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German Pages [228] Year 2007
Beiträge zur Individualpsychologie
Band 33: Ulrike Lehmkuhl / Heiner Sasse / Pit Wahl (Hg.) Wozu leben wir?
Ulrike Lehmkuhl / Heiner Sasse / Pit Wahl (Hg.)
Wozu leben wir? Sinnfragen und Werte heute
Mit 6 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 978-3-525-45014-7
© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marie-Luise Knopp Wenn Seele und Körper verrücktspielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Pit Wahl Die Entstehung des Gefühls für Sinn und Wert – Annäherungen an das Tagungsthema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Karl Heinz Witte Über den Sinn der Frage nach dem Sinn des Lebens. . . . . . . . . . 36 Ulrike Kahl Depression – eine Erkrankung unserer Zeit, die mit Sinnentleerung einhergeht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Ronald Wiegand Über das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Kurt Hemmer Tod und Lebenssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Gertrude Bogyi Moralische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Ursula Sauer-Schiffer Werte in der individualpsychologischen Beratung . . . . . . . . . . . 138
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Inhalt
Peter Kunz Effektives Management und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Michael Utsch Individualpsychologie der Religion und Spiritualität – Immanente und transzendente Deutungen des Gemeinschaftsgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Roland Lambrecht »Tu, was du nicht lassen kannst – lass nicht, was du tun kannst – tu nicht, was du lassen kannst – lass, was du nicht tun kannst«. Die Frage nach dem Sinn des Daseins und dem Wert des Machbaren in Zeiten der modernen Biowissenschaft und Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Vorwort
Ein Kinderbuch für den Start ins Leben, gestaltet von Wolf Erlbruch (2004)1, beantwortet die Frage »Wozu leben wir?« auf vielfältige und unterschiedliche Art und Weise. »Um Geburtstag zu feiern, bist Du auf der Welt«, sagt der Bruder. Eine riesenhafte, kleinkariert gemusterte Katze, geduckt in ein goldgelbes Kissen, sagt: »Zum Schnurren bist Du auf der Welt – höchstens noch zum Mäusefangen.« Ein Pilot, die Großmutter, ein Vogel, die Zahl 3, ein Stein, der Tod, ein Bäcker, ein Blinder, viele andere und schließlich die Mutter: Sie alle haben ihre Antwort gegeben, lauter nächste und fernere Anwesende auf Erden, die sich schon ein wenig besser auskennen als der Neuling, den sie begrüßen. Jeder steuert in schöner Beschränktheit bei, was seine Lebensexpertise hergibt; so weitet sich das Bild der Antworten über das Schöne, das Liebliche, die Wohltaten hinaus durchaus auch ins Ungemütliche aus: Ein Soldat sagt, man sei auf der Welt, um zu gehorchen, ein Boxer, um zu kämpfen. Und der Tod um das Leben zu lieben. Da kommt allerhand zusammen, so auch die Auskunft der Ente, sie habe überhaupt keine Ahnung. Diese Antwort lässt sich individualpsychologisch auslegen. Das Individuum lebt, um vorgegebene Entwicklungsstadien zu durchlaufen, um seine Notlagen in Beziehungen zu überwinden; es geht um Sicherheit und Wohlbefinden auf Basis einer stimmigen Wert- und Sinngebung in Beziehungen und in der Selbstregulation. Auch wir Erwachsenen stehen vor großen Herausforderungen: Arbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeiten, zunehmende rechte Gewalt, Konflikte und Schwierigkeiten in der Ausbildung von Kindern und 1 Erlbruch, W. (2004). Die große Frage. Wuppertal: Peter Hammer Verlag.
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Vorwort
Heranwachsenden, unlösbar erscheinende finanzielle Krisen, sowohl in der Sozial- als auch in der Gesundheitspolitik, bestimmen die nationalen Diskussionen. International fordern die Chancen und Risiken der Globalisierung, die Fragen der Umweltzerstörung, die ungerechte Verteilung von Ressourcen, die schon lange währenden internationalen Konflikte und Kriege ebenfalls eine Beantwortung der Frage des Wozu. Wenn es, wie die Individualpsychologie aufzeigen konnte, darum geht, dass sowohl der Einzelne als auch die Gesellschaft immer wieder mobilisiert wird, Notlagen, Unerträglichkeiten, Ungerechtigkeiten und Ängste zu überwinden, dann rücken heute mehr denn je die Fragen der Selbst- und Fremdschädigung bei diesen Überwindungsversuchen in den Vordergrund. Auch deshalb ist die Sehnsucht nach »den alten Werten« groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Will der Mensch seine Welt lebensgerecht durchschauen und gestalten, braucht er ordnende Systeme, die die Vielfalt des Lebens klären. Er benötigt Prinzipien, was gutes Leben sein darf. Baltes (1993)2 stellt fest, dass wir Darwins Gedankensystem brauchen, um zu begreifen, wie die Menschen leben, und Kants Gedankensystem, um zu erkennen, wie sie leben sollten. Während über den Sinn des Lebens schon Laotse, Aristoteles und Seneca, um nur einige zu nennen, nachgedacht haben, tauchte der Wertbegriff in der Philosophie sehr viel später auf. Der Wertbegriff entstammt ursprünglich den Wirtschaftswissenschaften. Er wurde verwendet für die Bezeichnung der Gebrauchs- und Tauschwerte der Waren und Güter (Häfner, 1960)3. Schließlich fand sich der Begriff auch in der Psychotherapie wieder. Allers (1929)4 meint, dass eine Analyse des menschlichen Tuns ohne die Anwendung des Begriffes »Wert« unmöglich sei.
2 Baltes, P. (1993). Lebenstechnik: Eine kritische Theorie des Alltags. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 3 Häfner, H. (1960). Das Wertproblem in der Neurosenlehre. In E. Frankl, V. E. von Gebsattel, J. H. Schultz (Hrsg.), Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie. Band V (S. 605-626). München: Urban & Schwarzenberg. 4 Allers, R. (1929/1970). Das Werden der sittlichen Person. Nachdruck. Hildesheim u. New York: Georg Olms-Verlag.
Vorwort
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Entsprechend ihrer mehr final orientierten Einstellung hat die Individualpsychologie früh werttheoretische Gesichtspunkte übernommen. Die Freiheit der Entscheidung und der Verantwortlichkeit für die Verwirklichung allgemeingültiger Werte wurde von zahlreichen Autoren der Individualpsychologie (z. B. O. Spiel, Ringel, van Luk u. a.) betont. 1931, also vor über 75 Jahren, hat Adler seine Schrift »What life should mean to you« veröffentlicht, die später unter dem Titel »Wozu leben wir« in deutscher Sprache publiziert worden ist. Was ist aus diesen Gedanken zu Beginn des dritten Jahrtausends geworden? Jede Autorin, jeder Autor hat versucht, mit ihrem/seinem Beitrag die Frage zu beantworten. Die Ausgangspunkte können unterschiedlicher kaum sein: Sie reichen von der Philosophie über die Soziologie und Psychiatrie und Psychotherapie bis hin zu Erwachsenenbildung, Management und Religion. Der vorliegende Band ist ein Versuch, Sinn- und Wertfragen der Jetzt-Zeit unter verschiedenen Aspekten aufzuzeigen und damit weitere Diskussionen anzuregen auf der Suche nach neuen Antworten. Ulrike Lehmkuhl Heiner Sasse Pit Wahl
Marie-Luise Knopp
Wenn Körper und Seele verrücktspielen
When body and mind go mad In both psychic and physical crises, reading and writing fulfil a variety of functions. They are recognized as a curative method already in early cultures, as well as in depth psychology. Projects in the pediatric psychiatry and the pediatric hospital of the Heinrich Heine University at Düsseldorf are here used as examples to demonstrate the therapeutic significance of reading and writing. Through two journals, four books and numerous public readings, young people have sought to provide information and receive recognition. In the following contribution, the author reports how over the years she has encouraged children and adolescents in crisis situations to write and to present their texts to a wider public. The selected texts, by Dilek, Julia, Mareike and Thomas, were mostly written during their crises. Their dealing with this, their own interpretations at the readings prove their maturity, growth and healing. Some of the texts also show a highly developed ability to aestheticize.
Zusammenfassung Schreiben und Lesen in psychischen und physischen Krisen erfüllt vielfältige Funktionen. Bereits in den Frühkulturen sowie in der Tiefenpsychologie wird es als heilsame Methode anerkannt. Die Autorin dokumentiert am Beispiel der Projekte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Kinderklinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf die therapeutische Bedeutung des Lesens und Schreibens. Mit zwei Zeitschriften, vier Büchern und unzähligen Lesungen innerhalb von elf Jahren bemühen sich junge Menschen um Aufklärung und Anerkennung. In dem folgenden Beitrag berichtet die Autorin darüber, wie sie Kinder und Jugendliche in Krisensituationen über viele Jahre hindurch ermutigt hat, zu schreiben und ihre Berichte einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Die hier ausgewählten Texte von Dilek, Julia, Mareike und Thomas entstanden größtenteils während ihrer Krisen. Ihr Umgang damit, ihre eigene Interpretation auf den Lesungen beweisen Reife, Wachsen und Gesundung. Außerdem zeigen sie zum Teil einen hohen Grad an Ästhetisierung.
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Marie-Luise Knopp
»… NORMAL ist, wenn die Sonne scheint, der Regen weint, der Wind an den Bäumen rüttelt […] – VERRÜCKT ist, wenn die Sonne weint, der Regen scheint und der Wind an den Menschen rüttelt [...]« (Ansgar, 19 Jahre, zit. in Knopp u. Napp, 1995).
Und der Wind hat nicht gerade zaghaft an den jungen Menschen gerüttelt, die mutig auf der Lesung in Delmenhorst ihre Geschichten vorlasen und offen über Gründe, Hintergründe und Verlauf ihrer psychischen oder physischen Erkrankungen sprachen. Die Berichte sind keine konstruierten Kunstprodukte und dienen nicht dazu, voyeuristische Interessen zu wecken, sondern sie sollen eine Brücke bauen zu dem sogenannten normalen Leben. Mit den Fragen, ob man, wenn die Seele überläuft, total durchgeknallt oder reif für die Klapse ist, oder ob man über Umwege, Irrwege doch noch zu eigenen Wegen findet – mit diesen und vielen anderen Themen beschäftigen sich die jungen Autoren in den von uns herausgegebenen Büchern »Wenn die Seele überläuft« (Knopp u. Napp, 1995), »Reif für die Klapse?« (Knopp u. Napp, 1997), »Irrwege, eigene Wege« (Knopp u. Heubach, 2001), »Total durchgeknallt« (Knopp u. Ott, 2002). Begonnen hat alles 1991, als wir in der Schule der Kinder- und Jugendpsychiatrie Düsseldorf die Zeitschrift »Klapse« herausgegeben haben. Mit dieser Zeitschrift wollten wir die Kinder- und Jugendpsychiatrie transparenter machen und Menschen ermutigen, einen Blick hinter die Klinikmauern zu wagen, Tabus brechen, aufklären, Vorurteile abbauen, Menschen sensibilisieren für die Probleme der Kinder und Jugendlichen in psychischen Krisen und Menschen mit ähnlichen Problemen ermuntern, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Arbeit an unserem Zeitungsprojekt wurde zu einem festen Bestandteil des Stundenplanes. Auch im Deutschunterricht bekam für mich das freie Schreiben, die Begegnung mit der eigenen »Literatur« einen wichtigen Stellenwert. Es entstanden Texte wie der folgende von Tanja, die nach vielen Irrungen und Wirrungen doch noch ihren Weg gefunden hat. Sie studiert inzwischen Politik und hat sich ein sicheres Netz aufgebaut, das sie jederzeit auffängt, sollte sie wieder einmal vom Wege abkommen.
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In dem Text schreibt sie in schonungsloser Offenheit, wie sie ihren Selbstmordversuch geplant und vorbereitet hat:
Damit sie wissen, dass es mich gibt (Tanja, 23 Jahre) »Schon lange zuvor hatte ich mich über Schlaftabletten informiert. Bei der Wahl der Tabletten achtete ich auf drei Eigenschaften: Die Tabletten mussten ohne Rezept erhältlich sein, schnell wirken und möglichst keinen langsamen, qualvollen Tod zur Folge haben. Außerdem durfte ihr Name nicht schwer auszusprechen sein [...] Als ich so durch die Stadt lief, war ich wie in Trance, ich lief an allen Apotheken vorbei und traute mich nicht hinein. Ich hatte das Gefühl, man könne es mir ansehen, dass ich mich umbringen wollte [...] Ich hatte immer das Gefühl, von keinem akzeptiert und geliebt zu werden, weder in der Schule noch zu Hause. Für meine Freunde war ich nicht wirklich wichtig. Zu Hause merkte niemand, wie es mir wirklich ging, aber ich wollte auch nicht, dass sie es erfuhren, dass sie sich Sorgen machten. Es sollte alles so bleiben, wie es war, es würde nicht auffallen, wenn ich nicht mehr da wäre. Das Leben würde so weitergehen, bloß ohne mich, meine Abwesenheit würde nicht auffallen [...] Mit den Tabletten in der Hand war ich mir meines Entschlusses wieder sicher, alle Zweifel waren wie weggeblasen. Ich wollte nach Hause gehen, die Tabletten nehmen, mich in mein Bett legen, einschlafen und nie wieder aufwachen. So war mein Plan. Aber eine Sache musste ich noch erledigen: Ich hatte meiner Therapeutin versprochen, ihr Bescheid zu sagen, wenn ich mir irgend etwas kaufen würde mit der Absicht, mir zu schaden. Von einer Telefonzelle aus rief ich bei ihr in der Praxis an. Sie war nicht zu sprechen, sagte mir die Sprechstundenhilfe, ich solle es später noch mal versuchen oder sie könne mich nach ihrer Sitzung zurückrufen. Ich entschied mich für Letzteres. Anschließend fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Es war niemand da, mein Vater war arbeiten, meine Mutter bei ihrer Umschulung und meine Geschwister in der Schule. Ich nahm mir das Telefon mit aufs Zimmer, legte mich aufs Bett und wartete auf den Rückruf. Nach einer Weile war ich eingeschlafen, das Klingeln des Telefons ließ mich aufschrecken. Meine Therapeutin fragte, was los sei. Ich sagte ihr, was ich gemacht hätte und dass ich bloß mein Versprechen einhalten wolle. Natürlich war die Sache damit nicht erledigt, sie wollte, dass ich zu ihr in die Praxis komme, nur für ein Gespräch, und die Tabletten müsse ich auch nicht mitbringen. Wir vereinbarten eine Uhrzeit, 18 Uhr sollte ich bei ihr sein, ich musste ihr versprechen, bis dahin nichts zu machen, danach war das Telefonat beendet.
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Ich schaute auf die Uhr, es war bereits drei Uhr, erschrocken stellte ich fest, dass ich fast vier Stunden geschlafen hatte, meine Mutter müsste bereits da sein. Was sollte ich sagen, warum ich schon da sei und vor allem, warum ich nicht schon früher in die Küche gekommen bin? Langsam ging ich nach unten, mein Zimmer befand sich unterm Dach und die Küche zwei Etagen tiefer im Erdgeschoss [...] Völlig verunsichert kam ich bei meiner Therapeutin an. Ich erzählte ihr, was seit meinem letzten Termin bei ihr alles passiert sei und wie ich die Schule verlassen hätte, um mir Tabletten zu kaufen. Wir redeten lange, mindestens zwei Stunden, bis die alles entscheidende Frage von ihr kam, ob sie mich jetzt nach Hause gehen lassen könne, ohne dass ich mir bis zu unserem nächsten Termin etwas antäte. Ich konnte ihr nichts versprechen. Damit war so ziemlich alles entschieden. Ich konnte nicht für mein Leben garantieren und sie konnte und durfte mich nicht gehen lassen, es blieb nur noch die Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, da ich mich weigerte, mich meinen Eltern anzuvertrauen [...]« (unveröffentlichter Text, 2005).
Leider stehen Textanalysen, Reproduktionen, Übermitteln von Informationen im klassischen Deutschunterricht immer noch im Vordergrund. Während andere musische Fächer ihren Schwerpunkt auf das Gestalterische oder sinnlich Erfahrbare legen, wird der Sprache als künstlerisches Medium zu wenig Bedeutung beigemessen. Wenig hilfreich ist der starke Druck, orthographisch und grammatisch korrekt zu schreiben. Bereits in den Frühkulturen wurde der Sprache eine therapeutische Kraft zugeschrieben. Damals gehörten Begriffe wie Sprache und Heilung ganz untrennbar zusammen. Auch Goethe machte auf die therapeutische Wirkung des Schreibens aufmerksam. So schrieb er nach der Aufzeichnung seines »Werther«: »Ich fühle mich wie nach einer Generalbeichte, wieder fromm und frei und zu neuem Leben berechtigt. Das alte Hausmittel war mir diesmal vortrefflich zustattengekommen.« (Goethe zit. n. von Werder, 1996, S. 45). Ebenso wie in verschiedenen anderen psychologischen Richtungen erhielt auch in der Tiefenpsychologie das Schreiben eine wichtige Bedeutung. Die transpersonalen Kräfte wurden in der Geschichte des therapeutischen Schreibens bei Alfred Adler beispielsweise als Gefühl der Zusammengehörigkeit, des Gemeinschaftsgefühls verstanden. Überzeugt von der Bedeutung des therapeutischen beziehungsweise kreativen Schreibens und überrascht von der Resonanz, entschied
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ich mich, das Schreiben in psychischen Krisen zu erweitern. So habe ich an Nachmittagen eine Schreibwerkstatt als Arbeitsgemeinschaft angeboten. Das Interesse hat mich überrascht. In der kleinen Gruppe herrschte eine vertrauensvolle Atmosphäre. Hier haben sich junge Menschen getroffen, die sich durch ihre Problematik verbunden fühlten. Die jungen Autoren hatten hier die Möglichkeit des Austausches, des Verstanden-, Aufgefangen- und Angenommenseins sowie die Gelegenheit der kritischen Reflexion. Für uns Lehrer war ein behutsamer, sensibler Umgang mit den Texten erforderlich. Wir entschieden gemeinsam mit ihnen, wenn erforderlich auch mit dem Arzt oder Therapeuten, wann ein Text veröffentlicht werden konnte oder nicht. Die Texte wurden von uns nicht interpretiert oder analysiert, wir haben lediglich Anregungen und Hilfestellungen gegeben. Es entstanden Texte in den unterschiedlichsten Formen und Gattungen, angefangen von Gedichten, Berichten bis hin zu Autobiographien, Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Essays und der schützenden Form des Märchens mit den unterschiedlichsten literarischen Qualitäten, erzählend, berichtend, satirisch, zum Teil sogar philosophisch (vgl. Knopp u. Ott, 2002, S. 168). Julia wählte beispielsweise in »Irrwege, eigene Wege« die Form des Briefwechsels mit ihrer Mutter, als sie über ihren jahrelangen Kampf gegen Magersucht und Bulimie berichtete (S. 29). Einige Jahre später schrieb sie unter anderem den Text »Das Mädchen«, der ein Beweis dafür ist, dass sie trotz großer anfänglicher Schreibhemmungen ihren eigenen Stil gefunden hat. Er zeigt weiterhin, wie aus dem Schreiben in Lebenskrisen Literatur werden kann. Außerdem beweist sie mit diesem Text, dass sie sich mehr und mehr von ihrer Problematik entfernt hat. Mit ihrem Umzug nach Leipzig hat sie sich auch räumlich aus ihrer verstrickten MutterTochter-Beziehung gelöst. Seit einigen Jahren studiert Julia an der Hochschule für Bildende Kunst in Leipzig Fotografie.
Das Mädchen (Julia, 24 Jahre) »Hochsommer, was wünscht sich ein 16-jähriges Mädchen mehr als in der Sonne zu liegen, im Schwimmbad mit den Jungs zu flirten, um später auf ein Date ins Kino zu gehen.
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Die Straßen sind noch warm von der Sonne des Tages, in der Ferne färbt sich die Luft gelb, es wird Gewitter geben. Eine Frau geht vorbei: ›Geht’s dir gut? Und deinen Eltern?‹ – ›Ja, ja, und selbst?‹ – ›Es muss, es muss – das Leben das muss …‹ Gut gehen, glatt gehen, immer lächeln, es muss. Was sind deine Träume? Sag sie mir! Ich frage mich täglich nach meinen, was passiert, wenn es sich ausgeträumt hat? Du spürst, wie du mit dir und deinem Körper aufprallst, wie träge Masse auf hartem Stein, ein schwerer, staubiger Sack. Und das ist sie, die Realität – und du klebst auf einmal an ihr, schwer und unbeweglich. Kein Vor und kein Zurück, kein Traum – Oben und Unten ist alles, was es gibt, zumindest in diesem Moment. Los sag’s mir, es wird Gewitter geben, und wenn ich nicht weiterkomme, fürchte ich hier zu zerfließen, in den steinharten Untergrund zu sinken und Teil von ihm zu werden, überfahren und vollgetrampelt, beworfen, beklebt, bepisst, bespuckt. Sag mir deinen Traum! Vergessen, vergessen. Es muss, es muss. Das Leben – es muss. Es muss ihn irgendwo doch geben, noch in dir. Jeder trägt einen Traum in sich, lass mich in deinem Traum leben, leben in ihm. Zeig, wie du das machst, dass es möglich ist, nimm mich mit, ein Stück, auch wenn es schwer ist mich hochzuziehen. Ich sehe sonst nichts. Es tut mir leid. Meine Freunde, Mama, mein Liebster. Enttäuscht, Ent-täuscht. Täuschung ist nicht mehr möglich, wenn du mir zeigst, dass du mich nicht mehr verletzt. ICH kann mich verletzten, ich will das auch. Erst, wenn ich Verletzungen nicht mehr spüre, dann bin ich taub, tot … Gib mir Kraft zu sagen, was ich will, und zu spüren, was dich bewegt. Es gibt Mädchen, die an einem Sommernachmittag im Dunkeln sitzen, um die Schreie und die Blicke nicht spüren zu müssen. Mädchen verletzen sich selbst, um zu spüren, ob sie noch fühlen können nach den Verletzungen, die ihnen widerfahren sind. Mädchen, die durch Kaufhäuser ziehen und Lebensmittel klauen, um sie zu Hause wieder auszukotzen. Mädchen, die für alle kochen, außer für sich selbst. Und um sie herum? Steht die Welt Kopf oder sie hält die Klappe. Hilflos, hilflos, die Schreie, all das sind Schreie, aber wie in einer Käseglocke erreichen sie nicht die Ohren. Manchmal sind die Schreie noch da, ich höre sie, die Mädchen, die Frauen … Es muss … ja, ja!!! Es gibt Tage, da formen sich meine Lippen. Meine Gedanken kreisen heute noch immer, alles beginnt sich zu verändern, der Horizont entfernt sich und ich spüre da so etwas. Dann hörst du mir zu, hörst auch die unausgesprochenen Worte. Ich muss dann nicht mehr schreien. Hör zu, hör zu. Sieh hin, sieh hin, sprich aus, sprich aus, was dich bewegt. Keine Schreie, die zerstören, keine
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Schreie mehr … Ich schreie vor Glück oder Trauer oder vor Wut. Es muss nicht. Ich sage dir, mein wahrgewordener Traum ist: Ich höre niemals auf zu träumen …« (unveröffentlichter Text, 2005) »[…] Wir erzählen, um gehört zu werden, aber auch, um mal frei zu haben von der eigenen Geschichte. Sie einfach ins Bücherregal zu stellen – vielleicht bis zur nächsten Lesung …« (Christiane, zit. in Knopp u. Heubach, 2001, S. 85).
»Wenn lesend oder schreibend neue Lebensperspektiven entwickelt werden, erfüllt Literatur die Funktion von Ablösung beziehungsweise Neuorientierung. Der kreative Prozess erlaubt nicht nur die Auseinandersetzung mit Vergangenem und Gegenwärtigem, sondern vermag auch neue Sichtweisen, zukünftige Möglichkeiten vorwegzunehmen« (Koch u. Keßler, 1998, S. 68). Das Sich-beschäftigen-Müssen mit der eigenen Geschichte, die Konfrontation und Auseinandersetzung mit ihr, das Gehört-, Angenommen- und Ernstgenommenwerden, Anerkennung und Mitgefühl und eine besondere Förderung des Gemeinschaftsgefühls waren Motivation genug für die jungen Autoren, sich an Lesereisen zu beteiligen. Wenn es ihnen dann auch noch gelingt, sich mit Hilfe des Schreibens und Lesens so weit von ihrer Problematik zu entfernen, dass sie ihre Geschichte einfach ins Bücherregal stellen können, dann haben wir unsere Ziele erreicht. Weil wir von der therapeutischen Bedeutung sowie von der Notwendigkeit der Aufklärung überzeugt sind, fahren Frau Wennemer und ich seit nun schon elf Jahren mit den unterschiedlichsten jungen Autoren quer durch Deutschland, um aus den Büchern zu lesen. Wir lesen an den unterschiedlichsten Orten, wie zum Beispiel in Buchhandlungen, Büchereien, Gemeindehäusern, Kliniken, Universitäten, Fachhochschulen, Schulen, Kirchen, auf Buchmessen, Kongressen … Von Anfang an dabei war Thomas, der auch an allen vier Büchern mitgeschrieben hat. Über seine Eindrücke und Gefühle bei Lesungen schreibt er Folgendes:
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Seit der ersten Lesung dabei (Thomas, 27 Jahre) »Es ist 18 Uhr, und die Lesung kann beginnen. Der Gastgeber bittet um Ruhe. Eine leichte Spannung macht sich breit. Nach der Anmoderation des Gastgebers beginnt der erste Teil unserer Veranstaltung: Wir lesen aus unseren Büchern. Von diesem Moment an sind die Zuhörer sehr aufmerksam und besonders ernst. Das Publikum fühlt mit. So ziemlich am Schluss bin ich an der Reihe. Aber mein Text ist anders – lustig, amüsant und selbstironisch. Also, warum darf ich dann meine Geschichte nicht auch amüsant schreiben? Schließlich ist ja doch noch etwas aus mir geworden, trotz Psychiatrie. Vor meinem Beitrag werden Texte über Selbstmord, Depression und Magersucht vorgelesen. Diese Geschichten sind natürlich keineswegs amüsant. Daher weiß das Publikum nicht genau, wie es sich bei meinem Text verhalten soll. Bei einem Text über Selbstmord zeigen die Zuhörer Betroffenheit und Mitgefühl. Über meine Erlebnisse während einer Psychose würden sie sich sicherlich am liebsten amüsieren. Aber sie denken, dass sich das in so einem Rahmen nicht gehört. Ich spüre, wie verunsichert sie sind und gebe manchmal die Erlaubnis zum Schmunzeln. Wenn ich über meine Vergangenheit lächeln kann, warum darf sich dann nicht auch das Publikum amüsieren? Neugierig werden die Lesungsteilnehmer auch, wenn wir über unsere Klinikschule inklusive Schülerzeitung und die Entstehung der Bücher erzählen« (unveröffentlichter Text, 2001).
Nun, mit 27 Jahren, ist er immer noch dabei, trotz verschiedener Ortswechsel, Studium, privater Bindung und Nebenjobs. Er ist überzeugt von dem Nutzen des Schreibens und der Lesungen – für sich und für die anderen. Nach meiner zwanzigjährigen Tätigkeit und nach erfolgreicher Antistigmaarbeit in der Schule der Kinder- und Jugendpsychiatrie durch Zeitung, Bücher, Lesungen wechselte ich in die Abteilung der Universitätskinderklinik. Die Umstellung war nicht einfach für mich. Nachdem ich junge Menschen jahrelang versucht habe zu ermutigen, wieder Freude am Leben zu haben, musste ich nun hilflos zusehen, wie diese Kinder und Jugendlichen um ihr Leben kämpften. Wenn auch für die Gesellschaft eine körperliche Erkrankung besser nachvollziehbar, verständlicher und akzeptabler ist, gab es auch für sie viele Probleme in ihrem sozialen Umfeld. Sie mussten sich ebenfalls gegen Stigmatisierung wegen körperlicher Auffälligkeiten, häufigen
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Fehlens in der Schule oder anderer Dinge wehren. Daher entschied ich mich, auch hier meine Antistigmaarbeit fortzusetzen. Mit Kollegen aus Klinik und Schule gab ich die Zeitschrift »Maske« heraus und wir führten einmal wöchentlich einen Projekttag durch, an dem es zu einem Zusammentreffen von physisch und psychisch Kranken kam. Kunstprojekte, Zeitungs- und Theaterarbeit oder gemeinsame Gespräche waren die Schwerpunkte unserer Aktivitäten. Es kam zu wertvollen Begegnungen mit einem therapeutischen Effekt. Später konnte ich auch junge Menschen mit körperlichen Erkrankungen dazu ermutigen, uns durch ihre Beiträge auf den Lesungen zu bereichern. Eine von ihnen war Mareike, die ich während ihres Praktikums auf der Krebsstation kennen lernte. Sie schrieb einen eindrucksvollen Text über ihren jahrelangen Kampf gegen den Krebs, und sie las auch unsere Bücher über junge Menschen mit psychischen Problemen. Auf ihrer ersten Lesung in Hamburg traf sie auf die bereits seit einigen Jahren in dieser Konstellation bestehende Lesegruppe. Anfangs fiel es ihr schwer, Verständnis für Tanjas Selbstmordversuche zu haben, wo sie verzweifelt um ihr Leben kämpfen musste. Aber nach engerem Kontakt zu der Gruppe sah sie ein, dass eine Seele ebenso krank sein kann wie Lunge, Herz oder ein anderes Organ.
Meine geschriebenen Worte schreien und werden gelesen (Mareike, 25 Jahre) »Mit neun Jahren begann für mich dieser Leidensweg, der viele Jahre dauern sollte. Es war im März 1990, als mich die Ärzte mit der Diagnose ›bösartiger Knochentumor im linken Oberschenkel‹, was so viel bedeutet wie ›KREBS‹, schockten. Für mich war es eine niederschmetternde Nachricht. Zunächst konnte ich es nicht glauben, dann reagierte ich mit Wut, ohnmächtiger Wut. Ich machte Ärzte und Schwestern für meine Krankheit verantwortlich, war wütend auf sie, sprach kein Wort mit ihnen. Jede Frage beantwortete ich nur mit ›Ich weiß nicht‹. Bisher war dieser Begriff KREBS für mich ganz weit weg. Meine Tante ist zwar kurz vorher an Krebs gestorben, aber sie war 72 und ich 9. Jetzt sollte ich mich mit meinen 9 Jahren mit dem Tod beschäftigen müssen, ich, die so gerne lebte, die bisher fröhlich und unbeschwert durchs Leben ging ?! Das konnte und wollte ich nicht begreifen. Ich wusste wirklich nicht, wie
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es weitergehen sollte. Für meine Familie war der Schock ebenso groß. Ich lebte mit meiner jüngeren Schwester und meiner Mutter allein, meine Eltern haben sich scheiden lassen. Mein Vater kümmerte sich nicht sonderlich um mich. Irgendwann landete ich dann in der Uniklinik Düsseldorf auf der onkologischen Kinderstation. Als ich die Station das erste Mal betrat, war ich sehr ängstlich. Ich sah überall Kinder mit Glatzen, die trotz ihrer lebensbedrohlichen Krankheit fröhlich durch die Gegend hüpften. Andere wiederum kotzten, jammerten und weinten. Es war das erste Mal, dass ich in ein Krankenhaus musste. Nach der ersten Chemo durfte ich nach Hause. Ich wartete in der Zeit auf das sogenannte Zelltief, das hieß Übelkeit, Erbrechen und entzündete Mundschleimhäute. Ich hatte solche Schmerzen, dass ich kaum noch essen oder trinken konnte. Die Blutwerte wurden in dieser Zeit immer schlechter. Immer wieder wurden Blutübertragungen erforderlich. In diesem Zustand war ich besonders anfällig. Ich musste sehr aufpassen, dass ich mich nicht ansteckte. So lief ich nur noch mit einem Mundschutz durch die Gegend. Das war mir äußerst lästig. Ich wurde immer schwächer und hatte zu nichts mehr Lust. Als das Zelltief überstanden war, ging die Chemotherapie weiter. Im Juni 1990 wurde der Tumor aus meinem Bein herausoperiert. Durch die Chemotherapie war er viel kleiner geworden, und zum Glück musste nicht das Bein amputiert werden. Man implantierte mir eine sogenannte Wachstumsprothese. Auf jeden Fall hatte ich Glück im Unglück. Als ich nach der Operation aus der Narkose aufwachte und meinen linken Fuß noch spürte, war ich überglücklich. Die Wunden verheilten recht gut und ich konnte bald auf Krücken laufen [...] Zum Glück stabilisierte sich mein Immunsystem schnell, und ich durfte Ende Januar wieder in die Schule. Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich fest daran, dass ich den Krebs besiegt hatte, aber hunderprozentig sicher konnte ich nicht sein. Auch die Ärzte konnten mich diesbezüglich nicht beruhigen [...] Dann erstellten die Ärzte einen neuen Behandlungsplan: Chemotherapie, Bestrahlung und Knochenmarktransplantation. Das hieß, dass auch Spülungen erforderlich waren, damit das Blut von den Chemikalien gereinigt werden konnte. Dann kam wieder ein Zelltief und letztendlich kam ich auf die Isolierstation, damit ich vor Infektionen geschützt war. Danach erfolgte eine radioaktive Bestrahlung und eine Ganzkörperbestrahlung. Vor dieser Behandlung hatte man mir Knochenmark entnommen, und das bekam ich jetzt am sechsten Behandlungstag durch eine Infusion wieder zurück. Das Ganze war knallhart: Hautverbrennungen, Durchfall, ständiges Brechen. So einen Zustand hatte ich bisher noch nie erlebt. Das war das schlimmste Zelltief, das ich mir je vorstellen konnte. Die Erinnerung an diese Zeit habe ich größtenteils verdrängt. Es war zu grausam. In dieser Zeit habe ich zum ersten Mal daran gedacht, dass es besser sei, nicht mehr zu leben.
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Erstaunlicherweise erholte ich mich sehr schnell. Etwa 21 Tage nach der Knochenmarktransplantation konnte ich auf eine andere Station verlegt werden. Und es ging richtig aufwärts. Ich konnte bald nach Hause entlassen werden. Ob damit die Behandlung abgeschlossen ist, weiß ich nicht. Aber trotzdem weiß ich, dass ich nicht ganz gesund bin. Es kann durchaus passieren, dass bei mir wieder neue Tumore auftreten. Wenn das wirklich passiert, dann habe ich kaum noch eine Chance. Das heißt schlicht und einfach, dass ich höchstwahrscheinlich sterben werde. Ab und zu denke ich daran, aber irgendwie habe ich inzwischen gelernt, nicht allzu weit nach vorne zu gucken und einfach im Heute zu leben. Viele ganz kleine Dinge sind mir wichtig geworden: morgens aus dem Fenster zu gucken und mich zu freuen, wenn die Sonne scheint. Oder ich freue mich mit meiner Mutter oder meiner Schwester, wenn sie Spaß haben. Ich lebe jeden Tag intensiv. Ohne meine positive Lebenseinstellung hätte ich die letzten Jahre bestimmt nicht überstanden. Es gab viele schöne Tage, und es wird noch viele schöne Tage geben. Das Wichtigste ist – ICH LEBE!!!!!!« (unveröffentlichter Text, 2005).
Mareike blickt inzwischen voller Optimismus in die Zukunft, sie hat mit 25 Jahren ein Diplom für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in der Tasche und wird nur noch durch ihre fehlenden Haare an ihre Krankheit erinnert. Auch Dilek, eine junge Frau von inzwischen 19 Jahren, begleitet uns seit einigen Jahren auf Lesungen. Durch ihre Krankheit Mukoviszidose ist sie in ihrem täglichen Leben stark eingeschränkt. Über ihr Leben mit der Krankheit schreibt sie Folgendes:
Mein Leben mit Mukoviszidose (Dilek, 19 Jahre) »Mein Leben mit Mukoviszidose bedeutet für mich, mich den ganzen Tag mit meiner Krankheit beschäftigen zu müssen, wie zum Beispiel Flüssignahrung durch den Butten am Bauch zu mir nehmen, Atemtherapie, Medikamente, Krankenhausaufenthalte, wenig Freizeit und immer die Frage: Wie lange noch??? Daher bedeutet Leben für mich kämpfen und hoffen, dass mir meine Krankheit Mukoviszidose eine Chance gibt, die vielen schöne Dinge des Lebens so lange wie möglich genießen zu können, hoffen darauf, dass mir mein Glaube, meine Familie, meine Freunde und mein Freund die Kraft geben durchzuhalten und dass sich trotz meiner Krankheit mein Berufswunsch – am liebsten Arbeit mit Kindern – erfüllt. Jeder Mensch ist verschiedenen Herausforderungen ausgesetzt, jeder hat
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seine Sorgen und Probleme. Nun liegt es an jedem selbst, wie er mit den Herausforderungen umgeht. Das Teilen der Sorgen ist für mich und für uns alle eine große Erleichterung. Vor allem wenn man Menschen kennt, die auch betroffen sind, die eine ähnliche Problematik haben und die um das Leben kämpfen müssen. Deshalb möchte ich auch meine Gedanken über meine Krankheit mit ihnen teilen.«
In der Öffentlichkeit bemüht sich Dilek sehr darum, die Symptome ihrer Krankheit, wie beispielsweise heftige Hustenanfälle und Atemnot, zu unterdrücken. Häufige Krankenhausaufenthalte, künstliche Ernährung, Atemtherapie und vieles mehr machen ein normales Leben für sie unmöglich. Stolz ist sie auf ihren Realschulabschluss, aber eine Berufsausbildung ist nur eingeschränkt möglich. Glücklich ist sie darüber, dass sie seit einem halben Jahr einen Freund hat, vor dem sie ihre Krankheit nicht verstecken muss, der zu ihr hält und ihr viel Kraft gibt. Bei ihrem letzten Krankenhausaufenthalt sprach eine Ärztin zum ersten Mal mit ihr über die Möglichkeit einer Lungentransplantation. Sie weiß, was das für sie bedeuten könnte, denn sie hat nach einem solchen Eingriff eine ihrer besten Freundinnen verloren. Aber trotz ihres ständigen Kampfes um Leben und Lebensqualität hat sie Verständnis für Menschen, die nicht mehr leben wollen. Sie ist der Meinung, dass sie sich gegenseitig helfen und unterstützen können. Thomas und Julia teilen diese Meinung. Nach einer gemeinsamen Lesung äußern sie sich folgendermaßen: »So unterschiedlich unser Leben, unsere Welten auch sind, so haben wir doch viele Gemeinsamkeiten. Für mich war die Lesereise in dieser Konstellation eine wunderbare Gelegenheit, meine Erfahrungen, Freude und Begeisterung weiterzugeben. Dilek ist 17 Jahre alt, genauso alt, wie ich zu meiner Psychiatriezeit war – 17 bei der Entlassung. Und sie spricht, denkt und fühlt ähnlich wie ich. Das hat mich so überrascht und bewegt. Diese Begegnung hat mir mit so drastischer Deutlichkeit klargemacht, was passieren kann, wenn ein Leben durch Krankheit aus der Bahn gerät. Egal, um welche Krankheitsursache es sich handelt, sei es zum Beispiel ein Virus oder ein Gendeffekt, Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen oder missbrauchen, Menschen, die andere seelisch verwunden. Ich habe damals in einem Interview das Gleiche gesagt wie Dilek heute: ›Ich hasse meine Krankheit, weil sie mir so viel genommen hat, und das ist unwiederbringlich, aber ich habe an Kraft gewonnen, letztendlich hat sie mir gezeigt, wie wertvoll jede Sekunde des Lebens ist‹« (Julia, 21 Jahre).
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»Für mich sind die Personen, die es geschafft haben, den Krebs zu besiegen, Vorbilder. Besonders Mareike. Nachdem ich in Hamburg Mareikes Geschichte gehört und sie persönlich kennen gelernt habe, beschloss ich meine Einstellung zur meiner eigenen Gesundheit zu ändern [...]« (Thomas, 23 Jahre).
Ein Briefwechsel zwischen einem am Leben fast zerbrochenen jungen Mädchen mit Selbstmordgedanken und einer jungen Frau, die mit 13 Jahren an Krebs erkrankt ist und einen harten Kampf ums Überleben hinter sich hat, verdeutlicht noch einmal die besondere Bedeutung des Zusammentreffens dieser jungen Menschen mit den unterschiedlichsten Krankheiten.
Briefwechsel zwischen Cordula (23 Jahre) und Wiebke (16 Jahre) »Liebe Wiebke, […] im Alter von 13 Jahren erkrankte ich an Krebs, mit einem Schlag veränderte sich mein gesamtes Leben. Ein ›normales‹, also ein altersentsprechendes Leben konnte ich nicht mehr führen […] Wer nun aber denkt, ich läge jammernd und leidend im Bett, der hat weit gefehlt […] Am meisten Kraft geben mir meine Mitmenschen. Meine Familie, meine Freunde und meine Ärzte lassen mich so viel Wärme spüren, dass die körperliche Krankheit und die innere Versteinerung einfach keine Chance haben. Schreiben ist mein Ventil. Ich kann mir all das Bedrückende wie auch die große Freude von der Seele schreiben, Gedanken sortieren, das Geschehene reflektieren oder einfach mal Dampf ablassen. Dabei nehmen Briefe eine ganz wichtige Funktion ein […], sie sind oft mein einziger Draht nach draußen […] Liebe Cordula, ob ich jemals so viel Freude am Leben haben werde wie du, […] das weiß ich noch nicht […] Ich könnte ein bisschen von deiner Lebensfreude und deiner Kraft gebrauchen. Körperlich geht es mir zwar gut, aber meine Seele ist krank. Oftmals habe ich mir die Frage gestellt: Wozu lohnt es sich überhaupt zu leben? Im Gegensatz zu dir hatte ich nie richtige Freunde. Auch eine Familie, die mich in schwierigen Zeiten auffing, hatte ich nie. Meinen Vater kenne ich nicht. Das Einzige, was ich von ihm weiß, ist, dass ich ihm egal bin. Seit 13 Jahren hat er sich nicht um mich gekümmert. Ich habe nur meine Mutter, und für sie fühle ich mich, obwohl ich erst
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16 bin, immer verantwortlich. Wenn sie etwas falsch machte, fühlte ich mich mitschuldig […] Um sie nicht zu belasten, konnte ich auch nicht mit ihr über meine Probleme reden. Und es gab niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. So wurde die Einsamkeit fast schon mein Freund. Warum man mich in der Schule immer gehänselt hat, weiß ich bis heute nicht. Von zwei angeblichen Freundinnen wurde ich missbraucht und ausgenutzt. Ich sah keinen Ausweg mehr, hatte nicht mehr die Kraft, mich zu wehren und rutschte immer tiefer in die Depression. Dieser schreckliche Zustand dauerte drei Jahre, bis ich mit 15 meinen ersten wirklich ernsten Selbstmordversuch verübte. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, weil du das Leben aus einer völlig anderen Perspektive siehst. Ich glaubte an nichts mehr, am wenigsten an mich selbst. Woher hast du in den zehn Jahren deiner Krebserkrankung immer wieder die Kraft genommen, an das Leben zu glauben? [...] Liebe Wiebke, […] ich weiß nicht, wie dein Weg aussehen wird und wann dir die Hindernisse und Sackgassen ein Wegstück zum Durchatmen ermöglichen. Ich kann dir auch nicht sagen, wie dieser Weg leichter zu bewältigen ist, oder welche Richtung du an einer Weggabelung einschlagen musst. Aber ich kann mit dir gehen, in der Dunkelheit bei dir bleiben und kann dir, wenn du über einen der vielen Steine stolperst, beim Wiederaufstehen helfen. Lass uns doch einfach gemeinsam weiterwandern!« (Knopp u. Heubach, 2001, S. 63ff.).
Cordula hat ihre Krankheit besiegt, ein Studium abgeschlossen, dagegen hat es Wiebke leider nicht geschafft … Abschließend lässt sich festhalten, dass das Schreiben und Lesen in Lebenskrisen sowohl für Menschen mit einer psychischen als auch physischen Problematik bedeutend ist. Es ist zwar kein Therapieersatz, aber es sollte mit der entsprechenden psychologischen bzw. psychotherapeutischen Begleitung viel häufiger therapeutisch genutzt werden. Das Vorurteil, dass das Schreiben zu »verkopft« sei, stimmt nicht. Gerade junge Menschen lassen beim Schreiben ungehemmt ihren Emotionen freien Lauf. Es ist zu wünschen, dass neben der Musik, dem Tanz, dem Malen und dem Theater, die bereits ihre Anerkennung und Verbreitung in therapeutischen Verfahren gefunden haben, auch das Schreiben seinen Platz bekommt. »[…] schreiben, um den roten Faden des Lebens zu finden, schreiben, um Gedanken zu ordnen, schreiben, um Ordnung in das eigene
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Gefühlschaos zu bringen, schreiben, um sich auseinanderzusetzen mit dem eigenen Ich, um Emotionen auszulösen, schreiben, um zu kommunizieren, um etwas festzuhalten, Schreiben als Ventil […] oder schreiben, um einfach nur gehört zu werden […]« (Knopp, 1999, S. 7ff.) »Ich schreibe und mache aus einer medizinischen Diagnose eine Geschichte, ein spannendes Schicksal, ein lebendiges Leben zum Miterleben […] Ich befreie mich mit dem Stift aus dem Schweigen der Scham, ich urteile über entwürdigende Gewalt, zerstörerischen Zorn, menschenverachtende Verbrechen. Ich schreibe mich so, wie ich mir wünsche zu sein. Ich schreibe, wie ich Dinge tue, die ich mich sonst nicht traue. Meine geschriebenen Worte schreien und werden gelesen. Ich traue mich nicht es zu sagen, also schreibe ich es auf« (Katrin, 23 Jahre, zit. in Knopp u. Ott, 2002, S. 168f.)
Die Lesegruppe setzte sich zusammen aus Julia, Mareike, Dilek, Tanja, Thomas, Ursula Wennemer und Marie-Luise Knopp.
Literatur Knopp, M.-L., Napp, K. (Hrsg.) (1995). Wenn die Seele überläuft. Kinder und Jugendliche erleben die Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Knopp, M.-L., Napp, K. (Hrsg.) (1997). Reif für die Klapse? Frankfurt a. M.: Fischer. Knopp, M.-L. (1999). Den roten Faden des Lebens finden. Zusammen: behinderte und nicht-behinderte Menschen, 19 (4), 7-9. Knopp, M.-L., Heubach, B. (Hrsg.) (2001). Irrwege, eigene Wege. Junge Menschen erzählen von ihrem Leben nach der Psychiatrie (2. Aufl.). Bonn: Psychiatrie-Verlag. Knopp, M.-L., Ott, G. (Hg.) (2002). Total durchgeknallt. Hilfen für Kinder und Jugendliche in psychischen Krisen (2. Aufl.). Bonn: Psychiatrie-Verlag. Koch, H., Keßler, N. (Hrsg.) (1998). Schreiben und Lesen in psychischen Krisen. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Werder, L. von (1996). Einführung in das kreative Schreiben. Milow: SchibriVerlag. Die unveröffentlichten Texte sind für unser neues Buchprojekt mit dem Arbeitstitel »Spinnweben in meinem Kopf« bestimmt.
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Die Entstehung des Gefühls für Sinn und Wert – Annäherungen an das Tagungsthema
Development of Meaning and Values – Approaching the Subject of the Conference Adler’s text »What Life Should Mean to You« was published in 1931 and was translated into German not until 1979 (»Wozu leben wir?«, »What do we live for?«). The following contribution recapitulates Adler’s arguments and thoughts and critically challenges Adler’s implicit claim of the universal validity of his answers as well as the implying moralizing tendencies of (de-)valuation. Approaching the subject of the conference in various ways the concepts of sense, meaning, and value(s) are analyzed with regard to the experience of meaningfulness and values that are deeply rooted in the early sensory-sensual development and in the interactions with the primary caregivers. It is argued that in the context of early attachment experience a »sense of one-self in relatedness” is developed, a formulation proposed by Robert Antoch (2001), that can be regarded as a more contemporary definition of Adler’s concept of »social interest” (»Gemeinschaftsgefühl«). Using Antoch’s term avoids moralizing tendencies and relates fundamental Adlerian thoughts in a more productive way with new scientific findings of empirical infant research, of object-relation-theories and self-psychology.
Zusammenfassung Adlers Schrift »What Life Should Mean to You« von 1931 wurde 1979 in deutscher Sprache unter dem Titel »Wozu leben wir?« veröffentlicht. Der folgende Beitrag zeichnet die Gedankengänge nach, die Adler in seinem Text darlegt und setzt sich kritisch mit dem impliziten Anspruch auf Verbindlichkeit und Gültigkeit der Antworten sowie der ihr innewohnenden Tendenz zur (moralisierenden) Be- und Entwertung auseinander. In einer Annäherung an das Tagungsthema über eine Untersuchung der Begriffe Sinn und Sinnhaftigkeit sowie Wert(e) und Werthaftigkeit wird auf die Verwurzelung des Sinn- und Werterlebens in der sinnlichen Entwicklung und in der Interaktion mit den primären Bezugspersonen verwiesen. Im Rahmen früher Beziehungserfahrungen bildet sich der »Sinn
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für das Selbstsein im Bezogensein«, eine Formulierung von Robert Antoch (2001), die als zeitgemäße Definition des Adler’schen Begriffs des Gemeinschaftsgefühls betrachtet werden kann und die es ermöglicht, die Adler’sche Position ihrer tendenziell moralisierenden Akzentuierung zu entkleiden und sie produktiv in Beziehung zu setzen zu neueren Erkenntnissen der empirischen Säuglingsforschung, der Objektbeziehungs- und der Selbstpsychologie.
