nicht auf den Gehalt richtig/falsch reduzieren lässt, sondern den wir uns auch als einen Sprechakt vorzustellen haben, das heißt als eine »Tätigkeit des Wahrsprechens«: die Parrhesia. Der Sprechakt als solcher hat bereits stets einen aktiven und konkreten Charakter, um wieviel mehr gilt das im Fall, in dem das sprechende Subjekt sich aufs Spiel setzt. Einmal geht es also um die grundsätzliche Feststellung, wie wichtig es sei, die Wahrheit zu sagen, und zum zweiten um die Frage nach dem Wissen der Wahrheit, und warum wir diese Wahrheit denn überhaupt so unbedingt sagen sollten. Hier liegen, so Foucault, die Wurzeln der kritischen Tradition des Abendlandes.10 In den Vorlesungen an der Sorbonne waren diese Themen, die das Subjekt, die Macht und die Wahrheit betrafen, bereits präsent. Doch das polemische Moment bestand in der strikten Trennung der Jahrhunderte alten Geschichte der Kritik vom aufklärerischen Vernunftgedanken, deren Gleichsetzung bis dato einhellig akzeptiert worden war.11 In jener Phase im 18. Jahrhundert etablierte sich zum einen die Anthropologie, welche zur Inthronisierung der menschlichen Vernunft führte, und zum anderen wurde die Kritik gleichgestellt mit dem Vermögen des Subjekts, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, mit der beharrlichen Einübung der kritischen Vernunft auf der Suche nach Wahrheit, mit dem »erhabenen Unterfangen Kants«, dem modernen Vernunftbegriff zum Durchbruch zu verhelfen. Foucault hingegen entwickelte in seiner Genealogie der Kritik, ausgehend vom kirchlichen Gebot der Wahrheitsliebe, die Idee der GouverneMentalität12, also einer auf Beherrschung ausgerichteten Machttechnik, die sich auf die christliche Pastorallehre berufe und »die einzigartige und der antiken Kunst wohl gänzlich fremde Idee entwickelt, dass jedes Individuum unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein ganzes Leben hindurch und bis ins 10 Vgl. Foucaults Ausführungen zum Thema Diskurs und Wahrheit anlässlich der Vorlesungsserie Discourse and Truth. The Problematization of Parrhesia, Berkeley, California, 1983; wieder abgedruckt in Fearless Speech, hrsg. von J. Pearson, Los Angeles, 2001; dt.: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia, hrsg. von J. Pearson, aus dem Englischen übersetzt von Mira Köller, Merve, Berlin, 1996. 11 Die Polemik war vermutlich gegen R. Koselleck gerichtet, der in seinem Buch Kritik und Krise in einem kurzen Überblick über die Geschichte der Kritik im kritischen Element die Grundlage jedes aufklärerischen Denkens sieht. Vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), Suhrkamp, Frankfurt/M., 1973, vor allem S. 105 ff., »Krise und Geschichtsphilosophie«. 12 Den Begriff der »Governementalität« entwickelte Foucault anlässlich seiner Vorlesungen »Securit¦, territoire et population« in den Jahren 1977 und 1978 am CollÀge de France. Dt. vgl. M. Foucault, Die Gouvernementalität, in Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, hsrg. von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke, Suhrkamp, Frankfurt/M., 2000. S. 41 – 67.
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Detail seiner Aktionen hinein regiert werden müsse und sich regieren lassen müsse«, und zwar »zu seinem Heil«. Die »Pastoralmacht«, die auf die dringende Aufforderung des Apostels Paulus zurückgeht, sich gänzlich der Offenbarung Christi anzuvertrauen, um das ewige Heil zu erlangen, analysiert Foucault als eine aus dem Christentum entstandene Machtform, die sich im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts zu einem zunehmenden Prozess der Gouverne-Mentalität entwickelt habe, und die historisch nach wie vor unerforscht sei. Die Auseinandersetzung um die Kunst der Menschenregierung, um die Machtverhältnisse in den Familien, den Städten und den Staaten, um die Befehls- und Herrschaftsstrukturen in den Heeren, sowie um die Gewissensführung der Individuen hätten im Zentrum der kirchlichen und weltlichen Institutionen gestanden und sei ebenso von den zeitgenössischen Intellektuellen als Problem erkannt worden. Disziplinierung und GouverneMentalität seien Hand in Hand gegangen. Historisch gesehen sei die Kritik entstanden als »die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden«13. Foucault verstand Kritik als philosophisches ethos der Freiheit; er wollte deren Entstehungsherd im wesentlichen im Subjekt sehen, das sich die richtigen Fragen über die Beziehungen zwischen Macht und Wahrheit stellt. Ausgehend von der Kritik an der Bibelexegese verwandelte Foucault diese kritische Haltung im folgenden, unter Rekursnahme auf das Naturrecht, in politische Kritik an der archaischen und gewalttätigen Beschaffenheit der Herrschaft des Menschen über den Menschen, um schließlich zu einem allgemeinen Frontalangriff auf den Wahrheitsbegriff der modernen Wissenschaft als Machtinstrument überzugehen. Foucault zufolge bestand kein Zweifel daran, dass die Kritik letztlich die Bewegung sei, »in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit«14. Diese Position hat freilich mit dem Vernunftmodell, wie es die Moderne hervorgebracht hatte, kaum noch etwas gemein, ebenso wenig wie mit dem Primat der Erkenntnis als Vorzimmer der Tugend. Kants erster Teil der Antwort auf die Frage, was Aufklärung sei, deckte sich allerdings exakt mit dieser Auffassung von Kritik, denn Aufklärung, so Kants bündige Definition, sei der Ausgang aus der Unmündigkeit durch die strikte Ablehnung jeglichen Autoritätsprinzips. »Was Kant als Aufklärung beschrieben hat,« so Foucault, »ist eben das, was ich als Kritik charakterisiere: als die kri13 Vgl. M. Foucault, Qu’est-ce que la critique? (Critique et Aufklärung), Vortrag an der Sorbonne, Paris, 1978, erstmals gedruckt in »Bullettin de la Soci¦t¦ FranÅaise de Philosophie«, April-Juni 1990; dt.: Was ist Kritik? (Kritik und Aufklärung), Merve, Berlin, 1992, S. 12. Zum kontroversen Essay von M. Foucault, Qu’est-ce les lumi¦res? (1983) vgl. die Ausgabe von Paris, 2001, hrsg. von O. Dekens, mit reicher Bibliographie zum Thema. 14 Vgl. Foucault in Was ist Kritik?, a. a. O., S. 15.
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tische Haltung, die man im Abendland als besondere Haltung neben dem großen historischen Prozess der Regierbarmachung der Gesellschaft auftauchen sieht.«15 Ganz anders verhalte es sich jedoch mit der These, die man schon in der Antwort von 1784 zwischen den Zeilen hätte lesen können, welche die Aufklärung mit einer falschen Idee von Erkenntnis und einem präzisen Vernunftmodell identifiziert habe. Foucaults Frontalangriff ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »Ich möchte hier nicht den Gegensatz aufzeigen, den es bei Kant zwischen der Analyse der Aufklärung und dem Projekt der Kritik geben mag«16. Der Gegensatz rührte von Foucaults Auffassung her, Identität und Funktion der Kritik losgelöst von Kants Vernunftglauben zu konzipieren, weshalb die gesamte Bewegung der Aufklärung einer »Ereignishaftigkeitsprüfung oder Ereignishaftmachung« zu unterziehen sei.17 Und doch ebnete gerade diese erhellende Unterscheidung zwischen Aufklärung und dem »kritischen Verfahren« der Vernunft, de facto einer Art postmoderner Neudefinition der querelle den Weg. Foucault nutzte die Gelegenheit, alle Fäden seiner bisherigen Untersuchungen, die den Pariser Kreisen häufig fremd geblieben waren, kohärent zusammenzuführen: in der Folge davon distanzierte er sich von der Tradition der französischen Geschichtswissenschaft der LumiÀres, und zwar mit dem Hinweis, die traditionelle »Verbindung von Aufklärung und Revolution« sei epistemologisch erstarrt, d. h. überholt bis zur Sterilität, ideologisch verblendet, und in erster Linie damit beschäftigt, die Werte und das Erbe des 18. Jahrhunderts unverändert zu bewahren und zu verteidigen. Diese eifrigen Gralshüter der reinen Aufklärung solle man in ihrer devoten Ergebenheit nicht stören, deklamierte Foucault voller Hohn vom Katheder des CollÀge de France, ihre Treue sei die bewegendste Form des Verrats18. In Deutschland hingegen habe sich das auf15 Ibidem, S. 16 – 17. 16 Ibidem, S. 18. Für Foucault »nimmt also die Problematisierung der Beziehungen zwischen Aufklärung und Kritik die Form eines Misstrauens, jedenfalls eines Verdachts an: für welche Machtsteigerungen, für welche Regierungsentfaltungen, die umso unabwendbarer sind als sie sich auf die Vernunft berufen, ist diese Vernunft selbst historisch?« 17 Ibidem, S. 30. 18 Cfr. M. Foucault, Qu’est-ce que les LumiÀres?, Vorlesung am CollÀge de France vom 5. Januar 1983, erschienen zuerst im »Magazine litt¦raire«, Mai 1984, und kurz darauf, nach dem Tod Foucaults am 25. Juni 1984, in deutscher Übersetzung in der »Tageszeitung« vom 2. Juli 1984. Immer in der »Tageszeitung« erschien kurz darauf, am 7. Juli, die Antwort von J. Habermas. Wieder abgedruckt in Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, hrsg. von E. Erdmann et al., Campus, Frankfurt am Main/New York, 1990; darin M. Foucault, Was ist Aufklärung?, S. 35 – 54. Eine scharfsinnige Analyse der Thesen Foucaults, die sich gegen die teleologische Sichtweise des 18. Jahrhunderts richten und den Zusammenhang zwischen Aufklärung und Französischer Revolution in Frage stellen, findet sich bei R. Chartier, Au bord de la falaise. L’histoire entre certitudes et inqui¦tude, Albin Michel (BibliothÀque histoire), Paris, 1998, S. 145 ff. Zur spannungsreichen Beziehung zwischen Foucault und den Historikern, vor allem der Schule der »Annales«, cfr. G. Noirel, Foucault and History. The Lessons of a Disillusion, in: »The Journal of Modern History«, 66 (1994), S. 547 – 568.
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klärerische Denken in die richtige Richtung weiter entwickelt, insbesondere seit dem späten 18. Jahrhundert, als das Problem der Aufklärung zur zentralen Frage wurde, zum »Hauptproblem der modernen Philosophie« in korrekt historischer Sichtweise: »In Deutschland hingegen wurde die Aufklärung immer als eine wichtige Episode betrachtet – sei es im positiven oder im negativen Sinn: als eine eklatante Manifestation der abendländischen Vernunft«. Und weiter : »Man stößt nicht auf das Problem der Aufklärung, weil man das 18. Jahrhundert privilegiert, weil man sich für es interessiert. Sondern weil man das Problem Was ist Aufklärung? gründlich aufwerfen will, stößt man auf das historische Schema unserer Modernität«. Ein Großteil der deutschen Geschichtswissenschaftler – sowie auch der europäischen, die sich von ihnen hatte inspirieren lassen – hatte dieser Frage große Bedeutung beigemessen und war von ihr ausgegangen. Foucault sah sich in der Tradition deutscher Denker wie Mendelssohn, Kant, Hegel, Nietzsche, bis hin zu Husserl und der Frankfurter Schule, welche sich dem Thema der Aufklärung unter einem historisch-philosophischen Gesichtspunkt genähert hatten. Diese »Praktik«, wie Foucault sie bezeichnete, und die vor allem seit Nietzsche seinem Denken so nahe war, entzog sich der Verlockung der apologetischen Geschichte der Aufklärung als Wegbereiterin und der Revolution als deren Erfüllung. Foucault hatte seit geraumer Zeit die Machtmechanismen thematisiert, die dem Emanzipierungsdiskurs der Rationalisten untergespannt waren und hatte nachdrücklich das Wesen der »anmaßenden Vernunft« angeklagt, samt deren Auswirkungen von Macht und Herrschaft. Die letzte Herausforderung gegenüber der althergebrachten Geschichtswissenschaft, welche die Aufklärung als geschichtliche und ideologische Epoche des Fortschritts verstand, müsse nun auf der Basis einer neuen Genealogie der Aufklärung geführt werden, die von den spezifischen historischen Rahmenbedingungen ausgehend, die Verflechtungen zwischen Macht, Wahrheit und Subjekt zu analysieren habe. Dazu müsse man zu den Anfängen zurückkehren, zum Kentaur, also zum ursprünglichen Denkmuster der aufklärerischen Zwitternatur zwischen Philosophie und Historie, wie es in Deutschland entstanden war ; allerdings müsse der neue Sinn dieser »historisch-philosophischen Praktik« erhellt werden, die weder dem Rationalismus Kants, noch der Dialektik Hegels, noch der Phänomenologie von Husserl etwas einräumen dürfe. Das Ziel war deutlich vorgegeben: »Die philosophische Frage durch den Rekurs auf den historischen Gehalt entsubjektivieren, die historischen Inhalte durch die Befragung der Machteffekte, mit denen sie von ihrer Wahrheit ausgestattet werden, losmachen: das ist die erste Charakteristik dieser historischphilosophischen Praktik«19. Es ging also mit anderen Worten darum, den Begriff 19 Vgl. Foucault in Was ist Kritik?, a. a. O., S. 27.
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des zwitterhaften Kentauren postmodern zu denken und infolgedessen zum einen die Dethronisierung des Menschen durch den Verlust des autonomen Subjekts zu deklarieren, zum anderen die Idee eines Rationalismus abzuwickeln, hinter dessen wissenschaftlichem Wahrheitsbegriff sich Machtgründe verbargen20. Die Zeit sei reif, der alten Aufklärung endgültig den Totenschein auszustellen. Nur durch deren Liquidierung könne die von Kant eingeführte Verschiebung der Kritik gegenüber der Aufklärung freigelegt und vor allem andere mögliche Wege der Analyse wieder entdeckt werden, die in Vergessenheit geraten seien, vor allem jener Gedanke, wonach die Aufklärung mit ihrer beharrlichen Kritik eigentlich das ethos der Freiheit im Auge gehabt habe, samt eben der Kunst, nicht übermäßig regiert zu werden. In diesem Licht gelesen, finden sich, so Foucault, bereits bei Kant beide Arten der kritischen Praxis. Es war also geradezu die Aufgabe des Projekts einer sich selbst auf kritisch-rationalistischer Basis konstituierenden Moderne, die Foucault zu Kant und zu den Anfängen der Aufklärung im 18. Jahrhundert zurückführen sollte und die dem späten Foucault unter den Nägeln brannte. In der im Januar 1983 am CollÀge de France gehaltenen Vorlesung ging die Frage in eben diese Richtung. Die zwei von Kant jeweils in den Jahren 1784 und 1794 gestellten Fragen lauteten präzise: »Was ist Aufklärung?« und »Was ist Revolution?« Laut Foucault seien diese beiden Fragen vor allem ein Versuch Kants gewesen, sich seiner eigenen aktuellen Angemessenheit zu versichern. Insbesondere in der Fragestellung nach den Aufklärern, tauchte zum ersten Mal das Thema der zeitgenössischen Aktualität auf: welchen Bezug habe das Denken zum aktuellen Geschehen? Und was sei genau dieser gegenwärtige Moment, in dem wir gleichzeitig handeln und beobachten, also sowohl die »einen« als auch die »anderen« sind? Und wer bestimmt den Zeitpunkt, in dem er schreibt?21 20 Wörtlich schreibt Foucault, immer im Essay Was ist Kritik?, a. a. O., S. 26: »Vielmehr geht es in dieser historisch-philosophischen Praktik darum, sich seine eigene Geschichte zu machen: gleichsam fiktional die Geschichte zu fabrizieren, die von der Frage nach den Beziehungen zwischen den Realitätsstrukturen des wahren Diskurses und den daran geknüpften Unterwerfungsmechanismen durchzogen ist«, ihre erste Charakteristik bestehe also folglich darin, »[die] philosophische Frage durch den Rekurs auf den historischen Gehalt [zu] entsubjektivieren, die historischen Inhalte durch die Befragung der Machteffekte, mit denen sie von ihrer Wahrheit ausgestattet werden, los[zu]machen.« (Ibidem, S. 27). 21 Vgl. M. Foucault in seiner Vorlesung Qu’est-ce que les LumiÀres? (1983) über den Text Kants: »Ich möchte die These vorschlagen, dass dieser kleine Text gleichsam am Schnittpunkt von kritischer Reflexion und der Reflexion der Geschichte lokalisiert ist. Es ist eine Reflexion Kants über die Aktualität seines eigenen Unternehmens [….]. Die Reflexion auf das Heute als Differenz in der Geschichte und als Motiv für eine bestimmte philosophische Aufgabe scheint mir das Neuartige dieses Textes zu sein. [….] Auf Kants Text zurückblickend frage ich mich, ob wir die Moderne nicht eher als Haltung denn als Abschnitt der Geschichte ansehen sollten. Und mit Haltung meine ich eine Form der Beziehung zur Aktualität; eine freiwillige Wahl verschiedener Menschen; schließlich eine Art des Denkens und Fühlens, auch eine Art
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Während damals die Philosophie, wie gehabt, unbeirrt die Geschichte durch die Gegenüberstellung antik-modern in Frage stellte, entstand mit Kants Beantwortung der berühmten Frage ein völlig origineller philosophischer Ansatz, und zwar eine »Philosophie als Problematisierung einer Aktualität und als Befragung dieser Aktualität durch den Philosophen, der an ihr teilhat und sich durch sie situationieren muss«. Die Philosophie als »Diskurs der Moderne über die Moderne« umfasst also, laut Foucault, nicht nur das rationalistische Projekt der kantischen Kritiken, sondern auch und vor allem plausible Antworten auf die dringende Frage nach dem eigenen Standort. In welcher Welt und in welcher Zeit lebe ich? Und was für einen Sinn hat diese Aussage? Was geschieht, wenn ich über meine eigene Zeitgebundenheit nachdenke? Genau diese Gedankengänge, so Foucault, seien das eigentliche Novum der Moderne. Und genau deshalb, so schlussfolgert er schließlich, sei Kant nicht nur der verehrte Vater der modernen »Analytik der Wahrheit«, also eines Rationalismus, der sich über die Vorbedingungen befragt, nach denen Erkenntnis überhaupt erst möglich ist. Kant sei darüber hinaus auch der Verfechter einer »Ontologie der Aktualität«, einer Ontologie unserer selbst: »Ich weiß nicht, ob wir jemals mündig werden. Vieles in unserer Erfahrung überzeugt uns, dass das historische Ereignis der Aufklärung uns nicht mündig gemacht hat und dass wir es immer noch nicht sind … [….] Es scheint mir, dass Kants Reflexion selbst eine Weise des Philosophierens ist, die während der letzten zwei Jahrhunderte nicht ohne Bedeutung oder Wirksamkeit geblieben ist. Die kritische Ontologie unserer selbst darf beileibe nicht als eine Theorie, eine Doktrin betrachtet werden, […] sie muss als eine Haltung vorgestellt werden, ein Ethos, ein philosophisches Leben, in dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen ist und ein Experiment der Möglichkeit ihrer Überschreitung.« Und abschließend folgert Foucault: »Ich weiß nicht, ob man heute sagen soll, dass die kritische Aufgabe immer noch den Glauben an die Aufklärung einschließt; ich denke jedenfalls, dass diese Aufgabe eine Arbeit an unseren Grenzen erfordert, das heißt, eine geduldige Arbeit, die der Ungeduld der Freiheit Gestalt gibt.«22 Damit haben wir nun mit unseren Betrachtungen den Zustand der heutigen Auseinandersetzung zum Thema der philosophischen Fragestellung der Aufklärung erreicht. Auf der einen Seite stehen die Erben der traditionellen kantischen Aufklärung, die Anhänger des rationalistischen Projekts der Moderne, wie Habermas, Rawls oder Putnam, um nur die bekanntesten zu nennen, die – wenn auch durch unterschiedliche Beweisführung – den Anspruch erheben, dass die des Handelns und Verhaltens, das zu ein und derselben Zeit eine Beziehung der Zugehörigkeit ist und sich als Aufgabe darstellt. Wohl ein bisschen wie das, was die Griechen Ethos nannten…« Siehe M. Foucault, Was ist Aufklärung?, in Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, a. a. O., S. 41 – 42. 22 Ibidem, S. 53.
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von der Aufklärung aufgeworfenen Probleme nach wie vor »unsere eigenen« seien, und zwar sowohl unter dem Gesichtspunkt der politischen und historischen Ursachenforschung als auch aus dem nicht minder bedeutsamen Blickwinkel der »epistemologischen Überlegung«23. Dagegen halten eine breite und lautstarke Schar von Theoretikern der Postmoderne24, die seit geraumer Zeit mit Gewehr bei Fuß sich keine Gelegenheit entgehen lassen, um den Tod der Aufklärung zu verkünden, sowie das Ende der Moderne, und zwar im Namen des Relativismus, des Nihilismus und der Notwendigkeit neuer Anfänge und neuer philosophischer Morgendämmerungen, die wacker ausgerufen, deren präzisere Ausführungen jedoch stets auf spätere Momente vertagt werden. In dieser Darstellung fehlt allerdings eine dritte, außerordentlich wichtige Komponente, und zwar die Position des katholischen Denkens nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, der wir uns jedoch zu einem späteren Zeitpunkt zuwenden werden.
23 Vgl. H. Putnam, Pragmatism: An Open Question, Oxford, 1995; dt.: Pragmatismus. Eine offene Frage, Campus Verlag, Frankfurt/M., 1995. Zum wachsenden Interesse der Philosophen am sogenannten »Projekt der Aufklärung« vgl. What is Enlightment? EighteenthCentury Answer and Twentieth-Century Questions, hrsg. von J. Schmidt, Berkeley, 1996. 24 Vgl. dazu G. Vattimo, La fine della modernit. Nichilismo ed ermeneutica nella cultura postmoderna, Garzanti, Milano, 1985.
VII. Postmoderne und Gegenaufklärung: von der Disputation zwischen Cassirer und Heidegger zur katholischen Aufklärung von Papst Benedikt XVI.
Innerhalb der Schar der Postmodernen nimmt, was Gewicht und Ansehen betrifft, der Philosoph Richard Rorty eine herausragende Stellung ein. Ähnlich wie Foucault hält er das gesellschaftspolitische Erbe der Aufklärung nach wie vor für gültig, doch sei es streng getrennt zu halten von dem epistemologischen und philosophischen Projekt, das er endgültig als gescheitert ansieht1. Diese zweideutige und im Endeffekt äußerst tückische Position, welche das tragende philosophische Denkgebäude der Aufklärung in ihren Grundfesten erschüttert, wurde in aller Deutlichkeit erstmals im Frühjahr 1929 geäußert, als es auf einem philosophischen Symposion in Davos zu einer Disputation zwischen zwei Geistesriesen wie Ernst Cassirer und Martin Heidegger kam,2 und zwar über die Frage Wie ist Freiheit möglich?, im Rahmen des Themas Was ist der Mensch?, was natürlich unvermeidlich indirekt die Frage nach der authentischen Bedeutung der Philosophie Kants beinhaltete. Abgesehen vom akademischen Geplänkel trennte die beiden Denker eine unüberbrückbare konzeptionelle Distanz, die sich später auch in ihren unterschiedlichen Lebensläufen zeigen sollte: Cassirer musste Deutschland verlassen und emigrierte in die Vereinigten Staaten, während Heidegger dem Nationalsozialismus offen gegenüberstand. Schon damals in Davos ging es jedoch bereits zur Sache: auf dem Spiel stand nichts weniger als die existenzielle Bedeutung der Aufklärung selbst, d. h. die Legitimität ihrer epistemologischen Begründung. 1 Vgl. R. Rorty, The Continuity between the Enlightenment and »Postmodernism«, in: What’s left of Enlightenment? A Postmodern Question, hrsg. von K.M. Baker und P.H.Reill, Stanford, 2001, S. 18 ff. 2 Für die Dokumentation der Kontroverse vgl. E. Cassirer / M. Heidegger, D¦bat sur le kantisme et la philosophie (Davos, mars 1929) et autres textes de 1929 – 1931, hrsg. von P. Aubenque, Paris, 1972; vgl. auch die italienische Ausgabe von E. Cassirer / M. Heidegger, Disputa sull’eredit kantiana. Due documenti (1929 e 1931), hrsg. von R. Lazzari, Milano, 1990. Grundlegend M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Gesamtausgabe, Bd. 3, hrsg. von F.W. von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt/M., 1991, (darin als Anhang die »Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger«, S 274 – 296).
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Auf dem Symposion trat Cassirer als anerkannter Vertreter des Neukantianismus auf, der in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts Fuß gefasst hatte, im Geist der Marburger Schule als Erbe von Hermann Cohen und Paul Natorp, die sich beide mit einer gründlichen Aufarbeitung der Erkenntnistheorie befasst hatten. In seinen Untersuchungen lehnte er das inzwischen überlebte, allzu einseitig auf den Naturwissenschaften begründete positivistische Modell genau so ab wie das Apriori als konstitutives Prinzip. Auf diese Weise erweiterte er in seiner Kulturphilosophie den Begriff des Kritizismus zum ersten Mal auf die gesamte Sphäre menschlicher Kultur, von der Psychologie bis zu den Sprachwissenschaften, von der Anthropologie bis zur Ideengeschichte, wobei er das Verhältnis zwischen aprioristischer Voraussetzung und erlebter Erfahrung neu definierte. Daraus erfolgte eine neue, wesentlich komplexere Hinwendung zu Fragestellungen der transzendentalen Philosophie, unter anderem zum Problem der idealistischen Konzeption von Kants Transzendenz, die allerdings der weltbürgerlichen Tradition der humanistischen Aufklärung stets verhaftet blieb. In seinen Bahn brechenden Untersuchungen über das mythische Denken entwickelte Cassirer in jenen Jahren, als sein Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen3 entstand, eine völlig eigenständige Kulturphilosophie, in deren Zentrum erneut der Mensch stand, als animal symbolicum ein privilegierter Produzent von unendlichen kulturellen Formen durch die symbolische Sprache, die es ihm ermöglichen, sich sowohl in seiner Welt als solcher zurecht zu finden, als auch eben diese in seiner Innenwelt wieder zu finden. Gleich in seinem ersten Beitrag auf dem Symposion in Davos setzte Cassirer sich mit dem Thema von Tod und Endlichkeit auseinander, wobei er die doppelte, sowohl materielle wie geistige Natur des Menschen betonte, und verwies in der Folge nachdrücklich auf die wesentliche Bedeutung der transzendentalen und außerweltlichen Dimension der menschlichen Existenz, ohne die keine Erkenntnis, und also auch keine Aufklärung, möglich sei: »L’homme est certes fini, mais il est en mÞme temps cet Þtre fini que connat sa finitude et qui, dans ce savoir qui lui-mÞme n’est plus fini, s’¦lÀve au-dessus de la finitude«4. Heidegger dagegen trat als der große Abwickler der Aufklärung auf, die nichts anderes gewesen sei als der letzte Abgesang der abendländischen Metaphysik, 3 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (Berlin, 1923 – 1929), Hamburger Ausgabe (Ernst Cassirer Arbeitsstelle, Warburg-Haus Hamburg): Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, hrsg. von Birgit Recki, Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, Hamburg, Meiner, 2001 (Hamburger Ausgabe, Band 11); Zweiter Teil: Das mythische Denken, hrsg. von Birgit Recki, Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz, Hamburg, Meiner, 2002 (Hamburger Ausgabe, Band 12); Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, hrsg. von Birgit Recki, Text und Anmerkungen bearbeitet von Julia Clemens, Hamburg, Meiner, 2002 (Hamburger Ausgabe, Band 13). 4 Vgl. E. Cassirer / M. Heidegger, D¦bat sur le kantisme, a. a. O., S. 27.
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die unter dem Vorwand einer an Erkenntnis orientierten Fragestellung definitiv den Menschen inthronisiert hatte, um den bekannten bildhaften Ausdruck Foucaults in dessen Werk Les mots et les choses (dt.: Die Ordnung der Dinge) zu gebrauchen, und die damit also das Aufkommen des Nihilismus und die bedrückende Dominanz der modernen technologischen Gesellschaft beschleunigt habe. In der Tradition Husserls stehend und bekannt für seine neoscholastischen Sympathien, erschien Heidegger den Zeitgenossen als charismatischer Wortführer einer Neukonzeption der Metaphysik, die nach ihm eine völlige »destruction«5, so seine betont heftigen Worte, erforderten. Offenkundig erachtete er die zur Diskussion stehende Schlüsselfrage der Aufklärung Was ist der Mensch? als nicht geeignet, um die menschlichen Bedürfnisse hinreichend zu erörtern, oder gar um das Schicksal der Menschheit zu verstehen. In seinen Augen stellte sich die Frage vielmehr unter einem dezidiert ontologischen Gesichtspunkt, das heißt, es ging ihm vor allem um Sinn und Wesen des Seins: Was ist das Sein?, das sei die eigentlich zu stellende Frage. Warum das Sein und nicht das Nichts? Diese unbeantwortet gebliebene Frage und die daraus folgende Seinsvergessenheit von Platon bis Nietzsche habe laut Heidegger die abendländische Metaphysik auf einen falschen Weg gelockt, was nun dem Nihilismus Tür und Tor öffne. All diese Formen von »Humanismus«, die im Laufe der Geschichte immer wieder auftauchten, und alle von einem weltbürgerlichen und rationalen Wesen des Menschen ausgegangen waren, seien nichts anderes als die fatalen Folgen des anfänglichen, schwerwiegenden Fehlers.6 In Davos, vor dem Philosophentribunal, sollte dieses Thema ein für alle Mal ausdikutiert werden. Cassirer, der Epigone der humanistischen Philosophie, dachte den Menschen als transzendentes Wesen, also fähig zu unendlicher Erkenntnis und zum Streben nach Wahrheit, und sah ihn dementsprechend sicherlich als Mittel und Träger, gleichzeitig aber auch als Endzweck seines aufklärerischen Denkens. Anders Heidegger, für den nicht der Mensch, sondern die fundamentale Frage nach der Seinserkenntnis im Mittelpunkt stand. Der Mensch sei, so Heidegger, lediglich »der Hirte des Seins«, dessen »Nachbar«, der Weg und das ontologische Werkzeug, um den Sinn des Seins zu deuten. Zu diesem Zweck müsse gebührend berücksichtigt werden, dass der wesentliche Zug der humanitas des homo humanus, sein Wesen, in der Endlichkeit seiner Existenz begründet liege, in der zeitlichen Begrenztheit seiner Seinswahrheit: »Das Wesen des Daseins ist das In-der-Welt-sein«, was die Wahrheit, als adae5 Wörtlich sprach Heidegger von einer »destruction de ce qui a ¦t¦ jusqu’ici les fondements de la m¦taphysique occidentale (l’Esprit, le Logos, la Raison)«, ibidem, S. 24. 6 Die bündigste und zugleich bekannteste Synthese des Heideggerschen Denkens zu diesem Thema ist zweifellos der Brief über den »Humanismus« (1946), M. Heidegger, Gesamtausgabe, hrsg. von F.W. von Herrmann, Bd. 9, »Wegmarken«. Vittorio Klostermann, Frankfurt/M., 2. Aufl. 1996, S. 313 – 365.
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quatio intellectus et rei, zur »Entbergung« mache, zur Manifestation des Seins als das Heraustreten »aus der Verborgenheit«7. Der Mensch, der somit als Öffnung zum Sein (als Dasein) in ein größeres Ganzes hineinversetzt ist, könne also schwerlich den zentralen Platz innehaben, der ihm noch in der Aufklärung zuerkannt worden sei: mitnichten sei es der Mensch, der über das Sein entscheide, wie es die Wissenschaften und die Technik der Neuzeit weismachen wollten, nicht der Mensch sei wesentlich, sondern vielmehr sei es das Sein selbst, das über das Wesen entscheide, über das Da-Sein im Sein. Beide Autoren hatten wichtige Bücher über Kant geschrieben: Cassirer im Jahr 1918, Heidegger 1929. Deren Streitgespräch in Davos hob die unüberbrückbaren Gegensätze, wie sie sich in der unterschiedlichen Auslegung eines so fundamentalen Werkes wie der Kritik der reinen Vernunft zeigten, noch einmal deutlich hervor. Nach Heidegger hatte die Kritik der reinen Vernunft – entgegen der fälschlichen Annahme – mit Erkenntnistheorie nichts zu schaffen. Nicht den Logiker und Methodologen der Erkenntnis der positiven Wissenschaften galt es darin zu suchen, sondern den Philosophen, der als einer der Ersten die Notwendigkeit erkannt hatte, die Grenzen der bloßen Logik zu überschreiten und endlich eine ontologische Metaphysik des menschlichen Daseins zu begründen. Kant hatte, immer laut Heidegger, eher die Frage nach dem Wesen des Menschen gestellt, nach der Art und dem Sinn menschlichen Daseins in Zusammenhang mit dem Sein, und sich weniger mit dem sattsam bekannten Problem der Urteilskraft beschäftigt, obwohl er natürlich der Frage nach der Autonomie wie den Grenzen der Vernunft in den Erkenntnismechanismen genauestens nachgegangen sei. Auf die alte Frage Was ist der Mensch? hatte Kant mit dem Hinweis auf die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis geantwortet, die er als deren wesentlichen Zug bestimmt und folglich in den Mittelpunkt der Kritik der Vernunft gestellt hatte. Darin sei eben der entscheidende Punkt zu suchen, der jede Vorläufigkeit und Abhängigkeit menschlicher Erkenntnis bedinge, und zwar durch die zum Dasein gehörende Endlichkeit, also durch die Sterblichkeit, d. h. die Zeitlichkeit eben des Da-Seins. Daraus ergebe sich nun zwingend, dass jede Intuition nur als passiv zu betrachten sei, der Verstand als bloß re-produktiv und nicht produktiv, die Vernunft als endlich und also unfähig, sich über die Erfahrung hinaus zu erheben und die Grenzen eines zweck- und zielgebundenen Reiches zu überschreiten. Damit sei auch die Wahrheit in ihrer historistischen Bedingtheit als Kind der jeweiligen Zeit entlarvt und damit ihres überzeitlichen und ewigen Werts beraubt. Mit anderen Worten: diese Kant-Auslegung Heideggers legte faktisch das jahrhundertealte Projekt der Aufklärung in Trümmer. 7 M. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit (1930), in: Gesamtausgabe, hrsg. von F.W. von Herrmann, Bd. 9, »Wegmarken«. Vittorio Klostermann, Frankfurt/M., 2. Aufl. 1996, S. 177 – 203.
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Der Traum von der Emanzipation des Menschen durch den Menschen, der ihn zum Schmied seines eigenen Schicksals hätte erheben sollen, verlor somit seine einzige und wesentliche Waffe, nämlich das aus der abendländischen Metaphysik hervorgegangene Postulat menschlicher Erkenntnisfähigkeit. Wie konnte man unter diesen Umständen weiterhin an einem Begriff der Kultur festhalten, der den Menschen als erkennendes Subjekt sah, als Schöpfer für die idealen Regeln seiner Entwicklung durch mannigfaltige Bildung? Laut Heidegger hatte Kant diese paradoxen Folgen seinen eigenen Einsichten erkannt und sei voller Entsetzen davor zurückgewichen. Tatsächlich habe der Metaphysiker Kant in der ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft eben in der transzendentalen Einbildungskraft das wesentliche und einigende Vermögen der Empfindsamkeit und der Einsicht in die Mechanismen der ontologischen Erkenntnis entdeckt. Zutiefst erschrocken vor dieser Hypothese, welche die zentralen Säulen der abendländischen Metaphysik selbst, also die Funktion von logos und ratio, in Frage stellte, sei er davor zurückgewichen und habe in der zweiten Ausgabe wieder Vernunft und Verstand in den Mittelpunkt gestellt, und sich gegen die Einbildungskraft entschieden8. Diese Auslegung, die Kant geradezu zu einem frühen Vertreter der heutigen Postmoderne zurechnet, wurde von Cassirer, dem durchaus bewusst war, was hier auf dem Spiel stand, heftig kritisiert. In seiner 1931 erschienenen Rezension, die in gewisser Weise einen Schlussstrich unter das Streitgespräch von Davos zog, machte er die Komplexität der kantischen Philosophie und dessen Primat der ethischen Frage und des moralischen Gesetzes geltend. Denn aus eben diesem Bereich der Sittlichkeit erwachse der kategorische Imperativ und eben dort vollziehe sich auch das Wunder der schöpferischen Erkenntnis des Menschen, die Fähigkeit der transzendentalen Einbildungskraft, die einheitlichen Zweckmäßigkeit des Tuns zu erfassen: »Das Dasein ist, was es im Lebensvollzug tut«9. Kant habe immer unterstrichen, dass einer Analyse, die sich allein auf die »Natur des Menschen« stütze, also auf dessen Wesen, niemals eine transzendente Idee von Freiheit zugänglich sei, und dass sich also daraus keine Bildung einer universalen Ethik ableiten lasse. Ganz anders als Heidegger mit seinem kruden und tragischen Monismus, der darauf abzielte, phainomena und noumena, also Sinnen- und Verstandeswelt zu verwechseln, da ein Da-Sein außerhalb der Zeit und der Endlichkeit für ihn unvorstellbar war, sei Kant 8 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Gesamtausgabe, Bd. 3, hrsg. von F.W. von Herrmann, a. a. O., § 31 »Die Ursprünglichkeit des gelegten Grundes und Kants Zurückweichen vor der transzendentalen Einbildungskraft«, S. 160 ff. 9 E. Cassirer, Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers KantInterpretation (1931), in: Hamburger Ausgabe (Ernst Cassirer Arbeitsstelle, Warburg-Haus Hamburg), Bd. 17, »Aufsätze und kleine Schriften 1927 – 1931«, hrsg. von Birgit Recki, Text und Anm. bearb. von Tobias Berben, Meiner, Hamburg, 2004, S. 221 – 253.
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hingegen stets ein Dualist gewesen, der allerdings fest dazu entschlossen war, zwischen mundus intelligibilis und mundus sensibilis einen existierenden Zusammenhang zu postulieren: »Denn sein Problem ist nicht das Problem von ›Sein‹ und ›Zeit‹, antwortete Cassirer 1931 mit beschwörender Leidenschaftlichkeit, »sondern von ›Sein‹ und ›Sollen‹, von ›Erfahrung‹ und ›Idee‹. Kant habe sich nicht für das Problem der Endlichkeit des Subjekt-Seins interessiert, noch für das Thema der existenziellen Angst im Angesicht des Nichts oder die Interpretation des Daseins in Bezug auf die Endlichkeit des »Seins zum Tode«; sein Thema sei vielmehr die vernunftbegründete Erkenntnisfähigkeit der Menschheit gewesen. Er sei im genauen und schönsten Wortsinn »ein Denker der Aufklärung« gewesen, in stetem Streben nach dem Lichten und Hellen, auch dort, wo er dem tiefsten und verborgensten Urgrund des Seins nachsinnt. Seinem Werk verdanke die Menschheit ein in mühevollster Arbeit errichtetes Denkgebäude, das dem Menschen einerseits den Weg der Erfahrung weise, das »Erlebnis«, um mit Cassirer zu sprechen, ihm aber auch darüber hinaus die Teilhabe an der »Idee« klar mache, die Fähigkeit also, Begriffe wie Transzendenz und Ewigkeit zu erfassen: »Das ist seine ›Metaphysik‹, sein Weg, um die ›Angst vor dem Nichts‹ zu bannen.«10 Was ist heute von diesem berühmten Streitgespräch übrig geblieben? Welche Bedeutung hat die Disputation von Davos innerhalb der heutigen philosophischen Debatte? Wie wird der Zusammenstoß zwischen Modernen und Postmodernen enden und welche Zukunft erwartet die philosophische Fragestellung der Aufklärung, angesichts der nach wie vor unverminderten Angriffe aller Jünger der Postmoderne, die das Subjekt und die kritische Vernunft am liebsten liquidieren und den Tod des Menschen verkünden würden, ohne dabei ernstzunehmende und durchführbare Alternativen aufzuzeigen? Bleibt wirklich nur der Weg in den Nihilismus oder die Flucht in mehr oder minder wieder aufgenommene Formen von religiöser Spiritualität? Es ist nicht einfach, eine Antwort auf diese Fragen zu finden; erschwerend kommt hinzu, dass neben postmodernen und neo-aufklärerischen Philosophen ein dritter ungebetener Gast die Bühne betreten hat, von dessen mächtigem und Ehrfurcht gebietendem Gewicht nur selten die Rede ist, nämlich die katholische Kirche. Eine der außerordentlichsten und völlig unerwarteten Auswirkungen, die dieser Krieg zwischen Modernen und Postmodernen zeitigt, besteht zweifellos in der philosophischen und kulturellen Wiederauferstehung Gottes, d. h., genauer gesagt, in der bis vor kurzem noch undenkbaren Rückkehr des Religiösen in den öffentlichen Raum einer westlichen Gesellschaft, die sich plötzlich ihrer postsekulären Orientierungslosigkeit bewusst wird11. Eine der offensicht10 Ibidem. 11 Vgl. G. Kepel, La revanche de Dieu. Chr¦tiens, juifs et musulmans la reconquÞte du monde,
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lichsten Folgen dieser Rückkehr ist die Krise des grundlegenden aufklärerischen Prinzips der Trennung von Kirche und Staat, also der strikten Einhaltung von Grenzen zwischen Religion und Politik, sowie die eigentlich verblüffende Transformation des philosophischen Problems der Aufklärung in eine neue und komplex theologische Fragestellung. Allerdings wurde genau dieser letztgenannte Problemkomplex von den Erben der Aufklärung viel zu lange unterschätzt, während er doch, im Gegenteil, höchste Aufmerksamkeit verdient hätte. Es versteht sich von selbst, dass es – ungeachtet ihres unbestreitbaren Einflusses – nicht vordergründig die Argumente der postmodernen Philosophen waren, die diesen radikalen Perspektivenwechsel hervorgebracht haben. Seit 1989 wurde es in den darauf folgenden Jahren auf internationaler Ebene immer klarer, dass hinter dem Zusammenbruch der großen progressiven Ideologien und der darauf bauenden emanzipatorischen Utopien handfeste wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Gründe stehen. Verhängnisvolle Fehler und tragische Illusionen wurden von der Geschichte eines Besseren belehrt. Und doch kann es kein Zufall sein, dass ausgerechnet die radikalsten Thesen, die beunruhigendsten Streitpunkte zum festen Bestandteil der Argumentation seitens christlicher Philosophen und Theologen geworden sind, die sich in der apokalyptische Sprache von Heidegger, Adorno und Foucault gegen den Geist der Aufklärung verschworen haben. Das aufklärerische Denken, obwohl inzwischen nur noch ein Schatten seiner selbst, vermag anscheinend nach wie vor weiterhin schreckerfüllte Abwehrreaktionen auszulösen. Auf allen Ebenen, angefangen bei den Enzyklikae von Papst Johannes Paul II. bis hin zu den stereotypen Verdammungen seitens der Theologen, der Pfarrer und aller der Kirche nahestehenden Intellektuellen, die sich mittlerweile unisono auf ein Klischee eingeschossen haben, hat die katholische Kirche ihr althergebrachtes Arsenal der Gegenaufklärung aufgerüstet. Dabei zieht sie im Licht eines systematischen und intelligenten Hinweises auf die Dialektik der Aufklärung derzeit alle Register und ruft die vermeintliche Verantwortung der kritischen Vernunft und des (im Sinne Kants) erhobenen Anspruchs auf die moralische Autonomie des Menschen an der Entstehung der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts in den Ring. Und die Anklage wird gleich weiter ausgedehnt auf die angeblich nun klar gewordenen sichtbaren Folgen dieses freigeistigen Gedankengutes, wie sie sich in der totalen Vermarktung sowie in den beängstigenden Auswüchsen der technologisierten Gesellschaft zeigen. Man müsste eigentlich verstärkt darüber nachdenken, warum das Hauptgewicht der öffentlichen Debatte international weiterhin auf dem Paradigma des Kentauren liegt: Le Seuil, Paris, 1991, (dt.: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, Piper, München, 2001); J. Casanova, Public Religions in the Modern World, University of Chicago Press, 1994; E. Pace, Perch¦ le religioni scendono in guerra?, Laterza, Bari-Roma, 2004.
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diskutiert wird also nach wie vor das zwitterhafte Wesen der philosophischen Aufklärung samt deren jüngsten und durchaus eindrucksvollen Auslegungen, wohingegen die Aufklärung der Historiker sträflich vernachlässigt wird. Da überrascht es keineswegs, dass sich eine »weitgehende« Übereinstimmung zwischen dem Theologen Joseph Ratzinger und dem Philosophen Jürgen Habermas bezüglich eines notwendigen Dialogs zwischen Vernunft und Religion herausgebildet hat. Die Positionen des »aufgeklärten Denkens« einerseits und des Christentums andererseits müssten im Licht der neuen postsekulären Gesellschaft neu überdacht werden, nur wird dabei übersehen, dass die Religionen heute weniger denn je zum Nebenschauplatz der öffentlichen Meinung degradiert sind, sondern dass sie, ganz im Gegenteil, zunehmend einen zentralen Platz beanspruchen, und das ausgerechnet unter der Zustimmung der traditionellen philosophischen Schemata, aus denen sich Hegels Entfremdungsbegriff speist. Es ist die Zustimmung einer entfremdeten Moderne auf der Suche nach einem Fundament und nach dialektischer Versöhnung mit sich selber, auch unter Rückgriff auf den Glauben, wie es der junge Hegel erhofft hatte12. Im übrigen ist dies der einfachste Weg, die Tür für zukünftige Begegnungen zwischen Vernunft und Religion offen zu halten, ohne sich allzu sehr auf die Geschichte und die dramatischen Erfahrungen der Vergangenheit einlassen zu müssen. Und dennoch geht die Geschichte nicht einfach vorbei, ohne Spuren zu hinterlassen, ganz im Gegenteil, jedes vergangene Geschehen prägt unsere Entscheidungen bis heute. Wie zum Beispiel kann es angehen, dass eben jene Kirche, die Jahrhunderte lang die Menschenrechte verlacht und verteufelt hat, sich heute als schützendes Bollwerk aufspielt? Wie kann es sein, dass diese selbe Kirche, die mit allen Mitteln versucht hat, die Durchsetzung von religiöser Freiheit, von Toleranz und Demokratie zu hintertreiben, heute, ohne ihre eigene 12 Vgl. J. Habermas / J. Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, Debatte in der Katholische Akademie Bayern, 2004; wieder aufgenommen in Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, München, Herderverlag, 2005. Ehrlich gesagt, habe ich nicht den Eindruck, dass sich aus dem »Dialog«, der im Januar 2004 in der Katholischen Akademie in München stattgefunden hat, neue Einsichten gewinnen lassen. Beide Protagonisten nahmen zur Kenntnis, dass sowohl die Moderne als auch die Religionen Irrwege und Abweichungen aufweisen, und dass im Rahmen einer postsäkularen Gesellschaft, wie es die heutige zweifellos ist, allenthalben Dialog und Toleranz angesagt sei. Habermas hielt unbeirrt am Prinzip der strikten Trennung von Kirche und Staat fest, räumte jedoch ein, dass die Widerstandskraft des Glaubens der aufgeklärten Philosophie eine »kognitive Herausforderung« abnötige. Ratzinger zog es vor, nachdrücklich auf die doppelte Identität Europas hinzuweisen, d. h. auf das Erbe von Christentum und Aufklärung, deren Verhältnis genauer untersucht werden müsse. Sehr viel anregender sind hingegen meines Erachtens die Betrachtungen von Habermas von 2001, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, wo er zu den szientistischen Auswüchsen Stellung nimmt, die seiner Ansicht nach in ihrer Maßlosigkeit die zentrale Rolle des Menschen selbst aus den Augen verlieren.
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Geschichte gründlich aufgearbeitet zu haben, glaubwürdig weismachen will, sie sei die legitime Hüterin einer Tradition, die das kostbarste politische Vermächtnis des Abendlandes darstellt? Da genügt es nicht, die »Läuterung der Erinnerung«13 zu erflehen oder um Vergebung für die Fehler der Vergangenheit zu bitten, wie es Johannes Paul II. getan hat, während gleichzeitig die Aufklärung nach wie vor als historische Matrix einer Kultur des Todes und als Wurzel aller Übel des 20. Jahrhunderts gebrandmarkt wird. Da genügt es auch nicht, in alle vier Himmelsrichtungen die Universalität der Menschenrechte hinaus zu posaunen, während gleichzeitig grundlegende Rechte der Person in den eigenen Reihen missachtet werden. Nach wie vor lässt die katholische Kirche keine Bereitschaft erkennen, sich einer grundsätzlichen Debatte über fundamentale Begriffe wie Freiheit und Wahrheit zu stellen, um sie wieder, auch und vor allem auf theologischer Ebene, neu zu definieren14. Obwohl man es wissen könnte und sollte, ist es ist nicht allgemein bekannt, dass die katholische Kirche erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 65) begonnen hat, sich ernsthaft mit den Errungenschaften der Aufklärung und der davon geprägten politischen Moderne auseinanderzusetzen. Erst die Tragödien des 20. Jahrhunderts, die Erfahrung totalitärer Gewaltherrschaft und vor allem der Holocaust, der die ernste Frage nach der Verantwortung des katholischen Antisemitismus aufwarf, rüttelte das Gewissen der kirchlichen Würdenträger, seit Jahrhunderten hinter den tridentinischen Gewissheiten verschanzt, endgültig wach und ebnete schließlich den Weg für den Dialog zwischen Katholizismus und Moderne15. 13 Zum leidigen Problem des Verhältnisses zwischen Theologie und Geschichtswissenschaft, und besonders zur Bedeutung des problematischen Sendbriefes Tertio millennio adveniente (2000), wo zur »Läuterung der Erinnerung« aufgerufen wird, vgl. V. Ferrone, Le radici illuministiche della libert religiosa, in: Le ragioni dei laici, hrsg. von G. Preterossi, Laterza, Bari-Roma, 2005, S. 57 ff. 14 Zu diesem Themenbereich, der im Rahmen einer Debatte der Thesen von Kardinal K. Lehmann in der Zeitschrift »Il Regno« zur Sprache kam, vgl. E.-W. Böckenförde, Verit e libert. Sulla responsabilit della Chiesa nel mondo di oggi, In: »Il Regno«, IX, Nr. 49/2004, S. 716 ff.; V. Ferrone, La laicit spazio di valori, in: »Il Regno«, X, Nr. 50/2005, S. 282 ff. Aufsehen erregte eine Ansprache von Kardinal Carlo Maria Martini im Mailänder Dom, wo zum Thema der Wahrheit eine christliche Meinungsvielfalt angemahnt wurde. Die Reaktionen in der einflussreichen Mailänder Tageszeitung »Corriere della sera« vom 9. 05. 2005 waren bezeichnend und sollten beachtet werden. 15 Vgl. V. Ferrone, Chiesa cattolica e modernit. La scoperta dei diritti dell’uomo dopo l’esperienza dei totalitarismi, in: Chiesa cattolica e modernit, hrsg. von F. Bolgiani /V. Ferrone / F. Margiotta Broglio, il Mulino, Bologna, 2004, S. 17 ff. Die Haltung der Kirche im Hinblick auf die historische Erfahrung der modernen Totalitarismen ist nach wie vor ein heikles und erst wenig untersuchtes Thema, schon gar nicht in Italien, wo dieses heiße Eisen tunlichst überhaupt nicht angefasst wird. Einen ersten Schritt wagten mutige Historiker wie Luisa Mangoni, Giovanni Miccoli, Lutz Klinkhammer, Andrea Riccardi, Guido Verrucci u. a. anlässlich eines Symposiums in Turin (Fondazione Firpo), 25.–26. 10. 2001; vgl. La Chiesa
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In den 1930er Jahren, im Umkreis der fortschrittlichen und aufgeschlossenen katholischen Zeitschrift »Esprit«, hatten beizeiten große Persönlichkeiten wie Mounier, Dani¦lou und Maritain eine Debatte über die politische Modernität angestoßen, doch die überfälligen Denkanstöße verhallten ungehört. Vor allem die positive Bedeutung der Menschenrechte, wie sie von den Aufklärern ausgearbeitet worden waren, sollte endlich hervorgehoben werden, allerdings gelte es aber gleichzeitig auch, den grundsätzlichen Webfehler des »anthropozentrischen Humanismus« zu überwinden, woraus sie erwachsen seien. Immerhin wurde die Notwendigkeit erkannt, wenigstens die sozialen Rechte einzufordern und eine »nouvelle chr¦tient¦« zu begründen, die in der Lage sei, die positiven Aspekte der Moderne aufzunehmen und wenn möglich, mit christlichem Geist zu erfüllen. Auf jeden Fall sollte zumindest jegliche vorgefasste Dämonisierung vermieden werden. Im System des christlichen Humanismus, schrieb Maritain 1936 in seinem berühmten Werk Humanisme int¦gral, in dem er eine Geschichtsphilosophie des Christentums vorlegt, die sich durch die Übernahme von Begriffen der modernen Geschichtswissenschaft auszeichnet, sei kein Platz für die Irrtümer von Martin Luther oder von Voltaire, sehr wohl aber für das historische Gewicht der beiden, die trotz ihrer Fehlleistung die Geschichte der Menschheit vorangebracht hätten.16 Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden mit der Unterstützung der mächtigen katholischen Kirche Nordamerikas unter dem Vorsitz von Kardinal Spellman, und auf Betreiben des progressiven Flügels der europäischen Würdenträger viele dieser Ideen Eingang in die von Papst Paul VI. auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil durchgesetzte Enzyklika Dignitatis humanae personae. In diesem Dokument von außerordentlicher Bedeutung definierte die katholische Welt erstmals das ius ad libertatem religiosam als unveräußerliches Recht der menschlichen Person, das weder durch die staatliche noch die kirchliche Autorität eingeschränkt werden dürfe. »Das ist die Revolution!«, sei es dem Zeitzeugen Karol Wojtyla17 seinerzeit entfahren. Wojtyla meinte damit allerdings wohl weniger die umwälzende theologische und kirchengeschichtliche Neuheit, sondern er hatte sogleich die einschneidende politische Tragweite der Verschiebung vom Gottesrecht zum Menschenrecht im Kampf gegen den Kommunismus erkannt. In Wirklichkeit fand die sogenannte »anthropologische cattolica e il totalitarismo. Atti del Convegno, hrsg. von V. Ferrone, Olschki (Collana Fondazione Firpo. Studi e testi), Firenze, 2004. 16 Vgl. J. Maritain, Humanisme int¦gral. ProblÀmes temporels et spirituels d’une nouvelle chr¦tient¦, Aubier, Paris, 1936 (Neuaufl. 1946/1968); dt: Christlicher Humanismus, Politische und geistige Fragen einer neuen Christenheit, Heidelberg, 1950. 17 Der Augenzeugenbericht findet sich in E.-W. Böckenförde, Verit e libert, a. a. O., S. 721. Eine scharfsichtige Rekonstruktion der damaligen Ereignisse stammt von G. Miccioli, Due nodi. La libert religiosa e le relazioni con gli ebrei, in: Storia del Concilio Vaticano II, unter der Leitung von G. Alberigo, Bologna, 1995 – 2001, Bd. IV, S. 119 ff.
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Wende«18 des Zweiten Vatikanums in den sukzessiven Auslegungen der Ergebnisse des Konzils ein baldiges Ende. Übrig blieben lediglich die Werke einiger Protagonisten der Nouvelle th¦ologie, die ihre Aufmerksamkeit auf die Geschichtlichkeit des Christentums richteten, auf eine Neubewertung der zeitlichen Existenz des Menschen in der Geschichte als theologischem Ort.19 Die Gegenüberstellung des christlichen und des aufklärerischen Humanismus, wie sie in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes versucht wurde, teils mit mutigen Fragestellungen wie z. B. »Was ist der Mensch? Welchen Sinn hat die Existenz des Schmerzes, des Bösen, des Todes – alles Dinge, die trotz solchen Fortschritts immer noch fortbestehen? Wozu diese Siege, wenn sie so teuer erkauft werden mussten?«20, wurde rasch auf eine philosophisch-theologische Hermeneutik verkürzt. Der zweifellos unbequeme und beunruhigende Kö18 Vgl. dazu die Positionen von H. Jedin, M.-D. Chenu, H.-I. Marrou und K. Rahner. In Anbetracht des neuen strategischen Verständnisses der Kirche als »Volk Gottes« und in Hinblick auf die »engste Verbundenheit der Kirche mit der ganzen Menschheitsfamilie«, vergleicht Rahner das Zweite Vatikanische Konzil mit dem historischen Moment, als der Apostel Paulus den geistigen Mittelpunkt des Christentums von Jerusalem nach Rom verlegte. Der französische Dominikaner Chenu machte dagegen vier innovative Säulen der Konzilstheologie aus: einmal den Vorrang des christlichen Mysteriums vor der kirchlichen Institution, sodann die Anerkennung der unveräußerlichen Menschenwürde im christlichen Heilsplan, weiter die Selbsterkenntnis der Kirche als geschichtliche Realität, und endlich die Anerkennung des Diesseits als positiven Wert. Vgl. G. Alberigo, Transizione epocale?, in: Storia del Concilio Vaticano II,, a. a. O., Bd. V, S. 628 ff. 19 Die Geschichtlichkeit des Christentums und damit den Zusammenhang von Geschichte und Theologie entdeckt zu haben, geht allerdings auf die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurück, also bevor die nouvelle th¦ologie Gestalt annahm. In den dreißiger Jahren zum Beispiel unterzog der Dominikaner Chenu die bibelexegetischen Untersuchungen von PÀre Lagrange, dem Gründer der renommierten Bibelschule von Jerusalem, einer Neubewertung. Dies löste eine Flut von Untersuchungen über das Christentum als »Geschichte und Konfessionstheologie« aus und brach eine Debatte vom Zaun, welche die Kirche maßgeblich beeinflusste. Vgl. die Einleitung von G. Alberigo zur italienischen Übersetzung von M.-D. Chenu, Le Saulchoir. Une ¦cole de theologie (1937, dt.: Le Sauchoir: Eine Schule der Theologie, Berlin, 2003), it.: Le Saulchoir. Una scuola di teologia, Casale Monferrato, 1982, S. IX ff. In dieser italienischen Neuauflage seiner alten Essays, die seiner Zeit in Rom soviel Entrüstung und Widerstand hervorgerufen hatten, schrieb Chenu mit Genugtuung, dass im Zweiten Vatikanum nun endlich die historische Dimension der Kirche offenkundig geworden sei. Das zeige sich an der Tatsache, dass der Ausdruck historia, ein Unwort im Lehramt der Kirche, nicht weniger als 63 Mal gebraucht worden sei. Seine Methode, die Methode von Le Saulchoir, habe die Geschichte in die Theologie hineingebracht, so wie Jahre zuvor PÀre Lagrange die »historische Methode« in die Exegese der Heiligen Schrift eingebracht habe, ebenso unter viel Gezeter aus Rom. Nun habe des Konzil beide Denkansätze akzeptiert und gutgeheißen. Für einen allgemeinen Überblick zu diesem Thema vgl. ð. Fouilloux, Il cattolicesimo, in: Storia del cristianesimo, hrsg. von J.-M. Mayeur / Ch. Pietri / A. Vauchez / M. Venard, Bd. XII, Roma, 1997, S. 159 ff. 20 Vgl. Pastorale Konstitution. Gaudium et spes. Über die Kirche in der Welt, Nr. 10 – »Die tieferen Fragen der Menschheit« in: Conciliorum oecumentorum decreta, Dokumente des II. Vatikanums, Dez. 1965.
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nigsweg des Respekts vor der historischen Wahrheit wurde in aller Stille wieder verlassen; auf der Strecke blieben, wie schon seit je, Toleranz und ein respektvoller Umgang mit der Wechselwirkung zwischen der beiden Humanismen, welche die abendländische Geschichte und Identität tief geprägt haben. Bei dieser Weichenstellung hat die Prädominanz der philosophisch-theologischen Kultur der deutschen Katholiken im Gesichtskreis der vatikanischen Hierarchie in den vergangenen Jahrzehnten eine sicherlich nicht untergeordnete Rolle gespielt. Als Beispiel eines solch starken und eindrucksvollen kulturellen Einflusses, nicht zuletzt auf Benedikt XVI., mögen die Schriften des Denkers Romano Guardini gelten, der 1885 in Verona geboren wurde, jedoch seit 1923 den Lehrstuhl für katholische Theologie an der Universität München innehatte und dort bis zu seinem Todesjahr 1968 lehrte. In seinem bekannten, 1950 erschienenen Essay Das Ende der Neuzeit proklamierte Guardini nicht nur das Ende der Moderne, und zwar mit solider Argumentation der philosophischen Entstehungsgeschichte dieser Modernität, deren Werte im Gegensatz zu denen der christlichen Offenbarung stünden, sondern er sah darüber hinaus in der entstehenden postmodernen Epoche geradezu prophetisch einen sich unerwartet öffnenden Raum und eine herausragende Gelegenheit für die Rückkehr Gottes in die zukünftige Geschichte der Menschheit. Laut Guardini war das Experiment der Moderne bereits endgültig gescheitert. Die Illusionen und hochfliegenden Hoffnungen, sowie der Aberglaube eines grenzenlosen Fortschritts, das Vertrauen des Bürgertums auf die Autonomie des Individuum und auf dessen Emanzipationsfähigkeit aus eigenen Kräften, ohne Gottes Hilfe, hätten die Schrecken der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts herbeigeführt, den Holocaust, die grauenvollen Zukunftsaussichten einer außer Kontrolle geratenen Techno-Wissenschaft. Das Ergebnis sei nun einzig eine »nicht-natürliche« Natur und ein »nicht-humaner« Mensch: »Diese beiden Phänomene, des nicht-humanen Menschen und der nicht-natürlichen Natur, bilden einen Grundzug, auf dem das Kommende aufbauen wird.«21 Machttrunken und doch entsetzt von den Ausmaßen seiner eigenen Machtfülle habe der moderne Mensch, selbst zum bewusstlosen Opfer einer unkontrollierten und unbegrenzten Freiheit geworden, die Menschheit an die Schwelle des Abgrunds gebracht. »Mit genauestem Recht kann man sagen,« schreibt Guardini prophetisch, »dass von jetzt an ein neuer Abschnitt der Geschichte beginnt. Von jetzt an und für immer wird der Mensch am Rande einer sein
21 R. Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung (Werkbund-Verlag, Würzburg, 1950/51), St. Benno Verlag, Leipzig (DDR), 1956, »Die Auflösung des neuzeitlichen Weltbildes und das Kommende«, S. 86.
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ganzes Dasein betreffenden, immer stärker anwachsenden Gefahr leben.«22 Angesichts der existenziellen Urängste, die durch die primitive, ungebändigte und entfesselte Macht der Moderne hervorgerufen worden seien, angesichts der Wiederkehr des nackten Grauens vor dem Spuk des Abgrunds, könne die Menschheit sich nur die Rückkehr zum religiösen Gefühl, zu einer neu zu konstruierenden Religiosität retten. In dieser neuen, noch vollkommen offenen Epoche, habe die Kirche die vornehmliche Aufgabe, für die Errettung der Menschen zu arbeiten. Ihr sei der Schutz der menschlichen Person anvertraut, deren Hinführung zu Gott durch das Wort der Offenbarung, die einerseits als »tiefste Wurzel der Wahrheit«, die Bindung zu Gott garantiere, und andrerseits den Sinn des geschichtlichen Seins des Menschen begründe. Die Kirche müsse voller Mut in die Gesellschaft zurückzukehren und mit »Verantwortung, Ernst und Tapferkeit« einige »Kulminationspunkte im Dasein wie Geburt, Eheschließung und Tod« wieder heiligen und damit heilend und heilsam den Sinn des menschlichen Lebens neu definieren. Damit solle auch verhindert werden, dass Biologie und Politik, die zwei Erzfeinde der Kirche, das alleinige weltliche Deutungsmonopol besäßen. Guardini war sich der Schwierigkeiten völlig bewusst, die seiner Ankündigung von einem Aufbruch in eine neue Geschichtsepoche für das Volk Gottes mit sich bringen würde, und er kannte auch genauestens die eschatologische Bedeutung dieser Ankündigung: »Die Einsamkeit im Glauben wird furchtbar sein […] Niemand hat das Recht zu sagen, das Ende komme, wenn Christus selbst erklärt hat, die Dinge des Endes wisse der Vater allein […]. Wird also hier von einer Nähe des Endes gesprochen, dann ist das nicht zeithaft, sondern wesensmäßig gemeint: dass unsere Existenz in die Nähe der absoluten Entscheidung und ihrer Konsequenzen gelangt; der höchsten Möglichkeiten wie der äußersten Gefahren.«23 Dieses Gedankengut geisterte unterschwellig durch die Nachkonzilszeit und beeinflusste das Nachdenken von katholischen Intellektuellen, Bischöfen, Kardinälen und Päpsten, als es um die Auslegung der »Neuorientierung« ging, welche das Zweite Vatikanum anbot. So lässt sich zum Beispiel die fundamentale Abneigung von Papst Johannes Paul II. gegen die Moderne darauf zurückführen.24 Die dreitägigen Gespräche von Castel Gandolfo, der Sommerresidenz des Papstes, die im August 1996 in Anwesenheit des Papstes und unter Teilnahme namhafter Gelehrter wie Paul Ricoeur, Reinhart Koselleck, Hans Maier, Stanley Rosen und anderen stattfanden, bezeichnen zweifellos den Beginn eines vollkommen neu definierten Verhältnisses zwischen Aufklärung und Christentum. Die Drucklegung dieser Gespräche, die auf den ausdrücklichen Wunsch des 22 Ibidem, S. 102. 23 Ibidem, S. 124 – 125. 24 Vgl. V. Ferrone, Chiesa cattolica e modernit, a. a. O., S. 122 f.
