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German Pages 84 [88] Year 2022
Hans-Jürgen Wilhelm · Tobias Kurtz
Werte gehen heute anders Klarer und zufriedener im Pflegealltag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar.
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Werte sind die vielen kleinen, funkelnden Edelsteine,
die du während deines Lebens sammelst, die dich von da an immer begleiten und dir deinen Weg leuchten.
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Vorwort Werte sind in der Philosophie ein zentraler Begriff, und viele Philosophen haben sich mit dem Thema Werte befasst und versucht, diese zu beschreiben oder zu definieren. Werte sind für die meisten von uns ein sehr theoretischer, ethischer und kaum fassbarer Begriff, der mit unserem alltäglichen Leben scheinbar so gut wie nichts zu tun hat. Nur selten hört man den Satz: „Das kann ich mit meinen Werten nicht vereinbaren.“ Deutlich präsenter in unserem Alltag ist: „Das kann ich nicht mittragen“ oder „Ich find’ das scheiße“, was unterm Strich aber das Gleiche meint.
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Werte sind in unserem Alltag sehr viel sichtbarer, als wir annehmen. Sie sind die Grundlage unseres täglichen Handelns. 5
Zielsetzung Wir wollen Anregungen und Impulse geben, um sich selbst in dem Wirrwarr unterschiedlicher und sich teilweise widersprechender Werte im Pflegealltag nicht zu verlieren.
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Wir wollen Anregungen und Impulse gehen, um sich selbst in dem Wirrwarr unterschiedlicher und sich teilweise widersprechender Werte im Pflegealltag nicht zu verlieren. Das Buch will Denkanstöße geben und Fragen stellen. Wir möchten Ihnen helfen, neben Ihren eigenen Werten auch die Ihres Gegenübers besser zu erkennen und zu verstehen.
Dabei dürfen Sie Ihre eigenen Werte nicht aus dem Blick verlieren. Durch unterschiedliche Werte, die aufeinandertreffen, können Missverständnisse, Unzufriedenheit und Stress entstehen. Dieses Buch ist weder ein philosophisches Grundlagenwerk zum Thema Werte noch eine praktische Lebenshilfe mit konkreten Handlungsanweisungen. Um leichter verständlich zu sein, wird manches hier sicherlich verkürzt, pauschal und sehr vereinfacht dargestellt.
In Ihrem Pflegealltag werden Sie mit vielen anderen Werten konfrontiert: • den Werten Ihres Arbeitgebers, • den Werten Ihrer Kolleginnen und Kollegen • und nicht zuletzt den Werten des zu pflegenden Menschen.
Wir würden uns freuen, wenn wir Ihnen mit diesem Buch dabei helfen können, im Alltag Ihre eigenen Werte besser und klarer zu erkennen und im Kontakt mit anderen eine gute Balance für sich selbst zu finden.
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Aufbau Zunächst geht es darum, zu erkennen, was Werte sind und vor allem, welche Ihre eigenen Werte sind. Danach betrachten wir die Werte der anderen und was passieren kann, wenn verschiedene Werte in Konflikt geraten. In Kapitel 4 stellen wir das Wertequadrat vor, das Ihnen dabei helfen kann, eine gute Balance zu finden. Zum Schluss werfen wir noch einen Blick auf den Beruf der Pflege, der mit seinen Werten am Pflegemarkt an seine Grenzen zu stoßen scheint.
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1. Was sind meine Werte? 2. Die Werte der anderen 3. Wenn Werte in Konflikt geraten 4. Das Wertequadrat 5. Unterschiedliche Werte führen zu Missverständnissen 6. Werte wecken Erwartungen 7. Werte bewerten 8. Die Werte der Pflege im freien Markt 9. Schlusswort
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HILFSBEREITSCHAFT SOLIDARITÄT
NATURSCHUTZ
ROMANTIK
MITGEFÜHL
TIERLIEBE
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1 WA S S I N D MEINE WERTE?
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Wenn wir unsere Werte verlieren, wird unser Leben wertlos. Werte geben uns Orientierung, indem sie die Welt in Richtig und Falsch ordnen. Werte geben uns Halt, indem sie uns einen Rahmen bieten. Werte sagen uns, wofür wir leben, indem sie Sinn stiften. Werte sind es aber auch, für die wir töten und Kriege führen.
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Werte sind in unserem Leben sehr wichtig und zentral. Auch wenn wir uns darüber oft gar nicht bewusst sind, so laufen diese wie ein Radar unentwegt im Hintergrund und begleiten uns durch unseren Alltag. Sie geben uns Orientierung, indem sie uns sagen, was richtig ist und was falsch.
Werte geben unserem Leben Sinn und sind die Motivation für unser Handeln.
Sie geben uns Halt, indem sie die Welt um uns herum für uns sortieren und uns unseren Platz darin zeigen.
Als Gesellschaft haben wir in Deutschland unsere wichtigsten Werte im Grundgesetz beschrieben. Hier verkürzt die ersten fünf Paragrafen des Grundgesetzes:
§ 1 Würde Die Würde de
Aber unsere Werte sind es auch, weshalb wir andere Menschen be- und verurteilen. Sie verhindern oft, dass wir unser Gegenüber und sein Handeln verstehen.