»Wozu leben wir?« Die Überschrift der diesjährigen Jahrestagung »Wozu leben wir? – Sinnfragen und Werte heute« greift im ersten Teil den Buchtitel des 1979 erstmals in deutscher Sprache erschienenen Werkes von Alfred Adler auf, das 1931 in englischer Sprache unter dem Titel »What Life Should Mean to You« publiziert wurde und ergänzt ihn durch eine aktuelle Fragestellung. »Wozu leben wir?« Wie Wolfgang Metzger, der Herausgeber der Publikation von 1979, in seinem Vorwort darlegt, kann die Adler’sche Schrift von 1931 als das dritte Glied einer Reihe von Einführungen beziehungsweise allgemeinen Übersichten über seine Lehre angesehen werden. Die vier Publikationen sind: »Menschenkenntnis« (1927), »Science of Living« (1929), »What Life Should Mean to You« (1931) und schließlich »Der Sinn des Lebens« (1933). Die Übersetzung des Titels »What Life Should Mean to You« erwies sich als schwierig. Eine mögliche und als geeignet erscheinende Variante »Der Sinn des Lebens« war bereits für die Publikation von 1933 vergeben. Eine andere, ausführlichere Variante wurde erwogen: »Was können wir tun, damit wir und unsere Kinder und Mitmenschen den Sinn des Lebens nicht verfehlen, und wie können wir ihnen, wenn sie ihn schon verfehlt haben, dazu verhelfen, zu ihm zurückzufinden?« (Metzger, 1979, S. 7). Diese für einen Titel als zu lang befundene inhaltliche Zusammenfassung des Buches lässt die erzieherische Intention der Adler’schen Schrift deutlich zutage treten. Der schließlich gewählte Buchtitel »Wozu leben wir?«, der als Hauptüberschrift für die diesjährige Jahrestagung gewählt wurde, charakterisiert und akzentuiert das Adler’sche Denken, das vor allem den zielgerichteten, finalen, teleologischen Kräften seelische Gestaltungskraft zuschreibt. Dieser Titel hat außerdem den Vorteil, dass er
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die Suche nach dem Sinn des Lebens als offene Frage formuliert. Auf diese Weise sind wir nicht aufgefordert oder gar gezwungen, endgültige Antworten zu geben – wir können vielmehr gemeinsam nach zeitgemäßen und aktuell passenden Antworten suchen. Betrachtet man die Antworten, die Adler in seiner Veröffentlichung von 1931 selbst gegeben hat, so stellt man fest, dass er wie auch in anderen Arbeiten zunächst von eher biologisch verankerten Grundannahmen ausgeht. Für ihn ergibt sich der Sinn des Lebens aus dem Umstand, dass das menschliche Leben und sein Fortbestand den »Einschränkungen des Planeten Erde« abgerungen werden muss. Aus diesem Postulat leiten sich vor allem drei Notwendigkeiten – Adler nennt sie auch Verpflichtungen oder Pflichten – ab: 1. die Notwendigkeit zu arbeiten, die Erde urbar zu machen, um die menschliche Existenz und ihren Fortbestand zu sichern, also die Aufgabe der Reproduktion des eigenen Lebens. 2. die Notwendigkeit zu Kommunikation und Kooperation. Menschen sind als Einzelwesen nicht überlebensfähig, sondern aufgrund ihrer teilweise mangelhaften biologischen Grundausstattung, ihrer Unzulänglichkeiten und ihrer Beschränkungen aneinander gebunden, zur Zusammenarbeit gezwungen, zur Gesellschaft und zur Gemeinschaft geradezu verdammt. 3. die Notwendigkeit zur Erhaltung der Art, also die Fortpflanzung, die Generativität oder auch die Reproduktion des fremden Lebens, die Paarung, verstanden als Aufforderung zu Partnerschaft und Liebe, Zeugung, Gebären, »Aufzucht« der und Fürsorge für die Kinder. Ausgehend von diesen Grundannahmen formuliert Adler Forderungen, die er für allgemeingültig hält, und kommt zu folgender Definition des Lebenssinns: »Leben heißt, Anteil zu nehmen an den Mitmenschen, Teil des Ganzen zu sein, nach Kräften zum Wohl der Menschheit beizutragen.« Oder an anderer Stelle: »Leben heißt Leistung für die Allgemeinheit.« Der Einzelne ist nichts ohne die und außerhalb der Gemeinschaft, die Entwicklung und Praktizierung von Gemeinschaftsgefühl wird zur zentralen Lebensaufgabe, zum Sinn und zum Ziel des Lebens selbst. Wer viel für die Gemeinschaft tut, hat den Sinn des Lebens erkannt und erfüllt, wer nicht, hat ihn verfehlt.
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Die Adler’sche Denk- und Argumentationsfigur geht also von eher biologisch bezogenen Grundtatsachen oder Grundannahmen aus, leitet hieraus Notwendigkeiten ab, die dann zu Forderungen und moralischen Wertungen führen. Auf diese Weise erscheint der Sinn des Lebens für alle verbindlich und konkret definierbar, man kann messen und ermessen, erkennen und sagen, wer ihn erfüllt oder verfehlt. Im einen Fall ist man ein guter Mensch, im anderen ein schlechter. Was bedeutet für uns eine solche Position in der pädagogischen, was bedeutet sie in der psychotherapeutischen Arbeit? Kann Adler in dieser Form für uns heute noch richtungweisend, noch aktuell sein? Besonders im klinischen und im psychotherapeutischen Bereich ist es wichtig, eine Haltung einzunehmen, die sich eigener Wertungen, die sich moralischer Vorgaben und Anforderungen weitgehend enthält, die sich vielmehr um Neutralität und Abstinenz bemüht. Sind deshalb Sinn- und Wertfragen in diesem Bereich überflüssig oder bedeutungslos? Das Gegenteil ist der Fall. Die Relevanz der Fragestellung und des Tagungsthemas für die klinische Arbeit ist auch heute gegeben. In zahlreichen, vielleicht sogar in allen psychotherapeutischen Behandlungen spielen Sinn- und Wertfragen eine bedeutende Rolle. Depressive Zustandsbilder sind fast immer mit Gefühlen von Sinnlosigkeit oder Sinnentleerung verbunden. Zweifel am eigenen Wert, am Wert des eigenen Lebens, Gefühle von Nutzlosigkeit, von Minderwertigkeit, von Wertlosigkeit begegnen uns ebenso wie ihre Abwehrformen in der therapeutischen Arbeit täglich. Wie aber können Adlers Grundgedanken und Kernaussagen auch im psychotherapeutischen Bereich und in analytischen Psychotherapien umgesetzt und genutzt werden, ohne ins Belehrende, ohne in konkrete Bewertung, in die Entwertung der jeweiligen Fehlentwicklung abzugleiten, ohne die Neurose, die Psychose, die psychische Störung zu diskriminieren? Auf der Suche nach Antworten auf diese Frage wende ich mich noch einmal dem Tagungsthema zu und untersuche zunächst die beiden Begriffe im Untertitel genauer: »Sinnfragen« und »Werte«.
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Sinnfragen Die These der Sinnhaftigkeit des seelischen Geschehens ist bis heute für alle psychoanalytischen Schulen ebenso anerkannt wie zentral. Sie stellt eine der Grundlagen aller psychoanalytischen Forschungsbemühungen dar. Allerdings haben Freud, Adler und Jung zum Teil ganz unterschiedliche Perspektiven bei der Erforschung der seelischen Sinnzusammenhänge eingenommen. Während sich Freud sehr ausführlich mit der Entstehung und der Organisation des intrapsychischen Apparats beschäftigt hat, erforschte Jung vor allem den Einfluss archetypischer und kollektiver Faktoren auf die menschliche Psyche. Adler wiederum untersuchte menschliches Erleben und Verhalten besonders unter dem Aspekt der Zielgerichtetheit. Bei aller Unterschiedlichkeit: Kein Analytiker, welcher Schule und Strömung er auch immer angehört haben mag oder angehört, hat jemals die Bedeutung der Sinnhaftigkeit des seelischen Geschehens und die Bedeutung der Sinnfrage für die menschliche Existenz, für die Herausbildung einer eigenen Persönlichkeit und für die psychische Gesundheit infrage gestellt. Wie aber entsteht und entwickelt sich ein Gefühl von und ein Bewusstsein für Sinn, für Sinnhaftigkeit? Das Wort Sinn ist sehr vielschichtig. Im Brockhaus (1989) wird der Begriff wie folgt definiert: »Sinn, ein durch zahlreiche Bedeutungen gekennzeichneter Begriff, dessen Vielfalt sich 1) auf die Wahrnehmungen, 2) auf geistige Gehalte, 3) auf das Handeln des Menschen und die Deutung seiner Umwelt und 4) auf das Selbstverständnis individuellen Lebens bezieht« (S. 315). Die Entstehung eines Gefühls und eines Bewusstsein für Sinn und Sinnhaftigkeit ist also eng verknüpft mit der sinnlichen Entwicklung. Im Bereich der sinnlichen Entwicklung können wir unterscheiden zwischen Sinnen, die mehr mit dem Selbsterleben, der Selbstwahrnehmung und dem Körperspüren zu tun haben – Gleichgewichtssinn, Tasten, Schmecken und Riechen –, und Sinnen, die sich mehr auf die Wahrnehmung der Außenwelt beziehen – etwa Sehen und Hören. Auf der Grundlage sich entwickelnder Sinne bilden sich Denken und Gedächtnis, in enger Verbindung mit Trieben und Motiven. All diese Bereiche fügen sich in fortlaufender dynamischer Wechselwirkung zu einem sich allmählich entwickelnden Selbstgefühl, zu einem Selbstbild und schließlich auch zu einem Selbstwertgefühl zusammen.
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Dabei – so ist die adlerianische These ebenso wie die der Objektbeziehungstheorie und der Selbstpsychologie – kann sich das Gefühl für das eigene Selbst nur in der Interaktion, in der Beziehungserfahrung, im zwischenmenschlichen Austausch herausbilden. Nur wenn der Säugling und das heranwachsende Kind genügend positive und wachstumsfördernde Beziehungserfahrungen machen, wird sich bei ihnen ein Gefühl für die Sinnhaftigkeit und den Sinn des Lebens, für den eigenen Wert und den der anderen, entwickeln. Am Anfang steht also die Beziehung, der Austausch. Die menschliche Grunderfahrung der relativen Machtlosigkeit, des Angewiesenseins, der Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit wird gemildert durch die Fürsorge und Zuwendung (ausreichend) liebevoller und zugewandter Bezugspersonen, die – im positiven Fall – dem noch sehr abhängigen Menschen allmählich ein Gefühl für die eigenen Fähigkeiten, Potenzen, Kompetenzen und die eigene Wirkmächtigkeit ermöglichen. Die Akzeptanz und die Spiegelung der originären Lebensbewegungen (Heisterkamp, 1990), die liebevolle Begleitung bei der Bewältigung der jeweils anstehenden Entwicklungsaufgaben und die Freude über die sich vollziehenden Entwicklungsschritte – das alles ist basal sinnstiftend. Zusammenfassend kann man sagen: Es geht darum, einen Sinn für sich selbst und den anderen zu entwickeln, ein Bewusstsein der eigenen Abgetrenntheit und Individualität, ein Gespür für die Existenz und die Bedürfnisse der Mitmenschen, einen »Sinn für das Selbstsein im Bezogensein«. Die Formulierung »Sinn für das Selbstsein im Bezogensein« ist Robert Antochs Definition von Gemeinschaftsgefühl (Antoch 2001). In dieser Definition von Gemeinschaftsgefühl ist das Selbstsein dem Bezogensein gleichberechtigt beigeordnet. Selbstsein und Bezogensein sind miteinander verbunden, Selbstgefühl und Gemeinschaftsgefühl bedingen einander. Außerdem sind diese beiden Erlebnis- oder Seinsformen mit dem (mehrdeutigen) Begriff des »Sinns« verknüpft. Diese Definition von Gemeinschaftsgefühl ist beschreibend, nicht bewertend und daher offen für eine verstehende Betrachtung und eine um Verständnis bemühte Haltung. Sie öffnet den Blick für die im Bereich der Psychoanalyse so wichtige Frage nach der Genese und der Entwicklung dieses zentralen seelischen Bereichs von frühester Kindheit an.
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Zur Frage, wie sich der »Sinn für das Selbstsein im Bezogensein« herausbildet, wie er gefördert oder gestört werden kann, haben einige Fortentwicklungen der freudschen Auffassungen und Theorien, besonders die Objektbeziehungs- und die Selbstpsychologie, aber auch die neuere empirische Säuglingsforschung, eine Vielzahl von überzeugenden Hypothesen, Antworten und Forschungsergebnissen zusammengetragen. Sie lassen sich – ganz ohne moralische Wertungen – an dieser Stelle einfügen.
… und Werte Wie entwickelt sich ein Gefühl, ein Sinn für Werte und Werthaftigkeit? Wie und unter welchen Umständen entsteht Selbstwertgefühl? Was ich über die Entstehung eines Gefühls und eines Bewusstsein für Sinn und Sinnhaftigkeit gesagt habe, gilt in ähnlicher Weise für die Entwicklung eines Gefühls für Werte und Werthaftigkeit. Auch hier steht am Anfang die Beziehung. Allerdings spielen explizite Werte in den ganz frühen Phasen menschlicher Entwicklung, in der pränatalen beziehungsweise in der Phase der vorsprachlichen Entwicklung – für den Fötus und den Säugling selbst – wahrscheinlich keine nennenswerte Rolle. Als durchaus bedeutsam dagegen kann – als Voraussetzung späterer Differenzierungs-, Erlebnis- und Bewusstseinszustände, als Voraussetzung einer späteren Entwicklung von Wertempfinden, Werterleben und Wertbewusstsein – auch hier die Form der Spiegelung und der Resonanz gelten, die Föten, Säuglinge und Kleinkinder hinsichtlich ihrer spontanen Lebensbewegungen erfahren. Dabei ist es wichtig, dass den jeweiligen Äußerungen ein selbstverständliches und autonomes Existenzrecht zugestanden wird – und zwar unabhängig davon, ob es sich um expansive oder regressive Impulse handelt, um Bedürfnisse nach Stimulation oder nach Beruhigung, um Gefühlsäußerungen, die mehr dem positiven oder dem negativen Gefühlsbereich zuzuordnen sind. Nicht ihre Bewertung ist entwicklungsfördernd, sondern der Umstand, dass sie registriert und beachtet, dass sie gespiegelt, angenommen, beantwortet oder auch eingegrenzt werden. Wenngleich dies grundsätzlich für alle Impulse, Bewegungen und Gefühle gilt, so erscheint
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mir das Mitschwingen in den Bereichen, in denen es um positive Erlebnisqualitäten geht, für die Herausbildung eines basalen positiven Selbstbezuges und Selbsterlebens von besonderer Relevanz. Ich möchte in diesem Kontext vor allem auf die Arbeiten von Günter Heisterkamp (1999, 2000, 2003) verweisen, der wie kein anderer auf die Rolle der Lust und der Freude in frühen und späteren Entwicklungsprozessen wie auch in der Psychotherapie hingewiesen hat. Die Bedeutung der eigenen und der geteilten Freude, etwa über das bloße Dasein eines anderen Menschen, aber auch über seine Entwicklungsschritte und sein Wachstum, die Bedeutung freudiger Gefühle für die Herausbildung eines positiven Selbstbezuges und Lebensgefühls, für psychische Gesundheit und schließlich für die Entwicklung des Wertgefühls kann meines Erachtens nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Freude als Form des Selbsterlebens und des zwischenmenschlichen Kontaktes gleichermaßen und oft gleichzeitig, diese Form der zwischenmenschlichen Resonanz und Interaktion hat nämlich eine ganz besondere Eigenart, die für unser Thema besonders wichtig ist: Sie ist nicht wertend. Freude wird empfunden, geäußert, mitgeteilt und geteilt, sie ereignet sich und ist nicht an Bedingungen geknüpft. Nicht-wertende Formen der zwischenmenschlichen und oft der averbalen Kommunikation und Interaktion schaffen also die Grundlagen des Selbstgefühls, des Selbstwertgefühls, des Grundgefühls der Welt und anderen Menschen gegenüber. Auf ihrer Basis entwickelt sich später der Sinn für den eigenen und den fremden Wert sowie für die Welt der Werte überhaupt. In späteren, zunehmend in narrative Kontexte eingebundenen Entwicklungsstadien werden dann explizit bewertende Stellungnahmen gegenüber dem Erleben und Verhalten von Kindern durch Eltern, Geschwister, Spielkameraden, Erzieher, Religionslehrer etc. wichtig. Diese Wertungen erreichen Kinder nach und nach, wenn sie zunehmende Symbolisierungs- und Sprachfähigkeiten erworben haben. In dieser Phase der Reifung bedienen sich bestimmte Erziehungsstile zunehmend und manchmal im Übermaß der Bewertung, arbeiten häufig oder sogar ständig mit Lob und Tadel, mit Belohnung und Bestrafung. Die von der Umwelt vorgegebenen und vertretenen Verhaltensnormen und Werte treten Kindern in dieser Entwicklungsphase teils ganz selbstverständlich und natürlich, teils aber auch als fremd
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und als Forderung gegenüber. Auch hier nehmen die relevanten Bezugspersonen mächtige Positionen ein, die leicht missbraucht werden können. Die »signifikanten Anderen« können ja bestimmen, was gut, was schlecht oder böse, was erwünscht und was unerwünscht ist. Sie haben die Macht, Gutes oder Erwünschtes zu belohnen – zum Beispiel mit Lob oder Zuwendung – und Schlechtes oder Unerwünschtes zu bestrafen –zum Beispiel mit Entzug von Zuwendung oder Zuneigung, mit Einbeziehung in die oder Ausschluss aus der Gemeinschaft, manchmal auch mit körperlicher oder seelischer Gewalt. Freud hat den Prozess der Internalisierung von Verhaltensregeln, Normen und Werten anhand zahlreicher therapeutischer Analysen retrospektiv erforscht. Die Ergebnisse seiner Beobachtungen wurden zum Ausgangspunkt seines Instanzenmodells, in dem das Über-Ich die Instanz darstellt, in der die Normen und Werte gebildet und in der sie mental und emotional gespeichert werden. Die Über-Ich-Bildung ist für Freud zunächst so etwas wie die Gegenbewegung gegen die chaotischen, primitiven und amoralischen Triebe des Neugeborenen. Erst im Wechselspiel zwischen den auf unmittelbare und rücksichtslose Befriedigung drängenden Triebbedürfnissen und den Anforderungen der menschlichen Umwelt bilden sich das Ich und die Person, die Persönlichkeit und die Identität. In diesem Sinne sind auch bei Freud Wertfragen im Kern Beziehungsfragen. Für die Herausbildung eines gesunden Persönlichkeitskerns und einer ausreichend stabilen, aber auch flexiblen Persönlichkeitsstruktur ist ein mehr oder weniger ausgereiftes beziehungsweise ausgeprägtes, aber auch ein ausreichend flexibles Über-Ich erforderlich. Das ÜberIch ist und bleibt aber immer eine wertende Instanz: Sie teilt ein in gut und böse, in erwünscht und unerwünscht, in wertvoll und wertlos. Für die Herausbildung von Wertgefühl sind die Über-Ich-bildenden Mechanismen von großer Bedeutung, sie erfassen sie aber nicht vollständig. Das Grundgefühl für den eigenen Wert wie auch für den Wert der anderen entwickelt sich eben nicht allein in der expliziten Bewertung – und somit in einem relativ späten Entwicklungsabschnitt der Kindheit –, sondern bereits viel früher im für das Kind noch nicht moralisch strukturierten interpersonellen emotionalen Raum. In diesem Sinne ist das Wertgefühl verankert im Selbstgefühl, im Sinn für das Selbstsein, im Sinnlichen, in der basalen Selbst-, Fremd- und
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Weltwahrnehmung. Wer sich selbst nicht wahrnehmen kann, kann sich nicht annehmen, nicht akzeptieren, nicht lieben und nicht wertschätzen – und wer das nicht kann, wird kein wirklich echtes und tiefes Gefühl für Werte und für den Wert der anderen entwickeln können. Dies ist ein Grund dafür, dass psychotherapeutische und psychoanalytische – und wie ich meine, auch pädagogische – Prozesse immer auch die Selbstwahrnehmung, die Selbstakzeptanz, die Liebe zu sich selbst und zu anderen achten und diese zu fördern versuchen. Und hierbei ist immer zu beachten, ob dies von einer bewertenden, von einer (z. B. moralisierenden) Über-Ich-Position aus geschieht oder ob dieses Ziel über die Einfühlung und einen intersubjektiven Dialog, in dem die Beteiligten, also auch die Patienten, in ihrer individuellen Einzigartigkeit gesehen und respektiert werden, angestrebt wird.
Literatur Adler, A. (1927). Menschenkenntnis. Leipzig: Hirzel. Adler, A. (1929). The science of living. New York: Greenberg. Adler, A. (1931). What life should mean to you. Ed. A. Porter. Boston: Little & Brown. Adler, A. (1933). Der Sinn des Lebens. Wien u. Leipzig: Passer. Adler, A. (1979). Wozu leben wir? Frankfurt a. M.: Fischer TB. Antoch, R. F. (2001). Über Sinn und Unsinn des Begriffs »Gemeinschaftsgefühl« oder: Adlers verfehlte Theorie der Macht. In U. Lehmkuhl (Hrsg.), Beiträge zur Individualpsychologie. Band 26 (S. 25-44). München: Reinhardt. Brockhaus Enzyklopädie (1989). 19. Aufl. Mannheim: Brockhaus. Heisterkamp, G. (1990). Konturen einer tiefenpsychologischen Analyse originärer Lebensbewegungen. Teil I und II. Zeitschrift für Individualpsychologie, 15, 83-95 u. 163-176. Heisterkamp, G. (1999). Zur Freude in der analytischen Psychotherapie. Psyche, 53, 1247-1265. Heisterkamp, G. (2000). Ist die Psychoanalyse ein freudloser Beruf? In A.M. Schlösser, K. Höhfeld (Hrsg.), Psychoanalyse als Beruf (S. 275-296). Psychosozial-Verlag: Gießen. Heisterkamp, G. (2003). Geteilte Freude ist doppelte Freude. In E. Bartosch (Hrsg.), Der »Andere« in der Selbstpsychologie (S. 135-168). Wien: Verlag Neue Psychoanalyse. Metzger, W. (Hrsg.) (1979). Vorwort zu: Adler, A. (1979). Wozu leben wir? Frankfurt a. M.: Fischer TB.
Karl Heinz Witte
Über den Sinn der Frage nach dem Sinn des Lebens
On the meaning of asking for the meaning of life In a time of nihilism, in which according to Nietzsche all binding values and goals have been lost, all meaning is judged by economical and technical efficiency. Adler’s definition of neurosis as an all-dominant striving for success and security provides a psychological model for this way of thinking. On the other hand, with his conception of «community feeling” Adler has reminded us of a psychic dimension in which the feeling of one’s self is opposed, as a receptive, passive experience, to the striving, nihilist sense of the ego.
Zusammenfassung Im Zeitalter des Nihilismus, in dem nach Nietzsche verbindliche Werte und Zielsetzungen verloren gegangen sind, wird jeglicher Sinn an der ökonomischen und technologischen Effizienz gemessen. Adlers Definition der Neurose als alles beherrschendes Erfolgs- und Sicherungsstreben liefert ein psychologisches Modell für diese nihilistische Denkweise. Andererseits hat Adler mit dem Konzept »Gemeinschaftsgefühl« an eine psychische Dimension erinnert, in der das Selbstgefühl als entzündliche, erlittene Erfahrung dem strebenden nihilistischen Ich-Gefühl entgegengesetzt ist.
Einleitung Selbstzweifel zum Beginn: Wie komme ich dazu, diesen Beitrag zu schreiben? Ehrlich gesagt: Weil ich von meiner Eitelkeit verblendet war, als ich im Mai 2005 zur Anfrage der Vorbereitungsgruppe Ja sagte. Jetzt muss ich dafür büßen. Als ich merkte, dass ich viel lieber ausweichen wollte, fehlte mir der Mut abzuspringen. Jetzt stehe ich also zu meinem Versprechen, auch wenn es mir unangenehm ist.
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Was man verspricht, muss man halten Dieser Einfall wird zu einer Hintertür: Ich kann mich aus der Verlegenheit herauswinden und doch wieder ins Thema hinein. So komme ich am Ende hoffentlich noch mit heiler Haut davon. Sie werden gleich lesen, wie das geht: Als ich eben anfing zu schreiben, wollte ich nur davon berichten, dass ich diesen Beitrag nicht verfassen kann. Zufällig bin ich bei dem Stichwort »versprechen« gelandet. »Versprechen«, da war doch was? Das Wort »versprechen« war im Prozess des Schreibens einfach da. Was war doch noch mit dem »Versprechen«? Natürlich Nietzsche: »Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? Ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen?« (Nietzsche, 1966, Bd. 2, S. 799). Versprechen, das ist für Nietzsche »keineswegs bloß ein passivisches Nicht-wieder-los-werden-können des einmal eingeritzten Eindrucks, nicht bloß die Indigestion an einem einmal verpfändeten Wort, mit dem man nicht wieder fertig wird, sondern ein aktives Nicht-wieder-los-werden-wollen, ein Fort-und-Fort-wollen des einmal Gewollten, ein eigentliches Gedächtnis des Willens […] Was setzt das aber alles voraus!« (S. 800). Damit der Mensch versprechen kann, müsse er zuvor »berechenbar, regelmäßig, notwendig geworden sein«. Das sei der Sinn der ganzen vorgeschichtlichen Arbeit des Menschen an sich selber und der Sinn der Sozialisation. Was ist das Ziel dieses selbstquälerischen »ungeheuren Prozesses«? »Das souveräne Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn ›autonom‹ und ›sittlich‹ schließt sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf – und in ihm ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewußtsein davon, was da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewußtsein, ein Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt« (Nietzsche, 1966, Bd. 2, S. 801). Ich halte also meinen Vortrag, wie ich es versprochen habe. Ich bezweifle allerdings, dass ich ein solches souveränes, autonomes und übersittliches Individuum bin, das versprechen darf. Wäre ich es, dann
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jedenfalls würde ich mein Versprechen halten, nicht weil ich soll oder muss, sondern weil ich es will. Nicht à la Kant: Ich will, weil ich soll; sondern mit Nietzsche: Ich will, weil ich will.
Der Souverän und seine »aufgeklärte« Verfassung Ich muss, ich soll, ich will. Damit sind wir bei dem Thema: Wozu leben wir? Was ist unsere Bestimmung? Von Nietzsche haben wir eine Antwort gehört: Wir sollen uns zu souveränen, vom eigenen Macht- und Freiheitsbewusstsein allein bestimmten Individuen entwickeln. Wir sollen sogar über der Sittlichkeit der Sitte stehen. Wie steht es damit in der Realität? Als einzelne Individuen dürften die meisten diesen Stand noch nicht erreicht haben. Nietzsche hat die Funktionsweisen der sozialen Systeme noch nicht gekannt. Er wusste noch nicht, dass es einen komplexen Willen politischer und gesellschaftlicher Körperschaften gibt, der nach denselben Prinzipien funktioniert, die Nietzsche dem Übermenschen zugedacht hatte: Herrschaft durch Gewalt, Macht, Schein und Lüge. Der Souverän soll nach Nietzsche nicht über der Sitte (Moral) stehen, sondern über der Sittlichkeit der Sitte (Ethik). Die Regierungen der Nato-Länder und die Willigen stehen natürlich nicht »über der Sitte«. Sie fühlen sich der Moral verpflichtet, sonst würden sie ihr Handeln nicht moralisch rechtfertigen. Sie wollen den Unterdrückten und Gefährdeten Befreiung von Diktatur, von Terror und Armut bringen, dazu noch Demokratie, Wohlstand und freie Marktwirtschaft. Moralisch wertvolle Ziele, an die manche Politiker sogar glauben mögen. Ob das Ganze aber aus ethisch wertvollen Motiven und mit vertretbaren Mitteln geschieht und ob es mit »Sittlichkeit« (Ethik) überhaupt etwas zu tun hat, ist höchst fraglich. Das muss von einem modernen philosophischen Standpunkt aus auch gar nicht sein; denn die herrschende Meinung in Philosophie und Soziologie geht ohnehin davon aus, dass in einem Konsens bestimmt werden muss, was gut und erlaubt ist. Dazu fragt man nicht mehr nach metaphysischen, naturrechtlichen oder religiös gesetzten ethischen Normen, sondern beruft einen Ethikrat. Der soll sagen, was erlaubt oder geboten ist, aber er hat auf Dauer gegen den unbefragten allgemeingültigen höchsten Wert von heute keine Macht: das Wirtschaftswachstum.
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Das Individuum steht heute noch nicht autonom über der Sittlichkeit der Sitte, aber die Gesellschaft, wer immer das sein mag. Adler hat mit Dostojewski hervorgehoben, dass der Westen das Wahre benützt, um damit zu lügen (Adler 1918/1974). Dass das wahr ist, bekommen wir von den Politikern in Wahlkampfzeiten jeden Sonntag bei Sabine Christiansen vor Augen geführt. Ich rede hier nicht als Rufer in der Wüste mit einem Aufruf zur Besinnung und einem Bekenntnis zu Grundwerten. Es ist nämlich mehr gefordert als eine Wertedebatte, nämlich eine Zumutung. Was Nietzsche vor 120 Jahren diagnostiziert hat, kann man heute nicht mehr verleugnen. Der Nihilismus steht nicht »vor der Tür«; »dieser unheimlichste aller Gäste« (Nietzsche, 1966, Bd. 3, S. 881f.) macht sich über die Medien in den Wohnzimmern breit. Was Nietzsche ankündigte, ist eingetreten. Ich nenne seine Diagnose und seine Indizien (Nietzsche, 1966, Bd. 3, S. 882): 1. »Der Untergang des Christentums – an seiner Moral«. Es wird weiterhin mit moralischen Ansprüchen geurteilt; aber man befindet: Alles ist falsch und verlogen. 2. Die »nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft«: Die Selbstzersetzung des wissenschaftlichen Anspruchs, die Wendung gegen das wissenschaftliche Ideal durch ihre Ideologisierung und Käuflichkeit, die Antiwissenschaftlichkeit des Wissenschaftsbetriebs sind unverkennbar; ebenso 3. die »nihilistischen Konsequenzen der politischen und volkswirtschaftlichen Denkweise, wo alle ›Prinzipien‹ zur Schauspielerei gehören«. Der Nihilismus besteht nicht darin, dass solche Mängel auftreten und aufgedeckt werden, sondern dass man sie für selbstverständlich hält – und unter diesen Umständen seinen Schnitt macht, so gut es geht. Wie gesagt: Dies soll keine Moralpredigt sein, sondern die Zumutung einer Erkenntnis. Diese lautet: Es gibt heutzutage keine Instanz mehr, die mir und Ihnen als je Einzelnen glaubwürdig sagen kann, was wahr, gut und richtig ist. Man kann natürlich mit guten Gründen bezweifeln, dass jemals irgendwelche Instanzen das konnten; aber immerhin haben einige namhafte, vor allem Kirche, Politik und Wissenschaft, das behauptet – und früher waren die Menschen vielleicht noch leichtgläubiger. Kirche, Politik und Wissenschaft behaupten immer noch, sie könnten uns zu unserem Leben etwas Wesentliches sagen; aber wer ihnen immer noch glaubt, ist selber schuld. Kants Aufruf zur
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Aufklärung (Kant, 1783/1971) richtete sich vor allem gegen den Belehrungsanspruch der Kirchen. Gegen die modernen Aufklärer sage ich: Der Kirche kann man genauso viel und genauso wenig vertrauen wie der Politik und der Wissenschaft. Mit anderen Worten: Wir müssen heute auch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit aussteigen, in der uns die Politik und die Wissenschaft, auch die psychotherapeutischen Fachgesellschaften halten wollen. Natürlich greife ich hiermit nicht den einzelnen Politiker oder Wissenschaftler an; denn dem verhelfen seine Fächer auch nicht zum richtigen Leben. Hiermit bin ich wieder beim Thema: Wozu leben wir? Wer kann mir das sagen? Die Kirche hatte eine grundsätzliche, meistens als antiquiert empfundene Antwort: »Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und einst ewig bei ihm zu wohnen«; aber selbst diese Sinngebung müsste, wenn man sie ernst nehmen wollte, individuell umgesetzt werden. Die Politik ist in unseren Breiten bescheiden geworden: Kommunistische und faschistische Politideologien haben keine Konjunktur. Die Wissenschaft verzichtet von vornherein auf die Bereitstellung von Lebensregeln – abgesehen von der Ernährungswissenschaft, die natürlich Empfehlungen abgibt, je nachdem wer ihre Studien gerade finanziert hat. Fazit: Die Institutionen in der Mitte der Gesellschaft bleiben bei der Bereitstellung von Auskünften, ja sogar bei der Diskussion von Lebensfragen leer oder unfruchtbar. Der Diskurs in der gesellschaftlichen Mitte gibt nichts her bei den Fragen, die für das Leben des einzelnen Menschen subjektiv am wichtigsten sein müssten, bei den Fragen nach dem Warum und Wozu, nach dem Wie und mit Wem des Lebens, bei Fragen nach Freude und Leid, Verlust und Ungerechtigkeit, Scheitern, Schuld und Gelingen, nach Anfang und Ende, nach Woher und Wohin. Das ist der Grund dafür, dass an den Rändern immer stärker und erfolgreicher die Subkulturen, Sekten und esoterischen Zirkel wuchern, auch die radikal religiösen. Das ist der Grund dafür, dass buddhistische Meditation und muslimische Frömmigkeit im Westen so beliebt sind. Ja, ich möchte das Interesse an den Papstauftritten auch dem Umstand zugute halten, dass er im Vergleich mit unserer Mainstream-Kultur zu den Exoten gezählt werden darf. Er erscheint eben anders als die Kirchen- und Politikfunktionäre. Und nochmals: Dies ist keine Gesellschaftskritik, keine Klage über
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Wertverlust, Kulturzerfall, Glaubenslosigkeit oder Spiritualitätskonsum. Die Zumutung liegt allein in der Erkenntnis, dass das alles gar nicht anders sein kann. Die westliche bewusste oder unbewusste Sicht vom Menschen und die Gesellschaftslehre sind nämlich, ob sie es thematisieren oder nicht, an die Sinn- und Zielstruktur gebunden; aber sie können auf die Frage nach dem Sinn des Lebens keine Antwort geben. Warum das so ist, will ich im nächsten Gedankengang vorzustellen versuchen.
Der »Sinn des Lebens« – und warum man ihn nicht loswerden kann
Von allen Merkmalen der Individualpsychologie ist das bedeutendste, dass Alfred Adler das Individuum in seiner »Finalität« erfasst hat. Der Mensch kann nicht anders, als sich auf etwas auszurichten. Entwicklungspsychologisch dürfen wir auch sagen: Vom »ersten Schrei« an, und vielleicht schon zuvor, sind wir in Beziehung. Nicht umsonst stellen sich die Psychoanalytiker die Entstehung des Selbst als eine Introjektion und Ausdifferenzierung von Objektbeziehungen vor. Etwas grundsätzlicher gesprochen: Der Prozess der Integration aller Fähigkeiten und die primären Interaktionen, die frühkindlichen Bewegungsansätze oder Handlungsdialoge tendieren darauf hin, etwas zu können oder zu wollen oder, wenn beides nicht geht, etwas können zu wollen. Das ist Adler ins Phänomenologische übersetzt. In anderen Zusammenhängen heißt dieses Grundkonstituens unseres Menschseins die Intentionalität des Bewusstseins oder das Bei-(etwas-)Sein. Wir sind, wenn wir wach sind, und sogar im Traum immer schon auf etwas aus und gehen mit etwas um. Wenn wir uns die Psyche wie einen Behälter vorstellen, könnte man sagen: Zunächst und zumeist sind wir mit unserm Ich draußen. Das nennt die Phänomenologie seit etwa hundert Jahren die »Transzendenz« des Bewusstseins. Adler nannte es den »wirksamen Punkt außerhalb der körperlichen Sphäre […], nach dem sich die Psyche richtet, den Schwerpunkt des menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens« (Adler, 1912/1997, S. 96). Adler war ein genialer Vereinfacher; deshalb konnte er diese Grundlinie des
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menschlichen Bewusstseins sehen und darauf seine Neurosenlehre aufbauen. Er nannte diese Auszeichnung des Menschen die »Finalität«. Mit anderen Worten: Er beobachtete den Menschen unter der Frage: Worum geht es ihm? – unter der Voraussetzung, dass es uns immer um etwas geht, auch wenn wir »Aber« sagen: »Aber neben den Zielen dürfen wir auch die Ursachen nicht übersehen!« Auch den Ursachenforschern geht es um etwas. Dieses »Worum-willen«, das Adler die Finalität nannte, nennen wir auch den »Sinn«. Alles, was wir tun, denken, fühlen, hat einen Sinn – das ist die Grundannahme der Individualpsychologie –, auch wenn wir den Sinn nicht angeben können, und sogar, wenn was wir da produzieren, sinnlos oder widersinnig ist, wie zum Beispiel die Symptome, Ängste, Zwänge, Selbstbehinderungen, Depressionen und Suchtattacken. Wir setzen auch im Unsinnigen einen Sinn voraus. Das Geniale von Adlers Neurosenlehre war, dass er die psychische Störung gerade aus einer Fehlleitung dieses unhintergehbaren Ziel- und Sinnstrebens entspringen sah – und nicht primär aus einem Mangel oder einer Schädigung von außen. Hier muss ich vorweg einem Standardeinwand begegnen. Natürlich gibt es rein physiologisch erklärbare Symptome, sonst könnten Zwänge und Depressionen nicht durch pure Medikamentengabe oder »auf Knopfdruck« (wie Dubiel, o. J. [2006], S. 130, berichtet1) verschwinden oder erzeugt werden. Und die Neurobiologen haben gute Gründe, uns zu prophezeien, dass demnächst alle psychischen Phänomene naturwissenschaftlich erklärt werden können. Nur ist das kein Grund, mit dem Denken aufzuhören. Denn aus der Binnenperspektive schlage ich mich mit solchen Symptomen genauso herum wie mit der sonstigen Unbill, die mir die Welt und die Menschen von außen zufügen. Ich muss sie innerlich verarbeiten, ihnen einen Sinn geben, selbst wenn sie von außen betrachtet sinnlos sind. Ich ordne sie ein in mein Lebensgefüge, setze sie in Beziehung zu meinen Aufgaben und Zielen, vergleiche mich mit anderen, erinnere mich an bessere Zeiten und hoffe auf Heilung. Ich suche eine Therapie und höre von dem Nervenarzt, dieses Sichsorgen habe keinen Sinn; denn mein Leiden 1 Helmut Dubiel, der an Morbus Parkinson erkrankt ist, berichtet, dass er seine Depression abstellen kann, wenn er das Neuroimplantat, den »Hirnschrittmacher«, ausschaltet.
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sei bloß ein Mangel oder ein Zuviel an Botenstoffen. Das heißt: Der Arzt schlägt mir eine Sinnreduktion oder eine Neuinterpretation des Sinnes vor: »nicht psychisch, sondern biologisch«. Fazit: Wir geben allem einen Sinn, ob wir wollen oder nicht; denn unser Gehirn ist vielleicht so eingerichtet, dass wir Sinn-Zusammenhänge wahrnehmen oder konstruieren. Und wenn es ein Mittel gegen die Sinnfrage gäbe, hätte dessen Verabreichung auch wieder einen Sinn; denn wir könnten uns einbilden, einen lästigen Störenfried loszuwerden. Und so hat es auch einen Sinn, dass unserem Expertensystem daran gelegen ist, psychische und geistige, politische und ethische Probleme auf technologische und ökonomische »Operationalisierbarkeit« zu reduzieren. Diese Zwecksetzung hat den Sinn, jenes Paradox zu umgehen, das die Frage nach dem Sinn des Lebens so ärgerlich macht: Da unser Bewusstsein (Denken, Fühlen und Handeln) unabwendbar intentional ist, setzen wir unvermeidbar einen Sinn voraus. Das heißt, die Frage nach dem Sinn ist unhintergehbar. Aber zugleich ist es unabweisbar, dass unser begrenzter Verstand das Ganze nicht erfassen kann, weder das Ganze der Welt noch das Ganze des Lebens. Das macht das Grübeln über den Sinn des Lebens so endlos und die meisten Bücher, die nach einem objektiven Sinn der Welt oder des Lebens fragen, so langweilig, weil von vornherein schon feststeht, dass nichts dabei herauskommt. Und aus diesem Grund haben auch die Zen-Geschichten es mit ihrem Lachen so leicht, wenn nach einigem Hin und Her der witzige Meister dem ernsthaften und selbstquälerischen Frager antwortet: »Der Sinn des Lebens ist eine Zwiebel – oder hast du einen anderen Vorschlag?« Meine Vermutung ist allerdings, dass solche Geschichten vor allem die westlichen Skeptiker zum Lachen reizen, weil sie bestätigt bekommen, was sie zuvor schon wussten. Nun bin ich dort angekommen, wo ich, wie in der Einleitung gesagt, nicht hin wollte und wo ich nicht seriös und redlich weiterreden kann. Wenn der Befund ist, dass wir den Sinn des Ganzen der Welt und des Lebens nicht wissen können, und wenn wir die Frage nach dem Sinn doch nicht aufgeben können, ist damit die Frage nach dem Sinn des Leben und deren Diskussion sinnlos? Nein! Warum ist diese Diskussion dennoch sinnvoll? Darüber haben die Fachleute sich kreuz und quer den Kopf zerbrochen. Dem kann ich nichts hinzufügen, ja
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ich kann nicht einmal ein einigermaßen kompetentes Referat solcher Standpunkte bieten. Wer hilft mir weiter in meiner Not? – Ein Idiot: »Ich glaube, niemand kann leichter als ich dazu gebracht werden, zu sagen, was er meint. Denn da ich ja ein unwissender Laie (im Original: idiota) bin, habe ich bei meiner Antwort nichts zu befürchten. Gebildete, Philosophen und Männer [von Frauen redet er hier nicht], die im Ruf des Wissens stehen, fürchten mit Recht durchzufallen und überlegen bedächtiger. Also frag mich geradeheraus, was du willst, und du erhältst eine nackte Antwort« (Nikolaus von Kues, 1450/2002, S. 6, eigene Übersetzung)2. Das lässt am Anfang unserer neuzeitlichen Philosophie Nikolaus von Kues einen Löffelschnitzer, also einen Laien (idiota) zu dem Fachmann sagen, einem Philosophen, der wie ein wandelnder Fußnotenapparat auftritt, aber nicht weiß, was der Geist noch was die Weisheit ist. Ich sage also als Laie, was ich meine. Das Versagen der Sinnfrage liegt an der Methode, in der nach dem Ganzen gefragt wird: diskursiv, additiv, wie nach einem physikalischen Faktum. Ich kenne vier Weisen, den Mangel, dass wir das Ganze nicht erfassen, zu umgehen und trotzdem einen Sinn zu konstituieren.
Erste Sinnkonstitution: Der Sinn ist die Funktion Da man Jahrhunderte lang den Sinn des Lebens vergeblich in bestimmten Werten oder Ideen gesucht hat, wird der ungefragt gültige Sinn in unserer modernen öffentlichen Welt nicht mehr inhaltlich, sondern nur noch, das aber in aller Härte, formal konstituiert. Das heißt: Wir leben und handeln heute öffentlich nach jenem Sinn, der sich aus der Struktur von Sinn selbst ergibt. Mit anderen Worten gefragt: Was ist der Sinn von Sinn? Welches Ziel, welchen Zweck schaffen wir damit, dass wir unsere Lebensverhältnisse »sinnvoll« einrichten? Ich gebe die Antwort, die mir plausibel erscheint, abgekürzt in sieben Thesen:
2 Idiota: Arbitror neminem facilius me cogi posse, ut dicat quae sentit. Nam cum me ignorantem fatear idiotam, nihil respondere pertimesco. Litterati, philosophi ac famam scientiae habentes merito cadere formidantes gravius deliberant. Tu igitur, quid a me velis, plane si dixeris, nude recipies.
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1. Das Leben unter einem Sinn, in einer Finalität wahrnehmen und gestalten, hat den Sinn (dient dazu), das Leben aus der Zufälligkeit der natürlichen Ursachen herauszureißen und es sicherer und reicher (differenzierter, lustvoller, überlegener) zu machen. 2. Das heißt psychologisch, unsere Existenz aus der Passivität in Aktivität umzugestalten, an die Stelle des Erleidens das Handeln zu setzen, oder an die Stelle der Leidenschaften die Rationalität. 3. Die Rationalität wird aber allenthalben durch gegensätzliche Interessen und durch die Subjektivität des Erlebens gestört. Deshalb war bisher keines der traditionellen Vernunftprinzipien erfolgreich. Die aristotelischen Tugenden der Polis, die platonische Idee, die römisch-christliche Gerechtigkeitslehre (die an die Stelle der Nächstenliebe gesetzt wurde), die aufgeklärte Vernunft, die wissenschaftliche Weltanschauung (an die Freud noch glaubte), der Sozialismus, die Demokratie: Sie alle haben mehr oder weniger ausgedient. Das ist eine andere Formulierung der Diagnose, die bei Nietzsche »Nihilismus« heißt. 4. Das Prinzip, das gegenwärtig in einer Welt ohne verbindliche Werte die Rationalität des Zusammenlebens und damit dessen praktische Sinnhaftigkeit am besten zu sichern vermag, ist die Kombination von Technologie (d. h. Operationalisierung, Machbarkeit) und Ökonomie (die prinzipiell den größten Effekt bei geringstem Mitteleinsatz anstrebt). 5. Dies Prinzip ist deshalb erfolgreich, weil es die strikteste Komplexitätsreduktion erlaubt. Es kann auf jede Bindung an Inhalte verzichten und sich auf reine Funktionalität stützen. 6. Mit der fünften These komme ich in einem Sprung auf die Psychotherapie und die Individualpsychologie Adlers zurück: Denn a. Inhaltslosigkeit und Funktionalität – freilich mit zerstörerischen Nebenfolgen – sind die unverstandenen Leitmotive der Neurose nach Adlers erster Theoriestufe: Es geht darin in allem um Sicherung und Überwindung. b. Inhaltslosigkeit und Funktionalismus sind mehr und mehr das Leitziel der modernen wissenschaftlichen Psychoanalyse und erklärtermaßen auch der Individualpsychologie (Adler, 1912/1997, S. 110). c. Damit fällt auch die gegenwärtige institutionalisierte Psychoa-
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nalyse unter Adlers Verdikt der Neurose. Ihr geht es um Sicherung der Macht, des Prestiges, des Besitzstands angesichts der ständigen Bedrohung durch die eigene mangelhafte Ausstattung und durch die Machtgelüste der Konkurrenten. 7. Adlers Neurosendefinition ist die prägnanteste Charakterisierung der herrschenden Sinnstruktur im technologisch-ökonomischen Lebensnerv der modernen Gesellschaft – oder im Zeitalter des »Nihilismus«, wieder mit Nietzsches Charakterisierung: »Dass die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das ›Wozu?‹« (Nietzsche, 1966, Bd. 3, S. 557).
Zweite Sinnkonstitution: Die Quantentheorie Darüber spreche ich nicht; weil ich davon nichts verstehe. Man sagt jedoch glaubwürdig, die Quantenphysiker seien dem Gesetz auf der Spur, das die Welt im Innersten zusammenhält. Ein sehr interessantes Buch dazu haben der Quantenphysiker Thomas Görnitz und die Psychotherapeutin Brigitte Görnitz (2002) geschrieben.
Dritte Sinnkonstitution: Die religiöse Erfahrung Auch darüber spreche ich nicht, weil das in diesem Kreise und an diesem Ort deplatziert wäre. Ich verweise hierzu zum Beispiel auf Herbert Stein (2006).
Vierte Sinnkonstitution: Das Gemeinschaftsgefühl oder das ciszendentale Selbst
Adler hat, erschrocken von der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, seine Theorie revidiert und ergänzt. Dieser zweite große Theorieentwurf steht bekanntlich unter der Überschrift des Gemeinschaftsgefühls. Das ist wahrscheinlich der am meisten diskreditierte Begriff aus Adlers Theorie. Ich selbst habe ja 1987 (auf dem Internationalen
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Kongress in Münster) ausgeführt, dass das Konzept ohne Weiterentwicklung die Aufgabe nicht erfüllen kann, die Adler ihm zuschreibt. Aber allen, die meinen Vortrag und Aufsatz »Das schielende Adlerauge« (Witte, 1988) als Absage an den Begriff »Gemeinschaftsgefühl« verstanden haben, bringe ich in Erinnerung, dass ich damals bemerkt habe: »Eine gründliche Analyse des Gemeinschaftsgefühls als der korrigierenden oder kosmischen Kraft findet sich im ganzen Werk Adlers nicht […]. Das ist nun kein Vorwurf gegen Adler. Für diese weitergehende Aufgabe war und ist die Zeit noch nicht reif« (S. 24). Dieser Meinung bin ich immer noch. Außerdem findet sich dort eine Hindeutung auf die »Dimension der wahr-nehmenden Gelassenheit ins Mitsein«, in die hineingehöre, »was Adler das ideale Gemeinschaftsgefühl nennt« (S. 21). Ich finde das Wort »Gemeinschaftsgefühl« auch heute noch nicht zufriedenstellend. Aber ich kenne kein besseres. Der »Gesellschaftsverstand«, den Ronald Wiegand (1998) uns statt des Gemeinschaftsgefühls anempfiehlt, ist sicher wichtig; aber er ist etwas anderes. Und der »Sinn für das Selbstsein im Bezogensein«, den Robert Antoch (2001) dem Gemeinschaftsgefühl vorzieht, benennt eine unerlässliche Qualität der Selbstgestaltung und der Mitmenschlichkeit. Der Begriff soll eine Ausgewogenheit der beiden Größen, Individuum und Gemeinschaft, nahe legen, die als miteinander konkurrierend gedacht werden. Ich versuche, das Verhältnis von Selbst und Gemeinschaft radikaler zu bestimmen. Darum bleibe ich zunächst beim »Gemeinschaftsgefühl« und lenke den Blick auf die Bestandteile des Wortes. Meine These ist: Die beiden Elemente, Gemeinschaft und Gefühl, konstituieren das Selbst. Sie sind zwei Momente derselben Sache.