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Papstes einberufen worden waren, erhielt den bedeutungsschweren Titel Aufklärung heute25, wobei »heute« die Zeit nach 1989 meint, die Zeitenwende nach der endgültigen Niederlage des Kommunismus, den etwas vorgezogenen Beginn des dritten Jahrtausends als neuer Geschichtsepoche. Der eigentliche Zweck der Gespräche war die Definition der Aufklärung als letzte zu überwindende Hürde, die es zu beseitigen gelte, um die Säkularisation, die mittlerweile unheilvolle und dramatische Züge angenommen habe, rückgängig zu machen. Darin lässt sich jedoch noch ein Zögern erkennen, auf der einen Seite ein widerstrebendes und zähneknirschendes Eingeständnis, dass nicht nur Übles aus der Epoche der Aufklärung hervorgegangen sei; zu den geschichtlich nachgewiesenen Errungenschaften zählten etwa die Idee der Freiheit, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts verbreitet habe, sowie der Begriff der Menschenrechte, der sich aus den Bereichen von Philosophie, Rechtswissenschaft, Ethik und Politik herausentwickelt habe. Auf der anderen Seite steht nach wie vor der furchtbare Vorwurf aus der postmodernen Denkmatrix, die Abkehr von Gott habe den totalitären Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts sowie dem Herrschaftsprojekt einer unmenschlichen Techno-Wissenschaft den Weg geebnet, und zwar im Namen einer unbegrenzten individuellen Freiheit, die unvermeidlich in einen zügellosen und menschenverachtenden Positivismus ausarten müsse. Im scharfsinnigen Beitrag von Hans Maier zum Beispiel, geht die Anerkennung der Errungenschaften der Aufklärung einher mit deren Forderung nach einer »katholischen Aufklärung«, einem »christlichen sapere aude!«26 Der Geist eines solchen Ansatzes habe bereits seit dem 18. Jahrhundert katholische Kirche und Aufklärer Seite an Seite an dem gemeinsamen Projekt arbeiten lassen, Lessings Traum einer religiös versöhnten Menschheit zu verwirklichen. Die Gespräche gipfelten im Vorschlag, das authentischste Erbe der aufklärerischen Humanismus zu sammeln, um für die Verteidigung dessen höchster Werte auch das Gedankengut der Religion in Stellung zu bringen, damit die Herausforderungen des dritten Jahrtausends gemeistert werden könnten. Nach Nietzsche, meinte dazu ein weiterer Teilnehmer an den Gesprächen, Robert Spaemann, sei die Situation allerdings so verzweifelt, dass nur die Religion das Erbe der Aufklärung verteidigen könne, denn das religiöse Denken begreife das aufklärerische Tun besser als die Aufklärung selber.27 In seiner abschließenden Schluss25 Vgl. Aufklärung heute. Castel Gandolfo-Gespräche 1996, hrsg. von K. Michalski, Klett-Cotta, Stuttgart, 1997. 26 Hans Maier, Die Freiheitsidee der Aufklärung und die katholische Tradition, in Aufklärung heute. Castel Gandolfo-Gespräche 1996, a. a. O., S. 75 – 107. Genau schreibt Maier : »Es gibt nicht nur ein kantisches, es gibt auch ein christliches sapere aude! Es gibt auch – durch die Mystik bezeugt – einen christlichen Drang zur Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis.« (Ibidem, S. 93). 27 Robert Spaemann, »Der innere Widerspruch der Aufklärung«, Diskussionsbemerkung, in
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folgerung erklärte Papst Johannes Paul II. die religiöse Matrix der Lichtmetaphorik in Hinblick auf die Aufklärung: er verfolge die Strategie der Anverwandlung des aufklärerischen Erbes gemäß des traditionellen augustinischen Schemas der Assimilation und Überwindung der klassischen Antike seitens des Christentums, wie es der heilige Augustinus in seiner Stadt Gottes vorgezeichnet habe. Damit erhielt das Projekt einer »katholischen Aufklärung« unbestreitbar das höchste Siegel.28 Viele dieser Gedanken waren keineswegs neu und zirkulierten bereits eine geraume Zeit lang seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Unter den kirchlichen Intellektuellen, die während und nach dem Konzil über das komplexe Verhältnis zwischen Christentum und aufklärerischer Kultur nachgedacht haben, ragt sicherlich das Format von Papst Benedikt XVI. heraus. Er hat dieses Problem zu einem erstrangigen theologischen und kirchenpolitischen Thema gemacht. Die Christianisierung der Aufklärung taucht immer wieder in vielen seiner Schriften als möglich Lösung des philosophischen Problems der Dialektik auf, denn »im Christentum ist Aufklärung Religion geworden«, um mit den Worten Ratzingers zu reden. Die Kirche, so präzisierte er mehrmals, könne den Rückfall der Aufklärung in totalitäre Systeme verhindern, denn sie sei in der Lage, die verhängnisvolle Dialektik der Aufklärung, die zu solchen Auswüchsen führe, außer Kraft zu setzen, und zwar durch den steten Rückgriff auf die ursprünglich emanzipatorische Botschaft, die vom Logos selbst ausginge. Die christliche Theologie sei eo ipso, sofern sie korrekt ausgelegt sei, eine aufklärerische Kraft, eine Idee, die der Befreiung des Menschen verpflichtet sei.29 Und auf eben diese Aufklärung heute. Castel Gandolfo-Gespräche 1996, a. a. O., S. 231 – 236. Genau sagt Spaemann: »Nach Nietzsche ist die Situation deshalb so, dass nur noch die Religion die Aufklärung gegen ihre Selbstzerstörung verteidigen kann, weil sie die Aufklärung besser versteht als diese sich selbst versteht.« (Ibidem, S. 232). 28 In seinem Abschiedswort an die Teilnehmer des Kolloquiums, mit dem Titel »Ein neuer Blick auf das Phänomen der Aufklärung«, sagt Johannes Paul II. klar : »Der Begriff der Aufklärung artikuliert sich in allen Sprachen als eine Lichtmethapher […] Unter Aufklärung kann man daher das Wirken des Lichts und der Kraft, die vom Heiligen Geist ausgehen, im Menschen verstehen. Die Kirche entstand aus der Kraft der Aufklärung oder Erleuchtung, die sichtbar wurde, als der Heilige Geist ihr am Tage Quinquagesima zuteil wurde.« (Ibidem, S. 253). 29 Vgl. J. Ratzinger, Kirche, Ökumene und Politik. Neue Versuche sur Ekklesiologie (Robert Spaemann zugeeignet), Johannes-Verlag, Einsiedeln, 1987, S. 154. Auf eine Frage zum Konflikt zwischen Kirche und Aufklärung, die dem damaligen Kardinal Ratzinger von der römischen Tageszeitung »La Repubblica« am 12. 08. 1996 gestellt worden war, antwortete der Kardinal und spätere Papst mit dem ironischen Hinweis auf eine »christliche Aufklärung«: natürlich seien die beiden Institutionen der Kirche und des aufgeklärten Staates aneinandergeraten. Doch eins sei die Epoche der Aufklärung, und ein anderes sei das Gedankengut der Aufklärung. Das Thema einer »katholischen« Aufklärung ist tatsächlich lange unterschätzt worden. Bereits seit dem Kongress über vergleichende Kirchengeschichte, der 1978 in Warschau stattfand und wo man nach Wegen suchte, die vom Zweiten Vatikanum ausgelöste Historisierung in den Griff zu bekommen, beschäftigen sich katholische Intellektuelle und Historiker mit dem Problem der überfälligen Auseinandersetzung mit der Mo-
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gemeinsame rationalistische Grundlage des johanneischen Logosbegriffs der aufklärerischen Kultur und des Christentums setzt der Theologe Ratzinger seine ganze Hoffnung auf eine neue heilige Allianz zwischen Vernunft und Religion, mit dem Ziel, die Menschheit zu retten. In aller Deutlichkeit lässt sich das an Texten wie an der vorbereiteten Vorlesung anlässlich einer Begegnung mit den Professoren der Universität »La Sapienza« in Rom im Januar 2008 ablesen30. Ratzinger beruft sich darin auf die gemeinsamen Wurzeln der Wahrheitssuche sowohl von christlicher wie von aufklärerischer Prägung und erinnert an die Versuche sowohl von Seiten christlicher Theologen wie auch von Philosophen der europäischen Universitäten, die sich ihrem Bestehen um eine rationalistische Überwindung religiöser Mythen und Mysterien bemüht hätten. Die Vorlesung endet mit dem »Vorschlag der Erarbeitung« eines »neuen Humanismus für das dritte Jahrtausend« zum Frommen der Menschheit. Ratzinger kommt immer wieder auf dieses Thema zurück, mitunter sogar mit unbedachten und ungeschickten Äußerungen über den Islam, der im Gegensatz zum Christentum historisch und von seiner Genese her unfähig sei, sich im Rahmen einer theologischen Diskussion mit rationalistischen Argumenten auseinanderzusetzen. Dennoch, was den Dialog zwischen den Erben der aufklärerischen Tradition und der katholischen Welt erschwert, ist das beständige Schwanken von Papst Benedikt XVI. zwischen der Anerkennung der historischen Leistung der Aufklärung einerseits und deren Verurteilung andererseits, denn hier liege nach wie vor der gefährliche »Hund begraben«, der das Unheil des letzten Jahrhunderts verschuldet habe. Auf der einen Seite steht das Zugeständnis, die Aufklärung derne. Dabei geriet der Zeitraum zwischen dem späten 17. Jahrhundert und der Restaurationszeit zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit, als es in ganz Europa mehrere Ansätze gab, eine christliche Aufklärung zu entwickeln. Vgl. dazu Cattolicesimo e Lumi nel Settecento italiano, hrsg. von Mario Rosa, Herder editrice e libreria, Roma, 1981, wo der Herausgeber die historiographischen Eckpunkte dieses bisher kaum beachteten Phänomens akribisch festlegt. Immer der Feder von M. Rosa sind mehrere Abhandlungen zum Thema zu verdanken, darunter id., Settecento religioso. Politica della ragione e religione del cuore, Marsilio (Saggi), Venezia, 1999. Von Bahn brechender Bedeutung sind die Arbeiten von B. Plongeron, Les ¦glises au d¦fi de la modernit¦ la charniÀre des 18e et 19e siÀcles, in: Deux mille ans d’histoire de l’Êglise, monographische Ausgabe der »Revue d’histoire eccl¦siastiques«, XCV/2000, S. 613 – 633. Über die Einführung dieser neuen historiographischen Kategorisierung hege ich persönlich allerdings einige Zweifel, da sie, wie ich fürchte, eher Verwirrung anstiftet als Klarheit in ein überaus schwieriges Themenfeld zu bringen. Doch die Debatte steht, wie bereits gesagt, erst am Anfang. Ein erster, erhellender Beitrag zu den Ursprüngen der »katholischen Aufklärung« im späten 18. Jahrhundert, die eindeutig im Rahmen jesuitischer Apologetik zu suchen ist, findet sich im Buch von A. Trampus, I gesuiti e l’Illuminismo. Politica e religione in Austria e nell’Europa centrale (1773 – 1798), Olschki, Firenze, 2000, S. 145 ff. 30 Die Begegnung wurde nach heftigen Protesten von Seiten freigeistiger Kräfte, sowohl unter den Professoren wie auch der Studenten der Universität, die mit Nachdruck auf das Gebot von Trennung von Kirche und Staat hinwiesen, vorsichtshalber, auch auf Wunsch des Papstes hin, abgesagt (Anm. d.Ü.).
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habe den Weg für den modernen Freigeist bereitet, der auf der institutionellen Trennung von Kirche und Staat gründe, was ein Positivum sei. Dem »Laizismus« anzuhängen, also wörtlich ein »Laie« zu sein, im Gegensatz zu den (ein)geweihten Kirchenleuten, und also nicht in kirchlichen Kategorien zu denken, bedeute heute noch, im weitesten Sinn, der geistigen Strömung der Aufklärung anzugehören, wie Ratzinger noch vor kurzem präzisierte31. Auf der anderen Seite fehlen jedoch nie die beharrlichen Verweise auf eine direkte Verantwortung des aufklärerischen Gedankengutes für die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts. In der Enzyklika Spe Salvi aus dem Jahr 2007, die übrigens klar erkennbare Anleihen aus dem Werk von Guardini aufweist, ruft Ratzinger das Ende der Moderne aus, das Ende der Illusionen, welche die Idee des Fortschritts mit sich gebracht habe. Er liquidiert darin kurzerhand die aufklärerische Hoffnung, den Menschen durch den Menschen zu emanzipieren, und erklärt die Prophezeiungen von Marx für gescheitert, die kommunistischen Ideen hätten sich als Irrweg herausgestellt. Sogar Kant wird bemüht, allerdings nicht ganz zu Recht, wenn er als Urheber erster ernsthafter Zweifel angesichts des katastrophalen und apokalyptischen Potentials menschlichen Handelns am Ende aller Tage bezeichnet wird.32 31 Vgl. M. Pera / J. Ratzinger, Senza radici. Europa, Relativismo, Cristianesimo, Islam, Mondadori (collana Frecce), Milano, 2004. Der Begriff des »Laizismus«, so Ratzinger auf S. 105, sei im Rahmen der Aufklärung entstanden, geradezu als neues »Bekenntnis« eines von der Kirche getrennten Laienstandes, samt der strikten Forderung nach Gedankenfreiheit und nach Freiheit von jeglicher religiöser Bevormundung. 32 Ratzinger bezieht sich auf Kants Schrift Das Ende aller Dinge aus dem Jahr 1794, in der Kant, laut Ratzinger, erwäge, das (verkehrte) Ende aller Dinge könne sich unter dem moralischen Aspekt vollziehen. Allerdings muss der Passus im gesamten Umfeld des kantischen Textes gesehen werden. Genau schreibt Kant »Da wir es hier bloß mit Ideen zu thun haben (oder damit spielen), die die Vernunft sich selbst schafft«, geht es also letztlich nur darum, »wie wir sie [die Ideen] zum Behuf der moralischen, auf den Endzweck aller Dinge gerichteten Grundsätze zu denken haben (wodurch sie, die sonst gänzlich leer wären, objective, praktische Realität bekommen): – so haben wir ein freies Feld vor uns, dieses Product unsrer eignen Vernunft, den allgemeinen Begriff von einem Ende aller Dinge nach dem Verhältnis, das er zu unserm Erkenntnisvermögen hat, einzutheilen und die unter ihm stehenden zu classifiziren. Diesem nach wird das Ganze 1) in das natürliche Ende aller Dinge nach der Ordnung moralischer Zwecke göttlicher Weisheit, welches wir also (in praktischer Absicht) wohl verstehen können, 2) in das mystische (übernatürliche) Ende derselben in der Ordnung der wirkenden Ursachen, von welchen wir nichts verstehen, 3) in das widernatürliche (verkehrte) Ende aller Dinge, welches von uns selbst dadurch, dass wir den Endzweck missverstehen, herbeigeführt wird ….« Kant, Das Ende aller Dinge, in: Kants Werke, AkademieTextausgabe, a. a. O., Bd. 8, »Abhandlungen nach 1781«, S. 332 f. Dieses ständige Schwanken der offiziellen Kreise der Kirche in der Bewertung der Aufklärung schlägt sich auch in einem Leitartikel zur Enzyklika Spe Salvi nieder, die im »Osservatore Romano«, dem Sprachrohr der Vatikan, am 13.–14. 11. 2007 erschien. Darin definiert der Autor, Mario Pendinelli, den Neo-Illuminismus als »überwundene Subkultur«. Bereits in der Vergangenheit, schreibt Pendinelli weiter, habe die Aufklärung sich einem rachsüchtigen und übermütigen Atheismus verschrieben, in dessen Namen das Antlitz Europas neu gestaltet hätte werden sollen.
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Es drängt sich der Verdacht auf, dass die programmatische Entscheidung der Kirche, Geschichte, Theologie und Philosophie zu vermischen, unweigerlich dazu führen wird, die Grenzen verschwimmen zu lassen und die Diskussion im öffentlichen Raum immer schwieriger zu gestalten. Da taucht also wieder das Denkmuster auf, das wir als das »Paradigma des Kentauren« bezeichnet haben, die Zwitternatur der Aufklärung zwischen philosphia und historia. Allerdings kann die theologische Manipulation des Mischwesens nicht zu weit getrieben werden, denn an historischen Daten und Fakten kann nicht allzu phantasievoll herumgedeutet werden, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren oder der Banalität anheim zu fallen. Der Theologe Ratzinger geht ein ziemliches Risiko ein, wenn er von der Existenz dreier aufklärerischer Zeitalter spricht, die im Laufe der Jahrhunderte aufeinander gefolgt seien: das erste sei in der Antike anzusetzen, als das Christentum seine Innovationskraft entfaltet und den Sieg über das überlebte Heidentum davongetragen habe; eine zweite Phase habe sich im 18. Jahrhundert entwickelt, und die Errungenschaften dieser Zeitepoche in Sachen Menschenrechten und Freiheitsbestrebungen können heutzutage wahrlich nicht mehr geleugnet werden, doch habe sich diese Aufklärung im klassischen Sinn jedoch auch des Ausschlusses von Gott aus dem öffentlichen Leben schuldig gemacht, mit allen bekannten Folgen; und nun endlich würden wir gerade die dritte Phase erleben, das aktuelle, entmenschlichte und gottlose Weltbild der so genannten zweiten Aufklärung, die aus der von den Postmodernen so treffend beschriebenen Dialektik der Aufklärung hervorgegangen sei, und aus deren katastrophalen Kurzschlüssen nur die Kirche hinausführen könne33. All diese Überlegungen dienen gewiss nicht der Erhellung der Debatte. Allenfalls führt diese anspruchsvolle philosophisch-theologische Vision von Benedikt XVI., die sich geradezu als heutige katholische Variante des Kentauren einordnen lässt, Stück für Stück zum systematischen Abbau jener Werte, die von der aufklärerische Kultur des 18. Jahrhunderts hervorgebracht worden sind. Wenn das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat außer Kraft gesetzt wird, und zwar durch die subtile Verschiebung auf die Gebiete von Religion und Politik, ganz im Geist des Jesuiten Bellarmin und seiner Theorie der potestas indirecta, dann kann Gott getrost erneut ins Zentrum des öffentlichen Diskurses Das Experiment habe nichts als Trümmer und Tränen gezeitigt, denn die Verdunklung des christlichen Humanismus durch aufklärerisches Gedankengut musste zwangsläufig in totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus oder dem Stalinismus enden. Die heutige Neuauflage der Aufklärung, so Pendinelli, reite den Tiger des nicht minder gefährlichen Nihilismus, doch es sei vorauszusehen, dass auch diese letzte Welle aufklärerischen Denkens ihren eigenen Folgen zum Opfer fallen werde. 33 Vgl. J. Ratzinger, Un secondo Illuminismo, in: »Il Regno«, Documenti, XIX, 2001, S. 650 ff. Scharfsinnige Analysen und Kommentare zu Papst Benedikts Ansichten über die Aufklärung liefert E. Jüngel, J. Ratzinger : Illuminismo alla luce del Vangelo, in: »Il Regno«, X, Nr. 50 (2005), S. 301 ff.
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gerückt werden.34 Der nächste Schritt wäre dann die Aufwertung der Rolle des Papstes und seines ganzen kirchlichen Hofstaates als höchste moralische Instanz, um die Kirche – ausgerechnet – schließlich als Garantiemacht der demokratischen und freiheitlichen westlichen Identität anzuerkennen. Ein solches Konstrukt ist wohl eher als Flucht nach vorne einzustufen, denn als ernsthaftes Gesprächsangebot. Es ist ziemlich sicher als Reaktion auf die Krise der katholischen Glaubenspraxis zu sehen: der katholischen Kirche laufen die Gläubigen in Scharen davon und es findet sich kaum noch Nachwuchs für die Klöster und die Priesterseminare. Von dieser Tatsache können auch die Besuchermassen, die sich täglich über Rom und den Petersplatz ergießen, nicht mehr ablenken. Abgesehen von der intellektuellen Eleganz des Gedankengebäudes, das die Überlegungen von Papst Benedikt XVI. auszeichnet, birgt sowohl dieses Konzept, als auch die verschiedenen Entwürfe der postmodernen Philosophen in sich die Gefahr, die Ebenen von Geschichte, Theologie und Philosophie ebenso unzulässig wie unangemessen durcheinander zu bringen, worin sich letztlich nur ein mangelnder Respekt vor der geschichtlichen Wahrheit ausdrückt. Tatsächlich herrscht in den modernen Varianten des Kentauren, also des Zwitterwesens zwischen Philosophie und Geschichtswissenschaft, unangefochten das teleologische Prinzip vor: man geht vom Holocaust aus, um rückwirkend die politischen Ideen Rousseaus zu erklären; die Entartung der Kulturindustrie wird angeprangert, um die Entstehung der öffentlichen Meinung im 18. Jahrhundert zu durchleuchten und nicht umgekehrt; der kämpferische Voltaire scheint gegen seinen Willen Hitler und Stalin den Weg geebnet zu haben, denn er habe nicht aufgehört, auf die menschliche Freiheit und Verantwortlichkeit zu pochen, während er einen fernen Gott mit gänzlich anderen Dingen beschäftigt sah. Anstatt das Erbe der Aufklärung und ihre vielfältigen Metamorphosen in den vergangenen zwei Jahrhunderten in gezielten Fallstudien unter verschiedenen Blickwinkeln gewissenhaft aufzuarbeiten, wurde vorrangig der Weg eines abstrakten und leicht instrumentalisierbaren Mischmaschs aus Diskursen und Disziplinen eingeschlagen, was die allgemeine Verwirrung nur noch weiter erhöht. Dabei müsste uns eigentlich gerade die Unterscheidung zwischen den jeweiligen Umfeldern und zwischen den spezifischen Zeitfenstern am Herzen liegen, um die vielen offenen Fragen besser in den Griff zu bekommen. Vor allem muss jedoch genau zwischen dem philosophischen und dem geschichtswissenschaftlichen Problem der Aufklärung unterschieden werden, wie wir es anlässlich dieser zwei Vorlesungen am CollÀge de France versucht haben. Dabei gilt es sowohl unsere Geschichtskenntnisse zu überprüfen, als auch über die überlieferten Werte aus dem 18. Jahrhundert zu meditieren, denn sie haben wo34 Vgl. dazu V. Ferrone, La »sana laicit« della Chiesa bellarminiana di Benedetto XVI tra »potestas indirecta« e »parresia«, in: »Passato e Presente«, XXVI (2008), S. 21 – 40.
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möglich kaum etwas an Aktualität eingebüßt, trotz aller enttäuschten Illusionen, trotz der unabweisbaren Bürde von tragischen Irrwegen und degenerierten Auswirkungen, denen uns die Moderne ausgesetzt hat. Das könnte die einzige Chance sein, den erpresserischen Verlockungen der falschen Propheten entgegenzutreten, die in dem kulturellen Erbe der Aufklärung bloß ein anachronistisches Relikt sehen, das durch neue Denkrichtungen ersetzt werden müsse. Angeboten wird dabei arglistig nur die Wahl zwischen einem allgemeinem Skeptizismus oder einem strengen moralischen Autoritarismus, zwischen Gott und dem Nichts.
Zweite Vorlesung – Die Aufklärung der Historiker: der revolutionäre Bruch im System des Ancien Régime
I. Für eine Apologie der historischen Erkenntnis: jenseits der Doppelnatur des Kentauren
Eigentlich dürfte man einen Historiker nie fragen, was die Aufklärung ist: man sollte eher fragen, was die Aufklärung gewesen ist, was wir von ihr wissen, vor allem in Hinblick auf das Europa des Ancien R¦gime. Als gelernter Historiker muss man sich auch vor der zwar reizvollen, in diesem Fall jedoch tödlichen Versuchung in Acht nehmen, an die Aufklärung wie an eine Art philosophia perennis zu denken, weil man dann Gefahr laufen könnte, nicht mehr mit dem nötigen intellektuellen Fingerspitzengefühl und der gebotenen philologischen Sorgfalt zwischen der eigentlichen Aufklärung im engeren Sinn, also der spezifischen historischen Epoche im 18. Jahrhundert, und dem Erbe der Aufklärung, also ihrer Rezeptionsgeschichte in den folgenden Jahrhunderten bis zum heutigen Tag zu unterscheiden1. Trotzdem ist eine derartiges Verwirrspiel heute leider allgemein verbreitet, angesichts der vorherrschenden Unart, auf der politische Ebene unterschiedliche Diskurse und Ideen, historische und philosophische Fragestellungen, Ereignisse und Epochen von völlig unvereinbarer Auswirkungsbreite beliebig durcheinander zu mischen, um die öffentliche Meinung ständig neu aufzumischen. Man tut so, als ob man vergessen hätte, dass die Historiker heute andere Fragen zu beantworten haben: es sind nicht mehr die Zeiten eines Immanuel Kant, der nach der Natur der Aufklärung fragte und sich als Philosoph Gedanken über seine eigene Aktualität machte; es sind auch nicht mehr die Zeiten von Hegel, dem daran lag, der Moderne ein tragfähiges Fundament zu geben, und es sind auch nicht mehr die Zeiten von Marx, der in der Geschichte unbedingt einen Sinn philosophischer und ideologischer Kontinuität entdecken wollte, auf dem er sein politisches Projekt der Befreiung des Menschen durch den Menschen hätte bauen können. Es ist allerdings nicht zu leugnen, dass in der Vergangenheit genau jene 1 Einen ganz anderen Ansatz vertritt das Buch What is Enlightenment? Eighteenth-Century Answers and Twentieth-Century Questions, hrsg. von J. Schmidt, University of California Press, Berkeley, 1996.
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eigenartige Mischung zwischen geschichtlichem und philosophischem Nachdenken ein faszinierendes Erbe von Wissen und Erkenntnis hervorgebracht hat, allerdings in den schillernden Farben des Kentauren, also jenes Zwitterwesens, das von beiden Diskursen etwas hat und keiner Ebene ganz zugehört. Heute wäre ein solches Vorgehen innerhalb der Geschichtswissenschaft bedenklich: auf jeden Fall muss es vom klaren Bewusstsein getragen werden, welche Wurzeln dieses Denken hat und welche Zielsetzungen einst damit verfolgt wurden. Sonst läuft man Gefahr, missverständlichen Instrumentalisierungen auf den Leim zu gehen, wie zum Beispiel den kühnen historisch-theologischen Gedankengebäuden von Papst Benedikt XVI. im Gefolge der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer, oder man geht gar regelrechten Fehlinterpretationen der Aufklärung ins Netz, die auf epistemologischer Ebene die zukünftige Forschungsarbeit der Historiker kompromittieren könnte. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, soweit wie möglich Klarheit zu schaffen und bescheiden, jedoch mit der nötigen Entschiedenheit, auf die Autonomie und die Eigengesetzlichkeit historischen Erkennens zu pochen, und also über das historisch-philosophische Zwitterwesen des Kentauren hinauszugehen. In der Vergangenheit war die Notwendigkeit, dieses Paradigma zu überdenken, nicht so dringlich wie heute. Das Zwitterwesen, wie es von Hegel in der Phänomenologie des Geistes erdacht worden war, wurde von vielen namhaften Historikern in dessen Sinn und ohne unerfreuliche Nebenwirkungen weiterentwickelt, sondern es entstanden, ganz im Gegenteil, wunderbare neue Ideen. So öffnete sich zum Beispiel ein legitimer und weiterführender Blick auf den griechischen Rationalismus der sophistischen Schule, die gleichsam als eine erste aufklärerische Phase des abendländischen Denkens interpretiert wurde. Große Geister wie Momigliano und Droysen haben fruchtbare Denkanstöße hervorgebracht, als sie zum Beispiel die anti-religiöse Haltung Voltaires im Griechen Xenophanes vorgeprägt fanden und darüber hinaus so viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Hellenismus und der Aufklärung des 18. Jahrhunderts feststellten, dass die historisch spätere Aufklärung geradezu zum Bezugsmodell für die kategoriale Definition des älteren Hellenismus dienen konnte2. 2 Zum ungewöhnlichen Blick des Historikers Momigliano auf die sogenannte »griechische Aufklärung vgl. G. Giarrizzo, Storia sacra, storia profana: la tradizione come unit vissuta, in der Sondernummer für Momigliano der Zeitschrift »Rivista Storica Italiana«, 1988, S. 382. Zum Begriff der »griechischen Aufklärung« oder auch des »Roman Enlightenment« vgl. P. Gay, The Enlightenment: An Interpretation (2. Bd.e, 1966 und 1969), New York, 1996/ 3. Auflage, S. 94 ff. Zu Droysen vgl. Grundriss der Historik (1875 – 1925), Hist.-kritische Ausgabe hrsg. von P. Leyh und H.W. Blanke, Frommann-Holzboog, Stuttgart, 1977; im Vorwort seiner Geschichte des Hellenismus (1833/1843, veränd. Neuauflage 1877, Tübingen, 1952/ 53), bezeichnet Droysen den Hellenismus als »die moderne Zeit des Altertums«.
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Es ist also kaum zu leugnen, dass viele glänzende Ideen der Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert gerade hinsichtlich einer Bewertung und historischen Einordnung der Aufklärung vom Paradigma des Kentauren ihre Inspiration erhielten3. Einige wenige Beispiele mögen genügen, um diese Behauptung zu stützen. Das bekannte Werk von Carl Lotus Becker, The Heavenly City of the Eighteenth Century Philosophers aus dem Jahr 1932, das grundlegende Werk der amerikanischen Geschichtswissenschaft zum Thema Aufklärung, mischte systematisch geschichtliche und philosophische Aspekte, und stellte, unter Berufung auf Dilthey, die These einer grundsätzlichen Kontinuität der Weltanschauung zwischen dem Mittelalter und der Aufklärung auf: das Mittelalter habe im Grunde den Versuch gewagt, die Forderung des heiligen Augustinus nach einer civitas Dei, der »Stadt Gottes« zu säkularisieren, und zwar auf der Grundlage eines Rationalismus, der das Denken Voltaires in den Ausführungen des Thomas von Aquin bereits vorweg nahm. Zur philosophischen Kritik der Aufklärung Hegelscher Prägung, samt deren Radikalisierung in der Kritik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer, gehören von Rechts wegen bedeutende Werke der Historiographie wie zum Beispiel das Buch von Lester G. Crocker, An Age of Crisis. Man and World in Eighteenth Century French Thought (1959)4 und die kühne, nicht unumstrittene Studie von Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959)5, die sofort nach dem Erscheinen lebhafte Auseinandersetzungen nach sich gezogen hatte und heute noch diskutiert wird. Crocker, als profunder Kenner der französischen Literatur, wollte auf geschichtlicher Ebene die Verantwortung der Aufklärung in Bezug auf die moralische Krise der modernen Welt nachweisen, das heißt, er sah im Nihilismus und im Totalitarismus eine unvermeidliche Folge des philosophischen Projekts der Aufklärer, den Menschen durch den Menschen zu befreien, ohne diese Idee philosophisch im Gottesbegriff abzusichern. Koselleck, als ausgewiesener Experte sozial- und gesellschaftsgeschichtlicher Fragestellungen, bemühte sich hingegen nachzuweisen, dass die Entwicklung des Kritikbegriffs, im Sinn einer Ausübung der Vernunft auf jedem Gebiet durch die europäischen Aufklärer, inbegriffen Literaten und Freimaurer, die Moderne mit ihren dramatischen, heute noch spürbaren politischen und gesellschaftlichen Konflikten ausgelöst habe. Kosellecks Studie setzt die Aufklärung, das heißt die Zeitspanne zwischen den beiden großen Bürgerkriegen (dem noch religiös 3 Die jüngste Studie zum Stand der internationalen Historiographie über die Aufklärung findet sich in Historiographie et usage des lumiÀres, unter der Leitung von G. Ricuperati, Berlin, 2002. 4 Lester G. Crocker, An Age of Crisis. Man and World in Eighteenth Century French Thought, Johns Hopkins Press, Baltimore, 1959. 5 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), Suhrkamp, Frankfurt/M., 1997/8. Auflage.
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geprägten Dreißigjährigen Krieg und der Französischen Revolution) in spannungsreiche Beziehung zur allmählichen Entwicklung des absoluten Staates. Dieser entscheidende Übergang zur modernen Staatsform, die ursprünglich Frieden und Sicherheit durch repressive Mechanismen und eine allgemeine Disziplinierung der Menschenmassen garantieren sollte, hatte zwar sehr wohl das aufklärerische Gedankengut einer Trennung von Moral und Politik, letztendlich also von Kirche und Staat, positiv aufgenommen, benutzte es aber, um den Menschen zum Untertanen zu machen, da er der Ausübung der Kritik jeden privaten Freiraum nahm. Hier nahm das widerspruchsvolle Phänomen von großer historischer Bedeutung für das Abendland seinen Ausgang: Marx bezeichnete es als die Autonomisierung der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat. Die Ausübung der Kritik endete in der Geheimpraktik freimaurischer Zirkel, Moral und Politik drifteten auseinander, die Menschenrechte der Person wurden der Staatsräson des Absolutismus geopfert. Die subtile Waffe der Kritik, die ursprünglich das Recht der Moral über die Politik verteidigen sollte, um die arcana juris, das heißt den Machtwillen der Kirche und der Fürsten zu demaskieren, steigerte sich im Laufe ihrer Entwicklung, so Koselleck, »in Gegenkritik zur Superkritik« und »verdummte [schließlich] zur Hypokrisie. Die Hypokrisie war der Schleier, den die Aufklärung ständig webend vor sich hertrug und den zu zerreißen sie niemals imstande war«.6 Der Keim des Übels steckte dabei ausgerechnet in der perversen Logik kritischen Denkens selbst, das sich mit seinem Bedürfnis nach Transparenz und Rationalität in einem verhängnisvollen Zirkelschluss von moralischer Urteilsfindung und politischer Handlungsunfähigkeit verfangen hatte. Diese moralistische Haltung negierte die Autonomie politischen Denkens, wie es in den dreißiger Jahren von Carl Schmitt, dem universitären Lehrmeister von Koselleck, theoretisiert worden war, und bereitete den Weg für die unaufhaltsame Krise des Abendlandes, da es aus dem Teufelskreis von permanenter Revolution und ideologischem Grabenkrieg, den die aufklärerischen Utopien des späten 18. Jahrhunderts mit der Französischen Revolution ausgelöst hatten, nicht mehr herausfand. Das Paradigma einer Philosophie des Geistes im Hinblick auf die Aufklärung als Gipfelpunkt abendländischer Rationalität hat seltsamerweise auch Forscher beeinflusst, die dem Hegelschen Konstrukt eigentlich fern standen, sondern, im Gegenteil, mit dem Anspruch angetreten waren, die Aufklärung gegen die Angriffe von Restauration und Romantik in Schutz zu nehmen. Das gilt zum Beispiel für das Werk des Begriffsgeschichtlers Peter Gay, The Enlightenment: An Interpretation, das 1966 und 1969 in zwei Bänden erschien, mit dem jeweiligen Untertitel The Rise of Modern Paganism und The Science of Freedom. Peter Gay, in Berlin geboren, und aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die 6 Ibidem, S. 102.
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Vereinigten Staaten emigriert, bekannte schon in der Einleitung zu seinem Buch sein Selbstverständnis als Nachfahre der dialektischen Denkschule, und definierte im »appeal to antiquity« die Formulierung der These, in der »tension with christianity« die Entwicklung der Antithese, und schließlich in ihrem gemeinsamen Wollen zu »pursuit the modernity« die Synthese7. Ein weiterer, und dazu höchst bedeutsamer Fall, den ich im Rahmen meiner Untersuchung des Problems genauer in Augenschein nehmen möchte, stellt die klassische Arbeit von Ernst Cassirer dar, Die Philosophie der Aufklärung aus dem Jahr 1932.8 Die Ansichten Cassirers haben in der Vergangenheit die internationale Forschung über die Aufklärung stark beeinflusst und werden auch heute noch immer wieder herangezogen, obwohl das sicher nach wie vor faszinierende Werk auf ein grundlegendes Missverständnis aufgebaut ist. Cassirers Essay, hinreißend geschrieben und wegen seiner mutigen Unerschrockenheit damals sehr bewundert, ist unter historiographischem Aspekt schon lange überholt9, denn es geht Cassirer keineswegs darum, die Natur und die Eigenart des historischen Phänomens der Aufklärung generell zu klären, sondern einzig darum, den neuartigen philosophischen Ansatz der Aufklärung zu erhellen: Cassirer wollte, anders ausgedrückt, eine moderne Version der sattsam bekannten Doppelnatur des Kentauren liefern, im Geiste Kants und in offener Polemik gegen das Konstrukt Hegels und dessen teils negativer Beurteilung der Aufklärung. Die europäischen Aufklärer seien alles andere gewesen als Vertreter einer abstrakten und sterilen »Philosophie der Reflexion«. Cassirer machte, unter Berufung auf seine früheren philosophiegeschichtlichen Arbeiten wie zum Beispiel Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927)10, den Zweck seiner Abhandlung ausdrücklich klar : »Denn die Bewegung, die hier geschildert werden sollte, bleibt nicht in sich selbst beschlossen, sondern sie weist, nach vorwärts wir nach rückwärts, über sich hinaus. Sie bildet nur einen Teilaspekt und eine Einzelphase in jenem geistigen Gesamtgeschehen, kraft dessen der moderne philosophische Gedanke 7 Vgl. P. Gay, The Entlightenment: An Interpretation, a. a. O., S. 8. Der Autor merkt weiter an, dass er bereits im Jahr 1962 anlässlich eines Seminars an der Columbia University die Idee einer dialektischen Analyse des Phänomens entwickelt habe: »I presentet to it the central argument of these two volumes – the dialectic of the Enlightenment – and had that argument examined, criticized, and strenghtened in two years of stimulating debate.« (Ibidem, S. 13). 8 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, in: Hamburger Ausgabe (Ernst Cassirer Arbeitsstelle, Warburg-Haus Hamburg), Bd. 15, hrsg. von B. Recki, Text und Anm. bearbeitet von C. Rosenkranz, Meiner, Hamburg, 2003. 9 Zu Cassirers Standpunktbestimmung in der heutigen Historiographie vgl. J. Kent Wright, »A Bright Clear Mirror«: Cassirer’s The Philosophy of the Enlightenment, in: What’s Left of Enlightenment? A Postmodern Question, hrsg. von K.M. Baker und P.H.Reill, a. a. O., S. 70 ff. 10 E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, in Hamburger Ausgabe (Ernst Cassirer Arbeitsstelle, Warburg-Haus Hamburg), Bd. 14, hrsg. von B. Recki, Text und Anm. bearbeitet von F. Plaga und C. Rosenkranz, Meiner, Hamburg, 2002.
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die Gewissheit von sich selbst, sein spezifisches Selbstgefühl und sein spezifisches Selbstbewusstsein errungen hat. [….] Sie versucht eine Betrachtungsweise der Philosophiegeschichte, die nicht nur Ergebnisse feststellen und beschreiben, sondern statt dessen die gestaltenden Kräfte sichtbar machen will, die sie, von innen her, geformt haben.« Sowohl der Bezugsrahmen wie auch die Methode der Analyse im Geist philosophiegeschichtlicher Überlegungen führte also geradewegs zum alten Hegelschen Paradigma des Kentauren, zur zwitterhaften Natur der Aufklärung zwischen Geschichte und Philosophie: »Eine solche Betrachtungsweise will in der Entwicklung der philosophischen Doktrinen und Systeme zugleich eine Phänomenologie des philosophischen Geistes zu geben suchen; sie will die Klärung und Vertiefung verfolgen, die dieser Geist, in seiner Arbeit an den reinobjektiven Problemen, von sich selbst, von seinem Wesen und von seiner Bestimmung, von seinem Grundcharakter und seiner Mission gewinnt.«11 Für Cassirer hatte die Aufklärung ohne jeden Zweifel eine absolut neue Form des philosophischen Denkens hervorgebracht, und zwar auf der Grundlage des neuen naturwissenschaftlichen Denkens und der also naturwissenschaftlicher Gesetzlichkeit folgenden Methode einer logischen Durchdringung allen Wissens und jeglicher Erkenntnis. Aus dieser Sicht machte es natürlich wenig Sinn, nach neuen metaphysischen Ansätzen Ausschau zu halten oder eine neue Weltanschauung nach althergebrachten Kriterien zu entwerfen. Auf die Vorwürfe einer gewissen Oberflächlichkeit, eines wahllosen Eklektizismus oder gar einer spekulativen Einfallslosigkeit, die oftmals gegen die Philosophen des 18. Jahrhunderts erhoben wurden, antwortete Cassirer mit dem Hinweis auf die radikale Erneuerung philosophischen Denkens, die von den Aufklärern geleistet worden war. Erst die Aufklärung habe die Philosophie zu einem wirkungsvollen Instrument für die analytische Erfassung der Wirklichkeit in ihrem steten Wandel gemacht, erst die Philosophie der Aufklärung habe den alten esprit de systÀme, das Erbe des 17. Jahrhunderts, hinter sich gelassen, um zu einem dynamischen und effizienten esprit syst¦matique überzugehen. Der springende Punkt in Cassirers Überlegungen, die einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die nachfolgende Debatte zur Aufklärung ausübten, verbirgt sich allerdings im Glaubensbekenntnis, dass der naturwissenschaftlich geprägte Rationalismus von Kant und Newton der entscheidende und bis heute gültige, unerreichte Gipfelpunkt des modernen Rationalismus darstelle. Cassirer stellte also Hegels negatives Urteil über die modernen Naturwissenschaften auf den Kopf: sie hätten keineswegs eine sterile »Philosophie der Reflexion« hervorgebracht, sie seien nicht die Basis, auf deren Grundlage der Mensch sich 11 E. Cassirer, Philosophie der Aufklärung, Hamburger Ausgabe, Bd. 15, a. a. O., zitiert nach der Ausgabe Mohr, Tübingen, 1973, Vorrede, S. VII – VIII.
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selbstverliebt endlos im Spiegel betrachte und allein in der naturwissenschaftlichen Methode den einzigen Referenzrahmen für die Erkenntnis der Wahrheit sehen wolle. »Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts«, erläuterte Cassirer, »knüpft überall an dieses Einzelbeispiel, an das mathematische Paradigma der Newtonschen Physik an; aber sie wendet es sogleich ins Allgemeine. Sie begnügt sich nicht damit, die Analyse als das große intellektuelle Werkzeug der mathematisch-physikalischen Erkenntnis zu verstehen, sondern sie sieht in ihr das notwendige und unentbehrliche Rüstzeug für alles Denken überhaupt. Um die Mitte des Jahrhunderts ist der Sieg der Aufklärung entschieden. So sehr die einzelnen Denker und die einzelnen Schulen in ihren Resultaten auseinandergehen: in dieser erkenntnistheoretischen Prämisse stimmen sie miteinander überein.«12 Abgesehen davon, ob man mit diesen Thesen einverstanden ist oder nicht: sie erwiesen sich, wie wir noch sehen werden, auf jeden Fall als allzu schematisch. Vor allem greifen sie zu kurz, wenn man die komplexen geistigen Strömungen der europäischen Aufklärung und ihre Auswirkung auf die konkreten geschichtlichen Ereignisse betrachtet. Trotzdem beherrschte Cassirers Werk jahrzehntelang die historiographische Szene und rief erbitterte Fehden innerhalb der internationalen Geschichtswissenschaft hervor. In Italien distanzierten sich Persönlichkeiten wie Furio Diaz und Franco Venturi deutlich von Cassirers Thesen und wiesen darauf hin, dass jeder konkrete Bezug auf Probleme wie etwa die Entwicklung neuer Wirtschaftsformen, die Erarbeitung gesellschaftlicher Reformen sowie die Entstehung neuer politischer Herrschaftsmechanismen fehle. Ohne die Einbettung der Debatte in diesen konkreten Rahmen sei jedoch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem hochkomplexen historischen Phänomen der Aufklärung kaum möglich. Anlässlich der Trevelyan Lectures, die Venturi im Jahr 1969 in Cambridge hielt, bedauerte der italienische Historiker ausdrücklich die Tatsache, dass die europäische Aufklärung, von Kant bis Cassirer, einzig von der philosophischen Sichtweise der deutschen Aufklärung geprägt worden sei, wobei man Cassirer immerhin noch zugute halten müsse, dass er, im Unterschied zu vielen anderen Befürwortern des Hegelschen Kentauren, des Zwitterlings zwischen Geschichte und Philosophie, wenigstens aufrichtig gewesen sei und sein Buch offen und ehrlich als »Philosophie der Aufklärung« kenntlich gemacht habe.13 Es ist also eigentlich höchste Zeit, sich mit
12 Ibidem, Erstes Kapitel. Die Denkformen des Zeitalters der Aufklärung, S. 14. 13 Vgl. F. Venturi, Utopia e riforma nell’Illuminismo, Einaudi, Torino, 1970/2. Auflage, S. 9. Gegen die verschiedenen Versuche, die geistigen Grundlagen der Aufklärung allein in der deutschen Debatte, »von Cassirer bis Dilthey und Meinecke« zu suchen, sprach sich auch F. Diaz aus, mit einem kleinen Seitenhieb auf R. Koselleck, der unter dem Deckmantel einer modernisierten Politikwissenschaft auch zu dieser Strömung gehöre. Vgl. F. Diaz, Discorsi
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Venturis Vorwurf auseinanderzusetzen und sich zu fragen, warum denn die Geschichtswissenschaftler, damals wie heute, immer noch davor zurückschrecken, die tieferen Ursachen des Hegelschen Paradigmas unter die Lupe zu nehmen. Venturis Vorwurf zielte genau genommen gegen die problematischen Ergebnisse des deutschen Historismus, dessen empirische Wurzeln in den Werken von Ranke, Droysen und Meinecke zu suchen waren, gegen den »absoluten« Historismus, dessen logische und teleologische Gedankenführung im Geist Hegels verankert war. Dieser »absolute Historismus« scheint sogar noch in den Alterswerken von Benedetto Croce durch, etwa in seinem Werk Storia come pensiero e come azione14, oder in den Studien des amerikanischen Geschichtswissenschaftlers Carl Lotus Becker, der auch noch darauf beharrt, die »Philosophie und die Geschichte der Aufklärung« in eins zu denken. Bei Becker und ähnlich argumentierenden Gelehrten wie zum Beispiel Delio Cantimori oder Eugenio Garin, führt das so weit, dass eine Art »rückläufige« Geschichte konstruiert wird, mit der Absicht, die »frühesten Wurzeln« aufklärerischen Denkens freizulegen, was letztlich die Hypothese eines langgespannten Bogens »von Petrarca bis Rousseau« ergibt. Damit hätten sie schlicht vergessen, mahnte Venturi streng, dass »die Philosophen dazu neigen, gegen den Strom zu schwimmen, stets auf der Suche nach der Quelle des Denkens«, dass jedoch die Historiker die Aufgabe hätten aufzuzeigen, »wie der Fluss sich gegen alle Hindernisse und Widerstände seinen Weg sucht«. Der Historiker müsse stets das Gebot des geschichtlichen Kontextes im Auge behalten, er dürfe die Ereignisse allein iuxta propria principia beurteilen: das sei die unabdingbare Pflicht jedes historischen Forschens. Eine ähnliche Zurechtweisung erteilte Venturi auch den Jüngern einer sozialgeschichtlichen Neubewertung der Aufklärung, wie sie zum Beispiel Daniel Roche vorgenommen hatte. Das sei Historiographie im Geist ideologischer Prämissen, murrte Venturi, »unter den Voraussetzungen der Schriften von Marx, Engels und der marxistischen Schule«, die allein die Zusammenhänge zwischen Aufklärung und dem bürgerlichen Rationalismus sehen wollten. Venturis strenge und nicht immer gerechtfertigte Zensur gegen die Vertreter der französischen Schule galt vor allem der »Anmaßung, ein allumfassendes Geschichtsbild entwerfen zu wollen«. Ein so komplexes Gebilde wie die Gesellschaft sulle »LumiÀres«. Programmi politici e idea-forza della libert, in: L’et dei Lumi. Studi storici sul Settecento in onore di Franco Venturi, Bd. 1, Napoli, 1985, S. 103. 14 B. Croce, Storia come pensiero e come azione (1938), Edizione nazionale delle opere di Benedetto Croce, hrsg. von M. Conforti und G. Sasso, Bibliopolis, Napoli, 2002; (dt: Die Geschichte als Gedanke und als Tat, Einführung von H. Barth, Francke, Bern, 1944). Croces »Rückfall« in einen Historismus Hegelscher Prägung wurde 1952 von einem hochgeachteten Vertreter der italienischen Historiographie, F. Chabod, genau nachgezeichnet. Vgl. F. Chabod, Lezioni di metodo storico con saggi su Egidi, Croce, Meinecke, Laterza, Bari, 1969, S. 179 ff.
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könne und dürfe niemals auf eine globale Struktur reduziert werden, die ihre eigene innere Logik, gleichsam ihr eigengesetzliches Funktionieren allein durch die Anwendung einer geeigneten Untersuchungsmethode preisgebe, sei dies nun das Credo des Klassenkampfes, die Entwicklung der Quantifizierung oder gar der Denkansatz des Strukturalismus.15 Hinter Venturis Breitseiten gegen diese neuen Wege der Historiographie steckt eigentlich sein Zorn auf die Philosophen, ohne jedoch das wirkliche Hauptproblem zu sehen. Wie mit Blindheit geschlagen, rührte Venturi nicht an der grundlegenden These von Cassirers Buch, das heißt an der fraglosen Gleichsetzung zwischen der Philosophie der Aufklärung und dem modernen wissenschaftlichen Rationalismus von Galilei, Kepler und Newton. Venturi streifte auch nur nebenbei die vexata quaestio des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen den epistemologischen Voraussetzungen historischer Wissenssicherung und der methodischen Tradition philosophischer Erkenntnisgewinnung. Genau hier wäre jedoch der Hebel anzusetzen, um althergebrachte und eingefahrene Denkweise aus den Fugen zu bringen und das Paradigma des Kentauren endlich aufzuheben und also sinnvoll zu überwinden. Inzwischen ist im Laufe des letzten halben Jahrhunderts viel Gras über die Sache gewachsen und vieles hat sich auch gründlich geändert. Doch der nicht ausgeräumte Konflikt zwischen den Historikern und den Philosophen im Hinblick auf den Umgang mit der Aufklärung schwelt untergründig immer noch fort, wenn auch unter anderen theoretischen Voraussetzungen und mit anderen Zielsetzungen. Der vergiftete Stachel der Postmoderne hat nun mal nagende Zweifel aufgeworfen und selbst im Fleisch sehr solider Gedankengebäude höchst beunruhigende Fragestellungen hinterlassen, ob man das nun zugeben will oder nicht. Wie wir in der ersten Vorlesung gesehen haben, war es vor allem das Denken von Michel Foucault, das die heutige Geschichtsforschung vor eine große Herausforderung stellt: seine Wiedererweckung des alten Kentauren, also des Zwitterwesens zwischen Philosophie und Geschichte, unter dem Deckmantel der »historisch-philosophischen Praktik« in bester deutscher Manier, riss den alten Gegensatz wieder auf und fügte noch weiteren Konfliktstoff hinzu, etwa den postmodernen Problemkreis um Subjekt, Macht und Wahrheit, die ihrerseits nichts anderes sei als eine hohle Maske, unter der sich schierer Wille zur Macht verberge, samt dem nötigen rhetorischen Arsenal zur Ausübung von Herrschaft. Nach Foucault, und ganz allgemein nach dem breitangelegten Frontalangriff auf den traditionellen Begriff der Aufklärung, wie ihn die Jünger von Nietzsche und Heidegger geritten haben, ist es für die gewissenhafte Historiographie nicht mehr ganz einfach, den Kentauren zu bändigen und die Geschichtswissen15 Vgl. F. Venturi, Utopia e riforma, a. a. O., S. 25.
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schaftler aus der gebieterischen Vormundschaft der Philosophen zu befreien. Da bleibt nur der entschiedene Rückgriff auf die epistemologische Eigengesetzlichkeit historischen Forschens: die glorreiche historiographische Tradition mit ihren überzogenen Ansprüchen sei in allen Ehren gehalten, aber heute geht es darum, die Autonomie des geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses einzufordern und die Grenzen gegenüber anderen Formen der Wissensschöpfung genau zu ziehen, damit das leidige Problem der Aufklärung endlich unter historischem Aspekt bereinigt werden kann. Wie bekannt, erlebte die europäische Kultur bereits im 16. und später im 17. Jahrhundert eine großangelegte Herausforderung der erkenntnistheoretischen Grundlagen historischen Forschens. Ein allgemeiner Zug skeptischen Philosophierens, die sogenannte »crise pyrrhonienne« breitete sich rasch aus und griff auf viele Wissensgebiete über16. Der Pyrrhonismus wurde mit der lateinischen Übersetzung der Werke des Sextus Empiricus im Jahr 1569 einem breiteren Kreis von Gelehrten und Gebildeten bekannt, erlebte durch den Erfolg der Essais von Montaigne eine allgemeine Geläufigkeit und gipfelte schließlich in den religiösen Streitfragen zwischen Katholiken und Protestanten, als um einen neuen Begriff der Wahrheit gerungen wurde, mit der Berufung der einen Seite auf das Lehramt der Kirche, auf die Autorität des Papstes und die Tradition der Konzilien, und mit der Behauptung der anderen Seite, allein die Autorität der Heiligen Schrift sei maßgeblich. Die allgemeine Krise eines absoluten Skeptizismus, der schließlich die Erkenntnisfähigkeit der menschlichen Vernunft überhaupt in Zweifel zog, erfasste in einem ersten Moment vor allem Theologen, Juristen und Naturforscher, doch blieben auch die Vertreter der Historiographie nicht lange verschont. Altbekannte und nach wie vor unbeantwortet gebliebene Fragestellungen, die schon von den Skeptikern der Platonischen Akademie im dritten vorchristlichen Jahrhundert aufgeworfen worden waren, brachen wieder auf: es ging um die grundsätzliche Frage, ob der Mensch allein kraft seines Geistes dazu fähig sei, Gewissheit über den Begriff der Wahrheit zu erreichen, d. h., mit anderen Worten, ob man eine tragfähige Grundlage menschlicher Erkenntnisfähigkeit postulieren könne. Mabillon, Bayle, Huet, Le Clerc und Muratori verteidigten in diesem Disput die epistemologische Autonomie der Geschichtsschreibung und verwiesen auf die Gewissheit und den tatsächlichen Wahrheitsgehalt geschichtlicher Quellen und Zeugnisse17. Die stürmischen Auseinandersetzungen um die fides historica tobten auch um die neue Rolle der historischen Hilfswissenschaften, die mehr und mehr an Bedeutung gewannen, wie zum Beispiel die Philologie und die Numismatik oder auch der sorgfältige 16 Vgl. P.H. Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza, Berkeley, 1979. 17 Vgl. C. Borghero, La certezza e la storia. Cartesianesimo, pirronismo e conoscenza storica, Franco Angeli, Milano, 1983.
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Umgang mit Handschriften und Quellentexten. Diese neuen Techniken »historicis argumentis fidem faciunt«, hieß es damals, sie sollten also die Vertrauenswürdigkeit historischer Ereignisse garantieren. Im 1752 erschienenen Grundlagenwerk über Allgemeine Geschichtswissenschaft von J.M. Chladenius wurden schließlich sowohl philosophisch als auch epistemologisch die genauen Grenzlinien gezogen, innerhalb derer die Wahrheit vergangener Ereignisse überprüft und gesichert werden sollte, und zwar auf Grund von Evidenz und Quellenkritik. Die Historiker gingen aus der Zerreißprobe des absoluten Skeptizismus im 16. und 17. Jahrhundert im Großen und Ganzen als Sieger hervor, allerdings hatte die »antiquarische« Methode, das heißt die solide Arbeit kritisch-philologischen Forschens, daran einen nicht unerheblichen Anteil. Damals wurden die Grundlagen der späteren Quellenkritik gelegt, die dann von großen Meistern wie Gibbon, Ranke und Droysen erweitert und den modernen Bedürfnissen angepasst wurde. »Der Antiquar, der selber von Geschichte nichts verstand, bewahrte den Historiker vor dem ätzenden Skeptizismus,« erläuterte Arnaldo Momigliani, denn »die Liebe zum authentischen Original eines Dokuments, der Scharfsinn im Aufdecken von Fälschungen, die Sorgfalt im Aufspüren und im Umgang mit Quellen, doch vor allem die grenzenlose Hingabe zu Kultur und Bildung sind das Vermächtnis des Antiquariats an die ethische Verantwortung des Historikers.18« Die heutige postmoderne Herausforderung historischer Erkenntnis im Namen des linguistic oder auch rhetorical turn, wie sie in den letzten Jahrzehnten von den Jüngern des Relativismus oder des Dekonstruktivismus jeder Couleur formuliert wurde, ist nicht weniger heimtückisch als die große Krise des Pyrrhonismus im 17. Jahrhundert: auf dem Spiel steht wieder, und mehr denn je, die Glaubwürdigkeit des Historikers19. Der skeptische Grundton der heutigen Debatte, der im Grunde die Historiographie auf ihre Erzählfunktion beschränken will, oder gar lediglich auf den Sprachgestus ohne jeden nachweisbaren Bezug zur historischen Wahrheit, klingt nicht viel anders als die damaligen Vorwürfe durch den absoluten Skeptizismus, und bestimmte Strömungen in der heutigen Weltöffentlichkeit lassen diese Töne noch viel gefährlicher werden. 18 Vgl. A. Momigliano, Sui fondamenti della storia antica (Essays in Ancient and Modern Historiography, 1977), Einaudi, Torino, 1984, S. 42. Von Momigliano erschienen in deutscher Sprache Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung, Metzler, Stuttgart, 1998 – 2000. 19 Für eine erste Orientierung vgl. folgende grundlegende Werke zum Thema: H.V. White, Metahistory. The Historical Imagination in Ninetheenth-Century Europe, Baltimore, 1973; (dt.: Metahistory : die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Fischer, Frankfurt/M., 1991); P. Novick, That Noble Dream: The »Objectivity Question« and The American Historical Profession, Cambridge, 1988.
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Alarmierend ist zum Beispiel der Versuch, selbst unfassbare Tragödien wie den Holocaust relativieren zu wollen, oder Phänomene wie die totalitären Gewaltherrschaften durch angebliche Einbettung in historische Gegebenheiten zu banalen Ereignissen zu reduzieren: das läuft letzten Endes auf den Verlust jeden historischen Bewusstseins von Wahrheit hinaus und öffnet dem Verdrängen und Vergessen schmerzlicher Erinnerungen Tür und Tor. Eine verlorene oder bewusst verfälschte Erinnerungskultur erzeugt dann Irrwege wie die Leugnung von Verbrechen gegen die Menschheit, bis hin zur zynischen Behauptung, die historischen Tatsachen seien im Rahmen eines nach wie vor gültigen Faustrechts sowieso nur vernachlässigbare Details. Ein bis zu diesen nihilistischen Konsequenzen gesteigerter Relativismus akzeptiert letzten Endes nur den unbedingten Willen zur Macht als einzige Wahrheit und als Grundlage des wahren Wesens des Menschen. Als geistiger Vater dieser modernen Auflage des Skeptizismus, der heute den Historikern viel Kopfzerbrechen verursacht, ist unschwer Nietzsche zu erkennen. Bereits in den 1970er Jahren dachten namhafte Vertreter des linguistic turn einige Gedankengänge Nietzsches über Wahrheit und Lüge weiter und kamen, wie Carlo Ginzburg deutlich macht, zu höchst aufschlussreichen Überlegungen: »Was ist also die Wahrheit?«, zitiert Ginzburg eine berühmte Textstelle Nietzsches: »Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz, eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, und nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.«20 Ginzburg wies die postmodernen Pyrrhonisten energisch in ihre Schranken: er erinnerte daran, dass bereits die aristotelische Auffassung der Rhetorik dem Bemühen um Wahrheit verpflichtet war, und eben dieses Ziel hatte auch das Denken von Quintilian, Valla und Maurini vor Augen. Ursprünglich sei es bei der Ausübung rhetorischer Kunst um den Nachweis eines Beweises gegangen, nicht um die bloße Kunst des Argumentierens, wie Rhetorik heute, sehr eingeschränkt, definiert wird. Weitere, und nicht weniger bedeutsame Stimmen erhoben sich zur Verteidigung des Historikers gegen die neuen Skeptiker der Postmoderne. Sicherlich ist der Geschichtswissenschaftler immer auch rhetorischen Gesetzen unter20 Vgl. Carlo Ginzburg, Die Wahrheit der Geschichte: Rhetorik und Beweis, (History, Rhetoric and Proof, 1999, it.: Rapporti di forza. Storia, retorica, prova, 2000), aus dem Italienischen übers. von Wolfgang Kaiser, Wagenbach, Berlin, 2001, S. 18. Das Nietzsche-Zitat stammt aus dem Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G. Colli / M. Montinari, Bd. III/2, Berlin-New York, 1973, S. 369 – 384, hier S. 369.
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worfen, wenn er versucht, die historische Wahrheit herauszufinden, doch es reicht nicht, ihn rhetorischer Stilübung zu zeihen: letzten Endes ist er gehalten, die Stichhaltigkeit seines Diskurses zu beweisen. Andererseits ist natürlich auch der zeitgenössische Skeptizismus und Relativismus keineswegs ein Übel, schließlich waren es stets die Skeptiker, die im Lauf der Geschichte einen heilsamen Disput über den Begriff der Wahrheit vom Zaun gebrochen haben. Nicht jeder Relativismus endet in Beliebigkeit, und nicht jeder Skeptizismus in offenem Nihilismus21. Die methodische und konsequente Skepsis im Denken von Gassendi, Descartes und Hume bildet immerhin die Grundlage modernen Philosophierens, und ebenso hat der problematische und empirische Historismus mit seiner Praxis ständigen Relativierens nichts mit den nihilistischen Auswüchsen eines absoluten Relativismus zu tun. Der moderne Begriff der Wahrheit, da sind sich längst alle Wissenschaften einig, ist unweigerlich ein Kind der jeweiligen Zeit und kann nur im Rahmen der gerade gegebenen Möglichkeiten wahrgenommen werden. Die eine, einzige und absolute Wahrheit ist allein der Gottheit vorbehalten, wie der Aufklärer Lessing schon klar zu sagen pflegte: und das wird, damals wie heute, nicht gern gehört.22 Beispielhaft in diesem Kontext sind die Überlegungen von Koselleck und Momigliano zur Geschichtsmethode. Beide weisen auf die unumgängliche Notwendigkeit hin, den Konflikt zwischen objektiver Quellenkritik und dem subjektiven Standpunkt des selbst zeitbezogenen Historikers zu sehen und erkennend zu bewältigen.23 Die Position des Historismus, der darauf hinweist, dass »ein jeder die Ereignisse vergangener Geschichte von einem bestimmten, von 21 Zu diesem Themenkreis vgl. D. Marconi, Per la verit. Relativismo e filosofia, Einaudi, Torino, 2007. 22 Die Anspielung meint einen bekannten Spruch des Dichters G.E. Lessing zum Thema der Wahrheit: »Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir »Wähle! » – ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: »Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!« (Aus: Theologische Streitschriften, »Duplik«, 1778) – Anm. d. Ü. 23 Vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (1979), Suhrkamp, Frankfurt/M., 1989, S. 144 f., »Darstellung, Ereignis und Struktur«. Genau schreibt Koselleck: »Die Faktizität ex post ermittelter Ereignisse ist nie identisch mit der als ehedem wirklich zu denkenden Totalität vergangener Zusammenhänge. Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selber ist vergangen. Damit wird ein geschichtliches Ereignis aber nicht beliebig oder willkürlich setzbar. Denn die Quellenkontrolle schließt aus, was nicht gesagt werden darf. Nicht aber schreibt sie vor, was gesagt werden kann. Negativ bleibt der Historiker den Zeugnissen vergangener Wirklichkeit verpflichtet. Positiv nähert er sich, wenn er ein Ereignis deutend aus den Quellen herauspräpariert, jenem literarischen Geschichtenerzähler, der ebenfalls der Fiktion des Faktischen huldigen mag, wenn er seine Geschichte dadurch glaubwürdig machen will.« (Ibidem, S. 153); vgl. ebenso A. Momigliano, Sui fondamenti della storia antica, a. a. O., S. 454 ff.
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seinem eigenen Zeitbezug geprägten Standpunkt aus betrachtet«, hat immer schon ein gewisses Unbehagen ausgelöst. »Es ist keine bequeme Doktrin«, gab Momigliano zu, denn die Gefahr eines allgemeinen Relativismus sei immer gegeben. Doch das müsse die grundsätzliche Erkenntnisfähigkeit historiographischen Forschens nicht unbedingt in Frage stellen. Schließlich stünden alle Wissenszweige unter diesem Damoklesschwert, aus dem einfachen Grund, dass sie menschliche Konstrukte seien. Was letztlich zählt, sind die Spielregeln der geschichtswissenschaftlichen Disziplin, also die sorgfältige Verifizierung der Fakten und die Kontrolle des Wahrhaftigkeitsgehalts der daraus gezogenen Schlussfolgerungen. »Der Historiker ist ein Mensch wie jeder,« meinte Momigliano, »seine Aussagen können verifiziert wie auch falsifiziert werden, das heißt, er kann irren, und dann muss man eben nachweisen, dass er einen Fehler gemacht hat.« Da es nun einmal so sei, so Momigliano, dass der Historiker nichts anderes tun könne, als Veränderungen von einem sich stets ändernden Standpunkt aus zu beobachten, so sei es immerhin angesagt, dieses so gut zu tun wie es immer möglich ist: es gelte, die historische Wahrheit durch rigorose Quellenkritik abzustützen und für die Darstellung geeignete Modelle zu entwickeln, immer im Bemühen, eine offenkundige Beweislage zu verifizieren. Trotzdem dürfe nie vergessen werden, dass »zur Geschichte selbst die Geschichte der Historiographie untrennbar dazugehört«, denn man müsse sich stets vor Augen halten, »dass geschichtliche Probleme selbst eine Geschichte haben«24. Auf der schwierigen Suche nach geeigneten Bedingungen und Voraussetzungen für einen neuen kritischen Standpunkt realer historischer Erkenntnis und ihrer legitimen Autonomie innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft war der Rückgriff auf bedeutende Philosophen wie Paul Ricoeur, Hilary Putnam und noch einige weitere Denker sehr hilfreich, vor allem auf der epistemologischen Ebene.25 Die Ergebnisse dieser erneuten Suche nach Objektivität, um den Angriffen der modernen Pyrrhonisten auf die Idee der historischen Wahrheit selbst angemessen zu begegnen, können sich sehen lassen. Während der allgemeine Skeptizismus wächst und wächst, und ein ausufernder Nihilismus sich zunehmend breit macht, sagt Roger Chartier mit ruhiger Zuversicht, doch in aller Entschiedenheit: »Il faut soutenir avec force que l’histoire est comand¦ per une intention et un principe de v¦rit¦, que le pass¦ qu’elle se donne comme objet est une r¦alit¦ ext¦rieure au discours et que sa connaissance peut Þtre contrúl¦e.«26 24 A. Momigliano, Sui fondamenti della storia antica, a. a. O., S. 464. Das Zitat stammt aus dem 1974 verfassten, fundamentalen Essay Storicismo rivisitato. (Übers.d.A.) 25 Vgl. G. Recuperati, Apologia di un mestiere difficile. Problemi, insegnamenti e responsabilit della storia, Laterza, Roma-Bari, 2005, S. 144 ff. 26 R. Chartier, Au bord de la falaise. L’histoire entre certitudes et inqui¦tude, a. a. O., S. 16. Ähnliche Positionen vertreten auch J. Appleby, L. Hunt und M.C. Jacob, Telling The Truth about History, New York, 1994.
II. Die Wissenschaft im 18. Jahrhundert und die Epistemologia imaginabilis der Philosophen
Im Rahmen unserer Betrachtungen zur Aufklärung, mit dem erklärten Ziel, das von uns so bezeichnete Paradigma des Kentauren vom Aspekt des Historikers aus zu überwinden, muss vorerst festgehalten werden, dass die Ergebnisse jener alten Debatte, die fast zwei Jahrhunderte lang die historische Forschung im Spannungsfeld der alten Auseinandersetzung zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften geprägt hat, ohne Zweifel viel zu wenig beachtet wurden. Selbst der Kentaur, also die zwitterhafte Aufklärung mit ihrem typischen Schwanken zwischen Philosophie und Geschichte, mutierte in der letzter Version, in Cassirers Philosophie der Aufklärung, prinzipiell in Richtung Mischwesen zwischen Philosophie und Newtonscher Physik. Man müsste viel nachdrücklicher bedenken, dass unsere heutige Auffassung und Definition von Wissenschaft sich im Gegensatz zur jüngeren Vergangenheit vollkommen verändert hat. Vor allem die Vorstellung einer epistemologia imaginabilis, wie sie von den Wissenschaftsphilosophen entworfen worden war, musste in den letzten Jahrzehnten unter dem Druck der Forschungen der Wissenschaftsgeschichte gründlich revidiert werden.1 Das markierte allerdings den Endpunkt eines Jahrhunderte langen und sehr widerspruchsvollen Prozesses, dessen wichtigste Entwicklung wir hier nur kurz andeuten können. Es war ein langer Weg, bis die außerordentlichen Entdeckungen von Kepler, Galilei, Descartes und Newton sich durchsetzen konnten und endlich zur gründlichen Neudefinition des Wissens im Licht der naturwissenschaftlichen Revolution geführt haben. Von Hobbes bis zu Leibniz, Hume und zu Diderot hat die epistemologische Vorgangsweise und das Nachdenken über die Anwendbarkeit der naturwissenschaftlichen Methoden auf das Studium der Geisteswissenschaften viele bedeutende Gelehrte beeinflusst. Im Lauf des 18. Jahr1 Vgl. die scharfe, jedoch durchaus gerechtfertigte Polemik gegen die Wissenschaftsphilosophen im Werk von Paolo Rossi, I ragni e le formiche. Un’apologia della storia della scienza, il Mulino, Bologna, 1986. Im deutschen Sprachraum ist von Paolo Rossi, einem viel beachteten Wissenschafthistoriker, vor allem das Buch über Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa (C.H. Beck, München, 1997) bekannt. (Anm. d. Ü.)
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hunderts weckte zum Beispiel die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung im Bereich der Sozialwissenschaften große Erwartungen und man erhoffte sich dadurch neue Einsichten. In seinem 1777 verfassten Essai d’arithmetique morale, stellte Buffon eine Theorie über die Existenz in der Natur von »verit¦s de diff¦rents genres, des certitudes de differents ordres, de probabilit¦s de diff¦rents degr¦s«2 auf und bereitete damit den Weg für Condorcet und seine Versuche, mathematischen Größen auf die Gesellschaft zu übertragen, ungeachtet aller Zweifel von Diderot gegenüber dem mathematischen Imperialismus von d’Alembert. Das Projekt eines einheitlichen Erkenntnisstandes allen Wissens auf der Basis einer naturwissenschaftlichen Methode erreichte im Werk von Kant zwar seinen Gipfelpunkt, doch sollte man nicht vergessen, dass bereits im frühen 18. Jahrhundert, mit der Kritik von Vico an Descartes, Locke und Newton, die Grundlage für eine unterschiedliche epistemologische Definition des menschlichen Wissens gelegt wurde, die sich hingegen auf den Unterschied zwischen Geistesund Naturwissenschaften berief.3 Die Geschichtswissenschaft musste sich aber, wie bekannt, durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch noch mit dem überlegenen Prestige der naturwissenschaftlichen Methode auseinandersetzen. In dieser Hinsicht gibt es eine Unzahl von Beiträgen aus jeder Ecke Europas, die laut darüber nachdachten, ob die Geschichte denn überhaupt eine Wissenschaft sei, oder nicht eher als »Kunst« zu bezeichnen sei, in enger Verwandtschaft mit Literatur und Rhetorik. Benedetto Croce schrieb im Jahre 1893 einen kurzen Essay mit dem bezeichnenden Titel Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht4, um das Thema im Lichte der Krise des Positivismus am Ende des Jahrhunderts neu aufzuwerfen. Croce wollte damit auch auf Pasquale Villari antworten, der 1891 in einem Artikel kurz und bündig gefragt hatte: Ist die
2 Vgl. V. Ferrone, Il dibattito su probabilit e scienze sociali nel secolo XVIII, in »Physis«, XXII (1980), S. 62. 3 Zur Debatte, die im späten 19. Jahrhundert schließlich zu einer klaren Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft führen sollte, vgl. A. Orsucci, Dalla biologia cellulare alle scienze dello spirito. Aspetti del dibattito sull’individualit nell’Ottocento tedesco, il Mulino, Bologna, 1992. Für einen allgemeinen geschichtlichen Überblick zum Thema vgl. Pietro Rossi, Specializzazione del sapere e comunit scientifica, in Id., La memoria del sapere, Laterza, Roma-Bari, 1990, S. 315 ff. Schon E. Troeltsch wies übrigens auf die bedeutende Rolle Vicos hin, der schon sehr früh den Unterschied zwischen »Naturalismus« und »Historismus« gesehen habe, was die spätere Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften vorwegnahm. Vgl. E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (1915 – 22), in: Gesammelte Schriften. Scientia-Verlag, Aalen,1977 (Nachdr. d. Ausg. Tübingen 1922), Bd. 3. 4 B. Croce, Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht. La storia ridotta sotto il concetto generale dell’arte, aus dem It. übersetzt und eingeleitet von F. Fellmann, Meiner, Hamburg, 1984, »Philosophische Bibliothek« 371.