GRUNDGESET Z
s Menschen in
unantastbar. § 2 Freie Entf altung Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltun Persönlichkeit g seiner . § 3 Gleichhe it Alle Mensche n sind vor de m Gesetz gle ich. § 4 Glauben sfreiheit Die Freiheit d es Glaubens, des Gewissen und weltansc s und des relig haulichen Be iösen kenntnisses is t unverletzlic § 5 Meinung h . sfreiheit Jeder hat das Recht, seine M einung in Wo Bild frei zu äu rt, Schrift und ßern.
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Zum Beispiel können für einen sehr gläubigen Menschen die Werte wichtig sein, auf die die katholische Ordensgemeinschaft der Franziskanerinnen und Franziskaner ihre Gelübde ablegt: • Armut • Enthaltsamkeit / Keuschheit • Gehorsam.
Jeder von uns hat aber auch seine eigenen, individuellen Werte.
Oder man ist ein politischer Mensch, dann können Werte wichtig sein, wie: • Solidarität, • Gleichheit, • Freiheit, • das Recht auf Selbstverwirklichung, • ein verantwortlicher Umgang mit den Ressourcen, • der Schutz der Natur.
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Und Fußballfans haben vielleicht Werte, wie: • Gemeinschaft, (You never walk alone) • Treue.
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Welche Werte sind Ihnen in Ihrem Leben und bei Ihrer Arbeit wichtig?
Meine Werte
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Vielleicht sind dies Werte, wie sie hier als Beispiel stehen. Streichen Sie die für Sie nicht passenden und ergänzen Sie die Liste mit Ihren eigenen Werten:
Ich will helfen. Ich will da sein, wenn mich jemand braucht. Ich will, dass man sich auf mich verlassen kann. Ich will anderen Menschen mit Respekt begegnen.
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DIE WERTE DER ANDEREN
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„Werte sind wie Fingerabdrücke. Keiner hat dieselben, aber du hinterlässt sie bei allem, was du tust.“
Elvis Presley
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Ein sehr schönes und treffendes Zitat von Elvis Presley, den viele sicherlich noch kennen werden. Er war in den 60er- und 70er- Jahren ein sehr bekannter amerikanischer Rock-’n’-Roll-Sänger, der 1977 gestorben ist. Jeder von uns hat seine eigenen Werte. Sie überschneiden sich mit denen von anderen, doch sind sie niemals alle gleich. Und unsere Werte haben Einfluss auf alles, was wir tun. Deshalb sind sie auch an allem, was wir tun – aber auch nicht tun, erkennbar.
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In unserer modernen Gesellschaft treffen Menschen verschiedener Kulturen im Alltag immer öfter aufeinander. Reisen ist für uns normal geworden, und durch die Veränderungen in der Arbeitswelt ist auch ein Leben in anderen Ländern nichts Ungewöhnliches mehr. Großstädte sind zu internationalen Treffpunkten geworden, die sich weltweit immer mehr angleichen. Interkulturelles Leben ist dort zur Normalität geworden, und die Vielfalt ist überall zu sehen und sei es nur an der großen Zahl unterschiedlicher Restaurants. Viele unserer Bewohnerinnen und Bewohner in den Pflegeheimen sind aber noch in einer ganz anderen Welt aufgewachsen.
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Unsere Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr verändert und verändert sich stets weiter. Die Welt um uns herum ist nicht mehr dieselbe, wie sie es für die Menschen war, die heute 80 Jahre und älter sind. Mit diesen Veränderungen haben sich auch unsere Werte verändert. Ein besonders gutes Beispiel ist der gesellschaftliche Umgang mit dem Thema Homosexualität. Bis 1994 gab es in der Bundesrepublik Deutschland den Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches, der„homosexuelle Handlungen“ unter Strafe stellte. Erst am 17. Mai 1990 wurde durch die World Health Organization (WHO) – der Weltgesundheitsorganisation – entschieden, dass Homosexualität nicht länger eine psychische Krankheit ist. Und erst seit 2017 ist in der Bundesrepublik die Ehe auch gleichgeschlechtlichen Paaren erlaubt.
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WENN WERTE I N KO N F L I K T G E R AT E N
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Auch der Alltag in den Pflegeheimen hat sich deutlich verändert. Sowohl durch die Menschen aus verschiedenen Kulturen, die heute in Pflegeheimen gemeinsam arbeiten, als auch durch den Wandel in unserer Gesellschaft. Deshalb treffen auch im Pflegealltag immer wieder unterschiedliche Werte aufeinander.
Es geht im Alltag darum, eine gute Balance zu finden zwischen den eigenen Werten und denen der anderen. Sich diesen Werten nicht völlig zu verschließen, seine eigenen aber auch nicht zu ignorieren oder zu unterdrücken. Das meint auch der Dalai Lama mit seinem zitierten Satz. Er zeigt einen guten Weg, mit neuen, veränderten Situationen umzugehen. Dalai Lama ist der Titel des Oberhauptes der Buddhisten in Tibet. Der aktuelle Dalai Lama ist der 1935 geborene Tenzin Gyatso. Die Balance zwischen den eigenen und fremden Werten kann aber nur gelingen, wenn man für die unterschiedlichen Werte sensibel ist und sich darüber bewusst wird, dass gerade unterschiedliche Werte aufeinandertreffen.