Das Selbstgefühl Das Selbst wird hier nicht als die Summe von Bewusstseinsfunktionen verstanden, wie es in der Psychoanalyse, besonders in der »Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik« (Arbeitskreis OPD, 2006) ausgearbeitet wurde. Ich meine damit das Gefühl der Präsenz, des Ich-bin-es, das unsere Identität stets begleitet. Dieses Selbstge-
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fühl ist auch nicht identisch mit dem Ich. Das Ich ist das »Steuerungszentrum« der Ich-Funktionen, des Denkens, Urteilens, Wahrnehmens. Das Ich ist vor allem an dem Widerstand spürbar, der sich in mir auftut, wenn mir etwas aufgenötigt wird oder wenn etwas sich meiner Absicht entgegenstemmt. Deshalb entwickelt sich das Ich in der »Trotzphase«, wie man früher gesagt hat. Der Widerstand ruft Anstrengung hervor. Diese beflügelt mein Ich-Gefühl, wenn ich siegreich bin, und die vergebliche Anstrengung bedrückt mich, wenn ich etwas nicht kann. Das Ich-Gefühl ist geradezu die Anstrengung des strebsamen Lebens selbst, in gleicher Weise bei meinem Erfolg wie bei meinem Scheitern. Die Ich-Funktionen, die angeblich ein Maß der psychischen Gesundheit sind, werden als Ich-Leistungen bestimmt. Darin fungieren Psychologie und Psychoanalyse als Ideologieorgan der Leistungsgesellschaft. Aber die entscheidenden Ereignisse des Lebens werden nicht vom Ich gesteuert. Welche Einflüsse meines Elternhauses ich förderlich oder selbstschädigend ausgestaltet habe, welche Vorbilder, Wertungen, Sozialkontakte mich prägen, mein Beruf, meine Partnerschaft, meine Kinder, mein Lebenswerk (heute gern »Lebensleistung« genannt): An all dem hat mein Ich gestaltend mitgewirkt; aber sowohl die Ursprungsbedingungen, der zündende Blitz des Entschlusses wie der Donner des Gelingens, der Jubel des geglückten Finales liegen nicht in der Macht des Ichs. Das wissen alle Daumendrücker, aber die kurzsichtigen Ermutiger verleugnen es und sagen: »Du wirst es schon schaffen!« Das Ich ist ein Aktionszentrum, das Selbst aber ist ein Rezeptionsorgan. Was unsere psychologischen und psychoanalytischen Lehrbücher geflissentlich verschleiern: Das Selbst, das Identitätszentrum, das die Einheit der Persönlichkeit stiftet, ist passiv; es wird von Gefühlen bewegt; es ist von Zufällen und Einfällen gesteuert, die das Ich bejahen und ausgestalten oder bekämpfen, verleugnen und verdrängen kann (!) – um den Preis einer psychischen Störung. Das Selbst ist näher beim Es, das laut Freud Ich werden soll. Allerdings hat dieser das »Es«, die Kraft, die uns steuert, in seiner Mythologie vom Lebens- und vom Todestrieb, zu eng gefasst. Hinzu kommen die differenzierten Einflüsse des Habituellen, des Erworbenen, des sozialen und des kulturellen Gedächtnisses. Dies wirkt im Unbewussten
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der Persönlichkeit ebenfalls »dynamisch«, und es darf keineswegs mit dem Über-Ich gleichgesetzt werden. Zurück zum Gemeinschafts-Gefühl: Dieses Gefühl ist das Leben des Selbst. Das Gefühl (als Stimmung) ist zunächst weitgehend unbewusst und namenlos. Es ist immer schon da, bevor wir es erkennen. Das begleitende, je nach Situation changierende Lebensgefühl ins Bewusstsein zu heben und zu thematisieren, setzt eine frühe Wachheit und Offenheit voraus und einen langen Differenzierungsprozess. Darum ist es so wichtig, dass wir als Kinder nicht nur mitfühlende, sondern auch verdeutlichende Eltern haben und dass die Analytiker Geburtshelfer unserer Selbstgefühle sind. Außerdem ist unsere Sprachkompetenz im Bereich des Fühlens gewöhnlich nicht elaboriert. Dazu brauchen wir die Dichter und darüber hinaus die Musik. Ein Hinweis erscheint mir an dieser Stelle aber notwendig. Ich warne vor dem beliebten Gerede vom Fühlen versus Denken, Bauch gegen Kopf: Meistens handelt es sich dabei um eine laute narzisstische »IchGefühligkeit« und nicht um das stille, zurückhaltende Selbstgefühl, das man erlauschen muss.
Das Gemeinsame als das Ciszendentale Mit dem Hinweis auf die Rezeptivität des Selbst ist auch die »Gemeinschaft« schon eingeführt. Jeder Einzelne partizipiert am Gemeinsamen, bevor er oder sie ihr Eigenes ausdifferenzieren, und das Gemeinsame ist mein Leben lang Ursprung und Quelle meines Selbstseins. Wenn mein Lehranalytiker zu sagen pflegte: »Für die seelische Krankheit oder Gesundheit hängt alles an der Beziehung des Ichs zum Selbst« und wenn Adler an die Stelle des Selbst das Gemeinschaftsgefühl setzt, so handelt es sich um dasselbe. Das Gemeinschafts-Gefühl ist basal, unbewusst und im Vollzug die Beziehung des Ichs zum Selbst, erst sekundär werden daraus bewusste Einstellungen, Gefühlserlebnisse, Verhaltensweisen, die durch moralische Appelle erreichbar sind – oder auch nicht. So ist auch die variable Leerstelle des Anderen, die später von einem Freund oder Feind besetzt wird, zunächst der gemeinsame Umraum der uteral bergenden Mitwelt und der gemeinsame Interaktions-Spielraum der Dyade. Ich könnte hierfür sogar die
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Meinung der Objektbeziehungstheoretiker anführen, die sagen, dass Selbst- und »Objektbeziehung« anfangs verschmolzen sind, und für die fortdauernde Angewiesenheit auf Gemeinschaftsgefühl ließe sich Kohuts lebenslanger Bedarf an »Selbstobjekten« geltend machen. Doch beide sind mit ihrer inhumanen Begrifflichkeit von vorneherein verdächtig, die dogmatische und ideologische Versklavung der Psychoanalyse zu fortzusetzen. Bevor wir von einer moralisch verstandenen Individualpsychologie aufgefordert werden können, der Gemeinschaft zu geben, was ihr gehört, müssen wir realisiert haben, dass wir von der »Gemeinschaft« alles empfangen haben, was wir sind, und dass wir weiterhin aus dem »Gemeinsamen« schöpfen, wenn wir unser Leben gestalten. Insofern hat Melanie Klein recht, wenn sie in ihrem letzten Werk »Neid und Dankbarkeit« (Klein, 1949/1994) zu der Einsicht gekommen ist, dass Dankbarkeit das Eingangstor zu einem gesunden Leben ist. Was ist das »Gemeinsame«, aus dem das Gemeinschafts-Gefühl entspringt? Adler nennt zum Beispiel Sprache, Logik, Kulturerbe, Religion, Kunst, Dichtung, Weisheit der Völker. Aber über diese Gegebenheiten hinaus spricht er von dem Wohl der Allgemeinheit sub specie aeternitatis, das als unerkennbare, aber richtende Idee das individuelle Leben leiten soll. Konkret werde das verwirklicht je nach dem Maß, in dem sich der Einzelne als Teil des Ganzen fühlen könne. Adler nennt diese Sichtweise »metaphysisch« oder »transzendental« (z. B. Adler, 1933/1973, S. 166). Genau genommen, ist die Bezeichnung »transzendental« richtig, insofern Adler immer wieder betont, dass er in der Einheit der Seele wie in der Fähigkeit des Menschen zur Kooperation, Geselligkeit und Liebe die Bedingungen der Möglichkeit des Überlebens und der Höherentwicklung sieht. Sie werden also nicht schlicht als (empirische) soziale, psychische oder moralische Gegebenheiten, sondern als (transzendentale, nicht transzendente) regulative Prinzipien betrachtet. In all dem ist der Einfluss Kants unverkennbar. Man kann Adler nicht angemessen interpretieren, wenn man seine popularisierenden Gedankenflüge nicht auf tragfähige philosophische Füße stellt. Insofern ist es, wenn wir Adlers psychologischen Ansatz irgendwie weiter verfolgen wollen, unsere Aufgabe, ihn besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Das kann allerdings redlich nur im Rückbezug auf seine Texte geschehen.
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Hier ist also die Stelle, wo ich, Adler interpretierend, über ihn hinausgehe: Das Leben des Selbst ist das Gemeinschaftsgefühl. Für Adler ist dies transzendental gegeben. Ich füge hinzu: Das Transzendentale ist uns ciszendental gegenwärtig. Da solche Vokabeln im alltäglichen Sprachgebrauch so ungewöhnlich sind, weise ich darauf hin, dass in diesem Konzept keinerlei Metaphysik enthalten ist. Sogar das Transzendentale, das (mit Kant) nicht metaphysisch, sondern erkenntniskritisch gemeint ist, wird mit dem Begriff »ciszendental« in den Erfahrungsraum hereingeholt. Er bezeichnet die Gegebenheitsweise innerer Phänomene, die in der Erfahrung keine egologische Veranlassung haben, mit anderen Worten: nicht von einem Wollen des Subjekts gesetzt sind, sondern (aus unbewussten Quellen) zu uns kommen. Ich mache keine Aussage darüber, woher das Ciszendentale kommt und betone, dass ich diesen Begriff nur für die subjektive Erfahrung benütze. Wissenschaftler mögen die physikalischen und chemischen Prozesse in meinem Gehirn untersuchen, die solche Erfahrungen ermöglichen, die ich ciszendental nenne. Symptome, Fehlleistungen, Träume und manche Fantasien gehören dazu. Noch bedeutender aber: Stimmungen der Heiterkeit und der Schwermut, Angerührtsein vom Naturschönen, vom Charme, vom Erhabenen, unthematische Ansteckung durch die teilweise unbewussten Gefühle anderer (sogenannte »Gegenübertragung«), Liebe, Freundschaft, Erbarmen mit dem Entrechteten usw. – verborgen und von den Antreibern selten erkannt: auch zündende Einfälle, Problemlösungen, Erfolge, kognitive Transferleistungen, schöpferische, künstlerische Produktionen und viele andere haben ciszendentale Qualität. Wir können und müssen für sie die Bedingungen schaffen; aber wir können die ciszendentalen Erfahrungen nicht erzeugen. Eine gewaltige Anstrengung ist für die Vorbereitung nötig und erst recht dafür, die Einfälle und Umstimmungen auszugestalten. Der modische Jargon sagt heute dazu: etwas »in trockene Tücher bringen«. Damit deutet er weise, aber wohl unwissend an, dass alles Gelingen die Ereignisweise der Geburt hat. Das Geborenwerden ist ein, vielleicht das Paradigma des Ciszendentalen. Wenn ich die Formulierung Meister Eckharts zu Hilfe nehmen darf: Auch und gerade die »Geburt des Wortes« ist uns ciszendental gegeben. Ich klammere hier Eckharts trinitarische Implikationen aus; er meint wirklich das Sprechen des Wortes in der Sprache. Wie ein Gedanke,
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ein inneres Wort, in uns entsteht, ist ja ein Geheimnis. Jedenfalls weiß jeder, der sich selbst ein wenig kennt, dass er die Gedanken nicht macht. Hierher gehört mein Lieblingszitat von W. R. Bion (1994): »Die Gedanken suchen jemand, der sie denkt.« Nur Lügen und Überzeugungen werden vom Ich erfunden. Nach all diesen Ausführungen möchte ich das Gemeinschaftsgefühl als die Selbstoffenbarung des ciszendentalen Selbst charakterisieren. Die von Adler erwünschte Charakterprägung wäre in meiner Lesart das Offensein für das ciszendentale Selbst. Nun sollte ich wieder auf den »Sinn des Lebens« zurückkommen. Hier ergibt sich die Konsequenz von selbst. Solange der Sinn des Lebens in einem Wozu gesucht wird, halten wir uns im Bereich der Zwecksetzungen des Ich auf. Das heißt: Wir erschaffen einen Sinn, der, wie Adler gezeigt hat, entweder mehr oder weniger egoistisch ist oder mit dem Leben selbst und dem Prinzip der gemeinsamen Menschlichkeit übereinstimmt. Für mich entspringt ein solcher Weg nicht im Planen und im gezielten Wirken, wenn er auch dahinein mündet, sondern im Hören, in der Aufmerksamkeit auf die ciszendentalen Erfahrungen. Diese sind Äußerungen des Lebens selbst. Darum nehme ich Meister Eckhart beim Wort, wenn ich ihm auch nicht wahrhaft entsprechen kann: »Wer tausend Jahre lang das Leben fragte: ›Wozu lebst du?‹, könnte es antworten, es spräche nur: Ich lebe, um zu leben. Der Grund dafür ist: Leben lebt aus seinem eigenen Grunde und quillt aus sich selbst. Darum lebt es ohne Wozu, indem es sich selber lebt. Wer nun einen wahrhaftigen Menschen, der aus seinem eigenen Grunde lebt, fragte: ›Wozu wirkst du deine Werke?‹, würde er recht antworten, er spräche nur: Ich wirke, um zu wirken.«3
3 Swer daz leben vrâgete tûsent jâr: war umbe lebest dû? solte ez antwürten, ez spræche niht anders wan: ich lebe dar umbe daz ich lebe. Daz ist dâ von, wan leben lebet ûzer sînem eigenen grunde und quillet ûzer sînem eigen; dar umbe lebet ez âne warumbe in dem, daz ez sich selber lebet. Swer nû vrâgete einen wârhaften menschen, der dâ würket ûz eigenem grunde: war umbe würkest dû diniu werk? solte er rehte antwürten, er spræche niht anders dan: ich würke dar umbe daz ich würke (Pred. 5b; Deutsche Werke, ed. Quint I, S. 91,10–92,6).
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Innere Wahrnehmung Ein solches Denken hat bei der allgegenwärtig nach außen gerichteten Aufmerksamkeit wenig Chancen. Dass die abendländische Philosophie und Wissenschaft auf das Außen gerichtet ist, ist ein alter Hut. Man glaubt, das »Wesen des Menschen« erkennen zu können, indem man ihn als ein vernünftiges oder politisches Tier definiert und untersucht – wie es die Mediziner, vor allem die Hirnforscher tun, aber auch die akademischen Psychologen und zunehmend sogar die Psychoanalytiker: der Mensch als Gegenstand. Dass dabei das Sein vergessen wurde, wie Heidegger erkannte, mag uns Alltagsmenschen noch unberührt lassen. Die Seinsvergessenheit kann man als Philosophensache abtun; aber die Selbstvergessenheit wird nicht in Bibliotheken und Seminaren verhandelt, sondern in deinem und meinem je eigenen Leben. Jeder Therapeut kennt den wiederkehrenden Traum seiner Patientinnen, in dem sie plötzlich in einem abgesperrten Raum oder gar in einer Mülltonne ein vergessenes und verwahrlostes Baby finden. Zurzeit sind die Medien voll von diesem realen Albtraum. Wenn wir solche Manifestationen der Kindesausstoßung als soziales Devianzproblem oder – in der Psychotherapie – als Vernachlässigung des individuellen Kindheits-Ichs betrachten, erfassen wir nur den Gipfel des Eisbergs. In psychoanalytischer Sprache deute ich dies Symptom als Wiederkehr des Verdrängten, und das kollektiv Verdrängte ist das Selbst. Muss ich noch sagen, dass natürlich die exzessive kulturelle Ich-Haftigkeit wie auch der modische Egozentrismus der Psychotherapie die Verdrängung des Selbst betreiben, gerade im Gerede von der Selbstpsychologie, den Selbstkonzepten und der Selbststruktur? Denn die Pathologien oder die Differenzierungsgrade des »Selbst« werden da draußen in dem Gegenstand Proband oder Patient diagnostiziert, als ob es sie irgendwo dort wirklich gäbe, in der vor dem Diagnostiker sitzenden Fremd-Ich-Kapsel, in die er sich mit seiner diagnostischen Empathiesonde irgendwie einfühlt. Handelte es sich nur um eine Selbstvergessenheit, könnten wir uns vielleicht wieder daran erinnern. Es ist aber eine kollektive Selbstverdrängung. Hans Blumenberg (2006) schreibt: »Das Verschwinden des Menschen aus dem eigenen Bild, das er sich von der Welt macht
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[…], hat etwas von dem großen mythischen Vorgang an sich, den Freud unter dem Titel ›Todestrieb‹ beschrieben oder erzählt hat« (S. 15), und: »Wissenschaft ist ›Todestrieb‹ der Gattung, lange bevor sie diese ernstlich zu gefährden in die Lage kommt« (S. 16). Da es sich mit Freud um ein »mythologisches«, mit Heidegger um ein »seinsgeschichtliches« Geschehen handelt, nützt es nichts, an Umkehr und Selbstbesinnung zu appellieren, genauso wenig wie das neurotischen Symptomen gegenüber etwas nützt. Was helfen könnte, wäre allein die philosophisch geleitete tiefenpsychologische Untersuchung des Leidens, der Symptome und Fehlleistungen; aber nicht in diskursiver Überredungskunst, die uns die Experten in den Hörsälen, Zeitschriften und Feuilletons vorexerzieren. Wie könnte die analytische Methode, das heißt die Fragehaltung auf kollektive Phänomene angewandt werden? In der Fragestellung unserer Tagung auf das Phänomen des Selbstverlustes und der Sinnkrise? Wie finden wir in »öffentlichen Sachen (res publicae)« zu der bedächtigen, frei schwebenden, das heißt ungezielt zuhörenden Aufmerksamkeit auf unsere gemeinsame innere Erfahrung? – Daran ist nicht zu denken; denn einerseits widerspricht eine solche Haltung dem technologischen und ökonomischen Prinzip (Operationalisierbarkeit) und andererseits wird »Innerlichkeit« von der Aufklärungsfront der linken und halbrechten Meinungsmacher immer noch als romantisch, bürgerlich oder gar protofaschistisch verleumdet, manchmal noch mit dem Epitheton »deutsche Innerlichkeit« versehen. Kein Wunder: Das Verdrängte soll verdrängt gehalten werden, weshalb ja auch damals die anständigen Bürger Freuds Entdeckung als Pansexualismus verleumdeten. Heute muss etwas anderes verdrängt bleiben. Manchen gefällt die Fragestellung unserer Tagung nicht, habe ich gehört. Das könnte daran liegen, dass die Frage subversiv wirkt: »Wozu leben wir?«
Literatur Adler, A. (1933/1973). Der Sinn des Lebens. Mit einer Einführung von W. Metzger. Frankfurt a. M: Fischer. Adler, A. (1918/1974). Dostojewski. In: Praxis und Theorie der Individualpsychologie (S. 196-202). Frankfurt a. M.: Fischer.
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Adler, A. (1912/1997). Über den nervösen Charakter: Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie: Kommentierte textkritische Ausgabe. Hrsg. v. K. H. Witte, A. Bruder-Bezzel, R. Kühn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Antoch, R. F. (2001). Über Sinn und Unsinn des Begriffs »Gemeinschaftsgefühl« oder: Adlers verfehlte Theorie der Macht. In U. Lehmkuhl (Hrsg.), Abschied und Neubeginn, Kontinuität und Wandel in der Individualpsychologie (S. 25-44). München u. Basel: Reinhardt. Arbeitskreis OPD (2006). Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. OPD-2. Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung. Bern: Huber. Bion, W. R. (1994). Clinical seminars and other works. Hrsg. v. F. Bion. London: Karnac Books. Blumenberg, H. (2006). Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlass. Hrsg. v. M. Sommer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dubiel, H. (o. J. [2006]). Tief im Hirn. München: Kunstmann. Görnitz, T., Görnitz, B. (2002). Der kreative Kosmos. Geist und Materie aus Information. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Kant, I. (1783/1971). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In W. Weischedel (Hrsg.), Werke in zehn Bänden. Bd. 9 (S. 53-61). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. (= Kant-Studienausgabe, Bd. 6) Klein, M. (1949/1994). Neid und Dankbarkeit. In H. A. Thorner (Hrsg.), Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse (5. Aufl., S. 225-242). Stuttgart: Klett-Cotta. Kues, N. von (1450/2002). Idiota de mente – Der Laie über den Geist. In K. Bormann (Hrsg.), Nikolaus von Kues. Philosophisch-theologische Werke. Lateinisch – deutsch. Bd. 2. Hamburg: Meiner. Nietzsche, F. (1966). Werke in drei Bänden. Hrsg. v. K. Schlechta. München: Hanser. Stein, H. (2006). Quantenphysik, Neurowissenschaften und die Zukunft der Psychoanalyse. Auf dem Weg zu einem neuen Menschenbild. Gießen: Psychosozial-Verlag. Wiegand, R. (1998). Gesellschaftsverstand – Zum Verhältnis von Konflikt und Gemeinsinn. In R. Wiegand (Hrsg.), Individualität und Verantwortung. Sozialpsychologische Betrachtungen (S. 122-149). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Witte, K. H. (1988). Das schielende Adlerauge – oder wie Alfred Adler die Schätze seiner ursprünglichen Theorie übersah. Z. f. Individualpsychol., 13, 16-25.
Ulrike Kahl
Depression – eine Erkrankung unserer Zeit, die mit Sinnentleerung einhergeht
Depression – a disease of our times that comes with a loss of meaning On the basis of the case report, I describe the analytical psychotherapy of a patient with a serious depression. Treatment began when the patient was 41 years old, and lasted five years in total. According to classical diagnostic classification, the patient exhibited complex depressive symptoms of neurotic depression with narcissistic problems, his personality being depressive, obsessive-compulsive, and partly hysterical. It is important to stress the fact that there is no such thing as the one disease called «depression”. There is, rather, a complex series of disease-related events, based on different developmental stages and usually accompanied by comorbidity. In his writings, Freud was primarily concerned with psychotic depressions, and he thought these to be insusceptible to analytic treatment. Today psychoanalysis is increasingly concerned with the treatment of heavy depressions, using the modified analytic form of treatment that has been developed over the past years. On the basis of the case report I would like to point out that in the course of treatment, according to the current structural level, a modification of the analytic setting is required to initiate a process of maturation. An analytically modified form of treatment was applied, first with one to two hours in a sitting position, then after three years with three hours in a lying position.
Zusammenfassung Anhand der Falldarstellung beschreibe ich die analytische Psychotherapie eines an einer schweren Depression erkrankten Patienten. Zu Beginn der Therapie war der Patient 41 Jahre alt. Die Behandlung dauerte insgesamt fünf Jahre. Nach der klassischen diagnostischen Einordnung handelt es sich um ein komplexes depressives Krankheitsbild einer neurotischen Depression bei narzisstischer Problematik bei depressiv, zwanghafter Persönlichkeitsstruktur mit hysterischen Anteilen. Hervorzuheben ist, dass es die Krankheitsentität Depression so nicht gibt. Es handelt sich vielmehr um ein komplexes Krank-
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heitsgeschehen, das auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen basiert und in der Regel mit Komorbidität einhergeht. Freud beschrieb vorwiegend psychotische Depressionen und hielt diese analytisch nicht für behandelbar. Heute nimmt sich die Psychoanalyse der Erkrankung schwerer Depressionen zunehmend an, wobei die in den letzten Jahren entwickelte modifizierte analytische Behandlungsform angewandt wird. Anhand der Fallbeschreibung möchte ich darlegen, dass es im Laufe der Behandlung erforderlich ist, entsprechend dem aktuellen Strukturniveau, eine Modifikation des analytischen Settings vorzunehmen, um einen Reifungsprozess entwickeln zu können. Es wurde zunächst eine analytisch modifizierte Behandlungsform mit einer bis zwei Stunden im Sitzen, nach drei Jahren mit drei Stunden im Liegen angewandt. »Die Depression ist das Zerrbild der Liebe. Liebesfähig zu sein heißt, im Fall des Verlusts verzweifeln zu können, und die Verzweiflung schlägt sich in Depression nieder.« Andrew Solomon (Saturns Schatten, 2001)
Geschichtlicher Überblick
Antike Die Erkrankung der Depression wird seit der Antike beschrieben und hat zeitgeschichtlich bezogen verschiedene Interpretationen erfahren. Im 5. Jahrhundert v. Chr. beschreibt Hippokrates im Corpus Hippocratum im Rahmen der Viersäftelehre die Melancholie. Mit dem Begriff der Schwarzgalligkeit wird ein frühes psychosomatisches Konzept dargestellt. Aristoteles beschreibt in seiner großen Melancholieschrift den Grundgedanken zum Typus Melancholicus und dessen Beziehung zur Krankheit der Melancholie. Platon hat schon vor Aristoteles in Bezug auf die Hippokratische Säftelehre geschrieben: »Wo immer die Säfte der sauren und salzigen Schleime und alle bitteren und gallichten Säfte [...] ihren Dunst der Bewegung der Seele beimengen, da erzeugen sich auch allerlei Seelenkrankheiten. Darunter Erscheinungen von Trübsinn und Missmut.« Die Darstellung der Depression in der Antike zeigt anschaulich
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Abbildung 1: Ajax, römische Bronzefigur aus der Augusteischen
die römische Bronzefigur des Ajax: Odysseus erhielt nach dem Fall Trojas das Schwert des getöteten Achill. Ajax fühlt sich um die Macht betrogen und metzelt daraufhin in blinder Wut von Athene geblendet eine Viehherde nieder in der Meinung, dass er den Feind treffen würde. Mit Tötung der Tiere hat er den Achäern die Nahrungsgrundlage geraubt. Als Ajax seine unheilvolle Tat erkennt, beschließt er, sich umzubringen. Diese Entscheidung trifft er nach einer Zeit schmerzbewegten Grübelns.
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Mittelalter Im Mittelalter steht die Melancholie für fixe Ideen und Traurigkeit, im späteren Mittelalter erhält sie eine dämonologische Interpretation, während die somatische Genese aufgegeben wird. Der melancholische Mensch wird als anfällig dafür angesehen, vom Teufel besessen zu
Abbildung 2: Melancholia I, Albrecht Dürer
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werden. Es kommt unter anderem deswegen zu Hexenverbrennungen, um dem vermeintlich Bösen Einhalt zu gebieten. Melancholia I, der Kupferstich Albrecht Dürers aus dem Jahre 1514: Das Bild ist so groß wie ein Briefbogen. Es wurde in der Ausstellung »Melancholie« in Paris, Galeries Nationales du Grand Palais, und der Berliner Neuen Nationalgalerie (Oktober 2005 bis Mai 2006) gezeigt. Petra Kipphoff schreibt hierüber in der ZEIT (16. 02. 2006, Nr. 8 ): »In einer seltsam verdunkelten Küstenlandschaft sitzt eine in ihrer kompakten Physis fast männlich wirkende, schön gekleidete Engelsfigur am Boden. Sie stützt den Kopf mit der Faust, den Ellbogen auf das Knie, im Schoß hält sie einen Zirkel, der Blick ist entschlossen verloren. Um sie herum Werkzeuge und Messinstrumente. Ein Hund zwischen Kugel und Tetraeder, ein geflügelter Putto auf halber Höhe, eine Leiter, eine Waage, im Hintergrund ein Haus ohne Fenster, ein von einem Mondregenbogen durchschnittener Himmel vor dem ein fledermausartiges Tier ein Transparent ausbreitet: Melancholia I. Das programmatische Rätselbild humanistischen Wissens und Fragens, dessen Interpretation als Bild der Hoffnung, der Gefährdung oder der Resignation auch immer vom Geist der Zeit und der Disposition des Betrachters bestimmt ist, hängt im Arbeitszimmer von Goethes Dr. Faustus« (S. 51).
Neuzeit In der Neuzeit gliedert der Psychiater Emil Kraepelin (1913) die Arten der Melancholie als depressive Zustände in das »Manisch-Depressive Irresein« ein. Hubertus Tellenbach (1961) stellt den Typus Melancholicus als bestimmte Persönlichkeitsstruktur heraus, die durch Gewissenhaftigkeit, Ordentlichkeit und Gründlichkeit gekennzeichnet ist und mit dem sogenannten »Endon« einhergeht. In seinem Werk »Melancholie« stellt er zwischen der Erkrankung an einer psychotischen Depression, der sogenannten endogenen Depression und der Persönlichkeitsstruktur eines »Typus Melancholicus« einen Zusammenhang her. Das Gemälde »Melancholie« von Edvard Munch (1894/95) ist anschaulich für die Depression des modernen Menschen. Munch selbst
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Abbildung 3: Edvard Munch: Melancholie, © The Munch Museum/ The Munch Ellingsen Group/ VG Bild-Kunst, Bonn 2007
war schwer leidend. Sein gesamtes Werk zeugt von seinem von Depression und Angst geprägten Leid. Als er fünf Jahre alt war, verstarb die Mutter an Tuberkulose. Im Alter von siebzehn Jahren verstarb seine vierzehnjährige Schwester ebenfalls an Tuberkulose.
Psychoanalytische Depressionskonzepte Seit Freud wurde im Rahmen der Weiterentwicklung der Psychoanalyse eine Vielzahl von Depressionskonzepten entwickelt, wovon ich einige für die verschiedenen Entwicklungsstadien wichtige Konzepte herausheben möchte. Sigmund Freud beschreibt in »Trauer und Melancholie« (1917), dass die Depression mit frühem Objektverlust, Introjektion und Selbstwertgefühlsminderung einhergeht. Die Unfähigkeit die Libido aus dem verlorenen Objekt abzuziehen und sie auf neue Objekte zu richten, bewirkt Verdrängung von Aggressionen, die sich gegen die eigene Person und gegen die Umwelt richten können. Freud beschreibt die Depression als tiefe schmerzliche Verstimmung mit Verlust des In-
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teresses für die Außenwelt und der Liebesfähigkeit, mit Herabsetzung des Selbstgefühls. Die Trauer unterscheidet sich von der Melancholie durch Erhalt des Selbstwertgefühls. Alfred Adler (1920) wendet sich gegen die triebtheoretische frühe psychoanalytische Theorie der Depression und nimmt somit wichtige Entwicklungen der Ich-Psychologie, die unter anderen von Anna Freud (1936), Hartmann (1939) und Göppert (1968) vertreten wird, vorweg. Die neurotische Symptomatik ist nicht an spezifische Traumata gebunden, sondern die frühkindliche Entwicklung kann in allen Phasen eine Entmutigung und Ich- Verunsicherung bewirken, die durch äußere Ursachen wie Familiensituation, ungünstige Kindheitserlebnisse und soziale Benachteiligung verstärkt wird. Karl Abraham (1912) kennzeichnet die Depression durch Aggressionshemmung, Wendung nach Innen, was zur Manie führen kann. Melanie Klein (1935) beschreibt die »depressive Position« als universales Entwicklungsstadium im 4. bis 5. Lebensmonat. Melancholie entsteht bei misslungener Internalisierung des guten Objektes. Es kommt zur Aggressionshemmung und Angst, das gute Objekt zu verlieren. Edward Bibring (1952) löst sich von dem Triebkonzept Freuds und sieht den Selbstwertverlust der Depression durch narzisstische Bedürfnisse (auch phallische, anale) bedingt. Er fasst die Depression als gefühlsmäßigen Ausdruck eines Zustandes von Hilflosigkeit im Ich auf, der in einem Kontrast zu den narzisstischen Ansprüchen, sicher, geliebt, stark und liebevoll zu sein, tritt. Es resultiert das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit des infantilen Ichs als Prädisposition zur Depression. Die Disposition liegt nicht primär in der oralen Fixierung, sondern in der Verletzung des Narzissmus in dieser Stufe. Heinz Kohut (1971) beschreibt im Rahmen seiner Selbstpsychologie eine mangelhafte Spiegelung bei mangelhafter Teilhabe an Ruhe und Sicherheit eines idealisierten Erwachsenen. Es fehlt die bejahende freudige Reaktion auf die Existenz des Kindes und es kommt zur »leeren Depression«. Andrew Green (1983) formuliert das Konzept der toten Mutter. Mit der toten Mutter ist die emotional tote, weil dem Kind gegenüber reaktionslose, Mutter gemeint, die, selbst von einem Schicksalsschlag überwältigt, alle Besetzung abrupt vom Kind abzieht. Es stellt sich
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die »weiße Trauer der Leere« ein. Green sieht bei der klassischen analytischen Haltung die Gefahr, die Beziehung der toten Mutter durch Schweigen zu wiederholen. Gerd Rudolf (2004) beschreibt den depressiven Grundkonflikt (verlassen, unversorgt sein, Objektidealisierung, Objektenttäuschung, Objektverlustangst), der bei unterschiedlicher Krankheitsentität der Depression als gemeinsame Basis aller an einer Depression Erkrankten anzusehen ist. Alain Ehrenberg (1998) erklärt in seinem Buch »Das erschöpfte Selbst« die Depression zur Krankheit der zeitgenössischen Gesellschaft, deren Verhaltensnormen nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründen, sondern auf Verantwortung und Initiative.
Therapieverlauf Der Erstkontakt erfolgte zehn Jahre vor Beginn der analytischen Psychotherapie. Herr R. kam notfallmäßig in meine damalige Praxis für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Nach Trennung von der ersten Ehefrau stellte sich eine schwere Depression mit Verlassenheitspanik und Suizidalität ein. Nach mehrmonatiger psychiatrischer Krisenintervention konnte über eine sichernde, haltgebende Objektkonstanz der Therapeutin psychische Stabilisierung erzielt werden.
Therapiebeginn Herr R. kam mit der gezielten Frage nach einer Psychotherapie zur Vorstellung. Akuter Anlass zu diesem Entschluss war folgendes Ereignis: Seine Frau zog den Rollladen hoch und ein zwischen Fenster und Rollladenkasten verfangener Vogel entfloh mit wildem Geflatter. Der aus seiner Gefangenheit befreite, davonfliegende Vogel löste bei ihm Panik aus, sodass er schreiend aus dem Zimmer lief. Herr R. berichtete, dass er seit circa einem dreiviertel Jahr unter einer schleichend zunehmenden Depression leide. Es bestehe eine extreme Antriebshemmung, sodass er seiner Tätigkeit als Richter nicht mehr zufriedenstellend nachkommen könne. Die Akten würden sich
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auf seinem Schreibtisch stapeln, er fühle sich gelähmt, innerlich leer und ohne Lebenskraft. Bezüglich der unerledigten Arbeit fühle er sich schuldig und beschämt, verschweige das vor seiner Frau. Er leide zudem unter heftigen Magenschmerzen, einem Druckgefühl über der Brust, Ein- und Durchschlafstörungen, Denkstörungen mit Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen. Im Gegensatz zu der Depression vor zehn Jahren habe er jetzt keinen ersichtlichen Grund für seine Beschwerden. Er sei mit einer Medizinerin, die in leitender Funktion als Medizinjournalistin arbeite, glücklich verheiratet und habe eine zehnjährige Tochter, die eine gute Gymnasialschülerin sei. Als Richter könne er seinen Tagesablauf flexibel gestalten, sodass er mit seiner Frau die Alltagsverrichtungen teilen könne. Hierdurch sei er jedoch verplant und könne keinen Hobbys nachgehen. Wörtlich sagt er: »Ich habe von der mit Angst besetzten Arbeitshemmung so die Schnauze voll, dass ich Suizidgedanken habe, zum Beispiel, mir ein Messer in den Bauch zu rammen.«
Biographische Daten Herr R. wuchs in einer sechsköpfigen Familie mit einer älteren und zwei jüngeren Schwestern(+2, –3, –4 Jahre) auf. Der Vater war Radiound Fernsehtechniker von Beruf und als Einkäufer für ein großes Kaufhausunternehmen häufig unterwegs. Die Mutter sei unglücklich und immer unzufrieden gewesen. Sie sei vorwiegend mit den jüngeren Schwestern beschäftigt gewesen, da sie mit Kleinkindern besser habe umgehen können. Er habe mit der zwei Jahre älteren Schwester bis heute eine innige Beziehung. Sie habe Mutterfunktion übernommen. Seit seinem siebten Lebensjahr habe der Vater eine Geliebte gehabt. Als er zwölf Jahre alt war, habe der Vater dieses Verhältnis beendet, nachdem die Mutter mit Suizid gedroht habe. Die Mutter habe dem Vater bis zu seinem Tode nicht verziehen. Er, der Patient, habe sich mit dem Vater identifiziert und mit diesem gelitten. Von der Mutter habe er sich weggeschickt gefühlt, nachdem diese veranlasst hatte, dass er – angeblich wegen Linkshändigkeit und Legasthenie – im Alter von vierzehn Jahren in ein Internat kam. Zu erwähnen ist hier, dass die Mutter aus großbürgerlichem Milieu stammt und Salem-Schülerin
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war. Schon als Kind habe er Depressionen gehabt. Die Mutter habe ihm vorgeworfen, dass er mit seiner mürrischen und zurückgezogenen Art dem Vater ähnlich sei. Auch äußerlich habe er dem Vater geglichen. Gegen die Vorstellungen der Eltern habe er durchgesetzt, dass er im Alter von sechzehn Jahren wieder nach Hause kommen durfte. Nach dem Abitur studierte er Jura. Danach Anstellung als Richter. Schon im Alter von vierzehn Jahren habe er sich entschlossen, Richter zu werden, da er für gute und gerechte Verhältnisse in der Welt sorgen wollte. Er habe, um die Welt und das Leben zu verstehen, schon seit der Kindheit viel über Länder, Tiere und Urmenschen gelesen. Als Kind und Jugendlicher habe er schon immer für Gerechtigkeit gesorgt. Einmal habe er ein von den Spielkameraden gefesseltes Mädchen befreit, andere Male habe er gequälte Tiere gerettet. Seit 1988 ist er mit einer Medizinerin verheiratet, mit der er eine Tochter hat.
Diagnose Neurotische Depression mit narzisstischer Problematik bei depressiv zwanghafter Persönlichkeitsstruktur mit hysterischen Anteilen. In Anlehnung an Gudrun Banck (2000) teile ich den Behandlungsverlauf entsprechend des sich entwickelnden Übertragungsgeschehens in drei Behandlungsabschnitte ein: Anfangsphase, mittlere Phase und Endphase.
Anfangsphase Schon zu Beginn kommt ein ausgeprägter Ambivalenzkonflikt zum Ausdruck. Herr R. fordert dringend Termine ein, und es besteht ein großes Bedürfnis, unterstützt und gehalten zu werden. Die Mimik ist ernst, gequält, er vermeidet den Blickkontakt. Über Wochen herrscht Schweigen, eine unerträgliche Leere steht im Raum. In der Gegenübertragung sind stark ambivalente Gefühle vorhanden: mütterliche Hilfsbereitschaft, Ohnmacht, Ungeduld, Ärger. Er vermittelt das Gefühl, belebt werden zu müssen, was orale Versorgung mit Worten, Ideen und Aktivitätsanregungen herausfordert. In der Übertragung
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äußern sich aggressive Impulse durch unbezahlte Rechnungen, sodass ich gezwungen bin, wiederholt anzumahnen. Es kommt zu kritischen, abwertenden Äußerungen gegenüber der Therapeutin, dem Praxispersonal, wobei er grundsätzlich zu subtilem, abwertendem Zynismus neigt. Termine werden vergessen und er handelt die Frequenz auf eine Stunde alle vierzehn Tage herunter, was er rationalisierend mit Zeitmangel begründet. In Reaktion auf die quälenden Übertragungsmuster habe ich im Rahmen eines Kongresses verpasst, seinen Termin abzusagen. Auf meine Entschuldigung antwortet er: »Das kann mir doch nichts anhaben«. Die Anfangsphase ist durch einen in der Gegenübertragung nur schwer auszuhaltenden Beziehungskonflikt geprägt. Die hohe Ambivalenz geht mit oszillierender Nähe-Distanz-Herstellung bei gleichzeitig wechselnder Auf- und Entwertung einher. Über einen langen Zeitraum äußert er dem therapeutischen Fortschritt gegenüber Ungeduld. Später berichtet er, dass er den Verlauf der Therapie anfänglich schleppend erlebte. Er habe zunächst seinem Naturell entsprechend vernünftige, logische Lösungen/Erklärungen gesucht und umgekehrt eine »magische Wunderheilung« im Sinn gehabt, dass also durch einen Impuls alles wieder gut werde.
Mittlere Phase Nach 84 Stunden träumt Herr R. folgenden Traum und empfängt damit eine unbewusste Botschaft der abgestorbenen inneren Anteile: »Vor meinem Elternhaus liegt ein Kind tot in der Erde. Das Grab befindet sich neben der Eingangstreppe links. Das Kind ist nicht ganz tot, es streckt eine Hand hilfesuchend aus der Erde. Das Kind bin ich, ich bin circa sechs Jahre alt. Ich stehe als Erwachsener neben dem Grab und biete dem Kind an, es aus dem Grab zu holen. Das Kind antwortet: ›Ich kann noch nicht kommen, ich bin noch zu schuldig.‹« Er ist über den Traum erschüttert, weint und verspürt Trauer. Durch den Traum wird ihm vermittelt, dass er sich den Eltern noch verpflichtet sieht und von ihnen selbst vor dem Zuhause nur einen vergrabenen Platz ohne Geborgenheit und Beheimatung erhält. Gefühle zu seinen verborgenen Wünschen zu leben werden wach. Er muss aber noch wie tot und begraben vor dem Haus der Eltern ausharren, um gleich dem
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Vater in identifikatorischer Weise für seine Schuld zu büßen. Es entwickelt sich mehr Ausgewogenheit im therapeutischen Beziehungsgeschehen. Er kann sich besser in das Beziehungsgeschehen hineinbegeben und sich zunehmend mit seiner zuvor vergrabenen Gefühlswelt auseinandersetzen. Termine werden eingehalten, Rechnungen bezahlt. Es findet zunächst noch ein therapeutisches Setting im Sitzen mit zwei Stunden in der Woche statt. Der anfänglichen Sprachlosigkeit folgt ein nicht zu bremsender Redeschwall über moralische und politische Einschätzungen, über seine Gedanken zur Evolutionstheorie, Anthroposophie, Ethnologie und Ethologie. Er berichtet ausführlich über die Verhaltensweisen der verschiedenen Affenpopulationen und ihre Ähnlichkeit zum Menschen. In seinem Arbeitszimmer im Gericht habe er Bilder von Schimpansen hängen. Er sei stolz darauf, dass er dieses ausgefallene Hobby habe und erkläre seinen Kollegen ausführlich seine Kenntnisse hierüber. Auch wenn er von einigen Kollegen belächelt werde, könne ihm dies nichts anhaben. Schon seit früher Jugend habe er Bücher über die Zusammenhänge der Entwicklung der Tiere, der Menschen und der Erde gelesen. Im Rahmen des sich gut entwickelnden therapeutischen Beziehungsprozesses kann nach weiteren 50 Stunden das Setting im Liegen mit drei Stunden in der Woche angewandt werden. Er kann zunehmend Trauer zulassen. Vermehrt setzt er sich mit den schmerzlichen Beziehungserfahrungen zu beiden Eltern auseinander. Er erkennt, dass er sich verantwortlich für die Beziehung der Eltern fühlte. Er leidet an der Verlassenheit der Mutter und an der in Ungnade gefallenen Position des Vaters, mit dem er sich identifiziert und hierdurch schuldig gegenüber der Mutter wird. Er setzt sich mit seiner von Sehnsucht und Schuld getragenen Beziehung zur Mutter auseinander. In der Gegenwart hat die Mutter eine dem einzigen Sohn gegenüber klagende und einfordernde Haltung. Sie verlangt von ihm, ihr in allen Lebensbereichen hilfreich zur Seite zu stehen, ohne seine Hilfe hinreichend zu würdigen. Dies wird von ihm zunehmend wahrgenommen. Es stellt sich Trauer über den Tod des Vaters ein, der 1991 nach mehrjähriger Krankheit an einem Prostatakarzinom verstarb. Er habe den Vater bisher noch nicht betrauern können. Mit dem Tod des Vaters habe er etwas verloren, was er noch nie gehabt habe. In der Regression werden Trauer und Schmerz zugelassen. Er weint wiederholt heftig. In der Ge-
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genübertragung weichen Ambivalenz, Anspannung und Ärger kontinuierlicheren haltgebenden, tragenden, mütterlichen Gefühlen, später kommen auch im Rahmen der Vaterübertragung väterliche, stärkende Gegenübertragungsgefühle zur Geltung. Es zeigen sich positive Therapieeffekte: Überhöhte narzisstische Ansprüche werden zurückgeschraubt. Es stellt sich Lebenslust ein. Die Arbeit gelingt gut, er verfasst kurze und prägnante Urteile, der Schreibtisch ist aufgeräumt. Der inneren Getriebenheit weicht vermehrt Gelassenheit. Lust und Lebensfreude äußert sich, wenn er von Wanderungen mit Freunden und über die Einrichtung des neuen Hauses spricht, wobei er über eine ästhetische weinrote Tapete berichtet, die sonst keiner habe. Er reist mit der Familie nach Südafrika. Er erlebt hier innige Gefühle zur Frau und der Tochter. Ängstlich kuschelt sich die Frau nachts an ihn, er fühlt sich hierdurch männlich potent und schützend. Er träumt, dass er der Frau leckere Schokoladenstückchen mitbringen wollte. Er sei dann von einer Art Spion in einer großen Stadt zu einem Auto geführt worden, mit dem er gemeinsam mit seiner Frau durch eine schöne Landschaft mit klarer Sicht gefahren sei. Durch dieses Traumerlebnis fühlt er sich potent und gestärkt. Zuvor seiner tüchtigen Frau gegenüber neidisch und zum Teil lustverwehrend, kann er sie jetzt oral versorgen und mit ihr gemeinsam Genuss bei der Autofahrt erleben. Er muss allerdings noch von einem Unbekannten dahin geführt werden. Es kommt zu einem beginnenden Triangulierungsprozess. Durch die Südafrikareise angeregt, wird seine alte Sehnsucht geweckt, allein nach Namibia zu den Buschmännern zu reisen, um ursprüngliche Natur zu erleben und zu den Wurzeln seines Seins zu kommen. Nach einer länger anhaltenden Hochphase stellt sich wieder Distanz ein. Er wertet die erlebten positiven Gefühle ab. Er möchte keine banalen Gespräche über rote Tapeten führen. Er möchte weiter »Weltverbesserer« sein. Das Leben sei sonst banal und sinnlos. Er spricht von seinem »blöden Charakter«, in der verhaltenen, aushaltenden Situation zu verharren. Es stehe ihm sein Perfektionismus im Weg, weswegen er jetzt bei der Einrichtung des Hauses nicht fertig werde. Auch in der Kindheit habe er nie etwas fertig bekommen, zum Beispiel einen Chemieversuch oder die Eisenbahnanlage. Im Rahmen dieser neuerlichen leichteren Depression, in der er positive Beziehungserlebnisse wieder entwerten muss, kommt
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es zu einer Beziehungskrise mit der Frau. Diese sucht bei einem Kollegen Halt und betrügt ihn. Er gerät in Panik, ruft außerhalb der Stunden verzweifelt weinend an und äußert Suizidimpulse, sich einen Abgrund hinunterzustürzen oder mit dem Auto gegen einen Baum zu fahren. Im Rahmen des Objektverlustes kommt es zur tiefen Verzweiflung, die der Verlorenheit und dem Verlassenheitsgefühl in der Kindheit gleichkommt. Die Situation erinnert an die vor über zehn Jahren erfolgte Trennung von der ersten Ehefrau. Später berichtet er hierzu, dass die Therapie in seiner Verlassenheitspanik plötzlich eine andere Funktion bekommen habe. Er habe diese als Rettungsanker in einer elementar existenzbedrohenden Situation erlebt. Allerdings kam auch hiermit noch stärker die auch für ihn nicht mehr zu verleugnende Emotionalität in die Therapie, mit der er sich bisher so schwer tat. Auch nach Bewältigung der Ehekrise konnte er die sich entwickelnde bessere Öffnung zu seinen versteckten Emotionen beibehalten.