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Geschichte eine Wissenschaft?5 (it.: La storia À una scienza?). Die Debatte erschien kurz darauf in deutscher und französischer Sprache und löste lebhafte Diskussionen aus. Erst der geniale epistemologische Entwurf von Droysen, den er im Grundriss der Historik (3. und wichtigste Auflage 1882) vorlegte, schien eine definitive und einleuchtende Lösung anzubieten, ehe in Deutschland der so genannte Methodenstreit mit den Beiträgen von Simmel, Dilthey, Rickert und Weber losbrach: diese Debatte sollte den Dualismus zwischen den verschiedenen Formen der Erkenntnis auf völlig neue Grundlagen stellen.6 Droysen hatte in seinem berühmten Handbuch den Primat des Verstehens hervorgehoben, das heißt die Auffassung einer Geschichtswissenschaft als Erkenntnisform, die darauf abzielte, »forschend zu verstehen«7, mit Rücksicht auf die Eigengesetzlichkeit der moralischen Wertung, der Freiheit und des freien Willens des Menschen, der stets das primäre Subjekt der Geschichte bleibe. Droysen befand sich damit in offenem Gegensatz zu den Versuchen der Positivisten, wie zum Beispiel Buckle, auch auf die Geschichte und ihre Zielsetzung der Methoden der Naturwissenschaften anzuwenden.8 Der Sieg des hermeneutischen Interpretationsmodells schien endgültig zu sein, ebenso die darauf beruhende traditionelle Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften auch auf der Ebene der universitären Studienordnung. Eigentlich müsste man nur die verschlungenen Wege und die verschiedenen europäischen Stellungsnahmen des Methodenstreits genauer untersuchen, um zu erkennen, dass die traditionellen Positionen und Interpretationsverfahren völlig durcheinander geraten waren. Das war eine Folge der tiefen Krise des Positivismus, der seinerseits zuvor die epistemologischen Grundlagen wissenschaftlichen Denkens gründlich erschüttert hatte. Vor allem in Frankreich wurde sogar die traditionelle Definition von Wissenschaft in Frage gestellt, und zwar nach dem Erscheinen der Arbeiten von Mach, Avenarius, Duhem und Boutroux. 5 P. Villari, Ist die Geschichte eine Wissenschaft? La storia À una scienza? (Nuova Antologia, 1891), Gärtner, Berlin, 1892. 6 Vgl. Pietro Rossi, Lo storicismo tedesco contemporaneo, Einaudi, Torino, 1956. (Anm. d. Ü.): Vgl. auch die Heidelberger Max Weber-Vorlesungen, die Pietro Rossi 1987 hielt, Id., Vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1987. Eine reichhaltige Bibliographie zum Thema findet sich in F. Tessitore, Introduzione allo storicismo, Laterza, Roma-Bari, 1991. 7 J.G. Droysen, Grundriss der Historik (1875 – 1882), Historisch-kritische Ausgabe in 5 Bänden hrsg. von Peter Leyh und Horst Walter Blanke, Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1977 ff. Droysen betonte immer wieder : »Das Wesen der historischen Methode ist, forschend zu verstehen.« Bd. 1, S. 423. 8 Zur Auseinandersetzung zwischen Droysen und H.T. Buckle, dessen Werk History of Civilisation in England (1857) sofort ins Deutsche übersetzt worden war (Geschichte der Civilisation in England, 1858), vgl. Droysens Essay, Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, (Historische Zeitschrift, Bd. 9, München, 1863) in Grundriss der Historik, a. a. O., Bd 1, S. 451 – 469.
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Dazu kamen noch am Ende des Jahrhunderts die scharfen polemischen Angriffe von Bergson und Le Roy gegen Poincar¦. Im Gegensatz zur früheren statischen und normativen Auffassung der mathematischen Gesetze, deren Fähigkeit zu Erklärungen und Voraussagen nach dem rigoros deterministischen Modell der rationalen Mechanik, wie sie von Galilei und Newton begründet worden war, bisher unangefochten galt, begann man nun die Wissenschaft als eine historisch determinierte Datenmenge aufzufassen, als Bündel von Hypothesen und Erklärungsentwürfen konventioneller Natur und aufgrund von Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die jedoch empirisch verifiziert werden mussten und eventuell daher auch verworfen werden konnten, um sie durch neue und eventuell bessere zu ersetzen, was den Begriff der Wahrheit stets als vorläufig und relativ erscheinen ließ. Der alte positivistische Traum des 19. Jahrhunderts, der die Wissenschaft als absolute Wahrheit sah, da sie auf universelle, statische und ewige Gesetze gegründet sei, und dementsprechend imstande sein sollte, die Wirklichkeit als solche, objektiv und unabhängig vom Standpunkt des Beobachters zu beschreiben, geriet ins Wanken und zerfiel, um einem neuen »menschlicheren« Bild der Wissenschaften Raum zu geben: diese neue Auffassung beruhte vor allem auf methodischer Praxis, auf der kreativen Rolle des Forschers, der Hypothesen aufstellt und die von ihm formulierten Theorien von Mal zu Mal verifizieren muss.9 Marc Bloch war unter den großen Historikern sicher der erste, der die geistige Revolution im frühen 20. Jahrhundert in ihrem ganzen Ausmaß begriffen hatte und der genau gesehen hatte, dass diese umwälzende Neudefinition von Wissenschaft auch die Legitimität geschichtlichen Erkennens grundlegend verändern sollte. Die tiefste Bedeutung und die wirkliche Neuheit seines berühmten Aufsatzes Apologie pour l’histoire ou m¦tier d’historien, die während der furchtbaren Jahre des Zweiten Weltkrieges entstand, lag genau in der leidenschaftlichen Verteidigung der Existenzberechtigung historischen Erkennens im Licht der erbitterten epistemologischen Debatte, die in den dreißiger Jahren über die Natur der Wissenschaft stattgefunden hatte.10 Der Essay zieht nicht nur 9 Vgl. dazu die klassische Arbeit von Ph. Frank, Modern Science and Its Philosophy, Cambridge (Mass.), 1949 (ursprünglicher Titel: Between physics and philosophy), die den verschlungenen Wegen der modernen Epistemologie während ihres komplexen Rückgriffs auf subjektivistische Wertungskriterien behutsam und klarsichtig nachgeht. Für eine nüchterne Bestandaufnahme der immer noch unabsehbaren Folgen dieser Neuorientierung vgl. C.A. Viano, La ragione, l’abbondanza e la credenza, in: Crisi della ragione. Nuovi modelli nel rapporto tra sapere e attivit umane, hrsg. von A. Gargani, Einaudi, Torino, 1979, S. 302 ff. 10 M. Bloch, Apologie pour l’histoire ou m¦tier d’historien, Paris, 1949, dt.: Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, nach der von Êtienne Bloch edierten französischen Ausgabe hrsg. von Peter Schöttler, (übers. von Wolfram Bayer), Klett-Cotta, Stuttgart, 2002.
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eine Art Schluss-Strich unter die alte Auseinandersetzung der Historiker mit den Naturwissenschaften, sondern ist auch ein faszinierendes Manifest für die Einheitlichkeit wissenschaftlichen Vorgehens, für die methodologischen und epistemologischen Voraussetzungen im Dienst der allgemeinen Erkenntnisfähigkeit des Menschen, gegen das deutsche Dogma des Dualismus zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Liest man heute, ein halbes Jahrhundert später, jene Seiten von bewundernswerter Zivilcourage, darf man die so genannte »Krise der Vernunft« nicht vergessen, die im frühen 20. Jahrhundert das geistige Leben in Paris geprägt hatte; in den Rängen des Centre des synthÀses saßen seit 1925 neben vielen humanistisch denkenden Gelehrten auch Leute von naturwissenschaftlichem Rang wie Rutherford, Einstein und Volterra, die einander erbitterte Debatten lieferten; zwischen 1929 und 1939 fanden Vorträge und Seminare auf Anregung von Lucien Febvre, Paul Langevin, Abel Rey und Henry Berr statt und zwar über Themen wie Evolution, Civilisation, Relativit¦, Th¦orie de Quanta, Science et loi, Statistique11. Bloch nahm die vielen Impulse auf höchstem Niveau auf und stellte sich entschlossen der Herausforderung, gegen und zusammen mit Nobelpreisträgern und Spitzengelehrten, die Idee von Rationalität und Erkenntnis auf allen menschlichen Wissensgebieten neu zu definieren, um als Historiker selbstbewusst den »Kollegen im Latoratorium«, also den Protagonisten der Experimentalwissenschaften, die Stirn zu bieten und dem Unterlegenheitsgefühl ihnen gegenüber ein Ende zu bereiten. Historische Erkenntnis, so Blochs Fazit, definiere sich weder in Unterwerfung noch in konkurrierender Rivalität oder prätendierter Dominanz, sondern vielmehr im Sinne einer sinnvollen Komplementarität. Marc Bloch hat die Programmpunkte seines Arbeitsplans von Anfang an klar und deutlich offen gelegt. Mit Blick auf die vorherrschende Dominanz des alten positivistischen Modells der Wissenschaften im 19. Jahrhundert äußerte er sich wie folgt: »Nun ist aber unsere geistige Umwelt nicht mehr die gleiche. Die kinetische Gastheorie, die Mechanik Einsteins und die Quantentheorie haben den strengen Wissenschaftsbegriff von gestern von Grund auf verändert. Sie haben ihn nicht eingeengt, sondern dehnbarer gemacht.« Sogar die Wissenschaftler ließen »an die Stelle des Sicheren […] das unendlich Wahrscheinliche treten« und an die Stelle des»exakt Messbaren setzten sie die unendliche Relativität des Maßes«, also »müssten sich auch die Historiker und Sozialwissenschaftler von ihrem traditionellen, aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Wissenschaftsbegriff 11 Vgl. B. Bensaude-Vincent, Pr¦sences scientifiques aux semaine de synthÀse (1929 – 1939), in: Henri Berr et la culture du XXe siÀcle, hrsg. von A. Biard, D. Bourel und E. Brian, Paris, 1997, S. 220 ff. Der gesamte Band liefert übrigens aufschlussreiche Einsichten in das geistige Klima, in dessen Umkreis die Schule der »Annales« entstand und ihre Wirkung entfaltete.
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lösen und flexibler werden, d. h. offener, phantasievoller, kurzum: noch experimenteller denken als in der Vergangenheit. […] Wir können uns nun fortan viel eher damit einverstanden erklären, eine Erkenntnis auch dann als wissenschaftlich zu qualifizieren, wenn sie den Anforderungen euklidischer Demonstrationen oder der Annahme unveränderlicher und sich wiederholender Gesetze der ›Natur‹ nicht genügt. Wir können uns viel leichter damit einverstanden erklären, Gewissheit und Universalgültigkeit als eine Frage gradueller Unterschiede zu betrachten. Wir fühlen uns nicht mehr verpflichtet, alle Gegenstände des Wissens in ein von den Naturwissenschaften vorgegebenes Einheitsschema zu pressen, da ja gerade dieses Schema nicht mehr universell anwendbar ist. Noch wissen wir nicht sehr gut, was jene Wissenschaften eines Tages sein werden, die vom Menschen handeln. Aber schon jetzt wissen wir, dass sie – selbstverständlich bei unverminderter Einhaltung der Grundregeln der Vernunft – auf ihre besondere Eigenart weder zu verzichten, noch sich ihrer zu schämen brauchen.«12 Dementsprechend basiert die gesamte Apologie pour l’histoire auf der konstanten Verknüpfung der Geschichtswissenschaften mit der parallel laufenden neuen Art und Weise, die Naturwissenschaften zu begreifen. Blochs erklärtes Ziel war es, die allen Erkenntnisformen zu Grunde liegende epistemologische und methodologische Matrix hervorzuheben, die es erlaube, durch das Aufstellen von Hypothesen und Theorien in ihrer spezifischen, ihnen eigenen Sprache und unabhängig von den behandelten Themen »zu neuen Gewissheiten oder wenigstens zu wahrscheinlichen Schlüssen zu gelangen«, und zwar im Rahmen solider Beweisführung.13 »Indem die historische Kritik ihre Gewissheit auf eine Dosierung des Wahrscheinlichen und Unwahrscheinlichen beschränkt«, schreibt Bloch weiter 12 M. Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, zitiert nach der Ausgabe unter der Leitung von L. Febvre, übers. von Siegfried Furtenbach, rev. Friedrich J. Lucas, Klett-Cotta, Stuttgart, 1974, 3. Aufl. 1992, S. 32. Ähnliche Ansichten über die radikal veränderte Vorstellung von naturwissenschaftlicher Erkenntnisleistung und die unvermeidlichen Rückwirkungen dieser Tatsache auf die Begrifflichkeit historischen Forschens vertrat auch Lucien Febvre in seiner Vorlesung von 1941 an der Êcole normale sup¦rieure. Vgl. L. Febvre, Vivre l’histoire. Propos d’initiation, in: Id., Combats pour l’histoire, Paris, 1953; dt.: Das Gewissen des Historikers, Wagenbach, Berlin, 1988. 13 »Eine Wissenschaft wird jedoch nicht nur von ihrem Gegenstand her definiert, schreibt Bloch, ihre Grenzen können ebenso gut auch durch die besondere Eigenart ihrer Methode abgesteckt werden. Dabei erhebt sich die Frage: Unterscheiden sich die Forschungsmethoden nicht grundlegend danach, ob man sich der Gegenwart nähert oder sich von ihr entfernt? Wir stellen also das Problem der Geschichtsforschung«. (M. Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, zitiert nach der Ausgabe unter der Leitung von L. Febvre, a. a. O., S. 59) Doch schließlich stellt Bloch fest: »Ganz gleich, welchem Zeitalter der Forscher sich zuwendet: Die Methode der Forschung, die fast regelmäßig eine Beobachtung aufgrund von Spuren ist, bleibt grundsätzlich dieselbe.« (Ibidem, S. 85).
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und beruft sich dabei auf Augustin Cournot, »unterscheidet sie sich von den meisten anderen Wirklichkeitswissenschaften nur darin, dass sie mit einer nuancierteren Skala arbeitet.« Denn auch die historische Kritik suche objektive Wahrheiten, formuliere Vermutungen und Arbeitshypothese, gehe von spezifischen Fragestellungen aus, orientiere sich in ihren Betrachtungen an einer Theorie, die noch zu beweisen sei und verfolge Spuren und Zeichen eines Phänomens, das nicht direkt greifbar sei. Schließlich sei auch das genuine Objekt in der Natur der Wahrnehmung nicht direkt zugänglich: »Dabei ist es unerheblich, ob das ursprüngliche Objekt seiner Natur nach der Sinneswahrnehmung nicht zugänglich ist wie das Atom, dessen Bahn in der Crookesschen Röhre sichtbar gemacht wird, oder ob dieses Objekt durch die Einwirkung der Zeit so geworden ist, dass es heute nicht mehr unmittelbar wahrgenommen werden kann; dies wäre etwa der Fall bei einem Farnkraut, das vor Jahrtausenden vermoderte und dessen Abdruck sich in der Steinkohle erhalten hat, oder bei jenen längst nicht mehr gebräuchlichen Festlichkeiten, die auf den Mauern der ägyptischen Tempel dargestellt und kommentiert werden. In beiden Fällen ist das Verfahren zur Rekonstruktion dasselbe, und man findet dafür zahlreiche Beispiele in allen Wissenschaftszweigen.« Der Prozess der Schlussfolgerung zur Gewinnung von Verständnis und Erkenntnis, so Bloch, sei also immer derselbe. Zwar sei die Geschichte keine experimentelle Wissenschaft, die »die Elemente des Realen beliebig modifizieren« könne, aber am Ende spiele das »kaum eine Rolle«. Denn um die Beziehungen zu erforschen, welche die spontanen Variationen der Faktoren mit denjenigen der Phänomene verbinden, braucht sie nur zwei Instrumente: die Beobachtung und die Analyse.14 Der Beruf des Historikers, seine Methoden der Wahrheitssuche, seine wissenschaftliche Fachsprache, sollten also im Licht der neuen Wissenschaften neu beleuchtet werden. Die Atomphysik und die Quantentheorie, die Entdeckung des Unschärfeprinzips, die Überwindung des Konzepts der sicheren Ursache, vor allem aber die längerfristigen »Entwicklungen«, aus denen sich Möglichkeiten historischer Prognosen ergäben, stellten die traditionellen Begriffe wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit auf den Kopf. In Blochs Manuskript, das 1949 nach seinem gewaltsamen Tod durch die Nationalsozialisten posthum veröffentlicht wurde, ließen sich zahlreiche Beispiele zitieren, die in diese Richtung gehen. Dennoch geht es uns hier nicht hauptsächlich darum, die originelle 14 Ibidem, S. 67 – 68. Bloch bekräftigte diese Auffassung der Geschichtswissenschaft, die vor allem auf der Basis einer sauberen Arbeitsmethode operieren müsse, und nicht in alle möglichen Interpretationen vom tieferen »Sinn« oder gar dem »Geist« eines Ereignisses verfallen dürfe, anlässlich der bitterbösen Rezension des 1936 erschienenen Buchs von Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus (Gesamtausgabe, Koehler, Stuttgart, Bd. 3, 1959). Vgl. M. Bloch, Histoire et historiens. Textes r¦unis par Ê. Bloch, Paris, 1995, S. 91 ff.
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Verteidigung des Erkenntniswerts der Geschichte zu dokumentieren15, als vielmehr festzustellen, dass in diesem Text Blochs frühe Einsicht in die epistemologische Revolution zu Tage tritt, die sich in jenen Jahren der großen Entdeckungen mit ihren neuen, zum Teil schockierenden Deutungsansätzen vollzog. Diese Revolution ging von der »Krise der klassischen Vernunft« nach dem Muster Kants und Newtons aus und sollte die Vorstellung und die Idee, was denn nun Wissenschaft sei, grundlegend neu definieren. 1934 erschien in Paris das Buch von Gaston Bachelard, Le nouvel esprit scientifique, wo Bachelard die Bedeutung der Einbildungskraft des Wissenschaftlers hervorhebt, und zwar mit einer Beweisführung auf psychoanalytischer und philosophischer Basis. Der »wissenschaftliche Geist« realisiere sich philosophisch gesehen in diskontinuierlicher Form, denn das wissenschaftliche Denken müsse stets von Neuem das jeweilige epistemologische Erkenntnishindernis überwinden, das sich durch neue Forschungen immer wieder stelle, ehe neue und besser funktionierende Denkmodelle erzeugt werden könnten. »Geistige Revolutionen«, so Bachelard, »sind Diskontinuitäten des Denkens, sie erzeugen Mutationen«. In Bachelards Text finden sich immer wieder Anspielungen auf Heisenberg, de Broglie, Bohr, auf die Schola quantorum und natürlich auf Einstein. »Nun ist aber der szientifische Geist wesentlich eine Berichtigung des Wissens, eine Erweiterung des Rahmens der Erkenntnis. Er beurteilt seine Vergangenheit, indem er sie verurteilt. Wissenschaftlich wird das Wahre als historische Berichtigung eines langen Irrtums, wird die Erfahrung als Berichtigung einer allgemeinen und ersten Illusion gedacht«, so Bachelards originelle philosophische Deutung des wissenschaftlichen Denkens16. Immer im Jahr 1934 erschien in Wien Karl Poppers berühmtes Werk Die Logik der Forschung, das sich mit dem in jenen Jahren zentralen Thema der Abgrenzung auseinandersetzt: was ist überhaupt Wissenschaft? Popper definiert die empirischen Wissenschaften als ein »System von Theorien«, als ein Netz von Hypothesen und universellen Behauptungen, das ausgeworfen werde, um die »Welt« zu rationalisieren und beherrschbar zu machen. Ein Abgrenzungskriterium sei das Kennzeichen des empirischen, nicht metaphysischen 15 Es wäre sicherlich spannend gewesen, wenn Bloch sich im Licht der neuen Erkenntnisse über Unschärfe und Wahrscheinlichkeit auch Gedanken über die Zulässigkeit von Prognosen in geschichtlichen Abläufen gemacht hätte, doch auch anlässlich der kritischen Edition seines Nachlasses wurden keine Denkansätze in diese Richtung sichtbar. Vgl. Apologie pour l’histoire ou m¦tier d’historien, ¦dition critique pr¦par¦e par Ê. Bloch, Paris, 1993. 16 G. Bachelard, Epistemologie (ausgewählte Texte, übers. von Henriette Beese), Ullstein, Frankfurt/M., Berlin, Wien, 1974, S. 129. Vgl. vor allem Id., Le nouvel esprit scientifique (1934), dt.: Der neue wissenschaftliche Geist, übers. von Michael Bischoff, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1988.
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Charakters eines theoretischen Systems. Das wissenschaftliche Denken, als »Theorie der Theorien« fuße allein auf dem Kriterium der Falsifizierbarkeit, das heißt, durch Selbstkorrektur über Versuch und Irrtum sei eine Theorie desto wissenschaftlicher, je gründlicher sie falsifiziert worden sei, und zwar in jeder Hinsicht, unter mathematischen, logischen oder technischen Aspekten. Die rein logische Wahrscheinlichkeit einer Aussage ist hingegen, laut Popper, ihrem empirischen Gehalt gegenläufig. Das Ziel der Wissenschaften sei es jedoch, zu immer besseren Theorien zu gelangen, die der Wahrheit immer näher kämen, die immer zutreffendere Darstellungen der objektiven Realität geben könnten. Popper widersprach damit den gängigen klassischen Thesen, die damals in Frankreich und Italien vorherrschten. In erster Linie aber geriet Popper mit den Vertretern des Wiener Kreises in Konflikt, denen im Gegensatz zur mühsamen Falsifizierbarkeit eine elegante Verifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium galt. Der Wiener Kreis vertrat einen logischen Empirismus, wonach die Wissenschaft aus einem System von kognitiv sinnvollen Aussagen bestehe, aus absolut sicheren und endgültig verifizierten, auch sprachlogisch durcherprobten Behauptungen17. Popper dagegen war sich sicher, dass mit dem Kriterium der Falsifizierbarkeit das klassische Induktionsproblem, das bereits von Hume aufgeworfen worden war, als überwunden gelten könne. Immer wieder, in den späteren Auflagen von 1959 bis 1968, betont Popper mit Nachdruck, dass kaum jemand mehr von beobachteten Tatsachen auf eine Theorie schlösse, ehe der gesamte Sachverhalt nicht sorgfältig falsifiziert worden sei. Jeder Erkenntniszuwachs sei letztlich nichts anderes als ein Schritt über die Stufe eines erkannten Irrtums hinaus, was bedeute, dass jeder Wissensfortschritt im Grunde eine Geschichte von Irrtümern offen lege. Doch schon seit dem Erscheinen der Erstausgabe seines Werks grenzte Popper sich stets unermüdlich vom logischen Neopositivismus ab und bekämpfte die Reduktion der empirischen Wissenschaften auf Protokolle und Sprachsysteme, die allein logisch verifiziert werden sollten. Er forderte kategorisch, dass man endlich aufhören solle, sich um die Worte und ihre Bedeutung zu kümmern, sondern sich stattdessen Gedanken um die kritisierbaren Theorien und deren Bewährung machen solle18. 17 Diese Definition geht auf Popper zurück: in Wirklichkeit waren die Positionen von Neurath, Carnap und Hempel wesentlich differenzierter und trugen immer auch sozialpsychologischen und gesellschaftspolitischen Aspekten des wissenschaftlichen Diskurses Rechnung. Vgl. dazu P. Parrini, Una filosofia senza dogmi: materiali per un bilancio dell’empirismo contemporaneo, il Mulino, Bologna, 1980. 18 K. Popper, Logik der Forschung, hrsg. von H. Keuth, Gesammelte Werke, Bd. 3, Mohr Siebeck, Tübingen, 2005/11. Aufl., Vorwort zur ersten englischen Ausgabe, 1959: »Die Sprachanalysten glauben, dass es keine echten philosophischen Probleme gibt, oder dass die Probleme der Philosophie, wenn es solche überhaupt gibt, Probleme des Sprachgebrauchs und Fragen über den Sinn oder die Bedeutung von Wörtern sind …« (S. XIX). Diese Position lehnte Popper entschieden ab, [denn] »man stand unter dem Eindruck, dass man Worte und ihre
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Auf der anderen Seite sah Popper sich im Gegensatz zu den Wissenschaftlern der Kopenhagener Physikergruppe und deren Festhalten an der Quantenmechanik, die jeden wissenschaftlichen Determinismus in Frage stellte, ebenso wie die Idee eines objektiven Realitätsprinzips und einer wissenschaftlichen Gradlinigkeit, wie sie hingegen von Einstein bis aufs äußerste verteidigt wurde.19 Das metaphysische Denkkonstrukt einer im wesentlichen unbegreifbaren Realität, wie es in Bohrs Komplementaritätsprinzip ausgedrückt wird, könnte, so fürchtete Popper, ein irrationales Abdriften vom herkömmlichen Konzept der empirischen Wissenschaften auslösen. Und dennoch, trotz der breit gefächerten Themen, die Popper behandelte, erschien sein Werk zurückhaltend, ja manchmal sogar unvollständig und lückenhaft, wenn man es an den vielen Diskursen misst, die Europa in jenen Jahren befruchteten. So fehlt tatsächlich jeglicher Hinweis auf den Ideenwandel, der sich in den Wissenschaften vollzogen hatte, auf die Bedeutung des historischen Kontexts der wissenschaftlichen Entdeckungen und dessen unleugbarer Wechselwirkung mit dem logisch-philosophischen Kontext seiner Begründung oder seiner Rechtfertigung. Letzteres war ein zentrales Thema, das damals begann, gleichermaßen Geschichtswissenschaftler, Soziologen, Philosophen und Wissenschaftler zu begeistern, die über die Thesen des logischen Empirismus hinausgehen wollten. Wie sehr das Thema damals in der Luft lag, wurde im Jahr 1935 klar, als das Hauptwerk von Ludwik Fleck, einem polnischen Arzt und Philosophen jüdischer Herkunft, erschien: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache20. Schon der Titel mutete wie eine Herausforderung an. Wie konnte Bedeutung oder Verwendungsweisen analysieren sollte, statt Ideen oder Begriffe; dass man Aussagen oder Sätze analysieren sollte, statt Gedanken oder Überzeugungen oder Urteile …« (ibidem). Im Vorwort zur dritten deutschen Auflage, 1968, unterstrich Popper allerdings: »Eine Annäherung an die Wahrheit ist möglich, […] sicheres Wissen ist uns versagt. Unser Wissen ist ein kritisches Raten; ein Netz von Hypothesen, ein Gewebe von Vermutungen. […] Diese Art, das Problem der Erkenntnistheorie zu betrachten, ermöglicht es uns, […] nicht nur wissenschaftliche Diskussionen, sondern auch wissenschaftliche Problemsituationen kritisch zu analysieren. Und das ist unerlässlich, wenn wir die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens verstehen wollen.« Ibidem, S. XXXIII – XXXIV. 19 Unter den zahlreichen Schriften zu diesem Thema seien vor allem auf Poppers Arbeiten im Gefolge der bahnbrechenden Logik der Forschung hingewiesen, etwa auf das dreiteilige Werk Die Quantentheorie und das Schisma der Physik (1956/57 konzipiert, 1982 veröffentlicht), Das offene Universum (1956/57 konzipiert, 1982 veröffentlicht), und Realismus und das Ziel der Wissenschaft (1956/57 konzipiert, 1983 veröffentlicht). Popper entwirft darin ein Propensionsmodell der Wahrscheinlichkeit, um den vermuteten objektiven Charakter der Realität gegen das rein statistische Modell der Quantenmechanik zu verteidigen. Auch die berühmte Unschärfe-Gleichung könne eher als Relation und Diffusionsmodell gelesen werden, und sei als solche wiederum durchaus »objektiv« und vor allem beherrschbar. 20 L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935), mit einer Einleitung hrsg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1980 (= STW 312, textidentisch mit der Erstausgabe von 1935 bei Benno Schwabe).
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denn eine wissenschaftliche Tatsache eine Entstehungsgeschichte und eine Entwicklung durchlaufen? Eine Tatsache war eine Tatsache, punktum. Doch stattdessen rekonstruierte Fleck am Beispiel des modernen Umgangs mit der Syphilis detailgerecht deren Geschichte von der beginnenden Renaissance bis zur Gegenwart. Dabei beleuchtete er die Änderungen, die dieses Krankheitsbild durch die Jahrhunderte erfahren hatte, und zeichnete präzise das Phänomen der vielen, auf einander folgenden Theorien nach, die, wie er nachwies, von unterschiedlichen Bedürfnissen geprägt waren: erst von der Astrologie, dann von den politischen und religiösen Überzeugungen, oder auch von der technologischen Instrumentalisierung der jeweiligen Zeitläufte. Durch das Aufdecken dieses historischen Werdegangs des heutigen Faktums, angefangen von der ersten Hypothese, wonach die Syphilis noch als »Strafe« aufgefasst wurde, bis zur Entdeckung der so genannten Wassermann-Reaktion, zeichnete Fleck eine völlig neue Art des wissenschaftlichen Denkens nach, die den historischen Kontext der wissenschaftlichen »Tatsache« hervorhob. Bei Popper und dem Wiener Kreis stand dagegen noch das Prinzip der Rechtfertigung oder der Begründung im Mittelpunkt, und zudem wurde von ihnen ein logisches Analysemodell verfochten. Bei der Entwicklung und Schöpfung von wissenschaftlicher Erkenntnis, so Fleck, seien die Daten nie und in keiner Weise von den Theorien zu trennen. Die Theorien wiederum seien zutiefst von der Denkweise, dem »Denkstil« der Epoche, das heißt von dem vorherrschenden »Denkkollektiv« geprägt, einem regelrechten zeitbezogenen Glaubenssystem. Die Entdeckung sei demgemäß vorderhand das Produkt einer Veränderung dieses sogenannten »Denkkollektivs« innerhalb einer Gesellschaft: »Deshalb ist das Erkennen kein individueller Prozess eines theoretischen Bewusstseins überhaupt; es ist Ergebnis sozialer Tätigkeit, da der jeweilige Erkenntnisbestand die einem Individuum gezogenen Grenzen überschreitet.«21 Die Untersuchung der historischen Entwicklung der Theorie zeigt tatsächlich, so Fleck, dass die Wissenschaften letztendlich das Produkt einer intellektuellen Arbeitsgemeinschaft sind. Niemals seien sie eine private, sondern immer eine öffentliche Angelegenheit. Daraus folgert Fleck, dass auch die aufgestellten Vernunftkriterien Kinder ihrer Zeit und des kulturellen Horizonts der Wissenschaftler seien. Jede Erkenntnis, schrieb Fleck, sei ein soziales Geschehen. Es gebe keinen Chemiker aus dem Mittelalter, der ein chemisches Prinzip verstehe, so wie es heute verstanden würde, und natürlich gelte das auch im umgekehrten Sinn. Und bezogen auf die Ideen über den Phosphor, die im 18. Jahrhundert zirkulierten, merkte er an, dass es derzeit gar keinen geeigneten Terminus gebe, der die Vorstellung des damaligen »Phosphor« wiedergeben könne: »Es gibt 21 L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, a.a.O, »Einführende Bemerkung über das Denkkollektiv. Die soziale Bedingtheit des Lernens«, S. 53 – 54.
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heute kein Wort in der Wissenschaft, mit dem dieser »Phosphor« wiederzugeben wäre.22 Die Epistemologie, die von den Vertretern eines abstrakten, logisch-philosophischen Modells erarbeitet worden war, halte den Tatsachenbeweisen und der historischen Analyse nicht stand, davon war Fleck überzeugt. Die Biologie habe ihn gelehrt, einen Sektor, der sich in Entwicklung befinde, immer geschichtswissenschaftlich zu untersuchen. Wer studiert denn etwa heute noch die Anatomie, schrieb Fleck, ohne die Embryologie zu studieren? Ebenso verhalte es sich mit jeder Erkenntnistheorie, die ohne geschichtliche und vergleichende Untersuchungen ein leeres Wortspiel bleibe, eine epistemologia imaginabilis23. Flecks Konzepten lagen die Arbeiten von Max Weber, Karl Mannheim, Lucien L¦vy-Bruhl, Georg Simmel und Wilhelm Wundt zugrunde. Von der Gestaltpsychologie übernahm Fleck zum Beispiel die Erkenntnis, dass eine Beobachtung ohne Berücksichtigung ihrer kulturellen Vorbedingungen von einem logischen und psychologischen Gesichtspunkt aus keinen Sinn mache. Obwohl Flecks Pionierarbeit die epistemologische Revolution, die bereits seit geraumer Zeit im Gange war, auf prägnante Art und Weise auf den Punkt brachte, setzte die Rezeption nur zögerlich ein und blieb lange auf einen engen Kreis beschränkt. Das Werk zirkulierte nur zwischen wenigen Fachgelehrten und wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder entdeckt. In den Nachkriegsjahren wurden Flecks Ideen zunehmend diskutiert und setzten sich mehr und mehr durch24, doch erst die Erwähnung im Vorwort von Thomas S. Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (1962)25 brachte den endgültigen Durchbruch und vollendete die epistemologische Revolution, die das traditionelle, positivistisch geprägte Wissenschaftsbild des 20. Jahrhundert für immer verändern sollte. 22 Ibidem, S. 171. Fleck führt viele weitere Beispiele an, vgl. dazu das Kapitel 5: »Über den Denkstil. Beispiele und Vergleichungen einiger Denkstile. Die Bereitschaft zu stilgemäßem Wahrnehmen. Alte und neue anatomische Beschreibungen und Abbildungen als Beweis, dass jedes Sehen ein stilgemäßes Sinn-Sehen ist und jede Abbildung ein Sinn-Bild« (ibidem, S. 169 – 190) 23 Ibidem, S. 186: »Es gibt kein anderes Sehen als das Sinn-Sehen und keine anderen Abbildungen als die Sinn-Bilder,« denn der Denkstil sei im Grunde nichts anderes als die »Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen und entsprechendes Verarbeiten des Wahrgenommenen«. (Ibidem, S.187). 24 Vgl. die Thesen von P. Rossi in der Einleitung zur italienischen Ausgabe der Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (it. Übers. 1983), wo Rossi für die späte Rezeption von Flecks Ideen nicht zuletzt die philosophischen Zirkel verantwortlich macht, die sich den großen Debatten der 1930er Jahre entzogen hätten. P. Rossi, »Ludwik Fleck e una rivoluzione imaginaria«, in L. Fleck, Genesi e sviluppo di un fatto scientifico, il Mulino, Bologna, 1983. 25 Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago, 1962, erw. Ausgabe 1970; dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. rev. und um das Postscriptum von 1969 ergänzte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1976.
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Ein zentraler Punkt in Kuhns Forschung ist das Thema der wissenschaftlichen Weiterentwicklung und der Veränderung der Wissenschaftsideen auf der Grundlage eines geschichtsanalytischen Modells, das sich von dem klassischen logisch-philosophischen Modell unterscheidet. Er identifizierte ohne zu zögern den Kontext der Entdeckung mit dem der Rechtfertigung. Es ist kein Zufall, dass er die Einleitung mit dem viel sagenden Titel Eine Rolle für die Geschichtsschreibung eröffnete. Und in der Tat standen das Modell der Wissenschaftsentwicklung, die in ihrem geschichtlichen Ablauf betrachtet wurde, sowie der Konflikt zwischen den verschiedenen, sich einander ablösenden Theorien unangefochten im Mittelpunkt seiner epistemologischen Betrachtungen. Diese feste Überzeugung sollte er auch in seinen späteren Werken wiederaufnehmen und vertiefen26. Dem vollkommen imaginären Konzept der Wissenschaftsentwicklung, wie sie von den Philosophen verstanden wurde, das heißt dem Konzept von Fortschritt als kontinuierlichem Anwachsen des Wissensstandes, stellte Kuhn ein Konzept der wissenschaftlichen Revolutionen gegenüber, die als Momente von Diskontinuität, also als Bruch mit der Tradition aufzufassen sind. Das allgemeine Weltbild ändere sich dementsprechend krisenhaft und diskontinuierlich, ebenso wie der Entwurf eines neuen Bildes in der Wissenschaft sprunghaft auftauche. Mit wissenschaftlichen Revolutionen verändern sich nach Kuhn nicht nur die Theorien, sondern auch das allgemeine Weltbild und die wissenschaftliche Praxis. Das führe dazu, dass sich selbst die Wahrnehmung der Wissenschaftler ändert: dieser von Kuhn so genannte »Gestaltwechsel« kennzeichnet einen plötzlicher Wechsel von einer zu einer anderen Wahrnehmung. »Die Zeichen auf dem Papier, die zunächst als Vogel angesehen wurden, werden nun als Antilope gesehen oder umgekehrt«, präzisierte Kuhn und verwendete einprägsame optische Illusionen, um den sprunghaften Umschwung der Wahrnehmung bei wissenschaftlichen Revolutionen zu veranschaulichen. Dabei bezog er sich indirekt auf Wittgensteins Philosophische Untersuchungen und auf die Gestaltpsychologie27. Die Wissenschaft sei eben kein logisches, kumulatives und kontinuierliches 26 Vgl. vor allem Thomas S. Kuhn, The Essential Tension. Selected Studies in Scientific Tradition and Change, Chicago, 1977; dt.: Die Entstehung des Neuen: Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1978. In diesem Werk behandelt Kuhn ausführlich die Autonomie historischen Forschens für die stichhaltige Entwicklung erkenntnistheoretischer Kriterien und verteidigt den allmählichen Werdegang wissenschaftsgeschichtlicher Überlegungen. 27 Berühmt ist die optische Illusion von Jastrow: Ente oder Kaninchen? Die Zeichnung kann in der Tat, je nach Blickfokus, doppelt »gesehen« werden. Genau schreibt Kuhn: »Wenn der Übergang abgeschlossen ist, hat die Fachwissenschaft ihr Anschauung über das Gebiet, ihre Methoden und ihre Ziele geändert …[…], die Zeichen auf dem Papier, die erst als Vogel gesehen wurden, werden jetzt als Antilope gesehen, oder umgekehrt.« Vgl. T.S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a. a. O., S. 98.
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Phänomen, sondern ein Produkt der Geschichte und eine soziale Konstruktion, die ihrem Wesen nach genau so diskontinuierlich und konflikthaltig sei. Die unterschiedlichen Theorien und Bilder der Wissenschaft würden miteinander konkurrieren und seien also »inkommensurabel«, es handele sich um eine ständige menschliche Annäherung an eine relative, und keinesfalls absolute, Idee von Wahrheit. Was denn nun an einer Aussage wahr oder falsch sei, so Kuhn, könne allein durch die Überprüfung der Aussage anhand von Tatsachen festgestellt werden, die jedoch ihrerseits stets zeitbedingt interpretiert werden.28 Entwicklungsgeschichtlich betrachtet, so führte Kuhn seine Überlegungen weiter, wechseln in der Wissenschaftsgeschichte verschiedene Phasen einander ab: auf eine so genannte Phase der »Normalwissenschaft«, in der sich starke Theorien durchsetzen und zu regelrechten »Paradigmen« transformieren, die zu großen Leistungen fähig seien, folge unvermeidlich ein »Paradigmenwechsel«, das heißt eine Periode außerordentlicher Forschung mit krisenhaften Momenten, in denen Forscher innerhalb des festgelegten Rahmens mit den Problemen nicht mehr zurecht kämen und gleichsam in einer wissenschaftlichen Revolution ein neues Paradigma schüfen. Wissenschaftliche Revolutionen könnten aber auch durch überraschende, nicht vorhersehbare Entdeckungen ausgelöst werden, wie im Fall der so genannten Revolution der Sauerstoffchemie von Lavoisier. Kuhn zufolge lasse sich zum Beispiel die Newtonsche Physik nicht mit Einsteins Relativitätstheorie in Bezug setzen, noch gebe es einen logischen Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild, von der Phlogistontheorie zur Sauerstoffchemie oder von den Molekülen zu den Wellen. Wenn man den wissenschaftlichen »Fortschritt« im traditionellen Sinn definieren wolle, dann müsse man, so Kuhn, die Evolution als zielgerichteten Prozess voraussetzen. Aber hat denn die Natur überhaupt einen Endzweck? »Jede Auffassung von der Natur, die mit dem Wachstum der Wissenschaft durch Beweis vereinbar ist, merkte Kuhn an, »ist auch mit der hier entwickelten evolutionären Anschauung von der Wissenschaft vereinbar. Da nun diese Anschauung auch mit einer genauen Beobachtung des wissenschaftlichen Lebens
28 T.S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a. a. O., S. 93: »Es gibt, so meine ich, nur diese beiden Möglichkeiten: entweder wird keine wissenschaftliche Theorie jemals mit einem Gegenbeispiel konfrontiert, oder alle Theorien sehen sich zu jeder Zeit Gegenbeispielen ausgesetzt …« und erst dann, so Kuhn, wird es möglich, »dass durch die Gegenüberstellung von Behauptung und Tatsache, und nur dadurch, unzweideutig über wahr und falsch entschieden werde. Die normale Wissenschaft muss sich fortgesetzt bemühen, Theorie und Tatsachen in bessere Übereinstimmung zu bringen, und diese Tätigkeit kann leicht als ein Prüfen oder als ein Suchen nach Bestätigung oder Falsifikation angesehen werden.«
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vereinbar ist, gibt es starke Argumente für ihre Verwendung bei dem Versuch, die Fülle der noch offen gebliebenen Probleme zu lösen.«29 Im Gefolge dieser Betrachtungen entwickelte sich eine überaus lebendige intellektuelle Debatte über die Grundlagen der Wissenschaft, die bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftsphilosophen stehen einander gegenüber, und der Ausgang der Auseinandersetzung ist nach wie vor offen. Von den Wissenschaftshistorikern wurde Kuhn zu Unrecht des Relativismus angeklagt: er habe irrationalistischem Gedankengut sowie einer neuen Form von Mystizismus den Weg bereitet, vor allem aber habe er der epistemologischen Anarchie Tür und Tor geöffnet, als er den Paradigmenwechsel und überhaupt die Definition von Wissenschaft in erster Linie historischen Gründen überantwortet habe30. In Wirklichkeit hatte Kuhn in seinem Buch nichts anderes festgestellt, als dass es schon seit geraumer Zeit kein absolutes Kriterium für die Gültigkeit wissenschaftlicher Theorien mehr gebe und dass es also keinen Sinn habe, weiterhin nach einer angeblich neutralen und allgemeinen Sprache zu suchen, die den Anspruch erhebe, rein deskriptiv und deutungsfrei zu sein. Heute hat sich in Forscherkreisen ganz allgemein die Idee durchgesetzt, die Wissenschaft sei ein Konflikt von Theorien und Bildern der Realität, die sich wohl kaum als Formen logischer Totalität von wahren Aussagen zusammenfassen ließen. Descartes antike These von der Einheit der Wissenschaften, auf der Grundlage eines gemeinsamen Forschungsmodells von Hypothesen und Beweisen, die ungeachtet der Herausbildung unterschiedlicher Fachsprachen bestehe, wurde später zum Beispiel von so renommierten Fachleuten wie Marc Bloch aufgegriffen und auf den neusten Stand gebracht. Nach Kuhn hat es sich nun endgültig erübrigt, das überholte Schema einer grundsätzlichen Trennung der Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften zu verteidigen. Die traditionelle Fragestellung des 19. Jahrhunderts, ob es sich bei der Geschichte
29 Ibidem, S. 185. 30 Vgl. die Verteidigung von Kuhns Überlegungen in J. Appleby, L. Hunt und M.C. Jacob, Telling the Truth about History, a. a. O., S. 165. Kuhn selbst hat sich gegen jede Form eines nihilistischen Relativismus stets verwahrt: eines ist die Haltung, die Existenz der Wahrheit zu leugnen, doch etwas ganz anderes ist die legitime Forderung von genau festgelegten, objekten, naturgegebenen und rationalen Rahmenbedingungen, nach denen die Suche nach der Wahrheit abzulaufen hat. An der Auseinandersetzung waren viele namhafte Persönlichkeiten beteiligt, so etwa R. Hanson, S. Toulmin, I. Lakatos und P.K. Feyerabend; vgl. dazu M. Hesse, Revolutions and Reconstructions in Philosophy of Science, Brighton, 1980. Hingewiesen sei auch vor allem auf Y. Elkana, A Programmatic Attempt at an Anthropology of Knowledge, in: Sciences and Cultures. Anthropological and Historical Studies of the Sciences, hrsg. von E. Mendelsohn und Y. Elkana, Dordrecht, 1981, S. 1 – 76; immer von Y. Elkana erschien in dt. Sprache, Anthropologie der Erkenntnis: die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1986.
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um eine »Wissenschaft« oder um einen Zweig der »Schönen Künste« handle, hat endgültig ihren Sinn verloren. Seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fällt also – übrigens ganz wie von Bloch vorhergesagt – die argumentative Verteidigung der geschichtlichen Erkenntnis im direkten Vergleich mit den anderen Disziplinen leichter. Es gibt keine eigens für die Naturwissenschaften beanspruchte absolute Wahrheit mehr. Jede Form von Erkenntnis wurzelt in der Eigenart und in der Fähigkeit des menschlichen Geistes. Nach der Theologie ist nun auch die Wissenschaft zur »Humanwissenschaft« geworden, d. h. zu einem Zweig des unbändigen menschlichen Forschungswillens. Im Licht dieser Betrachtungen müssten diejenigen, die sich mit der Geschichte der Aufklärung beschäftigen, ihr Augenmerk verstärkt auf die Arbeiten und die Ergebnisse der Wissenschaftshistoriker richten, die in den vergangenen Jahren veröffentlicht wurden. Diese Debatte hat nicht die Mauern zwischen dem Studium der Wissenschaftstheorien und den anderen Phänomenen der Kulturwissenschaften eingerissen und in der Folge dazu beigetragen, das Konzept von Wissenschaft selbst neu zu definieren31, sondern auch die begriffliche Definition der Wahrheit wurde den menschlichen Zielsetzungen und Möglichkeiten angepasst. Und vor allem wurden endlich die Vorbedingungen geschaffen, damit innerhalb des zwitterhaften Gedankengutes der Aufklärung zwischen Philosophie und Geschichte der Primat des historischen Kontextes und der geschichtlichen Methode die Oberhand gewinnen kann: nun ist also die Bühne frei für den endgültigen Auftritt des Kentauren. In der Tat fällt es uns heute sichtlich schwer, die reduktionistischen Folgerungen eines Ernst Cassirer über die Identität der Aufklärungsphilosophie mit dem »Paradigma der Newtonschen Physik« auf der Grundlage vom Rationalismus Kants zu teilen. Die historischen Studien über die Verbreitung von Newtons mechanistischem Weltbild in Europa haben gezeigt, welch entscheidende Rolle die sozialen, politischen und religiösen Bedingungen bei der Durchsetzung dieses Paradigmas spielten, aber eben auch, dass daneben noch andere Wissenschaftstheorien existierten32. Wenn man das historische Phänomen der wissenschaftlichen Revolution im Abendland in seinem Jahrhunderte andauernden Prozess analysiert und mit den Zielen und der Entwicklung der 31 Erwähnt sei nur die bahnbrechende Arbeit von Paolo Rossi über die Rolle von Francis Bacon und die Neudefinierung der Wissenschaften nach Bacon: Id., Francesco Bacone: dalla magia alla scienza, Laterza, Bari, 1957; vgl. auch das Stichwort von P. Rossi »Der Wissenschaftler«, in: R. Villari (Hrsg.), Der Mensch des Barock, Campus Verlag, Frankfurt/M., 1997, S. 264 – 295. 32 Vgl. M.C. Jacob, The Newtonians and the English Revolutions, Ithaca, 1976; V. Ferrone, Scienza, natura, religione: mondo newtoniano e cultura italiana nel primo Settecento, Napoli, 1982; (engl. Ausgabe: The Intellectual Roots of the Italian Enlightenment. Newtonian Science, Religion and Politics in the Early Eighteenth Century, Atlantic Highlands (New Jersey), 1995.
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geistigen Bewegung der Aufklärung vergleicht, lassen sich zwar Berührungspunkte erkennen, aber genauso Unterschiede und sogar wesentliche Brüche feststellen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts lassen sich entscheidende Prozesse verfolgen: es erfolgte die Institutionalisierung der modernen Wissenschaft und deren definitive Anerkennung als neue Erkenntnisform. Die Mechanismen der Ausbildung und Professionalisierung ihrer Protagonisten orientierten sich auf der Grundlage eines Korpsgeistes des Ancien R¦gime, der paradoxerweise zu ihrem Erfolg beitrug, obwohl er sozial und institutionell längst als überholt galt. Aus dem natural philosopher wurde der moderne scientist, als Muster dienten die privatistische Royal Society oder die ersten Dilettanten in Paris, die sich nach dem Vorbild der Acad¦mie des Sciences in prestigeträchtige und privilegierte Vertreter der corps savant verwandelten. Zum ersten Mal kam es zu einer wirklichen internationalen Wissenschaftskooperation33. Der so genannte »Triumph der Wissenschaften« nahm seinen Lauf: die Voraussetzungen für diesen Aufstieg wurden von der Gründung eines beeindruckenden akademischen Netzwerkes geschaffen, das zumeist von den Regierungen finanziert wurde. Die rasche Verbreitung von Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Journalen hielt die Öffentlichkeit auf dem Laufenden und förderte zugleich die Herausbildung eine spezifischen Sprache. Gemeinsame Gesten wie akademische Rituale oder die Ehrung hervorragender Wissenschaftler legten den Grundstein für die wachsende historische Identität der Wissenschaft, und so spektakuläre Errungenschaften wie die Erfindung des Heißluftballons durch die Brüder Montgolfier entwickelten sich die Wissenschaften allerorten zu einem grandiosen Phänomen la mode34. Nicht weniger Aufsehen erregte auch die chemische Revolution von Lavoisier und Priestley, Voltas Elektrizizätslehre, die von Lagrange eingeführte Formulierung der klassischen Mechanik und die Entdeckungen des Priesters, Philosophen und Universalwissenschaftlers Spallanzani. Allerdings verlief der Prozess nicht so gradlinig, wie es scheinen mag; der Triumphzug der Wissenschaften war durchaus auch ein Weg voll Licht und Schatten, der von Konflikten begleitet wurde und von heftigen Auseinandersetzungen gekennzeichnet war, und der nicht zuletzt am Selbstverständnis des modernen Wissenschaftlers rüttelte. Zum ersten Mal wurde die aus epistemologischer Sicht so bedeutsame Frage nach der Abgrenzung aufgeworfen. Was ist denn überhaupt »Wissenschaft«? Wem obliegt es, die Kriterien wissenschaftli33 Vgl. dazu V. Ferrone und P. Rossi, Lo scienzato nell’et moderna, Laterza, Roma-Bari, 1994; R. Hahn, The Anatomy of a Scientific Institution. The Paris Academy of Sciences 1666 – 1803, Berkeley, 1971. 34 Vgl. C.C. Gillispie, Science and Polity in France at the End of the Old Regime, Princeton, 1980; The Ferment of Knowledge. Studies in Historiography of Eighteenth-Century Science, hrsg. von G.S. Rousseau und R. Porter, Cambridge, 1980.
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cher Wahrheit aufzustellen? Wer ist denn ein Wissenschaftler und wie wird er ausgebildet? Wie kann man verhindern, dass sich das Wissen durch das mächtige System der Akademien mit ihren korporatistischen Privilegien, die noch aus dem Ancien R¦gime stammen, zu einem Mechanismus von Macht und Herrschaft entwickelt und zu einem Faktor von Unterdrückung statt von Emanzipation? All diese Fragen stellte sich zum Beispiel Brissot de Warville in seinem 1782 erschienenen Pamphlet mit dem wohl nicht zufällig gewählten Titel Trait¦ de la verit¦. Und er war ganz sicher nicht der einzige, der sich diese Fragen stellte. Die Debatten um diese Fragestellungen wurden immer hitziger geführt, angefacht von den Gazetten und Journalen des gesamten Kontinents, und es schien beinahe wie eine Neuauflage der alten Gegensätze zwischen d’Alembert und Diderot, oder zwischen Voltaire und Rousseau. Zu geradezu ungezügelten Zusammenstößen kam es in den 1780er Jahren zwischen Marat und Brissot, den Verfechtern der Thesen Mesmers, und Condorcet und Vicq d’Azyr, die dagegen am alten Paradigma der Messbarkeit im Geist von Galilei und Newton festhielten, also an der Triade numero, pondere et mensura. Die unterschiedlichen Positionen, den Beruf des Wissenschaftlers zu begreifen, die sich in dem gegensätzlichen vitalistischen und organistischen Naturverständnis nach Bacon und dem physisch-mathematischen Paradigma der newtonschen Mechanik gegenüberstehen, markierten, entgegen der verbreiteten Annahme, nicht etwa das Ende der Aufklärung. Ganz im Gegenteil brachten sie endgültig – wie wir noch detailliert sehen werden, wenn wir uns Robert Darntons Arbeiten über den Mesmerismus zuwenden35 – den Irrtum derjenigen ans Tageslicht, die noch heute die Aufklärung allein unter dem Aspekt eines wissenschaftlichen Paradigmas lesen wollen und dabei vor allem das alleinige Kriterium der Rationalität und der Abgrenzung in den Vordergrund rücken. Die Tatsache, dass die Aufklärung bei diesen Themen durchaus zwiegespalten war und zu unterschiedlichen Hypothesen über die Vorstellung von Wissenschaft gelangte, sollte zum Nachdenken anregen. Der Baum des Wissens, wie er zu Beginn der Encyclop¦die auf der Grundlage eines neuen aufklärerischen Humanismus dargestellt ist, und die Forderung eines freien und kritischen Gebrauchs der Vernunft in allen Bereichen, angefangen bei den zahlreichen Herausforderungen des historischen Kontextes, verraten bereits einen deutlichen Richtungswechsel im Denken. Die zentrale Position, die der Mensch, auch epistemologisch gesehen, darin einnimmt und die sich in allen seinen Fähigkeiten ausdrückt, Erkenntnis zu suchen, zu schöpfen und zu gewinnen, münden letztendlich in der Einsicht, dass es sich bei der Fährte, die von der Phänomenologie des Geistes ausgelöst und in allen möglichen nebulösen Varianten weiter 35 Siehe Abschnitt 6 der Zweiten Vorlesung: »Chronologie und Geographie einer kulturellen Revolution«, S. 193 – 221.
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verfolgt wurde, um einen Irrweg handelte, der zu einem besseren Verständnis, was die Aufklärung denn nun wirklich gewesen sei, denkbar wenig beitragen konnte. Womöglich hat sich auch das Bild des Kentauren, des aufklärerischen Zwitterwesens zwischen Philosophie und Geschichte, vom philosophischen Standpunkt aus inzwischen überlebt. Gewiss, in den Augen der Wissenschaftshistoriker, die an zuviel Realismus kranken und der Philologiekritik hörig sind, scheint sich die Aufklärung keineswegs vollständig mit jener Idee von Moderne zu decken, die sich auf der Basis des Theoriegebäudes von Newtons Principia Mathematica gebildet hatte. Das Bestreben, die Aufklärung, ungeachtet allen historischen Anachronismus, auf Gedeih und Verderb unauflöslich an ein ganz bestimmtes spezifisches Bild der modernen Wissenschaften und der darauf folgenden positivistischen Epoche knüpfen zu wollen, lässt sich zunächst auf Hegel, und später auf weitere Denker Hegelscher Prägung zurückführen36. Wenn überhaupt, handelte es sich bei dem Phänomen Aufklärung vielmehr, wie wir noch beweisen werden, um ein kompliziertes Laboratorium der Moderne, das mit den Fallstricken seines geschichtlichen Kontextes zu kämpfen hatte, um eine große kulturelle Neuorientierung – in etwa vergleichbar mit einem Kuhnschen »Paradigmenwechsel« – durchzusetzen. Es ging um die Revolution unserer Wahrnehmung der Welt und des Menschen, was sich unvermeidlich in zahlreichen und in sich widersprüchlichen Optionen manifestierte. In erster Linie trat das dramatische und faszinierende politisch-kulturelle Projekt an, den Menschen durch den Menschen emanzipieren zu wollen: es musste sich den historischen Herausforderungen stellen, die durch den geschichtlichen Kontext des Ancien R¦gime geprägt waren, und sich dagegen behaupten, um Europas Idee der Moderne zum Durchbruch zu verhelfen. Doch bevor wir uns dieser Frage stellen und alle notwendigen Aspekte vertiefen, ist es notwendig, einen weiteren Schritt zu vollziehen. Und zwar muss untersucht werden, welch prägende Kraft die geschichtswissenschaftliche Tradition ausgeübt hat, in der Generationen von Aufklärungsforschern herangewachsen sind und die sie dann weitergetragen haben. Dabei sollen sowohl die politischen und ideologischen Bedingungen, die den historischen Diskurs geprägt haben, als auch die sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts vollzogenen Veränderungen der Forschungsmethoden berücksichtigt werden.
36 Es kann gar nicht nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden, dass die Aufklärer selbst ein durchaus differenziertes Bild der Wissenschaften vertraten, das sich keineswegs völlig mit den späteren Entwicklungen des Positivismus deckt. Vgl. das Stichwort »Scienza« in: V. Ferrone / D. Roche (Hrsg.), L’Illuminismo. Dizionario storico, a. a. O., S. 332 ff.
III. Zum Paradigma Aufklärung – Französische Revolution: Zwischen Mythos des politischen Denkens und epistemologischer Blockade
Will man die Aufklärung neu überdenken und die epistemologischen Voraussetzungen für einen neuen Blick auf dieses epochale Phänomen schaffen, genügt es keineswegs, das Konzept des Kentauren, also des Zwitterzustandes der Aufklärung zwischen Philosophie und Geschichte, mit kritischem Geist zu überwinden, und zwar auf der Grundlage eines auf den neuesten Stand gebrachten Instrumentariums der Geschichtswissenschaft. Der Historiker kann sicherlich entscheidende Problemlösungen anbieten, doch nur unter der Voraussetzung, dass er das Augenmerk auf das komplexe Spiel richtet, das von der Logik des Kontextes vorgegeben wird, von den zahlreichen Wechselwirkungen mit den Mechanismen, die den Ereignissen erst ihre tiefere Bedeutung verleihen.1 Wohl bezieht der Historiker all seine Gedankengänge und Überlegungen selbstverständlich aus der Geschichte, ein kulturelles Phänomen ist aber, um mit Marc Bloch zu sprechen, nie völlig geklärt, wenn man vom historischen Augenblick absieht, in dem es sich ereignet: »Mit einem Wort gesagt: Eine geschichtliche Erscheinung kann immer nur im Rahmen der Untersuchung ihres Zeitpunktes befriedigend erklärt werden.«2 Der Blickwinkel kann also niemals ganz neutral sein. Bei der kritischen Deutung des Verhältnisses zwischen Gegenwart und Vergangenheit gilt es zum einen, der Falle eines billigen Anachronismus zu entgehen (omnia tempus habent), zum anderen ist es aber auch stets geboten, die übermächtige, kaum angefochtene Vorherrschaft der traditionellen Geschichtsdeutung in Frage zu stellen. Das bedeutet, dass der Historiker sich immer wieder fragen muss, ob die aktuellen Forschungshypothesen noch Gültigkeit besäßen oder ob ein bestehendes historiographisches Paradigma nicht 1 Entscheidende Impulse gingen zum Beispiel von der Theorie des Sprachspiels aus, wie es von Ludwig Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen (1936 – 1946, veröffentlicht 1953), formuliert wurde. Wittgensteins Überlegungen sind heute von der epistemologischen Neudefinierung des historischen Kontextes nicht mehr wegzudenken. Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, kritisch-genetische Edition, hrsg. von Joachim Schulte, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Frankfurt/M., 2001. 2 M. Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, a. a. O., S. 49.
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neuen Erkenntnissen angepasst und also verändert werden müsse. Ein solch außerordentliches Paradigma beherrscht zu großen Teilen bis heute die internationale Debatte zur Aufklärungsforschung, und zwar das Paradigma über den als erwiesen geltenden Zusammenhang zwischen Aufklärung und Französischer Revolution. Die Aufklärung wird in diesem Fall vor allem als Hintergrund und Denkschmiede der Französischen Revolution begriffen, wodurch im Grunde verhindert wird, dass die geistige Leistung der Aufklärung als eigenständiges und spezifisches Phänomen erforscht wird. Es muss vorausgeschickt werden, dass allen Historikern im Grunde stets bewusst war, dass diese offenkundig teleologische Vorgehensweise, die versucht, die Vergangenheit von ihren zukünftigen Entwicklungen her zu verstehen, im Sinn der verantwortungsvollen Geschichtswissenschaft nicht ganz rechtens war. Trotzdem wurde kaum etwas unternommen, um dieses Paradigma gründlich in Zweifel zu ziehen. Zwar hatte schon Droysen und viele weitere Historiker nach ihm vor dem Mythos des Ursprungs gewarnt, dem »Dämon« des Ursprungsdenkens, wie Bloch diese gefährliche Falle nannte3. Doch bei aller Kritik und bei allen nachdrücklichen Hinweisen auf die Gefahr, die man lief, wenn man die Logik des Kontextes nicht respektiere, konnte dieses Paradigma bis heute nicht entkräftet werden und hält sich nach wie vor. Ganz so, als gälten für die Französische Revolution nicht die gleichen Kriterien, werden bis heute für dieses Ereignis andere Maßstäbe angelegt als für andere wesentliche Fragestellungen in der Geschichtsschreibung. Das Paradigma des ursächlichen Zusammenhanges zwischen Aufklärung und Französischer Revolution verwandelte sich schon früh in eine unerschütterliche geschichtswissenschaftliche Tradition und bald darauf in einen festen 3 Die kritische Haltung von Droysen, dem Historismus verpflichtet, bemängelte vor allem, dass eine teleologische Vorgangsweise das korrekte Verstehen eines historischen Ereignisses behindern könnte; Marc Bloch hingegen fürchtete um die Klarsicht, die für das erklärende Begreifen unabdingbar sei. So schrieb Droysen in seinem Grundriss der Historik, a. a. O., § 37: »Weder die Kritik sucht, noch die Interpretation fordert die Anfänge. In der sittlichen Welt ist nichts unvermittelt. Die historische Forschung will nicht erklären, d. h. aus dem Früheren das Spätere, aus Gesetzen die Erscheinungen als notwendig, als bloße Wirkung und Entwicklungen ableiten. Läge die logische Notwendigkeit des Späteren in dem Früheren, so wäre statt der sittlichen Welt ein Analogon der ewigen Materie und des Stoffwechsels […] Das Wesen der Interpretation ist, in den vergangenen Geschehnissen Wirklichkeiten mit der ganzen Fülle von Bedingnissen, die ihre Verwirklichung und Wirklichkeit forderte, zu sehen.« Marc Bloch warnte in seiner Apologie der Geschichtswissenschaft (a. a. O., S. 43) ebenso ernst vor der besessenen »Suche nach den Ursprüngen« und geißelte die fixe Idee einiger Historiker, die Erklärung der Gegenwart in einer nebelhaften Vergangenheit suchen zu wollen, als »Stammesgötzen der Historiker«. Als konkretes, nicht nachahmenswertes Beispiel verweist er auf die Ausführungen von Hippolyte Taine Les origines de la France contemporaine (1876 – 1893), dt.: Die Entstehung des modernen Frankreich, hrsg. von Hans Eberhard Friedrich, aus dem Französischen von Leopold Katscher, Verlag Johannes G. Hoof in Warendorf, 2005 [Auswahl, Wiederabdruck der Ausgabe von 1954].
Zum Paradigma Aufklärung – Französische Revolution
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Bestandteil des abendländischen Geschichtsbewusstseins, dessen Entstehungsprozess übrigens ebenso noch der detaillierten Untersuchung harrt. In Wirklichkeit steckt hinter der zähen Langlebigkeit dieses Paradigmas mitnichten eine neutrale, wenn auch einnehmende Forschungshypothese. Auf dem Spiel standen und stehen vielmehr heute noch so heikle Themen wie das Selbstverständnis des revolutionär-republikanischen Frankreichs als Grundlage der modernen nationalen Identität: wollte man am politischen Mythos der Liquidierung des Ancien R¦gime kratzen, könnte das fatale Folgen für die politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Wurzeln von fast allen bedeutenden Emanzipationsbewegungen des modernen republikanischen und demokratischen Gesamteuropa haben. Es steht außer Frage, dass die Französische Revolution als das epochale Ereignis, das sie zweifellos darstellt, sehr bald schon als der Dreh- und Angelpunkt gesehen wurde, welcher die europäische Geschichte radikal verändern sollte. Und wie ein gewaltiges Magnetfeld zog sie alles Geschehen vorher und nachher in ihren starken Sog und führte zu einer völlig neu definierten Auffassung der Ereignisse und ihrer Protagonisten. Die Bewegung der Aufklärung konnte losgelöst von der Revolution gar nicht gedacht werden, und dementsprechend bestand kaum eine Chance, sie als besonderes und autonomes historisches Phänomen in ihrer ursprünglich kosmopolitischen europäischen Ausrichtung zu verstehen. Und sie bekam eine derartige Chance tatsächlich bis heute nicht. Alles nahm seinen Anfang mit Voltaires und Rousseaus panth¦onisation, die respektive im Juli 1791 und im Oktober 1794 stattfanden. Diese grandiosen Zeremonien der Überführung unter dem Beifall jubelnder Volksmassen waren ein gezielt inszeniertes, überaus wichtiges Spektakel innerhalb der Propaganda des politischen und ideologischen Kampfes in Frankreich und im Ausland und verankerten vor den Augen der Welt für immer das Bild der philosophes als Väter der Revolution. Bei aller Unversöhnlichkeit zwischen den Parteien, waren sich sowohl Reaktionäre wie Revolutionäre paradoxerweise doch immer darin einig, die philosophes und die Entstehung der Französischen Revolution zusammenzudenken4. In den darauf folgenden Jahren wurden anlässlich von Gedenk- und Jahrestagen, Einweihungen von Monumenten, politischen Ritualen und Zerimonien vor großer Kulisse fast schon zwanghaft je nach Blickwinkel immer wieder unauslöschliche Hasstiraden oder ehrlich empfundene Dankesreden verlautbart.5 4 Vgl. dazu das Stichwort »LumiÀres« von B. Baczko in: Dictionnaire critique de la R¦volution francaise, hrsg. von F. Furet und M. Ozouf, Paris, 1988; dt.: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, 2 Bde, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1996. 5 Vgl. dazu G. Benrekassa, J. Biou, M. Delon, J.M. Goumelot, J. Sgard und E. Walter, Le premier centenaire de la mort de Voltaire et de Rousseau: significations d’une comm¦moration, in: »Revue d’Histoire Litt¦raire de la France«, LXXIX (1979), S. 265 ff.
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Mit der Dritten Republik stieg das Paradigma Aufklärung-Revolution zu ungeahnten Höhen auf, es kam ihm beinahe die Bedeutung einer quasi sakralen, Identität stiftenden Ideologie zu. Diese Betrachtungsweise wurde von einer militanten, staatstragenden Geschichtswissenschaft genährt, wie die DreyfusAffäre nur zu deutlich zeigte, sie führte jedoch letztlich zur Herausbildung eine wesentlichen Komponente im Sinn der neuen zivilen Religion eines säkularisierten, bürgerlichen und republikanischen Vaterlandes.6 Der Habitus einer sich rasch verfestigenden Ausweitung des politischen und ideologischen Gebrauchs des Paradigmas machte sich übrigens schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts breit, samt dem bewährten Instrumentarium von unkritischen Apologien und summarischen Urteilen ohne jede Möglichkeit auf Appell und Einspruch. Dazu konnte man sich die Entstehung einer prestigeträchtigen und bedeutenden Geschichtswissenschaft zunutze machen, denn zu diesem Thema versuchten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Frankreich alle großen Geister innerhalb und außerhalb der akademischen Welt. Berühmte Namen wie Madame de Stael, Constant, Chateaubriand, Comte, D¦sir¦ Nizard, Sainte-Beuve bis hin zu Villemains Untersuchungen und den polemischen Auseinandersetzungen zwischen Ferdinand BrunetiÀre und Gustave Lanson: sie alle beschäftigten sich gründlich und tief schürfend mit der Phänomen der lumiÀres als Nährboden der Revolution7 und lieferten teils aberwitzige, teils scharfsinnige Analysen. Von den wahnhaften Ermittlungen zu den angeblich verschwörerischen Komplotten und freimaurerischen Umtrieben als Ursache und Ursprung der Revolution, die laut Barruel direkt auf die Beteiligung der verhassten philosophes zurückzuführen sei, ging man mit Taine über zu den anspruchsvollen Analysen über die ideologischen Ursprünge des abstrakten und antihistorischen esprit classique, der durch Descartes, Voltaire, Rousseau verkörpert worden sei und an dessen bitteren, aber unausweichlichen, tragischen Ende Robespierre und der Terror gestanden hätten. Und weiter ging es mit den Arbeiten Mornets zu den intellektuellen Ursprüngen des revolutionären Gedankens, bis schließlich, zum Anlass der Zweihundertjahrfeiern der Revolution im Jahr 1989, Roger Chartiers Standardwerk zu den geistigen und kulturellen Ursprüngen der Französischen Revolution erschien.8 Die ungebrochene Macht des fraglichen Paradigmas hat im Laufe der Zeit keinen Rost angesetzt, sondern im Gegenteil zahlreiche Ver-
6 Vgl. A. Compagnon, La TroisiÀme R¦publique des lettres. De Flaubert Proust, Paris, 1983; M. Agulhon, Marianne au pouvoir. L’imagerie et le symbolique r¦publicaine de 1880 1914, Paris, 1989. 7 Vgl. G. Ricuperati, Le categorie di periodizzazione e il Settecento. Per una introduzione storiografica, in: »Studi Settecenteschi«, XIV (1994), S. 9 – 106). 8 Zur kritischen Aufarbeitung der verschiedenen Ansätze vgl. V. Ferrone und D. Roche, L’illuminismo nella cultura contemporanea. Storia e storiografia, a. a. O.