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„Öffne der Veränderung deine Arme, aber verliere dabei deine Werte nicht aus den Augen.“
Dalai Lama
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In der Pflege könnten die beiden Werte „Professionalität“ und „Mitgefühl“ aufeinandertreffen.
„Du bist vollkommen unsensibel, kalt und ungeeignet für den Pflegeberuf.“
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Beide unterstellen sich gegenseitig eine fehlende Eignung für den Pflegeberuf. Dabei hat es weder etwas mit Eignung noch fachlicher Kompetenz zu tun, sondern einzig und allein mit der persönlichen Einstellung zum Beruf. Es sind ausschließlich die unterschiedlichen zugrunde liegenden Werte, die erst einmal wenig über die tatsächliche Qualität der Arbeit des Einzelnen aussagen.
Beide Werte sind wichtig, und beide haben auch ihre Risiken. Zu viel Mitgefühl und Empathie kann dazu führen, dass ich meine eigenen, aber auch die Grenzen meines Gegenübers überschreite. Zu viel professionelle Distanz kann dazu führen, dass ich wichtige Aspekte in der Betreuung des Patienten nicht erkenne.
„Du bist viel zu sensibel und hast keine professionelle Distanz zum Patienten.“
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Für viele von uns ist sowohl der Wert „Sicherheit“ als auch der Wert „Lebensqualität“ wichtig.
Besonders schwierig wird es, wenn unsere eigenen Werte in Konflikt geraten und wir uns zwischen zwei Werten entscheiden müssen. Für viele von uns ist sowohl der Wert „Sicherheit“ als auch der Wert „Lebensqualität“ wichtig. Zwei kurze Beispiele sollen diesen Konflikt verdeutlichen. Wenn wir einen an Demenz leidenden Angehörigen haben, dann müssen wir entscheiden, ob er ganz sicher in einer geschlossenen Einrichtung besser aufgehoben ist oder in einer offenen, die ihm auch weiterhin die Möglichkeit gibt, am sozialen Leben draußen teilzunehmen. In der geschlossenen Einrichtung wird ihm der normale Alltag seines gewohnten Umfeldes fehlen und in der offenen besteht immer das Risiko, dass ihm etwas zustößt.
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Darf ich einer rüstigen Bewohnerin eines Pflegeheimes dabei helfen, wenn sie von einer Rutschbahn rutschen will, oder ist dies vollkommen unverantwortlich? Diese Fragen können immer nur individuell von jedem Menschen persönlich beantwortet werden, doch oft ist diese Antwort nicht leicht zu finden.
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DAS WERTEQ UA D R AT
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An dieser Stelle möchte ich das Werte- und Entwicklungsquadrat von Friedemann Schulz von Thun kurz vorstellen. Schulz von Thun ist ein Hamburger Kommunikationspsychologe, der zahlreiche Videos und Bücher publiziert hat, die u. a. sehr anschaulich und praxisnah das Wertequadrat beschreiben. Lesen Sie gern einmal nach oder googeln Sie nach den Videos. Das Werte- und Entwicklungsquadrat geht davon aus, dass jeder Wert ein positives Gegenüber hat. Durch dieses Gegenüber entsteht eine Balance, die verhindert, dass der jeweilige Wert in eine negative Übertreibung rutscht. So kann zu viel Mut zu Leichtsinn führen. Zur Erklärung ein Beispiel von Schulz von Thun: „So braucht es neben der Sparsamkeit auch Großzügigkeit, um nicht zum Geizhals zu verkommen, und umgekehrt bewahrt die Balance mit der Sparsamkeit den Großzügigen vor der Verschwendung.“ (www.schulz-von-thun.de).
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Das Wertequadrat kann uns sehr helfen, Wertekonflikte besser zu verstehen und besser zu lösen. An den beiden genannte Beispielen wollen wir dies konkret beschreiben. So wäre das Wertequadrat des ersten Beispiels: Es wird deutlich, dass es nicht um richtig und falsch, besser oder schlechter geht. Beide Werte für sich sind ehrenwert und positiv, können aber in der Übertreibung ins Negative kippen. Es geht also immer darum, für jeden Einzelnen eine gute Balance zwischen den Werten zu finden. Und wenn mehrere Personen beteiligt sind, dann muss diese Balance gemeinsam so gefunden werden, dass sie für alle Beteiligten tragbar ist.