Endphase Es kommt zunehmend zur Triangulierungsfähigkeit. Die dyadischen Systeme mit Vater und Mutter werden wahrgenommen. Es erfolgt Entidealisierung seiner Ansprüche an sich und an die Mutter, den Vater und die Therapeutin. Vorwürfe der Mutter gegenüber treten in den Hintergrund. Die Mutter ihrerseits geht achtungsvoller mit ihm um. Der hohe, archaische Über-Ich-Anspruch kann im Rahmen des angebotenen Hilfs-Über-Ich besser integriert und gemildert werden. Er unternimmt allein die ersehnte Reise nach Namibia. Er ist mit den Buschmännern unterwegs. Er berichtet über die Wüste, dass er dort ein »komisches Heimatgefühl« in dieser trostlosen Landschaft erlebt habe. Die Kalahari sei die größte Sandwüste der Welt mit Tausenden von Kilometern Trockenwald. Er erlebt die Begegnung mit der Wüste als Selbstfindung: »In der Wüste bekam ich Kontakt mit dem ursprünglichen Leben. Ich habe die äußere Ursprünglichkeit und Kargheit gesucht, um in Bezug zu meiner inneren Verlassenheit und Leere zu kommen. Hierdurch gelang es mir, mehr zu mir selbst zu finden. Die Wüste ist, da bin ich hineingestellt und bar jeder Verantwortung.« Mit der ihm eigensten Erfahrung in der Wüste wird ein drittes Element
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in die therapeutische Beziehung gebracht, was Triangulierungserfahrung ermöglicht. Neben der anal-anankastischen Problematik kommt jetzt die verdeckte ödipale und phallische Thematik zum Vorschein. Es kann jetzt Bezug genommen werden auf das Erlebnis mit dem aus dem Rollladenkasten befreiten Vogel vor Beginn der Therapie. Der davonfliegende Vogel löste bei tiefen, verleugneten Triebwünschen hysterische Panik aus. Das Wüstenerlebnis ist mit erotischer Sehnsucht verbunden. Seine Vorliebe für die Tierwelt, insbesondere für die Affen, ist neben der Sehnsucht nach Beziehung mit verdeckten Triebwünschen einhergehend. In der Übertragung erhält die therapeutische Beziehung jetzt Flirtcharakter. Er nimmt Blickkontakt auf, scherzt, ist charmant und witzig. Gleichzeitig verliebt er sich in eine Kollegin, die Affäre dauert einige Monate. Mit Beendigung der Affäre beschließt er bei auslaufendem Stundenkontingent, die Therapie ebenfalls zu beenden, da er keine endlose Analyse wie Woody Allen machen wolle. Es gehe ihm hinreichend gut, und er fühle sich den Anforderungen des Lebens gewachsen. Ein Jahr nach Therapieende rufe ich Herrn R an, um ihn um eine Genehmigung zur Veröffentlichung seiner Fallvignette zu bitten. Er reagiert freudig und berichtet, dass es ihm recht gut gehe, natürlich immer wieder mit leichteren depressiven Einbrüchen. Stabilisierend für alle Familienmitglieder wirke sich der Kauf eines Pferdes aus. Auf Betreiben der Frau und der Tochter sei ein dunkelbrauner, fast schwarzer Hannoveraner gekauft worden, mit dem er einen stärkenden und kraftschöpfenden Kontakt habe.
Schlussbetrachtung Nach der klassischen diagnostischen Einordnung handelt es sich bei Herrn R. um ein komplexes depressives Krankheitsbild mit einer neurotischen Depression mit narzisstischer Problematik bei depressiv, zwanghafter Persönlichkeitsstruktur mit hysterischen Anteilen. Anfänglich mutete das Krankheitsbild bei schwer gehemmter Depression psychotisch depressiv an. Aufgrund der Gesamtdynamik zeichnete sich differentialdiagnostisch jedoch sehr bald die oben beschriebene Diagnose einer neurotischen Depression ab. Aufgrund
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eines anfänglichen nur mäßig integrierten Strukturniveaus bei einem Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt, Selbstwertskonflikt und Identitätskonflikt wurde zunächst eine modifizierte analytische Therapie im Sitzen angewandt, um zunächst die strukturellen Defizite zu bearbeiten. Deutungen stehen hier noch im Hintergrund, werden nur im Bezug auf das ambivalente Beziehungsangebot vorsichtig gegeben, um eine Wahrnehmung für das Gegenüber entwickeln zu können. Zunächst wird in der Gegenübertragung mit dem Angebot der Identifikation mit den lebenstüchtigen, kreativen Seiten des Patienten die mangelnde Selbstwahrnehmung nachgeholt und somit die strukturelle Integration gefördert. Auf der Bühne des genesenden strukturellen Bodens kommt der Patient jetzt in die Lage, die reiferen inneren Konflikte ins Spiel zu bringen. In der mittleren Therapiephase wird dies zunehmend möglich. Es kann jetzt das klassische analytische Setting mit drei Stunden im Liegen angewandt werden. Es kommt zur Regression mit Wahrnehmen vergrabener Gefühle, sodass Trauer über den Tod des Vaters erstmals zugelassen werden kann. Die verborgenen Sehnsuchtsgefühle zur Mutter, die – selbst chronisch unglücklich nach der Geburt der jüngeren Schwestern – sich von ihm abwandte (tote Mutter), weist auf den verdeckten ödipalen Konflikt. Mit weiterer Genesung zeigt sich in der Endphase der Therapie die ödipale Thematik. Moralisch narzisstische Ansprüche treten in den Hintergrund. Es kommt zu Triebwünschen und Trieberfüllungen. Die schon früh in Erscheinung getretenen triebdynamischen Aspekte können jetzt gedeutet und verstanden werden. Mit dem Kauf des Pferdes in der Schlussszene zeigt sich ein gut entwickelter Triangulierungsprozess, wobei das Pferd symbolisch für erfüllte Triebwünsche stehen kann.
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About Evil It is only with the mergence of the Christian God that evil appears as human sin. The compensatory hope of redemption is later transformed into dreams of progress towards a finally good world. The attempts to realize it as a »New Community« resulted in bloodshed. This disastrous outcome of the good intentions is what should be understood.
Zusammenfassung Erst unterm christlichen Gott erscheint das Böse als menschliche Sünde. Die kompensatorische Erlösungshoffnung wandelt sich später zu Fortschrittsträumen einer endgültig guten Welt. Ihre politischen Verwirklichungen als »neue Gemeinschaft« verliefen blutig. Dieses fatale Ergebnis guter Absichten gilt es zu verstehen.
Mein Thema ist mir im Berliner Adler-Institut zugelaufen, und zwar in Gestalt eines fragenden Weiterbildungskandidaten, der wissen wollte, ob denn der Mensch eigentlich von Natur gut oder böse sei. So angeregt, begann ich, Literatur zu durchforsten und alsbald wurde mir klar, daß man in Deutschland über das Böse nicht sprechen kann, ohne den Blick auf Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Judenvernichtung zu richten. Ich befolge diese Regel hier indirekt, indem ich zuerst Karl Löwith zu Wort kommen lasse, einen vom Nationalsozialismus lebensgeschichtlich betroffenen Philosophen, der 1973 starb. In seinem Bemühen, sich das Geschehene verständlich zu machen, hat 1 Auf Wunsch des Autors wurde der Beitrag teilweise in der alten Rechtschreibung belassen.
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Löwith besonders weit in die europäische Geschichte zurückgegriffen. Durch diesen weiten Rückgriff wollte er zeigen, daß allein schon der historische Rahmen wichtig ist, innerhalb dessen man die Frage nach dem Bösen in der Welt überhaupt angeht. Denn im philosophisch umfassenden Sinne gestellt, geht es bei der Frage um die Verfassung der Welt im ganzen. Nun wird aber schon in der biblischen Schöpfungsgeschichte die Welt nicht als das Eine und Ganze des von Natur aus Seienden anerkannt, das den Menschen mitumfaßt. Vielmehr wird die Welt hier als die vergängliche Schöpfung eines Gottes angesehen, der über der Welt und außerhalb ihrer existiert und der diese Welt um des Menschen willen gewollt hat. Derart als Schöpfungsgeschichte erzählt, läßt sich jedoch an den Schöpfergott die Frage richten, ob er denn auch das Böse in der Welt gewollt habe oder woher dieses denn sonst wohl komme. Auf solch gotteskritische Frage gibt die Bibel zur Antwort, daß das Böse dem widergöttlichen Willen des Menschen entstammt. Mit dieser Antwort wird Gott entlastet und zugleich auch die von ihm geschaffene Welt. Umso schlimmer jedoch für den Menschen, kann man sagen, denn die Herkunft des Bösen lastet nun auf ihm in seinem Verhältnis zu Gott. Aus theologischer Sicht ermöglicht es diese Erklärung jedoch, Gott selber als ein absolut vollkommenes, gutes und gütiges Wesen zu denken. Weil es dementsprechend neben ihm oder ihm gegenüber kein zweites vollkommenes Wesen geben darf, kann also auch der Satan nicht als allmächtig und allwissend gedacht werden. Der Teufel wird vielmehr ebenfalls entlastet dadurch, daß der Ursprung des Bösen im Menschen liegt, der da dauernd vor sich hinsündigt, indem er Gottes Befehl zuwiderhandelt. Wir werden sehen, daß viel später, in der nachchristlichen Philosophie, das Böse sogar noch stärker als menschliche Fähigkeit aufgefaßt und moralisiert wird. Blicken wir jedoch zuerst einmal zurück auf die vorchristliche, auf die griechisch verstandene Welt. Dort besaßen die menschlichen Untaten, so erschreckend und furchtbar sie sind, für das Ganze des Seins keine prinzipielle Bedeutung. Die Welt war hier verstanden als eine umfassende Ordnung, die in ihrem Wesen vortrefflich und gut ist und in einem mehr als bloß ästhetischen Sinne auch schön. Zur Wohlgeordnetheit dieses Kosmos gehörte im griechischen Denken auch die innere Verfassung eines
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wohlgeratenen Menschen. Diese Wohlordnung, welche Himmel und Erde und Götter und Menschen zusammenhält, zeigte sich besonders am regelmäßigen Umlauf der Himmelskörper, voran der Sonne, welche Tag und Nacht und die Abfolge der Jahreszeiten bestimmt. Wo deshalb die Griechen von Verhängnis und von unentrinnbarem Schicksal sprachen, da meinten sie nicht etwas, das dem Menschen gegen seinen Willen aufgezwungen wird, sondern sahen solche Vorgänge eingebettet in den Sinnzusammenhang der höchsten Ordnung. Zwar begann dann Sokrates nach der Ordnung der Polis und nach dem menschlichen Seelenleben zu fragen, doch blieb auch für ihn vorbildlich für die Menschenwelt die Ordnung der Himmelswelt. Deren große Vernunft behielt unbedingten Vorrang, mochte der vom Schicksal betroffene Einzelne dies begreifen oder nicht. Erst in der christlichen, in der theologisch auf den Menschen bezogenen Welt bekommt die Frage nach dem Bösen ein dramatisches Gewicht. Denn nun ist das Böse prinzipiell auf den Menschen hin zu denken, dieser wiederum ist für die Welt von universeller Bedeutsamkeit. Das Böse entspringt seiner Eigenwilligkeit, seinem Ungehorsam gegen Gott. In der Geschichte von Adam und Eva ist erzählt, wie es damit seinen Anfang nahm. Die Welt vor diesem Sündenfall müssen wir uns deshalb ohne die Unterscheidung von Gut und Böse denken. Sie war ein vor-moralisches Schöpfungsparadies, aus dem der Mensch durch sein Zuwiderhandeln herausfällt. Zur Strafe wird er sterblich und Zeit seines Lebens zur Mühsal der Arbeit verflucht. Sein übles Treiben führte in der Folge zum Brudermord Kains, und schließlich reute es Gott sogar, den Menschen geschaffen zu haben und er schickte die Sintflut. Doch wurde wegen seiner Frömmigkeit Noah mit seiner Familie vor ihren Wassern gerettet, und so gab es einen neuen Anfang. Leider ging es danach so sündig weiter wie zuvor, so daß die Kirchenväter und Theologen von Augustin und Thomas von Aquin über Luther bis hin zu Karl Barth diese Geschichte immer wieder aufs neue ausgelegt haben. Und noch in der Philosophie der beginnenden Neuzeit, die sich gegen die scholastische Tradition erhob, sieht Karl Löwith die christliche Überlieferung fortwirken. Als Belege zählt er auf, wie noch Francis Bacon, wenn er das Heidnische der griechischen Kosmosphilosophie kritisiert, sich auf die Heilige Schrift beruft; wie Descartes sich auf die
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Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen stützt, um unserer Selbst- und Welterkenntnis Gewißheit zu geben; wie Kant mit seiner Kritik der Vernunft gerade dem Glauben wieder Raum verschaffen will; und wie auch Fichte auf den christlichen Offenbarungsglauben bezogen bleibt, obwohl er des Atheismus beschuldigt wurde für die Art und Weise, wie er ihn auslegte. Und noch Hegels Philosophie ist recht eigentlich eine Rechtfertigung Gottes, denn sie begreift die Wege Gottes als den Geist, der in der Geschichte der Welt zu sich selbst kommt. Dann kam zwar Nietzsche, der es wieder wagte, die Welt vollkommen zu nennen und sie jenseits von Gut und Böse anzusiedeln. Aber nach ihm, etwa bei Karl Jaspers, wurde im christlichen Zusammenhang weiterphilosophiert. Und so blieb auch die Frage weiterhin offen, wie das aus dem Willen des Menschen entspringende Böse in eine Natur paßt, die doch von Gott geschaffen ist und deshalb vortrefflich sein sollte.
Theodizee Versuche, die Peinlichkeit dieses Widerspruchs aus der Welt zu schaffen, nennt man seit Leibniz eine Theodizee. Er bemühte sich dazu um den Nachweis, welch heilsame Wirkung innerhalb der göttlichen Schöpfung von den vorhandenen Übeln ausgeht. Keinem griechischen Philosophen, so erinnert Löwith, wäre es in den Sinn gekommen, die ewige Weltordnung, den Kosmos in solcher Weise zu rechtfertigen. Der kleine sterbliche Mensch, der in seiner kleinen Welt der Polis Unordnung stiftet und ungerecht ist, er reichte dort nicht heran an die wohlgeordneten ewigen Kreisläufe der Himmelswelt. Indem Leibniz jedoch weiterhin im Rahmen der biblischen Schöpfungslehre dachte, ist ihm die Welt im christlichen Sinne ein Insgesamt zufälliger Dinge, das nach dem Willen ihres Schöpfers auch anders hätte sein können, ebenso gut aber auch gar nicht. Erst deshalb, weil Gott auch anders hätte wählen können, kann Leibniz überhaupt fragen, ob er eigentlich die beste aller möglichen Welten gewählt und geschaffen hat. Pierre Bayle, der französische Aufklärer, hatte das verneint und daraus gefolgert, daß es Gott entweder an Macht gebricht oder an Weisheit oder an Güte. Leibniz erwidert nun mit der Gegenfrage, ob denn eine Welt ohne Übel überhaupt besser gewesen wäre?
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Man müsse vielmehr, so argumentiert er in scholastischer Manier, den Gesamtzusammenhang anschauen und dann werde man sehen, wie da alles aufeinander einwirkt und abgestimmt ist. Bayle jedenfalls sei im Irrtum, wenn er annimmt, das Ganze könne nur dann das Beste sein, wenn auch alle seine Teile vollkommen sind. Der Mensch mache freilich große Fehler und ganz besonders dort, wo die kleinen Menschenwelten kriegerisch aufeinanderstoßen. Gott aber wende diese Fehler mit wunderbarer Kunst um in eine Zierde seiner großen Welt. Dies zu sehen sei freilich oft so schwierig wie bei gewissen perspektivischen Erfindungen, wo erst die Verwendung eines bestimmten Glases oder Spiegels den wahren Gesichtspunkt ergibt. Leibniz zeigt allerdings auch Mut zum Ketzertum, denn er weicht von dem Dogma ab, wonach Gott die Welt einzig für den Menschen geschaffen habe. Er hingegen deutet an, die Welt mit allen ihren Lebewesen sei ein System, dessen Wechselbezüge ein kunstvoll durchdachtes Gleichgewicht bilden. Für den Optimismus, der seiner Deutung innewohnt, verspottete ihn Voltaire später in seinem satirischen Roman »Candide oder Der Optimismus«. Und noch später versuchte Kant, das notwendige Mißlingen aller Theodizeen aufzuzeigen. Löwith aber, dem ich immer noch weiter folge, sieht selbst diesen Versuch christlich eingefärbt, denn Kant wäre es im Leben nicht eingefallen, die Menschheit und deren moralische Vollkommenheit als obersten Zweck der gesamten Schöpfung einzusetzen, hätte er zum Beispiel auf Laotse oder Konfuzius als Grundlage der Religion zurückgegriffen. Nietzsche hat deshalb rückblickend die ganze klassische deutsche Philosophie von Kant bis Hegel eine »hinterlistige Theologie« genannt. Kant zog allerdings aus seiner Beschränkung auf die Menschenwelt auch einen Vorteil. Denn so konnte er sich auf den Hinweis beschränken, daß der Mensch vielleicht weder gut noch böse ist, sondern sich selbst erst durch seinen Willensentschluß zu dem einen oder anderen bestimmt. Diese Freiheit nannte Kant unerforschlich, weil sie ein Können ist, das sich nicht kausal auf eine empirische Ursache zurückführen läßt. Damit aber die Freiheit im Kampf gegen das Böse die Oberhand gewinnen kann, oder theologisch gesprochen: damit es zur Gründung eines Reiches Gottes auf Erden kommen kann, müssen diejenigen Menschen eine moralische Gemeinschaft bilden, die die Kräfte des Guten fördern und gegen das Böse gemeinsam ankämpfen wollen.
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Kant nannte sie eine unsichtbare Kirche. Durch diese Wortwahl konnte er dem Kirchenglauben zubilligen, sich immer schon auf dem Weg zum reinen Vernunftglauben befunden zu haben. Zugleich mochte der biblische Sprachgebrauch dem Verdacht des Königs und der preußischen Obrigkeit entgegenwirken, er neige dem Atheismus zu. Kant meldete dennoch Vorbehalt an gegen die religiöse Hoffnung auf die endgültige Etablierung eines moralischen Gemeinwesens. Denn der Mensch schien ihm doch aus einem zu krummen Holz geschnitzt, als daß je etwas völlig Gerades daraus gezimmert werden könnte. Seine Warnung blieb freilich vergeblich, denn die zum Fortschrittsglauben gewandelte Erlösungssehnsucht führte in zwei Weltkriege und ließ zur Erfahrung werden, daß die wissenschaftlichen Fortschritte auch das Böse in größtem Maßstab technisch organisierbar machen. Blicken wir noch einmal auf die neuzeitliche Weltauslegung zurück, so sehen wir Leibniz noch darum bemüht, die Güte Gottes angesichts der in der Welt vorhandenen Übel zu rechtfertigen. Kant buchstabiert das Reich Gottes bereits auf eine moralische Menschengemeinschaft herunter. Nach ihm aber wird Nietzsche erklären, daß Gott tot ist und daß eine moralische Verfassung der Welt sich also nicht mehr begründen lasse. Doch konnte selbst Nietzsche sich nicht ganz von der Schöpfungsidee lösen, denn wo er das lebendige Sein der Welt als einen Willen bestimmt, der nur sich selbst will und der sich im Kreis bewegt, statt auf ein Ziel hin, da spiegelt sich in dieser antichristlichen Formel doch noch der Wille des für tot erklärten Gottes, daß eine Welt sei und nicht das Nichts. Trotzdem: Indem Nietzsche von der Welt sagt, daß sie nur sich selber will, läßt sich nicht mehr fragen, wozu sie überhaupt da ist. Löwith, der diese Stufen philosophischer Reflexion rekonstruiert, wendet sich damit gegen den Allmachtswahn in den Geschichtsprojekten linker wie rechter Couleur. Sie wollen die menschheitliche Entwicklung in einen vollkommenen und endgültigen Zustand überführen. Er aber hält dem entgegen, daß Naturwissenschaften und Technik die Reichweite menschlichen Handelns zwar erheblich vergrößert haben, daß es gleichwohl aber eine utopische Machtphantasie bleibt, man könne sich die Natur alsbald gänzlich unterwerfen. In diesem Herrschaftsversprechen sah er vielmehr die christliche Erwartung einer endlichen Erlösung, einer Endlösung also, weiterwirken. Nur
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verschärft der Fortschrittsglaube die Lage, weil unter christlichem Einfluß das Böse in der Welt immer dem widergöttlichen Willen der Menschen angelastet wurde. Die Übel, unter denen stets viele zu leiden hatten, galten so als Strafe Gottes für der Menschen sündiges Tun. Dieses Schuldkonzept bewirkte einen Gehorsam, der zugleich die religiösen und politischen Autoritäten gegen Kritik abschirmte. Deshalb ahnten auch alle Obrigkeiten instinktiv die Gefahr, als bürgerliche Aufklärer in den europäischen Ländern zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert begannen, sich religionskritisch zu äußern und die menschliche Vernunft zum obersten Gesetzgeber erklärten. Zweifel an Gott bedeuteten ja zugleich Zweifel am Regiment derer, die sich als Gottes Stellvertreter oder als Herrscher von Gottes Gnaden verstanden. Leibniz wollte so gesehen noch zwischen den bürgerlich radikalen Gleichheitsforderungen und der alten Ordnung politisch vermitteln. In der Praxis jedoch ging es weniger um Theodizee. Dort gingen Bevölkerungen, wenn die Übel sehr groß wurden, oft auf die Suche nach Schuldigen. Stets fanden sie Wortführer, die auf Opfergruppen hinwiesen, an denen blutig Rache genommen werden konnte. Durch diese Jagd auf Sündenböcke wurde nicht nur eine vermeintliche Schuld an ihnen gerächt, sondern im gleichen Akt schützten sich die Angreifer davor, selbst in die Rolle der Schuldigen zu geraten. Mit ironischem Unterton hat der Philosoph Odo Marquard darauf hingewiesen, wie gut sich aber gerade Gott als Sündenbock eignete! Das Drama um den Gottessohn darf hier jedoch unerörtert bleiben, weil der dreieinige Gott, indem er schließlich für tot erklärt wurde, ja als Sündenbock wieder ausfiel. Umso spannender die Folgefrage, wer angesichts reichlich fortdauernder Übel seine Stelle bekam. Marquards Antwort lautet: Es ist derjenige, der sich selbst als Schöpfer und Erlöser immer mehr an die Stelle Gottes schieben will: der Mensch. Durch diesen Wechsel verschärft sich allerdings die Sündenbockjagd, weil die Verfolger nun nicht länger durch göttliche Gebote in ihrem Tun gehemmt werden. Umso mehr erblüht deshalb die Kunst, es nicht gewesen zu sein und stattdessen auf andere zu zeigen. Diese anderen, das sind die Feinde, die Kapitalisten, die Kulaken, die Intellektuellen oder wer sonst sich eignet. Keine totalitäre Herrschaft, so resümierte Manès Sperber bitter, könnte den Betrug ihrer Vollkommenheit auf-
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rechterhalten, würde sie nicht Verräter verfolgen. Allein in den Demokratien westlichen Musters ist es bisher einigermaßen gelungen, den Sündenbockmechanismus einzudämmen, weil die Opposition versuchen darf, Dinge, die schiefgehen, der Regierung anzulasten. Wird diese abgewählt, so erleiden ihre Mitglieder lediglich das Sitzen auf harten Oppositionsbänken.
Rousseau Bei der Suche nach Schuldigen, denen man die Übel der Welt anlasten kann, kommt man eigentlich nicht an Jean Jacques Rousseau vorbei. Rüdiger Safranski hat ihm 1987 in seiner Studie über »Das Böse« ein eigenes Kapitel gewidmet, und ich will das hier in gebotener Kürze wiedergeben. Rousseau klagte bekanntlich als Ursache aller Übel die Zivilisation an. Er tat dies im Blick auf das ständische Frankreich seiner Zeit, also noch unter vordemokratischen Verhältnissen. Die Zivilisation hätte die Menschen vom Pfad der natürlichen Ordnung abgebracht und sie aus ihrem wahren Selbstsein herausgerissen, so lautete sein Vorwurf. Dieses wahre Selbstsein sei verbunden gewesen mit einer Freiheit, die nicht auf Unterwerfung der anderen zielte. Vielmehr zeigte der natürliche Mensch den anderen gegenüber Sympathie und Mitleid, und beides als Gefühle, die keiner moralischen Gebote bedurften. All dies aber sei verloren, seit die Menschen in die Zivilisation gerieten. Ihren unglücklichen Anfang nahm diese, als Einige sich nicht mehr mit dem natürlich Vorhandenen begnügen wollten, um es in Ruhe zu genießen. Stattdessen wurden sie erfinderisch, steigerten die Erträge durch neue Arbeitstechniken, wollten dann das Gewonnene für sich behalten und sicherten deshalb ihr Eigentum ab. Später kam durch das Nacheinander der Generationen noch das Ererbte hinzu, und all dieser Besitz wurde nun verteidigt. Das reizte wiederum andere, ihn zu rauben, und so kam Gewalt ins Spiel. Der zunehmende Besitz grenzte die Menschen immer mehr voneinander ab, erzeugte Macht und Hierarchien, Konkurrenz und Verfeindungen, schürte Mißtrauen, erzeugte Täuschungen und Maskierungen. Rousseau beschrieb damit die Verhältnisse im Frankreich des 18. Jahrhunderts, doch erklärte er ihr Entstehen eigentlich nicht aus geschichtlichen
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Umständen, sondern behauptete, es habe eine Art vorgeschichtlichen Sündenfall gegeben. Durch ihn hätten sich die Welt, die anderen und sogar das eigene Selbst in einen Gegenstand verwandelt. Welt und Mitmensch wurden dadurch zu Mitteln der eigenen Selbstbehauptung, ihre Bedeutung reduzierte sich auf die bloßer Werkzeuge. Als Resultat hält Rousseau den reflektierenden Zivilisationsmenschen für ein Bündel berechnender Falschheit und erklärt ihn zum entarteten Tier. Zum versöhnenden Bewußtsein der Vorzeit kann er nur zurückfinden, wenn es ihm gelingt, sich aus dem falschen Leben wieder hinauszureflektieren und das nichtentartete Tier in sich wiederzuentdecken. Diese innere Umkehr ist mit der berühmten Losung »Zurück zur Natur!« gemeint. Rousseau hält diese Umkehr für möglich, weil der Mensch als freies und erkennendes Wesen an sich selbst arbeiten und sich, anders als die Tiere, selbst verändern kann. Doch hat er die Fähigkeit dazu bisher unzureichend genutzt, denn was er aus sich gemacht hat, ist kein vollendetes Werk geworden. Die ungeheure Wirkung, welche der Ruf »Zurück zur Natur!« erzielte, erklärt Safranski unter anderem damit, daß Rousseau den scheinbar kürzesten aller Wege weist, nämlich den Weg nach innen. Wer in sich geht, hört dort die Stimme der Natur als Stimme des Herzens. Allerdings war er illusionslos genug, um wahrzunehmen, daß die gute innere Natur nicht so dauerhaft und verläßlich ist, wie erhofft. Am besten kann der Mensch es noch bei sich aushalten, so fand er, wenn er in Ruhe gelassen und von den anderen möglichst wenig gestört wird. Diese Erfahrung übersetzte er in eine Geschichtsphilosophie, welche aus seinem eigenen Abseits zur Gesellschaft ein Glück vor aller Zivilisation macht. Es gab allerdings Zeitgenossen, die der versprochenen großen Kommunikation mit der Natur mißtrauten. Bei aller Kraft, mit der die Liebe Grenzen überwinden kann, bezweifelten sie doch, daß sie im Sozialen die Undurchsichtigkeiten einer sich berechnend verstellenden Gesellschaft wegschaffen kann. Wo jedoch die Vision des liebevollen Gleichgestimmtseins nicht von allen akzeptiert wird, da verwandelt sich die Welt jäh in eine Welt voller Feinde. Rousseau hatte nun aber in seiner Schrift über den Gesellschaftsvertrag eine solche umfassende Gleichgestimmtheit unterstellt. Ein gemeinsamer Wille, die volonté générale, sollte sich in den Institutionen und Gesetzen verkörpern. Und diese Gemein-
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samkeit war nicht gedacht als ein Kompromiß aus vielfältigen und widersprüchlichen Strebungen, sie sollte kein bloß statistischer Mehrheitswille sein. Die Folgen zeigten sich nach der französischen Revolution im Tugendterror Robespierres, der sich dabei ausdrücklich auf Rousseaus volonté générale berief. Durch die große Vereinigung aller sollte den gesellschaftlichen Verfeindungen ein Ende gesetzt werden. Dazu mußte das Eigentum beschränkt und die wirtschaftliche Konkurrenz ausgeschaltet werden, und hierfür wiederum brauchte es eine Staatsmacht mit religiöser Weihe. Die Menschen sollten den gesellschaftlichen Einrichtungen mit selbstloser Hingabe dienen und sich als Teil eines Ganzen fühlen, dem sie alle ihre Leidenschaft und Liebe schenken. Diese Liebesordnung aber kommt nicht ohne Bedrohungen aus. Wer seinem Egoismus verhaftet bleibt, der soll weder Mensch noch Staatsbürger sein. Rousseau war indes scharfsinnig genug zu ahnen, daß noch so gute staatliche Einrichtungen und auch nicht Drohungen den neuen Gesellschaftsvertrag sichern würden. Vielmehr galt es, einen neuen Menschen heranzubilden. Dessen Gesinnung sollte der Idee des Organismus entsprechen, in dem alle Glieder füreinander leben. In den Grenzen des Organismus gibt es zwischen ihnen keine Verfeindung, wohl aber Aufopferung. Dafür wiederum darf der Rousseausche Gesellschaftskörper nur so groß sein, wie der nachbarliche Sinn reicht und für solidarische Gegenseitigkeit sorgt. Deshalb sollte der als Betrüger gelten, der die Nachbarschaftsliebe für zu beschränkt erklärte und behauptete, die ganze Menschheit zu lieben. Ein Patriot, so widersprach Rousseau, ist nämlich hart gegen den Fremden, gerade weil er sein Gemeinwesen liebt. Denn es ist besser, nach außen verfeindet zu sein und dafür im Innern einer Gemeinschaft zu leben, die das Herz befriedigt. Der Mensch soll ein staatsbürgerliches Glaubensbekenntnis auf den Gesellschaftsvertrag samt seinen Gesetzen ablegen, das ihn auf das öffentliche Wohl als den höchsten aller Zwecke verpflichtet. Wer das Bekenntnis nicht ablegen will, ist aus der Gesellschaft zu verbannen, wer es trügerisch ablegt, verdient die Todesstrafe. Noch zu Lebzeiten nannte Voltaire Rousseau einen verachtungswürdigen Irren. Gleichwohl war seine Wirkung ungeheuer, selbst auf diejenigen, die seine Schriften nie lasen. Innerhalb der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts veränderte der Rousseauismus das Da-
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sein von Millionen. Ich will deshalb noch einmal auf eine Einzelheit der Theoriebildung Rousseaus zurückblicken, die aufschlußreich ist. Dort, wo er die ursprüngliche gute Menschennatur beschreibt, greift er nämlich nicht auf die üblichen Paradiesvorstellungen zurück. Vielmehr nimmt er in spätscholastischer Tradition den vorgefundenen gesellschaftlichen Zustand als Vorlage, um sie zu verneinen. Aus der Verneinung entspringt das friedliche, hilfsbereite und gefühlsgesteuerte Wesen, das sich nur leider in geschichtlich früher Zeit seiner guten Instinkte entledigte und auf den irrtümlichen und unheilvollen Pfad der Zivilisation einschwenkte. Die Instinktentbindung wird hier negativ gesehen, sie ist böse, sie bedeutet Entfremdung des Menschen von sich selbst. Diese Entfremdung gilt es rückgängig zu machen, um zur guten Natur zurückzufinden. Wir finden diese dreifaltige Figur später auch im Kommunismus und in der Lehre von der Volksgemeinschaft wieder. Beiden geht es um eine konfliktfreie Gemeinschaft der Gleichgestimmten. Klarsichtig und Böses vorausahnend hat Helmuth Plessner beide Varianten des Gemeinschaftsglaubens 1924 kritisiert. Die von allen Rousseauisten anvisierte Gleichgestimmtheit der Seelen sah er zwangsläufig daran scheitern, daß die menschliche Innerlichkeit sich restloser Erschließung entzieht. Und der erhoffte Gleichklang läßt sich ebenso wenig dauerhaft sichern, weil die menschliche Fähigkeit unausrottbar bleibt, sich selbst immer wieder neu und anders zu entwerfen. Durch diese Einwirkungsmöglichkeit auf sich selbst ist die Existenzform des Menschen künstlich oder sogar künstlerisch. Das hatte ja Rousseau selbst in Anspruch genommen, wo er den Sündenfall erklärte und die Umkehr verlangte. Will jedoch eine neue Ordnung diese menschlichen Gattungseigenschaften stillstellen, dann muß sie die Lebendigkeit der Menschen vergewaltigen. Ein erträgliches Verhältnis zwischen Freiheit und Verpflichtung, zwischen Nähe und Distanz war für Plessner nur organisierbar in einer Ordnung, die er Gesellschaft nennt. Gesellschaft ist der Gegenbegriff zu aller rousseauistischen Gemeinschaftsphantasterei, die im 20. Jahrhundert unter Hitler und in etwas anderer Weise unter Stalin so böse Realisierungsversuche erlebte und so verlustreich scheiterte. Weil aber die Gemeinschaftssehnsucht trotz alledem nicht stirbt, sondern auf jede neue Generation ihren Reiz ausübt und ihre Anhän-
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gerschaften findet, deshalb gilt es immer aufs neue, dem Mißverständnis entgegenzutreten, das Wesensmerkmal aller Gesellschaft sei soziale Kälte, und wer sich zu ihr bekenne, müsse dem Verlangen nach der Wärme menschlicher Gemeinschaft auf immer entsagen. Plessner hat diesem Irrtum schon 1924 mit deutlichen Worten widersprochen. Der lebendigen Gemeinschaft wollte er weder ihr Recht, noch ihren Adel und ihre Schönheit versagen. Nur wo sie als ausschließlich menschenwürdige Form des Zusammenlebens proklamiert wird, wo sie zum alles andere ausschließenden Prinzip erhoben wird, da sieht er sie in einen maßlosen und menschenverachtenden Radikalismus der Gemeinschaft ausarten. Der Glaube an die natürliche Gemeinschaft hat religiösen Charakter und deshalb hat Voegelin später auch von den Politreligionen des 20. Jahrhunderts gesprochen. Nur in einigen westlichen Ländern gelang es bisher dauerhaft, die Grausamkeiten religiöser Verfolgungen und innerer Hexenjagden zurückzudrängen und die errungenen Grundrechte in gelebter Verfassungstradition zu bewahren. Wer sich ihrer Entstehungsgeschichte zuwendet, stößt alsbald auf die europäischen Religionskriege. Sie waren gegenseitige Versuche, das Böse der je anderen Konfession kriegerisch und mörderisch zu vernichten, und sie führten in eine allseitige Erschöpfung. Aus dieser Ermattung erwuchs schließlich die Idee des weltanschaulich neutralen Staates. Ein wichtiger Nebenschauplatz dieses geschichtlichen Aufbruchs waren die späteren USA. Denn hier erkämpften sich Glaubensflüchtlinge gegen die englische Krone und damit gegen die alten Obrigkeiten die Staatswerdung ebenso wie die Glaubensfreiheit. Noch heute nährt dort die religiöse Bekenntnisfreiheit das zivilgesellschaftliche Selbstverständnis. Das Reich aber bildete in den Gründungsjahrhunderten der neuen Nationalstaaten den zurückbleibenden »Rest«. Deutschland in seiner Mitte, zersplittert und mit schwachem Bürgertum, fand erst 1871 zu nationaler Einheit. Und diese Einheit wurde unter der Führung Bismarcks herbeigekämpft, nicht unter der bürgerlichen Idee der Menschenrechte. 1935 nannte Plessner deshalb das zweite Deutsche Reich einen Machtstaat ohne Idee. In ihm geisterte statt der westlichen Gewaltenteilung, die der Eindämmung des Machtmißbrauchs dient, alsbald Nietzsche und der Wille zur Macht herum.
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Europäertum Plessner rief angesichts des Nationalsozialismus in Erinnerung, daß die Konkurrenz der Völker eine Konkurrenz ihrer Sinnordnungen ist. Diese Konkurrenz ist dem Umstand geschuldet, daß der Mensch kein natürliches und fragloses Verhältnis zu seiner Umwelt besitzt. Zwar ist ihm die eigene Ordnung vertraut und scheint ihm natürlich. Jedoch erfährt er in der Begegnung mit dem Fremden das andere Sein als Möglichkeit. Sie wirkt beunruhigend, erscheint bedrohlich, und aus der inneren Abwehr erwächst die Unterscheidung von Freund und Feind. Von altersher führte sie in die kämpferische Auseinandersetzung. Dieses Konkurrenzverhältnis, in dem die eigene Form als die richtige behauptet wird, ist sehr sehr schwer zu überwinden. Denn es genügt nicht, die Gegensätze theoretisch in einer universalen Humanitätskonzeption aufzuheben. Vielmehr ist verlangt, in der Vielfalt der Völker, Rassen, Staaten und Kulturen die eigene vertraute Lebensform als relativ zu sehen, als eine Möglichkeit unter vielen – und dies zu akzeptieren. Nur im alten Europa ist diese unwahrscheinliche Wende historisch einmal geglückt und strahlt bis heute in die anderen Weltzonen aus. Eine Sphäre der Freiheit war damit gewonnen, in der auch dem Fremden zugestanden ist, sich nach eigener Willkür selbst zu bestimmen. Diese Freiheit nannte Plessner Europäertum, und er hielt es für möglich, im Sinne des Fair play eine neuartige Konkurrenz mit den anderen Völkern und ihren Kulturformen zu beginnen. Vorausgegangen sah er das politische Entstehen von Nationalstaaten, die in ihrem Inneren solche Freiheit etablierten. Unter ihren Regeln kann ein Volk unter Völkern nur soweit notwendig sein, wie es sich nötig und notwendig macht. Seine Politik soll den Sinn haben, die eigene Tradition mit anderen und gegen andere durchzusetzen als eine Idee allgemeingültiger Menschlichkeit. Dabei aber wird das Bewußtsein um die Relativität des Eigenen eine Beschränkung auf die Kunst des Möglichen nahelegen, werden die Ziele relativer, die Kampfmittel andere sein. In Deutschland haben seine Darlegungen dem Europäertum nicht zum Durchbruch verholfen, haben seine Warnungen das Unheil nicht abwenden können. Das radikal Böse, von dem Kant 1792 sprach und an das Christoph Schulte 1988 in einer Studie anknüpfte, es hat
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sich in Deutschland ereignet. Als die Untaten nach der Niederlage von 1945 ans Licht kamen, war das Land geteilt. Im kommunistisch beherrschten Osten wurde die Schuldfrage schnell abgewehrt, indem die politische Führung ihr Herrschaftsgebiet für antifaschistisch erklärte. Im westlichen Teil (der Bundesrepublik) verdächtigte nach den ersten Jahren des Wiederaufbaus eine Studentenbewegung alle Väter der Mittäterschaft und betrieb lautstark nachholenden Ungehorsam. Der Nationalsozialismus wurde, um ein Wort Manès Sperbers zu benutzen, durch einen Nationalpazifismus ersetzt. Und unter dem moraltheologischen Einfluß der Frankfurter Schule galten die deutschen Verbrechen fortan als eine absolute Schuld, die man durch eine rituelle Praxis ständigen Andenkens gegen eine geschichtlich vergleichende Betrachtung immunisierte. Dieses Forschungstabu wurde 1986 im sogenannten Historikerstreit verteidigt und noch einmal nach der Wiedervereinigung, als Martin Walser 1998 in der Paulskirche die moralische Instrumentalisierung von Auschwitz kritisierte. Dabei wäre es vermutlich höchst aufschlußreich zu fragen, warum der Protest gegen den politischen Humanismus Westeuropas in Deutschland so besonders virulent wurde, und wie das neuzeitliche deutsche Verliererschicksal der Popularität Nietzsches Auftrieb gegeben haben mag, eine Popularität, die ja weit über den Kreis seiner Leser hinausreichte. Es wird zwar heute um unser Selbstverständnis durchaus gestritten – das Reizwort heißt Leitkultur – und ebenso um die deutsche Rolle in der Welt draußen. Jedoch geschieht beides weiterhin im Banne eines quasitheologischen Schuldkomplexes, der eine selbstbewußte Idee von Deutschland ausschließt. Sie aber ist Voraussetzung, um im Sinne des Plessnerschen Europäertums auf die erweiterte EU gestaltend und wetteifernd einwirken zu können. Aus gebotener Vorsicht möchte ich an dieser Stelle einfügen, daß meine Überlegungen weder Auschwitz leugnen noch die deutschen Verbrechen bagatellisieren sollen. Aber der vielzitierte Spruch »Wer seine Geschichte nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen«, er bedeutet doch eben auch, daß wir unsere Geschichte nicht im Stil der achtundsechziger Jahre auf einen zeitlich kleinen Ausschnitt davon einengen und diesen für das Ganze nehmen dürfen. Zu vieles bleibt auf diese Weise unbewußt wirksam, was
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schon vor den Nazis bei uns grassierte, zum Beispiel der Glaube an den väterlichen Staat; zum Beispiel die Amerikafeindschaft, welche vorher dem perfiden Albion, also England galt; zum Beispiel auch das Gerede von einem deutschen oder dritten Weg. Ausgeblendet bleibt so ferner, daß die autonome Vernunft, welche Kant dem Menschen zuschrieb, ebenso gut oder ebenso schlecht ein planmäßiges Handeln gegen das Sittengesetz anleiten kann. Der Marquis de Sade hat das in seinen Schriften durchgespielt. Seither konnten und können wir wissen, daß das Gutsein oder Gutseinwollen eine bewußte und systematisierte Bosheit zur Schwester hat, und daß wir das Böse mithin nicht einfach als das Ungeistige abtun können. Philosophisch, so faßte Schulte die Lage zusammen, ist nach dem Tod Gottes die Frage nach dem Sinn des Bösen und des innerweltlichen Leidens nicht mehr zu beantworten. Und besonders beunruhigend fand er, daß Theorien des individuell Bösen das Verbrechen nicht erklären können, das den Namen Auschwitz trägt. Die Organisatoren bedurften keiner über-banalen Bosheit, sie handelten vorschrifts- und pflichtgemäß. Das wollte Hannah Arendt 1964 mit ihrem Buch über Eichmann zeigen. Schulte zieht daraus den Schluß, daß die Definition von Recht und Unrecht nicht dem Staat überlassen werden dürfe. Er hätte hinzusetzen sollen: dem Staat, der sich rousseauistisch als große Gemeinschaft der Gleichgestimmten versteht. Denn es war wiederum Hannah Arendt, die an den bösen und fatalen Erfolgen der totalitären Regime etwas aufdeckte, das sich unserem Verstehen besonders schwer erschließt. Es sind nämlich gerade edelste menschliche Fähigkeiten, nämlich unbedingte Treue und Aufopferungsbereitschaft, welche in totalitären Prozessen ihre bösen Dienste leisten. In ihrer Propaganda beschwören sie das Ideal der großen Gemeinschaft, sie predigen den moralischen Kampf gegen Egoismus und persönliche Vorteilssuche, sie schüren Haß gegen Markt- und Geldwirtschaft als eine Welt des Feilschens und der privaten Bereicherung. Dann stacheln sie den Neid der Hungrigen zur Wut auf und wenden die Gewalt der Straße gegen die Demokratie. Noch 1963 hat Arendt die bange Frage beschäftigt, wie die Demokratie gegen Wiederholungen solcher Art zu schützen sei. Und 1987 hat der Philosoph Hermann Lübbe in einer kleinen Studie dargelegt, wie die Moral, wenn
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sie unter solchen totalitären Bedingungen zu entarten beginnt, allein noch durch einen Common sense verteidigt wird, der sich dem staatlich verordneten Gemeinschaftsgefühl gerade verweigert. Lübbe sieht sehr wohl, daß solcher Widerstand von schwacher Kraft ist. Das liegt zum einen am Unverhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Doch zum anderen hängt die Zahl der Mutigen wiederum mit dem Verhältnis zu unserer Geschichte zusammen. Denn Selbstgefühl haben wir als Bürger in dem Ausmaß, in dem wir unserer Geschichte zustimmen können. Und damit komme ich am Ziel meiner Überlegungen an. Wie vorhin dargelegt, hielt Schulte Auschwitz mithilfe bloß individueller Psychologie für nicht erklärbar. Aus dieser Verlegenheit rettete er sich mit der Bemerkung, zur Erinnerung an Auschwitz bedürfe es auch nicht gleich einer Theorie, sondern, bescheidener, des An-Denkens. Da aber benutzt er genau die geistige Denksperre, welche mit dem Relativierungsvorwurf arbeitet und die deutsche Geschichte der vergleichenden Betrachtung entzieht. Solange wir dieses Tabu respektieren, werden wir dem Unbehagen in unserer Schuldkultur nicht entkommen. Es ist uns nicht gelungen in den Jahren, als wir noch die Flucht nach Europa anzutreten suchten. Es gelingt uns ebenso wenig durch die vielen kleinen Fluchten, die wir so massenhaft begehen, daß unser Land Reiseweltmeister wurde. Und auch die grassierende sprachliche Flucht in Amerikanismen halte ich für ein Symptom, das keinen Ausweg bietet. Nein, wenn Adler recht hatte mit dem Wort, der Mensch sei von Natur weder gut noch böse, dann sollten wir die bösen Zeiten deutscher Geschichte mit Arendtschem Mut vergleichend betrachten und uns überdies besinnen auf die guten und erstaunlichen Leistungen in unserer Vergangenheit. Beides wird jenem bürgerlichen Common sense am ehesten aufhelfen, an dem es vor einem Dreivierteljahrhundert so bitterlich fehlte.
Literatur Adler, A. (zus. m. Jahn, E.) (1933). Religion und Individualpsychologie: Eine prinzipielle Auseinandersetzung über Menschenführung (S. 58-92). Wien u. Leipzig: Passer.
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Arendt, H. (1963/1994). Tradition und Geist der Revolution. In H. Arendt, Über die Revolution (4. Aufl., S. 277-362). München: Piper. Löwith, K. (1959/1985): Die beste aller Welten und das radikal Böse im Menschen. In K. Löwith, Wissen, Glaube und Skepsis. Zur Kritik von Religion und Theologie. Sämtl. Schr. 3 (S. 275-297). Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung. Lübbe, Hermann (1987). Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft. Berlin: Siedler. Marquard, O. (1992). Exkulpationsarrangements. In W. Oelmüller (Hrsg.), Worüber man nicht schweigen kann. Neue Diskussionen zur Theodizeefrage (S. 24-29). München: Fink. Plessner, H. (1924/1981). Die Grenzen der Gemeinschaft. Ges. Schriften V. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Plessner, H. (1931/1981). Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht. Ges. Schriften V (S. 135234). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Plessner, H. (1959/1982). Einführung zu: Die verspätete Nation. Ges. Schriften VI. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Safranski, R. (1997). Der gute Mensch und seine Feinde. In R. Safranski, Das Böse. Das Drama der Freiheit (S. 154-170). München: Hanser. Schulte, C. (1988). Radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche. München: Fink. Sperber, M. (2003). Brief vom 19.12.1983 an Rainer Schmidt. Abgedruckt bei R. Schmidt, Vom gehassten Krieg und vom friedlosen Frieden. Z. f. Individualpsychol., 28, 221-222.
Kurt Hemmer
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Death and the meaning of life These remarks are centered around the idea that human existence is in principle limited. Psychic health as well as psychic disease are shown to depend directly on the presence and absence of limits. Failing a successful integration of limits, human thought, feeling and action remains in the grip of a fiction of omnipotence. Everyday experiences of limitation are then difficult or impossible to accept or integrate. This leads to failure; and it is precisely because the individual denies limits in his or her thought and feeling that this failure is experienced as destruction. The thus beginning fear of destruction or even death is in sharp conflict with the fiction of omnipotence. Omnipotence and impotence are in irreconcilable opposition and by way of compromise they result in psychic and psychosomatic symptoms. The author tries to identify the interactive and intersubjective processes that lead to a dichotomy of limitation and unlimitedness, and to point out ways of subsequently dissolving the dichotomy and transforming it into a dialectic of limitation in an analytic process.
Zusammenfassung Die Ausführungen zentrieren sich um die Idee des grundsätzlichen Begrenztseins der menschlichen Existenz. Seelische Gesundheit wie seelische Erkrankung werden in eine direkte Abhängigkeit von Begrenztsein und Unbegrenztsein gestellt. Misslingt die Integration der Grenze, dann bleibt das menschliche Denken, Fühlen und Handeln der Allmachtsfiktion verhaftet. Alltägliche Begrenzungserfahrungen können dann nicht oder nur sehr schwer aufgenommen und integriert werden. Der Mensch scheitert und muss dieses Scheitern, eben weil er entgrenzt denkt und fühlt, als Vernichtung erleben. Die aufkeimende Vernichtungsangst oder auch Todesangst gerät in einen scharfen Konflikt mit der Allmachtsfiktion. Allmacht und Ohnmacht stehen sich unversöhnlich gegenüber und erzeugen kompromisshaft psychische und psychosomatische Symptome. Der Autor versucht aufzuzeigen, welche interaktiven und intersub-
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jektiven Prozesse zur dichotomen Gegenüberstellung von Begrenztsein und Unbegrenztsein führen und welche Wege nachholend im analytischen Prozess gegangen werden müssen, um die Dichotomie aufzulösen und in eine Dialektik des Begrenztseins zu überführen.