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wandlungen durchlaufen und ist dennoch immer noch nicht voll ausgeschöpft – ein wahres Mysterium. Roger Chartier hat, wohl mit einem zwinkernden Auge, sogar die Hypothese aufgestellt, dass der geschichtswissenschaftliche Diskurs der Aufklärung, nimmt man ihn genauer unter die Lupe, von der Revolution erfunden hätte sein können, um sich einer adligen Herkunft rühmen zu können. Mit wiedergefundener Ernsthaftigkeit wies er dann aber redlich auf das ungelöste Problem hin, mit dem man sich seit Mornets Origines intellectuelles de la R¦volution francaise nolens volens auseinanderzusetzen hatte. Es gibt nun einmal keine Aufarbeitung eines historischen Problems außerhalb des geschichtswissenschaftlichen Diskurses, der sich um das Ereignis entwickelt hat. Und seit Mornet in den Ideen und Debatten der Aufklärung die geistige Wurzel der Französischen Revolution erkannt haben will, müsse diese These, so Chartier, von den Historikern sowohl aufgenommen als auch kritisch hinterfragt werden, als Erbe und zugleich als Herausforderung zu weiteren Nachforschungen.9 In Wirklichkeit sollte man vielleicht zunächst genauer die Licht-, jedoch auch die Schattenseiten dieses altehrwürdigen Paradigmas in Augenschein nehmen, bevor man mit aller Entschiedenheit nach neuen Wegen sucht. Der postulierte Zusammenhang zwischen der Aufklärung und der Französischen Revolution ist ja nicht aus der Luft gegriffen, sondern hat unverzichtbare Einsichten freigelegt. Es gilt also, den erreichten Forschungsstand der Geschichtswissenschaften, hinter den man nicht zurückfallen darf, sorgfältig zu dokumentieren, aber auch dessen Grenzen zuzugeben, die sich nicht mehr leugnen lassen. Das alte Paradigma kann durchaus auch heute noch mit Gewinn aufgegriffen werden, wie die Arbeiten des renommierten Aufklärungsforschers Robert Darnton beweisen.10 Für seine schwerpunktmäßige Untersuchung der Mechanismen, die im Abendland zur Entwicklung und Verbreitung einer revolutionären Mentalität geführt haben, zieht Darnton erneut das bewusste Paradigma hinzu, ebenso für seine interessanten Überlegungen über ein Phänomen von enormer Bedeutung, nämlich die Entstehung moderner Formen von »intellektueller Herrschaft« in den Händen von nur kleinen Eliten, die um die Tragweite historischer Prozesse wissen und also über ein großes Machtpotential verfügen. Diese Hypothese wurde erstmals bereits 1790 von Edmund Burke in dessen berühmtem Werk Reflections on the Revolution in France formuliert, das schon nach wenigen Jahren zu einem regelrechten europäischen Bestseller avancierte. Burke wies den philosophes voller Groll und nicht ohne guten Grund die direkte 9 R. Chartier, Les origines culturelles de la R¦volution franÅaise (1990), dt.: Die kulturellen Ursprünge der französischen Revolution, Campus Verlag, Frankfurt/M., 1995. 10 Vgl. R. Darnton, The Vorbidden Best-Sellers of Pre-Revolutionary France, Norton, New York, 1995. Dazu auch The Darnton Debate. Books and Revolution in the Eighteenth Century, hrsg. von H.T. Mason, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Bd. 359, Oxford, 1998.
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Verantwortung für die Umwälzung der alten politischen und religiösen Ordnung zu, und zwar durch eine wissentliche Manipulation der entstehenden öffentlichen Meinung. Laut Burke beschränkte sich das historische Phänomen auf die Pariser Kreise, und er nahm vor allem die besondere gesellschaftliche Rolle der Parteigänger von Voltaire und Diderot ins Visier. Diese »französischen, politisierenden Literaten« seien, so Burke, tatsächlich zu einer gefährlichen und arroganten Gemeinde herangewachsen, woran die unglückselige Kulturpolitik der damaligen Zeit nicht unschuldig war. Die alte, im16. Jahrhundert entstandene »Gelehrtenrepublik«, die noch privater Natur war, hatte sich unter dem Druck der absoluten Monarchie in eine gut gerüstete Körperschaft des Ancien R¦gime verwandelt. Das weit verzweigte System von Akademien genoss staatliche Privilegien und allgemeine Anerkennung, und dank der zu Richelieus Zeiten eingeführten Rentenzahlungen auch noch eine grundsätzliche Autonomie11. Von da an entwickelte sich die Analyse des Wirkens und der Ideen der philosophes, mit ihren führenden Köpfen Voltaire und Rousseau, zur id¦e fixe aller geschichtswissenschaftlichen Forschungen zum Thema. Die Vorstellung einer intellektuellen Bewegung von Literaten und Philosophen, die der politischen Gesellschaft zur Seite gestellt war, diese dann ersetzte und mit ihrer abstrakten und vollkommen literarischen Mentalität einen fürchterlichen Kurzschluss auslöste, der sich dann in der Revolution entlud, findet sich, mit unterschiedlicher Argumentation, bei Guizot, Tocqueville, Taine und anderen Gelehrten. Im Zug dieser zunehmenden Kriminalisierung der postulierten geistigen Rädelsführerschaft stieg der Preis, der an die historische Wahrheit zu entrichten war, immer höher, je mehr sich der Konflikt zuspitzte. Durch den Zerrspiegel des politischen Mythos von der großen Revolution und der Entfesselung konträrer Ideologien wurde die eigentlich großartige Bewegung der europäischen Aufklärung, die sich durch Reformbestrebungen und kosmopolitische Berufung auszeichnete, auf ein spezifisches und nationales, rein französisches Ereignis zurechtgestutzt. Auf dreiste, aber nachvollziehbare Art und Weise wurde die unumstrittene Vorrangstellung, die Paris in der kulturellen Vorstellung des 18. Jahrhunderts in Europa genoss, nonchalant auf ganz Frankreich ausgedehnt. Mit anderen Worten, die Aufklärung wurde zum französischen Phänomen erklärt, also sozusagen »französisiert«. Als tragische Nebenwirkung dieser Instrumentalisierung der Aufklärung seitens der Grande Nation, die nunmehr Ideen wie die Republik, die Demokratie und Wertvorstellungen, wie sie von Voltaire und Rousseau propagiert worden waren, mit Waffengewalt exportieren wollte, geriet die Bedeutung 11 Vgl. E. Burke, Reflections on the Revolution in France (1790), dt.: Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, (übers. von Friedrich Gentz, 1793), Suhrkamp, Frankurt/M., 1969.
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der aufklärerischen Zirkel im restlichen Europa beinahe in Vergessenheit. Die entscheidende Rolle der Aufklärer im europäischen Geistesleben des 18. Jahrhunderts, ihre aktive Teilnahme am Geschehen in Städten wie Neapel, Mailand, Madrid, Berlin, St. Petersburg, Wien, London und Edinburgh, wurde in den Hintergrund gedrängt und kaum noch wahrgenommen. Nach Napoleon und den blutigen Freiheitskriegen des kaiserlichen Österreich und der alten Staaten des inzwischen untergegangenen Reichs wurden die Epigonen der prestigeträchtigen aufklärerischen Tradition in ganz Europa, angefangen bei Jovellanos in Spanien, über Beccaria in Italien und Lessing in Deutschland bis hin zu Radisˇcˇev in Russland, nur noch als Lakaien der französischen Invasoren gesehen, als vaterlandslose Gesellen ante litteram, auf jeden Fall als außenstehender Fremdkörper, dem der aufkommende politische und geistige Nationalismus fremd war. Zu den bezeichnenden Folgen der Revolution, und also von Bedeutung für die vielfältigen Formen, die das Paradigma durch die Jahrhunderte angenommen hat, zählt auch die parallel beginnende Vereinnahmung der Aufklärung für »nationale Zwecke« auf geschichtswissenschaftlicher Ebene. Ganze Bereiche der europäischen Geschichtswissenschaft der Restaurationszeit begannen, die spezifischen historischen Ereignisse der Aufklärung auf ihren nationalen Charakter hin zu untersuchen, zumeist ohne böswillige Absicht, ganz im Gegenteil, sondern mit dem Ziel, auf keinen Fall hinter die einmal gewonnenen Errungenschaften zurückzufallen. Man wollte vielmehr die Werte von Freiheit und Toleranz des 18. Jahrhunderts in positivem Sinn »überwinden« und sie dem moderaten Liberalismus anverwandeln, um eine Synthese zwischen dem Erbe der Aufklärung und dem heraufziehenden Zeitalter der großen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen zu versuchen. Es war übrigens Hegel, der diesen Weg vorzeichnete, als er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive als erster die klare Trennung zwischen dem ursprünglich antichristlichen und politisch radikalen Charakter der lumiÀres und dem eher moderaten und religiös orientierten Grundzug der Aufklärung vornahm. In Deutschland setzte sich diese Sichtweise vor allem nach Bismarck durch, als man es für nötig befand, ein neues nationales Geschichtsbewusstsein zu konstruieren. Dieser Ansatz lässt sich bei Troeltsch und Dilthey verfolgen, vor allem aber in dem Werk Weltbürgertum und Nationalstaat (1908) von Friedrich Meinecke, wo die Aufklärung zur noblen, jedoch unvollendet gebliebenen Vorstufe für die Entstehung des Historismus gedeutet wird. Allerdings sei ihr geistiges Vermächtnis auch als dialektisch unabdingbare Voraussetzung für das grandiose Gedankengebäude des Historismus zu sehen, laut Meinecke einer der Höhe-
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punkte deutscher Kultur, der in Luther und der Reformation ihre Wurzeln hätte.12 Eine ähnliche Position vertreten anfangs des 20. Jahrhunderts in Italien die beiden bedeutendsten Vertreter des lokalen Historismus, Benedetto Croce und Giovanni Gentile: auch sie unterscheiden die abstrakten, jedoch um so gefährlicheren Gedankenspiele der französischen philosophes vom konkreten und moderaten Reformprogramm der italienischen Aufklärer.13 Mehr als verwunderlich ist jedoch die Langlebigkeit jener frühen Versuche, die Bewegung der Aufklärung für nationale Ideen einzuspannen, was in durchaus anspruchsvollen und nicht immer leicht zu durchschauenden Anläufen in der angelsächsischen Geschichtsschreibung und in Deutschland immer wieder versucht wurde, selbst noch vor wenigen Jahren. Ich beziehe mich auf das Lexikon der Aufklärung, das 1995 in München erschien, sowie auf das Werk The Enlightenment in National Context, das 1981 in Cambridge veröffentlicht wurde, wo die Tendenz, die Aufklärung vorzugsweise in ihrer nationalen, statt in ihrer kosmopolitischen Dimension zu untersuchen, fröhliche Urstände feiert. Zu allem Überfluss wird die zweifelhafte, eigentlich längst obsolete These von J. Pocock und P. Higonnet auch noch vehement verteidigt.14 Natürlich blieb die polemische Resonanz darauf nicht aus. Es ist jedoch ein beunruhigendes Indiz dafür, dass die gefährliche nationalistische Geschichtswissenschaft, die in der Vergangenheit soviel Unheil angerichtet hat, immer noch nicht ganz überwunden ist. Ganz im Gegenteil. In der aktuellen Verkleidung mit all ihren Surrogaten, die sich indirekt aus dem problematischen Paradigma Aufklärung-Revolution ableiten lassen, wird dieses unverhohlen nationalistische Konstrukt für weitere Konfrontation sorgen, denn angesichts der steigenden Spannungen im Zuge der Globalisierung und unserem wachsenden Unbehagen davor werden die verunsicherten Gemeinschaften mehr denn je innerhalb ihrer Geschichte nach Anhaltspunkten für die Stärkung und Absicherung der jeweiligen nationalen Identität suchen. Und das, wo doch die ersten leisen Zweifel an der Wahrhaftigkeit und dem Nutzen des Paradigmas Aufklärung-Revolution bereits am Anfang des 19. 12 Vgl. V. Ferrone und D. Roche, L’illuminismo nella cultura contemporanea, a. a. O., S. 50 ff. Zu diesem Thema sei, neben dem bereits genannten Werk Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, (F. Meinecke, Gesamtausgabe, Bd. 5, München, 1962) auch auf Meineckes Essay über Die Entstehung des Historismus von 1936 (Gesamtausgabe, Bd. 3, München,1959) hingewiesen. 13 Vgl. von Benedetto Croce die Discorsi di varia filosofia (Laterza, Bari, 1945) und vor allem das Werk La letteratura italiana del Settecento (Laterza, Bari, 1949). 14 Vgl. die Beiträge dieser beiden Autoren in L’Illuminismo. Dizionario storico, hrsg. von V. Ferrone und D. Roche, a. a. O., jeweils S. 478 ff. und S. 498 ff. Einen guten Einblick in die polemischen Auseinandersetzungen innerhalb der Historiographie zum Thema der nationalen Vereinnahmung der Aufklärung bietet J. Robertson, The Case for the Enlightenment. Scotland and Naples 1680 – 1760, Cambridge, 2005, vgl. vor allem S. 27 ff.
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Jahrhunderts gerade in Frankreich aufkeimten. Es waren allerdings auch nicht mehr als wirklich nur sehr leise Zweifel: Madame de Stael zum Beispiel zögerte in ihrem Werk De la litt¦rature consider¦e dans ses rapports avec les institution sociales nicht einen Augenblick, die Revolution als tödliche Gefahr für die Aufklärung und für deren besseres Verständnis zu benennen. Sie sah in der Revolution eine riskante Unterbrechung eines großen und unabhängigen Emanzipationsprojektes, das seit je eigentlich nur den Dichtern und Denkern anvertraut gewesen sei und das auch hätte bleiben müssen. Viele Vertreter der moderaten und liberalen europäischen Geschichtsschreibung hatten, wenn auch zwischen den Zeilen und ohne je neue Arbeitshypothesen zu formulieren, die Vorstellung im Hinterkopf, die Revolution sei keineswegs die politische Folge der Aufklärung, sondern eher die unliebsame Unterbrechung ihrer Reformentwürfe gewesen. Was bezweckt letztlich der Versuch, die Ereignisse des Jahres 1789 stets von denen im Jahr 1793 zu scheiden, wenn nicht das Bemühen, die Zusammenhänge zwischen Voltaires Gedankenwelt und der Logik des Terrors klar voneinander abzuheben? Dabei ging und geht es nicht so sehr um den Versuch, die geistige und moralische Verantwortung für die Auswüchse der Revolution auf indirekte Art und Weise von den philosophes abzuwälzen, sondern vor allem um die klare Aussage, dass das eine keine Rückschlüsse auf das andere erlaube. In Italien beschäftigte sich Benedetto Croce mit der kategorialen Autonomie der Aufklärung und befand, dass die Französische Revolution zugleich »der Triumph und die Katastrophe der Aufklärung« gewesen sei, und ebenso sei es nach wie vor die Französische Revolution, die für die »Katastrophe und die Katharsis« der historiographischen Aufarbeitung der Aufklärung verwantwortlich gemacht werden müsse.15 In Deutschland dagegen war es zunächst vor allem Nietzsche, der den gewollt ideologischen Charakter des Paradigmas erkannte und dessen historische Funktion als regelrechte epistemologische Blockade aufzeigte. Diese These wurde von einem so bedeutenden Historiker wie Ernst Troeltsch wieder aufgenommen, und zwar in dem berühmten Essay Die Aufklärung (1897), in dem Troeltsch die volle Autonomie der geschichtlichen Welt der Aufklärung vertrat und in deren Wesen er die eigentliche Grundlage der abendländische Moderne verankert sah. Auch Diltheys Betrachtungen über den Epochenbegriff verliehen diesen Forschungshypothesen Nachdruck. Dazu kam noch die Notwendigkeit der Historiker, für ihre jeweiligen Deutungen der Vergangenheit die sorgfältige historische Kontextualisierung auch des geistigen Zeitfensters genau im Blick zu 15 B. Croce, Teoria e storia della storiografia (1917), edizione nazionale delle opere di B. Croce, a cura di E. Massimilla e T. Tagliaferri, con una nota al testo di F. Tessitore, 2 voll., Bibliopolis, Napoli, 2007; dt.: Zur Theorie und Geschichte der Historiographie (übers. von E. Pizo), ursprünglich bereits 1915 bei Mohr, Tübingen, erschienen; letzte Ausgabe Mohr, Tübingen, 1930.
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haben, was die Beschäftigung mit weltanschaulichen Fragen unumgänglich macht. In Frankreich wiederum war es in erster Linie Michel Foucault, der das Paradigma des Zusammenhanges zwischen Aufklärung und Revolution vehement angriff. Foucault trat nicht durch Zufall in Nietzsches Fußstapfen und forderte, man müsse sich eines politischen Mythos entledigen, der mittlerweile die Forschung behindere16. Foucaults Polemik blieb jedoch ohne große Resonanz. Das ganze 20. Jahrhundert kann zwar mit vielen bedeutenden Beiträgen von namhaften europäischen und amerikanischen Historikern aufwarten, die den besonderen Eigenheiten der Aufklärung Gerechtigkeit widerfahren lassen wollten, man denke nur an die Arbeiten und Untersuchungen von C.L. Becker, P. Hazard, F. Venturi, P. Gay, J. Starobinski, R. Mauzi oder A. Dupront, doch nichtsdestotrotz ist die quasi magnetische Anziehungskraft des Paradigmas auch heute noch unvermindert stark. Zu stark. Zwar hat sich mittlerweile parallel zur kaum noch zu überblickenden Flut an Veröffentlichungen zur Aufklärung auch eine bedeutende Geschichtsschreibung zur Französischen Revolution entwickelt, die sich zunehmend auch anderen, nicht weniger einflussreichen geistigen »Ursprüngen« der Revolution zugewandt hat, wie zum Beispiel den religiösen Debatten, und die endlich die besondere Eigendynamik des revolutionären Prozesses unter die Lupe nimmt.17 Doch der politische Mythos ist nach wie vor nicht aufzubrechen. Die panth¦onisation der philosophes, die Vorstellung, in den Denkern der Aufklärung die Väter der Revolution zu sehen, ist stets im Hintergrund präsent, sie gehört zu unserer gemeinsamen Sinngebung durch die Geschichtswissenschaft, sie prägt unsere Art und Weise, die Geschichte des Abendlandes zu denken18. Der Weg, den die zukünftige Aufklärungsforschung gehen soll und muss, ist dagegen ein anderer : fern von abstrakter Geschichtsphilosophie, fern von jeglicher Beeinflussung durch neo-nationalistische Geschichtswissenschaft und frei vom ideologischen Zwangskorsett revolutionärer Historiographie. Stattdessen sollte sie in den Prozeduren zur Erkenntnisgewinnung auf das delikate Gleichgewicht zwischen Blickwinkel und Beweisführung achten, und sorgsam zwischen dem Historiker als Subjekt, der die Vergangenheit beobachtet und 16 Vgl. den Essay »La chimÀre de l’origine«. Foucault, les LumiÀres et la R¦volution, in: R. Chartier, Au bord de la falaise, a. a. O., S. 132 ff. 17 Vgl. D.K. Van Kley, The Religious Origins of the French Revolution: From Calvin to the Civil Consitution 1560 – 1791, Yale, 1996; L. Hunt, Politics, Culture and Class in the French Revolution, Berkeley, 1984; dt.: Symbole der Macht. Macht der Symbole: Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur (übers. von Michael Bischoff), S. Fischer, Frankfurt/M., 1989. 18 Zum Thema der politischen Implikationen historiographischer Paradigmen vgl. F. Furet, La R¦volution en d¦bat, Gallimard, Paris, 1999.
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über sie nachdenkt, und der objektiven und nachvollziehbaren Wahrnehmung des Forschungsgegenstandes unterscheiden; und schließlich sollte sie sich stets vor Augen halten, dass in erster Linie der Mensch in seiner Zeit, in seiner sozialen und individuellen Zeitbezogenheit das Objekt der Geschichte ist, und nicht der »Geist« – auch und gerade, wenn von den großen historischen Kategorien die Rede ist. Die Unterschätzung oder gar Missachtung des Kontextes birgt die Gefahr, dass die genaue zeitliche Verortung des Menschen als Träger der Geschichte für unnötig erachtet wird. Genau davor hat Marc Bloch immer wieder mit Nachdruck gewarnt, denn die Menschen »gleichen ihrer Zeit mehr als ihren Vätern«, wie ein arabisches Sprichwort besagt, das Bloch zu diesem Behuf gerne zitierte.19 Eine fehlende Kontextualisierung lässt einem wild wuchernden Anachronismus freien Lauf, was lediglich immer neuen Kentauren den Weg bereitet, letztlich also schiefen Bildern, die in ihrer trügerischen Evidenz die Forschung auf die falsche Fährte locken können, was im Endeffekt die geschichtswissenschaftliche Vergangenheitsforschung selbst diskreditiert. Die neuen Forschungshypothesen dürfen sich von gar nichts anderem leiten lassen, als von der Suche nach der besonderen Eigenart der geschichtlichen Aufklärung, stets im Bewusstsein, dass diese Bewegung ein autonomes Phänomen war. Die Aufklärung ist zweifellos als Kritik des Ancien R¦gime zu sehen, aber auch, vor allem in der Phase des 18. Jahrhunderts, als dessen Folge: sie schuf ein einzigartiges kulturelles System, mit ihr wendet sich das Blatt. Die Aufklärung ist die Diskontinuität in der vergleichenden Geschichte des modernen Europas. Die Aufgabe muss sein, die Leitideen dieser historischen Welt zu rekonstruieren, ihr Wertesystem, ihren Sprachgestus, ihr Auftreten und ihre Praktik, ihre Institutionen, ihre Formen der Geselligkeit und ihre Kommunikationskanäle. Die führenden Köpfe und Vertreter der Aufklärung müssen im Hinblick auf ihre Konditionierung durch den Kontext und auf ihre Verhaftung in der Tradition hin befragt werden, doch auch im Hinblick auf den kreativen Geist der neuen Eliten. Besonderes Augenmerk verdienen die emanzipatorischen Entwürfe der Aufklärer, deren kosmopolitische und universelle Ausrichtung sowohl in ihrem Reformwillen also auch im utopischen Denken freigelegt werden muss. Nur ein Forschungsprogramm von solcher Bandbreite könnte endlich das ganze Aus19 Vgl. M. Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft, a. a. O., S. 49. Zu diesem Thema siehe auch das nach wie vor lesenswerte, wenn auch umstrittene Werk von L. Febvre, Le problÀme de l’incroyance au XVIe siÀcle (1942), dt.: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais, mit einem Nachwort von Kurt Flasch, (übers. von Gerda Kurz und Siglinde Summerer), Klett-Cotta, Stuttgart, 2002. Febvres feinsinnige Abhandlung über Diskontinuität und Bedingtheit des menschlichen Handelns im spezifischen Kontext historischer Zeiten bleibt bei allen Mängeln ein epistemologischer Klassiker der Geschichtsforschung.
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maß jener beeindruckenden Umwälzung gerecht werden, aus der sich die Basis der modernen abendländischen Identität entwickelt hat: die Aufklärung war eine regelrechte kulturelle Revolution. Unterzieht man diese Epoche einer detaillierten historisch-kulturellen Analyse, bietet sich vielleicht endlich die Gelegenheit, den Anbruch einer neuen Auffassung des Menschen und einer bis dahin unbekannten Bewältigung seines Umfeldes genau nachzuvollziehen.20 Die Aufklärung war ein Zivilisationsprozess, dessen vielfältige Aspekte, bewusst oder unbewusst, die Geschichte des modernen Europa wesentlich mitgestaltet haben und deren Stellenwert langfristig wohl nur mit der Epoche zu vergleichen ist, als die abendländische Antike vom Heidentum zum Christentum überging.
20 In diese Richtung scheint auch A. Dupront mit seinen Überlegungen zu den LumiÀres zu gehen, allerdings mit einigen gebotenen Einwänden und Bedenken. In seinem Essay Qu’estce que les LumiÀres?, Paris, 1996, schrieb Dupront, die Aufklärung wie die Französische Revolution sollten weniger unter dem Aspekt von Ursache und Wirkung untersucht werden, sondern im Rahmen eines viel größeren historischen Kontextes, in dem beide gemeinsam eine wirkliche Revolution in die Wege geleitet hätten, nämlich eine »v¦ritable R¦volution qui est essentiellement le passage d’une mythique traditionelle (mythique de religion, de sacralit¦s, d’autorit¦ religieuse et politique) une mythique nouvelle, ou foi commune r¦nov¦e, dont la plus v¦h¦mente des affirmations est de ne pas se vouloir ou de ne pas se savoir mythique.« (Ibidem, S. 19 f.)
IV. Das 20. Jahrhundert und die Aufklärung als Problem der Historiker: von der Geschichte der Politik über die Sozialwissenschaft zur Kulturgeschichte
Zu Recht zählt Paul Hazards 1935 erstmals erschienenes Werk über die Crise de la conscience europ¦ennne. 1680 – 1715 zu den Klassikern der Aufklärungsliteratur. »Welch ein Kontrast!«1, beginnt Hazard seine Untersuchung, »Welch unvermittelter Übergang! Hierarchie, Disziplin, eine von der Autorität gesicherte Ordnung, Dogmen, die das Leben mit fester Hand regeln, das liebten die Menschen des siebzehnten Jahrhunderts. Zwang, Autorität, Dogmen, das hassen die Menschen des achtzehnten Jahrhunderts, ihre unmittelbaren Nachkommen. Die ersteren sind christlich, die letzteren antichristlich; die ersteren glauben an das göttliche Recht, die anderen an das Naturrecht; die einen fühlen sich wohl in einer Gesellschaft, die in höchst ungleiche Klassen aufgespalten ist, die anderen träumen von nichts als Gleichheit. Sicherlich neigen Söhne immer dazu, sich zu ihren Vätern in Widerspruch zu setzen, und bilden sich ein, sie würden die Welt erneuern, und nur sie hätten gefehlt, sie zu verbessern; aber die Gegenströmungen, von denen aufeinanderfolgende Generationen bewegt werden, reichen zur Erklärung einer so raschen und entschiedenen Wandlung nicht aus. Die Mehrzahl der Franzosen dachte wie Bossuet, und auf einmal denken wie Franzosen wie Voltaire: es ist eine Revolution. [….] An die Stelle einer Kultur, die auf der Idee der Pflicht beruhte, der Pflicht gegen Gott, der Pflicht gegenüber dem Fürsten, versuchten die neuen Philosophen eine Kultur zu setzen, die sich auf die Idee des Rechts gründete: auf das Recht des persönlichen Gewissens, das Recht auf Kritik, das Recht der Vernunft, die Menschen- und Bürgerrechte.«2 Besser hätte man den Aufbruch in eine neue Zeit nicht beschreiben können: das waren die ersten Anzeichen der geistigen Revolution, was die Aufklärung ohne Zweifel war. Und dennoch, bis heute schiebt die Geschichtsforschung das ungelöste Problem vor sich her, wo denn die wirklichen Wurzeln dieser großen 1 Paul Hazard, La Crise de la conscience europ¦ennne: 1680 – 1715 (1935), dt.: Die Krise des europäischen Geistes: 1680 – 1715 (übers. von Harriet Wegener), 1939 (5. Auflage, mit einem Vorwort von Carlo Schmid), Hoffmann und Campe, Hamburg, 1965. S. 21. 2 Ibidem, S. 24.
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geistigen Umwälzung zu suchen seien. Die Aufklärung setzte sich in weniger als einem Jahrhundert durch und kehrte dabei das Unterste zuoberst; sie erfasste in historisch unglaublich knapp bemessener Zeit alle Bereiche, allen voran das bisher herrschende Ordnungsprinzip des Ancien R¦gime: wie war das möglich, und wo liegen die tieferen Ursachen? Wer waren die Akteure und welche Ereignisse waren entscheidend? Wie ist es um die Chronologie und die Geographie der Ereignisse bestellt? Welche Formen hat diese so jähe und fundamentale Veränderung angenommen? Und wie ist diese Fülle von Entwürfen und Ideen zu bewerten, die von einer entschlossenen geistigen Minderheit zunächst angedacht und formuliert wurde, um sie dann mit eben solcher entschlossenen Tatkraft voranzubringen und womöglich durchzusetzen? Und wie lässt sich zu guter Letzt der Prozess der autonomen Entfaltung dieser radikalen historischen Umwälzung begreifen, also die Entwicklung einer neuen kulturellen Praktik im Namen der Aufklärung mit ihrer revolutionären gesellschaftlichen und ökonomischen Logik? Kurz, wie konnte es zu einer solchen »Hegemonie«, wie es Gramsci formuliert hätte, zu einer solchen geistigen Übermacht in den Händen einer kleinen Elite kommen? Im Lauf des 18. Jahrhunderts wurde das intellektuelle, politische und soziale Leben so gründlich auf den Kopf gestellt, dass Europa völlig verändert aus der geistigen und kulturellen Revolution hervorging. Die wahrlich gigantische Vorarbeit, die von den vorhergehenden Forschergenerationen zu all diesen Fragen geleistet worden ist, soll und muss der heutigen Geschichtsforschung Vermächtnis und Verpflichtung sein: wir stehen wie Zwerge auf den Schultern von Riesen. Beim Versuch, die grundlegenden Züge und das bis heute wirksame Erbe der Aufklärung im Prozess der Zivilisation des modernen Europa herauszuarbeiten, wird man nicht umhin kommen, an den Forschungsergebnissen der Historiographie des 20. Jahrhunderts anzuknüpfen, vor allem an den grundlegenden Untersuchungen von Franco Venturi, einer der prägendsten Forscherpersönlichkeiten in den Zeiten des Totalitarismus. Der bis heute ungelöste Knotenpunkt der Aufklärung ist vermutlich allerdings nur durch einen neuen Forschungsansatz aufzubrechen: es gilt, den Übergang von der Geschichte der Politik über die Sozialwissenschaften bis zu den neuen kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen nachzuzeichnen, um sich dem zentralen Problem der Aufklärung anzunähern. Franco Venturi, mein verehrter Lehrer in Turin, sah die Aufklärung immer als »Geschichte einer Bewegung, die einen Ursprung und dementsprechend ihre Wurzeln hat, eine Entwicklung mit internen Machtkämpfen, sodann Krisenzeiten und wieder Zeiten der Wiederauferstehung und schließlich Zeiten der Auflösung und Überwindung«. Als eine politische Bewegung, die von einer intellektuellen Minderheit vorangetrieben wurde, bezeichnete er sie als »das Werk von Menschen, die eine gemeinsame Sache verfolgen, die neue Formen der
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Organisation, der Gruppierung und der Aktion suchen und schaffen, die in dieser Funktion denken und handeln und die von Mal zu Mal ein Bewusstsein dafür entwickeln, welche Folgen ihre Handlungen auf ihre Umwelt haben. Sie entwickeln also ein Bewusstsein für die Rolle, die sie in der Gesellschaft spielen, und für den Platz, den sie in der Geschichte einnehmen«3. Laut Venturi war es also geboten, diesem Gedankengut, das von den Trägern der Aufklärung formuliert worden waren, die allergrößte Aufmerksamkeit zu widmen, wollte man den Gang der Ereignisse verstehen, denn es ist eine Tatsache, dass dieses Gedankengut in allen Winkeln Europas zirkulierte und offenkundig die Fähigkeit hatte, eine politische Rolle zu spielen, bis hin zu epochalen Veränderungen. Venturi war sich durchaus bewusst, dass an dem Vorschlag, die Aufklärung als geistige Bewegung zu denken, also eigentlich als Geschichte der entstehenden Figur des Intellektuellen, keineswegs neu war. Gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm diese Idee, im Zuge der affaire Dreyfus, in deren Zusammenhang wohl auch zum ersten Mal der Begriff des Intellektuellen auftaucht, neue Fahrt auf4. In den Trevelyan Lectures aus dem Jahr 1969 sprach Venturi offen und ehrlich davon, ob es nicht besser sei, im Gegensatz zu den herrschenden Lehrmeinungen dazu zurückzukehren, die Enzyklopädisten als philosophes und Reformer zu deuten, als Leute, die für ihre eigenen Ideen lebten und einen Weg gefunden hatten, auf die Wirklichkeit, die sie umgab, verändernd einzuwirken5. Dass sich diese Sichtweise in der Historiographie des 20. Jahrhunderts bei genauer Betrachtung sogar in den Handbüchern durchgesetzt hat, beweisen nicht zuletzt die jüngst geäußerten Worte Robert Darntons, demzufolge die Aufklärung, was die historische Perspektive betreffe, nach wie vor als eine Bewegung, eine causa, ein Kampf zu werten sei, der geführt worden sei, um die damals herrschende Geisteshaltung zu verändern und die Institutionen zu reformieren6. Schon ein flüchtiger Vergleich zwischen den wichtigsten Werken der Historiographie des 19. Jahrhunderts, die sich mit der Rolle der philosophes beschäftigen, und dem Neuansatz Venturis zeigt allerdings, dass von einer »Rückkehr«, wie es Venturi nennt, keine Rede sein kann: es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der früheren Geschichtsforschung und dem Versuch von Venturi, das
3 Franco Venturi, L’illuminismo nel Settecento europeo, in: Rapports du XIe CongrÀs international des sciences historiques, Stockholm, 1960, S. 106 (Übers. d. A.). 4 Unter der Flut der Literatur zum Thema vgl. vor allem J.P. Belin, Le mouvement philosophiques de 1748 1789: ¦tude sur la diffusion des id¦es des philosophes Paris d’aprÀs les documents concernant l’histoire de la libraire, Paris, 1913. 5 Vgl. F. Venturi, Utopia e riforma, a.a.O, S. 33 (Hervorhebung des A.). 6 Vgl. R. Darnton, George Washington’s False Teeth, in: »The New York Review of Books«, 27. März 1997, S. 34 – 38. Die gleiche Haltung vertritt M.C. Jacob, The Enlightenment. A Brief History with Documents, Boston-New York, 2001, und vor allem J. Robertson, The Case for the Enlightenment, a. a. O., S. 28 ff.
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Denken und Wirken der Intellektuellen zu untersuchen, zu deuten und schließlich zu bewerten. Wenn Venturi, der Historiker und aktive Parteigänger der resistenza, des antifaschistischen Widerstandes, von Ideen, von Politik, von Intellektuellen und von intellektueller Bewegung spricht, meint er etwas völlig anderes als seine Vorgänger. Um den komplexen und noch nicht in seiner Gänze ausgeloteten Gedankengang Venturis auf einen einfachen Punkt zu bringen, könnte man sagen, dass es laut Venturi nie »die Geschichte« ist, die das Schicksal der Menschen bestimmt: es sind, genau anders herum, stets die Menschen, die ihrerseits die Geschichte determinieren.7 Der revolutionäre Intellektuelle, der er war, zögerte nicht, den Geist der Freiheit mit allen Mitteln gegen den Ungeist totalitärer Tyrannei zu verteidigen, was Venturi in erster Linie den europäischen und italienischen Idealisten des frühen 20. Jahrhunderts zurechnen lässt. Dieser leidenschaftliche Idealismus hatte viele Gesichter : es ging um die kritische Bewältigung des Zusammenhanges zwischen Gedanken und Tat, zwischen Tatendrang und Freiheit; man erkannte erstmals das ganze Ausmaß der furchtbaren Wirkung politischer Mythen auf die Massen, machte sich Gedanken über das Thema einer freigeistigen Religiosität, jenseits aller kirchlichen und klerikalen Institutionen, und nahm den politischen Glauben der Intellektuellen, die sich der Revolution verschrieben hatten, ins Visier. Sei denn die Religion nicht letztlich auch nichts anderes als ein philosophisches Gedankengebäude, im Grund also ein mächtiges Weltbild, um nicht zu sagen eine übermächtige Weltanschauung, eine ethisch-moralische Erfahrung, die als Glaubensform gelebt werde und also zur politischen Tat treiben und Geschichte produzieren könne? Benedetto Croce, Giovanni Gentile, der revolutionäre und antipositivistische Marx, auf den sich Lenin und Sorel beriefen und der in seinen Thesen zu Feuerbach immerhin erklärt hatte, die Philosophen sollten die Welt nicht nur interpretieren, sondern sie auch verändern; und weiter Rosselli, Gobetti, Salvemini – das sind nur einige Namen der geistigen Väter, die Venturis Denken beeinflusst haben. Im Zentrum dieses Denkens stand die Auseinandersetzung mit dem nach dem Zusammenbruch der positivistischen Ordnung entstandenen Vakuum, mit der Krise der Vernunft zwischen den zwei Weltkriegen, als deren Folge sich eine neue und äußerst beunruhigende Auffassung des Menschen entwickelt hatte: die Forderung nach einer schrankenlosen und allmächtigen Autonomie des Menschen implizierte »absolute Freiheit, sowohl totales Risiko
7 Einen ersten kritischen Einblick in Venturis Werk bietet der Band Il coraggio della ragione. Franco Venturi intellettuale e storico cosmopolita, hrsg. von L. Guerci und G. Ricuperati, Einaudi, Torino, 1998; hilfreich ist ebenso der Band mit den politischen Schriften Venturis: Id., La lotta per la libert. Scritti politici, hrsg. von L. Casalino, Einaudi, Torino, 1996.
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als auch unbegrenzte Möglichkeiten«, wie es Eugenio Garin prägnant auf den Punkt gebracht hat8. Wer Franco Venturi persönlich kannte, weiß sehr wohl, wie sehr ihm Themen wie die Freiheit und der individuelle politische Wille am Herzen lagen. Er verteidigte die politische Selbstbestimmung des mündigen Menschen leidenschaftlich gegen jede Spielform eines reduktionistischen Determinismus, seien dies die ökonomische oder soziale Konditionierung oder auch die Erklärungsmodelle soziologischer Erkenntnis. Diese Haltung war die Grundlage eines Programms, dem er sein ganzes Forscherleben widmete und nach dem er handelte. In diesem Sinn war im Vorwort des 1939 in Paris erschienenen Werks Jeunesse de Diderot bereits die ganze Originalität seines Ansatzes angelegt: Venturis Schlüssel für eine neue Auslegung der französischen und europäischen Aufklärung ergab sich aus eben diesem idealistischen Ansatz, und zwar für eine im wesentlichen »politische« Lesart der historischen Erfahrung der Aufklärung. Natürlich, fügte Venturi geflissentlich hinzu, müsse man dem Begriff des »Politischen« eine sehr viel breitere Bedeutung zuweisen, die sich nicht auf den geläufigen Gebrauch beschränke. Die Politik, die er im Auge habe, so Venturi, sei nicht Sache der Höfe und der Staatsräson, der Intrigen und der Diplomatie, noch eine Frage von Institutionen und Kriegen, sondern von neuen Ideen, die die Realität, unsere Vorstellung der Welt selbst und der menschlichen Lage überhaupt veränderten. Es ist klar, dass Venturi mit dieser Definition von Politik eine idealistische Lesart ins Spiel brachte, die im Politischen den Ausdruck eines Wollens sah, den kreativen Impetus voll revolutionärer Energie, der Gedanken und Tat zu verknüpfen imstande war. Für den Historiker des 20. Jahrhunderts, der sich erneut der Aufklärung zuwendet, sei das Bewusstsein wichtig, so Venturi, dass die »Entstehung einer politischen Kraft voller Lebendigkeit und Überzeugung« zu untersuchen sei. So müssten auch die Ideen Diderots »eher in ihrer Effizienz und in ihrem unmittelbaren Grund, und weniger in ihren philosophischen Ursprüngen betrachtet werden«9, wie es stattdessen die Gepflogenheit der französischen und deutschen Historiker und Philosophen war.
8 E. Garin, Cronache di filosofia italiana 1900 – 1943, Laterza, Bari, 1966, Bd. I, S. 23. 9 Vgl. Fr. Venturi, Jeunesse de Diderot (1713 – 1753), Paris, 1939 (heutige it. Ausgabe: Giovinezza di Diderot (1713 – 1753), Palermo, 1988, S. 23). Lucien Lebvre, der das Buch Venturis rezensierte, begriff sofort die Neuheit des Forschungsansatzes. Venturi, schrieb er, wolle der französischen Aufklärung einen neuen politischen Sinn geben, »une politique neuve, pleine de possibilit¦s et de dynamisme l’heure o¾ la politique traditionelle semblait st¦rilis¦e«, in: »Annales d’histoires sociales«, Nr. 2, 1940, S. 44.
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Venturi hielt immer an der Überzeugung fest, dass es vor allem die kreative Potenz der Ideen sei, die einen historischen Prozess auszulösen vermöchten. Deswegen griff er auch immer wieder auf die Theorie der ¦lites zurück, die in Italien von Pareto und von Mosca erarbeitet worden war und den Sozialwissenschaften ein wertvolles Analysemodell zur Verfügung stellte, um die Rolle der Intellektuellen genauer in den Blick zu bekommen. Genau mit diesem Thema beschäftigte sich übrigens auch Benedetto Croce, als er seine Idee einer so genannten »ethisch-politische« Geschichte entwarf.10 1952 publizierte Venturi seine viel beachtete Untersuchung über den russischen Populismus und wies dabei erneut energisch darauf hin, dass bei der Erforschung der großen historischen Bewegungen, im Unterschied zu früher, vor allem die »Bildung der modernen revolutionären Eliten« beachtet werden müsse, und zwar als spezifisches und eigenständiges Phänomen. Im Vordergrund stünden dabei nämlich vorwiegend menschliche und psychologische Faktoren, weniger der Bezugsrahmen der philosophischen, sozialen und wirtschaftlichen Geschichte oder der allgemeinen Ideologiegeschichte. Der wirklich originäre, unverwechselbare Zug des russischen Populismus steckte laut Venturi vor allem in der Kreativität der Ideen und in der verwegenen Entschlossenheit der einzelnen Protagonisten, diese auch durchzusetzen. Es waren die tollkühnen Leute der Narodnaja volja, die versucht haben, »Gedanken und Aktion zusammenzubringen«, um ihren freiheitlichen Glauben als »demokratische Revolutionäre« zu behaupten, bis hin zum äußersten Mittel eines tragischen Terrorismus.11 Gewiss sei die Geschichte der aufklärerischen Bewegung im 18. Jahrhundert anders verlaufen und habe sich weniger dramatisch entwickelt: es gebe jedoch gewisse Analogien, so Venturi, was den militanten Geist und den zähen Willen betrifft, die Welt kraft bestimmter Gedanken und Ideen zu verändern. Ein roter Faden verbinde die moderne politische Leidenschaft des Russen Herzen mit der grimmigen Feststellung des jungen Diderot, der lakonisch meinte: »Imposez-moi le silence sur la religion et le gouvernement et je n’aurai plus rien dire«12. Venturi war sich absolut sicher, dass die Historiker seiner Generation vor allem die Aufgabe hätten, die Figur des Intellektuellen zu entschlüsseln und zu 10 Franco Venturi lehnte zwar jede Form von »philosophischer Vorsehung« kategorisch ab, schätzte jedoch Croces Buch über die Storia del regno di Napoli (1924), ein geradezu klassisches Beispiel ethisch-politischer Geschichtsschreibung. Anerkennung zollte er auch den späteren geschichtstheoretischen Werken Croces, wie Teoria e storia della storiografia (1917), dt.: Theorie und Geschichte der Historiographie, Tübingen, 1930, und La storia come pensiero e come azione (1938), dt.: Die Geschichte als Gedanke und Tat, Bern, 1944. 11 F. Venturi, Il populismo russo (1952), Einaudi, Torino, 1972, Bd. I, S. IX ff. 12 F. Venturi, Utopia e riforma, a. a. O., S. 10. Als weiteres Beispiel für die historiographisch neue, deutlich »politische« Sicht auf die Aufklärung nannte Venturi stets die Untersuchung von F. Diaz, Filosofia e politica nel Settecento francese, Einaudi, Torino, 1962.
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verstehen. Jahrhunderte lang hockte der Gelehrte völlig isoliert in seiner Welt und verkehrte nur in engsten Kreisen wie der römischen Kurie, an den Höfen und den Universitäten. Wie konnte es geschehen, dass diese nämliche Figur zu einem gewandten Akteur auf internationalem Parkett habe werden können, der sich im politischen Handeln seiner Autonomie voll bewusst war, der bei der allmählichen Herausbildung der öffentlichen Meinung eine Vorreiterrolle spielte und mit der Entstehung der aufklärerischen Bewegung schließlich zu jener unaufhaltsamen politischen Kraft wurde, welche die Geschichte des Abendlandes verändern sollte. Um den Werdegang des Intellektuellen nachzuzeichnen, vertiefte Venturi beharrlich sein Projekt über die politische Geschichte der Aufklärung, und wurde nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Erforschung der aufklärerischen »Bewegung« in jedem Fall immer »ein Problem« bleiben müsse, weder eine Tatsache und schon gar keine »Voraussetzung historischer Tatsachen«13. Also müssten die Biographien der Protagonisten und Akteure studiert und herausgearbeitet werden, welche charakteristischen Ideen und Vorstellungen sie entwickelt hätten. Sodann müsse untersucht werden, wie sich dieses Gedankengut rund um den ganzen Erdball verbreitet hätte, und nicht zuletzt sei dabei zu beachten, welche historische und politische Funktion diese Ideen im bewussten Handeln der europäischen Aufklärer gespielt hätten14. Zu diesen Themen legte Venturi in seiner über fünfzigjährigen Forschungsarbeit grundlegende Werke vor, die im Rahmen der Aufklärungsforschung neue richtungsweisende Maßstäbe setzten. Erinnert sei vor allem an die lectio magistralis, die er in Cambridge über die Umgestaltung der republikanischen Ideen der antiken Denker im Zeitalter der Aufklärung durch Montesquieu oder bei Rousseau hielt, oder an seine Untersuchungen zum Werk von Beccaria, dessen innovative Gedanken über das Recht zum Strafen15 europaweit eine geradezu explosive Debatte ausgelöst hatten; erwähnt sei auch an das Buch Origine dell’Enciclopedia aus dem Jahr 1946 oder der 1954 erschienene Beitrag über die intellektuellen Erfahrungen des Frühaufklärers Alberto Radicati di Passerano. In seinem mehrere Bände umfassenden Werk über den italienischen Reformismus im 18. Jahrhundert, das er im Jahr 1990 abschloss, legte Venturi schließlich anhand einer unglaublichen Datenfülle dar, wie in den Reformen und der reformerischen Verwandlung der Wirklichkeit die Politisierung des homme de lettres der Aufklärung
13 F. Venturi, Utopia e riforma, a. a. O., S. 23. 14 Vgl. F. Venturi, La circolazione delle idee, in: »Rassegna storica del Risorgimento«, XLI (1954), S. 203 – 222. 15 Das berühmte Hauptwerk des italienischen Rechtsphilosophen und Aufklärers Cesare Beccaria (1738 – 1794), Dei delitti e delle pene (1764) wurde sehr früh ins Deutsche übersetzt; heutige Ausgabe: Über Verbrechen und Strafen, nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Alff, Insel-Verlag, Frankfurt/M., 1998.
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ihren vorläufig letzten Ausdruck findet14 : ausgehend von der kritischen Ausübung der Vernunft, die allmählich auf alle Bereiche der Erkenntnis übertragen worden sei, habe sich das neue, durch und durch politische Subjekt des führenden Standes des Abendlandes entwickelt, als Alternative zu den traditionellen Eliten, die noch auf der Grundlage von Blutsbanden oder dem Treueschwur gegenüber dem Herrscher beruhten. Der aufgeklärte Intellektuelle war das Ergebnis und die Folge, zugleich aber auch Handlanger und Zeuge der Krise und des Zusammenbruchs des Ancien R¦gime. Und dennoch sind auch diese bedeutsamen Werke, ungeachtet ihres Scharfsinns und ihres intellektuellen Reizes, ein Ausdruck ihrer Zeit, denn sie sind von politischen Leidenschaften und von einem erbitterten ideologischen Zusammenprall zwischen Liberalen und Kommunisten gezeichnet16. Letztere haben sicher wesentliche Erkenntnisse zu einem besseren Verständnis der historischen Funktion der Aufklärer beigetragen und die Originalität und die Besonderheit der Werte und der Leitideen dieser europäischen Bewegung erhellt; doch die entscheidende Antwort auf die Frage nach den tieferen Ursachen ihres außerordentlichen Erfolges im Laufe des 18. Jahrhunderts sind sie schuldig geblieben. Warum erlangte die Gelehrtenrepublik und deren mehr, oft aber auch gerade deren minder bedeutende Protagonisten plötzlich, und ausgerechnet im 18. Jahrhundert, diese Bedeutung und Durchschlagkraft, so dass sie eine geistige Revolution ins Leben rufen konnten, welche die Identität des Abendlandes verändern sollte? 14 In der Vorrede zum ersten Band der breit angelegten Studie betonte Venturi, dass er sich streng allein an konkrete Sachverhalte gehalten habe, an »die Revolten und die Reformen, die Errungenschaften und die Niederlagen, die Märkte und den Verkehr, die Währungen und die Gesetzeserlasse, die politischen und ökonomischen Vorstellungen, an die luftigen Geschäfte und an das solide Grundbuch«. Id., Settecento riformatore, Bd. I, Da Muratori a Beccaria, Torino, 1969, S. XIII. (Übers. d.A.) 16 Venturi betonte stets seine Abneigung gegen eine sozialgeschichtlich ausgerichtete Erforschung der Aufklärung: er hielt den Ansatz für zu einseitig und allein zweckbestimmt, wie etwa die französische Aufklärungsforschung, die er eines doktrinären Marxismus zieh. Noch im Jahr 1984, anlässlich eines Seminars in Turin, meinte er lapidar : »Der Begriff der Mentalität, wie ihn die französische Schule verwendet, ist ein unbrauchbares statisches Konstrukt. Jedes noch so unsichere Aufflackern eines neuen politischen Gedankens liefert dem Historiker ungleich mehr und bessere Hinweise. Das Bewusstsein ist immer individuell, oftmals eigenwillig und manchmal geradezu bizarr : es ist nicht einfach, in Umbruchzeiten zu leben. Da ist es natürlich einfacher, sich hinter Begriffen wie der »kollektiven Mentalität« zu verschanzen, oder sich unter den Schirm von Institutionen zu flüchten, etwa der Kirche, der Religion, der herrschenden Ideologie. Doch es sind die eigenständigen Querdenker, von denen schließlich die entscheidenden Impulse ausgehen: das habe ich versucht, anhand der Biographien von Linguet, Brissot, Del Turco, Radisˇcˇev und noch einigen weiteren Köpfen darzustellen«. (Id., in: »Annali della Fondazione Luigi Einaudi«, XIX, 1985, S. 453) – Übers. d.A. Vgl. zu diesem Thema den Beitrag von D. Roche, Histoire des id¦es, histoire de la culture, exp¦riences franÅaises et exp¦riences italiennes, in: Il coraggio della ragione, a. a. O., S. 151 ff.
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Reicht es denn, den zähen politischen Willen von einigen wenigen, die an vorderster Front standen, ins Feld zu führen? Kann allein die kreative Originalität von Ideen eine geistige und kulturelle Umwälzung von so tiefgreifendem Ausmaß und solch lang anhaltender Dauer innerhalb der Eliten auslösen? Erklärt das die Entstehung der modernen Identität Europas? Heute wissen wir, dass da ein hochkomplexes Zusammenspiel vielfältiger Ursachen am Werk war, damit ein historisches Phänomen von der Dimension und der Tragweite der Aufklärung so rasch Gestalt annehmen konnte. Dazu zählen die freimaurerischen Institutionen, Sozietätsformen wie Akademien und literarische Salons, die ihre Funktion und ihren Stil völlig neu definierten, das Aufkommen neuer Formen und Kanäle der Kommunikation, was die Herausbildung eines modernen »Publikums« ermöglichte und zugleich eine öffentliche Meinung entstehen ließ. Das schuf wiederum Raum für die kritische Vernunft, an deren Debatten nunmehr eine wachsende Anzahl engagierter Geister teilnehmen konnte, dank eines veränderten Leseverhaltens, das von einem verbesserten und immer breiter ausgebauten Verlagswesen mit einer schier überbordenden Flut von Almanachen und Periodika bedient wurde. Wie später noch genauer aufgezeigt wird, zog der Triumph der aufklärerischen Kultur im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts eine breite Schicht der Gesellschaft in ihren Bann und griff von der Philosophie über die Religion, über die Literatur, über die Musik, über die Malerei, über das Theater bis hin zur Architektur in nahezu alle Bereiche des Wissens verändernd ein. Damit legte die Aufklärung die Basis für den Strukturwandel, der schließlich zur modernen »Zivilgesellschaft« führen sollte. In Anbetracht dieser Tatsachen schmunzelt man heute ein wenig über Venturis erklärtes Desinteresse gegenüber Autoren von Romanen, Theaterleuten oder schriftstellernden Abenteurern wie etwa Goldoni, Alfieri oder Casanova, die ihm zufolge allesamt nichts zum wirklichen Verständnis der eigentlich politischen Natur der Aufklärung beitragen konnten und somit als für die historische Forschung unbedeutend abgetan wurden. Als man in dem Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970 mit dem Aufkommen der Sozialwissenschaften dazu überging, deren starres positivistisches und quantitatives Erklärungsmodell auf die Aufklärungsforschung zu übertragen, schien dies wie geschaffen, jemanden wie Venturi gründlich zu verärgern, schließlich hatte er sich ja mit Haut und Haar der Verteidigung des individuellen Bewusstseins und der intellektuellen Freiheit des schöpferischen Individuums verschrieben, gegen alles Gerede von Mentalitätsstrukturen, die eine Epoche angeblich kollektiv prägen sollten.17 Ihm erschien diese Forschungsmethode als
17 Die Anspielung zielt auf das Buch Livre et soci¦t¦, Paris, 1970. Vgl. dazu die Reaktion der amerikanischen Geschichtsforschung, besonders von R. Darnton, In Search of Enlighten-
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ein gefährlicher Rückschritt in die Vergangenheit, ja sogar als ein Zurückfallen in die Zeit vor Bloch und Febvre und deren problematischer Deutung der Aufklärung. Und im Grunde hatte Venturi damit keineswegs Unrecht. Denn sicher war es ein Irrweg, die sozialen Strukturen generell, und noch dazu eine so unbewusst funktionierende und direkt nicht greifbare Dimension wie die der »Mentalität« vor allem mit quantitativen Methoden erforschen zu wollen, und das ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, wo die Wissenschaftsgeschichte und die moderne Epistemologie von Thomas S. Kuhn sich mit den Neuerungsprozessen und der Veränderung grundlegender Eckdaten wissenschaftlicher Wahrnehmung auseinandersetzte, dem sogenannten »Paradigmenwechsel«, der die Prägung durch Denkstile in der normativen und rationalen Phase der »Normalwissenschaft« gerade durch die unberechenbare Kreativität des Individuums, durch sorgsame, jeweils fallbezogene Kontextualisierung und durch eine unkonventionelle Kulturpraktik aufbrechen sollte. In den darauf folgenden Jahrzehnten wurde die traditionelle Hierarchie des Verhältnisses zwischen sozialen und kulturellen Faktoren einer radikalen Prüfung unterzogen, und zwar auf völlig neuer epistemologischer Grundlage und im Licht der gegenseitigen Anerkennung der Grenzen und der Leistungsfähigkeit der intellektuellen Begriffsgeschichte einerseits und der Sozialwissenschaften andererseits, die wiederum ihrerseits beide nicht zufällig ständigen kritischen Revisionen unterworfen waren18. Heute käme niemand mehr auf den Gedanken, wie noch Daniel Mornet, die Verbreitungsgeschichte der Ideen der philosophes zu untersuchen und dabei deren Diskurse von der kulturellen Praktik zu trennen, die für die Aufnahme und die repräsentative Umsetzung eben dieses Ideengutes sorgte. Das setzt die heute ein wenig seltsam anmutende Annahme voraus, dass die Ideen als ein objektives, neutrales, autonomes und in sich selbst schlüssiges Korpus gedacht werden, und dass sich deren Zirkulation und Verbreitung vorwiegend als fortschreitende Ausweitung des sozialen Umfeldes, in denen sich diese Ideen bereits durchgesetzt haben, quantitativ wahrnehmen ließen. Auch der Weg, den Augustin Cochin ging, sollte sich als irreführend erweisen: er versuchte, aus der impliziten Logik der Sozietätspraktik spezifische ideologische Formen herauszufiltern, und erhoffte sich dabei, die Entstehung der jakobinischen Ideologie des Terrors direkt auf die Praktik der direkten Demokratie in den von den Aufklärern ins Leben gerufenen »Denkfabriken« (wie den Logen,
ment: Recent Attempts to Create a Social History of Ideas, in: »The Journal of Modern History«, Bd. 43 (1971), S. 113 ff. 18 Zur »primaut¦ tyrannique du d¦coupage social« in den 60er und 70er Jahren des 20. Jh.s vgl. den Beitrag von R. Chartier, Intellectual History or Sociocultural History? The French Trajectories, in: Modern European Intellectual History. Reappraisals and New Perspectives, hrsg. von D. La Capra und S.L. Kaplan, Ithaca, 1982, S. 13 – 46.
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den Akademien und den Salons), zurückführen zu können.19 Doch auch auf der anderen Seite kam man auf Abwege, wenn man, wie Venturi, das Postulat einer direkten Kontinuität zwischen Gedanken und Tat, zwischen intellektuellem Leben und sozialer Dimension aufstellt, ganz so, als ließe sich von den Diskursen auf die Praktiken schließen, die diese rechtfertigten und auf denen sie gründeten. Denn in Wirklichkeit entsprechen den emanzipatorischen Diskursen nicht immer zwangsläufig liberale Praktiken für den Menschen, wie Foucault in seiner fulminanten Studie von 1975, Surveiller et punir (dt.: Überwachen und Strafen) klar gemacht hat. Damit war die Frage angestoßen, die für die Untersuchung kultureller Transformationsprozesse von entscheidender Bedeutung ist: wie funktioniert die kreative Aneignung innovativer Texte durch breite Massen, und welche Rolle spielt das Verhältnis zwischen Konsum und Produktion der neuen Ideen seitens der Individuen und vor allem seitens der Institutionen?20 Wiewohl sich die neuen kulturwissenschaftlich ausgerichteten Strömungen der Geschichtsforschung, die sich seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt haben, noch auf kein klares und präzises Forschungsmodell einigen konnten, das allgemein anerkannt wäre, haben sie dennoch diese kritischen Betrachtungen aufgenommen und beherzigen vor allem achtsamer die epistemologischen Grenzen, um die Fehler der älteren Sichtweise möglichst zu vermeiden. Damit wurde eine neue Reihe komplexer Untersuchungen und Experimente eingeläutet, die noch im Gang sind und deren Ergebnisse gerade diskutiert werden. Die neue Kulturwissenschaft beschäftigt sich mit der Rekonstruktion der historischen Welt der Aufklärung als kulturellem System und geht zahlreichen innovativen Spuren nach, die bisher kaum beachtet wurden, darunter das Phänomen der Akkulturation, die als historischer Prozess zu lesen ist, angefangen bei der Verarbeitung unterschiedlicher Denktheorien und der Entstehung neuer Denkweisen21: bevorzugter Forschungsgegenstand sind die 19 Wie bekannt, warf F. Furet die 1921 erschienene Studie von Cochin, Les soci¦t¦s de pens¦e et la d¦mocratie, als möglichen Ansatz für ein eventuell soziologisches Deutungsmuster der Französischen Revolution in die historiographische Debatte. Vgl. Id., Penser la R¦volution franÅaise, Paris, 1978. 20 Zum Thema des sowohl individuellen als auch kollektiven Kulturkonsums als schöpferischem Faktum vgl. M. de Certeau, L’invention du quotidien, Bd. I, Arts de faire, Paris, 1980, S. 75 ff., dt.: Die Kultur des Handelns, Merve, Berlin, 1988; zu den vielfältigen theoretischen Grundlagen der neuen Kulturwissenschaft vgl. The New Cultural History, hrsg. von L. Hunt, Berkeley, 1989; Beyond the Cultural Turn, hrsg. von V.E. Bonnel und L. Hunt, Berkeley-Los Angeles-London, 1999. 21 Zum Thema der Akkulturation als historischem Prozess vgl. die Pionierarbeit von A. Dupront, De l’acculturation, in: XIIe CongrÀs international de sciences historiques, Bd. I, Grands thÀmes, Horn-Vienne, 1965, S. 7 – 36. Dupronts Entwurf versteht den komplexen Vorgang der Akkulturation als gesellschaftlich dynamisches Phänomen, und nicht als statisches Faktum wie es die klassische Anthropologie und Soziologie bisher definierte, um inhärente Strukturen besser herausarbeiten zu können.
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Strategien sozialer Kommunikation und symbolischer Zuweisung von Bedeutungsformen der Realität22. Zudem konzentriert sich der neue Forschungsansatz auf die historische Analyse der relationalen Dynamik, die jeweils zwischen der Praktik und ihrer Repräsentation, also ihrer darstellenden Veranschaulichung besteht, zwischen dem Mechanismus der sozialen Unterschiede und der Prägung der kulturellen Felder, zwischen Diskursen und Kontexten, zwischen sprachlicher Erneuerung und Veränderung der Institutionen. Es darf nie vergessen werden, dass Geschichte und Kultur immer zugleich »System und Prozess« ist, »Istitution und individueller Akt«, wie Roland Barthes dieses komplexe Thema definierte, also ein »Reservoire an Ausdrucksformen und Ordnung von Bedeutungen«, die sowohl von Institutionen wie auch von Individuen getragen werden.23 Von diesem Standpunkt aus ergibt sich zwingend, dass Praktik und Repräsentation, also das Modell und dessen jeweilige Umsetzung, solange nur irgend möglich unter einem gemeinsamen historischen Blickwinkel zusammengedacht werden müssen, das heißt als untrennbare Elemente, die in ihrem wechselseitigen Interagieren einander bedingen. Unter allen bis zum heutigen Tag durchexerzierten verschiedenen Forschungsmethoden verspricht dieser kulturhistorische Ansatz am ehesten, überzeugende Einsichten in die komplexe Welt der Aufklärung vorzulegen. Es geht darum, die einheitliche Dimension der Wechselwirkung zwischen Praktik und Repräsentation zu veranschaulichen, um das Zusammenspiel der Werte, der Ideen, des sozialen Umfeldes im globalen Kontext der Aufklärung historisch zu
22 Robert Darnton greift zum Beispiel für seine innovativen Studien mit Gewinn auf die Theorien von Clifford Geertz zurück, vgl. Id., The Great Cat Massacre and Other Episodes in French Cultural History, New York, 1984, dt.: Das große Katzenmasssaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution., übers. von Jörg Trobitius, Hanser, München, 1989. Eine weitere neue Strategie in der Geschichtsforschung ist auch die sogenannte Theorie des »Verhandelns«, die vor allem von Vertretern des New historicism aufgegriffen wurde; vgl. B. Thomas, The New Historicism and Other Old-Fashioned Topics, Princeton, 1991, dt.: New Historicism, Kulturpoetik und das Ende der amerikanischen Geschichte, in: G. Scholz (Hrsg.), Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine internationale Diskussion, Berlin, 1996. 23 Vgl. R. Barthes, Histoire et sociologie du vÞtement et de la mode in: »Annales E.S.C.«, XXI, 1957, S. 441 (wieder aufgenommen in Barthes’ SystÀme de la mode (1967), dt.: Die Sprache der Mode, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1985. Die theoretische Grundlage für die Erfassung von Begriffen wie dem »sozialen Feld«, dem »kulturellen Kapital« oder dem »Habitus«, die für die Erforschung der komplexen Wechselwirkung zwischen Praktik und Repräsentation unabdingbar sind, lieferten die Untersuchungen von P. Bourdieu, Esquisse d’une th¦orie de la pratique, GenÀve, 1972, dt.: Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt/M., 1976, sowie Id., La distinction. Critique sociale du jugement, Paris, 1979 (zwischen 1963 – 1978 entstanden); dt.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1982.
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rekonstruieren. Schließlich geht es um die Untersuchung der Grundlage, auf der das Selbstverständnis und die moderne Identität des Abendlandes beruht24.
24 Vgl. D. Roche, La culture des apparences, Paris, 1989; V. Ferrone, The Accademia Reale delle Scienze: Cultural Sociability and Men of Letters in Turin of the Enlightenment under Vittorio Amedeo III, in: »The Journal of Modern History«, Bd. 70 (1998), S. 519 – 560. Auch das Forschungsvorhaben eines kritischen Wörterbuches zu Grundbegriffen der Aufklärung, (siehe L’Illuminismo. Dizionario storico, a. a. O.), ging von den grundsätzlichen Überlegungen aus, wie ein neuer, ganzheitlich orientierter Entwurf über das historisch-kulturelle System der Aufklärung zu denken sei. Dementsprechend war der Ausgangspunkt notgedrungen die Definition der Kultur als »l’ensemble des practiques et des r¦presentations ins¦pares, ins¦parables, communes a l’ensemble d’une soci¦t¦«. Allgemein zu diesem Thema vgl. den polemischen Beitrag von A. Torre, Percorsi della pratica 1966 – 1995, in: »Quaderni storici«, XXX, Nr. 89 (1995), S.199 ff., sowie die ebenso scharfe und polemische Antwort von R. Chartier, Rappresentazione della pratica, pratica della rappresentazione, in: ivi, XXX, Nr. 92 (1996), S. 487 ff.: die Auseinandersetzung zwischen den beiden Aufklärungsforschern zeigt die ganze Bandbreite und die unterschiedlichen Möglichkeiten des neuen kulturhistorischen Ansatzes. Ein erhellendes Beispiel für die unzweifelhafte Leistungsfähigkeit des Modells von der Wechselwirkung zwischen Praktik und Repräsentation bietet die Untersuchung von S. Cerutti, Giustizia sommaria. Pratiche e ideali di giustizia in una societ di Ancien R¦gime (Torino XVIII secolo), Milano, 2003.
V. Was war die Aufklärung? Der Humanismus der Modernen im europäischen Ancien Régime
Untersucht man einen so komplexen Akkulturationsprozess wie den der Aufklärung im Kontext des europäischen Ancien R¦gime, muss man wohl oder übel einen geeigneten Ansatzpunkt für die historische Aufarbeitung dieses Phänomen herausfinden. Bei der Analyse der Dynamik zwischen Vorstellungen des Weltbildes und konkreter Umsetzung in die Praxis müssen Prioritäten gesetzt werden, um die kulturellen Transformationen zu begreifen1. Zumeist liegt diese Festlegung der Prioritäten im Ermessen des Forschers und hängt also von dessen Kompetenz ab, und zwar sowohl von der Typologie seines erworbenen Wissens als auch, nicht zuletzt, von dem jeweiligen Moment der historiographischen Debatte. In diesem Fall kann es allerdings kaum einen Zweifel geben, dass es derzeit nur einen hervorragenden Ausgangspunkt für den Versuch gibt, die Aufklärung als einheitliche Bewegung zu rekonstruieren, und zwar die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Intellektuellen. Es reicht nicht hin, die Aufklärung traditionell als spezifische Geschichte eines Korpus von Leitideen zu überdenken, so unverzichtbar das unmittelbare Studium der grundlegenden Schriften auch nach wie vor bleibt. Zu diesen Leitideen zählen immerhin Gedanken wie die Kritik am religiösen Fanatismus, also die Basis des religiösen und zivilen Toleranzgedankens, der Durchbruch zu einem Weltbild, das wissenschaftlich und philosophisch auf das Vertrauen in Beobachtung und Erfahrung setzt, die unvoreingenommene Überprüfung von menschlichen Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Institutionen rund um den ganzen Erdball, die Neuformulierung des politischen und sozialen Konsenses auf der Grundlage des Naturrechts und der unverhandelbaren Freiheit des Menschen, und schließlich die Definition einer allgemein gültigen Sittlichkeit sowie eines universalen Ethos und vieles mehr. Wie dieses Programm aber versucht wurde umzusetzen, das 1 Ein aufschlussreiches Beispiel für diese Herangehensweise an historische Fragen liefert das Kapitel La formalit¦ des pratiques. Du systÀme religieux l’¦thique des LumiÀres (XVIIeXVIIIe), in: M. de Certeau, L’Êcriture de l’histoire, Paris, 1975, S. 153 ff.; dt.: Das Schreiben der Geschichte, Campus Verlag, Frankfurt/M., 1991.
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kann nur über die Geschichte der Intellektuellen nachgezeichnet werden. Sie dient dabei als intellektueller Bezugshorizont jeglichen konkreten Handelns, als ursprüngliches Denksystem und ursprünglicher Denkstil, die Tat und Reflexion prägen, als von der Fachwelt akzeptiertes »Paradigma« im Sinn, wie es Kuhn ursprünglich verwendet hat, das heißt also als »konkrete Problemlösungen innerhalb eines präzisen historischen Kontextes«.2 Im Laufe dieser Vorlesung werden wir also den Rahmen einer ersten allgemeinen Forschungshypothese entwerfen, die dann in spezifischen Arbeiten Punkt um Punkt verifiziert werden soll. Kants Philosophie wurde von der Forschung in erster Linie als Versuch gesehen, einen spezifisch aufklärerischen Vernunftbegriff zu entwickeln und in die Geschichte des Rationalismus im Abendland einzubetten, die ihrerseits wiederum durch die wissenschaftliche Revolution gekennzeichnet war. Der Akzent lag also auf der Betonung der operativen Modalitäten dieser Vernunft und auf der Forderung nach deren proklamiertem kritischen und öffentlichen Gebrauch in allen Bereichen. Diese traditionelle Lesart von Kants Philosophie hat allerdings lange das entscheidende Thema vernachlässigt, wer denn im Zentrum seines Vernunftgedankens stehe, nämlich der Mensch und dessen fortschreitende Bewusstwerdung, also die zunehmende Einsicht in seine substantielle Autonomie und Endlichkeit, sowie die Anerkennung seiner Freiheit und zugleich seiner Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber : »Ohne SelbstBestimmtheit und Selbst-Verantwortung keine Freiheit!«. Wenn man denn schon im intellektuellen Umkreis der Aufklärung nach einem roten Faden oder nach einem einheitlichen Prinzip suchen will, nun gut, dann wird man ganz gewiss im humanistischen Weltbild des 18. Jahrhunderts fündig, in dem unnachgiebigen und hartnäckigen Willen der Vertreter dieser Bewegung, sich in allererster Linie mit der Natur und den Bedingungen des Menschen auseinanderzusetzen, über dessen Grenzen nachzudenken und über die Fähigkeiten, die in ihm stecken. Die Aufklärung war so besessen von diesem Gedanken, dass sich in der Folge die polemische, sicherlich überspitzte Gegenüberstellung von zwei angeblich unterschiedlichen humanistischen Ansätzen herausbilden konnte: auf der einen Seite der aufklärerische Humanismus einer Menschheit ohne Gott, 2 Thomas S. Kuhn bezeichnet das Paradigma in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions, (1962, erw. 1970), dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1976, a. a. O.) als die in einer Gruppe beispielsweise von Wissenschaftlern geltenden Grundannahmen, d. h. »Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern«. (Ibidem, S. 10). Paradigmen festigen sich durch die gemeinsame Erarbeitung von Problemen und Überlieferungen von Problemstellungen und Lösungswegen, und ändern sich in »nicht kumulativen Entwicklungsepisoden, […], in denen ein älteres Paradigma ganz oder teilweise durch ein nicht mit ihm vereinbares neues ersetzt wird«. (Ibidem, S. 104).