Werte Großzügigkeit
Sparsamkeit
Verschwendung
Geiz
Negative Übertreibung
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UNTERSCHIEDLICHE WERTE FÜHREN ZU MISSVERS TÄ N D N I S S E N
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„Man kann nicht nicht kommunizieren.“
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Um zu zeigen, wie selbstverständlich Werte für unser tägliches Handeln sind, ohne dass wir dies erkennen, kann ein Beispiel von Paul Watzlawick helfen. Watzlawick war ein österreichischer Philosoph, Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler, der sich mit dem Thema Kommunikation befasst hat. Den Satz „Man kann nicht nicht kommunizieren“ haben sicherlich viele schon einmal gehört. Wir alle haben konkrete Wertevorstellungen darüber, welcher Kontakt wann okay ist und welcher übergriffig und unverschämt. Wenn wir uns die verschiedenen Möglichkeiten der Begrüßung anschauen, erkennen wir gut, dass diese regional sehr unterschiedlich sein können. In einigen Regionen gibt man sich nur die Hand, in anderen einen oder sogar drei Küsse auf die Wange. Was für den einen also eine ganz normale Begrüßung ist, wäre für den anderen eine unverschämte Überschreitung seiner Grenzen.
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In folgendem Beispiel geht es ums Flirten. Das Besondere beim Flirten ist das Spiel, immer wieder abwechselnd die Grenzen des anderen ein wenig zu überschreiten, ohne aufdringlich oder übergriffig zu werden. Das ist für sich genommen schon nicht einfach, kann aber sehr kompliziert werden, wenn die jeweiligen Grenzen unterschiedlich sind, wie wir sehen werden.
Watzlawick beschreibt in seinem Buch „Menschliche Kommunikation“ (1969) eine Untersuchung von Margaret Mead, einer amerikanischen Ethnologin. Diese Untersuchung geht der Frage nach, warum es nach dem Zweiten Weltkrieg in England sehr viele Kinder von amerikanischen Soldaten gab. Durch Interviews wollte Mead herausfinden, was der Grund für diese sehr kurze, aber dennoch fruchtbare Zeit der Amerikaner in England war. In diesen Interviews berichteten beide, sowohl die englischen Frauen als auch die amerikanischen Soldaten, dass ihr Gegenüber fast schon übertrieben stürmisch gewesen sei und sie vollkommen überrannte. Dies ergibt so aber keinen Sinn, sodass Mead sich diesen scheinbaren Widerspruch genauer anschaute. Mead stellte fest, dass der Kuss auf den Mund für beide einen ganz unterschiedlichen Wert hatte. Während der Kuss für die amerikanischen Soldaten kaum eine Bedeutung hatte, war er für die englischen Damen von großer Bedeutung und bereits sehr intim. Durch den Kuss, der für die amerikanischen Soldaten keine besondere Bedeutung hatte, waren zunächst die englischen Damen vollkommen überrollt.
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Sie dachten dann, dass sie mit den Soldaten nun in einer intimen Beziehung seien, und handelten dementsprechend. So fühlten sich daraufhin die amerikanischen Soldaten durch die Engländerinnen überrollt. Eigentlich also nur ein Missverständnis, dem offensichtlich viele Menschen ihr Leben verdanken. Aber keiner der beteiligten Personen hat dies als Missverständnis verstanden. Ganz im Gegenteil, es war eine umfangreiche wissenschaftliche Arbeit notwendig, um dieses Missverständnis zu erkennen. Erst dadurch wurde deutlich, dass der Kuss für beide einen vollkommen anderen Wert besitzt. In der Situation selbst führte es dazu, dass sich beide Seiten be- und verurteilten – als übertrieben stürmisch und leicht zu haben. Im Alltag gehen wir davon aus, dass unsere Werte auch für alle anderen gelten. Das ist notwendig, damit wir gut miteinander handeln können, kann aber zu Problemen und Missverständnissen führen.
Selbst wenn etwas vollkommen schiefläuft, werden wir aber im täglichen Handeln diese Annahme nicht infrage stellen. Dadurch entstehen Missverständnisse, die wir als solche nicht erkennen.
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Stattdessen bewerten wir unser Gegenüber und denken, dass er oder sie sich falsch oder zumindest für uns unerwartet verhält.
Großzüg
igkeit
t i e k m a s r Spa
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WERTE WECKEN E R WA R T U N G E N
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Werte können Scheuklappen sein, die uns den Blick auf den anderen verstellen.
Durch unsere Werte entstehen Erwartungen an unser Gegenüber – das können Kollegen und Kolleginnen, Vorgesetzte, Bewohner und Bewohnerinnen, Patienten und deren Angehörige sein –, aber auch an uns selbst, und immer wieder kann es vorkommen, dass diese Erwartungen enttäuscht werden.
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Erwartungen an andere
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Das Pflegeverständnis und auch die grundlegende Einstellung zum Beruf hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Während der Wechsel des Arbeitgebers früher eine Seltenheit war und lange Arbeitsverhältnisse eher die Regel, ist es heute für jüngere Kolleginnen und Kollegen durchaus normal, den Arbeitsplatz öfter zu wechseln. So können wir enttäuscht sein, wenn uns ein junger Kollege nach zwei Jahren schon wieder verlässt. Wir fragen uns dann vielleicht, was wir hätten besser machen können oder woran es sonst gelegen haben könnte. Dabei geht es dem jungen Kollegen womöglich lediglich darum, mehr Erfahrungen zu sammeln und viele verschiedene Einrichtungen und Einsatzorte kennenzulernen.