Einführung Die tragende Idee dieses Textes lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das menschliche Dasein allgemein und der analytische Prozess insbesondere lassen sich bewegen vom »Sterben und Werden« (ägyptische Mythologie), führen durch das »Tor des Todes«, der Todesangst (Hainuwele-Mythos) und münden idealerweise in einem selbst verantworteten, sinnvollen, am Gemeinschaftsgefühl orientierten Leben. Das Sterben und Werden sowie das Tor des Todes avancieren hier zu Dreh- und Angelpunkten eines gelingenden, sinnvollen Lebens und eines gelingenden analytischen Prozesses. Im Umkehrschluss heißt dies, dass ohne Sterben und Werden und ohne das Tor des Todes weder das Leben noch der analytische Heilungsprozess gelingen können. Die Phänomene Sterben und Tod erscheinen in dieser Gedankenkonstruktion, im Gegensatz zum Todestrieb von Sigmund Freud, nicht als die großen Vernichter und Zerstörer des Lebens, sondern – ganz im Gegenteil – als Kräfte, die das Leben erst zu sich selbst kommen lassen. Leben meint hier ein Zweifaches. Zum einen bezeichnet es die biologisch-physikalische Existenz, deren Ende sprachlich mit dem Begriff Tod erfasst wird, zum anderen ist es ein Begriff für den Daseinsvollzug eines selbstbewussten Subjektes. Für dieses Subjekt nun und für seine Daseinsgestaltung ist das Erkennen und Anerkennen der leiblichen Endlichkeit konstitutiv und grundlegend. Weil das menschliche Dasein ein Sein zum Tode ist, muss es sich nach Martin Heidegger (1926, 2006) um dieses Sein sorgen und handelnd seine ihm gegebenen Möglichkeiten ergreifen. Indem der Mensch in seiner Lebenspraxis sich um seine Daseinsmöglichkeiten sorgt, ist er schon auf ein Ziel hin ausgerichtet, womit seine Lebenspraxis sinnvoll wird. Gerade weil wir erkennen, dass der Tod unsere biologisch-physikalische Existenz vernichtet und unserem Dasein eine absolute Grenze setzt, und wir so zur Sorge angehalten werden, er-
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weist er sich als sinnstiftende Kraft. So wie der Tod unsere materielle Existenz vernichtet, so rettet uns die Idee des Todes als eine absolute Grenze und ist Fundament für eine sinnvolle Lebenspraxis. Die Frage nach einem übergeordneten, letzten Lebenssinn1, mit der sich die Menschheit, seit sie denken kann, beschäftigt und die bis jetzt keine abschließende Antwort erfahren hat, bleibt hier außerhalb der Diskussion (siehe dazu Fehige et al., 2004). Sie wird zur Beantwortung an jeden Einzelnen zurückverwiesen und rückt erst dann ins Zentrum analytischer Aufmerksamkeit, wenn sie zu Widerstandszwecken eingesetzt wird. Der auf den Raum der Lebenspraxis bezogene Sinn ist aus der Sicht der klinischen Theorie dringend zu differenzieren. Die alles entscheidende Frage ist, ob der Mensch im Angesicht seines Todes und der Todesangst mutig und entschlossen seine Entfaltungs- und Lebensmöglichkeiten annimmt, oder ob seine Lebenspraxis auf die Abwehr des Todes und die damit einhergehende Todesangst ausgerichtet ist. Ersteres erzeugt eine Lebenspraxis, deren Sinn und Zweck das Eigentlichsein wäre – hier gleichzusetzen mit seelischer Gesundheit – Letzteres hingegen würde im Uneigentlichsein münden, weil Sinn und Zweck in der Angstabwehr lägen. Das Uneigentliche, nosologisch gefasst, wäre am Ende die Neurose, das Borderline-Syndrom und die 1 Für Alfred Adler (1979, 1974) steht als absolute Wahrheit fest, dass das Leben einen übergeordneten Sinn hat. Der Sinn des Lebens besteht für Adler zum einen in der Erfüllung der drei Lebensaufgaben : Liebe, Beruf, Gesellschaft und zum anderen darin, dass die Erfüllung der drei Lebensaufgaben zugleich dem übergeordneten Ziel einer ewig zu denkenden Gemeinschaft dient. Das Problematische ist nun nicht das Ziel an sich, sondern die absolute Wahrheit, die Adler dieser Zielkonstruktion unterstellt. Er rückt das Ziel, eine für »ewig zu denkende Gemeinschaft« zu schaffen, in die Nähe des kategorischen Imperativs von E. Kant. Derart verabsolutiert wird aus einem akzeptablen Sollen ein unbedingtes Müssen. Menschen, die dieser Idee, aus welchen Gründen auch immer, nicht folgen wollen oder können, werden, wie bei Wahrheitskennern üblich, ausgestoßen oder mit negativen Urteilen belegt. Das sind dann bei Adler die, die auf der »unnützen Seite des Lebens« stehen. Eine solche Wertung beziehungsweise Haltung erscheint mir gesellschafts- und machtpolitisch mindestens bedenklich, auf jeden Fall aber ist sie therapeutisch kontraproduktiv. Die Annahme und Umsetzung dieser Position käme einem analytischen Selbstmord gleich; denn wo absolute Wahrheiten herrschen, gibt es nichts mehr zu verstehen und nichts mehr zu analysieren.
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Psychose. Demnach ist wesentlich, wie der Mensch mit dem Wissen um seine Endlichkeit, Begrenztheit und Ergänzungsbedürftigkeit zurechtkommt, und wie er mit seiner Todesangst umgeht.
Die Idee des Todes und das ganz reale Sterben und Werden Nachdem ich erklärt habe, weshalb das Leben ohne die Anerkennung des Todes schlecht oder überhaupt nicht geht, sind hoffentlich erste Gefühle einer Aussöhnung mit diesem im Grunde doch skandalösen Ereignis geweckt worden. Der im ersten Moment harmlos daherkommende Satz Heideggers vom Sein zum Tode wird meist ohne große Gegenwehr angenommen und akzeptiert. Trägt aber diese Zustimmung noch, wenn eine schwere Krankheit unser Leben bedroht, wenn Schicksalsschläge wie Unfälle, Mord, Selbstmord unsere nächste Umgebung erfassen? Oder wenn Ehen auseinanderbrechen, die Erziehung der Kinder misslingt, Prüfungen nicht bestanden werden, der Arbeitsplatz verloren geht? Wenn also Lebensträume und -planungen sterben und beerdigt werden müssen, weil sie irreparabel beschädigt worden sind. Und trägt die Zustimmung auch dann noch, wenn der nicht mehr abweisbare körperliche Zerfall die Zielgerade ankündigt? Ständig sind wir, bei genauerer Betrachtung, von Begrenzungen, Einschränkungen und von Verlust umringt. Die alltägliche Erfahrung zeigt uns immer wieder, dass es keine Unbegrenztheit, keine Unendlichkeit, keine Vollkommenheit gibt. Ständig sind wir von Realitätsschranken umgeben. »Demnach begegnen uns Endlichkeit und Tod, Mangel und Minderwertigkeit in den kleinsten Versagungen, Frustrationen, im eingeschränkten Modus des Räumlich- und Zeitlichseins, des Gestimmtseins und des Miteinanderseins. Sie zeigen sich im Verfallensein, in der Flucht, in der Abwehr und Sicherung, im Neid, im Hass, in der Eifersucht, in der Scham, im Ekel, in der Lieblosigkeit, im Zorn und in der Wut und ganz gewiss auch in der destruktiven Aggressivität2« (Condrau, 1992, S. 27). 2 Destruktive Aggressivität, die Demonstration von Macht und Allmacht werden hier nicht einem Trieb, dem Todestrieb zugeschlagen, sondern werden als ein Abwehr- und Verteidigungsverhalten konzeptualisiert, das einer
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Anna, die Patientin meines noch folgenden Fallberichtes, reagierte mit schweren psychischen und körperlichen Symptomen, als sie mit 60 Jahren aus ihrem Journalistenberuf, in dem sie großen Erfolg hatte und haben musste, ausschied, und sie, die sportliche, attraktive, erfolgreiche Frau sich einem zunehmenden körperlichen Zerfall ausgesetzt sah.
Sind wir also wirklich gerüstet, unsere Verluste zu verarbeiten und uns der letzten und wohl schwierigsten Lebensaufgabe zu stellen, nämlich unser Leben aufzugeben? Die thanatologische Forschung konnte einen signifikanten Zusammenhang feststellen zwischen »seelischer Gesundheit und allgemeinem Wohlbefinden« einerseits und »schwacher Angst vor dem Tod« andererseits. Seelisches Missempfinden, wozu allgemeine Anpassungsstörungen, psychosomatische Beschwerden oder Auffälligkeiten im psychiatrischen Sinne zählen, geht mit starker Angst vor dem Tod einher (Wittkowski, 2001, S. 19ff.). An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Die nicht wirklich integrierte Idee des Todes als nicht mehr hintergehbare Grenze führt zu einer störanfälligen Persönlichkeit, die dann in besonderem Maße wiederum Angst vor dem nicht Integrierten hat (Yalom, 2004, S. 259). Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Integration der Idee des Todes leistet leider noch nicht die Installationsarbeit. Gibt es Fingerzeige, wie diese Arbeit gelingen kann, und wo sind sie zu finden? Gibt es eine Art Installationsanleitung? Meines Erachtens gibt es eine solche Anleitung. Wir finden sie in den Mythen und Märchen der Völker. In diesen faszinierenden Erzählungen beschreibt die Gattung Mensch ihren eigenen Werdegang und gibt deutliche Hinweise auf notwendige Schritte, die zu gehen sind, damit der Integrations- und damit Gesundungsprozess in Gang kommt und zu einem günstigen Abschluss gebracht wird (Fromm, 1980; Stork, 1991). Aus diesem Grunde wurde eingangs die tragende Idee des Textes in Anlehnung an die Mythologie formuliert. Ich mache mir also die in den Mythen enthaltenen »phylogenetischen Erkenntnisspuren« zunutze. Eine weitere, modernere Anleitung zur Integration der Idee des Todes findet sich, das mag evolutionären Bedrohungs-Abwehrmatrix entspringt. So wie ein Tier, das sich in die Enge getrieben fühlt und das sich nicht durch Flucht entziehen kann, aggressiv wird und die Bedrohung abzuwehren sucht, so wird auch der Mensch, der sein Abwehrsystem bedroht sieht, alles und jeden angreifen, um selbst nicht in eine existenzielle Vernichtungsangst zu kommen.
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überraschen, in der Individualpsychologie Alfred Adlers. Doch zuerst zu den Mythen.
Die Mythen als Installationsanweisung Das ägyptische Amudat »Die Schrift des verborgenen Raumes«, die nur vom König benutzt werden durfte, gibt Einblick in den InnenRaum, in welchem man mit dem äußeren Auge nichts sieht. Diese Schrift verweist in ihrer Bilder- und Symbolsprache immer wieder auf den ständig sich wiederholenden Prozess des Durchgehens. Das Alte tritt in die Welt der Finsternis und der Nacht, des Todes ein. Das Überlebte, Erstarrte wird geläutert durch die Auseinandersetzung mit dem Bösen, welches mit stechendem Blick oder blind und taub geschildert wird, und das sich in Gestalt einer riesigen Schlange zeigt. Nach zahlreichen Versuchen, dieses Böse auszurotten oder zu bezaubern, erfolgt endlich der Durchgang durch den Schlangenleib, wonach das Wunder der Verjüngung geschieht und die morgendliche Neugeburt erfolgt (Clarus, 1985, S. 192f.). Hainuwele ist in den Mythologien des Volksstammes Wemale von den Molukkeninseln ein Mädchen, das die Menschen im Überfluss beschenkt und verwöhnt. Den Menschen wird diese Verwöhnung und Behütung unheimlich; sie töten das Mädchen und begraben es. Der Vater von Hainuwele gräbt den Leichnam wieder aus, zerstückelt ihn und vergräbt die Körperteile an allen Enden der Welt. Aus diesen Körperteilen entstehen die verschiedenen Erdfrüchte, von denen die Menschen fortan leben. Auf diesen Mord folgt die Strafe mit dem Tod. Fortan müssen alle, um Menschen zu werden, durch ein Tor gehen, was zugleich bedeutet, den Tod auf sich zu nehmen. Diejenigen, die nicht durch das Tor hindurchgehen, werden zu Dämonen oder zu Tieren des Waldes (zit. nach Stork, 1974, S. 275). Die, so das Fazit, die nicht durch den Schlangenleib gehen und die, die nicht durch das Tor des Todes gehen, sehen wir dann in unseren psychotherapeutischen Praxen und in den psychiatrischen Kliniken. Wird das Wesentliche der zitierten Mythen in einer Verlaufsgestalt zusammengefasst, so ergeben sich folgende Elemente. Es findet, wie in der Genesis auch, eine Vertreibung aus dem Paradies statt. Mit der
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Vertreibung einher geht der Verlust der Fülle und des ewigen Lebens. Der Tod und mit ihm die Endlichkeit und grundsätzliche Begrenztheit werden erkannt und angenommen. Dies alles geschieht unter tätiger Mithilfe eines Dritten, hier ist es der Vater3. Der Vorgang des Durchgehens wird etabliert und muss immer wieder aufgenommen und trotz Angst ständig wiederholt werden. Im Erkennen der eigenen Endlichkeit und der grundsätzlichen Begrenztheit nimmt der Mensch die Grundbedingungen seines Existierens wahr. Er ist zeitlich gebunden, nicht mehr allmächtig, sondern im Wesen hilflos und ergänzungsbedürftig. Er ist, um diesen Mangel zu beheben und um zu überleben, auf die anderen angewiesen. Es ist zu vermuten, dass in der Erkenntnis des ubiquitären Mangels das adlersche Gemeinschafts- und Kooperationsgefühl seinen Anfang nimmt (Adler, 1997). Die Mythen, Hainuwele sowie der christliche Vertreibungsmythos, beschreiben drei Bereiche, die wahrgenommen und überwunden werden müssen, damit der Mensch zu seinem Wesen findet. Da ist zum Ersten der Bereich der Fülle, des paradiesischen Zustandes, der Zeitlosigkeit, der Unendlichkeit, der Allmacht schlechthin. Es ist wahrscheinlich nicht falsch, wenn dieser Seinsbereich dem Erleben im Mutterleib und der Mutterwelt entspringt. Die anfangs notwendige Fülle (Mutterleib, Mutterwelt) gerät in Widerspruch zur Separation und Individuation. Unter Mitwirkung des Vaters wird die behütende Mutterwelt auf eine befruchtende Art zerstückelt, das heißt zerstört und zugleich in einem dialektischen Sinne aufgehoben, sodass sie fruchtbar werden kann. Die notwendige Tötung und Zerstückelung der Fülle zerschlägt den in der Fülle mit3 Der Vater ist der Mann, der vor der Frau, der Mutter keine Angst hat und der sich deshalb dem archaisch Verschlingenden, das auf unbewusster Ebene dem Weiblich-Mütterlichen zugesprochen wird, entgegenstellen kann. So erwächst dem Kind im Vater ein Begleiter, der mit ihm den Weg durch das Tor des Todes geht, und der dem Kind hilft, die Schuld sowie die phantasierte Aggression der Mutter zu ertragen. Auf unbewusster Ebene scheinen wir Menschen die Lösung von der Mutter als Muttermord wahrzunehmen. Indem, wie es im Hainuwele-Mythos geschieht, der Vater den Leichnam ausgräbt und ihn zum Nutzen der Menschen zerstückelt, bestätigt er die Richtigkeit und Notwendigkeit des Mordes. Seine unterstützende Art hebt die Schuldgefühle und Bestrafungsängste nicht gänzlich auf, macht sie aber erträglich (vgl. Stork, 1974, S. 288ff.).
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zudenkenden Allmachts- und Unendlichkeitsanspruch. Das wäre der zweite Bereich, der Übergangsbereich. Wie schwer es uns Menschen fällt, die zu leistenden Entwicklungsaufgaben anzunehmen, um dann als endliche Wesen, jenseits des Paradieses, unser Leben zu leben, also in den dritten Bereich zu wechseln, wird im christlichen Mythos durch den Engel Cherubim markiert. Mit einem flammenden Schwert ausgerüstet hat er die Aufgabe, die Rückkehr der vertriebenen Menschen zu verhindern. Cherubim stellt sich, analytisch formuliert, dem Sog einer malignen Regression in den Weg. Lasse ich als Analytiker die eben skizzierten Interaktionsfiguren oder auch Handlungsdialoge auf mich wirken, dann werde ich an heftige Übertragungs-/Gegenübertragungsszenen erinnert. Das Drama, das sich zwischen Patient und Analytiker in Szene setzt, fokussiert den schmerzlichen Prozess der Auflösung der Dyade und die Etablierung der Triade. Es ist für den Patienten wie für den Analytiker ein unbedingt notwendiges, aber auch immer wieder riskantes und beängstigendes Unternehmen. Auch wenn der Therapeut von einem exterritorialen Standpunkt aus die Tötung, Zerstückelung und Vertreibung zum einen organisiert und zum anderen mitfühlend begleitet, muss er, symmetrisch und intersubjektiv gedacht, diesen Weg immer wieder selbst gehen. Analytiker wie Patient müssen sich beide der Allmachts- und Ohnmachtsdialektik stellen. Sie sind angehalten, sich mit der Entgrenzung und Begrenzung auseinanderzusetzen (Wortmann, 2004). So greift mich Anna, was später im praktischen Teil nochmals ausführlich beschrieben wird, nicht nur heftig an, sondern sie will mich töten. In ihrem phantasmatischen Raum erlebt sie diesen Vorgang als eine reale Handlung. Die Tötungsintention ist auf die Mutter, deren Fülle und Allmacht gerichtet. Dieser phantasierte Tötungsvorgang entspringt nicht frühen Verletzungen und daraus entstandenen Aggressionen – diese Unterscheidung ist wichtig –, sondern ist ein für die Befreiung aus der Mutterwelt notwendiger Schritt. Ich gehe davon aus, dass auf der unbewussten Ebene das erste gegen die Mutter gerichtete Nein, das die Separation und Individuation einleitet und trägt, diese Phantasien und Ängste in Gang setzt. Hier baut sich das Tor des Todes auf, durch das im Hainuwele-Mythos die Menschen gehen müssen. Indem ich diesen Tötungsprozess als einen notwen-
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digen Befreiungsschritt annehme, werde ich zu dem Begleiter, den die Patientin in ihrer frühen Kindheit nicht hatte. Und nun zur Zerstückelung. Indem Anna in mir durch ihre Verneinung die Fülle und Allmacht zerschlägt und ich das ertrage, werden auch gegen sie selbst gerichtete Verneinungen erträglicher. Näherhin wird zugleich auch ihre Allmachtsfiktion aufgelöst. Die damit einhergehende Erkenntnis, dass sie und ich begrenzte Wesen sind, öffnet den Weg, uns dem zuzuwenden, was machbar ist. Da in dem Machbaren dialektisch auch das Nichtmachbare enthalten ist, sind wir immer wieder mit der Entgrenzungs-Begrenzungsdialektik befasst. Ist diese Dialektik letztendlich etabliert, ist auch der ehemals rigide Lebensstil flexibilisiert und zum ständigen Formenwandel bereit und fähig, so Heisterkamp und Zanke (1983) und Antoch (1994). Der Tötungs- und Zerstückelungsprozess wäre zu seinem Ende gekommen und trüge nun dauerhaft Früchte. Nun zurück zu dem dreigliedrigen Installationsweg, den die Mythen in ihrer Bilder- und Symbolsprache anbieten. Um einer rascheren Verständigung willen schlage ich eine begriffliche Verdichtung vor. Den Bereich der Fülle, der Allmacht und Entgrenzung nenne ich präportal. Der Durchgangsraum sowie die Interaktions- und Kommunikationsfiguren, die den Durchgang durch das Tor des Todes oder die Vertreibung organisieren, werden transportal genannt. Postportal meint die Welt, in der im christlichen Mythos die Realität in Form von Dornen, Disteln, Schweiß und Anstrengung den Menschen herausfordert. Es sei darauf hingewiesen, dass das Nacheinander, das die Mythen und die eben vorgestellte Begriffsbildung suggerieren, dem Medium Sprache geschuldet ist und dass dieses strikte Nacheinander der Phasen so nicht existiert. Die Phasen sind leider viel komplexer und verschränkter, als es die sprachliche Darstellung vermuten lässt. Als Hilfsvorstellung, mit der die Komplexität und Interdependenz etwas besser erfasst und beschrieben werden kann, dient mir die Chaostheorie mit ihrem hypothetischen Konstrukt des Attraktors. »Weil dieser Punkt die Bahnen anzuziehen scheint, nennen die Mathematiker ihn einen ›Anziehungspunkt‹ oder ›Attraktor‹. Ein Attraktor ist ein Gebiet im Phasenraum, das eine magnetische Anziehungskraft auf ein System ausübt und dieses anscheinend ganz in sich hineinziehen will« (Briggs u. Peat, 1990, S. 49). Die präportalen, transportalen, postportalen Phasen sind, so fasse ich es auf, »seltsame Attraktoren«,
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die mal mehr, mal weniger wirksam sind und die das interaktive, intersubjektive Geschehen im Phasenraum des analytischen Prozesses magnetisch in sich hineinziehen.
Die Individualpsychologie und ihr Beitrag zur Grenzinstallation
Ist das Losungswort der Freudianer der Ödipuskomplex, so ist das Losungswort der Adlerianer das Minderwertigkeitsgefühl. Zu diesem Minderwertigkeitsgefühl kehre ich nicht nur zurück, sondern es wird von mir radikaler gedacht und vom Wesen als Form des Todesbewusstseins und der damit einhergehenden Todes- und Vernichtungsangst verstanden. Genetisch kann der Ursprung dieser existenziellen Gefährdung auf die erste Torpassage, die Geburt, zurückgeführt werden. Wo vorgeburtlich noch Wärme, Geborgenheit und Fülle waren, ist nachgeburtlich Kälte, Haltlosigkeit, Ungeborgenheit, Mangel. All dies erzeugt eine Gestimmtheit der Ohnmacht und Minderwertigkeit. So gedacht verdankt sich das von Adler entwickelte Zentralkonstrukt, das Minderwertigkeitsgefühl, einer durch die Geburt erzeugten Vernichtungsangst. Ähnlich sieht es auch Kausen (1995, S. 28). Er schreibt im Wörterbuch der Individualpsychologie: »Soziale Angst, in letzter Konsequenz eine Todesangst, lässt sich somit als Wesensbestandteil des Minderwertigkeitsgefühls erkennen«. Durch tragende, sorgende und tröstende Beziehungs- und Bindungserfahrungen mit den primären Bezugspersonen werden diese existenziellen Ängste gemildert und für das Kind erträglich. Werden diese Bindungsqualitäten ausreichend lange erlebt, dann erfolgt eine Verinnerlichung, eine im wahrsten Sinne des Wortes Ein-Bildung. Diese inneren Bilder oder Imagines begleiten uns haltend und tröstend ein Leben lang. Misslingen hingegen die gegenseitigen Abstimmungsprozesse, in denen sich die so wichtigen haltenden Bindungs- und Beziehungserfahrungen realisieren oder ist das Kind darüber hinaus makrotraumatischen Ereignissen ausgesetzt, dann steht es schutzlos der Existenz- und Todesangst gegenüber.
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Anna zum Beispiel war ein ungewolltes Kind, das von der Mutter durch missglückte Abtreibungsversuche vernichtet werden sollte. Weder Mutter noch Vater konnten aufgrund eigener psychischer Probleme Annas frühkindliche Bedürfnisse nach Schutz, Halt und Geborgenheit altersgerecht aufnehmen und in einem ausreichenden Maße befriedigen. Sie waren nicht ausreichend in der Lage, Anna auf ihrem Wege zu ihren eigenen begrenzten Lebensmöglichkeiten, zu ihrem Eigentlichsein zu begleiten. Wie wenig sich die Mutter auf Annas Gefühle und Befindlichkeiten einstellen konnte, und wie sehr die Mutter in der eigenen, egoistischen Welt gefangen war, bringen folgende Schilderungen drastisch zum Ausdruck. Anna berichtet, ihre Mutter habe in ihrer Gegenwart nicht nur in anekdotischer Form über die vergeblichen Abtreibungsversuche gesprochen, sondern sich über ihr Aussehen und ihre angebliche Unbeholfenheit und Dummheit lustig gemacht. Der Vater, ein nicht nur beruflich, sondern auch bei Frauen sehr erfolgreicher Physiker, Kunst- sowie Musikliebhaber, habe mit ihr bei allen sich bietenden Gelegenheit angegeben. Schon als Kind habe sie vor ihm Gedichte aufgesagt und kleine Stücke aufgeführt, damit sie in den Genuss seiner Zuwendung kam.
In der nun einsetzenden verzweifelten Suche nach einem Mindestmaß an Halt wird das Kind nach allem greifen, was auch nur ansatzweise eine Art Zuwendungsgeste bei den primären Bezugspersonen erzeugt oder erzeugen könnte. Das Kind wird vom Eigentlichsein abgezogen und zum Uneigentlichen genötigt. Anna griff nach der Körperlichkeit, der Sprache, dem guten Aussehen als Mittel, um Zuwendung zu bekommen, und sie entwickelte zudem eine Helferhaltung. Sie entdeckte früh, dass sie in dem Moment die mütterliche Zuwendung erhielt, wenn sie auf die Versorgungswünsche der immer schon kränkelnden Mutter einging. Ein gegen Mutter und Vater gerichtetes Nein hätte deren Abwendung provoziert und frühe Vernichtungsgefühle aktiviert. Um diese abzuwehren, musste Anna ihre Körperlichkeit, ihr Sprach- und Selbstdarstellungsvermögen sowie ihre Helferhaltung in einem absoluten Sinne entwickeln und auch eisern verteidigen. Sobald diese Verteidigungslinie bricht, wird Anna von den darin mühsam kompensierten Vernichtungsängsten überschwemmt. Ganz tief in Annas Seele blieb natürlich die Sehnsucht nach der mütterlichen, paradiesischen Fülle, die die Mutter ihr nicht hat schenken können. Sosehr Anna diese Fülle als engagierte mütterliche Zuwendung einerseits benötigte, so wichtig war es ande-
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rerseits wiederum, genau diese regressive Sehnsucht zu spüren und zu überwinden. Derart mit der Abwehr der Vernichtungsangst beschäftigt, kann ein so geschädigtes Kind nicht mehr durch das »Tor des Todes« gehen und das Begrenztsein integrieren. Für so geängstigte Wesen ist es unmöglich, sich von den Eltern abzugrenzen, da Abgrenzungen nicht den Segen, sondern die Abstoßung der Eltern herausfordern. Diese Menschen bleiben nicht nur präportal fixiert, sondern nutzen zudem die dort herrschenden Allmachtsphantasien zur Abwehr unerträglicher Vernichtungsängste. So entwickelt sich ein Weltbewältigungsmuster, ein Lebensstil4, der Überlegenheits- und Allmachtsgesten zur Abwehr der Todesangst einsetzt. Hieraus erklärt sich von selbst, dass Begrenzungen, die als alltägliche Realitätsschranken daherkommen und allgegenwärtig sind, nicht aufgenommen werden können. Bei Anna bestanden die Realitätsschranken im Altern, dem Verlust des Arbeitsplatzes und der Überlegenheit ihres Mannes. Die Pathogenität des Lebensstils wird in diesem Denkmodell weniger am Grad des darin enthaltenen Gemeinschaftsgefühls gemessen, sondern an der darin gebundenen, kompensierten Minderwertigkeits- sowie Todes- und Existenzangst.
4 Die kulturellen und technischen Leistungen der Menschheit können in ihrer Gesamtheit als ein phylogenetischer Lebensstil gedacht werden, der wie der individuelle Lebensstil auf Existenzsicherung ausgerichtet ist. Diese eigentlich zur Besänftigung existenzieller Ängste geschaffenen Leistungen können ab einem gewissen Komplexitätsgrad wiederum in eine erneute Bedrohung umschlagen und verwickeln uns Menschen dann in unlösbare Widersprüche, falls wir auf die erneute Bedrohung wieder und immer wieder mit einem kompensierenden Sicherungsverhalten reagieren. Verwiesen sei hier auf die Waffen-, Atom-, Gen- und Medizintechnik. Das präportale Verlangen, uns gänzlich gegen den Tod und die Endlichkeit abzusichern, läuft phylogenetisch wie ontogenetisch genau auf die Katastrophe zu, die es zu verhindern gilt. Diese sich zuspitzende Spirale scheint nur aufhaltbar, wenn wir individuell wie kollektiv den Tod und mit dem Tod unser Endlichsein ruhiger annehmen. Entscheidend sei, so Heidegger, wie der Mensch mit seinem Sein zum Tode zurechtkommt.
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Implikationen für die Behandlung Was mache ich als Analytiker konkret, um die Idee der Grenze zu installieren, und wie behandle ich die Allmachtsfiktion? Vorweggestellt sei eine Mahnung, die Bertrand Russell in dem Buch »Eroberung des Glücks« dem Erzieher bezüglich des aufscheinenden Neides mit auf den Weg gibt. »Bereits bei Säuglingen lässt er [der Neid] sich deutlich wahrnehmen, und der Erzieher hat alle Ursache, mit der zärtlichsten Sorgfalt auf diese Anlage zu achten« (2005, S. 70). Ich möchte diese »zärtlichste Sorgfalt« auf ein Phänomen gerichtet wissen, das meines Erachtens in der klinischen Praxis die Installationsarbeit trägt; es ist der Zweifel und die im Zweifel essentiell enthaltene Verneinung. Die zärtlichste Sorgfalt ist deshalb angebracht, weil der Zweifel das Tor zu frühkindlichen Vernichtungsängsten und Mangelzuständen öffnet. Die Frage nach einer Operationalisierung der »zärtlichsten Sorgfalt« ist wegen ihrer Bindung an Person und Situation nicht zu beantworten. Die praktizierte Sorgfalt ist immer wieder neu auf die jeweils gegebene interaktive und interpersonelle Dynamik auszurichten. So kann die »zärtlichste Sorgfalt« sich einerseits zeigen als haltgebende, mitfühlende, tröstende Geste, erschöpft sich aber nicht darin, weil sie andererseits auch dosierte und manches Mal auch hartnäckige und aggressive Konfrontationen und Klarifikationen mit einschließt. Wie kommt aber der Zweifel daher? Worin zeigt er sich? Denn erst wenn wir den aufkeimenden Zweifel erspüren, können wir unsere Sorgfalt ausrichten, ihn fördern, bis die Allmacht zerstückelt ist und die Idee der Grenze sich etabliert hat. Der Zweifel erschafft also das dritte, die Dyade auflösende Element. Er fördert die Triangulierung und er differenziert die Selbst- und Objektrepräsentanzen. Im Hainuwele-Mythologem finden wir den aufkeimenden Zweifel zuerst im Unheimlichen. Den Menschen wird Hainuweles Behütung und Fülle unheimlich. Daraus erwächst die Tötung, die Zerstückelung und der Gang durch das Tor des Todes. Im ägyptischen Amudat motiviert der aufkeimende Zweifel am Alten, Erstarrten und Überkommenen die Menschen, sich zu erneuern. In der Genesis sät die Schlange den Zweifel, der dann Eva und Adam nach Höherem greifen lässt. Stellen wir in einem Gedankenexperiment dem nicht zweifelnden
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den zweifelnden Menschen gegenüber und betrachten deren Lebenspraxis. Der nicht zweifelnde Mensch lebt im Alles- oder-Nichts-Paradigma. Entweder ist alles gut oder alles ist schlecht, entweder ich mache alles richtig oder ich mache alles falsch, entweder ich bin allmächtig oder ohnmächtig. Fehlt der Zweifel, fehlt die Dialektik. Alles steht sich antithetisch und in dichotomisierter Form gegenüber. Der Zweifel ist es, der die Entdialektisierung aufhebt und das Entwederoder zum Mehr-und-weniger und zum Sowohl-als-auch umformt. Strukturell so ausgestattet geht der Mensch die Lebensaufgaben teils optimistisch und teils pessimistisch an. Er rechnet mit Erfolg, schließt aber den Misserfolg nicht aus. Der etablierte Zweifel relativiert ganz automatisch die nach oben zur Überlegenheit strebende Bewegung, wie er gleichermaßen die nach unten gerichtete Bewegung auffängt. Im Zweifel versöhnen sich, dialektisch gedacht, die extremen Gegensätze. Es gibt also gute Gründe, dem Zweifel unsere zärtlichste Sorgfalt zu schenken. Der Zweifel wäre dann das verändernde Neue, das durch den analytischen Prozess gebildet und geformt wird und das die seelische Gesundung trägt. Als Therapeut kann ich nun die krasse Gegensätzlichkeit, mit der Patienten auf Realitätsschranken reagieren, aufgreifen und sie mikroanalytisch untersuchen. Indem ich fragend und befragend mich und den Patienten auf ein Problem oder eine Problemsicht ausrichte, führe ich den Zweifel ein. Das Hauptaugenmerk bleibt jedoch auf den Affektbereich gerichtet. Die Infragestellung nämlich stört die Allmacht und droht den Patienten in eine vernichtende Ohnmacht beziehungsweise in eine vernichtende Minderwertigkeit zu stürzen. Hiergegen wird dann wieder eine Abwehraggression aufgebaut. Als Anna zum Beispiel über eine längere Zeit zu spät kommt, frage ich nach. Ich deute nicht, sondern leite eine kritische Betrachtung ein. Sie berichtet, dass sie zwar pünktlich vor der Praxis stünde, aber erst nach vier bis fünf Minuten läute. Ihr Zögern entspringe einer Phantasie, derer sie sich schäme und die bei mir mit Sicherheit Hohn, Spott und Abstoßung hervorrufen werde. In dieser Phantasie wähnt sie mich beim Pausenkaffee und geht von einem Wutausbruch meinerseits aus, falls sie mich dabei störe.
Die primäre Bezugsperson, die ich in der Übertragung für die Patientin bin, darf in ihrer Genussfülle auf keinen Fall gestört werden.
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Jedwede Störung, wodurch auch immer ausgelöst, zündet eine Art Vernichtungswut. Anna selbst verhält sich in ihrem Lebensbewältigungsmuster ähnlich extrem. Wird sie gestört, reagiert sie ähnlich vernichtend. Diese Miniszene markiert nochmals Annas nun verinnerlichte, früher jedoch äußere Bindungs- und Beziehungserfahrungen. Nur durch eine Totalanpassung an die elterlichen Erwartungen konnte sie sich ein Minimum an Zuwendung sichern. Störungen der Mutter, es sei an deren Abtreibungsversuche erinnert, und nun auf mich bezogen – Störungen des Therapeuten durch eigenständiges Begehren –, lösen Abwendung und Vernichtung aus. Den Unterschied zwischen Analytiker und Patient im Umgang mit Zweifel, Kritik und Differenz sehe ich darin, dass die Vernichtungsangst, die beim Patienten ausgelöst wird, beim Therapeuten nicht mehr besteht, sondern in eine ausreichend gute Diskursfähigkeit übergegangen ist. Diese Diskursfähigkeit, die von Infragestellungen lebt, begründet und fundiert letztendlich auch die zärtliche Sorgfalt. Eltern und gleichermaßen Therapeuten, die in dieser Fähigkeit stehen, werden Verneinungen als ein gutes Ereignis begrüßen und mit »zärtlicher Sorgfalt« weiter fördern. Die Allmacht des Kindes, wie des Patienten gleichermaßen, wird durch das Nein der Bezugspersonen eingegrenzt, bis Kind und Eltern, bis Patient und Therapeut in diesem gegenseitigen Verneinungsprozess in ihrem subjektiven Begrenztsein und gegenseitigen Abgegrenztsein angekommen sind.
Klinisch-praktischer Teil An einem etwas ausführlicheren Beispiel möchte ich die Genese des Fördervorgangs näher beschreiben. Der Fördervorgang selbst gehört zentral, von der Metatheorie her gesehen, zum transportalen Bereich. Sie kennen inzwischen meine Patientin Anna, deren Therapieverlauf ich hierzu heranziehen möchte. Die schriftliche Darstellung von Behandlungsverläufen ist immer ein recht schwieriges und delikates Problem (vgl. hierzu Eagle, 1988, S. 89ff.). Um einen ehrlichen Eindruck zu vermitteln von dem, was in der Therapie wirklich gemacht wird und wie Patienten wirklich reagieren, müsste ich ein Ton- und
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Bildprotokoll des gesamten Therapieverlaufes vorlegen, was leider nicht geht. Hinzu kommt, dass sich die Auswahl der Therapieszenen nach den vorgestellten metatheoretischen Überlegungen richtet, um deren heuristischen und praktischen, klinischen Wert zu belegen. Und natürlich habe ich ein Beispiel ausgewählt, an dem sich das theoriegeleitete Praktizieren darstellen lässt. Nach diesem Prolog zu Annas Therapie: Anna kam zur Therapie wegen heftiger Schwindelanfälle, depressiver Gefühlszustände und einer Messerphobie. Sie befürchtete ernsthaft, mit einem Messer ihren Mann zu töten. [Es geht hier jetzt um die etwa einhundertste Stunde einer analytischen Psychotherapie, Frequenz: zwei Wochenstunden.] Wir begrüßen uns, geben uns die Hände und nehmen einen kurzen Blickkontakt auf. Alles scheint wie immer, und dennoch registriere ich aus dem Augenwinkel eine Differenz, ein Anderssein. Der Händedruck der Patientin schien mir flacher, kürzer als sonst zu sein und der Augenkontakt ausweichend, flüchtig. Anna legt sich auf die Couch und ich setze mich in meinen Sessel. Irgendwie fühle ich mich unwohl. Allmählich drängt sich mir der Gedanke eines Abbruchs der Therapie auf. Dies ist die letzte Stunde, Anna wird gleich sagen, dass sie die Therapie beenden werde. Mir fällt ein, dass sie sich in den Stunden zuvor etwas über den mangelnden Fortschritt beklagt hatte, und dass sie sich da und dort missverstanden gefühlt habe. Im Grunde nichts Dramatisches. Einen Grund für meine Abbruchsbefürchtung gab es eigentlich nicht, zumal sich die wirklich dramatische Ausgangslage der Patientin, deretwegen sie zur Therapie gekommen war, mehr als deutlich beruhigt hatte. Irgendwie vernahm ich trotz allem einen tiefen Zweifel, der sich in meiner Phantasie in eine Totalverneinung steigerte und in der Vernichtung der therapeutischen Situation endete. Die Vernichtungsangst war in mir angekommen. Anna lag schweigend, aber nicht bewegungslos auf der Couch. Sie streckte und beugte ihre Knie, ballte und löste ihre Hände. Sie war voller Unruhe und schien mit etwas zu kämpfen. Unvermittelt fängt sie an, über einen schweren Verkehrsunfall zu sprechen. Ihr Sohn sei von einem Auto angefahren worden, als er mit seinem Roller in der Stadt, in der er studiert, unterwegs gewesen sei. Er läge mit nicht unerheblichen Kopf- und Gesichtsverletzungen im Krankenhaus. Bei aller Betroffenheit und Mitsorge spüre ich zugleich eine Erleichterung. Anna denkt also nicht daran, die Therapie abzubrechen. Ihre Unruhe und Angespanntheit sowie meine Abbruchsgedanken gelten dem Unfall. Meine Erleichterung hält aber nicht lange an. Ich beginne meine Erleichterung als Abwehr zu verstehen, ohne genau zu wissen, wogegen sie sich
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richtet. Irgendwie fühle ich einen der seltsamen Attraktoren am Werk. Es reift in mir der Entschluss diesem seltsamen Attraktor, von dem ich mich nicht lösen kann, auf die Spur zu kommen. Als Anna eine Pause macht und nachdem ich auf ihre Sorge um ihren Sohn mitfühlend eingegangen bin, frage ich sie, ob ich ihr etwas, was mich die ganze Zeit schon bewege, mitteilen könne. Ich greife also zur begrenzten Offenbarung meiner Gegenübertragungsgefühle, zur Selbstoffenbarung. Anna stimmt zu. Kurz schildere ich meine Eindrücke bei der Begrüßung, dann meine Beobachtungen während der Schweigephase und teile ihr meine Befürchtung mit, dass sie die Therapie abbrechen könnte. Ich ende mit der Frage, ob denn an dem, was ich gesehen und gefühlt habe, etwas dran sei oder nicht.
Ich setze also mit meiner Selbstoffenbarung einen indirekten Zweifel. Das, was Anna über ihren Sohn berichtete, ist zwar real geschehen, bereitet ihr große Sorge und belastet Anna erheblich, entspricht aber – so mein Zweifel – nicht dem, was sie eigentlich ansprechen und sagen wollte. Ich unterstelle ihrem Bericht eine Abwehrfunktion. Ich sagte also, da gibt es noch was anderes, das Eigentliche, das verschwiegen wird. Der Unfall des Sohnes ist mit Sicherheit beunruhigend, aber trotzdem etwas Uneigentliches. In dieser indirekten Infragestellung käme nach meiner Meinung die »zärtliche Sorgfalt« zum Tragen; denn Anna hat nun die Wahl, meine Wahrnehmung aufzunehmen oder sie als nicht zutreffend zurückzuweisen. Sie könnte sagen: »Sie haben sich getäuscht, so ist es nicht«. So könnte Anna meinem Spielbein, mit dem ich glaube, einen gemeinsamen Attraktor zu erspüren, schlicht den Boden entziehen, und ich müsste mich dann mit einer auf mich gerichteten Verneinung auseinandersetzen. Mit der Spielbeinmetapher lässt sich der Diskurs, den ich Anna gerade anbiete, präzise erfassen. Ein Bein wird von dem seltsamen Attraktor erfasst; so werde ich zum Mitspieler. Das zweite Bein bleibt außerhalb der Attraktion und sichert den exterritorialen Standpunkt, von dem aus eine Reflexion des Geschehens organisiert werden kann. So ganz nebenbei fördert und fundiert die hier aufscheinende interpersonelle Dynamik das so wichtige Gemeinschaftsgefühl, und zwar so, wie es Antoch mit dem Konstrukt des »Selbstseins im Bezogensein« neu konzeptualisiert (2000). Zu dieser für Anna gefährlichen, kritischen Distanznahme sich selbst und mir gegenüber lade ich sie ein.
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Nun zurück zum Geschehen. Anna wird unruhig, möchte aufstehen, hält inne und bleibt schwer atmend auf der Couch liegen. »Es scheint nicht einfach zu sein«, so mein kurzer und, wie ich meine, aufmunternder Kommentar. Stockend beginnt Anna zu sprechen. Sie schäme sich der Gedanken und fürchte, von mir rausgeworfen zu werden, falls sie das ausspreche, was sie eigentlich gedacht habe, und was sie anfangs habe sagen wollen. Mit einem freundlichen »Hm, Hm« mache ich mich bemerkbar und signalisiere ihr, dass ich sie gehört habe und an ihren Gedanken interessiert bin. Den Schritt über die Scham- und Angstschwelle und hin zur Auseinandersetzung soll und kann sie allein leisten. Ich erlebe mich wie ein Vater, dessen Kind vor einer ängstigenden Situation steht. Das Kind, Anna, schaut zum Vater. Ist der Blick des Vaters ängstlich, wird das Kind verharren, ist der Blick zustimmend und aufmunternd, wird das Kind weitergehen. Anna geht weiter mit der Frage an mich, ob mir ihre Tasche aufgefallen sei, die sie heute zum ersten Mal mit in den Therapieraum gebracht habe. Sonst ließe sie die Tasche immer draußen im Garderobenschrank. Nein, so meine Antwort, mir sei das nicht aufgefallen. Sie habe die Tasche immer draußen gelassen, so fährt sie fort, weil sie befürchtete, ich könnte in der Tasche eine Pistole vermuten, mit der sie gedenke, mich zu erschießen. Sie wendet ruckartig ihren Kopf, schaut mich an und schlägt die Hände vor das Gesicht. Ohne groß zu überlegen, frage ich ganz spontan: »Na, haben Sie denn eine Pistole dabei?« »Natürlich nicht«, antwortet Anna, nun etwas lachend und mit leichter Empörung in der Stimme. Ich: »Dann habe ich aber Glück, denn mit einer Nichtpistole dürfen Sie gerne auf mich schießen«. Dieses spontane, etwas ironisierende, nicht wirklich durchdachte Sprechen entschärft die Situation in der Form, dass ich ihr die Erlaubnis erteile, gedanklich auf mich zu schießen, ohne dass ich dadurch vernichtet werde oder vernichtend zurückschlage. Ich frage, was denn an meinem Tun sie in derart mörderische Stimmung versetze. Anna spricht von den kritischen Sichtweisen, die ich meist dann anbrächte, wenn sie Zustimmung und Lob erwarte; dass ich immer so tue, als gäbe es für mich keine Probleme, als hätte ich alles im Griff, als liefe alles optimal. Sie vermutet bei mir einen Sadismus. Ich warte nur auf eine Gelegenheit, sie klein zu machen, zu verletzen und zu erniedrigen. Diese heftigen Angriffe auf meine Person und mein Machen werden immer wieder von Rücknahme- und Abschwächungsversuchen unterbrochen. Mir wird klar, dass Annas Rücknahmegesten verzweifelte Versuche sind, die von mir ausgehende Vernichtung, meine Rache zu besänftigen. Als ich ihr dies deute, beruhigt sie sich sichtlich. In den folgen Stunden zeigt sich Anna immer wieder freudig überrascht, dass ich noch da bin, freundlich reagiere und sie nicht hinauswerfe. So ganz traut sie aber dem Frieden nicht.
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Annas Allmachtsfiktionen, die ich oft genug durch Deutungen und Klärungen angegriffen hatte, versteckten sich in der Konfiguration des Gutmenschen, der perfekten Leistung und Selbstdarstellung. Immer fröhlich, immer hilfsbereit, immer perfekt und fehlerlos, immer für andere da, immer um Frieden und Wohlfahrt bemüht. Sobald sich aber Anna eine Realitätsschranke, in diesem Fall war ich es, in den Weg stellt, die ihre die Ohnmacht kompensierende Allmachtsfiktion angreift, gerät sie in einen Vernichtungsstrudel. Die Realitätsschranken, die außerhalb der Therapie Annas System an den Rande eines Totalzusammenbruchs getrieben hatten, waren der Verlust des Arbeitsplatzes und der fortschreitende Alterungsprozess. Am Arbeitsplatz wie über ihren Körper konnte sie bis dato ihre die Angst kompensierenden Allmachts- und Überlegenheitsgesten immer wieder aufladen. Nach und nach gelang es uns, einen exterritorialen Standpunkt zu festigen, von dem aus Anna sich und ihren Umgang mit der Welt kritisch betrachten und mit mir durcharbeiten konnte. Dies erfolgte über eine Vielzahl mikroanalytischer Betrachtungen innertherapeutischer wie außertherapeutischer Ereignisse. Anna verstand in der Folge auch immer besser, weshalb sie ihren Ehemann habe umbringen wollen. Er hatte in Hülle und Fülle, was ihr verloren gegangen war und, das war besonders wichtig, was sie von den Eltern hätte geschenkt bekommen wollen: Zuwendung, Erfolg, Bewunderung, Bestätigung. Eben das sah Anna auch in mir. Der Ehemann und ich hatten all das, was Annas tiefe Minderwertigkeitsgefühle bislang kompensiert hatte und was die Eltern ihr in früher Kindheit versagt hatten. In Anna lagerte ein mörderischer Neid, der erst jetzt einer kritischen Betrachtung zugänglich geworden war. Der therapeutische Prozess war dem postportalen Bereich ein großes Stück näher gerückt. Wir waren beide durch gegenseitige Begrenzungen und Verneinungen gegangen. Selbstredend, dass dieser Prozess immer wieder durchlaufen werden muss, bis er zu einem befriedigenden Abschluss kommt. So biegt sich das Ende dieser Falldarstellung zum Anfang des Vortrages zurück. Die Menschen, die aufgrund frühkindlicher schwieriger Bindungsund Beziehungserfahrungen nicht haben durch das Tor des Todes gehen können, haben die absolute Begrenztheit des menschlichen
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Daseins nicht wirklich integriert. Sie müssen, um zu gesunden, diesen Weg mit dem Therapeuten nachholen. Was hat die Integration der Idee des Todes als Grenze Anna gebracht? Das Schwindelgefühl als Korrelat unbewusster Allmachtswünsche verschwand. Die Messerphobie als Ausdruck entgrenzter Bestätigungs- und Zuwendungswünsche, als Manifestation des mörderischen Neides, wurde geheilt. Der Prozess des Älterwerdens, des Loslassens konnte merklich besser angenommen werden. Anna gab zudem viele Tätigkeiten auf, deren kompensatorische Funktion sie erkannte und wandte sich dem »Eigentlichen« zu. Sie malt, musiziert und schreibt aus eigenem Antrieb. Ihr Leben ist insgesamt interessanter, erfüllter und sinnvoller geworden.