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und auf der anderen Seite der christliche Humanismus der religiösen Tradition. Es geht also nicht nur um die kritische Vernunft und deren historische Verwandlungen, sondern hauptsächlich um das unvoreingenommene und mutige Nachdenken des Menschen über den Menschen: das ist es, was den Denkstil der Aufklärung auszeichnet und erforscht werden muss. Anders gesagt, der Akzent muss von der »kritischen Vernunft« auf den Menschen als Mittelpunkt und Träger dieser Vernunft verlagert werden. Eigentlich verweisen bereits unzählige Titel der im Laufe des 18. Jahrhunderts erschienenen Werke und Broschüren auf das besondere Interesse an dieser einmaligen Kreatur, die der Mensch ist, und an dessen Existenz als Individuum und als Mitglied einer Gesellschaft. Was ist der Mensch? Was kann ich als Mensch erkennen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Diese von Kant formulierten präzisen Fragen waren in der europäischen Kultur jener Jahre gegenwärtiger als man heute gemeinhin annimmt. Wir haben gesehen, dass es in der Geschichte nicht an »Humanismen« gemangelt hat und dennoch halten wir es mit Foucault, der unterstrich, dass erst im 18. Jahrhundert mit der Inthronisierung des Menschen auf dem »Platz des Königs« das westliche System der episteme in seinen Grundfesten erschüttert worden sei, wodurch sich erst das Erkenntnisinteresse allein auf den Menschen konzentriert habe. Vor der Aufklärung habe es kein epistemologisches Bewusstsein vom Menschen als solchem gegeben, heißt es bei Foucault: »Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht. Er existierte ebenso wenig, wie die Kraft des Lebens, die Fruchtbarkeit der Arbeit oder die historische Mächtigkeit der Sprache«.3 Der »Humanismus« der Renaissance, der »Rationalismus« der klassischen Epoche, so Foucault, »haben dem Menschen in der Ordnung der Welt wohl einen privilegierten Platz in der Welt geben können, sie haben jedoch den Menschen nicht denken können«4, weil man das Endliche nicht vom Endlichen aus denken konnte. Wird der Mensch gleichzeitig Subjekt und Objekt seines eigenen Verstehens, so stößt er – wie Foucault schon in seinen früheren Studien offen gelegt hatte – auf die Tatsache seiner Endlichkeit im Verhältnis zu den Dingen: »Die Möglichkeit des Individuums, zugleich Subjekt und Objekt seiner eigenen Erkenntnis zu sein, führt dazu, dass sich die Struktur der Endlichkeit im Wissen umkehrt«5. Von historischer Perspektive aus haben viele Denker und Gelehrte eine Kontinuität zwischen dem Humanismus der Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts und dem humanistischen Weltbild der Aufklärung sehen wollen. 3 Vgl. M. Foucault, Les mots et les choses (1966), dt.: Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 372 – 373. 4 Ibidem, 9. Kapitel – Der Mensch und seine Doppel, Abschnitt III – Die Analytik der Endlichkeit, S. 384. 5 Vgl. M. Foucault, Naissance de la clinique (1963), dt.: Die Geburt der Klinik, a. a. O., S. 208.
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Beiträge, die in diese Richtung gingen, ließen sich schon damals finden. Zum Beispiel zeichnete Voltaire in seinem Werk SiÀcle de Louis XIV mit kühner Selbstverständlichkeit das Aufeinanderfolgen der vier Glanzzeiten des menschlichen Geistes nach: die erste sei das klassische Griechenland des Perikles und des Platon gewesen, das zweite Zeitalter das antike Rom von Cicero und Caesar ; es folgt als drittes Zeitalter die Renaissance von Valla und Erasmus, in denen Voltaire die eigentlichen geistigen Väter der modernen Gelehrtenrepublik sehen wollte. Das vierte sei endlich die Regierungszeit des großen Ludwig XIV., des Sonnenkönigs, ein schon beinahe perfektes Zeitalter, das einen Philosophen wie Bayle hervorgebracht habe. Auch Condorcet schloss sich in seinem historischen Abriss Esquisse d’un tableau historique des progrÀs de l’esprit humain dieser These an, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Diese Schriften sind allerdings leicht als rhetorische Übungen zu erkennen, die lediglich dazu dienen sollten, eine noble Ahnengalerie der Aufklärung nachzuzeichnen und eine Fortschrittsphilosophie der Geschichte des menschlichen Geistes zu entwerfen, in der man sich genüsslich spiegeln konnte. Uns sticht dagegen eher die offenkundige historische Diskontinuität des aufklärerischen Humanismus ins Auge. Der Hinweis auf die kontinuierliche kritisch-philologische Methode zur Erforschung der Wahrheit oder das gemeinsame Interesse für die heidnische Antike, die Renaissance und Aufklärung verbinden, genügt keineswegs, um einen plausiblen Zusammenhang über die Jahrhunderte hinweg zu stiften. Damit lassen sich die tiefen Unterschiede, die durch die Veränderung des historischen Kontextes bedingt sind, nicht überzeugend überbrücken. Gewiss, die Suche nach Wahrheit, die durch die unvoreingenommene und kritische Untersuchung von Texten und der Realität gewährleistet sein soll, sowie das gleichzeitige Wissen um die Grenzen dieser Forschungsmethode,6 rücken Valla und Erasmus in die geistige Nähe von Voltaire, Gibbon und Lessing, die eine recht ähnliche Auffassung über den Menschen vertraten und deren Hauptaugenmerk erneut auf die Vernunft, die Erkenntnis und den kritische Geist gerichtet war. Doch es fehlen einige entscheidende Elemente und maßgebliche Details auf dem Weg zum besonderen Humanismus der Aufklärung. Dazu gehört in erster Linie die unumkehrbare Durchsetzung der wissenschaftliche Revolution, die durch die Aufklärung geleistet wurde, samt deren Bahn brechenden Auswirkungen; zweitens die Entstehung eines neuen historischen Bewusstseins, mit Hilfe dessen das Verhältnis zwischen anciens et modernes, also zwischen der Alten und der Modernen Zeit, 6 Vgl. D. Cantimori, Valore dell’umanesimo, in: Id., Studi di storia, Einaudi, Torino, 1976, Bd. II, S. 381. Von großer Bedeutung in diesem Kontext bleibt nach wie vor die Studie von E. Garin, L’umanesimo italiano. Filosofia e vita civile nel Rinascimento, Laterza, Bari, 1952; dt.: Der italienische Humanismus, (nach dem Ms. ins Deutsche übertragen von Giuseppe Zamboni), Francke, Bern, 1947.
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zwischen Heilsgeschichte und profaner Geschichte endlich neu definiert werden konnte, was erst mit dem traditionellen, bisher unangefochtenen Primat der Theologie grundsätzlich aufräumte. Bis heute finden die historischen und ideologischen Auswirkungen, die der Sieg der wissenschaftlichen und experimentellen Methode mit sich brachte, viel zu wenig Beachtung gegenüber den epistemologischen und philosophischen Folgen, die nach wie vor meist überbewertet werden. Auch wurde bisher versäumt, über die im Zuge der Aufklärung stattgefundene übernationale Neuorganisation der Forschung nachzudenken: durch die gesamteuropäische Ausweitung der neuen wissenschaftlichen Akademien wurde ein Forum geschaffen, wo die Natur und das Wesen des Menschen, seine Grenzen und seine Erkenntnismöglichkeiten völlig neu verhandelt werden konnten. Die kosmopolitische Ausrichtung der antiken Stoa zum Beispiel, die zu diesem Behuf wieder aufgegriffen wurde, ging gestärkt und vollkommen neu definiert aus diesem Prozess hervor7. Im Laufe des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts begann der Kampf gegen den Aberglauben und gegen die magisch-hermetischen Schriften Früchte zu tragen, während hingegen der Glaube an eine universelle Erkenntnis, die für alle nachvollziehbar und überprüfbar war, zunehmend imstande war, viele Dinge zu verändern. Francis Bacon verdeutlichte in seinem wissenschaftstheoretischen Hauptwerk Novum Organum von 1620, welcher Abgrund zwischen dem mystischen Geraune der Magier in der Renaissance und dem modernen Wissenschaftsbetrieb mit seinem institutionellen System der Akademien klaffte: auf der einen Seite die nicht mitteilbaren Erfahrungen einiger weniger Adepten, auf der anderen Seite die klaren und allen einsichtigen Regeln, für deren Anwendung man kein auserlesener Geist sein musste, die nachweisbare Glaubwürdigkeit der Untersuchungsergebnisse in allen Forschungsbereichen, die auf Verifizierung und Wiederholbarkeit der Experimente beruhte.8 Diese »demokratische« und öffentliche Art und Weise der Forschungsarbeit bei der Suche nach Wahrheit, die durch die Entwicklung des Pressewesens noch einen weiteren Schub erfuhr, war allen verständlich, da sowohl die Anordnung des Experiments wie auch die Debatte über die Ergebnisse für alle zugänglich und nachvollziehbar war. Eine direkte Folge davon war eine Veränderung in der Wahrnehmung von Ursache und Wirkung; und diese deutliche und unabweisbare Einsicht in das Aufeinanderfolgen der Ereignisse führte endlich dazu, dass ein endgültiger Schlussstrich unter die Jahrhunderte lang andauernde querelle des anciens et des 7 Vgl. M. Jacob, Strangers Nowhere in the World: The Rise of Cosmopolitanism in Early Modern Europe, Philadelphia, 2006. 8 Vgl. Francis Bacon, Neues Organon. Novum Organum Lateinisch–deutsch, hrsg. von Wolfgang Krohn, lateinischer Text nach der Ausgabe Spedding, deutscher Text nach der Ausgabe Buhr in der Übersetzung von Rudolf Hoffmann und Gertraud Korf, Anmerkungen von Wolfgang Krohn, (PhB 400) Meiner Verlag, Hamburg,1990.
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modernes gezogen werden konnte. Der Streit zwischen Altem und Modernem endete mit einem deutlichen Votum für die Neuzeit. Die These von der Überlegenheit der modernes setzte sich also durch und das zukunftsorientierte Versprechen von menschlicher Autonomie und Freiheit wurde sozusagen als menschheitsgeschichtliches Projekt erobert. Dabei konnte man nicht nur auf die Tatsache zurückgreifen, dass die stürmische Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis zu einer bisher undenkbaren Anhäufung von Wissen geführt hatte, neben der Einsicht in das überlieferte Kulturerbe, das dem Menschen zur Verfügung stand, sondern man begriff auch, dass die Zeit die Alten vor andere Probleme gestellt hatte und dass die Modernen sich ein neueres und sehr viel wirkungsmächtigeres Wissen zunutze machen konnten als dies in der Vergangenheit je möglich gewesen wäre. Stellt man das eher gefühlsmäßig bedingte Forschungsinteresse, das die Humanisten des 15. Jahrhunderts an der Antike zeigten, gar zu simpel mit dem handfesten politischen Interesse, das die Aufklärer am Humanismus bekundeten, auf eine Stufe, fällt einiges unter den Tisch. Denn während die Humanisten des 15. Jahrhunderts ihre aufsehenerregende Leistung darin sahen, nach Jahrtausenden des erzwungenen Vergessens die heidnische Welt entdeckt zu haben und die kluge kritisch-philologische Edition von faszinierenden und lang verschollenen Texten besorgt zu haben, lag der Schwerpunkt der Humanisten in der Aufklärung dagegen im Gebrauch und kulturellen Konsum eben dieser Schriften – allerdings aus der Warte eines historisch völlig anderen Kontextes, der den Humanismus im 15. Jahrhundert als längst überholt empfand und stattdessen damit beschäftigt war, die Zukunft zu planen und zu realisieren. Es sollte nicht vergessen werden, dass es sich bei dem ständigen stereotypen Vergleich zwischen anciens et modernes um einen Gemeinplatz der aufklärerischen Literatur handelt. Die berühmten Thesen von Benjamin Constant über die Freiheit der Alten und die Freiheit der Modernen, die im 19. Jahrhundert für soviel Aufregung gesorgt hatten, waren schon dem 18. Jahrhundert nicht fremd. Dieser Denkstil war von zwei Momenten geprägt: von dem unablässigen Mechanismus der Gegenüberstellung, das heißt von dem Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart, die im Licht einer Zukunft beleuchtet wurde, die noch zu konstruieren war, und von der kulturellen Transformation der Werte und Ideen, die im antiken Griechenland und im republikanischen und kaiserzeitlichen Rom ausgearbeitet worden waren9. Tatsache ist, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der aufklärerischen Gedanken ohne das von den Stoikern und 9 Vgl. L. Guerci, Libert degli antichi e libert dei moderni. Sparta, Atene e i »philosophes« nella Francia del ’700, Napoli, 1979; zu B. Constant siehe die Rede De la libert¦ des Anciens compar¦e celle des Modernes (1819), dt.: Über die Freiheit der Alten im Vergleich zur der Heutigen. Rede vor dem Athen¦e Royal in Paris, in: Werke, Bd. IV, Propyläen Verlag, Berlin, S. 365 – 396.
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Epikureern erarbeitete philosophische Arsenal nicht denkbar ist. So stammt zum Beispiel Voltaires Aufforderung »Souviens-toi de ta dignit¦ d’homme«10 direkt aus Ciceros De officiis, einem Standardwerk antiker Ethik, das bei den Aufklärern großen Anklang fand. An jene Begründung des Humanitas-Begriffs in der klassischen Antike, wie sie in den Werken von Epiktet, Seneca, Sallust, Lucrez und Mark Aurel dargelegt worden war, wollten die Aufklärer anknüpfen, um eine universelle, allgemein akzeptierte Norm von Sitte und Moral zu entwerfen. In diesem Sinne kommt den Worten des Komödiendichters Terenz: »homo sum, humani a me nihil alienum puto«, als dem wahren Motto der Aufklärung mehr Bedeutung zu, als dem berühmten sapere aude, das auf Horaz zurückgeht. Es ist kein Zufall, dass der Ausspruch des Terenz unter dem Eintrag philosophe in die Encyclop¦die Eingang gefunden hatte und weite Verbreitung erfuhr. Die großen Humanisten der Renaissance – stellvertretend sei hier nur Erasmus genannt – zogen die Methoden der humanistischen Philologie zur Rekonstruktion antiker Texte heran, vor allem um das mittelalterliche Christentum zu reformieren und die Frohbotschaft zu ihrem evangelischen Ursprung zurückzuführen. Es ging darum, das augustinische Denken, das die christliche Dogmatik begründet und durchgesetzt hatte, gleichsam rückwärts aufzurollen. Im Gegensatz dazu gingen die Aufklärer gezielt nur mit ausgewählten Beispielen vor und verfolgten bei ihrem Rückgriff auf die Antike völlig andere Ziele. In den Augen der Aufklärer spielte die geniale Assimilation des antiken Gedankengutes von Platon bis Cicero, die Augustinus im Dienst einer tiefen Begründung der göttlichen Heilslehre vorgenommen hatte, keine sonderlich wichtige Rolle. Ihr Interesse und ihre entschiedene Sympathie galten dem kritischen Geist der Griechen und Römer, weniger der jüdischen und christlichen Tradition, deren Glaube auf Offenbarung und göttlicher Inspiration gründet. Im Gegensatz zum Christentum bot die heidnische Welt der Antike mit ihrem toleranten Polytheismus, ihren philosophischen Versuchen, die Wahrheit zu erforschen und universelle Werte auf ethischer und politischer Ebene zu entwickeln, die vom Menschen ausgingen und für den Menschen gedacht waren, zahlreiche Anknüpfungspunkte und bildeten ein weit wertvolleres Erbe, das es innerhalb des neuen aufklärerischen Humanismus, wie ihn die modernes selbstbewusst und voller Stolz selbst definierten, kulturell zu überdenken und den neuen Bedürfnissen anzuverwandeln galt. Der Dualismus und der Streit, wem zwischen der jüdisch-christlichen Tradition auf der einen Seite und der Philosophie und dem kritischen Geist der 10 Vgl. das Stichwort »M¦chant« in Voltaires Dictionnaire philosophique (1764), in The complete works of Voltaire- Les œuvres complÀtes de Voltaire, Gesamtred. Ulla Kölving, Bd. 36 (2 Bd.e), hrsg. von Christiane Mervaud, Oxford, Voltaire Foundation, 1994 – 1995.
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griechisch-römischen Antike auf der anderen Seite der Vorzug gebühre, flammte in allen Debatten im 18. Jahrhundert auf, vor allem dort, wo sich Philosophen, Theologen und Priester in der Frage um die rechte Seelsorge stritten und dabei oft scharf aneinander gerieten. Ein nur zu deutlicher Hinweis auf diese Polemik ist die Berufung auf Sokrates, dessen geradezu mythische Verehrung bei allen europäischen Aufklärern verbreitet war : Sokrates als wohl prominentester geistiger Gründervater kritischen Denkens, der tragische, jedoch unbeugsame Held im ewigen Widerstreit zwischen religiösem Aberglauben und philosophischem Streben nach Wahrheit. Die These von Peter Gay in bezug auf die Geschichte der Intellektuellen hat durchaus ihre Berechtigung, wenn er meint: »The Enlightenment was a volatile misture of classicism, impiety and science; the philosophes, in a phrase, were modern pagans«11. Tatsächlich speiste sich der Humanismus im 18. Jahrhundert, im Unterschied zur Vergangenheit, aus völlig anderen Quellen: mit Macht und mit einer vorher nie gekannten Durchsetzungskraft brach er sich Bahn, was wohl vor allem auf Ereignisse und außerordentliche Erfahrungen während der furchtbaren Religionskriege und der immer religiös gefärbten Bürgerkriege im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts zurückzuführen ist. Es kann gar nicht nachdrücklich genug auf die verheerenden und lange nachwirkenden Folgen dieser Kriege hingewiesen werden, auf die tiefen Spuren, die sie im europäischen Bewusstsein hinterlassen haben und die geraume Zeit sogar die Identität des Abendlandes maßgeblich mitgeprägt haben.12 Aus dem Gemetzel zwischen Hugenotten und Katholiken in Frankreich, das bis zum Edikt von Nantes im Jahre 1598 wütete, und aus dem Dreißigjährigen Krieg, der 1618 mitten im Herzen Europas ausbrach und weite Teile Mitteleuropas verwüstete, ging der Kontinent äußerlich zerrissen und innerlich in einer tiefen Krise hervor. Das Abendland schien am Ende seiner Kräfte: die ökumenische Geschlossenheit der tausendjährigen respublica christiana war zersplittert und in Kirchen, Sekten und Konfessionen zerfallen, deren unversöhnliche Unterschiede in Doktrin und Katechese unüberbrückbar waren. Nach diesen Kriegsgräueln war nichts mehr wie es einmal war. In den deutschen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches, die am stärksten unter den endlosen kriegerischen Auseinandersetzungen litten und zusätzlich von Epidemien und Hungersnöten betroffen waren, wurde die Bevölkerung um über zwei Drittel dezimiert. Plünderungen, Mord und Totschlag, blinde Zerstö11 Vgl. P. Gay, The Enlightenment: An Interpretation, a. a. O., S. 8. 12 Einer der ersten Historiker, der diesen deutlichen Zusammenhang zwischen den Religionskriegen und der Säkularisierung der Aufklärer ausgeleuchtet hat, war E. Troeltsch, siehe dazu Id., Die Aufklärung (1897), in Gesammelte Schriften, hrsg. von H. Baron (Neudruck der Ausgabe 1925), Bd. IV, Aufsätze zu Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Scientia Verlag, Aalen, 1962, S. 338 – 347), sowie auch den späteren Aufsatz Das Wesen der modernen Geistes (1907), immer in Gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. IV, S. 297 – 338.
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rungswut und brandschatzender Rachedurst verwüsteten Stadt und Land und bewirkten einen demographischen Niedergang, von dem man sich erst ein halbes Jahrhundert später wieder erholte. Die grausame Gewalttätigkeit dieses neuen Typs von Krieg, der im Namen der Religion geführt wurde, war genau aus diesem Grund politisch nicht zu lösen, und die Haltung der kämpfenden Parteien war von Hass und Verachtung für den Gegner gezeichnet. Diese Kriege waren nur durch Abschwörung und Widerruf von Seiten der jeweils gerade unterliegenden Partei beizulegen, das heißt durch die religiöse »Säuberung« der Gebiete nach dem Prinzip des cuius regio eius religio. Daraus erwuchs unvermeidlich ein Nachdenken über das Verhältnis zwischen Politik und Religion und über die postulierte Vorherrschaft der Theologie in den menschlichen Belangen, was schließlich das gesamte Fundament der damaligen Welt ins Wanken bringen sollte. Die Gefahr der Selbstzerstörung, die Europa in jenen Jahren ganz konkret erfahren hatte, stellte die Weichen für die Idee und das Konzept der Menschenrechte, deren Entwicklung und Formulierung unbestreitbar die größte Leistung der Aufklärung ist. Ohne die furchtbaren Religionskriege hätte Pierre Bayle, einer der geistigen Väter der Aufklärung, der übrigens nach dem Edikt von Nantes gezwungen war, nach Holland zu flüchten, vielleicht nie den Mut gefunden, im Jahr 1682 in seinen Pens¦es diverses, ¦crites un docteur de Sorbonne, l’occasion de la comÀte qui parut au mois de d¦cembre 1680 jene Thesen zu formulieren, die als das Manifest der Agnostiker gilt, als Entwurf einer »Republik der Atheisten« nach dem Vorbild der R¦publique des Lettres: es sei durchaus möglich, eine tugendhafte Gemeinschaft jenseits aller Religion zu begründen, allein auf der Grundlage einer politischen und moralischen Ordnung mit menschlichem Antlitz.13 Diese These, die von vielen als paradox, monströs und unerhört empfunden wurde, taucht mehr oder minder explizit in allen Hauptwerken des 18. Jahrhunderts auf, sie war der Sauerteig, der das aufklärerische Denken in Gärung geraten ließ und schließlich den endgültigen Bruch mit dem vorherrschenden christlichen Humanismus auslöste, der sich nie wieder kitten lassen sollte. Unvereinbar mit dem Gedankengut der Aufklärung erwies sich die christliche Vorstellung eines Humanismus, der letztlich in der Heilslehre gründet, wonach also die Natur und die Identität des Menschen nur durch den göttlichen Heilsplan definiert ist. Der Mensch als »Kind Gottes« hat nur die 13 Vgl. P. Bayle, Pens¦es diverses, ¦crites un docteur de Sorbonne, l’occasion de la comÀte qui parut au mois de d¦cembre 1680 (Rotterdam 1683 – 1694), hrsg. von A. Prat und P. R¦tat unter dem heute üblichen Titel Pens¦es diverses sur la comÀte (1911 – 12), unveränd. Nachdruck Paris, 1994; die deutsche Übersetzung stammt von J.C. Gottsched, Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist, hrsg. von J. C. Faber, Reclam, Leipzig, 1975 (Reclams Universal-Bibliothek, Band 592).
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Chance, in Christus den Ruf des göttlichen Vaters zu hören und ihm zu folgen, als homo viator und Pilger durch das saeculum, wie es im berühmten Gleichnis des Augustinus heißt, als ruheloser Wanderer in einer ihm fremden Welt, stets auf der Suche nach der wahren geistigen Heimat, eine verlorene Seele ohne authentische Autonomie in diesem »Schattenreich«, wie es in Platons faszinierender Lehre von der Unsterblichkeit der Seele im Phaidon dargestellt ist: das irdische Leben, so Augustinus, ist nur eine vorübergehende Episode auf dem Weg ins Jenseits. Wahrscheinlich haben sogar diejenigen Recht, die gebetmühlenhaft wiederholen, die religiöse Frage bleibe einer der Dreh-und Angelpunkte der Aufklärung und ihrer Betrachtungen über das Schicksal des Menschen, seiner Bedingtheit und seiner Belange. Dennoch muss sich auch hier die Geschichtswissenschaft von einigen Anachronismen und Gemeinplätzen verabschieden und ihren Forschungsschwerpunkt verlagern: derzeit liegt das Erkenntnisinteresse nach wie vor auf der Erforschung des materialistischen Aspekts und der atheistischen Propaganda gegen das Christentum, wie sie von einer kleinen Schar Intellektueller in den Pariser Zirkeln in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreitet wurde. Dabei geht allerdings völlig unter, dass die Mehrheit, darunter so illustre Denker wie zum Beispiel Voltaire, Rousseau, Lessing, Filangieri und vornehmlich die Protagonisten der europäischen Freimaurerbewegung, jene sehr viel breitere Strömung trugen, die eine umfassende Reform des religiösen Denkens im Auge hatte. Und genau diese Neuorientierung des religiösen Empfindens bildet den eigentlichen Kern des breiten Prozesses, der zum modernen Weltbild des Abendland führen sollte. Zweifellos trug die Verlagsoffensive der coterie holbachique, der »Holbach’schen Clique«. die in den sechziger Jahren die gesamten Klassiker der materialistischen Literatur der Libertins und der englischen Freethinkers wie Toland und Collins neu herausgab, nicht unwesentlich zu der so genannten Entchristlichung des Abendlandes und zur Krise der Infme bei14. Mit der Veröffentlichung von Büchern wie dem Brunus redivivus, dem Militaire philosophe oder dem Trait¦ des trois imposteurs torpedierte der radikale Flügel der 14 Der herrschende Ton und die Argumente der Polemik lassen sich im berühmten Brief von Diderot an Voltaire vom September 1762 gut belegen: »Notre devise est: Sans quartier pour les superstitieux, pour les fanatiques, pour les ignorants, pour les m¦chants et pour les tyrans […] Est-ce qu’on s’appelle philosophes pour rien? Quoi! Le mensonge aura ses martyrs, et la v¦rit¦ ne sera prÞch¦e que par les lche? Ce qui me plit des frÀres, c’est de les voir presque tous mois unis par la haine et le m¦pris de celle que vous appel¦e l’infme que par l’amour de la vertu, par le sentiment de la bienfaisance et par le gout du vrai, du bon, et du beau, espÀce de trinit¦ qui vaut un peu mieux que la leur. Ce n’est pas assez que d’en savoir plus qu’eux; il faut leur montrer que nous sommes meilleurs, et que la philosophie fait plus de gens de bien que la grce suffisante ou efficace.« (Zit. nach P. Gay, The Enlightenment: An Interpretation, a. a. O., S. 206).
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Aufklärung, auf den wir später noch zu sprechen kommen, die Basis der drei großen Offenbarungsreligionen, deckte die unheilige Allianz von Thron und Altar schonungslos auf und enthüllte ohne Rücksicht auf Verluste, wie die Religion das System der imperii arcani, der »Arkanpolitik«, unterstützte. Doch gerade diese von Paris sich ausbreitende neue Welle radikaler und materialistischer Propaganda, die in Gegensatz zu vorherigen, eher freigeistigen und der Philosophie Spinozas nahestehenden Phase stand, zeigt die hochkomplexe Geschichte der religiösen Aufklärung – die im Übrigen noch ihrer Untersuchung harrt. Mit der posthumen Veröffentlichung der Werke von Nicolas Boulanger begann denn auch eine neue Phase im Zeichen einer originellen Gedankenschöpfung15. In seinen wissenschaftlichen Studien zur Religion und zum religiösen Empfinden entwickelte Boulanger die Theorie, dass die Ursprünge der Religion in der Reaktion früher Gesellschaften auf Naturkatastrophen zu suchen seien. Als Beispiel nennt er die weltumspannenden Flutkatastrophen, die sich in den Mythen vieler Kulturen nachweisen lassen. Das war ein ganz anderer Denkansatz, als der von Bayle über eine mögliche Republik der Atheisten. Unübliche Fragen, die der alten freigeistigen Tradition fern standen, wurden plötzlich legitim und hoch aktuell. Könnte zum Beispiel dieses Bedürfnis nach Religiosität, das sich im neuerwachten Interesse an der Geschichte der Religionen und in den entstehenden Wissenschaften vom Menschen niederschlug, zu politischen Zwecken wie der angestrebten Emanzipation der Massen genutzt werden? Könnten etwa gar mythisches und rationales Denken, Philosophie und religiöser Enthusiasmus im Namen eines fortschrittsorientierten Zivilisationsprojekts eine Verbindung eingehen, wenn man dem Glauben nur eine andere Bedeutung und neue Ziele gäbe, die sich von den Werten des traditionellen christlichen Humanismus unterschieden? Rund um diese Fragestellungen nahmen in den siebziger und achtziger Jahren die bedeutsamen Betrachtungen über die zivilen und politischen Bekenntnisse der Moderne Kontur an. Es ist kein Zufall, dass diese Themen um sich griffen, nachdem sie von Rousseau in seinem Contrat social behandelt worden waren. Eben diese Argument wurde vielfach aufgenommen, mit dem erklärten Ziel, eine »ewige Religion der Aufklärung«16 zu schaffen, wie Gaetano Filangieri in seinem fundamentalen Werk über die Gesetzgebung, der Scienza della legislazione schrieb. Das Ziel war also eine völlig unbelastete, kraftvolle religio laica im Dienste einer gerechteren Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern. 15 Vgl. dazu die grundlegende Studie von F. Venturi, L’antichit svelata e l’idea del progresso in N.A. Boulanger (1722 – 1759), Laterza, Bari, 1947. 16 Vgl. dazu V. Ferrone, I profeti dell’Illuminismo. Le metamorfosi della ragione nel tardo Settecento italiano, Laterza, Bari-Roma, 1989, vor allem S. 338 ff.
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Tatsächlich war die Aufklärung genau besehen auch und in erster Linie eine außerordentliche religiöse Revolution: sie hat Jahrtausende alte abendländische Denkweisen zutiefst verändert. Vor allem wurde die Beziehung zwischen Gott und Mensch auf den Kopf gestellt, die Hierarchie wurde umgekehrt, wodurch dem Menschen eine bisher ungeahnte Autonomie zufiel. Im Gegensatz zur traditionellen Vorstellung der göttlichen Vorhersehung trug der Mensch nun allerdings, zusammen mit der gewonnenen Freiheit, auch selbst die Verantwortung für sein Schicksal. Vom geschichtlichen Standpunkt aus ist diese Wandlung weniger der atheistischen und materialistischen Propaganda einiger Aufklärer zu verdanken, da dieses Phänomen, so beeindruckend es auch sein mochte und viel Geschrei verursachte, doch stets relativ begrenzt blieb. Entscheidend war vielmehr die aufklärerische Neudefinition der Religion und des Gottesbildes, die Debatte um dessen Funktion und Bedeutung. Direkte Auswirkungen dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem religiösen Denken lassen sich in Deutschland im rationalen Protestantismus ausmachen, – man denke nur an die sogenannte »christliche« Aufklärung, in Italien in der Betonung des Royalismus und im Jansenismus, und in England bei den verschiedenen Strömungen der Freidenker. Schließlich wurden mit der Forderung nach einer universell für alle Völker dieser Welt gültigen, »natürlichen« Religion, d. h. einer Vernunftreligion, die geschichtlichen und theologischen Grundlagen aller großen Offenbarungsreligionen selbst angegriffen. Zwei Strömungen lassen sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verfolgen: die eine lässt sich mit dem Begriff des Deismus umreißen, und wie bereits Franco Venturi schrieb, sei im Zuge des Deismus der alte und überholte Gott all seiner legendären, mythischen, persönlichen und menschlichen Attribute entkleidet worden, – der Glaube sei zu einer rationalen Vernunftsache geworden. Die andere Strömung, weit weniger bekannt, aber deshalb nicht weniger interessant, wollte dagegen aus dem biblischen Gott einen »empfindsamen« Gott machen, der die Freuden und Leiden des Menschenlebens teilte und wie der Mensch auf der leidenschaftlichen Suche nach Sinn war. Das Ganze lief auf eine Art Doppelmord an dem alten Gott hinaus, der auf der einen Seite immer höher in den Himmel entrückt wurde, von wo aus er die weltlichen Geschäfte der Menschen nur noch aus der Sicht eines weisen Zeugen beobachtete. Auf der anderen Seite wurde der Herrgott hingegen resolut auf die Erde geholt, wo er bis hin zur Unkenntlichkeit der menschlichen Dimension anverwandelt wurde. Dieses letztere Verständnis des Heiligen, das zwar auf den philosophischen Spinozismus zurückging, sich vor allem jedoch aus dem Pietismus speiste, übte das gesamte 18. Jahrhundert über großen Einfluss auf die Aufklärung aus, wie sich anhand angesehener Denker wie Fenelon, Ramsay, Shaftesbury, Radicati di
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Passerano, Rousseau, Genovesi und vielen anderen überzeugend darlegen lässt17. Um die herausragende Bedeutung zu ermessen, die dem kritischen Überdenken des traditionellen Bildes der Offenbarungsreligionen zukommt, sei exemplarisch auf das Leben und Wirken von Voltaire hingewiesen: genau in diesem Bereich wurden die Grundlagen für die Moderne gelegt, hier liegt die wahre Bedeutung der Aufklärung. Voltaire war weder der atheistischen Propaganda der »Holbach’schen Clique« verpflichtet, noch stand er Rousseaus pietistisch angehauchter politischer Theologie nahe; ihm schwebte eine Religion vor, die unter den Anhängern der Aufklärung begeisterten Anklang finden sollte: Voltaires Religion war nach dem Denkmuster der Aufklärer auf die Bedürfnisse der Menschen gemünzt, sie sollte ein für das Leben nützliches Instrument stellen, ohne Kirche und Hierarchie, ohne Fanatismus und Intoleranz. Es sollte eine Religion sein, die sich all jener theologischen Debatten enthielt, die sich wie eine Pest ausgebreitet hatten; es sollte eine Religion sein, die auf vernünftige und allgemein akzeptierte Weise das Menschengeschlecht nicht trennen, sondern verbinden und einen solle. In dieser Hinsicht hegte Voltaire keine besondere Sympathie für Bayles Thesen einer Republik der Atheisten. Zeitlebens hielt er dagegen, dass Gott erfunden werden müsse, wenn es ihn noch nicht gäbe: »So offenbart der Bau des besser erkannten Weltalls einen Baumeister, und die vielen immer gleich bleibenden Gesetze lassen auf einen Gesetzgeber schließen. Die vernünftige Philosophie hat also den Atheismus überwunden, dem die finstre Theologie Waffen in die Hand gab«18. Allerdings gab Voltaire stets zu bedenken, dass der Fanatismus sicherlich tausendfach verhängnisvoller sei als Atheismus, wenn es um die Belange des Gemeinwesens gehe. Da zögerte er keinen Moment, Anklage gegen die furchtbaren Verbrechen zu erheben, die im Namen des religiösen Fanatismus verübt worden seien, denn dieser entfache blutigen Leidenschaften, der Atheismus tue das hingegen nicht. Atheismus, so Voltaire, stellt sich dem Verbrechen zwar nicht entgegen, aber Fanatismus führt zu Verbrechen. Die Religionsgeschichte, so predigte er unermüdlich, sei wegen Fundamentalisten und Anhängern des Aberglaubens mit Blut getränkt, nur ein Narr könne also den Fanatikern ge17 Vgl. F. Venturi, Jeunesse de Diderot (1713 – 1753),1939 (heutige it. Ausgabe: Giovinezza di Diderot, a. a. O., S. 35. 18 Voltaire betont nachdrücklich: »Es ist somit für Adlige und für die Völker absolut notwenig, dass die Idee eines höchsten Wesens – Schöpfer, Herrscher, Vergebender und Rächer – in ihren Köpfen tief eingebrannt werde.« Vgl. das Stichwort »Ath¦e, ath¦isme« in Voltaires Dictionnaire philosophique (1764), in The complete works of Voltaire- Les œuvres complÀtes de Voltaire, a. a. O., dt.: Philosophisches Wörterbuch, nach der Textauswahl von R. Noack, hrsg. und eingeleitet von K.H. Stierle, (übers. von E. Salewski), [1964], Insel-Verlag, Frankfurt/M., 1985.
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genüber den Atheisten den Vorzug geben. Diese seien harmlos, man könne ihnen einzig und allein vorwerfen, dass sie einem Denkfehler aufsitzen würden: da sie den Ursprung des Bösen nicht erklären könnten, verschieben sie das Problem in die Natur der Dinge, in eine postulierte »Notwendigkeit und Ewigkeit« der Welt19. Bayles These hingegen, wonach eine neue allgemeine Moral auszuarbeiten sei, die auf die religiösen Grundlagen der Offenbarungen von Moses, Christus und Mohammed verzichten könne, fand Voltaires ungeteilte Zustimmung. Und ausnehmend gut gefiel ihm auch Bayles Ausführung, dass ein an Stelle der Offenbarungsreligionen auf Vernunft aufgebauter, empirischer Glaube die Menschen milder und toleranter machen könne, denn diejenigen, die der Hilfe der Religion bedürften, um redlich zu sein, seien zu bemitleiden20, pflegte er in verschiedenen Situationen zu wiederholen. Die allen Menschen gemeinsamen moralischen Prinzipien seien, wenn überhaupt, in der Natur zu suchen, die »überall identisch sei«, das heißt also in einer das »gesamte Universum« umspannenden und alle Völker verbindenden natürlichen Religion. Wie viele andere Aufklärer im frühen 18. Jahrhundert erlag auch Voltaire der unwiderstehlichen Verführungskraft von Isaac Newtons mechanischem Weltbild: das soeben entdeckte Gesetz der allgemeinen Gravitation deutete auf ein von göttlicher Rationalität geordnetes Weltall hin, welches ohne Mysterien auskam und dessen unveränderliche Naturgesetze dem Forschergeist des Menschen durchaus zugänglich waren. Die klare Durchschaubarkeit dieses Weltbildes, was ad maiorem Dei gloriam gedeutet wurde, legitimierte sowohl die menschliche Vernunft als auch die Verehrung göttlichen Waltens. Voltaire war nach seiner Lektüre der Boyle Lectures ein völlig überzeugter Deist und Naturtheologe und war somit gegen jegliche materialistische Lesart der Principia von Newton gefeit, wie sie zum Beispiel von den Freethinkers um John Toland vertreten wurde. Trotz dieser im Grunde moderaten Position, die er mit wichtigen Vertretern katholischer Kreise und bedeutenden Persönlichkeiten des liberalen Protestantismus teilte21, wirbelte seine ätzende Kritik an den Offenbarungsreligionen und in erster Linie am Christentum nicht wenig Staub auf. Voltaires bissige Seitenhiebe sollten aber stets in ihrer Funktion für sein Projekt
19 Genau schreibt Voltaire, immer unter dem Stichwort »Ath¦ist, ath¦isme«: »Atheisten sind meist kühne und fehlgeleitete Wissenschaftler, die schlecht nachdenken, und die, da sie die Schöpfung nicht verstehen können, den Ursprung des Bösen und andere Schwierigkeiten, auf die Annahme von der Ewigkeit der Dinge und der Notwendigkeit zurückgreifen.« 20 Zitat aus Voltaire, Trait¦ de m¦taphysique (1734), in The complete works of Voltaire- Les œuvres complÀtes de Voltaire, Bd. 14 (Werke 1734 – 1735), hrsg. von W.H. Barber, Oxford, Voltaire Foundation, 1989, S. 357 – 503. Genau schreibt Voltaire: »Ceux qui auraient besoin du secours de la religion pour Þtre honnÞtes gens seraient bien plaindre …« (ivi, S. 503). 21 Vgl. M.C. Jacob, The Newtonians and the English Revolutions, a. a. O.; V. Ferrone, The intellektual Roots of the Italian Enlightenment, a. a. O.
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einer allgemeinen Religionsreform gesehen werden, das er in seiner Profession de fois des th¦istes formuliert hatte. Die tödliche Waffe dieses Reformgedankens war die geschichtliche Erforschung der Religionsstiftung, die von eben diesen Aufklärern auf ihre philosophischen Grundlagen hin kritisch abgeklopft und aufgearbeitet wurde. Dabei schreckte Voltaire nicht davor zurück, mit angeblich philologischer Beweiskraft von Dokumenten, die Grundlagen der christlichen Theologie tendenziös auszulegen, um zu beweisen, dass die apostolische, römisch-katholische Kirche mit all ihren Zeremonien und Dogmen das genaue Gegenteil von der Religion sei, die Jesus Christus gelehrt habe. Laut Voltaire hätte Jesus, jene große und bewundernswerte Gestalt mit seiner faszinierenden Verkündigung einer Botschaft von Liebe und Frieden, niemals die blutrünstigen Gesetze der mittelalterlichen Kirche gegen die Häretiker erlassen, noch die geheimen Tribunale der Inquisition aufgebaut oder die öffentliche Vollstreckung eines Gerichtsurteils der Inquisition auf dem Scheiterhaufen gut geheißen. Der philosophe überzog die frühen Konzile mit beißender Kritik, geißelte unbarmherzig deren oft stürmischen Verlauf, wo fanatische Theologen einander in die Haare gerieten und so die ursprüngliche Botschaft des Evangeliums schrittweise ins Gegenteil verkehrt hätten. Er prangerte den Zerfall in viele einander widersprechende Dogmen und angebliche Glaubenswahrheiten an, die in Gott drei verschiedenen Personen – allerdings von der selben Substanz – sehen möchten, die Figur des Papstes als »Vize-Gott« einsetzten und mit einer geistlichen und vor allem weltlichen Macht ausstatteten, die dem Urchristentum völlig fremd gewesen seien: »Jesus hat dem Papst nie die Marken von Ancona, noch das Herzogtum von Spoleto überreicht; und dennoch besitzt der Papst sie kraft göttlichen Rechts«22. Es wird nur zu oft vergessen, dass Voltaire, gemeinsam mit John Locke, im Abendland zu den ersten zählte, die öffentlich an den Ausspruch Jesu aus dem Markusevangelium appellierten: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist« (Markus 12, 17), um vehement die strikte Trennung zwischen Politik und Religion, sowie zwischen Staat und Kirche einzufordern und gleichzeitig den Klerus von jeglicher Form ziviler Autorität ausgeschlossen wissen wollte.23 Sein Engagement, angeblich unumstößliche theologische Ge22 Vgl. Voltaires Dictionnaire philosophique (1764), in The complete works of Voltaire- Les œuvres complÀtes de Voltaire, a. a. O., Stichwort »Tol¦rance«, Section III: »J¦sus n’a donn¦ au pape ni la marche d’Ancone, ni le duch¦ de Spolette; et cependant le pape les possÀde de droit divin.« In der deutschen Textausgabe des Werks (Philosophisches Wörterbuch, nach der Textauswahl von R. Noack, hrsg. und eingeleitet von K.H. Stierle, a. a. O.), ist die Passage im Stichwort »Toleranz« nicht enthalten. 23 Vgl. dazu V. Ferrone, Le radici illuministiche della libert religiosa, in: Le ragioni dei laici, hrsg. von G. Preterossi, a.a.O, S. 57 ff. Voltaires Bedeutung in der Geschichte der abendländischen Säkularisierung kann gar nicht nachdrücklich genug betont werden: seine Berufung auf die Markus-Perikope zeigt auch, wie fragwürdig der jüngste Versuch der ka-
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wissheiten der großen Offenbarungsreligionen historiographisch zu entlarven, machte vor nichts und niemandem Halt. Auch Judentum und Islam blieben nicht verschont. Voltaires in höchstem Maße zersetzende und beißend ironische Kritik muss allerdings als Teil und im Kontext einer generellen antireligiösen Strömung gesehen werden, deren Ideen durch die Schriften einer im Untergrund arbeitenden Literatur verbreitet wurden, und die in jenen Jahrzehnten der so genannten Krise des europäischen Geistes explosionsartig um sich griffen. Bei aller Schärfe hatten Voltaires Angriffe auf alle kirchlichen Institutionen auch etwas Gutes, denn sie brachten neue, bisher von den Aufklärern nicht behandelte Aspekte ins Spiel, vor allem stießen sie erneut die Auseinandersetzung mit der alten, leidigen Frage nach dem Ursprung des Bösen in der Geschichte an. Voltaire ging mit seinen Überlegungen weit über die klassische Trennung zwischen Profan- und Heilsgeschichte hinaus, wie sie im Renaissance-Humanismus ins Feld geführt worden war. Umsichtig zog er die vielfältigen Fäden eine Reihe von kritisch-philologischen Studien zusammen, die sich mit dem Wahrheitsgehalt der Bibel, der Chronologie der Heilsgeschichte, der Säkularisierung und nicht zuletzt mit der ungeheuren Ausweitung der Zeiten in der Naturgeschichte und in der Geschichte des Menschen befasst hatten. Er beschäftigte sich mit den Gedankengängen, die von Isaac LapeyrÀre, Spinoza, Richard Simon, Augustin Calmet und vielen anderen angestoßen worden waren, und stand somit am Ende einer langen Kette von Überlegungen, die versucht hatten, die Fatalität des Bösen im Leben der Menschen in einer zunehmend entzauberten Welt zu analysieren. Voltaire nahm all diese Anregungen auf und steigerte sie ins Extreme. In seinem Roman Candide, der anonym erschien und allein im Jahr 1759, dem Jahr des Erstdrucks, siebzehn Auflagen erlebte und in 25.000 Exemplaren verkauft wurde, verlor das Skandalon des Bösen seinen Absolutsheitsanspruch und wurde relativiert und auf ein menschliches und natürliches Maß zurückgestutzt. Das Böse erhielt seinen Platz innerhalb der »Philosophie der Geschichte«, wobei Voltaire einerseits mit gewohnter Heftigkeit gegen Leibniz’ beruhigende Idee von der besten aller Welten polemisiert, andererseits aber auch gegen den religiösen Mythos vom Sündenfall und dem verlorenen Paradies wettert und die Theorie der Erbsünde als Urgrund allen Übels als Erfindung des Augustinus anprangert. Was zutreffend als epochaler Übergang von der th¦odic¦e zur anthropodic¦e bezeichnet wurde,24 geriet auf diese Art und Weise endgültig zum wesentlichen Charakterzug des aufklärerischen Humanismus. Der Mensch wurde laut Voltaire nun endlich völlig realistisch als Teil der Natur tholischen Historiographie ist, das Erstgeburtsrecht am abendländischen Freiheitsgedanken für das Christentum in Anspruch zu nehmen. 24 Vgl. das großartige Buch von B. Baczko, Job, mon ami. Promesses du bonheur et fatalit¦ du mal, Paris, 1997, wo betont wird, wie »d¦connect¦e de la Providence, l’aventure humaine doit d¦couvrir en elle mÞme sa propre finalit¦ et ses propres ressort«, ivi, S. 382.
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anerkannt, und diese Meinung wurde in den zahlreichen aufklärerischen Zirkeln europaweit auch von vielen anderen geteilt. Der Mensch sei, ganz konkret und empirisch, eine Erscheinung jenseits aller Metaphysik, und sei in seiner autonomen Größe und Würde dazu bestimmt, sein Glück außerhalb jeglicher Vorsehung zu suchen. Gleichzeitig sei es die Natur selbst, die ihm seine Grenzen setze und schmerzhaft bewusst mache, und in eben dieser Natur sei zugleich das Gute und das Böse angelegt: auf der einen Seite die positive Kraft, die im Gebrauch der Vernunft stecke und auf der anderen die unüberwindbaren Widersprüche, denen das menschliche Dasein zwischen seiner Endlichkeit und der unauslöschbaren und tragischen Evidenz des Bösen ausgesetzt sei. Dieser Mensch, wie ihn Voltaire entworfen hatte, war wohl ein begrenztes Wesen, doch stand ihm die Möglichkeit zur Emanzipation offen, denn er hatte die Freiheit, selbst sein Glück zu suchen, auch auf die Gefahr hin, sein gerüttelt Maß an Bösem auszukosten, das die Gesellschaft produziert. Mit anderen Worten, es war ein Mensch, der für sein irdisches Schicksal selbst verantwortlich war und nun definitiv bereit sein musste, sich frei und verantwortungsvoll der Tragödie des Lebens zu stellen. Hinsichtlich dieses Themas des aufklärerischen Humanismus muss an dieser Stelle ganz deutlich gesagt werden, dass die Geschichtswissenschaft, der insgesamt ein großes Lob bei der Wiederentdeckung der Aufklärung gebührt, sich im 20. Jahrhundert – nach den ideologischen und philosophischen Verdrehungen im vorhergehenden 19. Jahrhundert – im Großen und Ganzen eher auf den Lorbeeren der erreichten Forschungsergebnisse ausgeruht hat. Ein schweres Defizit herrscht hingegen nach wie vor im Bereich der Aufarbeitung des aufklärerischen Humanismus, von dem immer noch eine Sichtweise verbreitet und sogar noch ausgebaut wird, die eher eine Karikatur gleicht als einem ernsthaften Forschungsansatz. Es genügt keinen geschichtswissenschaftlichen Standards, einfach von aufklärerischem »Denkstil« zu sprechen und sich dabei auf eine abstrakte und deterministische Fortschrittsidee der Aufklärung zu beziehen, auf ihre Vorstellung von Glückseligkeit, die dann mit plumpen Gemeinplätzen und vagen Schlagworten wie Vernunft, Fortschritt, Freiheit oder Optimismus definiert werden, ohne zu vertiefen, wie diese Begriffe denn ganz konkret gedacht und gelebt wurden. Jüngste Untersuchungen öffnen in der Tat den Blick auf eine ganz andere Welt, die sich wesentlich von dem Bild unterscheidet, das wir aus den Arbeiten der neo-idealistischen Forschergeneration der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zu kennen glaubten. Diese neuesten Untersuchungen widersprechen dem gängigen Bild der philosophes, wonach diese vom Utopiegedanken und von der Vorstellung der menschlichen Allmacht, die Welt nach dem Gutdünken des
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Menschen gestalten zu können, geradezu beherrscht gewesen seien25. In Wirklichkeit nahm im 18. Jahrhundert das Nachdenken über die Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind, breiten Raum ein und beherrschte über einen langen Zeitraum die Debatten und das intellektuelle Leben. Die Erneuerung des literarischen Trauerspiels im 18. Jahrhundert schlug unvorhergesehene Wege ein. Selbst der zähe und unnachgiebige Wille zu einem breitangelegten Reformwerk war, auch wenn er von utopischem Denken beherrscht schien, stets begleitet vom Wissen um die Begrenztheit des menschlichen Verstandes und um die Unzulänglichkeit allen menschlichen Handelns26. Ungezählt sind die Textstellen im Candide, wo Voltaire das Thema des menschlichen Verstandes und Geistes in seiner Beschränktheit aufgreift und den von ihm hoch verehrten Montaigne und die antiken Skeptiker anruft, die in der Moderne zu neuen Ehren gekommen waren. Und unter dem Stichwort »Seele« in seinem berühmten Philosophischen Wörterbuch kann man nachlesen, wie klein Voltaire sich angesichts dieses Themas fühlte: »Könnte man in die eigene Seele blicken, wäre dies eine gute Sache. ›Erkenne Dich Selbst’ ist eine vortreffliche Verhaltensregel, aber nur Gott vermag sie anzuwenden, denn wer außer ihm wäre in der Lage, sein eigenes Wesen zu erkennen? ›Seele‹ nennen wir, was mit Leben erfüllt. Mehr wissen wir, weil unser Verstand beschränkt ist, leider nicht. […]« – Weder kann der Mensch den letzten Grund seines Seins erkennen, fährt Voltaire fort, noch den Mechanismus seines Geistes, der ihn zum Denken befähigt, und am allerwenigsten kennen wir den letzten Grund unseres Schicksals. Was den Fortschritt betrifft, so wurde dieser im Laufe des 18. Jahrhunderts so gut wie nie als Motor der Geschichte, als Schicksal der Menschheit oder als deterministisches Gesetz des Universums verstanden, sondern einzig und allein als Möglichkeit, als große Gelegenheit, die dem Menschen von der Natur zugebilligt wurde. Condorcet und Kant bildeten mit ihrem unerschütterlichen Glauben an einen unaufhaltsamen Fortschritt der Menschheit eine Ausnahme. Die großen neapolitanischen Aufklärer rund um Vico vertraten eine ganz andere Ansicht, und sie waren nicht die einzigen27. Und wieder war es Voltaire, der ein diffuses Gefühl, das im Jahrhundert der Aufklärung repräsentativ für eine breite Strömung war, in Worte zu fassen wusste: die Errungenschaften des Fortschritts 25 Erst in jüngster Zeit hat die Forschung begonnen, ein komplexeres Bild rund um Themen wie Fortschritt, Vernunft, Moral zu zeichnen und deren Umsetzung in der Aufklärung mehr Aufmerksamkeit zu widmen, und zwar auch vor dem Hintergrund der Frage nach dem Bösen und der neuen geistigen Ruhelosigkeit, die den Menschen im 18. Jahrhundert umtrieb. Vgl. dazu J. Deprun, La philosophie de l’inqui¦tude en France au XVIIIe siÀcle, Paris, 1979; V. Ferrone, I profeti dell’Illuminismo, a. a. O. 26 Vgl. G. Paganini, Scetticismo e certezza, in: Illuminismo. Un Vademecum, hrsg. von G. Paganini und E. Tortarolo, Einaudi, Torino, 2008, S. 252 ff. 27 Vgl. V. Ferrone, I profeti dell’Illuminismo, a. a. O., S. 260 ff.
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könnten ebenso gut wieder verloren gehen, auf die Blüte einer Zivilisation könnte jederzeit eine Zeit neuer Barbarei folgen. Irgendwann werde auch diese sicher wieder überwunden, doch könne sie immer wieder auftauchen, das sei wie der Wechsel von Tag und Nacht, »ich würde sagen, es gebe ein Prinzip, das zerstört, was das andere aufgebaut hat«28. Es war also die Aufgabe des freien Menschen, sein Schicksal selbst in die Hände zu nehmen, die Verantwortung für sein Leben zu tragen und auf die natürliche Höherentwicklung des Individuums zu vertrauen. Weit enternt von jeglicher Form von Eudämonismus, wurde Voltaire nie müde zu behaupten, dass der Mensch voll »Irrtümer« sei. »Lass diese Irrtümer nicht unser Elend werden!«, flehte der große Religionskritiker zu einem »Gott aller Wesen und aller Zeiten, […] Gib, dass wir einander helfen, die Last des kurzen, flüchtigen Lebens zu tragen; dass kleine Verschiedenheiten unter den Bedeckungen unsrer schwachen Körper, unter unsern unvollständigen Sprachen, unter unsern lächerlichen Gebräuchen, unsern mangelhaften Gesetzen, unsern törichten Meinungen, dass alle diese kleinen Abweichungen der Atome, die sich Menschen nennen, nicht Losungszeichen des Hasses und der Verfolgung werden …..«29 Doch womöglich steckt ja letzten Endes gerade in diesem unerwartet realistischen und schmerzvollen Bild der Menschheit der tiefere Sinn des aufklärerischen Humanismus: da war einerseits die Entschlossenheit, sich mit den Folgen, die mit der Einsicht in die Endlichkeit des Menschen einhergingen, gründlich auseinanderzusetzen, und andererseits ein widersprüchliches, mit aller Geisteskraft nicht zu bändigendes Schwanken zwischen Glücksversprechen und unausweichlicher Fatalität des Bösen. Voltaires berühmte Letters Concerning the English Nation aus dem Jahr 173330 , die zum ersten europäischen best-seller der aufklärerischen Kultur Europas avancieren sollten, legen in dieser Hinsicht ein beredtes Zeugnis ab. Der Philosoph brannte darauf, »die Partei der Menschheit« zu ergreifen und Blaise Pascal mit dem gleichen Mut herauszufordern, wie es damals in der Spätantike 28 Vgl. das Stichwort »Miracles« in Voltaires Dictionnaire philosophique (1764), in The complete works of Voltaire- Les œuvres complÀtes de Voltaire, a. a. O., dt.: Philosophisches Wörterbuch, nach der Textauswahl von R. Noack, hrsg. und eingeleitet von K.H. Stierle, a. a. O., Stichwort »Wunder«. 29 Vgl. dazu vor allen Voltaires Trait¦ sur la tol¦rance [1763] in: The complete works of VoltaireLes œuvres complÀtes de Voltaire, Gesamtred. Haydn Mason, Bd. 56C, hrsg. von John Renwick, Oxford, Voltaire Foundation, 2000; dt.: Über die Toleranz, in: Voltaire, Schriften. Recht und Politik, hrsg. und eingeleitet von Günther Mensching, Syndikat, Frankfurt/M., 1978. 30 Voltaires Abrechnung mit den französischen Zuständen entstand während seines Exils in England 1727 – 1728, ursprünglich in englischer Sprache geschrieben, und erschien 1734 als Lettres philosophiques in französischer Fassung. Vgl. Voltaire, Lettres philosophiques ou lettres anglaises: avec le texte complet des remarques sur les Pens¦es de Pascal, Garnier, Paris, 1988; dt.: Voltaire, Philosophische Briefe, übers. von Rudolf von Bitter (1985), ergänzt und durchges., mit Anm. und einem Nachwort von Jochen Köhler, Fischer, Frankfurt/M., 1992.
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der britannische Mönch Pelagius gewagt hatte, als er Augustinus und dessen düstere und pessimistische Visionen angriff, denen zufolge der Mensch von Geburt an verderbt sei und es also allein im Ermessen Gottes liege, ob er dieses schwache Geschöpf vor der ewigen Verdammnis bewahren wolle oder nicht. Der Bereich der Fragen, die zu verhandeln waren, war klar und deutlich abgesteckt: was ist der Mensch? Inwieweit ist das menschliche Dasein durch Gott geprägt? In welchem Rahmen bewegt sich die menschliche Bedingtheit? Im Gegensatz zu Pascal, der im Menschengeschlecht nur einen Haufen von Schurken und Unglückseligen sah, und für den die Erbsünde die Lösung des Rätsels Mensch wie auch für die Fatalität des Bösen bot, hielt Voltaire an der Natürlichkeit des Bösen fest und beharrte auf der individuellen Autonomie, auf Freiheit und Eigenverantwortung im Streben nach Glück. »Die Menschheit ist kein Rätsel, wie Sie sich das vorstellen, um des Vergnügens willen, es zu lösen«, schrieb Voltaire in den berühmten Briefen. »Der Mensch scheint an seinem Platz zu stehen in der Natur, den Tieren überlegen, denen er mit seinen Organen ähnelt, anderen Wesen unterlegen, denen er wahrscheinlich mit seinem Denken ähnelt. Er ist, wie alles, was wir sehen, aus Gut und Böse zusammengesetzt und aus Freud und Leid. Er ist ausgestattet mit Leidenschaften zum Handeln und mit Vernunft, seine Taten zu lenken. Wenn der Mensch vollkommen wäre, wäre er Gott, und diese angeblichen Gegensätzlichkeiten, die Sie ›Widersprüche‹ nennen, sind die erforderlichen Zutaten, die in die Zusammensetzung des Menschen hineingehören, der da ist, was er sein soll.« Würde sich unser Augenmerk allein auf die alltägliche Misere des Menschengeschlechts richten, wollte Voltaire damit sagen, also auf die Kriege, die Naturkatastrophen und die allgegenwärtige Gewalt in der gesamten Menschheitsgeschichte, dann träfe die These vom »natürlichen Zustand des Unglücks und von unserem schwachen und sterblichen Zustand« zweifelsohne zu, ebenso wie die These, dass wir der Gnade Gottes bedürften und von dieser abhängig seien. Doch es gebe diese Glücksmomente, auch wenn sie rar gesät seien. Die Menschen sind also fähig zum Glück, präzisierte Voltaire: »Warum uns Angst machen vor unserem Wesen? Unsere Existenz ist nicht so unglücklich, wie man es uns glauben machen will. Die Welt als einen Kerker anzusehen und alle Menschen als Verbrecher, die man henken wird, ist die Idee eines Fanatikers. Zu glauben, die Welt sei ein Ort der Lust, wo man nur Freude haben kann, ist die Träumerei eines Sybariten. Zu glauben, dass Erde, Menschen und Tiere sind, was sie in der Ordnung der Vorsehung sein sollen, entspricht, glaube ich, der Art eines Weisen. Die Menschen sind wie die Tiere und die Pflanzen dazu da, zu wachsen, eine Zeitlang zu leben, ihresgleichen hervorzubringen und dann zu sterben. […] Nicht u¨ ber das Elend und die Vergänglichkeit, nein, u¨ ber das Glu¨ ck und die Dauer unseres Lebens mu¨ ssen wir uns wundern …« Laut Voltaire machte die religiöse Aufforderung, nur Gott zu lieben, das ganze
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irdische Leben und die Suche nach Glück auf unbegreifbare Dogmen auszurichten, überhaupt keinen Sinn. Eine solche Religion, die auf angeblichen Offenbarungen aufbaue oder auf eschatologischen Entwürfen, mag zwar von Propheten in gutem Glauben erfunden worden sein; doch dann sei alles immer von Menschen, die einzig und allein die Festigung von Macht und Einfluss im Sinn gehabt hätten, neu ausgelegt worden. Pascals Argument, das gewöhnlich als »Wett-Fragment« bezeichnet wird, empfand Voltaire als blasphemisch und ehrfurchtslos: bekanntlich sei es, laut Pascal, einfach die bessere »Wette« an Gott zu glauben, »[…], wenn du gewinnst, gewinnst du alles, wenn du verlierst, verlierst du nichts. Glaube also, wenn du kannst.« Voltaire hingegen wollte die Existenz Gottes nicht anerkannt haben, um die Seele zu retten oder das Überleben des Papsttums und der Priester zu garantieren, sondern, wenn überhaupt, um den Menschen zu emanzipieren und sein Dasein auf Erden etwas glücklicher zu gestalten. In erster Linie aber forderte Voltaire: »Man muss die Geschöpfe lieben, und zwar sehr zärtlich; man muss sein Vaterland, seine Frau, seinen Vater, seine Kinder lieben; und so sehr gilt, dass man sie lieben muss, dass Gott sie uns gegen unseren Willen lieben lässt. Die entgegengesetzten Prinzipien schaffen nur barbarische Vernünftler«. Abgründe trennten also die neue, natürliche, universelle und rationalistische Religion ohne Kirche eines Voltaire von der Religion Pascals, die dem Religionsverständnis des hl. Augustinus verhaftet war. Der ferne und abwesende Gott Voltaires beglaubigte und rechtfertigte auf der einen Seite Newtons mechanistisches Weltbild und befriedigte zumindest das natürliche Religionsbedürfnis, dessen der Mensch angesichts der sakralen Dimension des Fatums bedurfte. Zugleich stellte ein solches Gottesverständnis die Weichen für die Emanzipation des Menschen durch den Menschen. So entstand allmählich ein völlig neues Weltverständnis, in dem Werte und Ideen wie Gleichheit, Toleranz, Freiheit und Glück, die schon in der Antike zirkulierten, radikal umgestaltet wurden und somit Raum für eine neue Denkpraxis schufen, mit ganz neuen Sprachregelungen, kommunikativen Gepflogenheiten und gesellschaftlichen Vorstellungen. Die auf den Kopf gestellte Hierarchie zwischen Mensch und Gott, die dem Menschen die Verantwortung der irdischen Glückssuche übergab, entfaltete sehr bald ihre Wirkung und bildete die intellektuelle Voraussetzung des modernen Humanismus der Aufklärung, ja, dieser Prozess kann gar als eines ihrer wesentlichen Merkmale angesehen werden. Nachdem erst einmal geklärt war, dass das Leben des Menschen darauf abziele, in den Grenzen seiner endlichen Bedingtheit ein Leben in Freiheit, Würde und Verantwortlichkeit zu führen und dass er die wenigen Augenblicke des irdischen Glücks genießen solle, richtete sich der Fokus nun primär auf das Wie, auf die Mittel und nötigen Instrumente, die zu diesem Ziel führen könnten. In dieser Hinsicht hegte Voltaire, wie viele seiner Zeitgenossen, nicht den geringsten Zweifel, dass zu diesem Zweck zu
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allererst alles Wissen neu definiert werden müsste. Vor allem sei es unabdingbar, die Theologie durch die Philosophie zu ersetzen, die Vorherrschaft der Tradition durch den kritischen Geist und den Wissensdurst abzulösen, also die Gnade der Vernunft unterzuordnen, wie es in der Encyclop¦die unter dem Stichwort Philosophe polemisch eingefordert wurde. Das Wesen des Menschen müsse endlich von dessen Natur ausgehend untersucht werden, es müsse endlich die »Wissenschaft des Menschen« begründet werden, denn es sei unmöglich, dass der Mensch nicht früher oder später auf den Gedanken komme, über sein eigenes Wesen nachzudenken. Ein Denken ohne konkreten Gegenstand sei jedoch notgedrungen ein Denken im luftleeren Raum, und so sei es also nur natürlich, wenn der menschliche Verstand sich endlich dem Gegenstand widme, der ihm am nächsten liegt: der conditio humana. In der Enzyclop¦die, diesem erkenntnistheoretischen und philosophischen Großprojekt intellektueller Feuerkraft, das in seiner Außergewöhnlichkeit jeden Rahmen sprengte, drückte sich dieser neue Denkstil aus. In Übereinstimmung mit bereits weit verbreiteten Überzeugungen, zeichneten Diderot wie auch D’Alembert ganz bewusst einen »Baum des Wissens« als ein figürlich dargestelltes System der Kenntnisse des Menschen, in dem man vergeblich nach der Hand Gottes in der Welt suchte, wie es in den vorhergehenden Enzyklopädien seit eh und je gang und gäbe war. Stattdessen bildete der Baum des Wissens den Menschen in seiner Glückssuche ab. Wissen wurde nicht durch die Offenbarung oder die Kirche vermittelt, sondern allein durch Sinneswahrnehmung und kritische Verstandestätigkeit. Der Ursprung allen Wissens lag demnach beim Individuum und seinen Fähigkeiten. Der Vernunft fiel die Aufgabe einer ordnenden Instanz zu, die in der Lage war, die empirischen Daten der Schwester-Disziplinen, Erinnerung und Gedächtnis sowie Einbildungskraft, zu einem Ganzen zusammenzufügen. Die figürliche Darstellung ließ in dieser Hinsicht keinen Zweifel offen: die Philosophie bildete den Hauptzweig und stieg zum erkenntnistheoretischen Instrument par excellence auf, während die Theologie vom Thron gestoßen wurde und auf einem niederen Rang landete, in die Nähe der Scharlatanerie31. Dieses Ereignis führte letztendlich zu jenem umwälzenden erkenntnistheoretischen Richtungswechsel, der ein neues Weltbild begründete und die moderne Konzeption menschlichen Wissens einleitete. Im fünften Band der Encyclop¦die, der 1755 erschien, gab Diderot freimütig Auskunft über die Schwierigkeiten, die ihm bei dem Versuch begegnet waren, 31 Vgl. R. Darnton, »Die Philosophen stutzen den Baum der Erkenntnis. Über die epistemologische Strategie der Encyclop¦die«, in: The Great Cat Massacre and Other Episodes in French Cultural History, a. a. O., dt.: Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, übers. von Jörg Trobitius, Carl Hanser, München, 1989.
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eine plausible Synthese zwischen den verschiedenen Vorstellungen von Wissenschaft zu finden. Diderots vitalistischer Ansatz und seine TransformismusHypothese waren nur schwer mit Newtons mathematischem Phänomenalismus und d’Alemberts mechanistischem Weltbild auf einen Nenner zu bringen. Die Hoffnung, in dem System der Kenntnisse des Menschen eine definitive und sichere Methode gefunden zu haben, die auch im konkreten Fall einer (wissenschaftlichen) Prüfung standhalten könnte, stieß sehr bald an ihre Grenzen. Das, was wir heute als Moderne bezeichnen, erwies sich bei genauerem Hingucken als offene Baustelle, als ein faszinierendes Laboratorium, das jedoch weit davon entfernt war, fertige Antworten, geschweige denn Gewissheiten zu liefern. Denn all diese Sektionen konnten nicht über den Eindruck einer gewissen, deutlich erkennbaren Willkür hinwegtäuschen: es gebe nun einmal völlig unterschiedliche Sichtweisen des Universums, musste Diderot zugeben. Wie konnte man also die offensichtliche Unvereinbarkeit von geschichtlicher und philosophischer Ordnung der intellektuellen Methode zu übersehen, wenn diese sogar vom »Positivisten« d’Alembert offen ausgesprochen wurde? Die Feststellung, dass jede enzyklopädische Klassifikation als filia temporis notgedrungen zeitbezogen sei, entwickelte sich denn auch sehr bald zu einem Gemeinplatz unter den Aufklärern, die die Zusammenhänge zwischen der Entstehung und der Entwicklung der Wissenschaften und der sozialen und politische Ordnung der Zivilisation historisch aufarbeiteten32. Hier liegt das entscheidende Novum gegenüber der herkömmlichen Art und Weise, die wissenschaftliche Revolution zu deuten: wirklich neu war die absolute Zentralität des Menschen, der nun die Kriterien der Definition und Deutung von Wissen aufstellt und die Emanzipation des Menschen als Hauptkriterium des wissenschaftlichen Nutzens benennt. »Der Mensch ist der einzige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss«, erklärte Diderot denn auch voller Leidenschaft unter dem Stichwort, ausgerechnet, von »Enzyklopädie«: »Wenn man den Menschen oder das denkende […] Wesen ausschließt, dann ist das erhabene und ergreifende Schauspiel der Natur nur noch eine traurige und stumme Szene. Das Weltall verstummt, Schweigen und Dunkelheit überwältigen es; alles verwandelt sich in eine ungeheure Einöde, in der sich die Erscheinungen […] dunkel und dumpf abspielen. Das Dasein des Menschen macht die Existenz der Dinge doch erst interessant«, denn, so Diderot, »Der
32 Man sollte sich stets genau vor Augen halten, dass es eben die Aufklärung war, die den Begriff der »wissenschaftlichen Revolution« in die geistesgeschichtliche Debatte warf. Vgl. dazu V. Ferrone, Clio e Prometeo. La storia della scienza tra illuministi e positivisti, in »Studi storici«, XXX (1989), S. 339 ff.