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Unsere Werte von „Treue“, „Loyalität“ oder „Teamgeist“, die wir hier verletzt sehen, sind für ihn sicherlich auch wichtig, aber eben nicht nur.
Wenn eine Mitarbeiterin einem Bewohner das Essen falsch serviert und vielleicht bei einem typisch norddeutschen Gericht wie „Birnen, Bohnen und Speck“ – die als Hauptspeise zusammengehören – die Birnen als Nachtisch reicht, dann kann es passieren, dass ihr unterstellt wird, sie kümmere sich nicht genug um den Bewohner und dessen Wohlergehen sei ihr egal. Es ist ein Essen, auf das sich der Bewohner sehr gefreut hat und durch das falsche Anrichten wird er nun enttäuscht. Die Erwartung, dass das Essen richtig serviert wird, ist nicht zu hoch. Und sicherlich hat auch die Mitarbeiterin den Anspruch, dem Bewohner das Essen gut und ansprechend zu servieren. Für manche kaum vorstellbar, kennen viele Kolleginnen und Kollegen aufgrund ihres Alters oder weil sie aus einer anderen Region kommen, dieses Gericht gar nicht. Sie haben also nicht bewusst und vorsätzlich die Erwartungen an eine gute Versorgung enttäuscht. Es fehlte ihnen lediglich in dieser konkreten Situation das notwendige Wissen oder die Erfahrung, um unseren – und letztendlich auch ihren eigenen – Werten zu entsprechen.
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Die Erwartung, dass das Essen richtig serviert wird, ist nicht zu hoch. Und sicherlich hat auch die Mitarbeiterin den Anspruch, dem Bewohner das Essen gut und ansprechend zu servieren.
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Erwartungen an
Hohe Professionalität
UNS SELBST
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Wie wir gesehen haben, entstehen durch unsere Werte auch Erwartungen: sowohl an unsere Mitmenschen, aber auch Erwartungen an uns selbst. Letztere sind häufig viel schwieriger zu ertragen, da wir uns scheinbar selbst „enttäuscht“ haben. Das kann dazu führen, dass wir an uns selbst zweifeln, unzufrieden oder gar frustriert werden.
Mehr Mitgefühl
Wenn wir uns auf Dauer selbst nicht gerecht werden, ist es wichtig, sich Zeit zu nehmen, um zu prüfen, was wir ändern können oder müssen.
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In unserem Arbeitsalltag geschieht es immer und immer wieder, dass wir unseren Erwartungen nicht gerecht werden. Das kann Unzufriedenheit und Frustration hervorrufen. Und jeden Tag aufs Neue nehmen wir diese Gefühle – manchmal bewusst, doch häufig unbewusst – mit nach Hause. Leicht kann es passieren, dass wir im täglichen Hin und Her unsere eigenen Werte aus den Augen verlieren. Deshalb sind kleine Auszeiten und Reflexionen immer wieder so wichtig. Aber dazu fehlt allzu oft die Zeit. So entsteht oft eine Schleife, der wir nicht zu entkommen glauben.
Dann wird es Zeit, selbstkritisch, aber auch wohlwollend mit sich selbst zu schauen, wo ich gerade stehe und wie es mir wirklich geht. Sätze, wie „Da muss man halt durch“ , sind manchmal bestimmt hilfreich. Aber nicht immer! Irgendwann gibt es einen Punkt, an dem die Balance nicht mehr stimmt. Dann wird es wichtig, genau hinzuschauen. Allein, mit Kolleginnen oder Kollegen, Freunden oder in einer Supervision, seine eigenen Werte zu betrachten und zu schauen, was mich genau zu dieser Unzufriedenheit führt. Vielleicht sind meine Anforderungen an mich selbst viel zu hoch. Oder die Rahmenbedingungen müssen geändert werden. Pflege ist ein helfender Beruf. Im Pflegealltag gibt es aber leider viele Situationen, in denen wir nur bedingt helfen können.
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Hierfür kann es viele Gründe geben (ergänzen Sie diese gern):
• die äußeren Arbeitsbedingungen • das Stoßen an eigene Grenzen • die private Situation, die uns abverlangt, zwischen Beruf und Familie zu entscheiden • die gesundheitliche Situation der zu pflegenden Menschen, die uns an die pflegerischen und medizinischen Grenzen führt • dass unser Gegenüber unsere Hilfe ablehnt.