Literatur Adler, A. (1974). Der Sinn des Lebens. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Adler, A. (1979). Wozu leben wir. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Adler, A. (1997). Über den nervösen Charakter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Antoch, R. F. (1994). Beziehung und seelische Gesundheit. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Antoch, R. F. (2000). Über Sinn und Unsinn des Begriffs »Gemeinschaftsgefühl« oder: Adlers verfehlte Theorie der Macht. In U. Lehmkuhl (Hrsg.), Beiträge zur Individualpsychologie. Bd. 26. München: Ernst Reinhardt Verlag. Briggs, J., Peat, F. D. (1990). Die Entdeckung des Chaos. München: Carl Hanser Verlag. Clarus, I. (1985). Du stirbst, damit du lebst: Die Mythologie der Alten Ägypter in tiefenpsychologischer Sicht. Fellbach: Verlag Adolf Bonz. Condrau, G. (1992). Sigmund Freud und Martin Heidegger. Freiburg/Schweiz: Univ.-Verlag. Eagle, M. N. (1988). Neuere Entwicklungen in der Psychoanalyse. München: Verlag Internationale Psychoanalyse. Fehige, C., Meggle, G., Wessels, U. (Hrsg.) (2004). Der Sinn des Lebens. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Fromm, E. (1980). Märchen, Mythen, Träume. Eine vergessene Sprache. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Heidegger, M. (1926/2006). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag.
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Heisterkamp, G., Zanke, M. (1983). Zum Formenwandel des Lebensstils. Zeitschrift für personenzentrierte Psychologie und Psychotherapie, 1 (4), 27-36. Kausen, R. (1995). Angst. In R. Brunner, M. Titze (Hrsg.), Wörterbuch der Individualpsychologie. München: Ernst Reinhardt Verlag. Russell, B. (2005). Eroberung des Glücks. Neue Wege zu einer besseren Lebensgestaltung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Stork, J. (1974). Die Bedeutung des Vaterbildes in der frühkindlichen Entwicklung. In J. Stork (Hrsg), Fragen nach dem Vater. Freiburg u. München: Verlag Karl Alber. Stork, J. (1991). Wege der Individuation. Weinheim: Verlag Internationale Psychoanalyse. Wittkowski, J. (2001). Erleben und Verhalten bei der Begegnung mit Sterben und Tod. In M. Schlagheck (Hrsg.), Theologie und Psychologie im Dialog über Sterben und Tod. Paderborn: Bonifatius. Wortmann, K.-H. (2004). Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben als Koproduktion. Forum der Psychoanalyse, 20, 266-283. Yalom, I. (2004). Liebe, Hoffnung, Psychotherapie. München: Verlagsgruppe Random House.
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Moral Development Starting with the theories of Jean Piaget, Lawrence Kohlberg und Sigmund Freud, this article depicts that morality has been seen as a cognitive ability on the one hand and a psychological representation on the other. Moral development cannot be seen separately from human development as a whole. There is a need for a new developmental term which corresponds with the new approaches towards child rearing. Today, children and adolescents are viewed as active creators of their own development which impacts on relevant educational partner. The formation of moral consciousness and the development of values depends therefore on cognitive, emotional and social factors, most of all however, on the child’s interactional experiences and takes place over a prolonged developmental process influenced by the respective societal situation. The importance regarding psychopathological abnormality is mentioned.
Zusammenfassung Ausgehend von den Theorien von Jean Piaget, Lawrence Kohlberg und Sigmund Freud wird dargestellt, dass Moral einerseits als kognitive Fähigkeit, andererseits als psychische Instanz betrachtet wurde. Moralische Entwicklung kann nicht getrennt von der Gesamtentwicklung des Menschen gesehen werden. Es bedarf eines neuen Entwicklungsbegriffes, der mit neuen Auffassungen über Erziehung einhergeht. Kinder und Jugendliche werden heute als aktive Gestalter ihrer eigenen Entwicklung gesehen, die aktiv auch bedeutende Erziehungspartner beeinflussen. Die Bildung des moralischen Gewissens und die Entwicklung der Werte hängen somit von kognitiven, emotionalen und sozialen Faktoren, vor allem von Interaktionserfahrungen ab, vollzieht sich in einem langen Entwicklungsprozess und wird von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation beeinflusst. Die Bedeutung für psychopathologische Auffälligkeiten wird erwähnt.
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Moralische Entwicklung – Piaget und Kohlberg Das Wort Moral leitet sich vom lateinischen Wort »mores« ab und bedeutet so viel wie Sitte, Brauchtum, Gewohnheit. Es ist jedoch notwendig, zwei Bedeutungen voneinander zu trennen: Die deskriptive Bedeutung bezieht sich auf die faktisch herrschenden Sitten und Normen, die in einer Gesellschaft vorliegen und gelebt werden, also auf das, was ist. Die normative Bedeutung bezieht sich auf die Begründung und Rechtfertigung der Sitten, aber auch auf Recht und Gesetz (Kambartell, 1984). Üblicherweise meint Moral das, was in einer Gesellschaft oder einzelnen Gruppen gelebt wird (Frankena, 1981). Psychologie und Sozialwissenschaften untersuchen, welche Normen und Handlungsregeln in einer Gesellschaft, Gruppe oder für ein einzelnes Subjekt tatsächlich handlungsleitend sind, die Philosophie reflektiert über deren Rechtfertigung (Hare, 1995), gleichzeitig sind beide aber untrennbar miteinander verbunden. Um den Bereich konkreter zu fassen, sind folgende Aspekte sinnvoll: 1. Zunächst bezieht sich Moral vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, auf zwischenmenschliches Handeln. Die Achtung anderer Personen ist ein erstes zentrales Moment der Moral. Das bedeutet, dass man in moralischen Überlegungen fremde Standpunkte, Interessen und Bedürfnisse nicht nur zu tolerieren, sondern anzuerkennen hat. Das impliziert, dass 2. die Gerechtigkeit als ein Kernkonzept der Moral gilt, aber auch 3. die Verantwortung gegenüber dem anderen sowie 4. das Wohlwollen anderen gegenüber. Schuldgefühle sind emotionale Hinweise auf die Übertretung moralischer Normen (Eckensberger, 1998). Eine Arbeit zum Thema moralische Entwicklung führt unwillkürlich zu den bedeutenden Arbeiten von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg. Kohlberg war es, der sich in Anlehnung beziehungsweise Weiterentwicklung der Arbeiten von Piaget intensiv mit den Stufen der moralischen Entwicklung befasste. Piaget (1932) untersucht in einem Querschnitt Kinder von fünf bis zwölf Jahren. Diese Forschung führte zu dem Ergebnis, dass er
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die bei Kant unterschiedenen Formen der Moral, die heteronome (an äußeren Regeln orientierte) und die autonome (an der eigenen Entscheidung orientierte Moral), entwicklungspsychologisch ordnete: Schwerpunktmäßig beschreibt er in seinem Werk »Das moralische Urteil beim Kind« die Entwicklung des moralischen Urteils als einen Trend von einem heteronomen zu einem autonomen Urteil. Zum zentralen Begriff wird bei Piaget neben der Kooperation der Begriff der Achtung, Gerechtigkeit. Die Rolle der Affekte ist für Piagets Moralverständnis zentral, denn die Moral spielt im Kontext der Affektentwicklung und der Affektregulation eine wichtige Rolle. Die Ergebnisse von Piagets Arbeit sollen an der Untersuchung von Spielregeln aufgezeigt werden. Zunächst verhält sich das Kind egozentrisch. Regeln werden imitativ befolgt, später kodifiziert, von der Gruppe eingehalten und kontrolliert. Im Weiteren verhält sich das Kind kooperativ, Übereinstimmung mit anderen, Variationen werden ausgehandelt. Parallel entwickelt sich das Verständnis von Regeln – zunächst als unveränderbar wahrgenommen, später als Gesetze, die aus gegenseitigem Respekt und Loyalität stammen und durch Verhandlungen, durch Konsens veränderbar sind. Auch Verantwortung wird zunächst äußerlich und dann intrinsisch gesehen. Erst sind die Folgen einer Tat wichtiger, später werden Intentionen wichtiger als die Folgen. Auch das Verständnis der Lüge nimmt einen ähnlichen Entwicklungsverlauf. Zunächst wird Lüge als hässliches Wort gesehen, in der weiteren Entwicklung kommt es zur Erkenntnis, dass Lüge Vertrauen zerstört. Auch Fragen der Gerechtigkeit zeigen diesen Trend: Zunächst sind die Kinder der Auffassung, dass die Strafe eine Sühne ist und besonders strenge Strafen gerecht sind. Etwas ältere Kinder vertreten die Auffassung, dass Gleiches mit Gleichem vergolten werden soll, und schließlich fordern die ältesten, dass Strafe angemessen und die Umstände der Tat berücksichtigen muss. Die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern sind nach Piaget eng miteinander verbunden. Sozialkognitive Autonomie ist nur zu erreichen bei einem möglichst geringen Einfluss erwachsener Autoritäten. Die Stellung der Erwachsenen ist die von Beratern oder Mitarbeitern, die den aktiven Forschungsdrang des Kindes und sein Bedürfnis nach Zusammenarbeit dadurch stimulieren und för-
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dern, dass sie eine Umwelt bereitstellen, in der die individuelle Experimentierung und gemeinsame Überlegung sich gegenseitig stützen und ausgleichen. Piaget ist überzeugt, dass die Partizipation in der Gruppe der Gleichaltrigen eine optimale Voraussetzung für die Entwicklung eines autonomen moralischen Urteils darstellt. Moralische Autonomie, so kann man Piaget interpretieren, kann nicht anerzogen werden. Sie muss entdeckt werden. Um moralische Autonomie zu stimulieren, muss der Erziehungsprozess in seiner Organisation an der kindlichen Entwicklung orientiert sein und die Einheit der kognitivsozialen Entwicklung reflektieren. Das bedeutet beispielsweise, dass starke individuelle Konkurrenzsituationen in der Lebensphase der beginnenden Zusammenarbeit sowohl die soziale als auch die kognitive Entwicklung behindern, da diese der Überwindung des Egozentrismus entgegenstehen. Kohlberg (1995) kritisiert Piaget und führt die Ansätze systematisch weiter. Er weist nach, dass die Partizipation in der Gruppe zur Stimulierung der moralischen Entwicklung nicht ausreicht. In der Tradition Piagets nimmt er an, dass zur Ausbildung einer autonomen Moral die Verfügbarkeit einer relationalen Logik eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung ist, das heißt, im Verlauf der moralischen Entwicklung, die im Gegensatz zu Piaget nicht schon mit 12 bis 14 Jahren, sondern erst mit etwa 25 bis 30 Jahren abgeschlossen ist, werden kognitive und soziale Entwicklung zunehmend unabhängig voneinander. Der Kern von Kohlbergs empirischer Arbeit war ein fast dreißigjähriger Längsschnitt, der an den Querschnitt (Kohlberg, 1958) seiner Dissertation anschloss. Er baute auf Piaget auf und wollte die Moralentwicklung im Jugendalter untersuchen. Er hat 10- bis 16-Jährige sechsmal untersucht. Hauptergebnis der Studien von Kohlberg ist, dass er die Entwicklung der Moral in insgesamt sechs Stufen beschrieb. Dabei differenziert er drei logisch unterschiedliche Ebenen mit je zwei Stufen. Präkonventionelles (prämoralisches)Niveau: – Stufe 1: Orientierung an Gehorsam, Strafe (Egozentrismus), – Stufe 2: instrumenteller Zweck und Austausch (konkrete andere).
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Konventionelles Niveau (Moral der konventionellen Rollenkonformität): – Stufe 3: interpersonelle Anerkennung, Harmonie (Beziehungen), – Stufe 4: soziale Anerkennung und Systemerhaltung (Systemperspektive). Postkonventionelles Niveau (Moral der selbst-akzeptierten moralischen Prinzipien): – Stufe 5: Sozialverträge, Nützlichkeit, individuelle Rechte (rationales Subjekt), – Stufe 6: moralischer Standpunkt, Orientierung auf ethische Prinzipien. Auf der präkonventionellen Ebene unterscheidet Kohlberg eine heteronome und eine individualistisch zielorientierte Moral. Anders als bei Piaget gehorcht das Kind zunächst nur aus Furcht vor Strafe und aufgrund seiner Unterlegenheit gegenüber Autoritäten, um später Gehorsam auch schon vor dem Hintergrund eigener Wünsche und Interessen als notwendig oder nicht einschätzen zu können. Beide Stufen sind egozentrisch, da Regelbefolgung immer nur im Bezug auf den Akteur erfolgt. Auf der konventionellen Ebene mit der gruppenorientierten Moral (Stadium der beginnenden Zusammenarbeit bei Piaget) und einer an der Gesellschaft orientierten Moral richtet sich das Kind zunächst an den konkreten Verhaltenserwartungen anderer aus, um ein guter Freund, ein guter Sohn zu sein. Diese noch an konkrete Interaktionsbeziehungen und Stereotype gebundene Moral wird in der zweiten Stufe auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen. Auf dieser Ebene wird der Egozentrismus überwunden. In zunehmendem Maße werden allgemeine von der konkreten Situation unabhängige Regeln erkannt, die das Verhalten steuern. In dieser Ausdifferenzierung der konventionellen Ebene bei Kohlberg wird der Unterschied zu Piaget deutlich. Piaget übersah in seinem Konzept, dass der Anschluss an die soziale Gruppe und die Verringerung der elterlichen Autorität nicht notwendigerweise zu Autonomie führt, sondern je nach Umweltbedingungen in Gruppenkonformität enden kann. Auf der postkonventionellen Ebene (Stufe 5) ist das Individuum
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nicht mehr blind den gültigen Gesetzen unterworfen wie auf Stufe 4, sondern beginnt, individuelle Rechte, mögliche Benachteiligungen, die sich aus gesellschaftlichen Regeln ergeben können, und Nützlichkeitserwägungen bei der Beurteilung zu reflektieren. Die Bewertung der Regeln aufgrund wechselseitiger Verpflichtung auf der Basis individueller Gleichheit wird auf Stufe 6 abgelöst durch eine Prinzipienorientierung auf der Basis von Gerechtigkeit und Fairness. Beziehungen werden geprüft und beurteilt in Relation zu Gleichheit, Reziprozität und Freiheit der Persönlichkeit. Hinsichtlich des Wertes menschlichen Lebens sind die sechs Stufen wie folgt definiert (Kohlberg, 1995): – Stufe 1: Der Wert eines menschlichen Lebens wird mit dem Wert materieller Objekte verwechselt, und er beruht auf dem sozialen Status oder äußerlichen Merkmalen seines Trägers (d. h. der Person, um deren Leben es geht). – Stufe 2: Der Wert eines menschlichen Lebens wird instrumentell in seiner Bedeutung für die Bedürfnisbefriedigung seines Trägers oder anderer Personen gesehen. – Stufe 3: Der Wert eines menschlichen Lebens beruht auf der Empathie oder der Zuneigung der Familienmitglieder und anderer Personen für seinen Träger. – Stufe 4: Das Leben wird im Rahmen seiner Stellung in einer kategorischen moralischen oder religiösen Ordnung von Rechten und Pflichten als heilig betrachtet. – Stufe 5: Das Leben wird gleichermaßen in seiner Beziehung zum Wohlergehen der Allgemeinheit und als ein universelles Menschenrecht bewertet. – Stufe 6: Das Leben wird als heilig bewertet: Darin drückt sich ein universeller menschlicher Wert der Achtung für das Individuum aus. Kohlbergs Konzept basiert auf universellen Prinzipien und darauf, dass der Entwicklungsverlauf kulturinvariant ist. »Jede Kultur und Subkultur der Welt beruht auf denselben moralischen Grundwerten und der gleichen schrittweisen Entwicklung moralischer Reife« (Kohlberg, 1987, S. 37). Nach Kohlberg ist die soziale Umwelt für die Entwicklung des moralischen Urteils vor allem in dem Ausmaß
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der Möglichkeiten von Partizipation an verschiedenen Gruppen relevant, weil ein hohes Maß an Rollenübernahme das Kind stimuliert, die Beurteilung von Handlungen an immer allgemeineren Prinzipien zu orientieren. Auch wenn moralische Urteile von der kognitiven Entwicklung abhängig sind, so sind sie doch sozial vermittelt, da es sich um die Beurteilung sozialer Beziehungen handelt. So muss auch die Schule in Kohlbergs Worten ein soziales Klima bereitstellen, das sich an den Prinzipien von Gleichheit, Offenheit, Gerechtigkeit und Demokratie orientiert (Bertram, 1979). Zu beachten ist, dass es im Kohlberg’schen Erziehungsansatz um Prinzipien oder Urteilsstrukturen handelt, nicht um konkrete inhaltlich moralische Werte, wie etwa »Du sollst nicht lügen«. Insofern kann es in Kohlbergs Konzept zur Moralerziehung nicht darum gehen, Normen zu vermitteln, sondern nur darum, Prinzipien zu entdecken, die in höchst unterschiedlichen Situationen geeignet sind, Recht zu definieren. Kohlberg hat übrigens versucht, Leitlinien auf der Basis konkreter Projekte für die Schul- und Unterrichtsorganisation zu entwerfen. Die enge Beziehung zwischen sozialer Wahrnehmung und moralischem Urteil legt nahe, durch Rollenspiel die Fähigkeit der Schüler zu fördern, Gefühle und Standpunkte des anderen zu verstehen. Überdies sollte der Lehrer versuchen, Konfliktlösungen zu stimulieren, die sich an Fairness und gegenseitiger Achtung orientieren. Hier muss wohl angemerkt werden, welch große Bedeutung Alfred Adler dem Bereich Schule für die Entwicklung des Kindes beigemessen hat. Das Konzept der individualpsychologischen Schulen versuchte, diese Inhalte zu vermitteln (W. Spiel, 1981). Die Auffassung zum Wesen der Moral ist bei Piaget und Kohlberg sehr ähnlich (Eckensberger, 1998): 1. kognitive und affektive Entwicklung laufen parallel, 2. allgemeine soziale Entwicklung im Wesentlichen Restrukturierung des Ichs in seiner Beziehung zu anderen in einer gemeinsamen Welt mit sozialen Standards, 3. soziale und Ich-Entwicklung laufen auf Reziprozität zwischen den Handlungen des Ichs und der auf das Ich bezogenen Handlungen der anderen hinaus, sodass der Endpunkt der Moralität in individualisierter Form die Beziehung der Liebe und in verallgemeinerter Form das Prinzip der Gerechtigkeit sei.
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Die wechselseitige Bereicherung von Psychologie und Philosophie wird im Weiteren von Kohlberg in seinem Werk »Vom Sein zum Sollen« zunehmend betont (1971). Moralische und soziale Entwicklung bedeuten nach Kohlberg mehr als kognitive Entwicklung, obwohl sie von ihr abhängen. Obwohl die moralischen Stufen parallel zu den kognitiven verlaufen, geht ein bestimmter kognitiver Schritt dem parallelen moralischen Schritt immer voraus. Moralisches Denken verlangt mehr als die Logik der Objekte, es schließt die subtilere und komplexere Logik der Subjekte oder die Perspektiven und Ansprüche anderer Menschen ein. Aus diesem Grund hängen die moralische und soziale Entwicklung und Erziehung von der kognitiven Entwicklung und Erziehung ab; sie verlangen aber vielmehr im Hinblick auf eine ausgeprägte soziale und nicht kognitive Erfahrung. Zusätzlich zu den getrennten Entwicklungslinien wie Kognition und Moral gibt es nach Kohlberg eine Einheit der Person, die alle Erfahrung zusammenbindet und die wir Ich oder Selbst nennen können. Das einheitliche Selbst oder Ich ist grundsätzlich adaptiv und auf die äußere Welt orientiert, es will um die Wahrheit der Welt wissen. Gedanken zur moralischen Entwicklung müssen daher den gesellschaftlichen Wandel mit einbeziehen (Eckensberger, 1998). In seinem letzten Werk, »Die Psychologie der Lebensspanne« (2000), verfolgt Kohlberg eine andere Strategie, eine Strategie, die über die Rekonstruktion von Kompetenzen hinausgeht und die subjektive Konstruktion von Biografien und Lebensgeschichten einbezieht. Der Gewinn einer solchen Vorgehensweise liegt in der Möglichkeit, zu umfassenderen, also vollständigeren Darstellungen des Entwicklungsgeschehens, der Entwicklungslogik wie der Entwicklungsdynamik zu gelangen. Seit Ende der sechziger Jahre entwickelte er die Idee, dass in der Moralerziehung nicht inhaltliche Tugenden gelehrt werden sollten, sondern dass das Ziel der Erziehung – auch das der Moralerziehung – die Entwicklung selbst sei. Strukturalistische Theorien der Moralentwicklung und funktionalistische Theorien der Ich- und Identitätsentwicklung bilden dann in ihrem Zusammenschluss eine integrierte Theorie sozialen Handelns und moralischen Urteilens (Kohlberg, 1995).
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Das Über-Ich Der Begriff stammt aus dem Strukturmodell Sigmund Freuds (Freud, 1923/1975) und bezeichnet den Bereich der internalisierten Regeln, Gebote und Verbote. Das Über-Ich repräsentiert die moralische Instanz der Persönlichkeit. Das Über-Ich ist verantwortlich für die Aufstellung und Aufrechterhaltung moralischer Normen, individueller Zielsetzungen und Idealvorstellungen. Ein optimales Funktionieren des Über-Ich-Systems fördert die intrapsychische und interpersonelle Harmonie und unterstützt die soziale Anpassung (Tyson u. Tyson, 2001). Greenacre (1952) beschreibt vier Phasen der Über-Ich-Entwicklung: primitive Wurzeln in den ersten zwei Lebensjahren, anschließend die Zeit der Konditionierung zum »guten «oder »bösen« Kind, der Kampf um ödipalen Verzicht mit etwa fünf Jahren und schließlich die Periode der Latenz, wenn die Errungenschaften der ödipalen Auseinandersetzung von sozialen Einflüssen verstärkt werden und das individuelle mit dem sozialen Gewissen verschmilzt. Emde (1988) beschreibt die entwicklungspsychologischen Forschungsarbeiten zu dem von ihm vorgestellten Konzept der »moralischen Emotionen«, die sich aus der Interaktion des Kindes mit der Mutter entwickeln und bereits im Alter von zwei bis drei Jahren unabhängig von der Mutter wirksam sind. Die Bildung des Über-Ichs vollzieht sich entlang eines langen Entwicklungsprozesses: Die Geschichte der Über-Ich-Entwicklung reicht vom reziproken Interaktionsgeschehen zwischen Mutter und Kind, den zur infantilen Neurose verfestigten präödipalen und ödipalen Kernkonflikten, über die Internalisierungsprozesse in der Latenz und die Reorganisation in der Adoleszenz bis hin zu einem individuell sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand im Erwachsenenleben. Die Begegnung mit neuen Menschen, neuen Ideen und Werten kann immer zur Korrektur unserer Ideale und unserer Wertsysteme führen (Tyson u. Tyson, 2001). Anna Freud (1971) beschreibt die Entwicklungslinie »Der Weg vom Egoismus zur Freundschaft und Teilnahme an einer menschlichen Gemeinschaft« auf vier Stufen.
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Gemeinschaftsgefühl Die soziale Gebundenheit des Menschen ist nach Alfred Adler schon von seiner Biologie her nicht wegzudenken. Im Lebensstil eingebaute Meinungen über sich und die Welt sind ein Versuch des Menschen, sich im sozialen Bezug zurechtzufinden, wobei diese unbewusst entstandenen frühkindlichen Auffassungen das Verhalten des Menschen in seinem ganzen späteren Leben beeinflussen und bestimmen. Der Begriff des Gemeinschaftsgefühls ist der zentrale Punkt der Adler’schen Lehre. So wird dieses für Adler zum Gradmesser seelischer Gesundheit. Eine genaue Definition des Begriffs Gemeinschaftsgefühl zu geben, scheint selbst Adler als schwierig empfunden zu haben; er zitiert einen englischen Autor, der seines Erachtens zum Ausdruck bringt, was mit Gemeinschaftsgefühl gemeint ist: »Mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen« (Adler, 1928, S. 267). Auch das Gemeinschaftsgefühl erhält seine Ausprägung in den ersten Kindheitsjahren und wird zu einem unbewussten ziemlich konstanten Anteil der Persönlichkeit. Grundlegend für die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls ist nach Adler die frühe Mutter-Kind-Beziehung. Die Beziehung des Säuglings zur Mutter ist die erste soziale Gestaltung. In diesem sozialen Zusammenhang, in dem das Ich des Säuglings ein Du erlebt, entwickeln sich alle Möglichkeiten und Fähigkeiten des Menschen (Adler, 1974). Die wesentliche Formung des Gemeinschaftsgefühls geschieht nach Adler in der Familie, im sozialen Kontakt mit den ersten Bezugspersonen. Wenn das Kind den Menschen hier als ihm freundlich gesinnt erlebt, wird es auch als Erwachsener den Menschen so erleben und aus dem Gefühl des Eingebettetseins in die menschliche Gemeinschaft zu kooperativem Handeln fähig sein. Kinder, die in den ersten Lebensjahren nur wenig Gemeinschaftsgefühl entwickeln konnten, sind nach Adler auch später in der Lage, mehr Gemeinschaftsgefühl zu erwerben. Diese Aufgabe weist die Individualpsychologie vor allem der Schule zu. Für Adler wird die Gemeinschaft zum eigentlichen Sinn des Lebens. Sie ist nicht nur menschliche Realität, sondern auch kulturelles Ideal (Adler, 1981). In keiner anderen tiefenpsychologischen Richtung wurde die Idee der Gemeinschaft so zum zentralen Punkt, wie das in der Individual-
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psychologie der Fall ist. Allgemein kann gesagt werden, dass Adler die Ursachen für fehlendes Gemeinschaftsgefühl in frühester Kindheit sieht, in einer Störung der Beziehung zu den ersten Bezugspersonen. Mangelnde Beziehungsfähigkeit und zu geringes Vertrauen zu Mitmenschen berauben das Kind der Möglichkeit, seine naturgegebenen Minderwertigkeitsgefühle auf dem einzig gehbaren Weg zu kompensieren, nämlich auf dem Weg des Gemeinschaftsgefühls. So entstehen, parallel zur mangelhaften Entwicklung der Beziehungsfähigkeit, verstärkte Minderwertigkeitsgefühle. »Je geringer ein Mensch sich einschätzt, umso egozentrischer ist er, in dem Maße aber, als er Selbstvertrauen gewinnt, vermag er sich als Mitmensch zu fühlen und Rücksicht auf andere zu nehmen. Denn nur wer sich dessen bewusst ist, dass er etwas zu geben imstande ist, wird auch zum Geben bereit sein. Im wechselseitigen Geben und Nehmen liegt aber das Wesen jeder Gemeinschaft begründet« (Wexberg, 1974, S. 81). Wird nun das Gefühl der Minderwertigkeit verstärkt, kann es sich nicht auf die Gemeinschaft ausrichten, denn der Zweifel an der eigenen Fähigkeit verhindert das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Durch das wachsende Minderwertigkeitsgefühl wird die ganze Richtung des Lebens verändert (Adler, 1981). Adler sieht vor allem drei Typen, bei denen aufgrund eines verstärkten Minderwertigkeitsgefühls die Entstehung des Gemeinschaftsgefühls behindert wird, nämlich gehasste Kinder, die nicht wissen, dass es Gemeinschaftsgefühl und Interesse für die anderen gibt, verzärtelte Kinder, die nur nehmen und nicht geben, sowie Kinder mit minderwertigen Organen (Adler, 1974). Die Familie vermittelt Normen, Werte und Verhaltensmuster und ist somit zu einem großen Teil mitverantwortlich dafür, wie sich die Kinder und Jugendlichen bei aufkommenden Schwierigkeiten verhalten, welche Problemlösungsstrategie ihnen adäquat erscheint. Dies gilt bis heute. Wir wissen, wie sehr psychische Erkrankungen in Relation zur Ursprungsfamilie stehen. Sowohl Risiko- als auch Schutzfaktoren für spätere psychiatrische Erkrankungen haben hier ihren Ursprung. Nach wie vor gilt, dass inkonsistentes Erziehungsverhalten, mangelnder Austausch an Gefühlen und Emotionen in familiären Kommunikationsmustern, soziale Isolation, depressive Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen der Herkunftsfamilie sowie Gewalt in der
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Familie einen wesentlichen Einfluss auf die seelische Entwicklung haben (Adler, 1976). Es ist die Beziehung zu den Bezugspersonen, die seine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten bestimmt. Über die Beziehung zur Mutter, zum Vater, zu den Geschwistern wächst die Beziehung zu sich selbst. Von klein auf entwickelt das Kind sein Selbstbild und sein Selbstwertgefühl, die ihm anzeigen, welchen Stellenwert es in seiner Beziehung zur Umwelt einnimmt, vor welche Aufgaben es sich unbewusst und bewusst gestellt sieht, wie es sich ausgestattet erlebt und welche Wege es als Kind und in seiner weiteren Entwicklung zum Erwachsenen einschlägt, um mit diesen seinen Lebensaufgaben fertig zu werden (Adler, 1980). Ein stabiles Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten oder die Selbstachtung zu bewahren, auch wenn es Schwierigkeiten und Niederlagen im Leben gibt, ist der Wunsch und das Bemühen jedes Menschen. Im Zentrum der Ich-Stärkung steht die Ausgestaltung der Umwelt des Kindes in dem Sinn, dass es sich aufgrund des freundschaftlichen und ermutigenden Verhaltens der Bezugspersonen mit ihm identifizieren kann. Ich-Stärkung des Kindes setzt Ich-Stärke des Erziehers voraus (Burger, 1992). Somit war es für Alfred Adler typisch, dass er sich für den pädagogischen Bereich besonders einsetzte. In den zwanziger Jahren wurden von engagierten individualpsychologisch orientierten Ärzten und Lehrern Erziehungsberatungsstellen eingerichtet und eine vorbildliche und enge Zusammenarbeit mit Schulbehörden und Elternvereinen erzielt. Oskar Spiel (O. Spiel, 1979) realisierte zwischen 1930 und 1934 eine individualpsychologische Versuchsschule. Mit Glöckel und Birnbaum zusammen prägte Spiel maßgeblich das Wiener Schulwesen, welches damals zu den fortschrittlichsten der ganzen Welt zählte (W. Spiel, 1981). Die Individualpsychologie mit ihrer Betonung der Gemeinschaft und ihrem sozialen Engagement bietet theoretische und praktische Anregungen für unsere psychotherapeutische, pädagogische und soziale Arbeit, die sich an dem Ziel orientiert, möglichst allen Kindern gute Entwicklungschancen zu bieten und ihnen die Integration in die Gesellschaft zu ermöglichen. Aus der Traumaforschung wissen wir, dass Erlebens- und Verarbei-
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tungsweisen der Kinder sehr stark durch die elterliche Reaktion mitbestimmt sind. Soziale Traumen sind daher besonders gravierend. Dazu gehören Nichteingehen auf Bedürfnisse des Kindes, Unverständnis, Isolation, Misshandlung und sexueller Missbrauch. Misshandelte Kinder sind ängstlich, irritierbar, nach Unterstützung und Ermutigung suchend. Hier ist es wieder wesentlich, dass sich in Abhängigkeit von der Qualität etwa der Lehrer-Schüler-Beziehung solche Kinder in der Schule zum Teil ausreichend etablieren können. Das heißt, individualpsychologisches Gedankengut durch Unterstützung von Lehrern kann auch hier hilfreich sein. Ein gutes soziales Netzwerk mit liebenswerten konstanten Bezugspersonen können nach traumatischen Verlusten ungünstige Entwicklungen vermeiden. Besonders in Extremsituationen fragen Menschen nach ihrem innersten Wesen. Plötzlich wird die einfach scheinende Frage: »Wer bin ich?«, zur Qual. Traumatisierung bedeutet Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Ein soziales Netzwerk und funktionale Beziehungen sind protektive Faktoren für die kindliche Entwicklung. Ob und wie Menschen sich selbst finden und wie belastbar sie sind, hat viel mit der früh beginnenden, aber lebenslangen Identitätsentwicklung zu tun. Das soziale Umfeld hat großen Einfluss auf die Bildung der beständigen Ich-, Du- und Wir-Gefühle. »Am Du wird der Mensch zum Ich« formulierte Martin Buber (Gupfinger, 2002). Das gilt nicht nur in engen partnerschaftlichen und familiären Beziehungen, es gilt auch für soziale Lebensräume wie Kindergarten, Krippe, Schule oder Hort. Erikson (1968) prägte den Begriff der Identität, James (1890) jenen des Selbst. Von diesen beiden Betrachtungsweisen geht die Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Mich, einem Erkennenden und einem Erkannten, aus. Das erkennende (wissende) Ich hat die Aufgabe und zugleich das kognitive Bedürfnis, ein klares Bild vom Mich, dem Gegenstand seines Erkennens, zu gewinnen. Oerter und Montada (1998) beschreiben Identität als die einzigartige Persönlichkeitsstruktur, verbunden mit dem Bild, das andere von dieser Persönlichkeitsstruktur haben. Die Komplexität von Entwicklungsprozessen ist deutlich zu sehen. Die psychosoziale Identität entwickelt sich aus der allmählichen Integration aller Identifizierungen. Erik Erikson (1977) unterscheidet in seiner Theorie der psychosozialen Entwicklung acht Phasen, die er jeweils auf fünf Dimensionen
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beschreibt (psychosoziale Krisen, Umkreis der Bezugspersonen, Elemente der sozialen Ordnung, psychosoziale Modalitäten und psychosexuelle Dynamik).
Soziale Gefühle Bestimmte Gefühle haben ausdrücklich bewertete soziale Beziehungen zum Inhalt. Diese sind in erster Linie das Schamgefühl und das Schuldgefühl, also moralische Größen, die auf gemeinschaftlichen Werten beruhen. In direktem Zusammenhang mit der Theorie der Entwicklung von persönlicher Identität sind verschiedene theoretische Modelle von Stufenfolgen moralischen Bewusstseins entworfen worden. Erikson (1977) hat die Entstehung der Schamgefühle der zweiten (vorödipalen), und jene der Schuldgefühle der dritten (ödipalen) Stufe zugewiesen. Lawrence Kohlberg (1995), wie bereits oben beschrieben, entwickelte ein Schema von sechs Moralstufen, in denen die ersten beiden durch Angst vor physischer Strafe reguliert werden, die dritte und vierte durch Scham und Flucht vor dem Entzug von Liebe und sozialer Anerkennung, und die letzten beide durch Reaktionen des Gewissens. Auf den höchsten Stufen werden so komplexe Probleme wie utilitaristisches Handeln und legalistische Orientierung an geltenden Gesetzten und allgemeinen Normen sowie schließlich die Orientierung an universellen ethischen Prinzipien bestimmt. Das höchste Stadium ist definiert durch die Entscheidungen des Gewissens in Übereinstimmung mit selbstgewählten ethischen Prinzipien. Den Großteil seiner Gefühle erlernt der Mensch zusammen mit deren gefühlsbezogenen Erwartungen und gesellschaftlichen Bewertungen. Manche Erwachsene setzen Scham und Furcht als Erziehungsmittel ein. Affekte, die selbst nicht erlernt zu werden brauchen, spielen ebenfalls eine starke Rolle in diesem Lernprozess. Das Kind lernt auch Affekte zu fühlen und bildet danach seine Emotionen: Freude, Trauer, Erschrecken, Ekel, Neugier, Stolz, Scham, Angst. Alle diese Gefühle sind bewertet. Die für das Kind bedeutsamsten Kategorien sind unter anderem gut – schlecht, gut – böse, angenehm – unangenehm, schön – hässlich, wahr – falsch sowie richtig – falsch (Gupfinger, 2002). Es kann kein subjektives Identitätsempfinden geben, solange die
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unbewusste Reorganisation von Bedürfnissen und Identifizierungen nicht erfolgreich abgeschlossen und eine Integration von Individualität und Autonomie einer Person und den gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderung erreicht worden ist. Diese Phasen der Selbstentwicklung sind nicht nur in den entsprechenden psychosozialen Phasen des Kindes- und Jugendalters bestimmend, sondern sind ein immer wiederkehrender lebenslanger Prozess, der jedoch an Intensität und Selbstzweifel abnehmen kann (Erikson, 1977).
Moderne Identität und Wertorientierung Im letzten Jahrzehnt hat die Auseinandersetzung mit dem Thema Identität neue Impulse erfahren. Anlässe dafür sind, so Lohauß (1995), das Ende der zweigeteilten Ordnung der Weltpolitik und der Niedergang der sogenannten Ostblockstaaten in Europa. Befreiend, aber auch schmerzlich erlebte Europa den Zerfall nicht nur von Ideologien, sondern auch von Staaten, Nationen, Gesellschaften und Gemeinschaften und in dessen Gefolge die nicht mehr für möglich gehaltenen Rückkehr der kriegerischen Gewalt. Statt dass sich im Gefolge des weltweiten Sieges der Marktwirtschaft problemlos freiheitsliebende Demokratien bilden, scheint es eine wahre Renaissance des Rassismus, der patriarchalischen Gewalt, des Nationalismus und der fundamentalistischen Religionen zu geben. Die nun fällige Neudefinition des Selbstverständnisses von einzelnen Gruppen und Nationen ist, so Lohauß, ein langwieriger Prozess, der im besonderen Maße die Identitätsfrage bestimmt, denn alle diese Umbrüche berühren den Schnittpunkt von persönlichem und gesellschaftlichem Selbstverständnis. Waren die Einordnung in Gemeinschaften und ein natürlicher zeitlicher Ablauf früher zentrale Kategorien der persönlichen Identität, so müssen heute Männer und Frauen ihre Ich-Identität angesichts einer Lockerung der Bindung an bestimmte Orte, Zeitabläufe und Zeitspannen selbst herstellen. Dabei drängt sich die Frage auf, ob nicht mit dem Abbau manifester sozialer Differenzierungen innerhalb regionaler und sozialer Milieus ein viel feineres Gespür für soziales Verhalten und Fehlverhalten als früher vorhanden sein muss. Diskriminierung, Intoleranz, Beschneidung von Freiheitsrechten, soziale Ungleichbe-
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handlung sind Themen, die heute viel intensiver wahrgenommen werden als früher. In diesem Zusammenhang verdichtet sich immer mehr die These, dass moderne Identität in ihren Grundzügen auf selbstreflexive Beziehungen und auf Lebensorientierung statt auf Arbeitsorientierung ausgerichtet ist. Nicht übersehen sollte man dabei Überlegungen bezüglich heutiger Wertorientierungen. Prozesse der Selbstfindung oder Ich-Identität sind nur im Kontext der Wertewelten denkbar, fühlbar und begreifbar. Die heutige wissenschaftliche Auseinandersetzung kann sich nicht mehr mit rein kognitiven und rationalen Erkenntnissen über die Ich-Identität begnügen, ohne den Versuch einer zumindest ansatzweise ganzheitlichen Erfassung von individuellen Wahrnehmungs- und Reflexionsprozessen mitzudenken. Daneben steht die These von den wachsenden Selbstzwängen. Es liegt im Sinn der modernen Identität, des modernen Individualismus, sich weniger nach äußeren Richtlinien, Geboten und Normen zu richten, sondern möglichst weitgehend nach selbst gesetzten Zielen und Ansprüchen zu leben. Die Frage, ob heute Regeln des sozialen Umgangs auch innerlich akzeptiert werden, spielt eine weit größere Rolle als früher. Das spiegelt sich zum Beispiel im Wandel von Erziehungszielen wieder, die heute stärker denn je auf selbstverantwortliches Handeln und weniger auf Gehorsam und Pflichterfüllung gerichtet sind. In diesem Zusammenhang wird auch Affektkontrolle als persönliche Leistung erwartet (Gupfinger, 2002). Die Bildung des moralischen Gewissens hat erstens mit der Identität oder dem Selbst des Kindes zu tun (Selbstaspekt), ist eingebettet in das szenische Geschehen (szenischer Aspekt), orientiert sich an der Entwicklung des Kindes an dem ihm jeweils möglichen Formen der Welterfahrung (genetischer Aspekt) und bezieht sich sowohl auf die subjektiv wie auf die objektiv (natürlich oder soziokulturell) gegebenen Deutungshorizonte (Deutungsaspekt) (Schäfer, 1990). Was Kindern täglich begegnet, nimmt Einfluss auf ihre Entwicklung. Erlebt ein Kind, wie man sich gegenseitig anerkennt, kann es selbst Annahme lernen. Es, Ich-Identität, Ich-Stärke, Identifikation, Identifizierung, Identität, Identitätsbildung, Identitätskrise, Identitätsstörungen, Gewissen, Moral, Selbst, Selbstbewusstsein, Selbstkonzept, Über-Ich, Werte, Wertewandel (in alphabetischer Reihenfolge)
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– eine Fülle von Begriffen, die letztlich auf einen Brennpunkt zusammenzuführen ist, der in 1. der Suche, 2. in dem oftmals nur vermeintlichen Finden und 3. der aktiven Bereitschaft zur Annahme der eigenen Persönlichkeit, des individuellen und sozialen Stellenwerts in der Lebenswelt, gipfelt (Gupfinger, 2002).
Bindungsforschung Welche katastrophalen Auswirkungen eine frühkindliche Mutter-KindTrennung ohne ausreichende Ersatzbemutterung haben kann, ist seit den berühmten Findelhaus-Untersuchungen von René Spitz (1965) bekannt. In den letzten Jahren hat es, ausgelöst durch die Arbeiten von Bowlby (1969, 1973, 1980, 1982) eine Vielzahl von Arbeiten über Bindungsforschung in der Entwicklungspsychologie gegeben. Unter Bindung versteht man ein lang andauerndes affektives Band zu ganz bestimmten Personen, die nicht ohne Weiteres auswechselbar sind und deren körperliche und psychische Nähe und Unterstützung gesucht werden, wenn Furcht, Trauer, Verunsicherung und Krankheit in einem Ausmaß erlebt werden, das nicht mehr selbstständig regulierbar ist. Frühe Bindungsmuster haben ausgeprägte Wirkungen auf die gesamte Lebensentwicklung, da sie Fundamente setzen, wie Information prozessiert wird. Sicher gebundene Kinder sind in der Lage, sich auf ihre Gefühle und ihre Gedanken zu verlassen, die ihnen helfen, ihre Reaktionen in jegliche Situation zu gestalten (Streeck-Fischer, 2004). Die beiden Verhaltenssysteme Bindung und Exploration sind auf subtile Weise miteinander verknüpft, wobei die Bindungsfigur die unabdingbare sichere Basis bietet, von der aus das Kind die Welt erkundet. Es kann keine Neugier, kein Lernen entstehen, wenn die Grundbedürfnisse des Kindes nach Bindung und Sicherheit nicht erfüllt werden. Diese Dialektik von Bindung und Exploration bestimmt die weitere Entwicklung des Kindes und erklärt die oft erheblichen Defizite vernachlässigter Kinder. Zahlreiche Studien belegen die starken Veränderungen in der Traum- und Phantasietätigkeit und die Einschränkungen im Spiel, die durch Vernachlässigung und traumatische Erfahrungen entstehen (Seiffge-Krenke, 2002).
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Bowlby (1976) hatte sich schon mit der Frage beschäftigt, ob es Zusammenhänge zwischen einer unsicheren Bindung und einer bestimmten Psychopathologie geben könnte. In einer zunehmenden Anzahl von prospektiven Längsschnittstudien wurden Zusammenhänge zwischen einer unsicheren Bindung und Verhaltensauffälligkeiten der Kinder im Vorschul- und im Schulalter gefunden (Brisch, 1999). Misshandelte Kinder, vernachlässigte Kinder und Kinder von psychiatrisch kranken Eltern zeigen sich häufiger unsicher gebunden. In einer wachsenden Zahl von Studien wurden Verbindungen zwischen einem unsicheren Bindungsmuster oder einer unsicheren Bindungsrepräsentation und psychischen Störungs- und Symptombildern bei unterschiedlichen Risikogruppen gefunden. Das Muster der desorganisierten Bindung scheint wegen seines häufigen Vorkommens in der klinischen Stichprobe eine besondere Bedeutung für die Entwicklung von Psychopathologie zu haben (Brisch, 1999). Sehr entscheidend ist die kognitive Strukturierung von Beziehungen, die Fonagy (2003) als Mentalisierung bezeichnete. Die gebildeten inneren Arbeitsmodelle von sich selbst und anderen wichtigen Bezugspersonen werden dann in der Folge handlungsleitend für die weitere Beziehungsgestaltung. Auch die Fähigkeit zur Emotionsregulierung gehört zu den zentralen Fertigkeiten, die auf der Basis von Bindungsbeziehungen erworben werden. Frühe Bindungserfahrungen stellen die Basis für Psychopathologie dar. Allerdings können spätere positive Beziehungserfahrungen, zum Beispiel in Psychotherapien, unsichere Arbeitsmodelle erfreulicherweise noch korrigieren. Es darf nicht übersehen werden, dass das, was an Bindungsbeziehungen gelernt und entwickelt wird, nämlich die Fähigkeit zur Emotionsregulierung und eine innere Repräsentation, ein inneres Arbeitsmodell über sich oder andere, entscheidend für die weitere Beziehungsentwicklung und die intellektuelle Entwicklung des Kindes ist. Dies erklärt die erwähnten erheblichen intellektuellen und sozialen Defizite unsicher gebundener Kinder. Studien zur »Theory of Mind« von kleinen Kindern, das heißt ihren Vorstellungen über die mentalen Prozesse anderer Personen, haben enorme Unterschiede in Abhängigkeit von familiären Faktoren erbracht. Unsere Aufgabe ist es, wie Adler schon damals sagte, das soziale Umfeld zu stärken, um den Kindern eine positive Entwicklungschance
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zu geben. Dies geschieht durch Unterstützung der primären Bezugspersonen. Wir wissen aus der Bindungsforschung – Bindung ist ein Merkmal der Interaktion –, dass frühe Bindungserfahrungen spätere soziale Kompetenz beeinflussen, ebenso das Selbstkonzept. Unsicher gebundene Kinder sind feindseliger und misstrauischer, sicher gebundene Kinder können sich leichter Trost und Hilfe suchen. In den letzten Jahren ist verstärkt die protektive Funktion der Unterstützung durch Freunde untersucht worden, vor allem, wenn defizitäre Eltern-Kind-Beziehungen vorliegen. Zu den Prozessen, die mit dem Alter zunehmen und vor allen Dingen in Freundschaftsbeziehungen gelernt werden, zählen Fähigkeiten in der Emotionsregulierung und im Umgang mit Konflikten. Hier wird echte Beziehungsarbeit geleistet, die die Beziehungen auf ein höheres Niveau bringt. Freunde helfen nicht nur bei der Konturierung der eigenen Identität, des Selbstkonzepts und des Körperkonzepts, auch die Annäherung an das andere Geschlecht erfolgt später im Schutz der besten Freunde. Es gibt kein anderes Symptom, das klinisch auffällige von unauffälligen Kinder und Jugendlichen so gut trennt wie Probleme mit Gleichaltrigen. In der therapeutischen Arbeit der letzten drei Jahrzehnte stand zunehmend die Arbeit mit Patienten mit frühen Störungen, mit ich-strukturellen Störungen sowie traumatisierten Patienten im Vordergrund. Dies macht nicht nur ein besonderes technisches Vorgehen erforderlich, sondern verlangt auch vom Therapeuten sehr viel Halt (SeiffgeKrenke, 2002).
Neuer Entwicklungsbegriff Die Ergebnisse von Längsschnittsstudien, in denen Kinder, Jugendliche und ihre Familien über Jahre beobachtet und untersucht wurden, machten nach Seiffge-Krenke (2006) eine Neukonzeptualisierung des Entwicklungsbegriffs notwenig. In früheren Konzeptionen wurde Entwicklung als stark reifungsabhängig betrachtet, als eine irreversible Reihenfolge von Phasen, mit qualitativen Unterschieden. Es gibt Entwicklungsprozesse, die diesen Merkmalen folgen, die meisten Entwicklungsprozesse folgen diesem Muster nicht. Kinder und Jugendliche werden vielmehr als aktive Produzenten ihrer eigenen Ent-
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wicklung gesehen, das heißt, ihr Beitrag zu ihrer eigenen Entwicklung ist unübersehbar. Sie gestalten ihre Entwicklung und beeinflussen aktiv auch bedeutende Beziehungspartner, und das von Anfang an. Das Ergebnis dieses Perspektivenwandels ist eine veränderte Sicht der ersten eineinhalb Lebensjahre. Der Säugling erscheint als aktiv, differenziert und beziehungsfähig. Als Kurzcharakterisierung hat sich der Ausdruck vom »kompetenten Säugling« durchgesetzt (Dornes, 1997). Differentielle Unterschiede in der Entwicklung wurden offenkundig und unterschiedliche Entwicklungspfade in Abhängigkeit von unterschiedlichen Entwicklungskontexten gefunden (Seiffge-Krenke, 2006). Seit Beginn der achtziger Jahre wurden die klinische und die entwicklungspsychologische Perspektive in dem neuen Forschungsschwerpunkt der Entwicklungspsychopathologie zusammengeführt.