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Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zuru¨ ckfu¨ hren muß.«33 Aus epistemologischer Sichtweise hätte man das Programm nicht besser auf den Punkt bringen können: im Mittelpunkt stand allein der Mensch, der Triumph des Individuums, die Geburt des aufklärerischen Humanismus der Moderne und dessen ursprüngliche Deutung der wissenschaftlichen Revolution, wonach die Wissenschaften vom Menschen aus definiert und gewertet wurden und nicht umgekehrt. Ganz anders lagen die Dinge dagegen in der darauf folgenden positivistischen Epoche, als der zunehmende Prozess der Professionalisierung die Situation völlig veränderte. Viel zu häufig wird vergessen, dass so neue und bedeutungsschwere Begriffe wie Wissenschaft des Menschen, (Menschenwissenschaft bei Hume), Zivilisation und öffentliche Meinung erst im Laufe des 18. Jahrhunderts auftauchten und zum Gemeingut wurden. Was den erst genannten Begriff betrifft, so harrt dieser noch einer eingehenden Untersuchung. David Hume forderte in seinem 1739 veröffentlichten Werk Treatise of Human Nature als einer der ersten die Ausweitung seiner Methode einer auf Beobachtung gegründeten Überlegung, des »experimental reasonings«, hin zu einer zukünftigen »science of man«. Ihm sollten Mandeville, Montesquieu, Rousseau und viele andere folgen, wie zum Beispiel Genovesi und Beccaria: allen war es darum zu tun, die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Menschen zu vertiefen und ihn als Individuum und Subjekt in seiner sozialen Dimension zu erfassen, und zwar mit dem Ziel, die Dimension von Moral und Politik neu zu definieren. Dabei handelte es sich keineswegs nur um ein Phänomen von Definition oder von neuen Sprachregelungen: Im Gegensatz zum vorhergehenden Jahrhundert, das ganz unter dem Einfluss der Naturwissenschaften, dem Primat der physisch-mathematischen Sprache und einem mechanistischen Weltbild stand, weitete das 18. Jahrhundert und die Kultur der Aufklärung den operativen Radius der wissenschaftlichen Revolution entscheidend weiter aus und erschloss bisher unerforschte Wissensgebiete. Es entstanden Disziplinen wie die Politik- und Wirtschaftswissenschaften, die moderne und rationale Basis für die Sozialwissenschaften und die Anthropologie wurden gelegt, und auch die Geschichts- und Rechtswissenschaften durchliefen eine tiefe Verwandlung, denn deren Theoriegebäude wurde, vom Subjekt ausgehend, das nun im Mittelpunkt stand, neu durchdacht34. Auch die 33 Encyclop¦die ou Dictionnaire raisonn¦ des sciences, des arts et des m¦tiers, publi¦ par Diderot et d’Alembert, Paris 1751 – 1780, (Reprint in 35 Bänden bei Frommann-Holzboog, StuttgartBad Cannstatt 1968 – 1995); dt.: Denis Diderot, Enzyklopädie. Philosophische Schriften (aus dem Französischen übers. von Theodor Lücke, Aufbau-Verlag, Berlin, 1961), erweitert und erg. Philosophische und politische Texte, sowie Prospekt und Ankündigung der letzten Bände, mit einem Vorwort von Ralph-Rainer Wuthenow, DTV, München, 1969. 34 Vgl. dazu G. Gusdorf, Introduction aux sciences humaines. Essai critique sur leurs origines et
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bahnbrechende Erfindung der »Menschenrechte« als politischer Begriff der Moderne lässt sich auf die historischen Entwicklungen dieses neuen kulturellen Systems zurückführen. Das gleiche trifft auf den Begriff der Zivilisation zu, der Ende der 1750er Jahre zeitgleich und europaweit in den aufklärerischen Zirkeln in Gebrauch kommt. Diese Neuschöpfung, die von Boulanger, Diderot, Condorcet, Genovesi, Robertson und Herder benutzt wurde, enthielt sozusagen in nuce den neuen aufklärerischen Denkstil, als da wären der universale Geltungsanspruch und die Idee einer Geschichtsphilosophie, die zugleich als fortschreitender Evolutionsprozess der Naturgesellschaft der »Wilden«, über die gewalttätige Gesellschaft der Barbaren, bis hin zur modernen Zivilgesellschaft verstanden wurde und sich einem gesellschaftlichen und kulturellen Projekt des kulturellen Wandels des Menschen sowie der Gesellschaft des Ancien R¦gime verschrieben hatte35. Bereits unter dem Stichwort Philosophe der Encyclop¦die stand klipp und klar zu lesen, welche Rolle die Aufklärer der Zivilgesellschaft zugedachten hatten: »La soci¦t¦ civile est pour ainsi dire la seule divinit¦ qu’il [le philosophe] reconnaise sur la terre…« Es handelte sich um nichts weniger als um das politische Ziel einer ganzen Generation von Intellektuellen36. Mit dem Begriff Zivilisation zeigten Raynal und Filangieri in ihren berühmten Werken, die für die öffentliche europäische Meinung bestimmt waren, welchen idealen und moralischen Wert dieser Begriff mit der Zeit angenommen hatte. Er war das Sinnbild für das emanzipatorische Projekt der Aufklärung, die eine moderne Zivilgesellschaft schaffen wollte, ohne Sklaverei, kosmopolitisch und den Idealen von Freiheit und Gleichheit verpflichtet. Diese Gesellschaft sollte auf den Menschenrechten begründet sein, unter dem Schutz gerechter Gesetze und der Garantie einer rechtmäßigen Regierung. Mit der gleichen Vehemenz, mit der Diderot der Encyclop¦die die Aufgabe zugewiesen hatte, das menschliche Wissen auf eine neue Grundlage zu stellen, legte er 1761 eine Art politisches Manifest der atheistischen und radikalen Pariser Salons vor, die mittlerweile öffentlich forderten, die Religion durch die Philosophie zu ersetzen. Darin erläutert Diderot klar und deutlich sein überaus ehrgeiziges Programm, den tiefen kulturellen Wandel der europäischen Identität herbeiführen zu wollen, der dem Zivilisatileur d¦veloppement, Paris, 1960; ebenso S. Moravia, La scienza dell’uomo nel Settecento, Laterza, Roma-Bari, 1978. 35 Vgl. L. Lebvre, Civilisation: le mot et l’id¦e, Paris, 1929; ebenso la Stichwort »Civilizzazione« von H.-J. Lüsebrink in V. Ferrone / D. Roche (Hrsg.), Illuminismo. Dizionario storico, a. a. O., S. 68 ff. 36 Über den Zusammenhang zwischen den Begriffen der Zivilisation und der Zivilgesellschaft im Rahmen eines Entwurfs moderner Gesellschaftlichkeit, wie sie im 18. Jh. entwickelt wurde, vgl. die Studie von D. Gordon, Citizens without Sovereignity. Equality and Sociability in French Thought 1670 – 1789, Princeton, 1994; C. Gautier, L’invention de la soci¦t¦ civile. Lecture anglo-¦cossaise. Mandeville, Smith, Ferguson, Paris, 1993.
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onskonzept der Aufklärer zugrunde liegt: »On a dit l’Europe sauvage, l’Europe payenne, on a dit l’Europe chr¦tienne, peut Þtre dirait-on encore pis, mais il faut qu’on diese enfin l’Europe raisonnable«.37 Hat man sich auf das kulturelle Projekt eines neuen Humanismus der Modernen als einigende Gemeinsamkeit verständigt, die dem aufklärerischen Denkstil zugrunde liegt und ihn prägt und kennzeichnet, so hat der Historiker dessen ungeachtet erst die Hälfte des Weges zurück gelegt. Selbst wenn man die religiösen, moralischen und erkenntnistheoretischen Implikationen berücksichtigt und die vielen Beiträge hinzuzieht, die in ganz unterschiedlichen Formen und zu ganz verschiedenen Zeiten in den aufklärerischen Gruppierungen in Paris, Berlin, Edinburgh, Neapel, Mailand und Amsterdam das Tageslicht erblickten, hat man noch nichts über die Protagonisten erfahren. Hier gilt es anzusetzen: wo liegen die Gründe, wie kam es zum ersten Mal in der abendländischen Geschichte dazu, dass eine starke intellektuelle Bewegung, eine neue Elite, entstand, so dass man von einer wahren »Weihe« des Schriftstellers sprechen darf, die dem faszinierenden sacre, der feierlichen Salbung der französischen Könige in der Kathedrale in Reims gegenüber gestellt wurde38 ? Was genau war es, dass den Pariser hommes des lettres im 18. Jahrhundert diesen Mut, dieses Bewusstsein und diese Macht gab? Nimmt man erneut die Encyclop¦die als Ausgangspunkt für unsere Überlegungen, so drängen sich sofort einige Betrachtungen auf. Nach den Wechselfällen der schweren Krise im Jahr 1759, in der dieses 1751 in Angriff genommene Werk einer Gruppe von »Schriftstellern und Künstlern«, wie es im Titelblatt heißt, von allen Seiten, und zwar vom Pariser Parlament, von der königlichen Zensurbehörde, von den Jansenisten und den Jesuiten angefeindet und vorübergehend blockiert worden war, – Papst Klemens XII. setzte es auf den Index, – sprach man hingegen angesichts des Aufsehen erregenden öffentlichen und wirtschaftlichen Erfolges in den darauf folgenden Jahrzehnten von einem wahren »business of Enlightenment«39. Mit anderen Worten: die Aufklärung wurde auch und in erster Linie als ein glänzendes ökonomisches Geschäft verstanden, das überhaupt durch das gerade entstehende, moderne und leistungsfähige Verlagswesen erst ermöglicht wurde. Tatsächlich folgten auf die seit dem Ende der siebziger Jahre erschienenen ersten Ausgaben in Folioformat, analoge Ausgaben aus Schweizer und italienischen Druckereien. Die zahlreichen 37 Zitiert nach F. Venturi, L’antichit svelata, a.a.O., S. 72 ff. 38 Vgl. P. B¦nichou, Le sacre de l’¦crivain (1750 – 1830). Essai sur l’avÀnement d’un pouvoir spirituel laque dans la France Moderne, Paris, 1973. 39 Vgl. dazu die signifikante Studie von R. Darnton, The business of Enlightenment. A Publishing History oft he Encyclop¦die 1775 – 1800, Cambridge (Mass.), 1979; dt.: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Enzyklopädie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn?, Wagenbach, Berlin, 1993 (gekürzt).
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Neuauflagen der Encyclop¦die in Quart- und Oktavausgaben, die 24.000 Kopien, die in jedem Herrgottswinkel des Kontinents verkauft wurden, lenken den Blick auf den Bedeutungszuwachs der Druckereien und Verlage: die traditionellen Kommunikationssysteme erlebten damals eine radikale Umwälzung, was die soziale Wirkung und die politische Bedeutung dieses neuen Denkstils entscheidend verstärkte. Ein ähnlicher Vorgang lässt sich zweihundert Jahre zuvor anlässlich der protestantischen Reformation beobachten. Die rasche Verbreitung der Reformationsbewegung und der blutige Konflikt, der sich daraus ergeben sollte, wären nicht möglich gewesen, hätte die damals eben erfundene Drucktechnik nicht für die Erstellung Tausender Kopien der aus dem Lateinischen in die Nationalsprachen übertragenen Bibel sorgen können, und hätte es nicht die bildreichen Schmähschriften gegen die römische Kirche gegeben. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass Luther ohne die Erfindung des Buchdrucks und dessen raschen Aufstieg zum Massenkommunikationsmittel, mit dem er die Massen zu mobilisieren verstand, nur allzu leicht das Ende anderer Reformatoren wie z. B. Valdes oder Wycliffe hätte nehmen können. Stattdessen nahm die Kirchenspaltung ihren Lauf , die Kirche wurde in die Defensive getrieben und reagierte auf die Forderungen der Reformation mit der Einberufung des Konzils von Trient, dessen Auswirkungen noch heute zu spüren sind, ungeachtet des Zweiten Vatikanischen Konzils40. Der Einfluss des sich ausbreitenden Verlagswesens im 18. Jahrhundert ist damit durchaus vergleichbar. Die Verlagsindustrie erreichte hinsichtlich der Produktion ungeahnte Höhen, veränderte aber auch vollkommen die Autorenlandschaft, das Publikum und die Lesegewohnheiten: neue Literaturgattungen wie der Roman bildeten sich heraus, und Zeitungen, Almanache und Gazetten sprossen aus dem Boden. Der Frankfurter Messekatalog gibt, zum Beispiel, Auskunft über einen starken und stetigen Anstieg der Titelzahlen: 1384 Titel im Jahr 1765, 1892 im Jahr 1775, 2713 im Jahr 1785 und 3257 im Jahr 179541. In England stieg die Zahl von 21.000 Titeln im ersten Jahrzehnt auf 65.000 in den neunziger Jahren. Ähnliche Zahlen lassen sich in Frankreich und Italien belegen42. Allerorten ging der Rückgang der religiösen Bücher mit dem Anstieg literarischer und wissenschaftlicher Texte einher, nach den siebziger Jahren des 18.
40 Vgl. E.L. Eisenstein, The Printing Revolution in Early Modern Europe, Cambridge, 1983. 41 Siehe dazu die knappen, aber bezeichnenden Ausführungen von R. Chartier unter dem Stichwort »Libri e lettori«, in V. Ferrone / D. Roche, L’illuminismo. Dizionario storico, a. a. O., S. 295 ff. 42 Vgl. L’Europe et le livre. R¦saux et pratiques du n¦goce de librairie XVIe-XIXe siÀcles, sous la dir. de F. Barbier, S. Juratic, D. Varry, Paris, 1996.
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Jahrhunderts ist ein starker Anstieg der so genannten livres philosophiques43 zu verzeichnen. Auch die Geschichte des Lesens erfuhr in jenen Jahren eine ähnliche Wandlung, die nicht nur durch die Produktionssteigerung bedingt war, sondern auch durch die Einführung kleinerer Formate wie Duodez, Sedez und Oktodez. Die Bücher wurden handlicher und waren für ein breites Publikum gedacht; das so genannte »Taschenbuch« vereinfachte das Lesen, man las unbefangener, der Leser verlor seine Ehrfurcht vor dem Buch; all das kam dem typischen Lesehunger des 18. Jahrhunderts entgegen und trug dazu bei, dass breite Kreise die Bücher schnellstmöglich »konsumieren« konnten. An die Stelle der traditionellen, intensiven und sich wiederholenden Lektüre der dicken Folio-Bände trat eine extensive Lektüre, die sich durch den schnellen Wechsel von einem Buch zum nächsten auszeichnete. Es wurde nicht mehr, wie vorher, kollektiv und öffentlich oder im Kreis der Familie laut gelesen, sondern mit der Zeit setzte sich die stille, persönliche Lektüre durch, die wie gemacht schien, um die Bedürfnisse des Individuums in der entstehenden Zivilgesellschaft zu befriedigen. Die Aufklärung wusste diesen Transformationsprozess im Kommunikationssystem samt dessen raschen Verbreitungsmöglichkeiten für sich zu nutzen. Ohne den Buchdruck hätte es die Aufklärung nie gegeben. Man sollte sich allerdings davor hüten, dieses Kapitel nur als ein besonderes, wenn auch wichtiges Kapitel in der Geschichte des Buches, der Lektüre und der Kommunikation in der Moderne zu sehen. Auf einen ersten Blick scheint es zweitrangig zu sein, ob dieses historische Phänomen, das seit den 1770er Jahren – wie wir noch sehen werden – in den Literaturzirkeln, in den Salons, in den Logen und an allen europäischen Fürstenhöfen zu einem großen Ereignis la mode heranwuchs, als Protagonist maßgeblich an der definitiven Durchsetzung des Buchdrucks als Instrument der Massenkommunikation beteiligt war, oder aber ob es nur die Gelegenheit beim Schopf ergriffen hat, um einen neuen Denkstil zu verbreiten. Eine solche Überlegung erinnert in ihrer Fragestellung an die Frage, ob zuerst das Ei da gewesen sei oder das Huhn. Gewiss haben die Encyclop¦die, die livres philosophiques oder der Roman der Aufklärung zum Anstieg des Verlagswesens im 18. Jahrhundert beigetragen. Werke wie B¦lisaire von Marmontel oder Julie von Rousseau sind jedoch nicht nur Bestseller, deren vielschichtige Aspekte sich allein innerhalb der sozialen und wirtschaftlichen Geschichte des Buches erschöpfen. Die Erzählabsicht dieser Texte verlangt höchste Aufmerksamkeit: ohne Abstriche an ihren hohen literarischen Anspruch zielten solche Werke auf 43 Vgl. R. Darnton, The Literary Underground of the Old Regime, Cambridge (Mass.)/London, 1982; dt.: Literaten im Untergrund. Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, Hanser, München, 1985; überarb. und erw. Ausgabe Êdition et s¦dition. L’univers de la litt¦rature clandestine au XVIIIe siÀcle, Paris, 1991.
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zweierlei ab, und zwar auf die Verbreitung aufklärerischen Gedankengutes, sowie auf die kulturellen Praxis des kritischen und öffentlichen Gebrauchs der Vernunft in jedem Bereich. Mit anderen Worten, durch die Lektüre sollte das Denken und Nachdenken angeregt werden, damit aus jedem Leser ein wahrer philosophe44 werde. Hierin besteht, jenseits des außergewöhnlichen wirtschaftlichen Erfolgs, die authentische kulturelle Neuheit dieser Bücher. Auch die Figur, die Identität und die Aufgaben des Schriftstellers wurden neu erfunden. Der Schriftsteller befand sich nunmehr in der paradoxen Situation, einer Bewegung voll von umstürzlerischen Ideen und kulturellen Praktiken anzugehören und zugleich einer spezifischen Korporation des Ancien R¦gime, die sich mit anderen Korporationen und Gemeinschaften bekriegte, um das eigene soziale Prestige und die politische Interventionsmacht zu erhöhen. Es ist bekannt, dass im Laufe des 18. Jahrhunderts, bedingt durch den Abstieg alter Eliten und den Aufstieg neuer Schichten, die soziale Mobilität europaweit zunahm. Zu diesen neuen Eliten zählten auch die so genannten Literaten, die sich nicht selten einer neuen Form hochherrschaftlicher Noblesse anglichen45. Die Geschichte der Aufklärung ist mit dem definitiven Aufstieg dieser neuen Führungsschichten unauflöslich verflochten. Womöglich ist über die Querverbindung zwischen der sozialen und institutionellen Geschichte und der Verwandlung in eine »Gelehrtenrepublik«, wie sie am Anfang des 15. Jahrhunderts von den ersten Humanisten voller Stolz definiert worden war, noch zu wenig nachgedacht worden. Der Begriff der »Gelehrtenrepublik«, der sehr bald berühmt werden sollte, tauchte zum ersten Mal als respublica literaria in Italien auf, und zwar im Briefwechsel zwischen Francesco Barbaro und Poggio Bracciolini46. Er bezeichnete im Allgemeinen die Disziplinen und die einzelnen Gelehrten wie auch die entstehende internationale Gemeinschaft der Gelehrten und der Literaten, deren Zahl rasch zunahm und die sich anschickten, »Autoren« von Druckwerken und die unbestrittenen Protagonisten des neuen Kommunikationssystems zu werden. Im Laufe des 16. Jahrhunderts entstand durch die Werke von Persönlichkeiten wie Erasmus von Rotterdam der Mythos und das Ideal einer intellektuellen kosmopolitischen Gemeinschaft, die in der Lage sei, die Wunden zu heilen, die von den innerkonfessionellen Konflikten geschlagen worden waren, und eine friedliche respublica literaria christiana ins Leben rufen könne, die universell, 44 Vgl. das Stichwort »romanzo« von Y. S¦it¦, in V. Ferrone / D. Roche, L’Illuminismo. Dizionario storico, a. a. O., S. 309 ff. 45 Vgl. M. Reinhard, Êlite et noblesse dans la seconde moiti¦ du XVIIIe siÀcle, in: »Revue d’Histoire moderne et contemporaine«, III (1956), S. 21 ff.; allgemein zum Thema: D. Richet, L’esprit des institutions: la France moderne, Paris, 1980. 46 Vgl. H. Bots und F. Waquet, La R¦publique des lettres, Belin-De Boeck, Paris, 1997.
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frei und für alle Bürger gleich sei. Doch bereits im 17. Jahrhundert begann diese Utopie zu bröckeln. Man begann über die spezifische Natur dieses neuen Gelehrten nachzudenken, der aus der Erfindung des Buchdrucks hervorgegangen war, und über dessen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die durch die Veränderungen der Institutionen, die sich, zum Beispiel in den Akademien, dem neuen Wissen öffneten und die sich der Veröffentlichung von Periodika verschrieben hatte, die einzig und allein die Arbeit und die Kommunikation der Literaten untereinander zum Inhalt hatten. Es ist kein Zufall, dass dieser autoreferenzielle Blätterwald so viel sagende Titel trug wie zum Beispiel: »Nouvelles de la R¦publique des Lettres«, Relationes Republicae Literariae«, »Republyk der Geleerden«, »Giornale de’ Letterati« usw. Angesichts dieses überwältigenden Phänomens kamen unweigerlich Parallelen zu bestehenden institutionellen und sozialen Realitäten auf. Es war zum Beispiel von der »Nation der Gelehrten« die Rede, von der »unsichtbaren Kirche« der Gelehrten, vor allem aber von einer Gemeinschaft, die sich durchaus mit einem souveränen Staat vergleichen ließ, allerdings über nie da gewesene Charakteristika verfügte und sich in jedem Fall von dem Modell des konfessionellen Absolutismus unterschied, der auf dem Prinzip des cuius regio eius religio oder auf der strengen Hierarchie des Ancien R¦gime aufgebaut war, wie Pierre Bayle unter dem Stichwort Catius in seinem Dictionnaire historique et critique aus dem Jahr 1697 erklärte (rev. Ausgabe in 4 Bd.en, Rotterdam 1720): »Diese Republik ist ein ungemein freier Staat. Man erkennt in ihm nur die Herrschaft der Wahrheit und der Vernunft an, und unter deren Schutz führt man auf unschuldige Weise Krieg gegen wen auch immer […]. Jeder ist darin zugleich Herrscher und der Gerichtsbarkeit eines jeden unterworfen«. Doch vor allem im 18. Jahrhundert nahm durch den Versuch der Selbstdefinition der Aufklärer so etwas wie ein modernes Klassenbewusstsein Gestalt an, um mit Marx zu reden, bzw. die Wahrnehmung einer deutlichen Identität samt dem Bewusstsein der öffentlichen, politischen Funktion der neuen sozialen Gruppierung. Als Charles Pinot Duclos 1751 die Zusammensetzung der »Gelehrtenrepublik« untersuchte, kam er als einer der ersten zu dem Ergebnis, dass eine Zersplitterung in zumindest drei große Kategorien stattgefunden habe: unterschieden wurde demnach die Kategorie der frühen humanistischen Gelehrten, die ihr enzyklopädisches Projekt verfolgten – noch 1694 wurde im Dictionnaire de l’Acad¦mie franÅaise unter dem Stichwort Lettres »jede Form von Wissen und Doktrin« verzeichnet, ohne die schöngeistigen Disziplinen von den Wissenschaften zu trennen; ferner gab es nun die moderne Figur des Wissenschaftlers, die sich durch den raschen Professionalisierungs- und Institutionalisierungsprozess der Naturwissenschaften in den europäischen Akademien entwickelt hatte, an denen die allgemein verbreitete Sprache der Mathematik, der Physik und der experimentellen Methode vorherrschte; und
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schließlich war da noch die Kategorie der berühmten Schriftsteller und der »Schöngeister«, zu denen Duclos auch die von der Aufklärung inspirierten Philosophen zählte47. Dieser Avantgarde, die immer kampflustiger und selbstbewusster auftrat und fest entschlossen war, ihre kulturelle Hegemonie durchzusetzen, widmete Voltaire in der Encyclop¦die unter dem Stichwort Literaten einen nicht unbeträchtlichen Teil. Für ihn war der homme des lettres eine Spezies von Gelehrtem, der in allen Wissensbereichen über Kenntnisse verfügte, Naturwissenschaften inbegriffen, und er unterstrich den Unterschied und die Überlegenheit gegenüber den »Schöngeistern« und den alten humanistischen Gelehrten früherer Jahrhunderte. Den erstgenannten gehe es, so Voltaire, ausschließlich um glänzende Konversation an den Höfen und in den Salons, und die letzteren hätten sich lediglich der Philologiekritik in staubigen Foliobänden gewidmet. Die modernen Literaten würden hingegen ihre besondere Identität und soziale Funktion über die Praktik ihrer zersetzenden und mutigen Kritik in allen Bereichen beziehen. Der neue Geist der Philosophie habe ihnen im politischen und intellektuellen Leben die Rolle der Protagonisten zugewiesen. »Autrefois dans le XVIe siÀcle, et bien avant dans le XVIIe, les litt¦rateurs s’occupaient beaucoup dans la critique grammaticale des auteurs grecs et latins; et c’est leurs travaux que nous devons les dictionnaires, les ¦ditions correctes, les commentaires des chefs-d’oeuvre de l’antiquit¦. Aujourd’hui cette critique est moins n¦cessaire, et l’esprit philosophique lui a succ¦d¦: c’est cet esprit philosophique qui semble contituer le caractÀre des gens de lettres; et, quand il se joint au bon got, il forme un litt¦rateur accomli.«48 Es ging um nicht weniger als die Anerkennung der menschlichen Autonomie. Das beinhaltete, dass der Mensch in den Mittelpunkt rückte, was sich im freien und öffentlichen Gebrauch der menschlichen Vernunft ausdrückte, im Aufkommen der Kritik, und in der Anerkennung seiner Souveränität in allen Belangen, gemäß eines erkenntnistheoretischen Paradigmas, dem Kant 1781 in seiner Kritik der Vernunft zu großer Berühmtheit verhelfen sollte: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre 47 Vgl. immer H. Bots und F. Waquet, La R¦publique des lettres, a. a. O., S. 80 ff. Lesenswert ist auch heute noch die Studie von M. Pellisson, Les hommes des lettres au XVIIIe siÀcle, Paris, 1911; siehe ferner D. Masseau, L’invention de l’intellectuel dans l’Europe du XVIIIe siÀcle, Paris, 1994, S. 16 ff. Die Analysen von Duclos bestätigt L. Brockliss, Calvet’s Web: Enlightenment and the Republic of Letters in Eighteenth-Century France, Oxford, 2002. 48 Vgl. das Stichwort »Gens de lettres« in Voltaires Dictionnaire philosophique (1764), in The complete works of Voltaire-Les œuvres complÀtes de Voltaire, a. a. O., dt.: Philosophisches Wörterbuch, nach der Textauswahl von R. Noack, hrsg. und eingeleitet von K.H. Stierle, a. a. O., Stichwort »Intellektueller« (stark gekürzt).
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Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können«49. Voltaire hatte scharfsinnig die Veränderungen der Zeit erkannt und machte sich in seinem Werk die Möglichkeiten zunutze, die das neue Kommunikationssystem und die kulturelle Produktion hervorgebracht hatten. Durch die Erfindung des Buchdrucks in Gang gesetzt, wurden die Identität und die Aufgaben des Literaten im 18. Jahrhundert neu definiert und unterschieden sich somit von denen der jüngeren Vergangenheit. Voltaire hatte in jungen Jahren London bereist und dabei voller Bewunderung und Erstaunen die lärmende Entstehung der modernen Gesellschaft des Kulturkonsums verfolgt, die um sich greifende Ausweitung der englischen Verlagsindustrie, die sich im 18. Jahrhundert vollzog, und deren Produktion von Büchern, Gazetten und großen Kollektivwerken einen turbulenten Markt speiste. Das ermöglichte nicht nur großen Autoren wie Samuel Richardson, der mit Pamela einen Bestseller gelandet hatte, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern bot auch den armseligen Grub-Street-Schreiberlingen echte Chancen, was allerdings wiederum die Debatte um das zentrale Thema der Autorenrechte und des intellektuellen Eigentums anstieß50. Voltaire war von dieser betriebsamen Welt aus Verlegern, Unternehmern, Kunsthändlern und Sammlern fasziniert, von dieser Aufbruchstimmung in London mit der expandierenden Theaterlandschaft der Metropole, in der ein aristokratisches und bürgerliches Publikum miteinander wetteiferte, wer die bessere Opernmusik genießen könne, wer welche Kunstausstellung oder Lesegesellschaft besuche. Und er kam zu der Überzeugung, dass der Gattung der Literaten die Zukunft gehöre, dass es ihre Aufgabe sei, bei der Gestaltung der Geschichte mitzuwirken und eine neue, auf Talent gegründete Gesellschaftsordnung aufzustellen. Wenn er gefragt werde, welche Persönlichkeiten denn zu den Berühmtheiten in England zählten, » … so will ich Männer wie Bacon, Locke und Newton zuerst anführen«, schrieb Voltaire mit boshafter Ironie im zwölften Philosophischen Brief, die Generäle und Minister kämen erst danach. Voltaire war sich darüber im Klaren, dass die englische Zivilgesellschaft im 49 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede (1781), zitiert und kommentiert im fundamentalen Werk von R. Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), Suhrkamp, Frankfurt/M., 1973, S. 101. Siehe dazu auch R. Chartier, L’uomo di lettere, in: L’uomo dell’illuminismo, hrsg. von M. Vovelle, Laterza, Roma-Bari, 1992. 50 Vgl. J. Brewer, The Pleasures oft the Imagination. English Culture in the Eighteenth Century, London, 1997. Allgemein zur Entwicklung des modernen Kulturkonsums vgl. D. Roche, Histoire des choses banales. Naissance de la consommation XVIIe – XIXe, Paris, 1997.
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Vergleich zu der Gesellschaft des französischen Ancien R¦gime weiter entwickelt war, und er zögerte nicht, das zu unterstreichen. Nichtsdestotrotz sah er auch entscheidende Berührungspunkte zwischen den beiden Ländern, wie zum Beispiel die überraschend schnelle Entstehung einer öffentlichen Meinung oder eines »Publikums«, das immer breiter wurde, auch durch das fortschreitende Ersetzen des Lateinischen durch die Nationalsprachen. Und er sah auch, dass dieses neue Lesepublikum den hommes des lettres der Aufklärung auf beiden Seiten des Ärmelkanals eine entscheidende und mächtige Waffe in die Hand gab51. Über dieses so wesentliche Thema, ohne welches die Politisierung der philosophes im 18. Jahrhundert nicht nachvollzogen werden kann, beliebte Necker wahrlich nicht zu scherzen, als er 1784 voller Bewunderung anmerkte, dass die Macht der öffentlichen Meinung in Frankreich nicht zu unterschätzen sei und sich die meisten Ausländer nur mit größter Mühe eine richtige Vorstellung davon bilden könnten. Es sei schwer zu begreifen, wie eine solche »unsichtbare Macht« möglich sei, die »ohne Kasse, ohne Leibwache, ohne Armee Gesetze gibt, die selbst im Schloss des Königs befolgt werden«, und doch sei diese unheimliche Macht höchst real.52 Die Entwicklung des modernen Kulturkonsums ermöglichte die Entstehung der öffentlichen Meinung im Abendland und führte über die institutionelle und kulturelle Geschichte der Geselligkeit des 18. Jahrhunderts zum außerordentlichen Erfolg des aufklärerischen Denkstils. Es versteht sich von selbst, dass die Durchsetzung der Aufklärung ohne den Rückgriff auf die Ergebnisse dieser Untersuchungen kaum plausibel erklärt werden kann, auch wenn sich in einigen dieser Untersuchungen über die Geselligkeitsformen hartnäckig der grobe historische Fehler hält, Formen der Freimaurerei, der akademischen Bewegung, der Gelehrtenrepublik und der Salons voreilig mit dem kulturellen System der Aufklärung gleichzusetzen oder wenigstens unzulässig zu mischen. Tatsächlich wissen wir nach heutigem Wissensstand, dass es sich um unterschiedliche Phänomene handelte, die jeweils ihren eigenen Verlauf, ihren eigenen Ursprung und ihre eigenen Eigenschaften hatten und sich manchmal, auch über einen längeren Zeitpunkt hinweg, berührten. Aufgabe der geschichtswissenschaftlichen Forschung ist es also, jedes einzelne dieser unterschiedlichen Phänomene für sich zu untersuchen, um auf diese Weise diese besonderen Momente korrekt und kohärent zu rekonstruieren. Das heißt, ausgehend vom Kontext, den äußerst 51 Zu diesem Thema vgl. J. Van Horn Melton, The Rise of the Public in Enlightenment Europe, Cambridge, 2001; D. Goodman, The Republic of Letters. A Cultural History of the French Enlightenment, Ithaca, 1994. 52 Vgl. K.M. Baker, Au tribunal de l’opinion. Essai sur l’imaginaire politique au XVIIIe siÀcle, Paris, 1993; für einen Gesamtüberblick siehe auch E. Tortarolo, Stichwort »Opinione pubblica« in V. Ferrone / D. Roche, L’Illuminismo. Dizionario storico, a. a. O., S. 283 ff.
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fruchtbaren Prozess aufzuzeigen, in dem die Werte und der neue Denkstil der Aufklärung die kulturelle Praxis dieser spezifischen Geselligkeitsformen prägten und umgekehrt auch von diesen geprägt wurden53. Über diesen Sachverhalt waren sich übrigens bereits die zeitgenössischen Aufklärer völlig im Klaren, denn sie setzten sich durchwegs mit Fragen auseinander, in denen es vorrangig um die Autonomie, die Identität und die Rolle des Literaten im Hinblick auf die öffentlichen und privaten kulturellen Institutionen, auf die politische Macht, auf den Schwindel erregenden Anstieg des Verlagsmarktes und auf die steigende Zahl der Autoren ging54. Es mag genügen, darauf hinzuweisen, dass sich in Frankreich in den Jahren von 1750 bis 1789 die Zahl der Autoren verdoppelte und auf beinahe 3000 Namen anstieg. Es war d’Alembert, der in seinem Essai sur la soci¦t¦ des gens de lettres et des grands aus dem Jahr 1753 die philosophes als einer der ersten auf die Notwendigkeit hinwies, die großen Akademien als Hochburgen des königlichen Systems für sich zu gewinnen, mit der Monarchie und dem Adel in Dialog zu treten, um die eigenen Ideen durchsetzen zu können. Und Voltaire, für den es stets vorrangig war, Autonomie, Würde und Freiheit des philosophischen Geistes und die emanzipatorische Kraft der Literaten zu wahren, verurteilte ohne zu zögern diese neue Spezies der Berufsschreiberlinge, die der Markt und die moderne Gesellschaft des Kulturkonsums hervorgebracht hatte und die zunehmend die europäischen Städte mit ihrer Massenproduktion überschwemmte. Voltaire unterzog die neue Figur von »Autoren« und »Schriftstellern« im Dienst mächtiger Cliquen von Verlagen und Buchhändlern, die allein die Bedürfnisse des Marktes bedienten und vom Geschmack des »Publikums« abhingen, einer vernichtenden Kritik. Er spuckte Gift und Galle gegen die Vertreter einer billigen »Schundliteratur«, brandmarkte sie als »Kanaillen« und käufliche »Schreiberlinge«, die für wenig Geld bereit seien, ihre Überzeugungen zu verraten. Vor die Wahl gestellt, seinen Lebensunterhalt mit Schreiben zu verdienen, was der Verlagsmarkt nun ermöglicht hätte, oder sich unter dem Schutz des alten Mäzenatentums zu stellen, wie es in der Renaissance üblich war, ging Voltaire so weit, dem absolutistischen Modell des Literaten im Dienst der Monarchie den Vorzug zu geben, also den Korporationen der so genannten corps savants des Ancien R¦gime, wie es in Frankreich von Richelieu und Ludwig XIV. geschaffen worden war. Das trug ihm die Feindschaft von Schriftstellern wie Rousseau und Diderot ein, die für das Wiedererstarken des »republikanischen Geistes« empfänglich waren. Später wurde er vor allem von Brissot, Marat, Alfieri und etlichen 53 Vgl. dazu einen ersten Versuch von V. Ferrone, dieses Thema am Beispiel der königlichen Akademie der Wissenschaften von Turin durchzudenken: V. Ferrone, The Accademia reale delle Scienze, a. a. O. 54 Vgl. R. Darnton, Gens de lettres, gens du livre, Paris, 1992, S. 267.
Was war die Aufklärung?
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anderen Vertretern der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts lauthals angegriffen, die von der paradoxen Entstellung der alten Gelehrtenrepublik mit ihren ursprünglichen Idealen von Freiheit und Gleichheit nichts wissen wollten. Nach ihrer Meinung hatte sich eben diese erträumte Gelehrtenrepublik, nachdem sie Realität geworden war, in vielen Teilen Europas in eine verhasste Korporation nach dem Muster des Ancien R¦gime gewandelt, mit den alten, überkommenen Privilegien und Riten, mit einer herausgekehrten Hierarchie des Talents, die ihnen – sei sie nun auch von einem aufgeklärten Herrscher legitimiert, – nicht weniger verhasst war als der alte dünkelhafte Geburtsadel der Aristokratie . Es ist hellsichtig angemerkt worden, dass die von Jean-Baptiste Pigalle 1776 geschaffene Skulptur, die Voltaire unbekleidet darstellt, in der einen Hand eine antike Papyrus-Rolle und in der anderen einen modernen Federstift, von seinen Zeitgenossen als symbolträchtig für die Widersprüche der Figur des homme des lettres in der Welt der Aufklärung aufgefasst werden konnte. Tatsächlich schwankt diese Figur ständig zwischen der Notwendigkeit von Protektion und dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit hin und her, zwischen dem Genuss von Privilegien und dem Anspruch auf Gleichheit, zwischen reformerischer Behutsamkeit und radikaler Utopie55. Denn das System des Ancien R¦gime mit seinem Jahrhunderte langen Verständnis von Kultur als Stütze und Bewahrung der hierarchisch gestuften Gesellschaftsordnung mit ihren festen Wertvorstellungen und einer konservativen Praxis von Repräsentation und Tradition stellte schließlich die Ideale und die Transformationsprojekte, die den aufklärerischen Denkstil begleiteten, auf eine harte Probe: es war nicht einfach, an dieses originäre Kultursystem anzuknüpfen, in der Hoffnung, daraus eine neue Zivilisation schaffen zu können. Der europaweite historische Kontext des Ancien R¦gime, dessen Modell auf einer festgeschriebenen Ungleichheit beruhte, auf dem Primat der Hierarchie, der Tradition, dem Privileg des Geburtsadels und auf einem unverbrüchlichen Bündnis zwischen Thron und Altar, der eigentlichen Legitimationsgrundlage für die Macht der Kirche, prägte jede Phase der Geschichte der Aufklärung und bestimmte deren originellen Charakter, den kritischen Geist der jeweiligen Protagonisten und die besondere Entwicklung dieser großen Geistesströmung in den verschiedenen nationalen Ausprägungen. Im Dictionnaire de l’Acad¦mie franÅaise aus dem Jahr 1694 stand zum Beispiel, synthetisch zusammengefasst, dass die »Gelehrtenrepublik« eigentlich nur als ein symbolisch gemeinter Sammelbegriff für »alle Literaten« zu verstehen sei, so als bildeten sie eine »Korporation«. Ausgerechnet dieser Status sollte para55 Vgl. R. Chartier, Stichwort »L’uomo di lettere«, in V. Ferrone / D. Roche, L’Illuminismo. Dizionario storico, a. a. O., S. 197 f.
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doxerweise nicht wenig zum Erfolg und zum Aufstieg der neuen sozialen Elite beitragen, die nun als eine mächtige Korporation unter anderen Korporationen rangierte. Die Aufklärung ist also, mehr als man je gedacht hätte, auch ein legitimes Kind des Ancien R¦gime: dies nicht anzuerkennen, wäre ein grober historischer Fehler56. Im übrigen möge es genügen, darauf hinzuweisen, dass eben die ach so kosmopolitische und freiheitliche Gelehrtenrepublik – die sinnigerweise gemeinsam mit der Freimaurerei als sozialer Bezugsrahmen der Aufklärung identifiziert worden ist,57 – in ihrem Inneren von heftigen Kämpfen zerrissen war, die sich auf den Versuch zurückführen lassen, der Herrschaftslogik und der Privilegienkultur, die im System der corps savants vorherrschten, zu entkommen. Aus historiographischer Sicht besteht also überhaupt kein Zweifel daran, welches die großen Herausforderungen für die zukünftige Historikergeneration sein wird: unabdingbar ist vor allem die sorgsame und umfassende Analyse eben dieses Kontextes und des engen dialektischen Zusammenhangs zwischen der Welt der Aufklärung und dem Ancien R¦gime am Vorabend der Französischen Revolution. Ohne die Abklärung dieser Voraussetzung ist jene überwältigende kulturelle Umwälzung des Abendlandes, die wir heute Aufklärung nennen, nicht zu begreifen.
56 Bereits W. Doyle hat in seiner grundlegenden Studie (The Ancien Regime, New York, 1986) auf den engen Zusammenhang zwischen Ancien R¦gime und Aufklärung hingewiesen: »Die Aufklärung ist ein Phänomen des Ancien R¦gime. Die Französische Revolution verzerrte und verwandelte diese Strömung, wie auch so vieles anderes, und gab ihr schließlich einen neuen, unvorhergesehenen Aspekt.« 57 Vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, a. a. O., S. 55 ff.
VI. Chronologie und Geographie einer kulturellen Revolution
Im Lit de Justice, das am 12. März 1776 von Ludwig XVI. vor dem Pariser Parlament einberufen worden war, fasste der Advokat des Königs, Antoine-Louis S¦guier, die soziale Realität des Französischen Königreiches, so wie sie sich den Zeitgenossen präsentierte, folgendermaßen zusammen: »Tous vos sujets, Sire, sont divis¦s en autant de corps diff¦rents, qu’il y a d’Etats diff¦rents dans le royaume: le clerg¦, la noblesse, les cours souveraines, les tribunaux inf¦rieurs, les officiers attach¦s ces tribunaux, les universit¦s, les acad¦mies, les compagnies de finances, les compagnies des commerce, tout pr¦sente, et dans toutes le parties de l’Etat, des corps existants qu’on peut regarder comme les anneaux d’une grande chane, dont le premier est dans les mains de Votre Majest¦ comme chef et souverain administrateur de tout ce qui constitue le corps de la nation«.1 In Wirklichkeit wurde jeder Winkel der europäischen Gesellschaft von der ständischen Ordnung und ihren Gilden, Innungen und Korporationen beherrscht. Wenn Tocqueville die »Verfassung des Ancien R¦gime« erklärte, sprach er gern von der »alten europäischen Verfassung« und erläuterte: »Ich habe Gelegenheit gehabt, die politischen Einrichtungen des Mittelalters in Frankreich, England und Deutschland zu studiren, und während ich in dieser Arbeit fortschritt, erfüllte mich die außerordentliche Ähnlichkeit in Erstaunen, welche allen diesen Gesetzen untereinander eigen ist und mit Verwunderung sah ich, wie so verschiedene und so wenig miteinander gemischte Völker sich so ähnliche Gesetze hatten geben können. Freilich weichen sie beständig und in den einzelnen Bestimmungen fast ins Unendliche je nach der Örtlichkeit von einander ab; aber im Wesentlichen sind sie überall die nämlichen. […] Die Stadtverfassungen sind einander ähnlich; das platte Land wird in derselben Weise regiert. Die Lage der Bauern ist wenig verschieden; der Boden wird in gleicher 1 Vgl. Ê. Lousse, La soci¦t¦ d’Ancien R¦gime. Organisation et repr¦sentation corporatives, Lovain, 1952 (2. Aufl.), S. 133; J. Revel, Les corps et communaut¦s, in K.M. Baker (Hrsg.), The Political Culture of the Old Regime, Oxford, 1990, S. 227.
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Weise erworben, besessen, bebaut, und der Landmann hat die nämlichen Lasten zu tragen. Von den äußersten Grenzen Polens bis zum Irländischen Meere gleicht Alles einander : die Lehnsherrlichkeit, der Hof des Lehnsherrn, das Lehngut, die zu leistenden Dienste, das Feudalrecht, die Innungen. Bisweilen sind auch die Namen dieselben, und, was noch merkwürdiger ist, ein einziger Geist beseelt alle diese übereinstimmenden Institutionen.«2 Im Laufe des 18. Jahrhunderts erschien dieser Kosmos fernen mittelalterlichen Ursprungs, wie Tocqueville in seinen Studien feststellte, allgemein als »zur Hälfte zerstört«, in deutlicher Auflösung begriffen und in den letzten Zügen einer Krise gefangen, die als unumkehrbar galt. Die absolutistisch herrschenden Monarchen und die streng zentralistische Politik der großen und kleinen europäischen Monarchien hatten die alte aristokratische Feudalgesellschaft bereits seit geraumer Zeit von innen ausgehöhlt und dadurch jenen grandiosen historischen Prozess angestoßen, der zur Bildung neuer Eliten – wie etwa der Intellektuellen oder des Dienstadels – führen sollte und die allmähliche Entstehung einer modernen Zivilgesellschaft begünstigte. Die Idee des Individuums, im Gegensatz zur früheren Gemeinschaft, gewann zunehmend an Boden, und man träumte von einer Gesellschaftsordnung, die gegenüber dem absoluten Staat, in dessen Innerem und gegen dessen Absichten diese Vorstellung ungewollt herangereift war, frei und autonom sein sollte. Trotz der epochalen Wandlungen, die im Gange waren, und der unübersehbaren Endphase, in der sich die Welt des Ancien R¦gime befand, war diese Staatsordnung in den Augen der französischen Revolutionäre alles andere als bereits untergegangen. Sie waren es übrigens, die den Begriff des »Ancien R¦gime« in polemischer Absicht gebrauchten und somit diese ursprünglich wertneutrale Bezeichnung als historische Kategorie begründeten.3 Mit Nachdruck forderten sie feierlich die endgültige Beseitigung der alten ständischen Ordnung und proklamieren in der berühmten Präambel der Verfassung aus dem Jahr 1791, dass die Nationalversammlung endlich all die Einrichtungen abgeschafft hätte, die gegen das Menschenrecht die Freiheit und die Gleichheit aller Menschen verletzten. »Es gibt keinen Adel mehr, keinen Hochadel, keine erblichen Unterschiede, keine Standesunterschiede, keine Lehnsherrschaft, keine Patrimonialgerichtsbarkeiten, keine Titel, Benennungen und Vorrechte, die davon herrührten, keinen Ritterorden, keine Körperschaften oder Auszeichnungen, die Adelsproben erforderten oder die auf Unterschieden der Geburt beruhten, und keine andere Überlegenheit als die der öffentlichen Beamten in Ausübung ihres 2 A. de Tocqueville, L’ancien r¦gime et la r¦volution (Paris, 1856), dt.: Der alte Staat und die Revolution, übers. von Theodor Oelkers, Leipzig, 1867, S. 24 – 25. 3 Vgl. D. Venturino, La naissance de l’Ancien R¦gime, in C. Lucas (Hrsg.), The Political Culture of the French Revolution, Oxford, 1988, S. 11 ff.
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Dienstes. Kein öffentliches Amt kann mehr gekauft oder ererbt werden. Für keinen Teil der Nation, für kein Individuum gibt es mehr irgendein Privileg oder eine Ausnahme vom gemeinsamen Recht aller Franzosen. Es gibt keine Zünfte mehr, keine Körperschaften von Berufen, Künsten oder Handwerken. Das Gesetz anerkennt keine geistlichen Gelübde noch irgendwelche anderen Verbindlichkeiten, die den natürlichen Rechten oder der Verfassung entgegenstehen«4. In Wirklichkeit hat die historiographische Forschung dieses scharf gezeichnete Schwarz-Weiß-Bild einer Welt, wie sie aus den Anklagen und dem kämpferischen Ton der Verfassungsväter hervorging, nur bedingt bestätigt. Die Entstehung des Ancien R¦gime, seine Geographie und Chronologie nicht nur im französischen, sondern weiter gefasst im europäischen Kontext, müssen auch in Zukunft noch Forschungsgegenstand bleiben; ebenso wie die Zeiten und die Modi seines Endstadiums vertiefter Untersuchungen bedürfen5. Tatsächlich wissen wir heute genau, dass einige der so genannten typischen Einrichtungen und Kennzeichen des Ancien R¦gime, wie zum Beispiel der Adel, das Lehnswesen, die Signoria, also die Stadtherrschaft, der kirchliche Zehnt sowie die Käuflichkeit und die Erblichkeit der Ämter, die in den Dokumenten am Ende des 18. Jahrhunderts generell als Elemente eines gemeinschaftlichen »Feudalregimes« geführt wurden, die ein für alle Mal beseitigt werden sollten, in Wirklichkeit sehr unterschiedliche Einrichtungen, die von Fall zu Fall einer jeweils eigenen Epoche zugeordnet werden müssen, wahllos in einen einzigen Topf geworfen hatten. Wohl bezeichnete ein großer Gelehrter wie Pierre Goubert die alte Ordnung als einen instabilen und konfusen Mischmasch von Privilegien und juristischen Bestimmungen, die auf Unterscheidung und Ungleichheit gründeten, als einen trüben Sumpf von Gemeinschaftseinrichtungen, Praktiken und Bräuchen, die mitunter einander widersprachen und sich überlagerten und zu Partikularismus und Aufteilung der Herrschaftsgewalt führten, als einen bedrohlichen Strom voll von Schutt und Schlamm einer längst nicht mehr beherrschbaren Realität in stetem Aufruhr. Hingegen haben andere Forscher im Ancien R¦gime ein organisches und natürliches Gerüst sehen wollen, das sich die Menschheit rund um das Autoritätsprinzip errichtet habe: seine präzise strukturierte Hierarchie war nach dieser Lesart auf breiter Basis akzeptiert und von den Wertvorstellungen der Würde und der Ehre getragen und sanktioniert. Die Formen der sozialen wie der politischen Organisation waren vom religiösen 4 Präambel »Über die Menschenrechte« in der Französischen Verfassung vom 3. September 1791; vgl. dazu auch W. Doyle, The Ancien R¦gime, a. a. O., S. 7. 5 Vgl. zum Beispiel für die englischen Zustände die vieldiskutierte Studie von J.C.D. Clark, English Society 1688 – 1832. Ideology, Social Structure and Political Practice during the Ancien R¦gime, Cambridge, 1985. Immer zu diesem Thema siehe auch J.-Y. Grenier, L’¦conomie d’Ancien R¦gime, Paris, 1997. Zum Fortleben eines europaweiten Ancien R¦gime siehe A. Mayer, The Persistence of the Old Regime. Europe to the Great War, New York, 1981.
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Weltbild legitimiert und in einem stabilen Rahmen eingefügt, da sie auf festen, seit Jahrhunderten existierenden Traditionen beruhten, nicht zuletzt auf dem Erbe der höfischen Gesellschaft, die bereits im Mittelalter Zivilisation und gute Manieren hervorgebracht habe6. Man darf nie außer Acht lassen, welche tief greifenden Veränderungen, die den gesamten Verlauf der abendländischen Geschichte verändern sollten, das 18. Jahrhundert durchlebte, was den Zusammenhang zwischen der Krise des Ancien R¦gime und der Kritik der Aufklärung in unseren Augen noch komplexer gestaltet. In einem Zeitraum von knapp hundert Jahren stieg die europäische Bevölkerung von 118 auf 193 Millionen Einwohner, was einem Zuwachs von 60 % entspricht. Die Einwohnerzahlen von London und Paris überschritten die Marke von mehr als einer halben Million, Neapel erreichte eine Zahl von 400.000, Wien und St. Petersburg hatten jeweils um die 200.000 Bürger7. Es mag zwar übertrieben scheinen, von einer Agrarrevolution zu sprechen, wo doch jenseits der Elbe nach wie vor Formen von Leibeigenschaft fort existierten, überall auf dem Kontinent besonders harte Herrschaftsrechte über Grund und Boden zu beklagen waren und die alte Feudalordnung sich auch auf juristische und ökonomische Bereiche ausweitete. Unleugbar stieg jedoch die Produktionskraft deutlich an, und moderne Figuren wie die fermiers erfuhren zunehmende Bedeutung. Diese reichen Pächter, von den Physiokraten hoch geschätzt, und in der Encyclop¦die aus dem Jahr 1756 lobend erwähnt, sollten sich als der entscheidende Motor ein zwar langsamen, aber unaufhaltsamen kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft erweisen. Auch wenn es stimmt, dass der frühindustrielle take-off nur im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts stattfand, so trifft es doch zu, dass viele europäische Staaten über moderne Formen der Eisenverarbeitung, über Textilmanufakturen und Werkstätten verfügten, in denen sich die mechanisierte Produktion die technischen Innovationen und die neuen Formen der Arbeitsorganisation des so genannten factory system zunutze machte. Der beeindruckende Produktionsanstieg führte in seiner ganzen Komplexität, wenn auch nicht zeitgleich und von Region zu Region verschieden, zu einem Zusammenprall zwischen Vertretern des ökonomischen Liberalismus, also eines freien Arbeitsmarktes, und Vertretern des Korporationssystems und des Protektionismus8. 6 Vgl. das Vorwort von C. Mozzarelli zur italienischen Übersetzung der Studie von W. Doyle, L’Ancien R¦gime, a. a. O., S. XX ff.; R. Mousnier, Les institutions de la France sous la monarchie absolue 1598 – 1789, Bd. 1, Paris, 1974; M. Fumaroli, L’ ge de l’¦loquence. Rh¦torique et »res literaria«, de la Renaissance au seuil d l’¦poque classique, Genf, 1980. 7 Alle hier angegebenen Daten stammen aus der auf internationaler Ebene als Standardwerk angesehenen Studie von L. Guerci, L’Europa del Settecento. Permanenze e mutamenti, Einaudi, Torino, 1988. 8 Vgl. allgemein zum Thema: E.P. Thompson, The Making of the English Working Class, New
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Nicht immer trug der ökonomische, technische und wissenschaftliche Fortschritt unmittelbar zur Entstehung der f¦licit¦ publique bei, wie Rousseau in seinem Discours sur l’in¦galit¦ – (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, 1755) – hellsichtig bemerkte. Der um sich greifende Pauperismus und die erschreckende Arbeitslosigkeit in Paris veranlasste Linguet in diesem Zusammenhang, den berühmt gewordenen bitteren Vergleich zu ziehen zwischen dem Sklaven der Antike, der von seinem Herrn zumindest ernährt und untergebracht worden sei, und dem modernen Lohnarbeiter, der vom Gespenst der Arbeitslosigkeit gepeinigt sei und über dem das Damoklesschwert des Hungers schwebe. Allerdings ist bisher, vom Gesichtspunkt der Geschichte der Aufklärung und der Krise des Ancien R¦gime aus, zu wenig auf die extraeuropäischen Ereignisse eingegangen worden. In der Tat war das 18. Jahrhundert in erster Linie die Ära der Entstehung und Ausweitung der Kolonialreiche, also gewissermaßen, um es mit einem anachronistischen Begriff auszudrücken, die Epoche der ersten modernen »Globalisierung«, mit weit reichenden Folgen auf das geistige und materielle Leben der damaligen Zeitgenossen: Europa kontrollierte zwei Drittel des weltweiten Warenverkehrs, die wirtschaftliche Expansion erreichte nie vorher da gewesene Rhythmen und Dimensionen, das Handelsvolumen stieg von 62 Millionen Pfund Sterling im Jahr 1720 auf 137 Millionen Pfund im Jahr 1780. Die Investition einer großen Menge von Kapital und der Ausbau einer beeindruckenden französischen, niederländischen und russischen Flotte ermöglichte die stürmische Entwicklung des überseeischen Verkehrs zwischen Europa, Asien und Afrika, sowie mit Nord- und Südamerika; allein die englische Marine verschiffte im Jahr 1786 881.000 t, während es im Jahr 1689 noch 350.000 t gewesen waren. Über die Kontrolle dieses überaus ertragreichen Handels mit Indien, woher Seidenstoffe, Baumwolle, Gewürze und Färbematerial stammten, gerieten die englische East India Company, die niederländische Vereenigde Oostindische Compagnie und die französische Compagnie des Indes in jeder Beziehung aneinander. Der Kampf weitete sich auf den Kolonialhandel mit Nord- und Südamerika, Indonesien und China aus. Zwischen England und Frankreich entzündeten sich Konflikte um den Zucker aus den Antillen und um die Kontrolle über die indischen und chinesischen Häfen, während zwischen Spanien, Portugal und wieder England ständige Kämpfe um die Kontrolle über den Sklavenhandel schwelten. Viel zu wenig weiß man bisher auch noch über die konkreten Motive, die im York, 1966; K. Polanyi, The Great Transformation, New York,1944. Studien zu speziellen Problemen: W.H. Sewell, Work and Revolution in France. The Language of Labor from the Old Regime to 1848, Cambridge, 1980; S. Cerutti, Mestieri e privilegi. Nascita delle corporazioni a Torino, secoli XVII – XVIII, Einaudi, Torino, 1992.
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18. Jahrhundert seitens der Verleger zu einem wahren Begeisterungssturm für die so genannte Reise- und Entdeckerliteratur führten, für die extraeuropäischen Zivilisationen, für das »Andere«, das Wilde, das Barbarische – allerdings schlug das Pendel bald zurück, man spürte angesichts dieser befremdlichen Alterität, mit der man sich zunehmend konfrontiert sah, das Bedürfnis, sich der nationalen Identität zu versichern. Dieses komplexe Phänomen ist ohne Berücksichtigung der ungeheuren Handelsexpansion im 18. Jahrhundert und ohne die Entstehung der Kolonialreiche nicht zu verstehen. Dazu gehört auch die Wahrnehmung der außerordentlichen geographischen Entdeckungen von James Cook oder Bougainville, dessen berühmtes Werk Voyage autour du monde im Jahr 1771 erschien. Indien, China, Afrika, Amerika und Ozeanien erweckten die Neugierde und das Interesse, nicht nur aus ökonomischen und politischen Gründen, sondern auch und in erster Linie aus kultureller Wissbegier9. Es war kein Zufall, dass man sich lebhaft für die großen Universalgeschichten interessierte, die als globale Geschichte der ganzen Menschheit begriffen wurden; auch die Ethnologie und die Anthropologie profitierten nicht wenig von den Forschungen über die kulturellen Gebräuche, die Religionen und die Physiologie der verschiedenen Völker. Die Veröffentlichung von Voltaires Essai sur les moeurs et l’esprit des nations in sieben Bänden (1754 – 1758) widerspiegelte ziemlich getreu den wiederauflebenden Kosmopolitismus und den neuen Universalismus der Aufklärer, der durch die Globalisierung im 18. Jahrhundert hervorgerufen worden war und nicht mit den gleichnamigen Begriffen der stoischen Tradition der Antike verwechselt werden darf. Im Gegensatz zur antiken Tradition rückte in Raynals Bestseller Histoire philosophique et politique des ¦tablissement et du commerce des Europ¦ens dans les deux Indes, der 1770 erschien, zum Beispiel die Bedeutung der Kolonialkriege und das gigantische Ausmaß des Sklavenhandels in den Mittelpunkt, bei dem es um enorme finanzielle Handelsinteressen ging. Die meisten der insgesamt fast zehn Millionen Schwarzafrikaner, die während der über 350 Jahre lange Zeit des Sklavenhandels nach Amerika verschleppt worden waren, wurden im Zeitalter der Aufklärung versklavt und verschifft, nämlich über sechs Millionen zwischen 1701 und 1810, was einem Prozentsatz von 63 % entspricht. Den größten Umfang dieses grausamen Handels, der im ausgehenden 18. Jahrhundert manche Aufklärungsdebatte über das Phänomen der kolonialen Praxis des Sklavenhandels in der Moderne und damit einhergehend über die Gleichheit und über die Universalität der Menschenrechte bestimmen sollte, bestritt das fortschrittliche England, gefolgt von Portugal und vom
9 Vgl. G. Abbattista und R. Minuti (Hrsg.), Le problÀme de l’alt¦rit¦ dans la culture europ¦enne. Antropologie, politique et religion aux XVIIIe et XIXe siÀcles, Napoli, 2006.
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Frankreich der philosophes, das die dritte Stelle dieser unrühmlichen Liste einnimmt. Der so genannte Siebenjährige Krieg, in den alle europäischen Großmächte ihrer Zeit von 1756 bis 1763 verwickelt waren, bestätigte sozusagen die herausragende Bedeutung der »Globalisierung«– wie wir sie genannt haben – im 18. Jahrhundert. Zu Recht wird dieser Konflikt von den Historikern als ein »Weltkrieg« angesehen, da sich nicht nur Russen, Österreicher, Preußen oder Schweden auf europäischem Boden bekämpften, sondern auch Franzosen, Spanier und Engländer in jedem Winkel der Welt. Großbritannien ging als Sieger aus dem allgemeinen Konflikt hervor und schuf die Grundlage für eines der größten Imperien, die je existiert haben: es schlug die Franzosen in Afrika, in Indien, auf den Antillen und mit der endgültigen Eroberung Kanadas auch in Nordamerika; mit der Besetzung von Kuba und den Philippinen demütigte es Spanien und bereitete damit den Boden für künftige Revanchewünsche, was das ohnehin prekäre internationale Gleichgewicht empfindlich störte und nachdrücklich deutlich machte, wie tief greifend die Umwälzungen waren und wie vorläufig die allgemeine Lage, die daraus hervorging. Genau besehen, war dieser erste Weltkrieg eine entscheidende Wegmarke in der Geschichte der Aufklärung. Von da ab wandelten sich die Dinge radikal, wie später noch zu präzisieren ist. Dieser Krieg bereitete den Boden für die lange Endphase des Ancien R¦gime, für die großen nationalen Reformen der Monarchien durch die Herrscher selbst, d. h. also für das Zeitalter des aufgeklärten Despotismus, der von Gestalten wie Friedrich II., Katharina der Großen und Joseph II. getragen wurde, und für die darauf folgenden demokratischen Revolutionen, die als Antwort darauf von Seiten den unteren Schichten erfolgten. Kurzum, bedingt durch den Krieg fand unvermeidlich eine komplexe Verwandlung der aufklärerischen Kultur statt, die sich nun von der Aufklärungskultur in ihrer Anfangsphase unterschied. Tatsächlich drängten sich im letzten Viertel des Jahrhunderts der geistigen Reflexion der Intellektuellen und dem politischen Handeln der Regierungen und der Eliten einige Fragen auf, die nicht einfach zu beantworten waren, wie etwa das Problem des nunmehr augenfälligen Anachronismus der Feudalherrschaft und der herrschaftlichen Privilegien, die Frage der Liberalisierung des Handels und des Arbeitsmarktes, (mit dem ersten großen Angriff gegen das Korporationssystem), die Auseinandersetzung mit der Forderung nach den Menschenrechten, die Debatte über Patriotismus, Konstitutionalismus und Republikanismus, das Problem der Legitimität der Regierungen und der Macht im Allgemeinen im Licht des Prinzips der Gleichheit und der neuen Idee der Volksherrschaft, und nicht zuletzt die Frage nach der sozialen und politischen Funktion der Religionen und der öffentlichen Meinung. Man dachte über die Geselligkeitsformen der Moderne nach, über den Aufbau einer
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Zivilgesellschaft und die Schaffung einer europäischen Identität, die sich von der Vergangenheit unterscheiden sollte: man wollte eine moderne Ökonomie entwickeln, die Tugend und Reichtum, Fortschritt und Gerechtigkeit in sich vereinen sollte. Im Zuge dieses kühnen Entwurfs einer Neuordnung aller Dinge standen die neue Darstellung der Natur und die Aufgaben, die den Naturwissenschaften zukommen sollten, ganz oben auf der Tagesordnung. Aus diesem Blickwinkel bleibt der Kontext des Ancien R¦gime auch in seiner Phase tief greifender Veränderungen, die durch die Globalisierungskrise im 18. Jahrhundert verstärkt wurden, ein Fixpunkt der historiographischen Analyse, will man das Phänomen der zunehmenden Politisierung der Aufklärung im ausgehenden Jahrhundert und seiner spezifischen Verwandlungen erfassen. Die Hauptaufgabe der Geschichtsforschung bleibt auch heute noch, das Skandalon nachzuvollziehen, das von den Aufklärern im Laufe des gesamten 18. Jahrhunderts ausgelöst wurde, als sie mit ihrer unnachgiebig vertretenen Auffassung, der zufolge alle Menschen frei geboren würden, und es auch ihr Leben lang blieben, ihre Zeitgenossen zutiefst verunsicherten und beunruhigten. Nicht minder skandalös war der zweite Eckpfeiler aufklärerischen Denkens, dass nämlich diese freien und gleichen Menschen auch noch über unveräußerliche Rechte verfügten. Die drei Jahrhunderte, die uns vom Zeitalter der Aufklärung trennen, versetzen uns in die Lage, die Diskontinuität und die unterschiedlichen Mentalitäten hervorzuheben und aus der nötigen Distanz über diese ferne Vergangenheit und das Recht iuxta propria principia nachzudenken. Man müsste sich verstärkt mit der Tatsache auseinandersetzen, dass in der Welt des Ancien R¦gime, also zu Zeiten der Feudalherrschaft, der Korporationen und des Ständewesens, die kühne These von der Gleichheit aller Menschen einfach unvorstellbar war und vor allem keinen konkreten Bezug hatte: es bestand die Gefahr, sie ins Reich der Utopien und der sozialen Träume zu verweisen. Doch diese traumtänzerische These wurde von einer neuen Elite gepredigt, die sich als ungemein zäh und willensstark erwies, die anvisierten Änderungen durchzusetzen. Trotzdem bleibt es, gerade auch unter Berücksichtigung dieser wenigen Betrachtungen, dabei: der historische Versuch, den außerordentlichen Erfolg der aufklärerischen Kultur im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts aufzuarbeiten, kommt an dessen dialektischen Zusammenhang mit dem Ancien R¦gime und dessen finaler Krise nicht vorbei. In dieser Hinsicht ist die Fallstudie über die Entstehung der öffentlichen Meinung aufschlussreich. Greift man auf die marxistische Variante unseres Kentauren zurück, und also auf die Theorie vom Zusammenhang zwischen der sozio-ökonomischen Struktur und dem ideologischen Überbau, wonach sich die bürgerlichen Öffentlichkeit im Zuge der dialektischen Entwicklung von Kapitalismus und Absolutismus herausbildet, so gerät man mit dieser Hypothese sehr rasch an einen toten Punkt. Denn eine freie und offene Debatte
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zwischen freien und gleichen Teilnehmern, gemäß Habermas’ Definition von öffentlicher Meinung, findet in jener gesellschaftlichen Epoche überhaupt keine Entsprechung10. Um das Studium des Phänomens erfolgversprechend zu vertiefen, ist es dagegen sinnvoll, den gesellschaftlichen Kontext dieses allmählich entstehenden öffentlichen Raums zu berücksichtigen, den Anstieg des neuen Verlagswesens, die Auswirkung der Lesepraktiken und die Zirkulation der Druckwerke. In erster Linie ist aber das Augenmerk darauf zu richten, wie es der aufklärerischen Elite gelang, eine konzeptionelle und soziale Realität wie die öffentliche Meinung im kollektiven Bewusstsein als Bedürfnis zu wecken, zu verankern und zu verstärken, und diese einmal geschaffene Realität dann neben und gegen Ungleichheit, ständische Hierarchie und Privilegien in Stellung zu bringen, und das unter den argwöhnischen Augen und gegen den heftigen Widerstand der königlichen und kirchlichen Zensur. Genau betrachtet, handelt es sich bei der aufgeklärten öffentlichen Meinung – verstanden als kollektive, konzeptionelle und anonyme, abstrakte und homogene Entität, die ihre ausformulierte Meinung aus einer einsamen Lektüre bezog – um eine der glücklichsten Erfindungen der neuen Elite der Literaten. Diese wussten die öffentliche Meinung sehr geschickt als ein politisches Instrument zu ihrem eigenen Nutzen einzusetzen und gleichzeitig ihr soziales Prestige zu erhöhen. Auch Kant äußerte sich in seiner berühmtem Schrift Was ist Aufklärung? sehr bestimmt über den Aufsehen erregenden Begriff der »Aufklärung«, und stellte die Welt des Ancien R¦gime mit ihrer konkreten Ständestaatlichkeit, in der das Individuum, eingeschränkt durch seinen Posten, sein Amt oder allgemein durch seinen Stand nur im engsten Kreis »Privatgebrauch von seiner Vernunft machen darf«, dem Mythos der Gelehrtenrepublik gegenüber, dem Ideal einer neuen »Weltbürgergesellschaft« von Lesern und Schriftstellern, die frei und gleich seien und uneingeschränkt einen öffentlichen Gebrauch von ihrer Vernunft machen dürften. Die selbstbewusste Annahme, dass durch die von den Aufklärern gepredigte schriftliche Kommunikation, die kulturelle Praktik des Lesens und des freien und öffentlichen Gebrauchs der Kritik, sowie durch die freie und ungehemmte Zirkulation der Ideen das Wunder der Gleichheit aller Menschen vollbracht werden könne, ging allerdings völlig an der Realität vorbei. Auf konkreter Ebene führte diese Vorstellung die Vertreter der Aufklärung zu einer zweigeteilten Vision der sie umgebenden Welt. Das gab der Krise des Ancien R¦gime neue Nahrung und schuf auf diese Weise die Voraussetzungen für die kulturelle Umwälzung des Abendlandes. 10 Vgl. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962), 5. Auflage Neuwied/Berlin, 1971. Zur Auseinandersetzung mit Habermas’ Thesen siehe R. Darnton, The Darnton Debate. Books and Revolution in the Eigtheenth Century, a. a. O., S. 277 ff.