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WERTE BEWERTEN
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Wie wir gesehen haben, können unsere Werte immer wieder auch dazu führen, dass wir unser Gegenüber bewerten oder sogar verurteilen. So unterstellten die amerikanischen Soldaten den Engländerinnen, dass „sie leicht zu haben sind“. Auch in unserem Alltag urteilen wir oft vorschnell über andere. Wenn ein junger Kollege eine Bewohnerin mit dem Satz begrüßt: „Ich bin der Peter, wie heißt du denn?“, dann meint er dies nicht ansatzweise respektlos oder unfreundlich. Ganz im Gegenteil, er ist davon überzeugt, sehr zuvorkommend und freundlich auf die Bewohnerin zugegangen zu sein. Diese hingegen sieht das ganz anders und empfindet Peters Verhalten als vollkommen unangemessen, respektlos und distanzlos. Da sie wohl dementsprechend reagieren wird, wird Peter sie dann sicherlich als arrogant, überheblich und total unfreundlich bezeichnen. Ein typisches Missverständnis, das als solches nicht erkannt wird, weil beide unterschiedliche Wertevorstellungen davon haben, wie man sich begrüßt.
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Auch in unserem Alltag
urteilen wir oft vorschnell über andere.
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DIE WERTE DER PFLEGE IM FREIEN MARKT
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Durch die politische und somit auch gesellschaftlich getragene Entscheidung, Pflege für den freien Markt zu öffnen, trafen zwei unterschiedliche Wertesysteme aufeinander: das der Pflege und das der freien Marktwirtschaft. Auf die Öffnung der Pflege für den freien Markt waren weder die in der Pflege Arbeitenden noch die Pflege als Berufsgruppe in keiner Weise vorbereitet und wurden hierbei auch nicht begleitet. Sie wurden mit einem neuen Wertesystem konfrontiert oder besser von diesem überrollt. Und selbst heute, nach mehr als 20 Jahren hat sich die Pflege darauf kaum eingestellt. Ganz im Gegenteil.
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Während sich der Pflegemarkt rasant entwickelt und immer größere internationale Unternehmen entstehen, steht die Pflege dieser Entwicklung fast hilflos und gelähmt gegenüber. Sie agiert und argumentiert weiter auf der Grundlage ihrer alten Wertevorstellungen. Zur Verdeutlichung ein kurzer Blick auf die Geschichte der Pflege.
Während sich der
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Pflegemarkt rasant entwickelt und immer größere
internationale Unternehmen entstehen, steht die Pflege dieser Entwicklung fast hilflos und gelähmt gegenüber.
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Geschichte der Pflege Pflege ist ein sehr junger Beruf. Erst 1965 wurde die dreijährige Pflegeausbildung eingeführt. Dies war der Anfang der Professionalisierung der Pflege als Pflegeberuf.
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„Zu Anfang des 20. Jahrhunderts war Krankenpflege gebunden an die bürgerliche Rolle der Frau und wurde schon zu damaliger Zeit zu einer Frauendomäne. Oft waren es Töchter aus bürgerlichen Familien, die als Krankenschwestern arbeiteten, organisiert über einen Orden oder eine Schwesternschaft, die mit einem kirchlichen Krankenhaus verwachsen war. Das Entgelt wurde an den Träger abgeführt, der für die Altersvorsorge, Krankenversorgung und den Lebensunterhalt der Schwestern sorgte. Zu dieser Zeit gab es nur zehn Prozent sogenannte „freie Schwestern“, die nicht bei einem Träger arbeiteten und meist schlecht angesehen waren.
(…) Die Beschäftigten in der Pflege wurden damals nicht als Berufstätige in heutigem Sinn anerkannt, und fast 50 Jahre lang änderte sich diese Situation nicht. Frau stand ganztägig der Einrichtung zur Verfügung, hatte ein spartanisches Quartier (meist in der Klinik) und ein Privatleben war nicht vorgesehen.“
Als „freie Schwester“ ein Entgelt für die Arbeit zu verlangen, widersprach der Erwartung der damaligen Gesellschaft.
(https://ak-pflege-blog.de/wp-content/uploads/2019/07/Professionalisierung_Pflege_im_historischen_Kontext.pdf ) Googeln Sie gerne selbst einmal: Geschichte der Pflege.
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Pflege war und ist zum großen Teil immer noch ein helfender, ein selbstloser Dienst. Um Pflege wurde sich immer gekümmert. Pflege hat nie gelernt, für sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu kämpfen, wie dies andere Berufsgruppen mühsam lernen mussten und auch gelernt haben. Es war gesellschaftlich nicht akzeptiert, dass Pflegende für ihre eigenen Interessen eintreten, und das ist noch heute sichtbar. Pflege agiert immer noch sehr zurückhaltend und umsichtig, wenn es um das Einfordern der eigenen Interessen und Bedürfnisse geht. Andere Berufsgruppen haben gelernt, dafür zu sorgen, dass sie gehört werden, ob der andere das nun will oder nicht.
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Es war gesellschaftlich nicht akzeptiert, dass Pflegende für ihre eigenen Interessen
eintreten, und das ist noch heute sichtbar.
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Die Pflege ist der sanfte Riese des Gesundheitswesens
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Die Mitglieder der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) zum Beispiel – die gerade einmal 40.000 Mitglieder bundesweit hat – legen sich nicht vor dem Bahnhof auf einen Platz. Sie legen in der Urlaubszeit für drei Tage den Bahnbetrieb in ganz Deutschland lahm. Mit einem solchen Streik können Arbeitgeber scheinbar aber umgehen. Am freien Markt verhandeln Arbeitnehmer und Arbeitgeber, zu welchen Bedingungen welche Leistungen erbracht werden. Dieser „Arbeitskampf“ trifft aber nicht nur den Arbeitgeber, sondern vor allem auch viele, davon nicht betroffene Menschen, wie z. B. die Reisenden der Bahn. Und ob diese Art der Durchsetzung eigner Interesse der richtige Weg ist, sei dahingestellt.