»Neue« Erziehung Im Editorial einer Ausgabe der Zeitschrift für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (5/2006) fragt Wilhelm Rotthaus: Brauchen wir eine neue Erziehung? Er meint, dass sich in den letzten Jahrzehnten ein entscheidender Perspektivenwechsel in der Betrachtung von Kindern vollzogen habe. Dieser Wandel in Haltung und Einstellung Kindern gegenüber würde sogar schon greifbar an kinderpolitisch bedeutsamen Regelungen und Gesetzen. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom November 1989 ist ganz von dem Prinzip geprägt, das Kind als eigenständiges Subjekt zu betrachten. Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Erwachsene heute leben und Kinder aufwachsen, hätten sich entscheidend geändert. Ein Schonraum, in dem Kinder unter dem Schutz der Erwachsenen nur soviel an Informationen bekommen, wie sie die Erwachsenenwelt für sie als zuträglich erachtet, sei nach Rotthaus in unserer heutigen Medienwelt nicht mehr zu schaffen. Erwachsene, die sich unhinterfragt als die Wissenden, die Weisenden, die Fertigausgebildeten sehen, seien kaum noch zu finden. Kinder seien Erwachsene geworden und die Erwachsenen kindlicher. Wenn nun aber die Grundlage der traditionellen Erziehung – die Differenz zwischen Kind und
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Erwachsenem – weitgehend verschwunden ist, dann brauche es nicht zu verwundern, dass heute so viele Eltern in ihrem Erziehungsverhalten so sehr verunsichert sind. »Vielmehr brauchen wir eine neue Erziehung, die durch eine neue Kind-Eltern- bzw. Kind-Erwachsenen-Beziehung charakterisiert ist. Sie gründet darauf, dass wir das Kind als einerseits autonomes, eigenständiges Lebewesen eigenen Rechts, als Subjekt seines Lebens und seiner Entwicklung betrachten, das andererseits jedoch nicht unabhängig von seiner Umwelt, der erzieherischen, politischen oder wissenschaftlichen Umwelt, verstanden werden kann […] Der erziehende Erwachsene handelt in dieser Konzeption mit dem Kind als gleichwürdigem Partner. Zugleich sieht er die Anleitungs- und Unterstützungsbedürftigkeit des Kindes und erzieht es, indem er ihm Lernen ermöglich und es damit in die Kultur einführt. Das Kind ist damit nicht mehr Objekt erzieherischer Bemühungen, sondern bleibt Subjekt seines Lebens und seiner Entwicklung. Es ist kein Mangelwesen, kein noch unfertiger, unzureichender, unvollkommener Erwachsener, sondern mit seiner offeneren, weniger festgelegten, phantasiereicheren Sicht der Welt schlicht andersartig in seinem Sosein. Es ist nicht ein Wesen, das durch Erziehung zum vollwertigen Menschen werden soll, sondern braucht den Erwachsenen als Mehrwisser oder Anderswisser (nicht als Besserwisser!), weil es die für uns selbstverständliche Sicht der Welt noch nicht kennt. Somit wird Erziehen als interaktiver Prozess verstanden, in dem die Handlungen aller beteiligten Partner gleichwichtig sind, auch wenn Kinder und Erwachsene unterschiedliche Rollen und Aufgaben haben und der Erwachsene die Verantwortung für den Verlauf trägt« (Rotthaus, 2006, S. 326). Er geht davon aus, dass Kinder und Erwachsene auf einer Ebene stehen im Hinblick auf Respekt vor dem anderen, der Achtung vor dem anderen, dem Ernstnehmen des anderen und der Würdigung seiner Wahrnehmungs- und Denkstile. Das Ernstnehmen bedeutet unter anderem anzuerkennen, dass die Probleme der Kinder mindestens ebenso gewichtig sind wie die der Erwachsenen. Gleichzeitig stellt sich die Aufgabe, ihnen dies als »Werdende« Problemlösungsstrategien zu vermitteln. Die Erwachsenen haben die Verantwortung dafür, den Kindern unsere ethisch-moralischen Grundsätze zu vermitteln, was nicht ohne Einsetzen von Grenzen und einem Tragenlassen von Frustrationen möglich ist. Doch geschieht
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dies in Abkehr von der Idee des »quod licet jovi, non licet bovi« bei grundsätzlicher Reziprozität der Regeln. Für den Bereich des Lehrens und Lernens heißt das, Kinder in ihrer Fähigkeit zu unterstützen, ihre Lernaktivitäten selbst zu steuern und Chefs ihrer eigenen Lernprozesse zu sein, ihnen aber gleichzeitig strukturierte Angebote mit den notwenigen Grenzen zu machen (Kinder als Seiende und Kinder als Werdende) (Rotthaus, 2006). Ein entsprechender Wechsel der Perspektive lässt sich in der neueren Kindheitsforschung feststellen: Selbständigkeit ist nicht nur eine erzieherische Norm, sie ist auch zu einem Strukturprinzip der theoretischen Erklärung kindlicher Entwicklung und Weltbewältigung avanciert. Prägungen der Umwelt treten ebenso zurück wie innere Entwicklungskräfte. Die handelnde Auseinandersetzung mit der Welt, die aktive Bewältigung von Angeboten wie auch von Schwierigkeiten und Krisen tritt in den Vordergrund (Eggert-Schmid Noerr, 2002). Freilich birgt dies auch Gefahren der Überforderung in sich. Winterhager-Schmid (2002) beschreibt in ihrem Aufsatz »Die Beschleunigung der Kindheit« die gegenwärtige Diskussion in der Kindheitsforschung und stellt dabei die beiden konkurrierenden Kindheitsmuster des modernen Kindes als kompetenten Akteur seiner Lebenswelt und des im besonderen Maße durch die Moderne bedrohten Kindes gegenüber. Es wird davon ausgegangen, dass Kindheit heute immer weniger in den traditionell vorgegebenen Bahnen verläuft und stattdessen zunehmend durch die Eigenstrukturierung von Lebensentscheidungen geprägt wird. Es gilt daran festzuhalten, dass einer gelungenen Selbständigkeit Geborgenheit und Verlässlichkeit innerhalb früherer Abhängigkeit und Unselbständigkeit vorausgehen müssen. Selbstständigkeit ist manchmal als Zeichen seelischer Verwahrlosung oder imponierender Fähigkeit, mit den aufgezwungenen Defiziten schöpferisch umzugehen, zu sehen. Selbstständigkeit bezieht sich oft nicht auf alle Lebensbereiche, insbesondere nicht auf die Arbeit, sondern von dem Hintergrund der Arbeitsgestaltung der Eltern vor allem auf die Freizeitgestaltung. Selbstständigkeit ist ein geschichtliches gesellschaftliches Konstrukt. Selbstständigkeit ist nicht nur eine erzieherische Norm, die heute zumindest in bestimmten Lebensbereichen viel mehr Gewicht hat als noch vor wenigen Jahrzehnten. Sie ist auch zu einem Strukturprinzip der theoretischen Erklärung kindlicher
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Entwicklung und Weltbewältigung avanciert. Prägungen der Umwelt treten dabei ebenso in den Hintergrund wie innere Entwicklungskräfte, während die handelnde Auseinandersetzung mit der Welt, die aktive Bewältigung von Angeboten wie auch von Schwierigkeiten und Krisen in den Vordergrund tritt. An die Stelle des prinzipiell gefährdeten Kindes, wie es seit jeher Gegenstand vielfältiger pädagogischer Bemühungen des Schutzes und der Anleitungen war, tritt nun das mit vielfältigen Kompetenzen ausgestatte Kind, das sich im Dickicht der postmodernen Lebenswelt überraschend souverän zurechtfindet, sich unter Bedingungen zunehmender Individualisierung der Lebensentwürfe seine eigenen Orientierungen schafft und Entscheidungen trifft. Aus psychoanalytischer Sicht im Sinne des Interesses an unbewussten Determinanten des Erlebens und Handelns tritt in diesem Zusammenhang eher die Idee der psychischen Überforderung all zu früh als Selbstständigkeit auf (Göppel, 2002). Ein junger Mann hat nach einem Vortrag in Deutschland Erwin Ringel (Mettnitzer, 2005) folgenden Text überreicht: »Wir erschrecken vor dieser Freiheit, die ihr uns plötzlich gebt, mit der ihr uns allein lasst in der leeren Wohnung, während ihr selbst die Flucht ergreift in panischer Angst, in immer schnelleren Autos. Unsere Frage nach Gott speist ihr mit einem Esslöffel Sahne ab; eure Schwarzwälder Torten stinken. Wundert euch nicht, wenn wir euren Händen entgleiten, davonbrausen auf unseren heulenden Maschinen, weil wir daheim nicht heulen dürfen in der hellhörigen Wohnung. Wundert euch nicht, wenn wir uns ekeln vor eurem Gesicht, aber den Augen der Gurus blind vertrauen. Wir wissen es ja: So oder so, in eurer Mitte gehen wir drauf, fallen wir um eines Tages, vor euren Augen sterben wir an der Sinnlosigkeit eures Lebens.«
Das übergeordnete Tagungsthema lautet: Wozu leben wir? Sinnfragen und Werte heute. Werte sind im Unterschied zu Normen weniger verbindlich, haben aber für diejenigen, die sie anerkennen, eine besondere affektive und handlungsmotivierende Bedeutung (Billmann-
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Mahecha, 1997). Vor dreißig Jahren hat Erich Fromm (1976) sein Alterswerk verfasst: »Haben oder Sein«. Arnold Mettnitzer (2005), ein österreichischer Individualpsychologe, verdeutlichte in einem Vortrag über persönliche Werte den Unterschied zwischen Haben und Sein und den Vorrang des Seins an zwei Beispielen: Ein Indianer und ein Europäer gehen durch die Stadt. Plötzlich bleibt der Indianer stehen und sagt: »Hör doch, da singt eine Grille!« »Wie kannst du«, wundert sich der Europäer, »im Großstadtlärm eine Grille zirpen hören?« Im Weitergehen lässt der Indianer ein Geldstück fallen. Sofort dreht sich der Europäer um und sucht nach der Münze. »Wie kannst du«, wundert sich der Indianer, »bei all dem Lärm ein einzelnes Geldstück fallen hören?« Mutter Teresa wurde in Kalkutta einmal einen Tag lang von einem Fernsehteam bei ihrer Arbeit begleitet; zum Schluss der Dreharbeiten sagte zu ihr der Regisseur: »Was Sie hier leisten, würde ich für 1000 Dollar pro Tag nicht machen wollen!« Mutter Teresa hat ihm geantwortet: »Da haben Sie Recht. Für 1000 Dollar pro Tag würde ich das auch nicht tun wollen!« Werte sind keine Vorgaben, sondern Angebote. Die Bedingungen des Aufwachsens junger Menschen haben sich im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse spürbar gewandelt. Jugendliche finden sich in zunehmend komplexen und widersprüchlichen Lebenswelten wieder, die ihnen mehr Handlungsoptionen bieten, ihnen aber auch mehr Selbstorganisation und Entscheidungsprozesse unter Ungewissheitsbedingungen abverlangen (Vossler, 2004). Werte und Normen werden im Jugendalter kritisch hinterfragt, Alternativen werden – zunächst nur probeweise – vertreten, bis sich aus den damit verbundenen Auseinadersetzungen stabile eigene Werthaltungen herausbilden, die das zukünftige Leben gestalten helfen (Billmann-Mahecha, 1997). Das Unbehagen der Jugend am Wertekatalog der Erwachsenen scheint ein nicht unerheblicher Grund von Aggression und Gewalt in unserer Gesellschaft. Protest eines Maturanten (Club der toten Dichter, 1989):
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Ich wollte MILCH und bekam die FLASCHE. Ich wollte ELTERN und bekam SPIELZEUG. Ich wollte REDEN und bekam ein BUCH. Ich wollte LERNEN und bekam ZEUGNISSE. Ich wollte DENKEN und bekam WISSEN. Ich wollte ÜBERBLICK und bekam EINBLICK. Ich wollte FREI SEIN und bekam DISZIPLIN. Ich wollte LIEBE und bekam MORAL. Ich wollte einen BERUF und bekam einen JOB. Ich wollte GLÜCK und bekam GELD. Ich wollte FREIHEIT und bekam ein AUTO. Ich wollte SINN und bekam KARRIERE. Ich wollte HOFFNUNG und bekam ANGST. Ich wollte ÄNDERN und erhielt MITLEID. ICH WOLLTE LEBEN. (Aber so kann ich nicht leben.)
In einer österreichischen Tageszeitung war am 25.10.2006 der Bericht über eine Umfrage in Zusammenarbeit mit dem Kinderhilfswerk UNICEF über die wichtigsten Werte deutscher Kinder zu lesen. Es sind dies: Gerechtigkeit, Freundschaft und Zuverlässigkeit. Geld als Wert an sich ist für die 6- bis 14-Jährigen nicht vorrangig. Leistung hingegen wird im Gegensatz zu den achtziger Jahren wieder betont. Moral- und Werteentwicklung sind als Teil der gesamten Entwicklung als lebenslanger Prozess, abhängig vom sozialen Umfeld und gesellschaftlichen Bedingungen anzusehen.
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Ursula Sauer-Schiffer
Werte in der individualpsychologischen Beratung
Values of Adlerian counseling Adlerian counseling (attitude, principles and methods) is orientated on a value system which is based on social interest (»Gemeinschaftsgefühl«) with equality of people at the core. First of all this article describes a course for university students (the so called «laboratory for methods”) which especially is designed for the training of students of adult education. It describes learning and studying conditions and qualifications which are the basis of a good educational relation. The next step is to reflect the teaching and learning process of the course. The main point is the discussion of the topic «reflection” as competence and professional skill for adult educationists on the one hand and as a method in university courses on the other. It is shown that equality, cooperation and respect for others are core values of Adlerian counseling (and in education).
Zusammenfassung Individualpsychologische Beratung orientiert sich an den Werten (der Haltung, an den Prinzipien und Methoden), die sich aus dem Adler’schen Menschenbild ableiten lassen. Am Beispiel einer speziell für die Methodenausbildung von Studenten der Erwachsenenbildung konzipierten Veranstaltungsform, dem Methodenlabor, werden zunächst die Bedingungen und Voraussetzungen einer wertschätzenden Beziehungsgestaltung im Kontext von universitärem Lernen beschrieben. Daran anschließend wird der Lehr- und Lernprozess am Beispiel des Methodenlabors reflektiert. Ein inhaltlicher Schwerpunkt liegt auf der Betrachtung der Reflexion als Kompetenz von angehenden Weiterbildnern einerseits und als didaktisches Prinzip in der Gestaltung von Bildungs- und Beratungsarbeit andererseits. Es wird aufgezeigt, dass Partnerschaftlichkeit, Kooperation und Achtung genuine Werte in der individualpsychologischen Beratung- und Bildungsarbeit sind.
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Einleitung: Beratung orientiert an der »Ethik der ungestörten Verständigungsgemeinschaft«
Werte in der individualpsychologischen Beratung – der Titel dieses Beitrags verweist darauf, aus welcher Perspektive ich mich mit dem Thema »Der Sinn des Lebens – Werte und Sinnfragen heute« befasse. Als Hochschullehrerin für Erwachsenenbildung, als Pädagogin und Erwachsenenpädagogin stelle ich den Aspekt der Gestaltung von Beratung und den Aspekt der Vermittlung (des Lernens) in den Vordergrund. Aus dieser Sicht reflektiere ich die Beratungsarbeit mit Studenten der Erwachsenenbildung, die später im Bildungsbereich Leitungsaufgaben übernehmen. Meine leitende These lautet: Individualpsychologisch orientierte Arbeit ist werteorientierte Arbeit. Belegen möchte ich diese These zunächst mit Adlers Ausführungen zum »wahren Sinn des Lebens« (Metzger 1994, S. 7). In den Beschreibungen erläutert Adler Eigenschaften und Haltungen, die ein an der Gemeinschaft orientierter Mensch besitzen sollte: »Sinnvoll ist, beziehungsweise Sinn hat ein menschliches Leben dann, wenn es ›vom Ziele des Wohles der gesamten Menschheit geleitet ist‹, wenn es einem Zustand ›größerer Beiträge‹ (für die Gesamtheit), ›größerer Kooperationsfähigkeit‹ zustrebt, ›wenn sich jeder Einzelne mehr als bisher als einen Teil des Ganzen darstellt‹ (S. 168). Man kann auch sagen: Wenn Überlegenheit nicht ohne die anderen, nicht auf Kosten der anderen, nicht gegen die anderen und vor allem nicht über die anderen gesucht wird, sondern gemeinsam mit ihnen über die Misslichkeiten, Schwierigkeiten, Beschwerden, Unbilden, Gefahren des Lebens und der Welt« (Metzger 1994, S. 11). Und weiter: »Der ›wahre‹ Sinn des Lebens lässt sich also nur in der Gemeinschaft, gemeinsam mit anderen erfüllen. Um das ›Ziel der Vollendung oder Vollkommenheit› zu erreichen, müssen daher bestimmte Eigenschaften und Haltungen der Einzelnen in genügendem Maß verwirklicht sein: Der Einzelne muss fähig und bereit sein, sich anderen ›anzuschließen‹, ›mitzuleben‹, Kamerad, Freund, ›Mitspieler‹ zu sein. Er muss sich zum ›richtigen Mitmenschen‹ entwickeln. Er muss Kooperationsfähigkeit und Neigung zur Mitarbeit, zur Übernahme von ›Aufgaben zu zweit‹ oder zu mehreren besitzen. Er muss bereit sein, auch zum Nutzen anderer tätig zu werden, ohne ständig nach Gegenleistungen zu
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schielen. Das heißt, er muss ebenso an anderen wie an sich selber Interesse haben, ja sogar Interesse an der ›Menschheit‹ und ihren Fragen. Dazu gehört Friedlichkeit, Einfügungsbereitschaft, Treue und Verlässlichkeit. Es gehört dazu die Übernahme der Verantwortung fürs eigene Tun und die zur Selbstverständlichkeit gewordene tätige Anerkennung der Gleichheit und Gleichberechtigung des anderen, dazu die Geduld gegenüber seinen Schwächen« (Metzger, 1994, S. 12f.).
Als Beraterinnen und Berater, die individualpsychologisch arbeiten, haben wir es demnach immer mit Wertefragen zu tun. Beraterische Arbeit orientiert sich in Haltung, Prinzipien und Methoden an den gerade aufgeführten Vorstellungen zum Menschenbild. Mein Beitrag befasst sich nicht mit Werten an sich, sondern mit der Frage, wie eine Zusammenarbeit (in Form von Unterricht oder Lehre oder Beratung) gestaltet sein muss, die orientiert ist am Begriff des Gemeinschaftsgefühls oder – wie es Tymister nennt – an der »Ethik der ungestörten Verständigungsgemeinschaft« (Tymister, 1979, S. 150f.). Hierzu untersuche ich die individualpsychologische (Beratungs-) Arbeit mit angehenden Weiterbildnern und zukünftigem Führungspersonal im Bildungsbereich. Ich reflektiere die Prinzipien und Methoden, wie mit Studenten angemessen partnerschaftlich gearbeitet werden kann und welche Fähigkeiten und Kompetenzen entwickelt werden können, wenn ihnen die Freiheit zugestanden wird, sich zu entfalten. Ich gehe von der These aus, dass die wertschätzende Haltung, die sich in der Beziehungsgestaltung in Seminaren ausdrückt und die Reflexion entscheidende Elemente gelingender (Beratungs- und Bildungs-) Arbeit sind. Als wissenschaftliche Grundlage für meine Überlegungen beziehe ich mich auf meine empirische Untersuchung zum Leitungshandeln von Frauen in Führungspositionen der Weiterbildung (Sauer-Schiffer, 2000). Darin belege ich, dass für eine erfolgreiche Führung vor allen Dingen eine reflexive Kompetenz zur Führung und zur Selbstführung benötigt wird. Die Kompetenz der Reflexion gilt es bereits im Studium zu erlernen, zu fördern und zu erweitern. Damit Reflexion professionell geschieht, bedarf es Anleitung – wie ich im Folgenden zeige. Als weitere Grundlage nutze ich meine Lehre und beziehe mich
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auf eine spezielle Methode in der Ausbildung angehender DiplomPädagogen, auf die Methodenlaborarbeit. Kennzeichen dieses Seminartyps ist die Selbsttätigkeit und die Reflexion. Erste empirische Ergebnisse zum Lernen im Methodenlabor liefert die Untersuchung von Julia Schmidt (2005). Aus diesem Seminar zitiere ich nun einige Seminarerfahrungen einer Studentin, die den Stellenwert von Reflexion und Beziehungsarbeit deutlich machen: »Mein Fazit setzt sich aus meinen persönlichen Erfahrungen während der Vorbereitung und Durchführung sowie aus der theoretischen Beschäftigung mit dem Thema und aus den Aussagen der Auswertungs-/Feedbackrunde zusammen. Ich habe die Situation, auf die ich mich vorbereiten musste, in einigen Aspekten als sehr anstrengend empfunden. Einerseits wollte ich mit den Teilnehmern (zu denen ich ja sonst auch gehöre) eine fruchtbare und effektive Methode durchführen, die tatsächlich das Ende des Methodenlabors gestaltet. Andererseits empfand ich insbesondere die Durchführung der Methode auch als Prüfung, in der meine Leistung anschließend bewertet wird. Ich habe das Methodenlabor als ein sehr ›intimes‹ Seminar empfunden, da man sehr viel von sich preisgibt. Der Umstand aber, dass in diesem Seminar eine sehr vertrauensvolle und wohlwollende Atmosphäre herrschte, ermöglichte es mir dennoch, sehr viel zu lernen und mich sicher zu fühlen. Die immer gleich ablaufende Auswertungs- und Feedbackrunde gab mir Sicherheit und Orientierung – ich wusste, was auf mich zukommt. Dennoch war ich vor und während der Durchführung der Methode sehr aufgeregt – so, wie ich es bei allen praktischen/mündlichen Prüfungen bin. Da ich im Vorfeld mit meiner Nervosität gerechnet hatte, entwickelte ich für die Situation der Durchführung einige Hilfestellungen. So habe ich mich sehr gut vorbereitet, indem ich Materialien gebastelt und zusammengestellt habe, ich habe den möglichen Ablauf der Durchführung allein für mich immer wieder durchgespielt, ich habe mir überlegt, wann ich mich hinsetze oder wann ich lieber stehe, ich bin extra früh im Seminarraum erschienen, um die Situation möglichst gut zu arrangieren etc. Aber vor allem die sehr gute und zuverlässige Vorbereitungsphase mit Melanie U. hat mir nicht nur viel Spaß gemacht, sondern hat mir auch Sicherheit gegeben. Dennoch war ich vor und während der Durchführung der Methode nervös. Trotzdem empfand ich in der nachfolgenden Auswertungsrunde, dass alles gut geklappt hat, und ich konnte mit mir selbst weitestgehend zufrieden sein. Das anschließende positive Feedback hat mich sehr bestärkt« (Frau Tanja L.).
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Im Vergleich mit den eingangs aufgeführten Ausführungen von Adler zeigt dieses Beispiel nicht nur die ausgeprägten Fähigkeiten der Selbst- und Fremdeinschätzung, sondern auch die Fähigkeit der Studentin, mit anderen zu kooperieren. Das Beispiel belegt ebenfalls, dass diese Studentin fähig ist, die Verantwortung für ihre eigenen Interessen und Schwierigkeiten zu übernehmen und dass sie bereit ist, sich zu ändern. Es stellt sich nun die Frage nach der Gestaltung einer (Beratungs- und Bildungs-) Arbeit, damit derartiges Nachdenken über die eigene Persönlichkeit und über die Lerngruppe erfolgen kann und angeregt wird.
Beziehungsgestaltung in der Lehre – eine werteorientierte Arbeit
Erstes Ziel und gleichzeitig Methode jeder Beratung – und individualpsychologisch-orientierten Arbeit – ist der Aufbau einer kooperativen, gleichwertigen und partnerschaftlichen Beziehung. Die Studenten sollen sich vom Dozenten (Berater) verstanden (und auch angenommen) fühlen. Es gehört zu den Standards und zum Common Sense in allen Beratungsverfahren – und auch zur pädagogischen Beziehung – dass die Beratung (der Unterricht) geprägt ist von Achtung vor dem Lernenden/Klienten/Ratsuchenden und von Einfühlungsvermögen. Mit Antoch möchte ich die Besonderheiten der individualpsychologischen Beziehungsgestaltung hervorheben: »Das entscheidende der individualpsychologischen Arbeit bleibt das Klima der gleichwertigen Kommunikation und Kooperation, auf dass der Helfer (Berater/Therapeut) hinarbeitet, indem er den Ratsuchenden von Mal zu Mal ermutigt, sich zunächst am Verlauf des Gesprächs zu beteiligen und schließlich sein Schicksal (wieder) selbst in die Hand zu nehmen und dazu im Geist des Gemeinschaftsgefühls seinen Beitrag zu leisten« (Antoch, 1989, S. 350). Was sind Kennzeichen einer gleichwertigen Beziehung in der Universität? Frau Tanja L. beschreibt, dass sie das Seminar als intensiv, als »intim« erlebt hat, da man »sehr viel von sich preisgibt«. Sie lernt
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ihre eigenen Gefühle und ihre eigenen Einstellungen und die der anderen besser kennen. Aus individualpsychologischer Sicht belegen ihre Aussagen ein hohes Maß an Gemeinschaftsgefühl: Die Studierenden können akzeptierend und wertschätzend mit sich selber und miteinander umgehen. Die Qualität des Miteinanderumgehens beschreiben auch die Ergebnisse der empirischen Studie zum Methodenlabor: »Die Teilnehmer schätzen die Gruppensituation folgendermaßen ein: Die Gruppenatmosphäre wurde als sehr persönlich erlebt; Interessierte und motivierte Kommilitonen, gegenseitige Unterstützung und Hilfe, Akzeptanz und Vertrauen in der Gruppe; die Gruppe wird als experimentierfreudig empfunden; Toleranz und Wertschätzung untereinander; kein Gefühl, sich zu genieren, empfunden; von großer Vertrautheit geprägte Atmosphäre empfunden; über die Anforderungen hinausgehendes Engagement empfunden« (Schmidt, 2005, S. 95ff.). Studierende und Lehrende sind gleichwertige Partner im Interaktionsprozess Lehre mit je eigenen (bewussten und unbewussten) Zielen und eigenen lebensstiltypischen Einstellungen und Verhaltensweisen. Beide, Studierende als Lernende wie auch Dozenten als Lehrende, haben gleichermaßen die Verantwortung für ihr Handeln im Seminar. Die bewussten und unbewussten Ziele sind geprägt durch das universitäre Umfeld, in dem die Studierenden und auch die Dozenten leben.
Beziehungsgestaltung: Das Umfeld von Studierenden Da das Umfeld von Studierenden und Lehrenden stark geprägt ist von Modernisierungsschüben, skizziere ich im Folgenden die wichtigsten Entwicklungen, die das Studium und hier spezifisch auch das Berufsfeld der Erwachsenenbildung zurzeit prägen: – Diskussion um Studiengebühren für das Erststudium in NRW; – Umstellung des Diplom-Pädagogik-Studiengangs auf studienbegleitende Prüfungen (mehr Prüfungen, mehr Seminare, erhöhte Präsenzzeiten); – Abschaffung des Diplomstudiengangs und Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen;
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– mehr Struktur und vorgegebene Inhalte; – Diplom-Pädagogen mit den Schwerpunkten Sozialpädagogik, Er-
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wachsenenbildung oder Schulforschung (oder Sonderpädagogik) gibt es seit vierzig Jahren und haben sich im Bildungs-, Sozial- und Erziehungswesen etabliert; Studenten mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung/Weiterbildung haben die besten Aussichten, einen gut bezahlten Arbeitsplatz in der beruflichen Weiterbildung, Personalentwicklung in Unternehmen zu finden (König, 2005; Sausele, 2005); Minderheitenposition von Frauen in Führungspositionen der Erwachsenenbildung, trotz überproportionalem Anteil an Frau im Studium (Rauschenbach u. Krüger, 2003, Sauer-Schiffer, 2000); pädagogische Kompetenzen für die pädagogischen Praxisfelder werden im Studium vermittelt; auf dem Arbeitsmarkt werden Pädagogen mit exzellentem fachlichen Wissen gesucht, die gleichzeitig über ausgeprägte methodische, soziale und personale Kompetenzen verfügen (Sauer-Schiffer, 2000).
Zu diesen allgemeinen Entwicklungen müssen weitere Einflussfaktoren hinzugezählt werden, die prägend auf die Studenten im Studium der Erwachsenenbildung wirken: Fachdisziplin Erwachsenenbildung, studentische Kultur, Wissenschaftskultur, Studienorganisationen, Milieu, Universitätsstadt/Universitätsregion, Wohnen, studentische Beziehungen, berufliches Ansehen von Erwachsenenbildnern, Frauen/Männeranteil und vieles andere mehr.
Beziehungsgestaltung: Das Umfeld von Lehrenden Auch Lehrende sind veränderten Umfeldbedingungen ausgesetzt. Die wichtigsten Veränderungen der letzten Jahre sind folgende: – Universitätslehre ist heute ebenfalls durch neue Studiengänge geprägt (steigende Pflichten in der Selbstverwaltung, Bürokratisierung, Zeitaufwand für große Seminare, erhöhter Betreuungsaufwand für Prüfungen und Abschlussarbeiten.); – hohe Zahl der Studierenden (Massenuniversitäten in NRW);
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– Universitäten sind hierarchisch organisiert, Frauen sind in der Min-
derheit; – Professorinnen engagieren sich mehr in der Lehre: Im Zeitbudget
von Professorinnen nimmt die Lehrtätigkeit 40 % ein, bei den Männern 10 % (Fischer et al., 1999); – innovative Formen der Lehre werden von Frauen thematisiert (Fischer, 1999); – die Inhalte der Universitätslehre verschieben sich durch a) Ausdifferenzierung pädagogischer Berufe, b) Mainstream der Forschung, der auch abhängig ist von Fördergeldern; – in der Erziehungswissenschaft Beratung als Trend: Trend zur Internationalisierung, Qualitätssicherung und Marktorientierung mit der Konsequenz, dass es Verbände wie den VHBC (Vereinigung von Hochschullehrerinnen und Hochschullehren zur Förderung von Beratung und Counseling) gibt, der wiederum in der neuen DGfB (Deutsche Gesellschaft für Beratung) organisiert ist.
Beziehungsgestaltung: Das Methodenlabor Neben den Umfeldbedingungen, die Studierende und Lehrende betreffen, müssen bei der Gestaltung von Lehre (Beratung) folgende Bedingungen mitbedacht werden, die speziell für das Methodenlabor gelten: Universitäre Lehre in der Ausbildung von Erziehungswissenschaftlern verfolgt in der Regel ein traditionelles Vermittlungskonzept mit Vorlesung, Übungen, Seminaren als methodische Formen. Das Methodenlabor ist handlungs- und lernerzentriert: das heißt berufspraktisches Wissen und Theorien über Methoden; praktische Präsentation und Durchführung einer Methode (Probehandeln/Ausprobieren), Reflexion von Methode und Dozentenverhalten, Feedback sowie Modifikation der Methode und gegebenenfalls des Dozentenverhaltens (vgl. auch Breloer, 1988). Handlungs- und lernerzentrierte Lehre kann in einer Massenuniversität nur eine Ausnahme sein. »Das Seminarkonzept wird von vielen Studenten als Alternative zum sonstigen Hochschulangebot empfunden. Die Studenten fühlen sich motiviert teilzunehmen, weil sie von der intensiven Lernmöglichkeit aufgrund kleiner Gruppen ge-
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wusst haben. Spaß und die Aussicht auf soziale Kontakte fördern die Teilnahmemotivation« (Schmidt, 2005, S. 95). Durch universitäre Bürokratie ist der Planungsaufwand für dieses Seminar groß. Seminare mit einer Teilnehmerzahl von 40 Studierenden müssen besonders beantragt werden. Eine Begrenzung auf 25 Studierende für das Methodenlabor ist beim Dekan zu beantragen. Diese Beschreibungen universitärer Umfeldbedingungen belegt den Wandel, der zurzeit an deutschen Hochschulen und im gesamten Bildungssystem stattfindet. Die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen von Globalisierung, Internationalisierung und Technologisierung bedingen natürlich auch die Einstellungen zum universitären Lernen und Lehren. Das Fazit zum Methodenlabor von Frau Tanja L. beschreibt die universitäre Situation an deutschen Hochschulen, wenn sie von vermehrtem Prüfungsdruck schreibt – den sie als individuellen Druck erlebt –, oder vom »intimen« Seminar, das sie als Besonderheit darstellt.
Information, Abstimmung und Verständigung als Grundlage der (beraterischen) Beziehung Abbildung 1 gibt zur Einleitung einen Überblick über die Zusammenhänge im Methodenlabor. Wie die Abbildung schematisch zeigt, ist es für den Lehr-Lernprozess wichtig zu wissen, – dass es (bewusste und unbewusste) Ziele der Studierenden gibt, die mit den (bewussten und unbewussten) Zielen des Dozenten übereinstimmen und auch, – dass es solche Ziele gibt, die einer Abstimmung bedürfen. Für einen gelingenden (Lern-)Prozess ist von Bedeutung, dass diese Abstimmung aktiv betrieben wird. Dies geschieht in einem ersten Schritt durch Informationen, die der Dozent gibt. Diese Informationen sind Informationen – über das Studium der Erwachsenenbildung und über die Qualifikationen und benötigten Kompetenzen im (Berufs-)Feld der Erwachsenenbildung,
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Methodenlabor
Umfeld
Umfeld
Studierende
Dozenten
- Information - Abstimmung und Verst Verständigung - Reflexion - Handeln
Abbildung 1: Methodenlabor – über die Inhalte des Methodenlabor, – über die Art des Lernens im Methodenlabor.
Ein gleichwertiges, partnerschaftliches Miteinander im Seminar setzt voraus, dass darüber informiert wird, dass das Verhalten aller Seminarteilnehmer final ist. Es gilt, sich eigener und gemeinsamer Ziele sowie der Ziele der anderen bewusst zu werden. Diese Bewusstmachung kann nur in einem vertraulichen Rahmen geschehen. Darum ist es wichtig, den Studierenden als Gruppe und als Einzelpersonen Akzeptanz entgegenzubringen und – speziell im Methodenlabor – Vertraulichkeit zuzusichern und die Freiwilligkeit der Teilnahme an allen Aktionen im Seminar explizit zu betonen. Die notwendige Abstimmung und Verständigung über die Inhalte, das Lernen, die Ziele von Einzelnen und der Gesamtgruppe setzt die Fähigkeit zur Reflexion voraus. Meine These, die ich im nächsten Schritt erläutern werde, lautet: Reflexion ist ein zentrales Element für das Gelingen einer kooperativen Beziehungsgestaltung. Reflexion ist gleichzeitig eine Kernkompetenz (erwachsenen-)pädagogischen Handelns und eine Kernkompetenz von Menschen mit Leitungsaufgaben.
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Ursula Sauer-Schiffer
Reflexion als Kompetenz und Voraussetzung für professionelles pädagogisches Handeln
Reflexion ist eine Kernkompetenz (erwachsenen-)pädagogischen Handelns. Insbesondere in Leitungspositionen gilt Reflexion heute als Kernkompetenz. Die Führungsforschung hat gezeigt, dass fachliches und sachliches Wissen (z. B. über Planung, Organisation und Kontrolle) allein nicht mehr ausreichen, die Führungspositionen adäquat auszufüllen. Personenbezogenes Wissen, Wissen um Beziehungsstrukturen, die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten, die Mitarbeiter zu motivieren, sie zu beraten, zu informieren und das Gespür für soziale und emotionale Atmosphäre gewinnen an Bedeutung. In meiner Studie zum Leitungshandeln von Frauen in der Erwachsenenbildung ist deutlich geworden, dass gerade Frauen sich als Person und Frau differenziert reflektieren (können). Dieses Wissen um die Genese und Struktur ihrer (lebensstiltypisch geprägten) Selbstkonzepte trägt zum Gelingen ihrer Kommunikation und Interaktion im Leitungsprozess bei. Das Wissen macht sie im Leitungshandeln differenzierter und auch flexibler. Die Frauen in Leitungspositionen besitzen durch ihre (geübte?) Reflexionsfähigkeit den Zugang zu eigenen Ressourcen und Problemlösungsstrategien. Eine Grundlage für die pädagogische Reflexionsfähigkeit ist demnach die Fähigkeit zu beziehungsanalytischem und personenbezogenem Denken. Die Leiterinnen in meiner Untersuchung belegen eindrücklich, dass fachliches und technisches Leitungswissen allein nicht genügt, um effizient zu leiten. Das auf unterschiedliche Interaktionspartner angewiesene Leitungsgeschehen – nicht nur in Bildungsprozessen – bedarf einer permanenten systematischen Reflexion. Die Kompetenz der pädagogischen Reflexionsfähigkeit dient nicht nur der Strukturierung von Leitung, sondern auch – oder gerade – der Distanzierung zwischen Anforderungen, die an Leiterinnen gestellt werden, und eigenen Ansprüchen an (Berufs-)Arbeit. Pädagogische Reflexionsfähigkeit ist eng verbunden mit pädagogischem Takt. Pädagogischer Takt im Leitungshandeln setzt Einfühlungsvermögen in die Arbeits- und Lebenswelten aller Mitarbeiterinnen voraus. Eine gewisse Neugier auf Menschen, die »richtige
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Dosierung« an Mitgefühl, eine gewisse Anteilnahme, das genaue Zuhören und der Austausch mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen setzt natürlich pädagogische und psychologische Kenntnisse, also Menschenkenntnisse, ebenso wie eine gewisse Situationssicherheit voraus – oder wie eine befragte Leiterin sagte: »Zur rechten Zeit, am rechten Ort mit den passenden Leuten, dafür habe ich ein Händchen« (Sauer-Schiffer, 2000, S. 221). Reflexion als Fähigkeit und als professionelle Handlungskompetenz kann (im Studium) erlernt und erweitert werden. Die Reflexion als professionelle Handlungskompetenz muss angeleitet werden. Im Methodenlabor ist die Reflexion Kernstück des Seminars. Um dies deutlich zu machen, hier eine Übersicht über die verschiedenen Reflexionsebenen, die ich weiter unten noch ausführen werde: 1. Einleitung in die Übung 2. Durchführung der Übung 3. Besprechung/Auswertung/Feedback, Didaktikreflexion, Reflexion des »Dozentenverhaltens« 4. Beratung und kollegiale Beratung Alle Seminarsitzungen folgen diesem systematischen Ablauf. Dieses Vorgehen gibt Sicherheit und Orientierung. Im Laufe des Seminars entwickeln sich Rituale, die eine Konzentration auf die Reflexion erlauben. 1. Einleitung in die Übung: Eine Studentin bereitet sich freiwillig mit einer Übung auf die »Dozentinnenrolle« vor, die andere ist für die Präsentation der Theorie zuständig. Die »Dozentin« führt alle Seminarteilnehmer in die Situation ein (Institution/Organisation, den Inhalt, die Zielgruppe/die Teilnehmer, die Phase des Seminars), in der die vorbereitete Methode/Übung eingesetzt werden soll und bereitet somit – wie bei einem Rollenspiel üblich – auf den Kontext vor. Daran anschließend melden sich ungefähr zehn Studierende, die die Rollen der »Seminarteilnehmer« übernehmen. Die Studierenden, die nicht als »Teilnehmer« mitarbeiten, sind Beobachter im Außenkreis. Sie bekommen einen Feedbackbogen. Die Beobachtungsaufgaben des Feedbackbogens beziehen sich je nach Vorwissen und fortschreitendem Seminar auf unterschiedliche Aspekte. Der Feedbackbogen
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ist wertschätzend angelegt und nach dem individualpsychologischen Prinzip der Ermutigung aufgebaut. Bevor die Übung vom »Dozenten« durchgeführt wird, wird jedes Mal auf die Einhaltung von Feedbackregeln, auf »pädagogisch taktvollen« Umgang und an das Verbot, das Labor zu stören, hingewiesen. 2. Durchführung der Übung: Die »Dozentin« führt die Methode/ Übung mit den »Teilnehmern« durch. Folgende Kompetenzen werden in der Anwendung der Methode trainiert: pädagogische Kommunikation und Beziehungsfähigkeit, Erkennen von Kommunikationsstrukturen, Fähigkeit zur »Interpretation« dieser Kommunikation und Fähigkeit, theoretische Kenntnisse in pädagogisches Handeln umzusetzen. Die »Beobachter im Außenkreis« erfüllen ihren Auftrag, empathisch zu beobachten und den ermutigenden Feedbackbogen auszufüllen. Sie greifen nicht in das »Seminargeschehen«, die Durchführung der Methode, ein. 3. Besprechung/Auswertung/Feedback: Unter Anleitung der Hochschullehrerin (später auch der Studentinnen) wird zuerst die Methode/ Übung reflektiert (III A). Der Fokus der Auswertung liegt zunächst auf der didaktischen Reflexion der Methode, der Didaktikreflexion (Auswahl, Passung, etc.). Die Übungen/Methoden sind nicht losgelöst von der erwachsenenpädagogischen Theorie zu sehen oder als »Spiele« zu betrachten. In dieser ersten Besprechung (der Methode) äußern sich in der Reihenfolge die »Dozentin«, dann die »Teilnehmer« und zum Schluss die Beobachter in der Außenrunde zu vorgegebenen Auswertungsinhalten. Die inhaltliche Reihenfolge ist: Was waren meine Stärken als Dozent (was habe ich gut gemacht?), was könnte ich verbessern und was will ich verändern? Zu jeder Frage gibt der »Teilnehmerkreis« und anschließend der »Außenkreis« Rückmeldung. Analyse- und Theoriediskussionsbeiträge sind ausdrücklich gewünscht. Es folgt eine angeleitete Reflexion des »Dozentenverhaltens« (III B), die nach dem gleichen Schema abläuft: Zunächst der »Dozent«, dann die »Teilnehmer« und zum Schluss teilen die »Außenkreisbeobachter« ihre Beobachtungen nach der vorgegebenen Systematik mit. In dieser Phase der Reflexion besteht die Aufgabe der Hochschuldozentin
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darin, auf die strikte Einhaltung von Feedback- und Gesprächsregeln zu achten. Wie der einleitend wiedergegebene Erfahrungsbericht von Tanja L. zeigt, fördert diese Vorgehensweise eine ermutigende Bildungsarbeit. Die Unterstützung durch die Seminarleitung wird auch in den Untersuchungsergebnissen von Schmidt als entscheidend für die Qualität der Feedbackphase hervorgehoben. Im Mittelpunkt dieser Phase steht das Verstehen der (lernenden und lehrenden) Personen. Es gilt (wie auch in der Beratungsarbeit), Hilfestellung zu geben zum Verstehen der eigenen Einstellungen, Gefühle und Motive, die in der Lehrsituation bei den »Dozentinnen« und »Teilnehmerinnen« auftreten. Im Labor hat man das Glück, anders als in der Realsituation, beide Seiten (»Dozenten« und »Teilnehmende«) zu hören. Verstehen und Reflexion sind nicht nur bei der Anwendung von Methoden im Methodenlabor notwendig, sondern auch insbesondere auf der Ebene der Auswertung der Methode. Auf dieser Metaebene des Labors sind Fähigkeiten wie Selbstwahrnehmung, Interpretationsfähigkeit, Differenzwahrnehmung, Reflexionsfähigkeit und beziehungsanalytisches Denken notwendig. Da es sich in der Laborsituation um Handeln (wenn auch nur »Probehandeln«) in einer Gruppe handelt, spielen Team- und Gruppenfähigkeit eine besondere Rolle. In der Untersuchung von Schmidt gibt die Mehrzahl der Befragten die Verbesserung der Reflexionsfähigkeit als einen Hauptlerneffekt durch das Methodenlabor an. Als Besonderheit der professionellen Reflexion wurde das Feedback genannt. Die Befragten bestätigen, dass sie in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Persönlichkeit mehr Mut, eine Verbesserung des Selbstbewusstseins und die Verbesserung der Wahrnehmung der eigenen Gefühle festgestellt haben. Weiterhin habe sich die Beobachtung von Teilnehmer- und Gruppenprozessen verbessert sowie die Fähigkeit zur Kooperation und Kommunikation in Gruppen. Alle Aussagen treffen auf die Rolle als Leiterin einer Gruppe als auch auf das Erleben als Mitglied der Teilnehmergruppe als auch auf die Teilnehmer im Außenkreis zu. Der Lernprozess im Methodenlabor wird als nachhaltig, als »ohne großen Aufwand« und im Kontrast zur reinen Vermittlung von Fakten als leichter empfunden. Als förderlich – so wurde betont – erweist sich die kritische, Sicherheit gebende und wohlwollende Atmosphäre im Seminar.
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4. Beratung und kollegiale Beratung: Erst an die Feedbackphase schließt sich eine (kollegiale) Beratung an. Dies geschieht in den ersten Laborsitzungen durch die Hochschullehrerin und im Verlauf des Seminars durch die Studierenden. Je nach Wunsch und Bedarf werden in dieser Phase unter Zuhilfenahme des Videomitschnitts die Kompetenzen des »Dozenten« sowie die Schwachstellen in der Durchführung und im Dozentenverhalten reflektiert. Dies findet auf freiwilliger Basis und unter professioneller Anleitung statt. Meine Erfahrungen haben gezeigt, dass es äußerst mühsam ist, Studierende davon abzuhalten, anderen Studierenden unreflektierte Ratschläge zu geben, Verhalten und Menschen zu bewerten oder zu interpretieren – und sie in gut oder schlecht einzuteilen. In dieser Phase kann es das Ziel sein, Hilfestellung bei der Aufdeckung selbstschädigenden Verhaltens in der Dozentenrolle und bei der eigenständigen Suche nach Handlungsalternativen für die Dozentin zu geben. Zu dieser »aufdeckenden Beratung« kommt es allerdings nur, wenn sichergestellt ist, dass dies aus psychohygienischer Sicht für alle Teilnehmer sinnvoll und ausdrücklich erwünscht ist (Erlaubnis). Durch das Modell des Hochschullehrers im Methodenlabor wird eine Arbeitsatmosphäre geschaffen, die eine kooperative Zusammenarbeit und einen wertschätzendes Reflektieren ermöglicht. Kennzeichen dieser Arbeit sind die Achtung der Persönlichkeit, die Freude und Achtsamkeit gegenüber dem anderen, die wertschätzende Reflexion sowie das Handeln. Kennzeichen dieser Arbeit ist auch, dass Lehrende es verstehen, »den Mut und die selbständige Energie« der Studentinnen und Studenten zu entwickeln und zu fördern, den Studentinnen die eigene »Unfehlbarkeit (Allwissenheit oder Überlegenheit) preiszugeben, ihnen den Weg freizugeben« (Adler, 1912/1983, S. 223) zu eigener wissenschaftlicher Entfaltung. In diesem Sinne belegt auch die Studie von Schmidt, dass durch die Arbeit im Labor die Autonomie der Studenten gefördert wird. Die Reflexion wird von den Studierenden als Weg zu mehr Bewusstheit und Souveränität verstanden, als Kennenlernen neuer Verhaltensweisen und deren Erprobung sowie als Reflexion über sich selbst und andere.
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Schlussbemerkungen Am Beispiel des Methodenlabor habe ich eine Beratungs- und Bildungsarbeit beschrieben, die orientiert ist an Partnerschaftlichkeit, an Kooperation und gegenseitiger Achtung. Partnerschaftlichkeit, Kooperation und Achtung sind Werte an sich, die Kennzeichen sind für eine individualpsychologische Beratungs- und Beziehungsarbeit. Die Gestaltung von Beziehungen (in Beratung und Lehre) kann nur erfolgreich sein, wenn professionell gehandelt wird. Professionelles pädagogisches Handeln ist zielgerichtet und setzt systematische Reflexionen voraus. Beides – Beziehungsgestaltung und Reflexion – benötigt Zeit, Geduld und die Akzeptanz, dass Lernende und andere Lehrende andere Werte, Normen und Ziele verfolgen.
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Ursula Sauer-Schiffer
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Peter Kunz
Effektives Management und Verantwortung1
Effective management and responsibility There is increased critical discussion in today’s society about the image of corporate managers. Corporations want managers who do «the right things and who do things right”. This article enquires into strategies for achieving results in management and places them in the context of responsible leadership. Behaving responsibly means making good decisions, assessing consequences for the parties involved and acting with integrity. The importance of fundamental human values as a basis for responsible leadership as well as the conscious understanding of one’s own role in different situations are reflected upon in the article. In addition the topic of leadership will be broadened by the introduction of ethical aspects. Key questions that this article seeks to answer include: How does one reconcile ethical and economical demands? What is effectiveness and what is responsibility in management? How can responsible leadership be fostered by processes in personnel development?
Zusammenfassung Das Bild des Managers in der Wirtschaft wird zunehmend kritisch in der Öffentlichkeit diskutiert. Unternehmen wollen Manager, die die richtigen Dinge tun und die das, was sie tun, richtig machen. In diesem Beitrag werden Strategien zur Leistungsentfaltung Management hinterfragt und in den Zusammenhang zur Übernahme von Verantwortung im Management gestellt. Verantwortlich zu handeln bedeutet, gute Entscheidungen zu treffen, Folgeabschätzungen für die Beteiligten und Betroffenen zu machen und integer zu sein. Die Bedeutung grundsätzlicher menschlicher Werte als Grundlage für verantwortungsgeleitetes Management sowie das bewusste Interpretieren der eigenen Rolle in unterschiedlichen Situationen werden in dem Beitrag reflektiert und das Thema Führung um ethische Zusammenhänge erweitert. Schlüsselfragen, auf die versucht wird, Antworten zu geben, sind: Wie bringt man 1 Gastbeitrag.
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Peter Kunz
ethische und ökonomische Erfordernisse in Einklang? Was ist Effektivität, was ist Verantwortung im Management? Wie kann in Personalentwicklungsprozessen die Verantwortungsbereitschaft gefördert werden?