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Ähnliches gilt auch für andere Aspekte der europäischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts: für die Gepflogenheiten in den Salons zum Beispiel, wo mondäne Geselligkeitsformen des aristokratischen Milieus in stiller Eintracht mit persönlichen Ambitionen und der Verbreitung der emanzipatorischen Werte der neuen aufgeklärten literarischen Elite zusammen lebten11; oder auch für das Umfeld der Akademien, die von der strengen hierarchischen Logik der corps savants ebenso durchdrungen waren, wie von den neuen Kategorien des Talents und der Tüchtigkeit des Individuums.12 Ganz zu schweigen von der Freimaurerei mit ihren Logen in ganz Europa, deren Widersprüche innerhalb und außerhalb ihrer Tempelmauern im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts durch die massive Unterwanderung ihrer aufgeklärten Brüder immer offensichtlicher zu Tage traten, wodurch die Gesellschaft und die Institutionen insgesamt deutlich beeinflusst wurden. Wie wären denn auch die kulturelle Praxis der konstitutionellen Selbstregierung, die Reden über Gleichheit und Republikanismus, der Kosmopolitismus, die Propaganda der Menschenrechte und der Brüderlichkeit in den Logen zu vereinen gewesen mit der Herrschaft von Privilegien und Ungleichheit, mit dem Partikularismus, dem Patriotismus, dem Geburtsadel und dem Sklavenhandel außerhalb der Maurerlogen? Ohne die komplexe philosophische Theoriebildung von Kant und seinem Begriff des Sein sollens abzuwarten, begriff Gaetano Filangieri schon früh die Divergenz zwischen der Art und Weise, die Realität zu leben und sie darzustellen, und erkannte damit auch in seiner ganzen Tragweite den problematischen Charakter der fortschreitenden dialektischen Spaltung zwischen dem Ancien R¦gime und der neuen, auf Gerechtigkeit und Gleichheit aufgebauten Zivilgesellschaft, wie sie von den Aufklärern des ausgehenden 18. Jahrhunderts angestrebt wurde. Daraus rührt Filangieris Unterscheidung zwischen der Reflexion über die Realität, wie sie sich wirklich darstellte, und der kritischen und operativen Reflexion, wie diese Realität stattdessen hätte sein können und sollen. Filangieri verschrieb sein ganzes intellektuelles Forscherleben dieser kritischen Reflexion über das Mögliche, das er hauptsächlich über die Konstruktion eines modernen Rechtswesens zu erreichen versuchte, über seine berühmten Betrachtungen zu einer »Wissenschaft der Gesetzgebung« (La scienza della legislazione, 1780).13 Ähnlich argumentierten auch andere zeitgenössische Autoren, wenn es um die gründliche Überarbeitung oder um die Neubegründung von Disziplinen wie Politik oder den Wirtschaftswissenschaften ging, oder um 11 Vgl. A. Lilti, Le monde des salons. Sociabilit¦ et mondanit¦ Paris au XVIIIe siÀcle, Paris, 2005. 12 Vgl. D. Roche, Les R¦publicains des Lettres. Gens des culture et LumiÀres au XVIIIe siÀcle, Paris, 1988. 13 Vgl. V. Ferrone, La societ giusta ed equa. Repubblicanesimo e diritti dell’uomo in Gaetano Filangieri, Laterza, Roma-Bari, 2003, S. 21 ff.
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so heikle Bereiche wie Glauben und Religion, die viele Protagonisten der Aufklärung in eine nicht kirchliche Zivilreligion umgewandelt wissen wollten, in ein Gedankengebäude im Dienste von Werten, die sich von den Werten des Jahrhunderte lang praktizierten Glaubens, die dagegen noch die Kultur und das Wesen des Ancien R¦gime gespeist hatten, grundlegend unterschieden. Wiederum war Franco Venturi einer der ersten, der die Notwendigkeit sah, so etwas wie eine erneuerte »Chronologie und Geographie der Aufklärung« unter Einbeziehung des europäischen Kontexts im 18. Jahrhundert zu erstellen, mit dem Ziel, sich von der historiographischen Logik des philosophischen Kentauren frei zu strampeln, mit dem wir uns bereits im ersten Teil der Vorlesungen ausführlich beschäftigt haben. In der vierten der Trevelyan Lectures, im Jahr 1969, setzte sich Venturi mit Lefebvres und Labrousses Untersuchungen zur Wirtschaftsgeschichte und Sozialgeschichte auseinander und fasste Jahrzehnte intellektueller Ideengeschichte zusammen, die durch die Arbeiten von Hazard und Cassirer bis hin zu den jüngsten Arbeiten von Cobban, Gay und des jungen, damals noch unbekannten, Robert Darnton vertreten war. Um endlich den Rhythmus und die Grenzen der »aufklärerischen Bewegung« festzulegen, musste unweigerlich der wirtschaftliche Verlauf der damaligen französischen Wirtschaft, so wie er in den grundlegenden Studien von Labrousse beschrieben worden ist, in Augenschein genommen werden: »Jedes Mal, wenn man die von Labrousse gezeichnete Kurve des Weizenpreises in Frankreich verfolgt, jedes Mal, wenn man das europäische Bevölkerungswachstum im 18. Jahrhundert betrachtet, ist es unmöglich zu übersehen, – schrieb Venturi – dass im beginnenden Jahrhundert die gesamte Gesellschaft expandierte und dass nicht nur die Welt der Ideen und der Politik in Bewegung geraten war. Die Krise der dreißiger Jahre, die in den fünfziger und sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte und dann im letzten Viertel in eine Phase tiefer Unruhe endete, entspricht haargenau dem Verlauf des 18. Jahrhunderts und dem der Aufklärung14. Abgesehen von den offensichtlichen Unterschieden, die von Nation zu Nation zu beobachten waren, beschrieb Venturi den Ursprung der ersten aufklärerischen Kulturformen, deren Keime bereits im aufgeklärten Rationalismus des späten englischen 17. Jahrhunderts zu suchen seien, und zwar in den Kreisen der Freethinkers und Commonwealthmen wie Collins und Toland. Damit griff er Hazards These von der Krise, die das europäische Bewusstsein in den Jahren zwischen 1685 und 1725 erfasst hätte, erneut auf. Weiterhin machte Venturi darauf aufmerksam, wie die Überwindung der Wirtschaftskrise und der allgemeinen Kulturkrise in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts von einem erheblichen Aufschwung intellektueller Aktivitäten begleitet worden sei, die den 14 F. Venturi, Utopia e riforma, a. a. O., S. 146 (Übers. d. A.).
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Übergang von der Frühaufklärung zur eigentlichen Aufklärung prägte und eine neue Ära religiöser und moralischer Problempunkte aufgeworfen habe. Ausgelöst wurde dieser bedeutsame Wandel durch das Zusammenspiel vieler Faktoren, darunter etwa der Widerruf des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV., was großes Aufsehen erregt hatte, das Erbe der englischen Revolution im Hinblick der Debatten über die politischen und sozialen Zustände, die brennenden Fragen zur Lehre des Deismus und zum Wesen des Königtums, bis hin zur Behandlung rechtswissenschaftlicher und wirtschaftlicher Themen, wofür Meisterwerke wie L’esprit des lois von Montesquieu aus dem Jahr 1748 oder Della moneta von Ferdinando Galiani aus dem Jahr 1751 Zeugnis geben. In jenen Jahren entstand also das, was Venturi immer für die wahre, große Aufklärung bezeichnen sollte, jene Bewegung, der seitens der Forschung die allergrößte Aufmerksamkeit zukommen müsse, deren Herz im Paris der Encyclop¦die schlage, die den Anspruch erhoben habe, die Denkweise der Menschen zu verändern, die Aufklärung der Generation von Diderot und Rousseau, also von »Personen, die von ihrer eigenen Feder und für ihre eigenen Ideen leben,« so Venturi, »[…] weder Staat noch Akademie, sondern eine Gruppe freier Philosophen«.15 Dieser kleine Kosmos, der noch isoliert und selbst in Frankreich in der Minderheit war, wuchs jedoch rasch an, trotz Repressionen und heftigem Widerstand von Seiten der staatlichen Institutionen, und streckte unaufhaltsam seine Fühler nach allen Richtungen aus, so dass die neue Bewegung innerhalb eines Jahrzehnts durch Übersetzungen, die Zirkulation von Büchern und vor allem von Ideen, in den intellektuellen Kreisen praktisch aller europäischen Hauptstädte Fuß gefasst hatte. Der Übergang vom »Frühling der Aufklärung« in der Jahrhundertmitte zum Jahrzehnt zwischen 1760 und 1770 war vollzogen, das aufklärerische Denken erreichte seinen triumphalen Gipfelpunkt, und die Philosophen konnten direkten Einfluss auf den politischen Prozess der Reformen nehmen. In Italien waren das die Jahre der korsischen Rebellion, die in den politischen und konstitutionellen Debatten, in den Gazetten und Almanachen oder im »Caff¦« Beccarias und der Brüder Verri in Mailand großen Widerhall fand. Mit großem Interesse wurde das Geschehen auch von Genovesi verfolgt, der in Neapel seine Lezioni di commercio (»Vorlesungen über die Volkswirtschaft«) veröffentlichte und um den eine regelrechte »Schule« Gestalt annahm, das heißt eine Art moderner Partei der Literaten. In Österreich schrieb Sonnenfels sein Werk Der Mann ohne Vorurteil mit dem er kraft der aufklärerischen Ideen den Reformismus der Habsburger unterstützte. In Russland zögerte Katharina die Große nicht, mithilfe des Nakaz aus dem Jahr 1767, mit dem sie sich an die 15 Ibidem, S. 149 ff. (Übers.d.A.)
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Mitglieder der gesetzgebenden Kommission wandte, einige wesentliche Gedanken von Montesquieu und Beccaria konkret in die politische Realität umzusetzen. Und in Preußen stand Friedrich II., von einigen Unterbrechungen abgesehen, in fruchtbarem Austausch mit den philosophes. In Spanien schließlich ließ Karl III. Aufklärer von Rang wie Aranda, Campomanes, Olavide und Jovellanos frei gewähren. In dieser ruhmreichen Liste fehle, laut Venturi, ausgerechnet nur England. Die fortgeschrittenste abendländische Nation schien einem anderen Rhythmus zu folgen: »Auch der englische Radikalismus – schrieb Venturi – entsteht um das Jahr 1764, aber unter völlig anderen Umständen als denen der kontinentalen Philosophie. Erst in den achtziger und neunziger Jahren scheinen Namen wie Bentham, Price, Paine und Godwin auf. Der Rhythmus in England ist ein anderer«. Diese Behauptungen sollten allerdings niemanden mehr als nötig verwundern, wenn man sich vor Augen führt, dass der italienische Geschichtswissenschaftler immer klar zwischen »Denken« und »Umsetzung des Denkens« unterschied. Demnach war für ihn die »Verbreitung des aufklärerischen Gedankenguts« eine Sache, etwas anderes dagegen die »Bewegung«, das heißt die konkrete Durchsetzung einer Idee, die bewusst von einer Art »parti des philosophes« getragen wurde. Diese Situation war zwar in Schottland, in Neapel und in Berlin gegeben, doch weder in London noch in Venedig. In diesen urbanen Zentren zirkulierten tatsächlich die Ideen und die Bücher der philosophes, es konnte sich ein allgemein anerkanntes Verlagswesen etablieren und es entwickelte sich etwas, was wir heute als kulturellen Konsum der aufklärerischen Ideen seitens der Eliten bezeichnen würden. Allerdings mangelte es an einflussreichen Schriftstellern, die ihrem aufklärerischen Credo Glut und Farbe hätten mitteilen können, es fehlte an großen Protagonisten, die vermocht hätten, eine autonome Gruppe aufzubauen und einer bewussten politischen Bewegung Leben einzuhauchen, wie es in Paris und im »Caff¦« in Mailand der Fall war. Die Biographien von Protagonisten, die Geschichte bedeutender Gruppierungen sowie von deren Leitideen, das Nachzeichnen von Kontexten und die Chronik der konkreten politischen Aktionen sind also in Franco Venturis Geschichte der Intellektuellen derart unauflöslich miteinander verbunden, dass sie den selben Bewertungskriterien unterliegen. Auf der Grundlage dieser Betrachtungen, musste sich mit dem Heraufziehen der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts das allgemeine Bild der Chronologie und der Geographie der Aufklärung radikal ändern. Mit dem Tod Voltaires (1694 – 1778), Rousseaus (1712 – 1778) und Diderots (1713 – 1784) endete unvermeidlich, immer laut Venturi, die Bewegung der Aufklärung, also das wahre, politisch bedeutsame Projekt der Aufklärung, das mit der Encyclop¦die entstanden war. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts sei in Europa, so Venturi, »das Zeitalter der großen Reformen und der Gegenaufklärung« heraufgedäm-
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mert. Nach einer Epoche der wirtschaftlichen Expansionen, die drei Jahrzehnte lang angedauert hätten, präzisierte Venturi, sei man nun im Zeitalter von Turgot und Joseph II. in eine neue Phase der Instabilität und der jähen Kehrtwendungen getreten, die den sozialen und politischen Unruhen in Russland, den Niederlanden, in Böhmen, das zur Habsburger Monarchie gehörte und schließlich auch in den überseeischen Ländern den Weg ebnen und die sich endlich mit einem Paukenschlag in der Französischen Revolution entladen sollten. Es ist kein Zufall, dass Venturi sich geradezu enthusiastisch die Schlussfolgerungen von Robert Darnton zu eigen machte, der in seinem Frühwerk Mesmerism and the End of Enlightenment in France aus dem Jahr 1968 die prärevolutionäre Mentalität am Vorabend der Französischen Revolution erkundet und feststellt hatte, dass diese, entgegen der weit verbreiteten Annahme, denkbar weit entfernt von den rationalistischen Gewissheiten eines d’Alembert oder Condorcet gewesen sei. Auch laut Venturi gehörten Marat, Brissot, Carra sowie ihre überaus eifrigen Jünger, die in ihrem Denken die Lehren Mesmers und Rousseaus miteinander verschmolzen hatten und europaweit ihre Anhänger rekrutierten, mittlerweile einer völlig anderen mentalen Zeit an als dem großen Zeitalter der Aufklärung rund um die zentrale Idee der Encyclop¦die. Tatsächlich scheint im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts eine andere Generation von Intellektuellen die Szene beherrscht zu haben; laut Venturi habe fast alle ein »wenig sympathisches«, ja bizarres Auftreten ausgezeichnet, eine verschrobene Sprache und sonderbare Ideen, die sich von der alten und ruhmreichen rationalistischen Welt der Aufklärer losgesagt hätten. In den Betrachtungen und politischen Projekten dieser Generation habe »die Angst vor einer neuen Welt gespenstische und geradezu pathologische Züge angenommen16, schrieb Venturi, und zwischen den Zeilen – doch das sprach Venturi nicht aus – habe man bereits die Vorboten des blutigen Terrors lesen können, als der Schlaf der Vernunft am Ende die schlimmsten Monster gebären sollte. Die Chronologie und die Geographie der Aufklärung, die so maßgeblich nachgezeichnet worden sind, haben, ohne wesentliche Veränderung, bis in unsere Tage ihre Gültigkeit behalten. Darüber können auch die Aufsehen erregenden pseudo-nationalen Thesen, wie sie in dem Band Enlightenment in National Context vertreten worden sind, nicht hinwegtäuschen. Die europäische Dimension und das kosmopolitische Wesen der Aufklärung standen im Bereich der ernsthaften und soliden Forschung nie zur Debatte. Wenn überhaupt, so hat 16 Ibidem, S. 166. Venturi unterstrich diese Überzeugung erneut nachdrücklich in seinen späteren Arbeiten, vgl. Settecento riformatore, Bd. IV, La caduta dell’Antico Regime (1776 – 1789), Teil I, I grandi stati d’occidente, Einaudi, Torino, 1984. »Dem neuen Feuer, das sich in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts entfachte, fehlte es an Humanität und Enthusiasmus, es fehlte der universelle Weitblick und das intellektuelle Format von Persönlichkeiten wie Montesquieu, Voltaire oder Buffon.« (Ibidem, S. 419, Übers. d.A.)
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die sogenannte neue englische Schule mit ihren Arbeiten über die Geschichte der Intellektuellen von Jonathan Israel und John Robertson bedeutende Forschungsergebnisse dem gegenwärtigen Wissensstand hinzufügen können, die neue Einsichten zu Tage gefördert haben, allerdings in erster Linie aus chronologischer Sicht, und ganz gewiss nicht aus geographischer oder nationaler Perspektive. Tatsächlich ist Israel in seinem in zwei Bänden erschienenen Mammutwerk mit den viel sagenden Titeln Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650 – 1750, Oxford 2001, und Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity and the Emancipation of Man 1670 – 1752, Oxford 2006, Venturis Schlussfolgerungen in wesentlichen Punkten nicht gefolgt. Am Anfang der Aufklärung stünden, aus dieser neuen Sichtweise, nicht mehr England und dessen Freethinkers, noch die Encyclop¦die oder die Pariser philosophes. Es sind dementsprechend auch nicht die sechziger und siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts, die im Zentrum dieses historischen Phänomens stehen und allgemein als deren Gipfel gelten, sondern es ergibt sich eine Neuorientierung auf die Niederlande als Epizentrum des allgemeinen Bebens. Demnach seien die geistigen Auseinandersetzungen, die im 17. und 18. Jahrhundert in ganz Europa ausgefochten wurden, durch Spinoza und den Spinozismus angestoßen worden, und eben diese Bewegung bildeten die theoretische Grundlage der Säkularisation, der Toleranz, der Demokratie, der individuellen Freiheit, der Emanzipation, der Gleichheit und der Moderne; die wesentlichen Charakterzüge der Aufklärung, so die These, gingen also auf Spinoza zurück. Israel entwirft also ein Schema, das über weite Strecken dem faszinierenden Pionierwerk von Margaret Candee Jacob aus dem Jahr 1981 verpflichtet ist: The Radical Enlightenment. Pantheist, Freemasons and Republicans. Den Mittelpunkt der gesamten Aufklärung bildet, so Israel, der Spinozismus des 18. Jahrhunderts mit seinen zahlreichen Deutungen bis zur Französischen Revolution. Einerseits könne man eine radikalere Bewegung ausmachen, das Radical Enlightenment, das wiederum eine nicht minder relevante Reaktion hervorbrachte, nämlich ein Moderate Enlightenment (eine »geistige Gegenoffensive«), das sich auf Locke und Newton berief. Die grundlegenden Ideen und das endgültige Bild der letztlich entscheidenden radikalen Komponente seien jedoch bereits in der Jahrhundertmitte in den Werken des jungen Diderot und La Mettries erschöpfend behandelt worden. »In the 1740, the real business was already over« (Bd. I, S. 6), schreibt Israel diesbezüglich. Doch nicht nur die Chronologie, die Orte und die Protagonisten sind in dieser neuen Sichtweise einer grundlegenden Veränderung unterworfen. Zwar geht auch Venturis Analyse der Aufklärung als einer Geschichte der Intellektuellen von den Ideen aus, allerdings stets mit Rücksichtnahme auf den politisch-ökonomischen Handlungsrahmen und auf dessen sorgsame historische Kontextualisierung. Dem entsprechend steht bei Venturi stets die Funktion von poli-
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tisch bewusst handelnden Personen und Gruppen im Vordergrund, die Bewertung von Revolten und Reformen, von Eroberungen, Grenzen und Märkten, die Erforschung der Wege, die das Geld und die Gesetze nahmen. Bei Israel stehen dagegen ausnahmslos die »philosophical ideas« an erster Stelle. Es scheint manchmal geradezu, als würde er die aberwitzigen Thesen der französischen und italienischen Reaktionäre beim Wort nehmen, die, allerdings in polemischer Absicht, den Umtrieben von Spinozas esprit philosophique die geistige Vaterschaft der aufgeklärten Moderne zuschrieben, die dann als nächste Konsequenz die Französische Revolution ausgelöst habe. Israels Werk ist ob seiner überwältigenden Materialfülle eine kenntnisreiche »history of philosophy«, die einfühlsam auf die großen Debatten der europäischen Moderne eingeht, wie zum Beispiel auf das paradoxe Phänomen der Wundergläubigkeit ausgerechnet im Zeitalter der Aufklärung, auf die Kontroversen in Bezug auf Bayles These über den tugendhaften Atheisten, auf das Problem des Deismus und des Cartesianertums. Nach eigenen Angaben bedient er sich bei seiner Forschungsarbeit einer »controversialist technique in opposition to the , focused on the broad mass of Early Enlightenment controversies French, German, British Italian and Dutch,« (Bd. II, S. 26).17 Bei genauerem Hinsehen erweist sich Israels Werk, trotz der nicht zu leugnenden Meriten, allerdings als brüske und unerwartete, einem längst überwunden geglaubten Idealismus verpflichtete Abkehr vom Hauptweg der kreativen Mainstream-Forschung der vergangenen Jahre, die mehrheitlich den Weg eines gewinnbringenden Dialogs zwischen verschiedenen Ansätzen und Methoden eingeschlagen hat. Man denke nur, um in der angelsächsischen Welt zu bleiben, an den Band Living the Enlightenment. Freemasonry and Politics in Eighteenth-Century Europe von Margaret Jacob aus dem Jahr 1991, in dem Jacob die Ursprünge der modernen politischen und konstitutionellen Sprache der Aufklärer in den freimaurerischen Geselligkeitsformen und in der kulturellen Praxis der europäischen Logen ausmacht. Erwähnt seien auch Robert Darntons Studien über die Literaten oder die Zirkulation der Bücher in Frankreich am 17 Anders liegt der Fall bei der Studie von Robertson, deren Anspruch allerdings nicht weniger kühn sein will. Robertsons geisteswissenschaftlicher Ansatz berücksichtigt allerdings den historischen Kontext in deutlich größerem Umfang. Im Buch The Case for Enlightenment (2005 in Cambridge in der von Quentin Skinner geleiteten Reihe veröffentlicht) greift Robertson zwar Israels Thesen scharf an und verwirft dessen Hervorhebung einer antireligiösen Polemik als Triebfeder der Aufklärung. Statt dessen unterstreicht Robertson eine Bewegung der »convergence between Augustinian and Epicurean currents of thinking about the nature of man and the possibility of society wich occurred after 1680«, was die eigentliche Botschaft der Aufklärung ausmache, im Dienst ihres zentralen »commitment to the study of human betterment«. Andererseits lässt Robertson aber auch an der derzeitigen sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Aufklärungsforschung kein gutes Haar und wirft ihr vor, den ursprünglich einheitlichen Gesamtbegriff der Aufklärung zerfasert zu haben.
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Vorabend der Revolution. An eben dieser Chronologie und an den herausragenden Ergebnissen Darntons muss man anknüpfen, wenn man den Hauptweg der historiographischen Innovation in Zukunft weiterverfolgen will. Darnton selbst hat übrigens nie den Anspruch erhoben, ein Historiker der Aufklärung zu sein, obwohl er auf internationaler Ebene einstimmig als solcher anerkannt ist. Kants Fragestellung »Was ist Aufklärung?« war für ihn immer unerheblich; diese Frage lag außerhalb seines eigentlichen Interessenschwerpunktes, und er beabsichtigte auch nie, auf diesem Gebiet originelle Beiträge zu leisten. Dagegen war es sein erklärtes Ziel, die charakteristischen Wesensmerkmale und die Kulturformen des prä-revolutionären Frankreich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts genau unter die Lupe zu nehmen. Seine Untersuchungen und Studien über Bücher und Autoren in dieser Zeitspanne trugen entscheidend dazu bei, den traditionellen Zusammenhang zwischen Aufklärung und Revolution kritisch zu hinterfragen und deutlich auszuleuchten. Seinen Kritikern, die es in der jüngst angestoßenen, so genannten Darnton Debate an giftigen Anspielungen, die oft an der Sache vorbei gingen, nicht fehlen ließen, antwortete Darnton stets mit dem schroffen Hinweis, dass er nie beabsichtigt habe, die Aufklärung neu zu definieren oder die Thesen eines Historikers wie Venturi oder eines Philosophen wie Cassirer zu korrigieren: »I derived my idea of the Enlightenment from my tutor at Oxford, Robert Schackleton, and the scholars I met there from 1960 to 1964, notably Franco Venturi, Ralph Leigh and Isaiah Berlin. Ever since I myself began to teach, I have asseigned Cassirer’s The philosophy of the Enlightenment and Mornet’s Les origines intellectuels de la R¦volution franÅaise to my graduate students«.18In dieser präzisen Auskunft steckt viel intellektuelle Redlichkeit, und dem entsprechend bilden Darntons historiographische Entdeckungen, die stets auf einer gründlichen Archivarbeit beruhen, nach wie vor eine maßgebliche Grundlage auch für das Verständnis der wesentlichen Züge, der Geographie und der Chronologie der Aufklärung, und zwar unabhängig davon, ob man die Deutungen des Autors oder dessen Herangehensweise teilt oder nicht, ja selbst dann, wenn man dessen eigenwilligem Blickwinkel kein Vertrauen entgegen bringt. So hat Darnton zum Beispiel in seinem vielbeachteten Essay mit dem Titel The High Enlightenment and the Low-Life of Literature in Pre-Revolutionary France aus dem Jahr 197119 auf die tiefe Spaltung und den heftigen Konflikt im Inneren der neuen sozialen Klasse der Literaten am Ende des 18. Jahrhunderts hingewiesen, auf den tiefen Graben zwischen den Epigonen der Generation der 18 Vgl. R. Darnton, Two Paths through the Social History of Ideas, in The Darnton Debate. Books and Revolution in the Eighteenth Century, a. a. O., S. 280. 19 Wieder abgedruckt in R. Darnton, The Literary Underground of the Old Regime, Cambridge, 1982, S. 1 – 40. Dt.: Literaten im Untergrund. Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, Hanser, München, 1985.
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Frühaufklärung wie Fontenelle und Voltaire, die später in der Hochaufklärung von Suard, Marmontel, La Harpe, Chamfort mündeten, und den ausgegrenzten, verzweifelten und bettelarmen Literaten aus der Pariser Grub Street, die aus dem System des State’s patronage herausfielen. Bereits 1752 hatten d’Alembert und Voltaire in ihren Projekten eine Allianz zwischen den gens de lettres und den grands seigneurs der mondänen Salons und der Höfe heraufbeschworen, um die kulturelle Vorherrschaft der Aufklärung in der Gelehrtenrepublik durchzusetzen. Dieser Widerspruch, auf den bereits Taine in seinen Origines de la France contemporaine hingewiesen hatte, ist von Darnton allerdings nur im Hinblick auf die Gründe, die zur Revolution geführt haben, gedeutet worden, nämlich unter dem Aspekt der Entstehung eines prä-revolutionären Klimas. Es herrschte eine angespannte Stimmung zwischen Voltaires geistigen Erben, die mittlerweile die Akademien und Salons beherrschten und in das Privilegien- und Pensionssystem des Ancien R¦gime voll integriert waren, und den Ausgegrenzten, den Scharlatanen, den Mesmeristen und den Literaten, die, um ihr Überleben zu sichern, zu allem bereit gewesen wären. Hier, in diesem Milieu, unter diesen an den Rand der Gesellschaft gedrängten Literaten hätten sich, so Darnton, die ersten Funken des unruhigen revolutionären Geistes entzündet, hier seien die zukünftigen Jakobiner herangewachsen, die sich auf Rousseau beriefen, und nicht etwa unter den moderaten Akteuren und eher konservativen Rationalisten des High Enlightenment. Dieser ausgesprochen auf sozio-ökonomische Zusammenhänge ausgerichtete Blickwinkel, der sich vorwiegend auf die Untersuchung der Professionalisierung der neuen Intellektuellenschicht konzentriert, schert sich naturgegeben wenig um die Ideen und Diskurse der Protagonisten. Diese Leitlinie, die das nach wie vor gültige Paradigma eines geradezu teleologischen Zusammenhanges zwischen der Aufklärung und dem Phänomen der Französischen Revolution allzu unkritisch übernimmt, bestimmt auch wesentlich Darntons jüngste Nachforschungen über die Geschichte des Buchs. Ausgehend von der fulminanten Studie über die »Glänzenden Geschäfte« (The Business of Enlightenment, 1979), die den wirtschaftlichen Erfolg der Encyclop¦die untersuchte, widmete sich Darnton anschließend jahrelang der Erforschung des Editionswesens, d. h. dem Phänomen des sprunghaften Anstiegs der Buchproduktion und dem dazugehörigen massenhaften Auftreten von Textproduzenten, also der neuen Kategorie der Schriftsteller. Dabei ließ er sich in erster Linie von der Frage leiten, die Daniel Mornet bereits 1910 gestellt hatte, nämlich was denn die Franzosen im 18. Jahrhundert eigentlich gelesen hätten und wie diese Lektüren etwa den geistigen und intellektuellen Hintergrund, der die Revolution bestimmt habe, erhellen könnten. Und wieder ist es Darnton gelungen, anhand von exzellentem Archivmaterial eine überraschende Antwort auf traditionelle Fragestellungen zu geben. So konnte er die livres philosophi-
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ques, wie sie nach dem damaligen Sprachgebrauch bezeichnet wurden,20 wieder ans Tageslicht bringen, und zwar eine Unzahl von aufrührerischen, marktschreierischen und nicht zuletzt pornographischen Flugschriften und Heftchen, in denen philosophische Ideen und erotische Botschaften skandalträchtig vermischt waren, um die Immoralität der Mächtigen anzuklagen und das Recht auf Glück für alle einzufordern. Jenseits aller Zugeständnisse an die tatsächliche, hierarchische Logik des Ancien R¦gime, so Darnton, enthielten diese einfachen, ebenso beliebten wie frivolen Texte, in denen die menschlichen Schwächen und die sexuellen Gewohnheiten von Königen und Königinnen, von Priestern und Adeligen, von Dienern und Herren in bester Skandalpresse-Manier angeprangert wurden, eine an die öffentliche Meinung gerichtete Botschaft, die gezielt propagandistischen Zwecken gedient habe. Darin habe sich, so Darnton, eine deutliche Absicht geäußert, die Macht endgültig zu entheiligen: ein wesentlicher Schritt in Richtung auf die Entzauberung der Welt. Dafür war allerdings eine von Gott befreite Menschheit, die endlich die Verantwortung für ihr Leben übernehmen könne, die unerlässliche Voraussetzung, was sich zunächst in der Entfesselung der revolutionären Leidenschaften entlud. Darnton gelang es damit, gerade für die entscheidenden achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, die von Mornet und der vorhergehenden Geschichtswissenschaft sträflich vernachlässigt worden waren, neben dem klassischen Kanon der aufgeklärten Literatur, zu dem Voltaire, Diderot und Rousseau gehörten, einen zweiten Strang freizulegen. Diese neu entdeckten livres philosophiques waren auch für den Konflikt, der im Inneren der Literatenklasse tobte und unerwartet zu dessen innerer Spaltung führen sollte, von großem Interesse. Einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass Darnton die komplexe Bandbreite dieses sozialen und kulturellen Phänomens, das Paris im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts belebte, nicht in seiner ganzen Bedeutung erkannt hat. Die historiographischen Deutungen, die Darnton anbietet, sind deshalb letztlich nicht auf der Höhe seiner außerordentlichen Entdeckungen. Darnton lässt sich, wie bereits erwähnt, allzu unbekümmert von dem Paradigma Aufklärung-Revolution leiten. Sein Bild der Aufklärung ist völlig von Cassirer und Venturi geprägt, und dementsprechend hat er die von Venturi erarbeitete Chronologie und Geographie der Aufklärung unbesehen übernommen: laut Venturi habe die Generation von Voltaire und von Diderot zugleich den Höhepunkt, und mit deren Tod dann unvermeidlich auch das Ende der Aufklärung markiert. Aus den Vertretern der low literature, den libellistes, wie sie genannt wurden, spreche nur soziale Wut und ein irrational revolutionärer Geist, erklärt Darnton, doch auch die Vertreter des High Enlightenment, das 20 Vgl. von R. Darnton, Êdition et s¦dition, a. a. O.; auch Id., The Forbidden Best-Sellers, a. a. O.
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heißt die neue Generation der konservativen und moderaten philosophes seien letztlich um kein Haar besser : ihnen sei es weder um Vernunft noch um Ideen gegangen, sondern in erster Linie um die Verteidigung ihrer Renditen und ihrer Privilegien. »Suard generation of philosophes had remarkably little to say. They argued over Gluck and Piccinni, dabbled pre-romanticism, chanted the old litanies about legal reform and the infme and collected their tithes«21. Darnton hat also, sicherlich für ihn selbst überraschend, innerhalb der Aufklärungskultur einen wirklich unerwarteten und originellen Fund gemacht hat, und zwar nichts weniger als einen deutlich erkennbaren Zeitabschnitt, den man als historisch autonome und eigentümliche Epoche im Sinne Diltheys bezeichnen kann und die wir von nun an mit dem Begriff Spätaufklärung22 definieren wollen. Es tut Darntons Rang als Historiker keinen Abbruch, dass er diese Epoche nicht auf Anhieb in ihrem vollen Umfang zu deuten gewusst, sondern sie als Ära der Krise, der Dämmerung, ja sogar als Ende der Aufklärung missverstanden hat. Er sah darin vielmehr, wie im Bereich der Literaturwissenschaft üblich, eine Übergangsphase zur Romantik und schlug dementsprechend den untersuchten Zeitabschnitt dem »pre-romanticism« zu, was den zahlreichen Mythen um die geistigen Wurzeln der Revolution eine weitere Variante hinzufügt, und zwar eine zugegeben bisher kaum beachtete Lesart. Darntons irreführendes Interpretationsmuster, das auf der unkritisch übernommenen, traditionellen Chronologie von Mornet bis Venturi beruht, war übrigens bereits in seinem 1968 erschienenen ersten Werk Mesmerism and the End of the Enlightenment in France angelegt. In jenem Pionierwerk wurde das »goldene Zeitalter der beginnenden Populärwissenschaft« umrissen, das sich neben dem gleichzeitig sich vollziehenden, endgültigen und Aufsehen erregenden Triumph der exakten Wissenschaften entwickelte. Die Aufmerksamkeit Darntons richtete sich also nicht nur auf die Publikationen der Gelehrtenrepublik, d. h. auf die bahnbrechenden Leistungen der Eliten, also der Akademiemitglieder oder der mächtigen professionellen Gemeinde, die sich von St. Petersburg bis Philadelphia, von Edinburgh bis Neapel erstreckte. Sein Blick wollte vielmehr auch die soziale Dimension des Phänomens ins Auge fassen, die Entstehung der öffentlichen Meinung in den ersten Fachperiodika und den Gazetten, in den aristokratischen Salons wie im Volk. Es offenbarte sich ein Interesse an allem, was aus der Welt der Naturwissenschaften kam, wie zum Beispiel an den Heißluftballons, die Millionen von Parisern in Begeisterung
21 Vgl. R. Darnton, The High Enlightenment and the Low-life of Literature, in Id., The Literary Underground of the Old Regime, a. a. O., S. 40; dt.: Literaten im Untergrund. Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, Hanser, München,1985. 22 Für einen ersten Versuch, die Epochenbezeichnung nach Dilthey abzugleichen, siehe V. Ferrone, I Profeti dell’Illuminismo, a. a. O.
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versetzten, an Franklins Elektrizitätsexperimenten oder an prestigeträchtigen Wettbewerben, die Lavoisier oder Lagrange für sich entschieden hatten. In seinem Tableau de Paris brachte Louis-S¦bastien Mercier die eigenartige Atmosphäre dieser Übergangszeit ironisch auf den Punkt, wenn er behauptete, »le rÀgne des lettres est passs¦; les physiciens remplacent les poÀtes et les romanciers; la machine ¦lectrique tient lieu d’une piÀce de th¦tre«. Auf den Mesmerismus und die Debatten darüber angesprochen, stellte er eine Art neuer Zeitordnung des geistigen Klimas in Frankreich auf, und zwar sei das 18. Jahrhundert »autrefois moliniste, ensuite jans¦niste, puis encyclop¦diste, et puis ¦conomiste, pr¦sent mesm¦riste«23 gewesen. Durch die Beschreibung und Deutung der polemisch geführten Debatte um den Mesmerismus, woran sich der Hof, illustre Gelehrte, die Akademie der Wissenschaften, die Soci¦t¦ Royale de M¦decine, angesehene Fachzeitschriften und populäre Gazetten sowie eine Unmenge von Personen jeglichen Ranges, ja selbst Vertreter von Regierung und Politik beteiligten, wollte Darnton gleichsam das natürliche Ende der Aufklärung in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nachweisen. Um diese These zu untermauern, wurde der außerordentliche Erfolg Mesmers und seiner Anhänger, die gegenüber der klassischen Medizin eine neue, alternative Heilmethode vertraten, im Wesentlichen als harter Zusammenprall zweier unversöhnlicher Parteien dargestellt: auf der einen Seite die Scharlatane mit ihren irrationalen Argumenten, im Grunde skrupellose Nutznießer eines unerwarteten Rückfalls ins Übernatürliche und Magische, deren blinde Gläubigkeit an die Existenz eines animalischen Magnetismus endgültig »the end of the Enlightenment«24 bedeutet hätte; auf der anderen Seite dagegen die seriöse Wissenschaft, die auf dem Newtonschen Weltbild beruhte und das epistemologische Modell Galileis verteidigte, das heißt die Faktizität des Experiments und der nachprüfbaren Verifizierung. Ohne je zum wirklichen Kern des wissenschaftlichen und philosophischen Streits vorzudringen, las Darnton die heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Mesmerianern wie Marat, Carra und Brissot und den Anhängern von Newtons mechanistischem Weltbild (»hors de Newton point de salut« lautete der ironische Kampfschrei der so genannten prophÀtes philosophes im Geist Mesmers25) als 23 Vgl. R. Darnton, Mesmerism and the End of the Enlightenment in France (1968), New York, 1976/2. Aufl., S. 39; dt.: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich, übers. aus dem Englischen und dem Französischen und mit einem Essay versehen von Martin Blankenburg, Hanser, München, 1983. 24 Ibidem, S. 165. 25 Augenfällig ist die ironische Anspielung auf den apodiktischen Spruch der Inquisition: extra ecclesiam nulla salus. Der oben im Text zitierte Kampfschrei, sowie die Bezeichnung der Mesmer-Anhänger als prophÀtes philosophes scheint zum ersten Mal bei J.-L. Carra auf, SystÀme de la raison ou les prophÀtes philosophes, London, 1773, S. 96 ff.
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Phänomen bitterer sozialer Kritik und erbitterter politischer Anklage mit prärevolutionärem Beigeschmack, als Kampfansage gegen die Oligarchie und den Despotismus der Akademiemitglieder, die nichts anderes im Sinn gehabt hätten, als unter dem Deckmantel der wahren wissenschaftlichen Erkenntnis ihre Pfründe zu retten. In Wirklichkeit hätte Darnton gut daran getan, die Texte namhafter Persönlichkeiten, die den österreichischen Arzt Anton Mesmer bewunderten, aufmerksamer zu lesen. Diese versuchten nämlich, rationale und plausible Erklärungen für die Wirkungsmechanismen dieser merkwürdigen Heilmethode zu finden. Die Kuren, die in Sitzungen durchgeführt wurden, beruhten im Grunde auf Hand-Auflegen: die aufgelegten Hände, so Mesmers Theorie, verhielten sich dabei wie magnetische Pole und könnten so das korrekte Fließen der Lebenssäfte wieder ankurbeln; das bringe den menschlichen Organismus wieder in Kontakt zur vitalen Quelle magnetischer Felder, die das gesamte All und alle Lebewesen durchfluteten, würde also die Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele, zwischen Mensch und Natur wieder herstellen und könne damit heilend auf jede Krankheit und auf jedes soziale Unbehagen einwirken. Darnton, von Cassirer beeinflusst, demzufolge die Philosophie der Aufklärung ihren Ursprung allein im Paradigma der Newtonschen Physik hatte und ihre Substanz daraus bezog, konnte aber in solch ungewöhnlichen Gedankengängen, wie sie die Anhänger Mesmers vertraten, nur gewissenlose Scharlatane am Werk sehen, denen sich die angesehenen Vertreter der mechanistischen Wissenschaft zu Recht widersetzten. Die etwas überzogene Schwarzweißmalerei übersieht, dass sich, gestern wie heute, die Grenzen – gerade in Momenten eines umwälzenden Paradigmenwechsels, wie er sich damals im Inneren der Wissensgesellschaft vollzog, – nur allzu leicht verwischen können. Es hätte womöglich genügt, einen Blick auf den Rest des Kontinents zu werfen, um sich davon zu überzeugen, dass Mesmer und seine Anhänger kein lokales Pariser Problem waren: wohin man auch blickte, löste die Debatte um Mesmers Theorien in den großen europäischen Hauptstädten Zusammenstöße und Auseinandersetzungen aus, zwischen Akademiemitgliedern, an den Universitäten und nicht zuletzt in der öffentlichen Meinung. Übrigens gingen die Debatten oft in Verbindung mit anderen, nicht weniger wichtigen und brennenden Themen einher, wie zum Beispiel dem zunehmenden Erfolg der Wünschelrutenkunst und der Physiognomik.26 All das hängt mit dem radikalen Wandel des Naturverständnisses in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammen, mit einer völlig neuen Art und Weise, sich selbst und die umgebende Welt zu sehen und zu empfinden. Dieser Wandel hatte nicht nur das Denken der intellektuellen Eliten erfasst, sondern 26 Zum Thema des überwältigenden Erfolgs der neuen, sogenannten populären Wissenschaftszweige vgl. V. Ferrone, I profeti dell’Illuminismo, a. a. O., S. 62 ff.
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weitete sich auch in vielen weiteren wichtigen Bereichen der wissenschaftlichen Gemeinde aus. Es entstand so etwas wie die Wahrnehmung einer neuen philosophischen und wissenschaftlichen Gestalt, die sich sehr rasch durchsetzte: sie bezeichnete den Übergang von einem statischen, mechanistischen, vorherbestimmten Verständnis der Natur, die als ein für alle Mal gegeben feststand und über keinen Zeitbegriff verfügte, zu einem dynamischen und vitalistischen Verständnis der Natur, die nunmehr als zeitbedingt und also als permanent vorläufig definiert und in stetem Wandel begriffen aufgefasst wurde.27 Nach der wissenschaftlichen Revolution von Descartes, Galilei und Newton nahm nun in der Wissenschaft vom Menschen und des Lebens im Allgemeinen die so genannte »zweite wissenschaftliche Revolution« Gestalt an. Es vollzog sich ein eindrucksvolles naturwissenschaftliches Umdenken, denn zahlreiche Studien zur Elektrizität, zur Chemie, zur Medizin und zur Meteorologie sollten zu neuen und oft genug einander widersprechenden Denkmustern führen, zu kontrastreichen und suggestiven Darstellungen in der großen Kette des Seins, der wiederum, wie wir bereits gesehen haben, unweigerlich unterschiedliche Hypothesen über die Professionalisierung und die Institutionalisierung des wissenschaftlichen Betriebs entsprechen mussten. Dahinter stand, und steht bis heute, die nach wie vor hochaktuelle Frage, was man denn eigentlich unter Wissenschaft zu verstehen habe und wer denn rechtens als Wissenschaftler bezeichnet werden könne. Denis Diderot war einer der ersten in der Gelehrtenrepublik, der diesen gerade ablaufenden Prozess in seiner ganzen Außerordentlichkeit nicht nur begriff, sondern auch zu Wort brachte. Bereits 1754, als sein Werk De l’interpr¦tation de la nature erschien, redete er einer »grande r¦volution« das Wort, die durch die gewandelte Darstellung der Natur in den Naturwissenschaften bevorstehe. Das 17. Jahrhundert sei noch durch die »philosophie rationelle« und das mechanistische Weltbild Newtons, und in dessen Gefolge von d’Alembert, Clairaut oder Euler geprägt gewesen. Die Realität sei gemäß dieser Voraussetzung auf abstrakte Formeln reduziert und habe damit für den Laien unverständlich, ja, so gut wie entmenschlicht gewirkt. »L’homme n’est pas une machine«, pflegte Diderot zu sagen. »La r¦gion des math¦maticiens est un monde intellectuel«. Doch dieser physikalisch-mathematische Imperialismus sei nun dem Untergang geweiht und mache einer neuen »physique experimentelle« Platz, die demokratischer und populärer sei. Diese lehne sich an die Kriterien von Francis Bacon an, also an Faktoren wie Beobachtung und Erfahrung, sowie an die einfache, qualitative Bewertung der Fakten auf der Grundlage ihres Nutzens und an die schlichte Beschreibung der Kennzeichen. 27 Zu diesem Thema vgl. R. Lenoble, Esquisse d’une histoire de l’id¦e de Nature, Paris, 1969; J. Ehrard, L’id¦e de nature en France dans la premiÀre moiti¦ du XVIIIe siÀcle, Paris, 1993.
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In dem Brief Lettre sur les aveugles aus dem Jahr 1754, in seinem unveröffentlichten RÞve de d’Alembert und dann vor allem in den Pens¦es philosophiques sur la matiÀre et le mouvement von 1770 beschrieb Diderot voller Pathos den Niedergang des mechanistischen Weltbildes zugunsten eines Naturverständnisses, das die Natur als »grand animal« sah, als natura naturans, die steter Wandlung unterworfen sei und ihre Kleider und ihre Formen wechsele, ähnlich einer Frau, »qui aime se travestir«28. Damit nahm er eine Gegenposition zum unwandelbaren Weltbild eines R¦aumur oder eines LinnÀ ein und schlug sich auf die Seite von Maupertuis und Benoit de Maillet, die mit ersten Theorien über die Entwicklung der Arten spekulierten. Er liebäugelte auch mit Buffons Betrachtungen über die Notwendigkeit, die Natur innerhalb eines Zeitrahmens zu denken, und zwar innerhalb eines geschichtlichen Zeitraums, der alle damals gültigen Vorstellungen sprengte und in Jahrmillionen dachte. Diese erste, noch rein spekulative Evolutionstheorie, die eine lange Reihe andauernder Katastrophen annahm, die das Antlitz der Welt allmählich geformt habe, musste schließlich unweigerlich dazu führen, die biblische Schöpfungsgeschichte in Zweifel zu ziehen. Diderot griff in seinem von einem deutlich erkennbaren Materialismus durchzogenen Denken frühere Auffassungen wie die Sukzessivbeseelung oder die Entstehung des Lebens durch einen spontanen Schöpfungsakt wieder auf. Der Dualismus von Descartes müsse notwendigerweise überwunden, Mensch und Natur, Mikrokosmos und Makrokosmos, Körper und Geist, Bewusstsein und Materie endlich wieder vereint werden. Diderots leicht zu lesende und gut verständliche Stellungnahmen öffneten den Markt für die Werke so renommierter Forscher wie Wolff, Needham, Robinet, Blumenbach, Bichat und Bonnet, und bereiteten den Boden für deren Rezeption durch ein interessiertes und fasziniertes Publikum. Der Streit zwischen den Anhängern eines mechanistischen, physikalischmathematischen Weltbildes und den Vertretern einer dynamischen natura naturans, deren Vorstellung in der Renaissance wurzelte, prägte das europäische Geistesleben im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts auf ganz entscheidende Weise und zog auf der einen wie auf der anderen Seite viele Aufklärer und Wissenschaftler hohen Ranges in seinen Bann. Diderot war nur ein Protagonist unter vielen anderen illustren Streitern in dieser heftigen Konfrontation. Von St. Petersburg bis London, von Paris bis Pavia, von Turin bis Berlin fand ein Schlagabtausch zwischen den Epigonen Galileis und Newtons und ihren jeweiligen Gegnern statt. Im Gefolge von d’Alembert arbeitete Lagrange unerschütterlich daran, die Mechanik in eine mathematische Wissenschaft zu verwandeln und lieferte Forschern wie Monge und Laplace zu diesem Zweck immer 28 Vgl. D. Diderot, De l’interpr¦tation de la nature, in Oeuvres philosophiques, Textedition von P. Verni¦re, Paris, 1967, S. 229 ff.
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raffiniertere Algorhythmen. Ebenso übertrug er Lavoisiers Modell des Quantitätsprinzips von der neuen Chemie auf die soziale Arithmetik von Daniel Bernoulli und Condorcet. Forscher wie Spallanzani, Coulomb, B¦zout und Cavendish blieben gegenüber der Lesart dieses neuen Naturverständnisses immun. Gewiss, die Grenzen zwischen den Widerstreitern ließen sich meistens nicht genau und deutlich ziehen. So scheute sich zum Beispiel in Mailand eine der damaligen wissenschaftlichen Koryphäen, Carlo Amoretti, der mit Studien zu elektrochemischen Phänomenen an die Öffentlichkeit getreten war, keinen Augenblick davor, auch ein Buch über die Rutengängerei herauszugeben, Della raddomanzia ossia elettrometria animale, und zögerte auch nicht, sich darauf hin in eine offene und gelehrte Diskussion mit Alessandro Volta einzulassen, um über mögliche Zusammenhänge zwischen dessen Forschungen über die Produktion und die Weiterleitung des Stroms durch Metall, zwischen der fließenden Elekrizität, die von Luigi Galvani in Fröschen entdeckt worden war, und zwischen dem von Thouvenel untersuchten Fluidum zu diskutieren, um das Phänomen der Rutengängerei zu erklären und mögliche Querverbindungen herzustellen.29 Das Feld der Medizin machte sich, nicht zuletzt durch die Einrichtung der modernen Krankenhäuser, das vitalistische Prinzip der so genannten natura naturans zu Nutze. Die Medizin hatte sich meilenweit vom mittelalterlichen Denken der Iatromechanik entfernt, wie es sich bei Diderots Freund Th¦ophile de Bordeu, dem Leiter der Êcole de Montpellier nachweisen lässt. Ebenso kann man es auch unter dem Stichwort Influence in der Encyclop¦die nachlesen, das von dessen Schüler Jean-Jacques M¦nuret de Chambeau verfasst worden war. Die neue m¦decine practique gründete auf dem experimentellen Empirismus, auf einer sorgfältigen Anamnese, sowie auf einer raffinierten Diagnostik, die am Ende des 17. Jahrhunderts von dem berühmten englischen Arzt Thomas Sydenham entwickelt worden war. Entgegen der intellektualistischen Rekonstruktionen von Krankheiten, die man heute als mechanistisch bezeichnen würde, bevorzugte es nunmehr die neue Heilkunst, nach Spuren und Symptomen auf dem Körper des Patienten zu suchen, Zeichen und wertvolle Indizien zu vergleichen, um dann mutig neue Mittel und Therapien ergebnisoffen auszuprobieren. Die sensibilit¦, als Ausdruck einer neuen Eigenschaft der Nervenfaser, wurde zum Zauberwort und musste für viele Deutungen herhalten: angefangen bei der Wiedereinführung der astrologischen Medizin, die das Auftreten von Epidemien unter dem Einfluss der Astrologie rational zu erklären suchte, bis hin zur Magnetfeldtherapie und der natürlichen Medizin, die Nervenkrankheiten mit Elektroschocks behandelte, mit der Absicht, das kosmische Gleichgewicht auf allen Ebenen wiederherzustellen. Mittels des Konzepts von sensi29 Vgl. V. Ferrone, I profeti dell’Illuminismo, a. a. O., S. 98 ff.
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bilit¦ und magnetischen oder astralen Einflüssen überwanden die Anhänger der Êcole de Montpellier endgültig den traditionellen cartesianischen Dualismus zwischen physique und morale und leiteten eine neue Zeit der Forschungen ein, die in den darauf folgenden Jahrzehnten von den id¦ologues vertieft werden sollten. Marat beschrieb 1775 in seinem Werk De l’homme, ou des principes et des loix de l’influence de l’me sur les corps et du corps sur l’me die vitalistische und interaktive Konzeption der neuen Kette des Seins sehr anschaulich und brachte deren Schlüsselbedeutung im Übergang vom homme machine zum homme sensible präzise auf den Punkt. Zusammen mit Brissot führte Marat die Revolte der Mesmer-Anhänger gegen die Macht der Akademien an, und zwar auf der Grundlage eben dieser einzelnen Wissenschaftstheorien, die so gar nichts Magisches oder Irrationales an sich hatten. Stets wies Marat den Vorwurf des Scharlatans entrüstet zurück, und zu Recht, denn er wurde ihm einzig aus dem Grund entgegen geschleudert, weil er in scharfe Auseinandersetzungen mit Newtons und Voltaires Epigonen verwickelt war. Und wie kann man ihnen nachträglich Unrecht geben, angesichts der Wirren, die von den heftigen Konflikten innerhalb des internationalen Wissenschaftsbetriebs bestimmt waren, in denen zwischen wirklichen Scharlatanen, Quacksalbern und falschen Zauberern kaum noch unterschieden werden konnte, und die zudem begünstigt wurden durch den allgemeinen Siegeszug der Wissenschaften, durch die sich entwickelnde öffentliche Meinung, durch einen Kosmos, der nunmehr von einer üppig wuchernden Flut elektrischer oder magnetischer Ströme durchzogen war, geformt durch höchst mysteriös und unbegreifbar anmutete Entitäten, die, wie zum Beispiel die Gravitätslehre, das Phlogistum oder das Caloricum, zwar von der akademischen Welt ernsthaft als real verkündet, aber doch kaum jemandem einsichtig waren. Von wegen Tod der Aufklärung, der durch diese Kämpfe beurkundet werden soll! Die Wahrheit ist vielmehr, dass die natürliche Medizin und die populären Wissenschaften im ausgehenden 18. Jahrhundert, angefangen vom Mesmerismus bis hin zur Physiognomie, allesamt legitime Nachkommen der Aufklärung waren, und zwar mit der gleichen Berechtigung wie die anderen Formen wissenschaftlicher Theoriebildung, die vom ungleich mächtigeren und letztlich siegreichen Newtonschen Denkmuster ausgingen. Wahr ist auch, dass sich die Mesmer-Anhänger, trotz ihres vermeintlich bizarren und irrationalen Kosmos, geistiger Väter wie etwa Diderot und Rousseau rühmen durften – wovon sie denn auch öffentlich und stolz Gebrauch machten, wann immer sich die Gelegenheit bot. Doch auch eine Vielzahl anderer berühmter Aufklärer in allen Ecken und Winkeln Europas hingen keineswegs Newtons mechanistischem Weltbild an, sondern experimentierten statt dessen ungescheut lieber mit der Wünschelrutenkunst, wie zum Beispiel der Baron D’Holbach und Raynal, um nur zwei Beispiele zu nen-
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nen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass diese populären Wissenschaften offen darauf abzielten, den freien und autonomen Glücksanspruch und den Wissensdrang zu befriedigen. Sie hatten sich vorrangig der Emanzipation des Menschen durch den Menschen verschrieben, was letztendlich das Wesen der Aufklärung ausmacht und den aufgeklärten Humanismus, ihr Hauptwesensmerkmal, wie ein roter Faden durchzieht. Hieraus ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, die traditionelle Chronologie und Geographie der Aufklärung, die im 20. Jahrhundert aufgestellt worden ist, endlich zur Diskussion zu stellen. Es ist an der Zeit, den Hermesstab als Friedenssymbol wegzupacken und mit ihm die Arbeitshypothesen und Analysemodelle der Vergangenheit; es gilt nun, aufzuräumen mit dem fragwürdigen Ansatz, die europäische Geschichte im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ausschließlich in Funktion der Französischen Revolution und von deren Ursachen her erfassen zu wollen; und es muss Schluss sein mit der in diesem Fahrwasser entstandenen, einseitig ideologischen und politischen Verherrlichung oder Dämonisierung ihrer Väter. Nur so kommt der Spätaufklärung als eigenständiger Epoche, als originellem kulturellen System und als globaler historischer Tatsache endlich die angemessen Bedeutung zu, samt der überfälligen Untersuchung ihrer spezifischen und besonderen Merkmale, was eigentlich seit langem bereits unaufschiebbar ansteht.
VII. Politisches Erwachen und natura naturans: das Problem der Spätaufklärung und die Krise des Ancien Régime
Aus dem Blickwinkel der kulturellen Geschichte lässt sich die Spätaufklärung sicherlich dem historischen Moment unbestreitbarer Hegemonie des aufklärerischen Gedankengutes zuordnen. Die komplexe Entwicklung der Aufklärung erstreckte sich als kulturelle Revolutionierung des Ancien R¦gime über den Zeitraum eines Jahrhunderts, wenngleich der Wandlungsprozess der abendländischen Identität just in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte. Von diesem Erbe zehren wir noch heute, auch wenn oft heftig darum gestritten und gehadert wurde. Diese Periode, die die Krise des Ancien R¦gime schrittweise begleitete, griff tief in die Identitätsbildung ein. Sowohl die Regierungen als auch alle Eliten in den großen europäischen Städten waren in diesen Prozess verwickelt und übten somit einen direkten Einfluss auf alle Bereiche des Wissens aus, wodurch ganz konkret ein wahrer Prozess kultureller Hegemonie ausgelöst wurde, wie es nur wenige in der Geschichte gegeben hat1. Es handelte sich in der damaligen Zeit um 1 Nicht von ungefähr definierte ein ebenso gelehrter wie politisch sensibler Intellektueller wie Antonio Gramsci, der sich dem Studium der ideologischen Konstruktion der kulturellen Hegemonie in der Moderne gewidmet hatte, das Emanzipationsprojekt der philosophes als eine »magnifica rivoluzione«, eine »herrliche Revolution«. Im Januar 1916 schrieb Gramsci, überzeugt von der Notwendigkeit, eine kulturelle sozialistische Hegemonie zu schaffen, im Blatt der Turiner Sozialisten »Il Grido del Popolo«: »Das jüngste Beispiel, das wir vor Augen haben, ist die Französische Revolution. Der vorhergehende Zeitabschnitt der Aufklärung war keineswegs, oder wenigstens nur zu geringem Teil, ein oberflächliches Brillieren geistreicher Intelligenz, das sich mit enzyklopädischem Wissen oder belanglosem Geschwätz über alles und jedes zufrieden gab. Viele Kritiker der theoretischen Vernunft verunglimpfen die Intellektuellen von damals als eitle Gecken, die nur an der Lektüre der großen EncyclopÀdie von d’Alembert und Diderot interessiert gewesen seien, als Vertreter einer dürren und pedantischen Gelehrsamkeit, wie sie heute von den sogenannten Volksbildungsanstalten verbreitet wird. Doch dem war nicht so. In Wirklichkeit war die Aufklärung selbst eine Revolution, eine herrliche Revolution, die in ganz Europa ein neues, kulturell geprägtes Selbstbewusstsein schuf, einen neuen bürgerlichen Geist, der über alle Ländergrenzen hinweg den Wert allgemeiner Anteilnahme entstehen ließ.« Vgl. A. Gramsci, Socialismo e cultura. Scritti giovanili, in Id., Opere, vol. X, Torino, 1975, S. 24 – 25. (Übers. d. A.) Zum Begriff der »Identität« als
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ein sozialhistorisches Phänomen von herausragender Bedeutung, da es so gut wie quer durch alle alphabetisierten Bevölkerungsschichten ohne Rücksicht auf Rang oder Stand verlief. Viele der Werte, Ideen, Praktiken und Sprachgepflogenheiten waren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst in den engen intellektuellen Zirkeln erarbeitet worden. In den siebziger und achtziger Jahren eben dieses 18. Jahrhunderts dehnte sich deren Reichweite aber bedeutend aus, und in den Salons, den Logen, den Universitäten, den Akademien und an den Höfen wurde zunehmend Kultur konsumiert. Gazetten, Periodika, volkstümliche Almanache, das gesamte Pressewesen mit Debatten über Theater, Literatur, Malerei und Musik, dazu die Wissenschaften trugen zur Verbreitung des neuen Kulturbedürfnisses bei. Gewiss wurden die innovativsten Elemente dieses kulturellen Systems völlig missverstanden, instrumentalisiert, in polemischer Absicht bekämpft und abgelehnt, doch sie bildeten stets den Brandherd jeder Diskussion und standen so unübersehbar im geistigen Mittelpunkt des geselligen Lebens, so dass sich – um einen Satz von Michel de Certeau2 aufzunehmen – nicht einmal ihre Gegner ihrem Einfluss entziehen konnten, sondern eifrig am Geschehen teilnahmen, darauf einwirkten, ja es mitbestimmten. Exemplarisch kann in dieser Hinsicht die veränderte Haltung der katholischen Kirche gelten, die diese im ausgehenden 18. Jahrhundert gegenüber der Hegemonie der Aufklärer einnahm. Gezwungenermaßen blieb ihr nichts anderes übrig, als die zunehmende Bedeutung des öffentlichen Raums, des Buchwesens und der neuen sozio-politischen Kommunikationspraktiken anzuerkennen, die von den philosophes in ihrem Kampf um die Vorherrschaft eingeführt worden waren. Die katholische Kirche nahm die Herausforderung an, klagte die Anhänger der Encyclop¦die der Häresie an und warnte vor den Gefahren, die von diesen ausgehe. Und dennoch konnte auch sie sich nicht der Anziehungskraft dieser neuen kulturellen Praxis und der Faszination durch diese umstürzlerischen Ideen erwehren. Die Kirche rüstete auf technischer Ebene auf, um bessere Voraussetzungen für den ideologischen Kampf gegen die Moderne zu schaffen, in der Absicht, den Gegner mit den eigenen Waffen zu schlagen. Aus eben diesem Grund beschloss sie deshalb zum Beispiel, die Lektüre ad maiorem Dei gloriam zu »verwalten«, sprich: sie zu überwachen, anstatt sie zu rundweg zu verbieten3. kulturelles Muster, als Ergebnis eines historischen Prozesses, und nicht als »Wesen« einer ethnischen Gemeinschaft vgl. F. Remotti, Contro l’identit, Laterza, Roma-Bari, 1996. 2 Vgl. La formalit¦ des pratiques. Du systÀme religieux l’¦tique des LumiÀres (XVIIe-XVIIIe), in M. de Certeau, L’¦criture de l’histoire (1975); dt.: Das Schreiben der Geschichte, Campus Verlag, Frankfurt/M., 1991, S. 152 ff. 3 Vgl. P. Delpiano, Il governo della lettura. Chiesa e libri nell’Italia del Settecento, il Mulino, Bologna, 2007; M. Caffiero, La politica della santit. Nascita di un culto nell’et dei Lumi, Laterza, Roma-Bari, 1996; D. Menozzi, La Chiesa e la modernit, in »Storia e problemi contemporanei«, Nr. 26 (2000), S. 19 ff.
Politisches Erwachen
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Es war kein Zufall, dass die Gelehrtenrepublik, das heißt die neue soziale Klasse der Literaten, in jenen stürmischen, wiewohl faszinierenden Jahrzehnten zu einer mächtigen und einflussreichen Korporation des Ancien R¦gime wurde; nicht zuletzt mit Hilfe der kulturellen Hegemonie der Aufklärer, die sich mit aller Gewalt durchsetzte. In dieser Hinsicht gewinnt eine Episode, wie sie sich am 30. März 1778 in Paris ereignete, eine besondere Bedeutung und erfordert ein genaueres Hinsehen. An jenem Tag verlangten frenetisch jubelnde Zuschauer vor der Com¦die franÅaise nach der Aufführung der Tragödie IrÀne das »couronnement de Voltaire«. Die Presse machte daraus ein symbolisches Ereignis ohne gleichen, das europaweit durch detaillierte Artikel und aufwendig gemachte Drucke verbreitet werden musste. Fleury spricht in seinen M¦moires von der Rückkehr des greisen, inzwischen 84jährigen Patriarchen aus Ferney nach Paris, nach einer Abwesenheit von über 27 Jahren. Er beschreibt einen »triomphe«, der Voltaire nach all den Jahren der Verfolgung und der Drohungen bereitet wurde, es sei eine wirkliche »apoth¦ose« gewesen, die weit über die Person Voltaires hinausgehe und sein Werk und seine Ideen als anerkannter Führer der philosophes krönen sollte: »Je ne sais si l’apparition, je ne dirai pas d’un roi, mais d’un h¦ros, d’un prophÀte, aurait caus¦ plus d’admiration et de d¦lire que l’arriv¦e du grand homme dans Paris. Ce nouveau prodige suspendit toute autre int¦rÞt, fit tomber les bruits de guerre, les intrigues de robe, les tracasseries de cour, mÞme la grande querelle musicale des Gluckistes et des Piccinistes. La Sorbonne fr¦mit, le parlament garda le silence, toute la litt¦rature s’¦mut, et Paris s’empressa de voler aux pieds de l’idole de la nation.« Am 30. März begab Voltaire sich, nachdem er von der Accad¦mie franÅaise die »honneurs inusit¦s« empfangen hatte, zur Com¦die franÅaise, um sein zum wiederholten Mal aufgeführtes Stück IrÀne zu sehen, wo ihm das Publikum, die wichtigsten Vertreter der Pariser Aristokratie und der Regierung, sowie die Mitglieder des Königshauses einen begeisterten Empfang bereiteten. »Entre les deux piÀces, son buste, plac¦ sur le th¦tre, fut couronn¦ par tous les acteurs avec des trasports et un d¦lire universel, qui dura plus de vingt minutes. Tout coup, et d’un mouvement spontan¦, par l’accord d’une pens¦e unanime de respect, les femmes se levÀrent, et se tirent ainsi debout, agitant leurs mouchoirs. On ne peut peindre l’effet de ce mouvement! Rien n’avait ¦t¦ pr¦par¦ d’avance, et cette inspiration avait gagn¦ tout le monde.« Doch das war noch nicht alles: der Triumph und die symbolische Krönung sollte draußen vor dem Theater seine Fortsetzung erfahren; ein Festzug geleitete die Kutsche mit Voltaire durch die Straßen von Paris und bezog nun das ganze Volk mit ein: »Comme la voiture tournait devant la rue du Bac, une foule d’ouvriers, bras nus, ¦taient sortis de leur atelier pour voir le cortÀge; je
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l’avouerai, ils ne paraissaient pas bien comprendre toute la valeur du cri litt¦raire. Voltaire ¦tait pour eux un philosophe, c’est--dire, dans leur pens¦e, un ennemi des prÞtres […]. Ils partent, se ruent sur la voiture, jettent en l’air leur bonnet, en s’¦criant au milieu des autres cris: ›Vive le d¦fenseur de Calas! Vive le d¦fenseur des Sirven!’ […] Le fanatisme et l’intol¦rance n’osÀrent rugir qu’en secret, et pour la premiÀre fois peut-Þtre, on vit l’opinion publique en France jouir avec ¦clat de tout son empire«.4 Dreizehn Jahre vor seiner Aufnahme ins Pantheon, der sogenannten panth¦onisation im Jahr 1791 durch die Revolutionäre, wurden Voltaire, und indirekt auch alle seine Kampfgefährten, gekrönt und in einem Triumphzug durch die Straßen von Paris getragen. Völlig unerwartet und vor der Zeit machte das Ancien R¦gime aus ihnen Helden und Väter der Nation, nachdem sie diese, nur wenige Jahrzehnte zuvor, ohne zu zögern in die Bastille gesteckt hatte. Diese feierliche Salbung, eine wahre sacre de l’¦crivain – der drei Jahre zuvor, damals allerdings in Reims, die Inthronisierung von Ludwig XVI. vorausgegangen war, der dabei, ganz nebenbei gesagt, feierlich geschworen hatte, die katholische Kirche zu verteidigen und alle Ketzer zu liquidieren – mag wohl genügen, um die mittlerweile hegemonische Natur der Kultur der Aufklärer am Ende des Jahrhunderts zu bestätigen. Und dennoch ist es geboten, sich der Frage nach den Formen und dem ursprünglichen Charakter dieser Hegemonie noch einmal gründlich zuzuwenden. Man würde die Spätaufklärung ins Unrecht setzen, sähe man in ihr zum Beispiel bloß eine Epoche der Epigonen, eine Epoche der gewöhnlichen Bestätigung von Ideen, Werten und Praktiken, die in den Jahrzehnten zuvor erarbeitet worden waren. Diese Phase der Hegemonie war keineswegs, wie man meinen möchte, in erster Linie einem verlegerischen, sozialen und institutionellen Erfolg zuzuschreiben, der lediglich auf der Welle eines Erfolgs schwamm, dessen kreative Phase längst vorbei war und nun vor dem Ende stand. In Wahrheit brachte die Spätaufklärung in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, besonders in dem Zeitraum zwischen der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 – aus unserer Sicht gesehen der wirkliche Gipfelpunkt innerhalb der Aufklärung – in jedem europäischen Winkel eine neue und geniale Generation von Aufklärern hervor: von Raynal zu Condorcet, von Beaumarchais zu Mozart, von David zu Goya, von Filangieri zu Pagano, von Jefferson zu Franklin, von Lessing zu Goethe, zu Paine, zu Jovellanos und zu Radisˇcˇev. Viele unter ihnen erlebten diese Phase der Spätaufklä4 Vgl. J.-A. B¦nard dit Fleury, M¦moires, publi¦s par J.B.Lafitte, Paris, 1847, S. 137 ff. Über das Ereignis siehe auch die Anmerkungen bei T. Bestermann, Voltaire, Oxford, 1969. Nicht weniger triumphal war auch der Empfang, der Voltaire von der Loge der Neuf-Soeurs bereitet wurde, und auch darüber berichtete die Presse von ganz Europa; siehe dazu L. Amiable, Une loge maÅonnique d’avant 1789. La loge des neuf soeurs, Paris, 1989, S. 46 ff.