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Aber vielleicht kann die Pflege hier einen guten Mittelweg für sich finden. Den Pflegekräften fällt es immer noch schwer, sich als Berufsgruppe zu positionieren. Sicherlich hat sich da in den vergangenen Jahren sehr viel getan. Jedoch nutzen sie nicht ansatzweise die unübersehbare Machtposition, die sie allein aufgrund ihrer großen Zahl in Deutschland haben könnten. Laut Statista, ein deutsches Online-Portal für Statistik, gab es 2020 mehr als 1,1 Millionen Pflegefachkräfte, Hebammen und Rettungssanitäter in Deutschland. (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/243449/umfrage/anzahl-der-beschaeftigten-krankenschwestern-und-hebammen-in-deutschland/) Die Pflege ist der sanfte Riese des Gesundheitswesens, der mit mehr Selbstbewusstsein die notwendige Kompetenz und die Macht hätte, dieses Gesundheitssystem und damit verbunden die eigenen Arbeitsbedingungen auch zum Wohle der Patientinnen und Patienten aktiv mitzugestalten.
Werte der Pflege Welche Werte hat die Pflege, was denken Sie? Streichen oder ergänzen Sie gern!
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Die Werte der Pflege sind: • Barmherzigkeit • Sinn zu stiften • Fürsorge • Selbstlosigkeit • Demut zu zeigen • Leid zu lindern • Sicherheit zu bieten • Lebensqualität zu ermöglichen • Menschen zu helfen.
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Werte der Marktwirtschaft Welche Werte gibt es in der freien Marktwirtschaft? Was denken Sie? Vielleicht fallen Ihnen auch noch andere Werte ein, die Sie bei Ihrem Arbeitgeber oder den Unternehmen sehen, die am Pflegemarkt tätig sind. Schreiben Sie gern weitere dazu oder streichen Sie die, die Ihrer Ansicht nach nicht passen!
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Werte der Marktwirtschaft sind: • wirtschaftlich zu handeln • Gewinn zu erwirtschaften • Unternehmen langfristig zu sichern • gute Produkte anzubieten • Ressourcen optimal zu nutzen und einzusetzen • Arbeitsplätze zu sichern • Kundenzufriedenheit zu schaffen.
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Im Arbeitsalltag der Pflegenden treffen diese unterschiedlichen Werte unentwegt aufeinander, verbunden mit den jeweiligen konkreten Erwartungen. Die Pflegenden sehen sich so tagtäglich der Aufgabe gegenüber, beiden Wertesystemen voll zu entsprechen, was allerdings unmöglich ist.
An einem Bespiel will ich dies auf der folgenden Seite deutlich machen.
Vielleicht ist das mit ein Grund, warum immer wieder Pflegekräfte ihren Beruf aufgeben, weil sie das Gefühl haben, ihren eigenen Werten nicht mehr gerecht werden zu können.
Es nützt aber niemandem, wenn wir beim Helfen über unsere Grenzen gehen und am Schluss selbst auf Hilfe angewiesen sind.
Ziel kann es hierbei nicht sein, dass zukünftig am Pflegemarkt nur noch ein Wertesystem gilt. Vielmehr ist es die große Chance der Pflege, sich aktiv in die Diskussion einzubringen, um eine gute Balance zwischen den beiden Systemen zu finden.
Konkret möchte ich die beiden Werte „Helfen“ und „Wirtschaftlichkeit“ mit dem Wertequadrat betrachten: Beide Werte sind für sich gut, wertvoll und wichtig.
Ebenso schlecht wäre es aber auch, wenn wir aus Geiz mögliche Leistungen nicht erbringen würden. Durch das Wertequadrat wird erkennbar, dass es nicht um den einen richtigen Wert geht, sondern um das gemeinsame Finden der guten Balance. Sich in diesen Prozess aktiv einzubringen ist meines Erachtens die große Aufgabe der Pflege, um sich als eigenständige Berufsgruppe zu positionieren und das Gesundheitssystem der Zukunft als wichtiger Teil aktiv mitzugestalten.
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Helfen
Wirtschaftlichkeit
Selbstaufgabe
Geiz
Negative Übertreibung
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S C H LU S S W O R T
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Werte sind kein philosophischer Begriff, der mit unserem täglichen Leben kaum etwas zu tun hat. Sozusagen ein Luxusprojekt der Dichter und Denker im Elfenbeinturm. Nein. Werte bestimmen unser Denken, unser Handeln, unser Empfinden und Wohlbefinden – und dies immer und überall. Ob wir uns bewusst mit unseren Werten befassen oder nicht, sie sind die Grundlage, auf der wir die Welt um uns herum in Richtig und Falsch unterscheiden. Durch sie entstehen Erwartungen, die wir an unser Umfeld, unsere Mitmenschen und uns selbst haben. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, sind wir enttäuscht. Sie sind der alltägliche Kompass für unser Handeln, und wenn unsere eigenen Werte in Widerspruch zueinander geraten, kommen wir aus dem Gleichgewicht.