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rung voller Leidenschaft und Hoffnung und sahen sich dann, schmerzlich enttäuscht, mit der dramatischen Erfahrung der Revolution und des Terrors konfrontiert. Die großen Werke dieser illustren Schar, die vor allem in dem Jahrzehnt vor dem Ausbruch der Französischen Revolution entstanden, stießen originelle Debatten an, präsentierten bis dahin unbekannte politische Lösungen und Theorien, brachten Sprachgesten und Vorstellungen auf den Plan, die nie zuvor gesehen oder gedacht worden waren, und deren authentische Bedeutung allzu oft vom blendenden Licht der revolutionären Ereignisse in den Schatten gedrängt wurde. Noch heute besteht das Risiko der Verdunkelung dieser Epoche fort, wenn sie nicht mit dem präzisen kulturellen Kontext am Ende des Jahrhunderts in Verbindung gebracht wird, in dem sie entstand und der von zwei herausragenden Phänomenen beherrscht wird: von dem ebenso ungestümen wie unerwarteten politischen Erwachen der Gelehrtenrepublik und von der unaufhaltsamen Durchsetzung einer neuen, naturalistisch geprägten Auffassung aller Wissensbereiche, das heißt der Grundlage unseres heutigen wissenschaftlichen Weltbildes. Tatsächlich wurde die Spätaufklärung sehr stark durch diese zwei Elemente geprägt, die ob ihrer Bedeutung genaueres Hinsehen verlangen. Speziell im Fall des werdenden modernen Weltbildes muss unterstrichen werden, dass in der Welt der wissenschaftlichen Akademien und der Universitäten die Vorstellung eines mechanistischen Universums und das physisch-mathematische Weltbild Newtons, das der Generation Voltaires teuer war, nach wie vor fest im Sattel saß. Dagegen herrschte die Idee der natura naturans, wie sie von Diderot vertreten wurde, sehr bald in der Gelehrtenrepublik vor. Ihr hingen vor allem Künstler, Literaten, Architekten, Maler und Musiker an, und sie wurde daher zum idealen Bezugshorizont für die meisten europäischen Geistesgrößen. Die dynamische Auffassung einer temporalisierten Natur voll unbezähmbarer und vitalistischer Energie regte überall Reflexionen und einen radikalen Wandel bezüglich der Grenzen, der Stellung und des Potentials des Menschen an. In den neapolitanischen Kreisen zum Beispiel förderte diese Vorstellung eine suggestive Geschichtsphilosophie, der ein zyklisches Entwicklungsmodell zugrunde lag, wonach furchtbare Naturkatastrophen das gesellschaftliche Leben der Menschheit prägten; dort nahm man also – wenn auch auf neue und faszinierende Art und Weise – Prinzipien und Vorstellungen der hermeneutischen Tradition der Renaissance erneut auf5. In Deutschland nahmen Lessing, und vor allem der junge Goethe6 die neue Idee einer lebendigen Natur auf, die sie endlich autonom und souverän, losgelöst von Gottes Fingerzeig sahen. Goethe hatte ein pantheistisches Weltbild im Auge, im Sinn einer allumfassenden heiligen Ehr5 Vgl. V. Ferrone, I profeti dell’Illuminismo, a. a. O., S. 262 ff. 6 Vgl. G. Baioni, Il giovane Goethe, Einaudi, Torino, 1996, S. 99 f.
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furcht, um so die ästhetischen Prinzipien und die Aufgaben des Künstlers neu zu definieren. Und Lessing und Goethe waren nicht die einzigen, die sich dieses Ziel setzten. Gewiss, der Kampf gegen Boileau, den Begründer des französischen Klassizismus, und dessen cartesianisch-newtonsche Naturauffassung samt der daraus resultierenden klassizistischen Ästhetik wurde bereits seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts geführt. Doch nach dem Erscheinen von Werken wie Burkes Philosophical Inquiry into the origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, 1756, Diderots Salons und Essai sur la peinture, 1765, und Lessings Laokoon, 1766, diente die Konzeption der natura naturans zweifellos als Katalysator für den Erfolg und die Durchschlagskraft der neuen Kunstauffassung. Es ist kein Zufall, dass die grundsätzliche Neuausrichtung der ästhetischen Theorien gerade in den Jahren der Spätaufklärung, das heißt in Zeiten eines radikalen Humanismus, definitiv Fuß fasste und begann, Früchte zu tragen. Sie trug somit wesentlich zur Bildung einer modernen und kosmopolitischen Republik der Künstler und der Talente in Europa bei. Um sich vom Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen zu überzeugen, möge es genügen, an Canovas Meisterwerke zu erinnern, an Füsslis Bilder, darunter sein berühmtestes, Nachtmahr, aus dem Jahr 1783, sowie an andere Werke von Fragonard, Piranesi, Blake, David und Goya vor der Revolution7. Nicht weniger aufschlussreich ist die Musik Mozarts: es lohnt sich, verstärkt über die freimaurerischen Inhalte und Bedeutungen dieser Musik nachzudenken, über die polemischen Diskussionen, die im ausgehenden Jahrhundert in den aufgeklärten Zirkeln angeregt wurden, nämlich über die Funktion des Theaters und der Oper im Ancien R¦gime8. Nicolas Boileau, der anerkannte Gesetzgeber des Parnasse, vertrat damals noch das starre klassizistische Schema des 18. Jahrhunderts: die künstlerische Produktivität galt ihm als mechanistische Tätigkeit, als objektive Handlung und Ergebnis rationaler, universeller Regeln, die außerhalb der Zeit standen. Ganz anders dagegen die neuen ästhetischen Theorien, die erstmals das Empirische, die Erfahrung und die historische Bedingtheit des Geschmacks zur Kenntnis nahmen. Die zentrale Stellung, oder besser gesagt die eigentliche Inthronisierung des Menschen mit all seinen Fähigkeiten, wie sie in der Encyclop¦die und vom aufgeklärten Humanismus gepredigt worden war, gepaart mit der Verbreitung des neuen Paradigmas von der natura naturans, erhob das Subjekt, das Individuum, das Besondere, das Ich definitiv in den gleichen Rang wie das 7 Sehr erhellend ist in dieser Hinsicht der Essay von D. Arasse, »L’artista« in Id., L’uomo dell’Illuminismo, hrsg. von M. Vovelle, Laterza, Roma-Bari, 1992, S. 246 ff. 8 Vgl. dazu die neuen, sehr originellen Studien von G. Tocchini, I fratelli d’Orfeo. Gluck e il teatro musicale massonico tra Vienna e Parigi, Olschki, Firenze, 1998; allgemein zum Thema das Stichwort »Musica« von W. Weber, in V. Ferrone / D. Roche, L’Illuminismo. Dizionario, a. a. O., S. 217 ff.
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Universelle, die Gemeinschaft. Gefühl, Empfindsamkeit und geistig-seelische Unruhe standen gleichberechtigt neben der Vernunft; die deduktive und die induktive Methode auf einer Stufe mit der Intuition, der Phantasie und der poetischen Vernunft. Auf der Grundlage einer dynamischen Auffassung von der »Kette des Seins« und einer lebendigen, mit Energie durchströmten Natur, also in der Loslösung von einer statisch aufgefassten, transzendentaler Ordnung, sah Lessing in der Bewegung, der Handlung und im Leben selbst die Essenz der Dichtung9. Diderot hielt die Psychologie und die Physiognomie für geeignete Kriterien, um den künstlerischen Wert der neuen Porträtkunst, die sich im 18. Jahrhundert ausbreitete, zu bewerten und deren Gefühlstiefe zu fassen. Von da ab war es nicht mehr nur Aufgabe des Künstlers, die Natur einfach und objektiv, nach streng rationalen Kriterien nachzubilden. Vielmehr sollte er die Natur neu schöpfen; die bildende Kunst wurde als eigenwilliger, schöpferischer Beitrag des Menschen zur Entwicklung, zum Wandel und zur stetigen und kraftvollen Veränderung der Naturformen verstanden. Die zahlreichen Theorien zum Geniebegriff, so etwa der Aufsehen erregende Erfolg der diversen Deutungen über den Begriff des Erhabenen unter den Aufklärern, haben hier ihren Ursprung. Das Erhabene bezeichnete hier zumeist den radikalen Bruch mit den deterministischen Beschränkungen des Endlichen, ein starkes, nicht zu zügelndes Gefühl der vollkommenen Freiheit des Menschen gegenüber den Naturobjekten und dem Schicksal, die authentische und komplette Emanzipation und das universelle Recht auf das Streben nach Glück. Und hier sind wir zum reifen Höhepunkt der Aufklärung und zur bedeutsamsten Errungenschaft und Hinterlassenschaft der kulturellen Revolution der Aufklärer gelangt, die diese dem Abendland vermacht haben, nämlich der Erfindung der modernen Freiheit des Menschen10. Diese moderne Freiheit meint nicht nur die politische Anerkennung eines Naturrechtes, das unveräußerlich an das Wesen des Menschen gebunden ist, sondern darüber hinaus den Versuch, sich aus den festgelegten Grenzen des aristotelisch-thomistischen Weltbildes im Allgemeinen zu befreien, vor allem aber aus den starren Vorstellungen der biblischen Schöpfungsgeschichte. Es ist eine Freiheit, die mit der Definition des Menschlichen selbst zusammenfällt und die als gemeinsames, selbstbestimmtes Schicksal des Menschen und der le9 Vgl. M. Delon, L’id¦e d’¦nergie au tournant des LumiÀres (1770 – 1820), PUF, Paris, 1988. 10 Vgl. J. Starobinski, L’invention de la libert¦ 1700 – 1820 (1964); dt.: Die Erfindung der Freiheit, Skira, Genf, 1964; siehe auch das Stichwort »Libert« von F. Diaz, in V. Ferrone / D. Roche, L’Illuminismo. Dizionario, a. a. O., S. 49 ff. Diaz geht von dem berühmten Brief aus, den Diderot im März 1781 zur Verteidigung von Raynal und der libertas philosophandi verfasste: »Das Volk sagt, man müsse erst leben, und dann erst philosophieren. Doch wer den Mantel des Sokrates trägt, wer Tugend und Wahrheit mehr liebt als das Leben, der wird sagen: erst philosophieren, und dann leben.«
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bendigen, pantheistisch aufgefassten Natur insgesamt verstanden wird. Es ist ein Begriff, der einem ständigen und autonomen Transformationsprozess unterworfen ist, und zwar unter Berufung auf die von Rousseau in seinem Contrat social geäußerten Thesen, die im Gegensatz zu der im Laufe des 18. Jahrhunderts erneut aufgenommenen aristotelischen Theorie von der sklavischen Natur des Menschen standen: »Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Menschheit, die Menschenrechte, ja selbst auf seine Pflichten verzichten. Wer auf alles verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich. Eine solche Entsagung ist mit der Natur des Menschen unvereinbar, und man entzieht, wenn man seinem Willen alle Freiheit nimmt, seinen Handlungen allen sittlichen Wert. Kurz, es ist ein nichtiger und mit sich selbst in Widerspruch stehender Vertrag«, heißt es im Contrat social (I. Buch, 4. Kapitel). Vor dem Hintergrund dieses Bezugsrahmens nahm die Politisierung der Gelehrtenrepublik, besonders aber der Spätaufklärung, Gestalt an. Genau dieser Zug wurde zum charakteristischen Merkmal jener Phase der Aufklärung, die sich klar und deutlich von den vorhergehenden Zeitabschnitten abgrenzen lässt. Doch was ist mit Politisierung gemeint? Wie wir bereits festgestellt haben, war die Existenz eines solchen Phänomens für die Geschichtswissenschaftler nie eine große Neuheit. Auf die Politisierung hingewiesen wurde bereits in Burkes Reflections on the Revolution in France, wo das Phänomen aufgedeckt und in polemischer Absicht beklagt wird; auch in Tocquevilles Band über L’Ancien R¦gime et la R¦volution finden sich Bemerkungen zu diesem Thema, und ganz zu schweigen von Barruels wirrem Gerede über die von Freimaurern und Aufklärern angezettelte politische Verschwörung gegen Thron und Altar. Im Gedächtnis hängen geblieben sind freilich Burkes und Tocquevilles Kommentare über die politisierenden französischen Literaten einerseits, und über die Politisierung der Literatur und der daraus resultierenden grauenhaften Wirkung der so genannten Literarisierung der Politik andererseits. Bei genauerem Hinsehen bleiben diese Aussagen jedoch, bei aller Anerkennung, seltsam blass, sowie inhaltlich ungenau, sowohl was die Geographie betrifft, die keineswegs nur auf Frankreich beschränkt war, als auch im Hinblick auf die Chronologie der Ereignisse, die pauschal mit dem ganzen 18. Jahrhundert gleichgesetzt wurde. Und immer ging es beinahe zwanghaft allein um die Suche nach den ideologischen Ursachen der Französischen Revolution. Erst in jüngster Zeit hat man begonnen, die Eigenart sowie die Neuartigkeit dieses Phänomens der Politisierung herauszuarbeiten und sich mit deren Natur, deren Gründe und vor allem deren Breitendimension zu beschäftigen. Dadurch konnte es endlich präzise und als autonomes Phänomen in die abendländische Kulturgeschichte des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts eingeordnet werden, also
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genau in den Zeitraum, in dem sich unaufhaltsam, und gewiss nicht zufällig, die dramatische und epochale Krise des Ancien R¦gime entlud11. Alles begann mit dem Siebenjährigen Krieg, das heißt mit dem Beginn einer Zeit einschneidender Reformen von oben, die von unten mit Gewalt, Bauernaufständen, Standesrevolten, sowie liberalen und konservativen Revolutionen beantwortet wurden.12 Fürsten und Herrscher wie Katharina II., Friedrich der Große, Gustav III. und vor allem Joseph II.: sie alle wollten, in aufklärerischer Selbstherrlichkeit, ihre unumschränkte Macht verteidigen und definitiv behaupten, gegenüber den alten Repräsentativsystemen der Stände, den Parlamenten und dem Senat, gegenüber Bauerngemeinden und städtischen Gemeinden, feudalen und aristokratischen Privilegien, partikularistischen Interessensverbänden von Gilden und Innungen, und vor allem vor dem Anspruch der Kirche. Diese Reformen waren es, die ganz konkret die endgültige Krise des Ancien R¦gime und der alten politischen Ordnung Europas auslösten. Entgegen den traditionellen Rhythmen des Zentralisierungsprozesses der Monarchien, die seit dem 16. Jahrhundert unter der Ägide des Absolutismus die Entstehung der modernen Staaten geprägt hatten, nötigte die Situation nach der Beendigung des Siebenjährigen Krieges, dieses ersten großen Weltkriegs, mit den daraus resultierenden Problemen zu einer jähen Beschleunigung eben dieses Prozesses. Die dringende Notwendigkeit zu politischen, sozialen und institutionellen Transformationen trat überall offen zu Tage. Einerseits mussten die gewaltigen Kriegsschäden behoben werden, andererseits erforderte die globale Dimension zukünftiger Konflikte um die Kontrolle des internationalen Handels und die Schaffung neuer Kolonialimperien in Asien, Afrika und Amerika den Bau von gigantischen Flotten und mächtigen, technisch hochgerüsteten Arsenalen. Am dunklen Horizont zeichnete sich bereits für jeden, der an einem zukünftigen Krieg teilnehmen wollte, eine überaus kostspielige Wiederbewaffnung von immer riesigeren und gut gerüsteten stehenden Heeren ab. In dieser Hinsicht traf Gaetano Filangieri sicherlich ins Schwarze, als er in den ersten Zeilen seiner Scienza della legislazione (»Die Wissenschaft von der Gesetzgebung«) aus dem Jahr 1780 die »miltärische Manie« dieser Jahre beklagte, die in der bitteren Frage mündeten: »Womit beschäftigen sich die europäischen Herrscher vornehmlich und bis in die jüngste Zeit? Mit der Schaffung eines vorzüglichen Waffenarsenals, einer bedeutenden Artillerie, einer wehrhaften 11 Unter den bedeutenden Studien zu diesem Thema seien erwähnt: The Transformation of Political Culture. England and Germany in the Late Eighteenth Century, hrsg. von E. Hellmuth, Oxford, 1990; Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung, hrsg. von H.E. Bödecker und U. Herrmann, Meiner, Hamburg, 1987. 12 Vorbildlich aufgearbeitet ist dieser Themenkreis bei F. Venturi, Settecento riformatore, Bd. III: La prima crisi dell’Antico Regime (1768 – 1776), Torino, 1979, sowie Bd. IV, La caduta dell’Antico Regime (1776 – 1789), Torino, 1984.
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Truppe. Alle Rechnungen, die im Beisein der Herrscher durchgeführt worden sind, hatten nur die Lösung eines einzigen Problems im Sinn: wie man in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Menschen töten könnte«13. Dazu gesellten sich die sozialen Auswirkungen des rasanten wirtschaftlichen Wachstums, das sich im Laufe des 18. Jahrhunderts vollzogen hatte, was wiederum ein Eingreifen des Staates dringend erforderten, um die Herrschaft über das Territorium zu rationalisieren und zu modernisieren und die Kontrolle der Peripherie vom Zentrum aus zu verstärken. Zum Zweck, die nötigen Reformen von oben durchzusetzen, wurde eine Vielzahl von Wegen eingeschlagen, die allerdings auf entschiedene, ja teils wütende Gegenwehr stießen. Die Säkularisierung wurde entschieden vorangetrieben; in Portugal kam es – vor allem durch Pombal, einen Anhänger des aufgeklärten Absolutismus und Todfeind der Jesuiten – zur Vertreibung der Jesuiten; doch auch seitens anderer großer katholischer Monarchien, wie zum Beispiel in Frankreich und in Spanien, wurde gegen den Orden vorgegangen. Die in den Reduktionen lebenden Jesuiten mussten die Gebiete unverzüglich verlassen, und im Jahr 1773 wurde die Kongregation auf Druck der Monarchien und auf das spezifische Gesuch des spanischen Gesandten Jos¦ Monino, Graf von Floridablanca, auf Geheiß von Klemens XIV. durch das Breve Dominus ac redemptor aufgelöst. Der Säkularisierungsprozess des modernen Staates hatte nach dem Siebenjährigen Krieg im Hinblick auf die übliche politische Rechtsprechung eine entscheidende Wende erfahren.14 In den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen rückten so wichtige Fragen wie die Handhabung in Hinsicht auf den Grundbesitz der Kirche, die Diskussion um die Unabhängigkeit der Orden, die Statuten des Klerus und vor allem das Thema der religiösen Toleranz. Den Anfang machte die Republik von Lucca, die im Jahr 1764 mit einer Verordnung den Grundbesitz der Kirche drastisch einschränkte und damit deren unsichtbaren Einfluss deutlich beschnitt; ähnliche Verordnungen folgten europaweit bis hin zu den radikalen Reformen des Kaisers Joseph II. Diese brachten in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts die Emanzipation der Juden, das Toleranzpatent, das mit dem katholischen Glaubensmonopol brach und anderen christlichen Konfessionen sowie den Juden Religionsfreiheit gewährte, die Aufhebung verschiedener Orden und schließlich 1783 die Einführung der Zivilehe; zudem wurden Bischöfe und Priester unter Joseph II. zu Staatsbeamten. Wenn es je einen Umstürzler gab, der – ob bewusst oder unbewusst, das sei dahingestellt – Hand an 13 G. Filangieri, La scienza della legislazione (1780 – 1791), 7 Bd.e, hrsg. von A. Trampus, Centro di Studi sull’Illuminismo europeo »Giovanni Stiffoni«, Venezia, 2003, S. 11 (Übers. d. A.) Filangieris Hauptwerk wurde zwar schon früh ins Deutsche übersetzt (System der Gesetzgebung, Anspach, 1784 – 1793), löste jedoch keine bedeutende Rezeption aus. 14 Vgl. das grundlegende Werk von F. Venturi, Settecento riformatore, Bd. II, La chiesa e la repubblica dentro i loro limiti, Torino, 1976.
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die religiösen Grundpfeiler des Ancien R¦gime gelegt hatte, dann war das zweifellos Joseph II. Doch die destabilisierende Wirkung der radikalen Reformen von oben beschränkte sich nicht nur auf das Gebiet der Religion. Zuallererst schlug sich der rücksichtslose, oder »despotische« Absolutismus, wie es die Zeitgenossen nannten, auf institutioneller und administrativer Ebene nieder. Das herrscherliche Prinzip des Königsrechts zielte darauf ab, alle Untertanen des Königs untereinander auf die gleiche Stufe zu stellen, ohne Rücksicht auf die bestehenden Hierarchien und auf das aus dem Spätmittelalter stammende System der Partikularismen, der Vorrechte und Privilegien der Stände und der Körperschaften im allgemeinen. In diesem Sinn wurde das Feudalwesen plötzlich in jedem Winkel Europas vorderhand zu einem ökonomischen und juristischen Problem, zu einem Faktor der Rückständigkeit, der das Wirtschaftswachstum hemmte, um dann unweigerlich eminent politische und konstitutionelle Fragen aufzuwerfen. Zahlreiche Versuche wurden unternommen, das Verwaltungswesen in der Peripherie zu reformieren, in der Absicht, die mächtigen lokalen Notabeln endlich zu entmachten und die administrative und politische Vorrangstellung der Krone zu bekräftigen. In Frankreich wurde 1770 mit dem absolutistischen »Staatsstreich« des Kanzlers Maupeou die königliche Ernennung der Parlamentarier wieder eingeführt und die Käuflichkeit der Ämter abgeschafft. In diesem Schlagabtausch zwischen Monarchie und Parlament ging es für beide der in Mitleidenschaft gezogenen Kontrahenten ums Ganze und dementsprechend wurde mit harten Bandagen gekämpft; ähnlich dramatisch verlief der Zusammenprall zwischen Adel und Krone anlässlich der Reformen des Preußen Johann Struensee in Dänemark, und auch in Schweden ging es rund, wo Gustav III. fest entschlossen war, jegliche Ansprüche und politischen Vorrechte des Adels im Keim zu ersticken. Der von dem Kosaken Pugacˇev angeführte Bauernaufstand in Russland, der 1773 ausbrach und blutig niedergeschlagen wurde, führte die unmittelbare soziale Kehrseite der Verwaltungsreformen des Zarenreiches, die mit dem Nakaz der großen Katharina begonnen hatten, klar und deutlich vor Augen. Die Gemeinschaften, die ihre ureigenen Interessen in Gefahr sahen und sich in ihrem Lebensnerv getroffen wähnten, reagierten angesichts einer mehr als unsicheren Zukunft mit ungewohnter Heftigkeit, wehrten sich entschieden gegen die abstrakten Verordnungen, die sich um Geschichte und Traditionen wenig scherten, und beriefen sich lautstark auf die Ordnung althergebrachter Überlieferungen. Das gleiche Schicksal sollte nur wenig später Joseph II. beschieden sein, der sich einer regelrechten konservativen Revolution ausgesetzt sah, nachdem er die Aufhebung der Leibeigenschaft in Böhmen, Mähren und im österreichischen Schlesien verordnet hatte. Seine letzten Dekrete in den ersten
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Monaten des Jahres 1789 über die Abschaffung des kirchlichen Zehnten und den sogenannten »Robot«, die Fronarbeit der Bauern, brachten alle Parteien auf. Das Ancien R¦gime schien tatsächlich für jede Teilreform unempfänglich zu sein und sei sie auch noch so gering: kein Ausweg aus der Krise schien in Sicht. Selbst die internationale Debatte über die Liberalisierung des Getreidehandels, die Schaffung eines modernen Arbeitsmarktes in Anlehnung an die Korporationen, die Idee eines freien Marktes für Grund und Boden sowie die Maßnahmen, die von den Regierungen getroffen wurden, um den Hungersnöten in Italien, in England und in Deutschland entgegenzutreten, führten zu keinem positiven Ergebnis. Im Gegenteil, die Lage spitzte sich weiter zu und löste in allen großen Städten Aufstände aus, in Paris wie in Madrid. In Wirklichkeit handelte es sich um eine tiefe Krise, die strukturelle, politische und konstitutionelle Ursachen hatte. Um diese zu überwinden, bedurfte es eines komplexen kulturellen Wandels, der die Grundlagen der alten Staatsordnung neu definierte, und zwar auf der Grundlage einer noch zu errichtenden Zivilgesellschaft, in deren Mittelpunkt ein neuer säkularisierter Humanismus stehen sollte: die Emanzipation des Menschen durch den Menschen und die Anerkennung seiner Naturrechte. Die von Pasquale Paoli auf Korsika angezettelte Revolution, die 1769 noch von Frankreich niedergeschlagen wurde, hatte die Überwindung des Ancien R¦gime bereits auf der Tagesordnung, und mit der siegreichen Amerikanischen Revolution von 1776 wurde dieses Ergebnis erstmals erreicht. Unter diesem Aspekt erschien die Politisierung der Krise als Ergebnis der gewaltigen Kontraste, die sich ihrerseits auf den rasanten Wandel in allen Lebensbereichen zurückführen ließen und einer inneren Logik folgend keinem der Beteiligten mehr die Chance einer glimpflichen Lösung gewährte. Es ist müßig zu fragen, ob dieser radikale Reformismus von oben von den Ideen der Aufklärer inspiriert war, oder ob er der Macht- und Modernisierungslogik der absoluten Monarchien folgte, der sich bereits über einen längeren Zeitraum hin entwickelt hatte, und ob es also zulässig sei, diese historische Phase als Ära des aufgeklärten Despotismus zu bezeichnen: diese Fragen bringen uns nicht weiter, sondern führen nur in eine Sackgasse. Dafür stiften sie viel Verwirrung15. Gewiss, viele dieser großen Herrscher waren mit Diderot und Voltaire persönlich befreundet, und lasen mit großem Gewinn die Werke von Montesquieu, Beccaria, Lessing oder Campomanes. Doch es verläuft ein Graben zwischen der Entstehung der neuen politischen – republikanischen und konstitutionellen – Kultur ex parte civium, wie sie zwischen 1776 und 1789 von den 15 Das kann man gut anlässlich einer Debatte von namhaften Historikern verfolgen, die auf Einladung der Turiner Stiftung »Fondazione Einaudi« über das Gesamtwerk von Franco Venturi diskutierten. Vgl. die Beiträge der Tagung zu Settecento riformatore, in »Annali della Fondazione Luigi Einaudi, XIX (1985), S. 403 – 454.
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aufgeklärten europäischen Kreisen verbreitet wurde, und der traditionellen Kultur ex parte principis, die dagegen an den Höfen und Kanzleien vorherrschte – eine Verwechslung ist nahezu ausgeschlossen. Obwohl ein entscheidendes Puzzlestück im Umfeld eines größeren Ereignisses wie der Krise des Ancien R¦gime, war die Politisierung der Spätaufklärung doch ein besonderes Phänomen, dessen Rahmen sich genau abstecken lässt. Zwei wesentliche Charakterzüge zeichnen die Spätaufklärung aus: da ist zum einen der starke Wille, die ständische Gesellschaftsstruktur des Ancien R¦gime zu überwinden, und zum anderen in erster Linie die Entwicklung völlig neuartiger Lösungen, die sie für den Umwandlungsprozess der politischen Kultur der Epoche aufbietet. Im übrigen war der Aufklärung ihre Berufung zum politischen Handeln bereits gleichsam in die Wiege gelegt, und zwar durch die programmatische Entwicklung der neuen Wissenschaft vom Menschen und deren Übertragung in die Realität. Es ist nicht notwendig, Foucault samt dessen bekannten Reflexionen über die Verbindung zwischen Macht und Wissen zu bemühen, um die Entstehung der Figur des Intellektuellen im 18. Jahrhundert als Protagonisten des politischen Kampfes zu verfolgen. Allenfalls könnte es sich als lohnend erweisen, die entscheidenden Phasen und die präzisen Bedingungen zu rekonstruieren, die schließlich die Bürger der Gelehrtenrepublik zu diesem Ufer führten. In dieser Hinsicht waren es zweifellos eben diese Aufklärer, die in der Gelehrtenrepublik als erste die politische, moralische und soziale Funktion des modernen »Philosophen« geltend machten, die sich selbst als universelle Klasse – wie wir es heute mit Marx sagen würden – bestimmten, als natürliche und legitime Vertreter der Rechte des ganzen Menschengeschlechts. Im Jahr 1780 schrieb Gaetano Filangieri, einer der Hauptvertreter der europäischen Spätaufklärung, einen kurzen Appell, der die kosmopolitischen und die politischen Ziele des Philosophen veranschaulicht, der sich seiner Rolle nunmehr bewusst ist. Dabei wird die tiefgreifende Erneuerung der politischen Sprache durch das Anführen neuer Losungswörter wie zum Beispiel Mensch, Freiheit, Glück, Bürgerrecht, Kampf gegen Tyrannei, Fanatismus und Betrug deutlich sichtbar. »Weise Männer dieser Erde, Philosophen aller Länder, Schriftgelehrte und Dichter und ihr alle, denen die Wahrung von Wissen und Weisheit anvertraut ist, so ihr würdig leben wollt, so ihr wollt, dass euer Name im Tempel der Erinnerung bewahrt bleibe, so ihr wollt, dass eure Arbeit unsterblich bleibe, dann widmet euch allein jener Aufgabe, die zu aller Zeit und in jedem Raum von Interesse ist: schreibt nie für einen Menschen, sondern für die Menschheit, euer Ruhm sei das ewige Streben des ganzen Menschengeschlechts […]. Verachtet den flüchtigen Beifall des gemeinen Volkes ebenso wie die schnöde Entlohnung durch die Mächtigen, verlacht die Androhung von Verfolgung und kümmert euch nicht um den Hohn der Ignoranz; unterweist mit hohem Mut eure Brüder und ver-
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teidigt mit freiem Sinn ihre Rechte, dann werden die Menschen in der Hoffnung auf das Glück, dessen Weg ihr ihnen weiset, euch begeistert zuhören; die Nachkommen werden euer Opfer zu schätzen wissen und eure Schriften in den Bibliotheken suchen, sie werden nicht der Vergessenheit anheim fallen; weder der ohnmächtige Zorn der Tyrannen, noch das Geschrei der Fanatiker, noch die spitzfindigen Sophisten werden eure Gedanken zum Schweigen bringen, sie können sie weder verdrehen noch verachten [….]; eure Gedanken werden weitergegeben von Generation zu Generation, und euren Namen verherrlichen; darüber werden die Völker weinen, die sie nicht kennenlernen durften, und euer kühner Geist wird zu jeder Zeit und an jedem Ort seinen Nutzen für die Menschheit entfalten.«16 Die laufenden Untersuchungen zeigen deutlich, dass sich der Kampf um die Vorherrschaft der aufklärerischen Kultur zunächst innerhalb der Zirkel der Gelehrtenrepublik entwickelte und sich erst in einem zweiten Schritt nach außen wandte, an die Regierungen, die Herrscher, an die Eliten und schließlich direkt und vorrangig an die internationale öffentliche Meinung, wozu alle verfügbaren Mittel genutzt und alle Kräfte aufgeboten wurden. Das Leben in den Logen, Akademien und Salons war davon bestimmt; die gesellschaftliche Kommunikation wurde dadurch erneuert; eine moderne politische Kultur mit neuen Diskursen und Theorien, praktischen Repräsentationen und Sprachgepflogenheiten wurde geschaffen, die sich immer weiter von der Gedankenwelt des Ancien R¦gime entfernte und ihr schlussendlich in offener Feindseligkeit gegenüberstand. In dem Programmheft zum Schauspiel Les philosophes aus dem Jahr 1760 beschrieb Charles Palissot den Beginn der Politisierung der Aufklärung in Frankreich und beklagte den zunehmenden Ehrgeiz einer »secte imp¦riose«, die »form¦e l’ombre d’un ouvrage (l’ Encyclop¦die) dont l’ex¦cution pouvait illustrer le siÀcle, exerÅait un dispotisme rigoureux sur les sciences, les lettres, les arts, les moeurs. Arm¦e du flambeau de la Philosophie, elle avait port¦ l’incendie dans les esprits, au lieu d’y r¦pandre la lumiÀre: elle attaquait la Religion, les lois, la morale: elle prÞchait le Pyrrhonisme, l’ind¦pendance; et dans le temps qu’elle d¦truisait tout autorit¦, elle usurpait une tyrannie universelle«17. In jenen fürchterlichen Jahren des Siebenjährigen Krieges, dessen Ausgang ungewiss war, wurden die philosophes wegen ihres Kosmopolitismus und ihrer offenen Sympathie gegenüber den aufgeklärten Herrschern wie zum Beispiel dem Preußenkönig Friedrich II., öffentlich des Heimatverrats und der gemeinsamen Sache mit dem Feind gegen die eigene französische »nation« beschuldigt18. Es 16 G. Filangieri, La scienza della legislazione, Bd. 1, a. a. O., S. 45 – 46 (Übers. d.A.) 17 Vgl. F. Diaz, Filosofia e politica nel Settecento francese, a. a. O., S. 187. 18 Ibidem, S. 138.
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wurde notwendig, ein neues Konzept des Patriotismus zu definieren und ihm ein neues Gewand zu verpassen: Patria nicht mehr als Vaterland und als ethnische und historisch gewachsene Realität, sondern als politische Gemeinschaft von freien und gleichen Menschen, die sich selbst regieren und sich aus den herkömmlichen Fesseln befreien wollen, die aus der Jahrhunderte langen Allianz zwischen Thron und Kirche herrührten. Aus diesem Grund war der definitive Zusammenstoß mit den alten Territorialstaaten des Ancien R¦gime vorprogrammiert und unausweichlich. In ganz Europa wurden die Aufklärer aufgerufen, sich dahingehend zu engagieren, die Politik der Antiken wieder zu beleben, um das Gemeinwohl und das gute Leben zu fördern, und zwar auf der Grundlage neuer Ideale und neuartiger Zukunftsentwürfe, die sich auf die im 18. Jahrhundert viel versprechende Formel des Strebens nach privatem wie öffentlichen Glück bringen lässt19. Der Anspruch der libertas philosophandi, eines allgemeinen moralischen Lehramtes des Philosophen genügte also nicht mehr, um den Herausforderungen des Absolutismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Paroli zu bieten. Man verlangte nach konkreten politischen Lösungen, nachdem die Machenschaften im Namen der Religionen aufgedeckt worden waren und es notwendig erschien, eine rationale Begründung für die Moral zu schaffen. Eine Reform des Rechtswesens und der Institutionen, die Suche nach einer Gesetzgebung war vonnöten, nach einem anderen Staatswesen, das den neuen Gegebenheiten entsprach und die im Zuge der Herausbildung einer Zivilgesellschaft eben erst eroberte Selbstbestimmung berücksichtigte, die von den Aufklärern vorangetrieben wurde. Der Perspektivenwechsel kann folgendermaßen dingfest gemacht werden: Montesquieus angestrebtes Ziel bestand in erster Linie darin, die Ständefreiheit zu garantieren und durch die Bildung neuer Mittelschichten, sowie durch das Prinzip der Rechtssicherheit und der Gewaltenteilung die Willkür der herrschenden Despoten einzuschränken; als Idealbild dienten die französische konstitutionelle Monarchie vor Ludwig XIV. und die englische Mischverfassung; das Reformvorhaben blieb also im Wesentlichen dem System des Ancien R¦gime verhaftet. Ausgelöst durch Ereignisse wie den antikolonialen und republikanischen Freiheitskampf des korsischen Revolutionärs Pasquale Paoli, und durch Werke wie Rousseaus Contrat Social und dessen Reflexionen über die Rechtfertigung der Staatsgewalt, begann eine Zeit, in der hingegen der »republikanische Geist« erneut Aufwind bekam. Diesmal allerdings richtete sich dieser republikanische Geist gegen die Despotie der Monarchen, und es wurde versucht, Einfluss auf die Machtausübung und Herrschaftsgewalt zu nehmen und diese politische Anteilnahme dauerhaft auszubauen. Mit diesem Schritt sollten 19 Vgl. die aufschlussreiche Studie von A. Trampus, Il diritto alla felicit. Storia di un’idea, Laterza, Roma-Bari, 2008.
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die republikanischen Tugenden der Antike mit dem Fortschritt der Moderne eine Verbindung eingehen, das heißt die sozialen und gemeinschaftlichen Errungenschaften sollten durch die Ausübung der republikanischen Bürgertugenden aufrecht erhalten werden. Ziel sollte es nunmehr sein, anders als zuvor, Rechte wie die Freiheit des Individuums, dessen Recht auf Streben nach Glück und den Respekt eines gleichen Rechts für alle zu garantieren. Den Dreh- und Angelpunkt der Politisierung der Spätaufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildete sicherlich die Erfindung und die Praktik einer Sprache der Menschenrechte und die Schaffung einer modernen Politik, die den Menschen emanzipieren sollte – ein absolutes Novum in der abendländischen Geschichte. Als Ergebnis des Übergangs vom alten, objektiven Naturrecht zum subjektiven »politischen Recht«, was mit einer komplexen postmechanistischen und neo-naturalistischen Entwicklung der Wissenschaft des Menschen einherging, ermöglichte diese Sprache, endlich in universellen Begriffen über die Zukunft des Menschen nachzudenken. Politik, Religion, Moral und Wirtschaft wurden vom Menschen als Endzweck her gedacht; der Mensch selbst wurde nicht länger als Teil eines heilsgeschichtlichen Plans gesehen. Diese Sprache wurde von den Aufklärern sehr bald als Formel und wirksames Instrument erkannt, um Utopie und Reformen zusammenzubringen, und zu diesem Zweck dann auch gezielt eingesetzt: in den politischen Debatten über den Gesellschaftsvertrag, über die Souveränität, über die Repräsentanz und über konstitutionelle Fragen sowie über einen zeitgemäßen Republikanismus, immer mit dem erklärten Ziel, ein komplexes kulturelles System zu schaffen, eine Basis für eine Gesellschaft gleicher Bürger. Diese Sprache kritisierte offen das Ancien R¦gime und versuchte auch, es tatkräftig und konkret zu überwinden. Voltaire war einer der ersten, der die dieser Sprache innewohnende kommunikative und propagandistische Schlagkraft im Kampf gegen Intoleranz und Fanatismus erkannte und im Fall Calas auch konkret anwendete. Die große europäische Debatte über das Strafrecht, die 1764 mit der Veröffentlichung des Werks Dei delitti e delle pene (»Über Verbrechen und Strafen«) von Beccaria begann, stellte die Weichen für einen langen Prozess, in dem sich der Schwerpunkt des Kampfes vom Einsatz für die Bürgerrechte nach und nach auf den Kampf um politische und auf soziale Rechte verlagerte. So brachte die Krise des Ancien R¦gime und die sie begleitende Politisierung der Spätaufklärung eine Art Laboratorium der Modernität mit sich. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 1776 markiert einen entscheidenden Schritt in diesem Prozess. Die öffentliche Anerkennung des Naturrechts des Menschen, die im Mittelpunkt stand und auf die sich der Text berief, bildete fortan europaweit die Grundlage für alle in den aufklärerischen Zirkeln stattfindenden Debatten. Die mit der Waffe in der Hand vorgebrachte und Aufsehen erregende Behauptung, eine Regierung sei nur dann
Politisches Erwachen
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als legitim zu erachten, wenn sie unveräußerliche Rechte wie Leben, Freiheit und das Streben nach Glück garantiere, veränderte die politische Kultur der Aufklärer von Grund auf, sowohl was die Diskurse und die Theorien angingen, als auch die Sprache, die Repräsentanz, die Praktiken und den Symbolgehalt. Das Thema der natürlichen Rechte des Menschen verstaubte nicht in den kaum gelesenen Wälzern der politischen Theoretiker, ganz im Gegenteil, durch die Verbreitung in den Romanen, in der Literatur, in den Theatern, durch Malerei und Musik hielt es Einzug in die internationale öffentliche Meinung. Keine einzige Erscheinungs- und Ausdrucksform der Kunst blieb davon ausgenommen. Dieser neue Republikanismus der allgemeinen Menschenrechte durchdrang alle Bereiche des Lebens, löste Leidenschaften aus und ließ bisher ungeahnte soziale Utopien entstehen. So entzündete sich zum Beispiel in den bedeutendsten europäischen Gazetten eine heftige politische Debatte über das Repräsentativsystem, das heißt über die Notwendigkeit, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, zu einer verfassungsrechtlichen Verankerung der Menschenrechte im Rahmen einer neuen, verbindlichen Gesetzgebung zu gelangen. Dieses Ansinnen formuliert zu haben, stellt eine der größten Leistungen der Politik der Aufklärer am Ende des 18. Jahrhunderts dar, es ist das wahre Vermächtnis der Aufklärung an das heutige Abendland. Sicherlich gab es im historischen Kontext der zunehmend weltweit wahrgenommenen Probleme und der Herausbildung von modernen, Länder und Kontinente übergreifenden Imperien noch weitere Themen, wodurch die Politisierung der Spätaufklärung maßgeblich vorangetrieben wurde, so etwa die Debatte um die Legitimität oder Illegitimität des Kolonialismus, die heikle Frage des Sklavenhandels, die Vorstellung eines stufenweisen Fortschritts der europäischen Zivilgesellschaften im Vergleich zu der Rückständigkeit der »wilden« Nationen. Befasst man sich näher mit diesen Themen, fällt der beständige Rückgriff auf einen naturalistisch geprägten Wissenschaftsbegriff ins Auge, das heißt eigentlich, auf die fortschreitende Entwicklung der Wissenschaft vom Menschen, die daran ging, alle Bereiche des menschlichen Lebens in seinen physiologischen, psychologischen, sozialen und politischen Belangen zu durchdringen. Der traditionelle Bezugshorizont der Politik begann sich zu ändern. Es genügte nicht mehr, das Gleichheitskonzept in allgemeinen Begriffen und ohne weitere Erklärungen als moralisches Postulat zu übernehmen, wie es die Aufklärer und selbst Rousseau noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts getan hatten. Neben den Büchern von Cook, Bougainville, Forster oder der berühmten Histoire philosophique et politique des ¦tablissement et du commerce des europ¦ens dans les deux Indes von Raynal, waren vorwiegend medizinische Schriften maßgebend, und dazu Studien zur Zoologie und zur vergleichenden Anatomie, in denen es um den Vergleich zwischen der monogenetischen und der polygenetischen Hypothese über die Entstehung der Völker ging. Der Kampf
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Die Aufklärung der Historiker
gegen Kolonialismus und Sklaverei, der auf der universellen Geltung der Menschenrechte beruhte, stieß ausgerechnet auf Untersuchungen, die den selben Reihen der Aufklärer entstammten und in aller Härte die großen Unterschiede und die scheinbar nur schwer auf einen Nenner zu bringenden Besonderheiten der Völker dieser Erde zeigten. Jenseits der wichtigen Neuerungen im Bereich der sozialen Kommunikation und ihres Verhältnisses zum historischen Kontext am Ende des 18. Jahrhunderts, schien die Politik der Spätaufklärung dazu prädestiniert, das Fass bestehender Widersprüche zwischen dem moderaten und dem radikalen Flügel zum Überlaufen zu bringen und die sich immer deutlicher manifestierenden Zerwürfnisse zwischen den beiden Parteien innerhalb der Gelehrtenrepublik auf die Spitze zu treiben. Der Mensch in der »Kette des Seins«, war er wirklich frei? Wer hatte Recht: die Aufklärer, die sich die Lehren von Helv¦tius über die unbegrenzte Möglichkeit zur Vervollkommnung des Menschen zu eigen machten und dementsprechend Reformen anstrebten, um die allgemeine Gültigkeit gleicher Rechte für alle Menschen durchzusetzen? Oder hatten statt dessen diejenigen Recht, die der Idee einer prinzipiellen Unveränderlichkeit der menschlichen Natur anhingen, und also nur begrenzte Reformen anstrebten, um das Ancien R¦gime zu modernisieren? Sollte eine Politik der vernunftbetonten Utopie, die sich das »sein-sollen« auf die Fahne geschrieben hatte, nicht doch besser einer Revision im Sinn eines politischen Realismus im Geist Machiavellis unterzogen werden? Sollte man nicht doch besser den Menschen wissenschaftlich so erforschen, wie er nun einmal wirklich war, im Lichte der offenkundigen Ungleichheit unter den Menschen? Allenfalls mochte man ja versuchen, diese Ungleichheit etwas zu mildern, ohne jedoch allzu große Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit oder natürliche Höherentwicklung zu wecken. Diese wenigen Betrachtungen mögen wohl ausreichend zu verstehen geben, dass es immer dringlicher erscheint, die europäische Spätaufklärung als eigenständige historische Epoche zu untersuchen, die eng mit der Krise des Ancien R¦gime in Bezug gesetzt werden muss. Darüber hinaus muss dieser Zeitabschnitt endlich aus dem Schatten der Französischen Revolution heraustreten, ebenso wie das Ereignis der Revolution es seinerseits verdient, als eigenständiges Phänomen untersucht zu werden, und nicht als Teil von Geschichtsphilosophien, die vom ideologischen Denken des 19. und des 20. Jahrhunderts geprägt sind.
Personenregister
Abbattista, Guido 198 Adorno, Theodor W. 55 – 59, 62, 65, 81, 98 f. Agulhon, Maurice 134 Ajello, Raffaele 17 Alberigo, Giuseppe 84 f. Alembert, Jean-Baptiste Le Rond d’Alembert 112, 128, 178 – 180, 190, 206, 210, 215 f., 221 Alff, Wilhelm 150 Alfieri, Vittorio 10, 14, 151, 190 Amiable, Louis 224 Amoretti, Carlo 217 Anaxagoras 41 Appleby, Joyce O. 110, 125 Aranda, Pedro Pablo Abarca y Bolea de Aranda 205 Arasse, Daniel 226 Aubenque, Pierre 75 Augustinus von Thagaste, Bischof von Hippo Regius 24, 25, 43, 89, 99, 163, 166, 172, 176, 177 Avenarius, Richard 113 Bachelard, Gaston 118 Bacon, Francis 57, 126, 128, 161, 188, 215 Baczko, Bronislaw 133, 172 Baioni, Giuliano 17, 225 Baker, Keith M. 75, 101, 189, 193 Barbaro, Francesco 185 Barber, William Henry 170 Barbier, Fr¦deric 183 Barruel, Augustin 134, 228
Baron, Hans 164 Barth, Hans 104 Barthes, Roland 154 Bauer, Bruno 31 Bayle, Pierre 106, 160, 165, 167, 169 f., 186, 208 Beaumarchais, Pierre Caron de 10, 224 Beccaria, Cesare 65, 137, 149 f., 180, 204 f., 232, 236 Becker, Carl L. 99, 104, 140 Belin, Jean-Paul 145 Bellarmin, Robert, Kardinal 92 Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger), Papst 75, 86, 89 f., 92 f., 98 B¦nichou, Pierre 182 Benrekassa, Georges 133 Bensaude-Vincent, Bernadette 115 Bentham, Jeremy 205 Bergson, Henri 114 Berlin, Isaiah 209 Bernoulli, Daniel 217 Berr, Henri 115 Besterman, Theodore 224 B¦zout, Êtienne 217 Biard, AgnÀs 115 Bichat, Marie-FranÅois-Xavier 216 Biou, Jean 133 Bismarck, Otto von Bismarck, Kanzler 137 Blanke, Horst W. 98, 113 Blankenburg, Martin 213 Blake, William 226 Bloch, Êtienne 114, 117
240 Bloch, Marc 50, 114 – 118, 125, 126, 131 f., 132, 141, 152 Blumenbach, Johann Friedrich 27, 216 Blumenberg, Hans 26 Bobbio, Norberto 48 Böckenförde, Ernst Wolfgang 83, 84 Bödecker, Hans Erich 229 Bohr, Niels 118, 120 Boileau, Nicolas 226 Bolgiani, Franco 83 Bonnel, Victoria E. 153 Bonnet, Charles 27, 216 Bordeu, Th¦ophile de 217 Borghero, Carlo 106 Bourdieu, Pierre 154 Bossuet, Jacques-B¦nigne 24, 143 Bots, Hans 185, 187 Bougainville, Louis-Antoine 198, 237 Boulanger, Nicolas-Antoine 9, 167, 181 Bourel, Dominique 115 Boutroux, Êmile 113 Boyle, Robert 170 Bracciolini, Poggio 185 Brewer, John 188 Brian, Eric 115 Brissot de Warville, Jacques-Pierre 128, 150, 190, 206, 213, 218 Bröckling, Ulrich 67 Brockliss, Laurence 187 Broglie, Louis de 118 BrunetiÀre, Ferdinand 134 Brunner, Otto 23 Buckle, Henry Th. 113 Buffon, Georges-Louis Leclerc de Buffon 112, 206, 216 Burke, Edmund 135 f., 226, 228 Caesar (Gaius Julius Caesar) 30, 160 Caffiero, Marina 222 Calas, Jean 224, 236 Calmet, Augustin 172 Calvet, Esprit-Claude-FranÅois 187 Calvin, Johannes 13, 140 Campomanes, Pedro Rodriguez de 205, 232 Canova, Antonio 226
Personenregister
Cantimori, Delio 104, 160 Carnap, Rudolf 119 Carra, Jean-Louis 206, 213 Casalino, Leonardo 146 Casanova, Giacomo 151 Casanova, Jos¦ 81 Cassirer, Ernst 75 – 80, 101 – 103, 105, 111, 126, 203, 209, 211, 214 Cavendish, Henry 217 Certeau, Michel de 153, 157, 222 Cerutti, Simona 155, 197 Cervantes, Miguel de 63 Chabod, Federico 104 Chamfort (Nicolas-S¦bastien Roch, genannt Chamfort) 210 Chartier, Roger 69, 110, 134 f., 140, 152, 155, 183, 188, 191 Chateaubriand, Ren¦ de 134 Chenu, Marie-Dominique 85 Chiosi, Elvira 17 Chladenius, Johann Martin 107 Cicero (Marcus Tullius Cicero) 25, 40, 160, 163 Clairaut, Alexis-Claude 215 Clark, Jonathan 195 Cobban, Alfred 203 Cochin, Augustin 152 f. Cohen, Hermann 76 Colli, Giorgio 52 – 54, 108 Collins, Anthony 166, 203 Compagnon, Antoine 134 Comte, Auguste 134 Condorcet, Jean-Antoine-Nicolas de Caritat de Condorcet 10, 112, 128, 160, 174, 181, 206, 217, 224 Constant, Benjamin 134, 162 Conze, Werner 23 Cook, James 198, 237 Costa, Pietro 49 Coulomb, Charles-Augustin 217 Cournot, Augustin 117 Croce, Benedetto 15 f., 104, 112, 138 f., 146, 148 Crocker, Lester G. 99 Crookes, William (Crookessche Röhre) 117
Personenregister
Dani¦lou, Jean 84 Darnton, Robert 128, 135, 145, 151, 154, 178, 182, 184, 190, 201, 203, 206, 208 – 214 David, Jacques-Louis 10, 224, 226 Dekens, Olivier 68 Del Turco, Giovanni 150 Delon, Michel 133, 227 Delpiano, Patrizia 222 Deprun, Jean 174 Descartes, Ren¦ 34, 109, 111 f., 125, 134, 215 f. Diaz, Furio 103, 148, 227, 234 Diderot, Denis 9, 31, 111 f., 128, 136, 147 f., 166, 169, 178 – 182, 190, 204 f., 207, 211, 215 – 218, 221, 225 – 227, 232 Dilthey, Wilhelm 23, 99, 103, 113, 137, 139, 212 Doyle, William 192, 195 f. Dreyfus, Alfred 145 Droysen, Johann Gustav 98, 104, 107, 113, 132 Duclos, Charles Pinot 186 f. Duhem, Pierre 113 Dupaty, Charles 65 Dupront, Alphonse 140, 142, 153 Egidi, Piero 104 Ehrard, Jean 215 Einaudi, Luigi (Fondazione Luigi Einaudi) 17, 150, 232 Einstein, Albert 115, 118, 120, 124 Eisenstein, Elizabeth L. 183 Elkana, Yehuda 125 Engels, Friedrich 31, 48 – 50, 104 Epiktet von Hierapolis 163 Erasmus von Rotterdam 54, 63, 106, 160, 163, 185 Erdmann, Eva 69 Erhard, Johann Benjamin 33 Euler, Leonhard 215 Febvre, Lucien 115 f., 141, 152 Fellmann, Ferdinand 112 F¦nelon, FranÅois de Salignac de La Motte 168
241 Ferguson, Adam 181 Ferrone, Vincenzo 21, 41, 83 f., 87, 93, 112, 126 f., 129, 134, 138, 155, 167, 170 f., 174, 179, 181, 183, 185, 189 – 191, 202, 212, 214, 217, 225 – 227 Feuerbach, Ludwig 146 Feyerabend, Paul K. 125 Filangieri, Gaetano 10, 13, 31, 45, 166 f., 181, 202, 224, 229 f., 233 f. Fink, Eugen 52 Firpo, Massimo (Fondazione Massimo Firpo) 17, 83 f. Flasch, Kurt 141 Flaubert, Gustave 134 Fleck, Ludwik 120 – 122 Fleury (Joseph-Abraham B¦nard, genannt Fleury) 223 f. Floridablanca, Jos¦ MoÇino y Redondo de Floridablanca 230 Fontenelle, Bernard de 210 Forster, Georg 33, 237 Foucault, Michel 10, 61 – 72, 75, 77, 81, 105, 140, 153, 159, 233 Fouilloux, Êtienne 85 Fragonard, Jean-Honor¦ 226 Frank, Philipp 114 Franklin, Benjamin 213, 224 Friedrich II. von Preußen, der Große 39, 199, 205, 234 Friedrich, Franz Eberhard 132 Fumaroli, Marc 196 Furet, FranÅois 133, 140, 153 Furtenbach, Siegfried 116 Füssli, Johann Heinrich 226 Gadamer, Hans Georg 35 Galiani, Ferdinando 204 Galilei, Galileo 31, 57, 105, 111, 114, 128, 213, 215 f. Galvani, Luigi 217 Gargani, Aldo Giorgio 114 Garin, Eugenio 104, 147, 160 Garst, Werner 61 Gassendi, Pierre 109 Gautier, Claude 181 Gay, Peter 98, 100 f., 140, 164, 166, 203
242 Geertz, Clifford 154 Genovesi, Antonio 169, 180 f., 204 Gentile, Giovanni 138, 146 Giarrizzo, Giuseppe 98 Gibbon, Edward 23, 107, 160 Gillispie, Charles C. 127 Ginzburg, Carlo 108 Gluck, Christoph Willibald 212, 226 Gobetti, Piero 146 Godwin, William 205 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 26, 224 – 226 Goldoni, Carlo 151 Goodman, Dena 189 Gordon, Daniel 181 Görres, Joseph 41 Gottsched, Johann Christoph 165 Goubert, Pierre 195 Goulemot, Jean-Marie 133 Goya, Francisco 10, 14, 224, 226 Gramsci, Antonio 144, 221 Grenier, Jean-Yves 195 Grotius, Hugo 40 Guardini, Romano 86 f., 91 Guerci, Luciano 17, 146, 162, 196 Guizot, FranÅois 136 Gusdorf, Georges 180 Gustav III. Wasa, König von Schweden 229 Habermas, Jürgen 34, 51, 66, 69, 72, 82, 201 Hahn, Roger 127 Haller, Albrecht von 27 Hamann, Johann Georg 33 Hanson, Norwood R. 125 Hazard, Paul 140, 143, 203 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 22 f., 26, 33 – 45, 47, 49, 51 – 53, 55 f., 61, 70, 82, 97 f., 101 f., 104, 129, 137 Heidegger, Martin 75 – 79, 81, 105 Heisenberg, Werner Karl 118 Hellmuth, Eckhart 229 Helv¦tius, Claude-Adrien 238 Hempel, Carl Gustav 119 Herder, Johann Gottfried 33, 41, 90, 181
Personenregister
Herrmann, Friedrich Wilhelm von 75, 77, 78, 79 Hermann, Ulrich 229 Herodot von Halikarnassos 43 Herzen, Aleksandr Ivanovicˇ 164 Hesse, Mary 125 Higonnet, Patrice 138 Hitler, Adolf 93 Hobbes, Thomas 111 Holbach, Paul Thiry d’Holbach 218 Hölderlin, Friedrich 41 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 30, 163 Horkheimer, Max 55 – 59, 62, 65, 98 f. Huet, Pierre-Daniel 106 Hume, David 23, 109, 111, 119, 180 Hunt, Lynn 110, 125, 140, 153 Husserl, Edmund 70, 77 Hyppolite, Jean 63 Israel, Jonathan 17, 207 f. Jacob, Margaret C. 17, 110, 125 f., 145, 161, 170, 207 f. Jedin, Hubert 85 Jefferson, Thomas 10, 13, 45, 224 Jesus Christus 171 Johannes Paul II. (Karol Wojtyla¯), Papst 81, 83, 87, 89 Joseph II. von Habsburg-Lothringen, Kaiser 199, 206, 229, 230 – 231 Jovellanos, Gaspar Melchor de 10, 137, 205, 224 Jüngel, Eberhard 92 Juratic, Sabine 183 Kant, Immanuel 7, 15, 27 – 35, 38 – 40, 42 – 45, 50 f., 54, 58, 62, 66 – 72, 75 f., 78 – 81, 91, 97, 101 – 103, 112, 118, 126, 158 f., 174, 187 f., 201 f., 209 Kaplan, Steven L. 152 Karl III. von Bourbon, König von Spanien 205 Katharina II., Zarin von Russland, die Große 199, 204, 229, 231 Kepel, Gilles 80 Kepler, Johannes 105, 111
Personenregister
Klemens XII. (Clemente Corsini), Papst 182 Klemens XIV. (Gian Vincenzo Antonio Ganganelli), Papst 230 Klinkhammer, Lutz 83 Köhler, Jochen 175 Kölving, Ulla 163 Koselleck, Reinhard 23 – 26, 67, 87, 99 f., 103, 109, 188, 192 Krasmann, Susanne 67 Krohn, Wolfgang 161 Kuhn, Thomas S. 122 – 125, 152, 158 La Capra, Dominik 152 La Harpe, Jean-FranÅois de 210 La Mettrie, Julien Offray de 207 Labrousse, Ernest 203 Lafitte, Jean-Baptiste 224 Lagrange, Joseph-Louis (Giuseppe Ludovico Lagrangia) 127, 213, 216 Lagrange, PÀre Marie-Joseph 85 Lakatos, Imre 125 Langevin, Paul 115 Lanson, Gustave 134 LapeyrÀre, Isaac 172 Laplace, Pierre-Simon 216 Laukhard, Friedrich C. 33 Lavoisier, Antoine 124, 127, 213, 217 Lazzari, Riccardo 75 Le Clerc, Jean 106 Le Goff, Jacques 22 Le Roy, Edouard 114 Lefebvre, Georges 203 Lehmann, Karl 83 Leibniz, Gottfried Wilhelm 23, 111, 172 Leigh, Ralph 209 Lemke, Thomas 67 Lenin (Vladimir Il’icˇ Ul’janov) 146 Lenoble, Robert 215 Lessing, Gotthold Ephraim 10, 13, 33, 88, 109, 137, 160, 166, 224 – 227, 232 L¦vy-Bruhl, Lucien 122 Leyh, Peter 98, 113 Lilti, Antoine 202 Linguet, Simon-Nicolas-Henri 150, 197
243 Linn¦, Carl von (Carl Nilsson Linnaeus) 216 Locke, John 13, 112, 171, 188, 207 Lousse, Êmile 193 Löwith, Karl 24 Lucas, Colin 194 Ludwig XIV. von Bourbon, König von Frankreich 160, 190, 204, 235 Ludwig XVI. von Bourbon, König von Frankreich 193, 224 Lukcs, Gyorgy 50 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 163 Lüsebrink, Hans-Jürgen 181 Luther, Martin 13, 38 f., 42, 53, 84, 138, 183 Mabillon, Jean 106 Mach, Ernst 113 Machiavelli, Niccolý 238 Maier, Hans 87 f. Maillet, Benot de 216 Mandeville, Bernard de 180 f. Mangoni, Luisa 83 Mannheim, Karl 122 Marat, Jean-Paul 128, 190, 206, 213, 218 Marconi, Diego 109 Marcuse, Herbert 50 Margiotta Broglio, Francesco 83 Maritain, Jacques 84 Mark Aurel (Marcus Aurelius Antoninus Augustus), römischer Kaiser 163 Markus, Evangelist 171 Marmontel, Jean-FranÅois 184, 210 Marrou, Henri Ir¦n¦e 85 Martini, Carlo Maria 83 Marx, Karl 7, 31, 47 – 51, 91, 97, 100, 104, 146, 186, 233 Mason, Haydn T. 135, 175 Masseau, Didier 187 Maupeou, Ren¦-Nicolas 231 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 216 Mauzi, Robert 140 Mayer, Arno J. 195 Mayeur, Jean-Marie 85 Meinecke, Friedrich 103 f., 117, 137 f. Mendelsohn, Everett 125
244 Mendelssohn, Moses 33, 70 Menozzi, Daniele 222 Mensching, Günther 175 M¦nuret de Chambeau, Jean-Jacques 217 Mercier, Louis-S¦bastien 213 Merker, Nicolao 33 Merquior, Jos¦ Guilherme 65 Mervaud, Christiane 163 Mesmer, Anton 128, 206, 213 f., 218 Miccoli, Giovanni 83 Michalski, Krzysztof 88 Minuti, Rolando 198 Mittelstraß, Jürgen 27 Mohammed 170 Momigliano, Arnaldo 26, 98, 107, 109 f. Monge, Gaspard 216 Montaigne, Michel de 106, 174 Montinari, Mazzino 52 f, 108 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat de La BrÀde et de Montesquieu 23, 149, 180, 204 – 206, 232, 235 Montgolfier, Brüder Jacques-Êtienne und Joseph-Michel 127 Moravia, Sergio 181 Mornet, Daniel 134 f., 152, 209 – 212 Mosca, Gaetano 148 Moses 170 Motta, Franco 17 Mounier, Emmanuel 84 Mousnier, Roland 196 Mozart, Wolfgang Amadeus 10, 224, 226 Mozzarelli, Cesare 196 Muratori, Ludovico Antonio 106, 150 Napoleon I. Bonaparte, Kaiser der Franzosen 137 Natorp, Paul 76 Necker, Jacques 189 Needham, John T. 216 Neurath, Otto 119 Newton, Isaac 31, 41, 57, 102, 105, 111 f., 114, 118, 125 – 126, 128 f., 170, 177, 179, 188, 207, 213 – 215, 218, 225 Nietzsche, Friedrich 47, 51 – 54, 56, 58, 61 – 63, 70, 77, 88 f., 105, 108, 139 f. Nizard, Desir¦ 134
Personenregister
Noack, Rudolf 169, 171, 175, 187 Noirel, G¦rard 69 Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) 41 Novick, Peter 107 Odysseus 55 Olavide, Pablo de 205 Orsucci, Andrea 112 Ozouf, Mona 133 Pace, Enzo 81 Paganini, Gianni 174 Pagano, Francesco Mario 10, 224 Paine, Thomas 205, 224 Palissot de Montenoy, Charles 234 Paoli, Pasquale 232, 235 Pareto, Vilfredo 148 Parrini, Paolo 119 Pascal, Blaise 175 – 177 Pasini, Mirella 31 Pastoret, Claude-Emmanuel 65 Paul VI. (Giovanni Battista Montini), Papst 84 Paulus von Tarsus, Apostel 68, 85 Pearson, Joseph 67 Pelagius 176 Pellisson, Maurice 187 Pendinelli, Mario 91 f. Pera, Marcello 91 Perikles 160 Perna, Maria Luisa 17 Petrarca, Francesco 54, 104 Piccinni, Niccolý 212 Pietri, Charles 85 Pigalle, Jean-Baptiste 191 Piranesi, Giovanni Battista 226 Platon 77, 160, 163, 166 Plongeron, Bernard 90 Pocock, John G. 138 Poincar¦, Henri 114 Polanyi, Karl 197 Pombal, Sebasti¼o Jos¦ de Carvalho e Melo de Pombal 230 Popkin, Richard H. 106 Popper, Karl R. 118 – 121
Personenregister
Porter, Roy 127 Preterossi, Geminello 83, 171 Price, Richard 205 Priestley, Joseph 127 Proust, Marcel 134 Pugacˇev, Emel’an Ivanovicˇ 231 Putnam, Hilary 72 f., 110 Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 108 Rabelais, FranÅois 141 Radicati, di Passerano Alberto 149, 168 Radisˇcˇev, Aleksandr Nikolaevicˇ 137, 150, 224 Rahner, Karl 85 Ramsay, Andrew Michael 168 Ranke, Leopold 104, 107 Rawls, John 72 Raynal, Guillaume-Thomas-FranÅois 10, 181, 198, 218, 224, 227, 237 R¦aumur, Ren¦-Antoine Ferchault de 216 Recki, Birgit 76, 79, 101 Reill, Peter Hans 75, 101 Reinhard, Marcel 185 Remotti, Francesco 222 Revel, Jacques 193 Rey, Abel 115 Riccardi, Andrea 83 Richardson, Samuel 188 Richelieu, Armand-Jean Du Plessis de Richelieu, Kardinal 136, 190 Richet, Denis 185 Rickert, Heinrich 113 Ricœur, Paul 87, 110 Ricuperati, Giuseppe 17, 99, 134, 146 Riedel, Manfred 27 Riem, Andreas 33 Robertson, John 138, 145, 207, 208 Robertson, William 181 Robespierre, Maximilien 48, 134 Robinet, Jean-Baptiste-Ren¦ 216 Roche, Daniel 17, 21, 41, 104, 129, 134, 138, 150, 155, 181, 183, 185, 188 f., 191, 202, 226 f. Rolando, Daniele 31
245 Rorty, Richard 75 Rosa, Mario 90 Rosen, Stanley 87 Rosselli, Carlo 146 Rossi, Paolo 56, 111, 113, 122, 126 f. Rossi, Pietro 112 f. Rousseau, George Sebastian 127 Rousseau, Jean-Jacques 13, 31, 39 f., 45, 54, 93, 104, 128, 133, 136, 149, 166, 169, 180, 184, 190, 197, 204 – 206, 210, 218, 228, 235, 237 Rutherford, Ernest 115 Rutto, Giuseppe 17 Sade, Donatien-Alphonse-FranÅois de 58 Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 163 Salvemini, Gaetano 146 Schackleton, Robert 209 Schäfer, Lothar 120 Schiller, Friedrich 33 Schmid, Carlo 143 Schmidt, James 73, 97 Schmitt, Carl 100 Schnelle, Thomas 120 Scholz, Gunter 154 Schöttler, Peter 114 Schulte, Joachim 131 S¦guier, Antoine-Louis 193 S¦it¦, Yves 185 Seitter, Walter 62 – 64 Seneca (Lucius Annaeus Seneca) 163 Sergi, Giuseppe 22 Sewell, William H. 197 Sextus Empiricus 106 Sgard, Jean 133 Shaftesbury, Antony Ashley Cooper 168 Shakespeare, William 63 Simmel, Georg 113, 122 Simon, Richard 172 Sirven, Pierre-Paul 224 Skinner, Quentin 208 Smith, Adam 181 Sokrates 164, 227 Sonnenfels, Joseph von 204 Sorel, Georges 50, 146 Spaemann, Robert 88 f.
246 Spallanzani, Lazzaro 127, 217 Spellman, Francis Joseph, Kardinal 84 Spinoza, Baruch 13, 106, 167, 172, 207 f. StaÚl-Holstein, Anne-Louise-Germaine Necker (Madame de StaÚl) 134, 139 Stalin (Iosif Vissarionovicˇ Dzˇugasˇvili) 93 Starobinski, Jean 140, 227 Sternhell, Zeev 50 Stierle, Karlheinz 169, 171, 175, 187 Struensee, Johann 231 Suard, Jean-Baptiste 210, 212 Sydenham, Thomas 217 Taine, Hippolyte 132, 134, 136, 210 Terenz (Publius Terentius Afer) 163 Tessitore, Fulvio 113, 139 Thomas, Brook 154 Thomas von Aquin 99 Thompson, Edward P. 196 Thouvenel, Pierre 217 Thukydides 43 Tocchini, Gerardo 17, 226 Tocqueville, Alexis de 136, 193 f., 228 Toland, John 166, 170, 203 Torre, Angelo 155 Tortarolo, Edoardo 33, 174, 189 Toulmin, Stephen 125 Trampus, Antonio 17, 21, 33, 90, 230, 235 Trevelyan, George M. 103, 145, 203 Troeltsch, Ernst 112, 137, 139, 164 Turgot, Anne-Robert-Jacques 206 Valdes, Petrus (Peter Waldo) 183 Valla, Lorenzo 108, 160 Van Horn, Melton James 189 Van Kley, Dale K. 140 Varry, Dominique 183 Vattimo, Gianni 35, 73 Vauchez, Andr¦ 85 Venard, Marc 85
Personenregister
Venturi, Franco 15, 65, 103 – 105, 140, 144 – 153, 167 – 169, 182, 203 – 207, 209, 211 f., 229 f., 232 Venturino, Diego 194 VerniÀre, Paul 216 Verra, Valerio 42 Verri, Alessandro 204 Verri, Pietro 204 Verucci, Guido 83 Viano, Carlo Augusto 114 Vico, Giovanni Battista 112, 174 Vicq, d’Azyr F¦lix 128 Villari, Pasquale 112 f., 126 Villemain, Abel-FranÅois 134 Volta, Alessandro 127, 217 Voltaire (FranÅois-Marie Arouet, genannt Voltaire) 23 f., 45, 54, 84, 134, 160, 163, 166, 169 – 171, 174 f., 177, 187, 190, 210 f., 224 Volterra, Vito 115 Vovelle, Michel 188 Walter, Êric 133 Waquet, FranÅoise 185, 187 Washington, George 145 Wassermann, August von 121 Weber, Max 113, 122 Weber, William 226 Wedekind, Georg Christian Gottlieb 33 Wehler, Hans-Ulrich 66 White, Hayden V. 107 Wieland, Christoph Martin 33 Wittgenstein, Ludwig 123, 131 Wolff, Christian von 216 Wright, Johnson K. 101 Wundt, Wilhelm 122 Wuthenow, Ralph-Rainer 180 Wycliffe, John 183 Xenophanes von Kolophon 98