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Wir erkennen immer wieder, wie schwierig der tägliche Umgang mit unseren Werten und unseren Erwartungen ist. Dies liegt auch daran, dass wir diese so selbstverständlich für uns und für unser Umfeld voraussetzen. Wir gehen immer wieder davon aus, dass unsere Werte auch für alle anderen genauso gelten und alle diese auch kennen. Das ist aber leider nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. In einer offenen Welt, in der wir heute leben, kommt es immer häufiger vor, dass unterschiedliche Werte aufeinandertreffen.
Im Alltag kann es helfen, wenn wir … • uns die unterschiedlichen Werte bewusst machen • für andere Werte sensibel bleiben • bei Unstimmigkeiten prüfen, ob beide Seiten tatsächlich von den gleichen Grundlagen ausgehen • andere Menschen nicht voreilig bewerten und verurteilen • versuchen, eine gute Balance zu finden, statt darauf zu bestehen, was richtig oder falsch ist.
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Helfen als Machtfaktor Wenn man die vorigen Seiten liest, könnte man annehmen, dass Pflege mit Macht wenig zu tun hat. Es stellt sich die Frage, warum viele Pflegenden häufig Probleme mit den Begriffen „Kunde“ und „Dienstleistung“ haben. Pflege ist ein helfender Beruf. In einer Beziehung, in der einer der anderen hilft, ist der oder die Helfende immer in der machtvollere Position als der- oder diejenige, der geholfen wird. Dies war auch in der Pflege so, wie das folgende Zitat zeigt.
Wenn Pflege nun aber am freien Markt zum Produkt wird, das am freien Markt gehandelt wird, dann wird aus dem Helfen eine Dienstleistung, weil dafür bezahlt wird. Und damit geht die machtvollere Position des Helfenden auf denjenigen oder diejenige über, der oder die Dienstleistung empfängt. Aus dem Helfenden wird ein Dienender. So treffen nicht nur Wertesysteme aufeinander, es verschieben sich auch grundlegend die Machtverhältnisse am Bett von Patienten und Patientinnen. Nur ein Gedanke zum Schluss …
„Auch die komplexe Beziehung zwischen Pflegekraft und Pflegebedürftigem war divergent gegenüber der heutigen Zeit: Sie war geprägt von einer Weisungsbefugnis gegenüber den zu Pflegenden, einer widerspruchslosen Akzeptanz von Anordnungen der Pflegekraft und einem absoluten Abhängigkeitsverhältnis.“ (https://ak-pflege-blog.de/wp-content/ uploads/2019/07/Professionalisierung_Pflege_im_historischen_Kontext.pdf )
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Autor Dr. (phil.) Hans-Jürgen Wilhelm arbeitet seit 30 Jahren als Einrichtungsleiter, Geschäftsführer und Vorstand in der stationären Altenpflege. Als Soziologe, Philosoph und Wirtschaftsjurist kann er die Facetten der Werte in der Pflege aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Seine Bücher sind immer sehr anschaulich und praxisnah, aber nie belehrend geschrieben und unterstützen den Leser, die eigene Position zu finden.
Der Grafiker Tobias Kurtz ist Kommunikationsdesigner und Marketingberater mit langjähriger Erfahrung im internationalen Agenturgeschäft. Sein Spezialgebiet ist die Kommunikation im Gesundheitswesen, in dem es besonders gilt, erklärungsbedürftige Produkte und Dienstleistungen verständlich darzustellen. Er ist seit über 30 Jahren für zahlreiche Unternehmen gestalterisch und illustrativ tätig.
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Unser Tipp
... zum Thema Beziehungsgestaltung
Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz Expertenstandard in der Praxis anwenden Hans-Jürgen Wilhelm, Tobias Kurtz Jeder Mensch möchte sich gehört, verstanden, angenommen und zugehörig fühlen. Doch wie gelingt es Pflegekräften, dieses Bedürfnis bei Menschen mit Demenz zu stillen? Die passenden Antworten aus dem Expertenstandard bringt dieses Handbuch auf den Punkt. In klarer Sprache und mit erklärenden Bildern erfahren Pflege- und Betreuungskräfte anschaulich und gut verständlich, wie der Standard praktisch umzusetzen ist. Die fünf Stufen des Expertenstandards sind in die Punkte „Strukturen, Prozesse und Ergebnisse“ gegliedert und so noch besser in den Pflegealltag zu übertragen. Von der Erkennung der Demenz, Maßnahmenplanung, Information der Betroffenen, Durchführung beziehungsfördernder Pflege bis zu Erhalt und Förderung der Verbundenheit. 2020, 72 Seiten, Format: 17 x 24 cm ISBN 978-3-7486-0354-2, Best.-Nr. 21425 Auch als eBook (ePub) erhältlich.
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