Einleitung Das Bild des Managers in der Wirtschaft wird zunehmend kritisch in der Öffentlichkeit diskutiert. Zahlreiche Skandale wie Infineon, Parmalat, die Dienstreiseaffäre bei Volkswagen und auch der jüngste Bestechungsskandal in der Automobilzulieferindustrie zeigen, dass das Thema Verantwortung im Management und werteorientierte Führung in vielen Unternehmen zwar theoretisch angedacht ist, aber praktisch wenig gelebt wird. Gerade Managern mit einem der Abschlüsse internationaler Business Schools wird häufig vorgeworfen, dass sie nur karriereorientierte Egomanen seien. Sie sollen zum Job-Hoppen neigen, in der Hoffnung, die Karriereleiter weiter nach oben zu stolpern (Mintzberg, 2004). Ihnen wird die Bereitschaft abgesprochen, Verantwortung für alle Stakeholder des Unternehmens, einschließlich Mitarbeiter und Gesellschaft, zu übernehmen. Sie richten ihr Handeln auf kurzfristige Effekte aus und berücksichtigen in der Umsetzung von Strategien weniger langfristige Konsequenzen. Auch auf der Leistungsseite werden Manager häufig kritisch bewertet. Im internationalen Wettbewerb geraten immer wieder Unternehmen in wirtschaftliche Schieflagen. Die meisten Konkurse und Existenzbedrohungen von Unternehmen sind auf die Fehlleistungen von Managern und Unternehmern zurückzuführen. Hierbei scheint es manchen angestellten Managern, die im Gegensatz zu Unternehmern nicht ihr eigenes Vermögen, sondern das Geld ihrer Kapitalgeber investieren, besonders leicht zu fallen, viel Geld in wenig lukrativen Projekten zu verbrennen. In einer globalen Wirtschaftswelt und unter ständig steigendem Wettbewerbsdruck sind viele Manager nicht mehr in der Lage, die wesentlichen Prioritäten zu erkennen und auf deren Grundlage die richtigen Entscheidungen für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens zu treffen.
Effektives Management und Verantwortung
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Was ist Effektivität, was ist Verantwortung im Management? Viel zu arbeiten heißt noch lange nicht, viel zu leisten. In vielen Unternehmen in Deutschland wird die Loyalität und teilweise sogar die Leistungsfähigkeit von Führungskräften immer noch anhand der geleisteten Stunden, der zeitlichen Verfügbarkeit für das Unternehmen und der Steuerung des Alltagsgeschäftes beurteilt. Ob Manager aber in der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit die richtigen, zukunftsweisenden Entscheidungen begründet treffen und wirksame Aktivitäten initiieren, die wesentlich zum Erfolg ihrer Organisationseinheit und dem Erfolg des Unternehmens beitragen, scheint nicht der vorrangige Betrachtungsfokus für die Managementleistung zu sein (Mintzberg, 1995). Effektivität ist auf die Zielwirksamkeit von Aktivitäten gerichtet. Effektiv zu sein bedeutet, die richtigen Prioritäten zu setzen und im Hinblick auf die Zielerreichung, die wesentlichen Maßnahmen umzusetzen (Drucker, 1955). Effektives Handeln erfordert Mut, da das Setzen von richtigen Prioritäten häufig das Bestehende herausfordert und damit eine Welle des Widerstandes aus dem Kreis der anderen Manager zur Folge haben kann. Um als Manager effektiv zu sein, muss ich die Fähigkeit besitzen, strategisch und in Szenarien zu denken, das heißt neben kurzfristigen Effekten auch die langfristigen Konsequenzen von Handlungen umfassend in allen ihren Wirkungsbereichen antizipierend zu erkennen. Im Vergleich zu Effektivität ist unter Effizienz der Einsatz von Ressourcen in Relation zu dem erreichten Ergebnis zu verstehen. Effizienz bedeutet damit die Exzellenz in der Durchführung von Aktivitäten, ohne aber in Frage zu stellen, ob diese Aktivitäten wesentlich zum Erfolg beitragen. Manager sind gefordert, die richtigen Entscheidungen zu treffen und diese dann konsequent und vorzüglich umzusetzen. Management setzt sich einerseits aus dem funktionalen Führungsprozess zusammen, dem Organisieren, Planen, Koordinieren, Kontrollieren (z.B. Kofman, 2005), und andererseits aus der Führungspersönlichkeit, die Leadership zeigt, indem sie Mitarbeiter inspiriert, motiviert und ihnen Orientierung gibt (z. B. Rost, 1991; Kotter, 1996). Kurz gesagt, benötigen wir Manager, die die richtigen Dinge tun und die das, was sie tun, richtig machen. Die Entscheidung darüber, was richtig ist, darf nicht nur von ökonomischen und situativen Erwägungen
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Peter Kunz
geleitet sein, sondern sollte auch auf der Grundlage normativer und sozialer Werte geschehen sowie ethisch begründet sein. Die Gebrüder Grimm beschreiben in ihrem Deutschen Wörterbuch Verantwortung wie folgt: »wie verantworten zunächst eine mündliche rechtfertigung in sich schlieszt, so ist verantwortung meist persönliche rechtfertigung in eigener sache oder in einer, die ich zur meinigen gemacht« (Grimm, 1956, S. 82). Führungskräfte haben in Unternehmen eine herausgehobene Position und damit wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung im Unternehmen. Von ihnen wird deshalb in der Wahrnehmung ihrer Managementfunktion eine besondere Verantwortungsbereitschaft erwartet. Von daher bedeutet Verantwortung im Management zu zeigen, dass ich das, was ich tue, vor mir und anderen rechtfertige, das heißt dazu stehe und die Konsequenzen trage, anstatt mich herauszuwinden, indem ich die Umstände oder andere für mein Handeln verantwortlich mache. Führungskräfte stehen heute vor großen Herausforderungen. Sie müssen fachliche Komplexität und permanente Veränderungen bewältigen und zugleich bei der Entscheidungsfindung für das eigene Handeln unterschiedliche Interessenlagen berücksichtigen – die von Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten, Aktionären, Naturschützern, zukünftigen Generationen, etc. Manager müssen Beziehungen zu Menschen aus anderen Kulturen herstellen und erhalten. Sie müssen mit Menschen verschiedener nationaler, religiöser, kultureller, geschlechtlicher und beruflicher Herkunft klarkommen (Hofstäde, 2003). Von ihnen wird erwartet, dass sie integer sind, das heißt authentisch und durchlässig in ihrem Verhalten, und dass sie Unterschiedlichkeit respektieren. Sie sollen sich ihrer eigenen inneren Werte bewusst sein, diese mit den Werten des Unternehmens in Einklang bringen und auch danach handeln. Es gilt, Rollenkonflikte auszuhalten und aufzulösen. Einerseits werden kurzfristige Ergebnisse gefordert, anderseits langfristige strategische Orientierung. Führungskräfte sollen sich elegant in Organisationsstrukturen bewegen und die Unternehmung repräsentieren, permanent Prozesse und Strukturen optimieren und Mitarbeiter motivieren, gute Leistungen zu bringen und diese weiterzuentwickeln.
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Wie bringt man ethische und ökonomische Erfordernisse in Einklang?
Das Handeln von Führungskräften sollte grundsätzlich zielgeleitet sein und die kurzfristigen Effekte und langfristigen Konsequenzen für alle Beteiligten und Betroffenen berücksichtigen. Jegliches Handeln sollte in Übereinstimmung mit grundlegenden und übergeordneten menschlichen Werteorientierungen erfolgen, wie sie zum Beispiel im Grundgesetz verankert sind sowie in Übereinstimmung mit den Werte-Codices des Unternehmens, dem Unternehmensleitbild oder festgelegten Führungsgrundsätzen. Die wirtschaftliche Dimension von Verantwortung im Management bedeutet, als Manager seine Managementziele zu erreichen und damit einen Beitrag zum Unternehmenserfolg zu leisten. Milton Friedman wird hierzu gerne erwähnt: »To live up to the law and to maximize shareholder wealth«, das heißt: die Existenz und den Erfolg des Unternehmens sichern, die Gesetze einhalten, die Kapitalgeber bedienen, Steuern zahlen und Arbeitsplätze schaffen (Friedman, 1962). Das sind nur formalistische Minimalanforderungen an Verantwortung im Management. Darüber hinaus bedeutet Verantwortung im Management aber auch, eine humanistische Grundhaltung zu zeigen. Im Sinne McGregors ist die Führungskraft gefordert, ein motivierendes Arbeitsumfeld zu schaffen und Mitarbeiter in ihren Entwicklungsprozessen zu unterstützen. Verantwortungsgeleitete Manager leben ihre Rollen bewusst und passen diese an die Erfordernisse des jeweiligen situativen Kontextes an. Der Kontext wird durch die Bedürfnisse und Persönlichkeiten der Beteiligten in Bezug auf die zu leistenden Aufgaben definiert und nicht in erster Linie durch die Ergebniserwartungen des Vorgesetzten. Die Beziehung des verantwortungsbewussten Managers zu seinen Mitarbeitern ist durch Vertrauen, Fairness und Berechenbarkeit in seinen Handlungen geprägt. Mitarbeiter werden als gleichberechtigte Partner angesehen und nicht als abstrakte Ressource zur Aufgabenerfüllung instrumentalisiert. Der verantwortungsbewusste Manager steht für die Ergebnisse und Folgen seiner Handlungen ein, das heißt, er verantwortet diese. Die elementare Grundlage verantwortungsgeleiteten Handelns beruht auf der Fähigkeit zur Selbstreflexion und
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Führungskontext Der Manager als verantwortungsbewusste Person
Die Rollen eines verantwortungsbewussten Managers
Person
Rollen Verantwortung im Management
Beziehungen Die Ethik der Manager-Mitarbeiterbeziehung
Verantwortungen Die Ethik, was ein Manager macht
Die Ethik im Führungsprozess Abbildung 1: Kerndimensionen von Verantwortung im Management (nach Maak u. Pless, 2006)
auf Gegenseitigkeit. Kant hat hierzu die universale Regel des kategorischen Imperativs formuliert: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (Kant, 1986, S. 68). Pragmatisch bedeutet das, wenn ich mich mit anderen verbunden fühle, dann berücksichtige ich auch dies in meinem Handeln. Folgende Grundeinstellungen und Haltungen führen zu verantwortungsbewusstem Handeln im Management: 1. das Akzeptieren und Leben grundsätzlicher humanistischer Werte; 2. Verantwortung für Unternehmensergebnisse, basierend auf Werten der menschlichen Weiterentwicklung und dem schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen; 3. Vertrauen in Menschen, Prozesse und Systeme und Strukturen; 4. Konsistenz im Handeln, verbunden mit ausgeprägter Situationswahrnehmung und Handlungsflexibilität. Die Fähigkeit, sich selbstkritisch zu betrachten und das eigene Handeln zu reflektieren, wird immer weniger in unternehmensinternen und externen Managementtrainings gelernt und ist auch nicht fester Ausbildungsbestandteil in den meisten MBA-Programmen, in denen
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Zeit
Manager sind konfrontiert mit steigendem Druck der Finanzmärkte, den Gewinn zu steigern
Distanz
Die große Distanz zwischen den Entscheidern in multinationalen Unternehmen und den Betroffenen der Entscheidungen macht es schwierig, die Tragweite der Konsequenzen von Entscheidungen zu antizipieren
Stress
In Zeiten extremen Arbeitsdruckes ist es schwerer, die Unternehmenswerte zu leben
Externer Druck
Die Schwierigkeit die Anforderungen verschiedener Stakeholder, wie z.B. Kunden und Mitarbeiter auszubalancieren
Ego
Manager die ausschließlich egoistisch handeln, anstatt sich um andere zu kümmern
Maximieren Nur Geld anzuhäufen, stellt keinen Wert an sich dar eigenen Wohlstands
Abbildung 2: Vermeintliche Hinderungsgründe für verantwortliches Handeln
die Teilnehmer für das internationale Management qualifiziert werden.
Was hindert Manager daran, verantwortlich zu handeln? Oft wird Zeitdruck als Grund für mangelnde Verantwortung im Management genannt: Permanente Reportings und Unternehmensberichte, die nicht nur jährlich, sondern quartalsweise, monatlich und teilweise auch schon wöchentlich präsentiert und intern wie extern gerechtfertigt werden müssen. Auch lädt die Distanz zwischen den Akteuren in einer globalen Welt zu pauschalen und oberflächlichen Sichtweisen ein, die das Handeln bestimmen. Hierarchische Distanzen zwischen Entscheidern und Betroffenen verhindern im Management oft, die Tragweite von Entscheidungen zu erkennen. Ferner ist es nicht einfach, den Spagat zu bewältigen, die Unternehmenswerte zu leben und situativen Wünschen und Forderungen von Kunden sowie Mitarbeitern gerecht zu werden (Pruzan u. Miller, 2006). Es wird zwar häufig gesagt, dass Management Dienst am Unternehmen und gegenüber den Stakeholdern bedeute, oft aber werden in den Selektionsprozessen eher Mitarbeiter zu Managern befördert, die ein starkes Ego haben und sich anderen gegenüber durchsetzen als eher zurück-
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haltende Kandidaten mit einer höheren emotionalen Intelligenz. Diese Manager neigen dann mehr dazu, ausgiebig an der eigenen Karriere zu feilen und den persönlichen Wohlstand zu mehren, anstatt für das Unternehmen und auch für die Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.
Wie kann in Personalentwicklungsprozessen die Verantwortungsbereitschaft gefördert werden?
Eine leistungsorientierte und wertebasierte Unternehmenskultur, in der die definierten Strukturen und Prozesse im Unternehmen gelebt werden und von allen Stakeholdern des Unternehmens, einschließlich Kunden und Gesellschaft eingefordert werden, ist die Grundlage verantwortungsbewussten Handelns im Unternehmen. Deshalb müssen Personalsteuerungsinstrumente, wie zum Beispiel zur Führungskräftebeurteilung, mit den Werte-Codices des Unternehmens, dem Unternehmensleitbild, festgelegten Führungsgrundsätzen etc. verbunden werden und konsequent angewendet werden. Leistung und verantwortungsbewusstes Handeln müssen belohnt werden und Fehlverhalten muss aufgedeckt und gegebenenfalls auch sanktioniert werden. Seminare zur Persönlichkeitsbildung von Managern können die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, unterstützen. Insbesondere Trainingssequenzen, in denen stringent die Feedbackfähigkeit, die Wahrnehmungsfähigkeit für Menschen und Situationen sowie die soziale Kompetenz herausgefordert werden, unterstützen die kritische Selbstwahrnehmung und die Weiterentwicklung sozialer Fähigkeiten. Leider ist in der Wirtschaft gegenwärtig eher der Trend zu skill-orientierten Kurzseminaren wahrzunehmen. Die Bereitschaft, in intensive Persönlichkeitsbildungsseminare zu investieren, ist rückläufig. Anspruchsvolle Praxisprojekte könnten als fester Bestandteil in der Managemententwicklung die Sozialkompetenz der Juniormanager fördern, wenn nicht nur die Leistung, sondern auch die Verhaltenskompetenz, zum Beispiel das Unterstützungsverhalten, zu festen Meilensteilen im Projekt werden und von allen Beteiligten beurteilt wird. Sicherlich findet soziales Lernen im Hinblick auf das Managen
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von »Diversity« eher in Entwicklungsprogrammen statt, in denen die Teilnehmerstruktur sehr heterogen ist, die Teilnehmer aus Nationen mit unterschiedlichen Kulturen kommen, verschiedene berufliche Fokussierungen haben und sich auch hinsichtlich ihrer Berufserfahrungen stark unterscheiden, die also ein Abbild der unternehmerischen Wirklichkeit darstellen. Ferner können Mentoringprogramme, in denen erfahrene Manager Nachwuchsmanager auf ihrem Karriereweg begleiten, und auch professionelles Coaching die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit und das Aufarbeiten beruflicher Erfahrungen unterstützen. Die Förderung der Verantwortungsbereitschaft von Teilnehmern in Managemententwicklungsprogrammen bedeutet neben der Vermittlung von Grundlagenwissen zum Management und zur Unternehmensführung im internationalen Umfeld und der Förderung von Handlungsorientierung für pragmatische Lösungen auch, die Teilnehmer ganzheitlich mit ihren Erfahrungen herauszufordern, die individuelle Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen und so die Kompetenz für verantwortungsbewusstes Handeln im Unternehmensalltag zu entwickeln.
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Peter Kunz
tices of Managing and Management Development. San Francisco: BerettKoehler. Pruzan, P., Miller, W. C. (2006). Spirituality as the Basis of Responsible Leaders. In: T. Maak, N. M. Pless, Responsible Leadership. Abingdon: Routledge. Rost, J. C. (1991). Leadership for the Twenty-First Century. New York: Praeger.
Michael Utsch
Individualpsychologie der Religion und Spiritualität – Immanente und transzendente Deutungen des Gemeinschaftsgefühls
Individual psychology of religion and spirituality – immanent and transcendent interpretations of the sense of community The starting point of the following considerations is a shift in psychology’s and psychotherapy’s perception and evaluation of religion and spirituality (1). In my view the individual psychological conception of man is highly relevant for the psychology of religion, and I point out that this potential has not been made sufficient use of so far (2). The »sense of community« and the »relation to a greater whole« are identified as the central individual psychological constructions (3). Individual psychologists have interpreted this construction in immanent as well as transcendent ways. To counter the idealized social utopia and the ideological appropriation that have repeatedly taken place under the flag of individual psychology, a case is made for a world-view based reflexion and communication of our conception of man (4).
Zusammenfassung
Die folgenden Überlegungen gehen von der veränderten Wahrnehmung und Bewertung der Religiosität und Spiritualität in Psychologie und Psychotherapie aus (1). Die religionspsychologische Relevanz des individualpsychologischen Menschenbildes wird herausgestellt und bemängelt, dass dieses Potential bisher zu wenig genutzt wurde (2). Als zentrales individualpsychologisches Konstrukt wird das »Gemeinschaftsgefühl« als »Bezogenheit auf ein größeres Ganzes« dargestellt (3), das von Individualpsychologen sowohl immanent als auch transzendent gedeutet wird. Um den Verführungen einer sozialutopischen Idealisierung und ideologischen Vereinnahmung entgegenzutreten, die unter der Flagge der Individualpsychologie mehrfach stattgefunden haben, wird für eine weltanschauliche Reflexion und Kommunikation des Menschenbildes plädiert (4).
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Michael Utsch
Veränderte psychologische Einschätzungen der Religiosität und Spiritualität
In der Psychologie allgemein wie auch der Psychoanalyse im Speziellen ist in den letzten Jahren ein Trendwechsel zu beobachten. Analog zu der beobachtbaren Wiederkehr des Religiösen in einer weithin säkularisierten Gesellschaft ist auch in der Psychotherapie ein neuartiges, weniger voreingenommenes Interesse an Glaubensfragen festzustellen. Die Zeiten, wo Religion und Glaube von der Psychoanalyse per se als kindliche Wunschvorstellung, regressive Fixierung und damit als ein pathologisches Verhalten angesehen wurden, sind vorbei. Vielmehr sucht man heute nach einem besseren Verständnis und behutsamen Erklärungen für ein Erleben, das trotz des rasanten wissenschaftlichen Fortschritts auch für Menschen des 21. Jahrhunderts von Belang zu sein scheint (Utsch, 2006). Sicher, einige Bemühungen schießen weit über das Ziel hinaus – wenn beispielsweise die Religiosität auf genetische Disposition, einen neurochemischen Prozess oder ein »Gottesmodul« reduziert wird (Hamer, 2006; Newberg, d’Aquili u. Rause, 2003). Auch die zahlreichen Angebote einer »spirituellen Psychologie«, die sich auf asiatische Bewusstseinskonzepte oder esoterische Weltbilder berufen und durch die Vermittlung einer »kosmischen Verbundenheit« angeblich alle persönlichen und gesellschaftlichen Probleme lösen können, erscheinen suspekt (vgl. dazu Utsch, 2005). Dennoch: Psychologische Lebenshilfe unter Einbeziehung der religiösen und spirituellen Dimension boomt. Ihre hohe Verbreitung und Rezeption unterstreicht das offensichtlich stark ausgeprägte Bedürfnis nach Religion und Spiritualität – gerade auch im beraterischen und therapeutischen Kontext. Generell haben Glaube und Spiritualität im Zeitalter der technikbegeisterten Moderne ihre Bedeutung verändert, nicht aber verloren. In einer Gesellschaft mit verwirrend vielen und widersprüchlichen Sinnangeboten kommt der persönlichen Glaubensüberzeugung vermutlich sogar eine zentralere Bedeutung zu als noch vor einigen Jahrzehnten. In einer Psychotherapie spiegeln sich die brennenden Themen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es liegt geradezu eine Verantwortung der psychotherapeutischen Arbeit darin, mit ihren Mitteln zur Lösung
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gesellschaftlicher Herausforderungen und Probleme beizutragen. Hier sind mehrere Konfliktherde zu nennen, die geradewegs auf psychologisches Mitgefühl, Verstehen und Antworten angewiesen sind: – der Bedarf nach weltanschaulicher Orientierung in einer »postsäkularen« Zeit, – der Umgang mit dem interkulturellen Pluralismus, – freiwillige Selbstbegrenzungen bei bioethischen Fragen, – Gesprächsangebot für Menschen mit einer fundamentalistischen Gesinnung. Unabhängig davon, ob man die Gegenwart als ein säkularisiertes, diffus religiöses oder neureligiöses Zeitalter betrachtet: Der tief greifende Wandel des Religiösen erfordert von allen Mitmenschen eine Reflexion und Vergewisserung ihrer eigenen Grundüberzeugungen. Auch eine »nachmetaphysische« Gesellschaft funktioniert nur mit Mitgliedern, die einer persönlichen Gewissensentscheidung verpflichtet sind und verantwortungsbewusst handeln. Die Vielfalt der ethisch-moralischen Optionen erfordert Entscheidungskriterien. Nur mit einem eigenen Standpunkt können solche Konflikte bewältigt werden, die aufgrund kultureller und weltanschaulicher Differenzen entstehen. Um eine multikulturelle Gemeinschaft beziehungsfähig zu erhalten, benötigen ihre Mitglieder Klarheit über und kritische Distanz zum eigenen Weltbild, um in einen konstruktiven Dialog über die unterschiedlichen Lebensauffassungen und ethischen Leitbilder treten zu können. Gerade an dieser Stelle, im Entscheidungskonflikt zwischen konkurrierenden Weltanschauungen, kann die Psychologie wichtige Hilfestellungen leisten. Eine psychologische Perspektive ermöglicht durch einfühlendes Nachempfinden das Verstehen des Fremden und kann dadurch den weltanschaulichen Dialog verbessern. Was Menschen begehren und anstreben, ist immer abhängig von kulturell vermittelten Wertvorstellungen und Entwicklungszielen, von Menschen- und Weltbildern (Fahrenberg, 2004). Für den interkulturellen und interreligiösen Dialog steuert die Psychologie wichtige Kommunikationshilfen bei. Es gilt zunächst, Unterschiede zwischen dem eigenen Handeln und dem des anderen zuzulassen und wahrzunehmen, Orientierungs- und Verhaltensunsicherheiten, Spannungen sowie die stets mögliche Infragestellung des Eigenen durch den anderen zu er-
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tragen. Ein vertieftes religionspsychologisches Verstehen fördert also die Dialogkultur zwischen unterschiedlichen Lebenswelten und Sinndeutungen. Mit ihrer Hilfe kann das Konfliktpotential pluralistischer Gesellschaften entschärft werden. Besonders in der deutschsprachigen Psychologie und Psychotherapie ist aber unverkennbar, dass Religion und Spiritualität nach wie vor tabuisiert werden. Nach einer aktuellen Umfrage unter Psychologie-Studierenden sind diese zwar überdurchschnittlich abergläubig, jedoch deutlich areligiös eingestellt (Fahrenberg, 2006). Völlig unverständlich ist die Tatsache, dass auch noch in der dritten, überarbeiteten Auflage des renommierten integrativen Lehrbuchs der Psychotherapie von Senf und Broda (2004) die Themen Religiosität und Spiritualität fehlen. So wichtige Bereiche wie pathologische Gottesbilder oder ressourcenorientiertes religiöses Bewältigungsverhalten werden also schlicht ausgeblendet. Verschiedene Gründe sind für das Tabu des Spirituellen in der Psychotherapie verantwortlich: die traditionelle Rivalität zur Theologie hinsichtlich der Deutungsmacht über gelingendes Leben, die Aversion gegen alles Ideologische als Folge der nationalsozialistischen Traumatisierung und die zum Teil religionshaltigen Ansprüche psychologischer Deutungen in Bereichen wie Sinnstiftung, Selbstvergewisserung und Lebensorientierung. In der amerikanischen Psychotherapie-Forschung geht man sehr viel unbefangener und pragmatischer mit den Phänomenen der Religiosität und Spiritualität um. Das Themenheft der Zeitschrift »Journal of Clinical Psychology« (63/2007) zeigt beispielsweise den aktuellen Wissensstand der Zusammenhänge zwischen Psychotherapie und Spiritualität differenziert auf. Zahlreiche Monographien weisen auf die intensive psychoanalytische Auseinandersetzung mit diesem Thema hin (Ostow, 2006; Black, 2005; Sorenson, 2004; Schermer, 2003). Aktuelle Publikationen belegen allerdings, dass auch hierzulande das psychoanalytische Interesse an der Religion neu erwacht ist (Malkwitz, 2003; Ruff, 2002 und 2005; Reuter, 2004; Schmidbauer, 2007). Die Doktrin von der prinzipiell religionsfeindlichen Analyse wurde revidiert. Ein prominentes Beispiel dafür ist Tilmann Moser (2003), der seinen Sinneswandel von der Gottesvergiftung zum erträglichen Gott offengelegt hat. Die Jahrestagung der DGPT im Jahr 2003 beleuchtete zahlreiche Aspekte einer »Psychoanalyse des Glaubens«
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(Gerlach, Schlösser u. Springer, 2004). Einige Jahre zuvor hatte schon eine Jahrestagung jungianisch geprägter Therapeuten über Psyche und Transzendenz im heutigen gesellschaftlichen Spannungsfeld nachgedacht (Egner, 2000). Auf den ersten Blick kann die Individualpsychologie von dem religionspsychologischen Aufwind wenig profitieren. Denn schaut man in die entsprechende Literatur, werden in der Rubrik »Tiefenpsychologie« unisono die diametral gegensätzlichen religionspsychologischen Entwürfe von Freud und Jung referiert – der dritte im Bunde wird meistens übergangen. Steht bei Freud eine positivistisch-atheistische Religionskritik im Hintergrund, ist bei Jung die Verwobenheit mit mystisch-okkulten Traditionen unübersehbar. Eine sowohl analytischkritische Argumente berücksichtigende als auch intuitiv-phänomenologische Zugänge integrierende Variante der Religionspsychologie als ein »goldener Mittelweg« fehlt. Dabei hält gerade das Theoriegebäude der Individualpsychologie deutliche Freiräume für die transzendente Dimension des Menschen vor, ohne diese von vornherein weltanschaulich festzuschreiben. Mit dieser Offenheit empfiehlt sich die Individualpsychologie geradezu als angemessene Methode, die Vielfalt der religiösen Erfahrung besser zu verstehen und ihre gesundheitsförderlichen oder krankmachenden Auswirkungen zu untersuchen (Husmann, 2003). Die religionspsychologischen Erträge adlerianischer Provenienz sind gering. Je nach Gusto wurden die Grundannahmen Adlers beispielsweise als authentisch evangelisch (Ellerbrock, 1982, 1985; Günther, 1996, 2001) bzw. katholisch (Brandl, 1997; Krieger, 1998), als taoistisch (Lang, 2002) oder als genuin buddhistisch (Noda, 1985; Brunner, 2002) deklariert. Es kann aber alles auch ganz anders sein: Ein sich selber als Agnostiker und Freigeist verstehender Individualpsychologe wertete religiöse Überzeugungen generell als »kompensatorischen Größenwahn« ab und führte weiter aus: »Religiosität, Nationalismus und Rassismus gehören zu den wichtigsten Kompensationsmechanismen, mit denen ein zerbrochenes Selbstbewusstsein schlecht und recht gekittet wird« (Rattner, 1990, S. 235). Eine Kommentierung dieser Polemik erübrigt sich wohl aus heutiger Sicht. Neben anderen Themen werden derzeit die religionspsychologischen Implikationen der Selbstpsychologie, Objektbeziehungsthe-
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orie und der Bindungstheorie untersucht. Wäre das nicht ein günstige Gelegenheit, individualpsychologische Aspekte zur Bedeutung von Religiosität und Spiritualität genauer in den Blick zu nehmen, wo doch gerade Brücken zwischen Adlers Gedankengut und den drei genannten analytischen Theorieansätzen geschlagen werden? Bislang scheinen aber Richtungskämpfe im Vordergrund zu stehen, denn Adler wird sowohl christlich, taoistisch, buddhistisch als auch agnostisch vereinnahmt. Aus diesen Sackgassen kann nur die Beschäftigung mit dem individualpsychologischen Menschenbild herausführen.
Die religionspsychologische Relevanz des individualpsychologischen Menschenbildes
Ein individualpsychologisches Menschenbild – gibt es das überhaupt? Auch wenn manche meinen, die Frage nach dem Menschenbild bei Adler offenlassen zu müssen (Rieken, 2006) – Konturen einer individualpsychologischen Anthropologie wurden nach ihrer praktischen Erprobung und Bewährung relativ genau untersucht und herausgearbeitet. Adler selber war hingegen in erster Linie an der Praxis interessiert und engagiert. Die wissenschaftstheoretische Einordnung seines pädagogischen, beraterischen und psychotherapeutischen Theoriegebäudes erfolgte erst später (vgl. z. B. Hellgardt, 1989; Branke, 1998). Generell erfuhr Adler innerhalb der tiefenpsychologischen Schulen bisher zu wenig Aufmerksamkeit, was zum Teil daran liegt, dass nur selten »ein geistiges Gebilde dermaßen erfolgheischend um seine basalen Gedanken ›beliehen‹ wurde, ohne von den entsprechenden ›Schuldnern‹ zitiert zu werden, wie dies der Individualpsychologie Adlers widerfuhr« (Danzer, 1995, S. 193). Wenn man jedoch den holistischen Anspruch Adlers ernst nimmt, ist der methodische Schritt zu einer individualpsychologischen Anthropologie naheliegend. Ihre Grundzüge wurden mehrfach beschrieben und beispielsweise von Rattner und Danzer im Rahmen einer medizinischen Anthropologie als wichtiger Beitrag zu einer personalen Heilkunde gewürdigt (1997, S. 30ff.). Auch der Theologe Hüfner (2004) geht ausdrücklich von der »Anthropologie« Adlers aus, die er aus dem »individualpsycho-
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logischen Fünfklang« Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation, Mut, Gemeinschaftsgefühl und Macht komponiert. Interessanterweise deutet er die ersten vier Begriffe als einen spannungsvollen »Dominantseptakkord«, der nach Auflösung verlange. Je nachdem, wie jetzt mit der »Paradoxität der Macht« umgegangen werde, könne sich das gemeinschaftsdienlich oder -schädlich auswirken. Damit hat Hüfner bildlich-anschaulich das Grundverständnis Adlers zusammengefasst. Es ging ihm um die Überwindung von Mangellagen. Dabei kann das Individuum mittels der ihm eigenen schöpferischen Kraft die Unvollkommenheit ausgleichen. Dadurch ist eine Grundspannung zwischen unsicherer Subjektivität und dem schöpferischen Selbstbewusstsein gegeben. Der Ausgangspunkt von diesem Spannungsverhältnis mündet in einer »Psychologie steten Bezogenseins« (Sperber, Schmidt). Diese Bezogenheit schließt transzendente Bezüge mit ein. Bei der Analyse und der Weiterentwicklung der durch Alfred Adler begründeten Individualpsychologie konnte also ein Theoriegebäude präzisiert werden, das durch seine ganzheitliche Konzeption und den dialektischen Aufbau die personale Transzendenz des Menschen – in Adlers Worten seine »Bezogenheit [...] zu den kosmischen Faktoren« (Adler, 1973, S. 23) mit einbezieht. Hier wird wie an vielen anderen Stellen deutlich, dass der »späte« Adler das menschliche Bezugssystem weiterfasste, beschränkte er sich früher doch eindeutig auf den immanenten Bereich »der Bezogenheit Mensch-Erde« (Adler, 1980, S. 96). Die persönliche Haltung Adlers zur Religion war widersprüchlich: Aufgewachsen in einem jüdischen Elternhaus in einem Vorort Wiens, konvertierte er als 34-Jähriger zum protestantischen Glauben, ohne jedoch im eigentlichen Sinne »gläubig« zu sein (vgl. Kolbe, 1986, S. 76ff.). Sein Biograph Manès Sperber (1983, S. 49) etwa beschrieb ihn als »entschieden ungläubig, total glaubenslos«. Ähnlich wie der »antireligiöse Aufklärer Freud« von der Hoffnung getragen wurde, dass »der Verlust religiöser Illusionen kompensiert werden könne durch Wissenschaft und Technik« (Safranski, 2002, S. 17), war auch der junge Adler »der typisch gebildete Freigeist der [...] Jahrhundertwende, dessen Rationalismus und Wissenschaftsgläubigkeit jeden Glauben an überirdische Mächte ausschloß« (Metzger, 1975, S. 18f.).
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Allerdings war das weltanschauliche Offenhalten der religiösen Dimension für den jungen Adler ein Problem. So reagierte er allergisch darauf, als einige seiner Schüler eine – nach seiner Einschätzung unzulässige – weltanschauliche Erweiterung der Individualpsychologie vornahmen. Deshalb trennte er sich nach jeweils kurzen, heftigen Auseinandersetzungen von zweien seiner begabtesten, aber eben auch religiös gebundenen Mitarbeitern, dem Katholiken Rudolph Allers (1883–1963) und dem Protestanten Fritz Künkel (1889–1956). Allers war besonders an einer philosophischen Grundlegung der ihn überzeugenden Einsichten Adlers interessiert. Das widersprach aber genau den damaligen beraterisch-prophylaktischen Absichten Adlers. Nach seiner Emigration in die USA konnte er als Professor an der »Catholic University of America« seinen anthropologischen Neigungen thomistischer Prägung nachgehen. In einer Symbiose von Individualpsychologie und evangelischer Theologie skizzierte Künkel (1955), der in jungen Jahren eine vielfach aufgelegte Einführung in die individualpsychologische Charakterkunde veröffentlicht hatte, den Abriss einer Psychologie der religiösen Entwicklung des Menschen, die bis heute rezipiert wird (Benner, 1998, S. 75ff.). Kurz darauf erschien eine individualpsychologische Interpretation des ersten Evangelium-Buches (Künkel, 1957). Wie weit sich Künkel dabei an die seinerzeitige Ideologie des Nationalsozialismus angepasst hat oder wie weit er dabei die psychologische Gegenstandsbildung zugunsten einer theologischen aufgegeben hat, wird in der Individualpsychologie kontrovers diskutiert (vgl. Heisterkamp, 1995). In der amerikanischen Pastoralpsychologie zeigt jedenfalls diese Symbiose einer christlich gedeuteten Individualpsychologie bis heute ihre Auswirkungen. Hierzulande wird auf individualpsychologische Konzepte auffallend häufig in der pietistisch-evangelikalen Seelsorgelehre zurückgegriffen. Einige Untersuchungen zu Adlers Menschenbild versuchen aufzuweisen, dass zentrale Bausteine seiner Persönlichkeitstheorie der christlichen Anthropologie entsprechen. Deshalb sei die Individualpsychologie rundweg der christlichen Seelsorge zuzuschlagen (vgl. Günther, 1996; Brandl, 1997; Krieger, 1998). Differenzierter geht die Arbeit von Hüfner (2004) vor. Mit Verweis auf den Transzendenzbezug des erweiterten Gemeinschaftsgefühls »sub specie aeternitatis« hat der Theologe die »Affinität« der Individualpsychologie zum
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christlichen Menschenbild herausgearbeitet. Dadurch könne sie ein notwendiges Korrektiv für die kirchliche Arbeit sein. Durch die Überprüfung grundlegender individualpsychologischer Konzepte wie »Ganzheit«, »Gemeinschaftsgefühl«, »Minderwertigkeitsgefühl«, »Ich-Gebundenheit«, »Kompensation« oder »Vollkommenheitsstreben« kann diese psychotherapeutische Schule als eine Tiefenpsychologie betrachtet werden, die »in ihrem Kern eine große Nähe zur spirituellen und transpersonalen Sichtweise des Menschen aufweist« (Brunner, 1996, S. 301). Fragt man nach der religionspsychologischen Relevanz von Adlers Menschenbild, übernimmt die Dimension einer personalen Transzendenz eine entscheidende Rolle. Deshalb wird im Folgenden an einigen zentralen individualpsychologischen Konzepten die Nähe der menschlichen Bezogenheit auf eine größere Wirklichkeit dargelegt. In der religionswissenschaftlichen Forschung wird wissenschaftlicher und religiöser Motivation gleichermaßen ein gemeinsamer »letzter« Gegenstand unterstellt: Gott, das Unendliche, das Numinose, das Heilige, die Macht. Kulturvergleichende Untersuchungen haben in diesem Kontext festgestellt, dass durch religiöses Verhalten symbolhaft der Umgang mit übermächtigen Gewalten und schicksalhaften Ereignissen verarbeitet wird und dadurch ein als bedrohlich erlebtes Ohnmachtsgefühl kompensiert werden kann. Ganz ähnlich wird die wachsende Bedeutung der Religionen in funktionaler Hinsicht damit begründet, dass sie Lebensdeutungen und Weltanschauungen bieten, mit der das Schicksalhafte und Zufällige menschlicher Existenz überwunden werden könne (vgl. Flammer, 1994). Als Fürsprecher des »frühen« Adler und deshalb skeptisch gegenüber einem transzendental erweiterten Gemeinschaftsgefühl eingestellt, räumt Wiegand (1990, S. 8) gleichwohl ein: »Die Gemeinschaftsidee dürfte sich dennoch als unverwüstlich erweisen. Sie entspricht einfach zu sehr dem verständlichen Wunsch aller Schwachen, sich einem größeren und überindividuellen Ganzen zugehörig zu wissen, sich in ihm geborgen fühlen zu können und – an seiner Macht teilzuhaben«. Betrachtet man die funktionale Deutung der Religion aus individualpsychologischer Perspektive, entsteht sofort eine große Nähe zum adlerianischen Grundverständnis der menschlichen Person. Nach Adler strebt jeder Mensch nach der Überwindung von Mangellagen, in
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denen er sich immer wieder vorfindet. Dabei entwickelt er aufgrund frühkindlicher Erfahrungen, in denen das Gefühl der Unterlegenheit besonders ausgeprägt ist, einen für ihn typischen »Lebensstil«, mit dessen Hilfe Sicherheit und Gemeinschaftszugehörigkeit erworben werden kann. Um dem Gefühl der Isolation und einem grundsätzlichen »Minderwertigkeitsgefühl« ein Ende zu machen, nimmt jeder mit Hilfe der für ihn typischen schöpferischen Kraft Stellung zu seiner Lebensgeschichte und versucht, die erlebte Unvollkommenheit auszugleichen. In diesem Zusammenhang spricht Adler auch von einem überzogenen Gottähnlichkeitsstreben. In der dialektischen Spannung zwischen Unsicherheit und schöpferisch-freier Kraft der Subjektivität liegt nach Hellgardt ein wesentlicher Ansatzpunkt für die individualpsychologische Krankheitslehre und Therapie: »Selbstgewißheit des subjektiv schöpferischen Selbstbewußtseins und Unsicherheit des Subjektivität (certitudo und insecuritas) sind im Menschen wesensmäßig miteinander dialektisch verbunden wie Licht und Schatten« (Hellgardt, 1989, S. 43). Die wichtigsten Grundmotivationen sind nach Adler in dem Streben nach Sicherheit, Überlegenheit, nach Zugehörigkeit und nach Vervollkommnung zu sehen. Wenn »Adlers Individualpsychologie, in der er eine unteilbare Ganzheit des Menschen beschrieb, ...vor allem eine Psychologie des steten Bezogenseins« ist (Schmidt, 1989, S. 9), eröffnet dieses Grundgerüst den Blick auf den Transzendenzbezug des Menschen. Für Adler ist es »dabei leicht einzusehen, dass der Kosmos in dieser Bezogenheit eine formende Kraft besitzt« (Adler, 1973, S. 162). Die individualpsychologische Leitidee des Gemeinschaftsbezugs ergibt konsequenterweise die Einbeziehung der Transzendenz. Von der Einheit des Individuums im »kosmischen Ganzen« ist Adler ausgegangen. Besonders seine Ausführungen zum Gemeinschaftsgefühl und dem menschlichen Streben nach Vollkommenheit beschreibt Adler durchaus im Sinne religiöser Verbundenheit: »Die Gemeinschaft, die von der Individualpsychologie angerufen ist, ist richtendes Ziel, ideale Gegebenheit, ewig unerreichbar, aber ewig anrufend und wegweisend. Diese Gemeinschaft, die Macht der Logik des menschlichen Zusammenlebens, segnet und begnadet, die ihr folgen« (Adler, 1973, S. 72). Allerdings scheiden sich hier die Geister: Darf das Gemeinschaftsgefühl derart spekulativ und weit gefasst werden?
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Adlers Gemeinschaftsgefühl – immanente und transzendente Deutungen
Ohne Zweifel hat der späte Adler den Boden phänomenologischer Beschreibung verlassen – das Gemeinschaftsgefühl wird jetzt »transzendental überhöht und deren Vollendung in die Ewigkeit verlegt« (Hüfner, 2004, S. 45). An keiner Stelle seines Werkes hat er zudem näher ausgeführt, was er unter der »idealen Gemeinschaft« versteht – »wir ahnen nur, dass er sie fast ins Jenseitige, Religiös-Paradiesische hebt« (Bruder-Bezzel, 1999, S. 81). Wenn Segen und Gnade ins Spiel gebracht werden, sind die Grenzen psychologischen Wissens überschritten. Der frühe Adler setzte hier wie oben beschrieben deutlich andere Akzente: Als der protestantische Arzt Fritz Künkel in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts versuchte, den Begriff der Gnade in die Individualpsychologie einzuführen, sah Adler darin ein »unstatthafte Verquickung zweier Verständnisse« und trennte sich von ihm (Kretschmer, 1995, S. 403). In seiner Spätphase dehnte Adler jedoch die menschliche Grundmotivation der Bezogenheit über die soziale Ebene hinaus auf metaphysische Bezüge aus. Unverkennbar nimmt die Individualpsychologie hier die religiös-spirituelle Dimension des Menschen als erlebte Wirklichkeit ernst. Deshalb haben weiterführende Untersuchungen der Zusammenhänge zwischen Psychotherapie und Religion in der Individualpsychologie eine gute Tradition. Ausgehend von Adlers Spätwerk mit seinen Bemerkungen zur vierten Lebensaufgabe, eine Beziehung zur »kosmischen Umwelt« zu pflegen, sind die oben erwähnten, weiterführenden Arbeiten erschienen. Die neueste Untersuchung stellt Adler »in die Reihe der großen Philosophen und Lehrer [...], die zu einer philosophia perennis (immerwährende Philosophie) gehören, die westliche und östliche Weisheit umfasst« (Brunner, 2002, S. 8). Deshalb kann mit Fug und Recht von einer religiösen und transzendenten Dimension in der Individualpsychologie gesprochen werden – was manche freut und andere stört. Wittes (1988) einprägsames Bild vom »schielenden Adlerauge«, Wiegands (1990) Kritik an diesem »romantischen Grundelement« oder Antochs Vorwurf (1994) vom
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»metaphysischen Selbstmissverständnis« – Diskussionen um das Gemeinschaftsgefühl gehören offenbar zur Individualpsychologie. Denn es gibt genauso gut Befürworter des transzendental erweiterten Gemeinschaftsbezugs (vgl. Brunner, 1998; Antoch, 2004). Unumwunden räumt Adler ein, dass »in der Individualpsychologie ein Stück Metaphysik« zu finden ist (Adler, 1973, S. 166). Denn gerade aus der Erfahrung sozialer und kosmischer Zugehörigkeit erwächst für Adler der Respekt vor der transzendenten Dimension, und so bleibt das Menschenbild der Individualpsychologie dem Irrationalen gegenüber erkenntnistheoretisch offen, die Möglichkeiten des »ganz Anderen« werden gewahrt. »Es gibt leider viele Menschen, die eine irrige Anschauung von der Metaphysik haben, die alles, was sie nicht unmittelbar erfassen können, aus dem Leben der Menschheit ausgeschaltet wissen wollen. Damit würden wir die Entwicklungsmöglichkeiten verhindern, jeden neuen Gedanken. Jede neue Idee liegt jenseits der unmittelbaren Erfahrung. Unmittelbare Erfahrungen ergeben niemals etwas Neues, sondern erst die zusammenfassende Idee, die diese Tatsachen verbindet [...] Es gibt keine Wissenschaft, die nicht in die Metaphysik münden müsste [...] Wir sind nicht mit der absoluten Wahrheit gesegnet« (Adler, 1973, S. 166f.). Ganz ausdrücklich versteht der »späte« Adler seinen Ansatz jetzt als eine »wertende Wissenschaft« – »Individualpsychologie wird Wertpsychologie« (1973, S. 36). In ihrer gründlichen Studie über die Geschichte der Individualpsychologie hat Bruder-Bezzel (1999, S. 76ff.) anhand Adlers Spätwerks »Sinn des Lebens« aufgezeigt, dass er damit die methodischen Grenzen der Psychologie verlassen hat, weil er hier eine von der Lebensphilosophie getragene Weltanschauung verkündigt. Die Entwürfe sind der Versuchung anheimgefallen, der wohl auch Adler in seinen Spätschriften erlegen ist: Die Theorie der Individualpsychologie wird zu einer Weltanschauung, »Ersatzreligion« oder Ideologie, wenn sie ihre dialektische Grundstruktur ihrer Persönlichkeitslehre aufgibt (vgl. zur dialektischen Charakterkunde der Individualpsychologie Hellgardt, 1989, S. 75ff. und insbesondere Antoch, 1994, S. 34ff. sowie 106ff.). Das gilt auch und besonders für das Gemeinschaftsgefühl. Wird es einseitig gedeutet, sozialutopisch aufgeladen oder kosmologisch gefasst, gerät es aus dem Lot und wird zum
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»schielenden Adlerauge« (Witte, 1988). Dieser Schieflage kann nur durch die angemessene Berücksichtigung des Gemeinschaftsgefühls vermieden werden: »Das Gemeinschaftsgefühl hat im Theoriegebäude der Individualpsychologie als dialektischer Charakterkunde die Position einer Synthese« (Antoch, 1994, S. 116). Gerade im Umgang mit dem Konzept »Gemeinschaftsgefühl«, darauf hat Robert Antoch mehrfach hingewiesen, führt die Missachtung des unauflöslichen dialektischen Zusammenhangs von Individuum und Gemeinschaft, Person und Kosmos zu gefährlichen Fehldeutungen (vgl. Antoch, 1994, S. 112 und Antoch, 2000, S. 12). Um die »Dialektik der Lebensbewegung«, so der Untertitel ihres Lehrbuchs, angemessen beschreiben zu können, haben Jendritza und Woltmann (1997) dem »Gemeinsamkeitsgefühl« das »Getrenntheitsgefühl« gegenübergestellt. Nachdrücklich betont Seidel in seinem Geleitwort zu diesem Buch die Notwendigkeit, »über konsequentes dialektisches und beziehungsanalytisches Denken einer verhängnisvolle ›Entdialektisierung‹« entgegenzutreten (Seidel, 1997, S. 10). Ebenso will Antoch (2000, 2001) der zugespitzten Dialektik zwischen Machtstreben und Gemeinschaftsgefühl entfliehen und schlägt deshalb die neue Bezeichnung »Sinn für das Selbstsein im Bezogensein« vor. Eigentlich ging es Adler vor allem um ein weltanschauliches offenes System. In seiner Auseinandersetzung mit dem Theologen Ernst Jahn grenzte sich Adler deshalb sorgfältig gegenüber der christlichen Theologie ab, auch wenn er später Parallelen zwischen dem Christentum und der Individualpsychologie eingesteht (Adler, 1973, bes. 162ff.). Die größte Übereinstimmung sieht Adler in der idealen Gemeinschaft, zu der auch die christliche »Gottesidee« durch die praktizierte Nächstenliebe beitrage. Deshalb unterstreicht der »späte« Adler seinen Anspruch, die »Individualpsychologie als Weltanschauung [...] zu verfechten« (Adler, 1973, S. 167). Damit wird aber eine weitreichende, fast schon universalistische Perspektive ins Spiel gebracht, die weit über das überschaubare Ziel einer Konfliktklärung oder Neurosenbehandlung hinausgeht. Aber bei Adler scheint es solche Augenblicke im Leben gegeben zu haben, räsoniert Wolfgang Metzger, in denen »er davon träumte, dass seine Lehre – als die Erzieherin der Menschheit – und ›als die vom Gemeinschaftsgefühl postulierte Weltanschauung‹,
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irgendwann einmal die Nachfolge der gegenwärtig noch bei uns verbreiteten Religionen antreten werde« (Metzger, 1973, S. 19). Bei Adlers Spätwerk schimmert zwischen den Zeilen die verlockende Vorstellung einer evolutiven Selbsterlösung durch. Besteht aber nicht die Gefahr einer subtil-manipulativen Einflussnahme, wenn mit Adler die »ideale Vollkommenheit« an die »Feststellung der Normen des Gemeinschaftsgefühls« gebunden werden (Adler, 1973, S. 166)? Eindeutig wird die ideale Gemeinschaft mit dem deklarierten Ziel der Vollkommenheit »für ewig gedacht«, worin Adler die »letzte Erfüllung der Evolution« sieht. Bruder-Bezzel (1999, S. 79) hat dazu klare Worte gefunden: »Dieser Glaube an die Evolution als Hoffnungsträgerin […] und ethischer Maßstab hat den Charakter einer säkularisierten Religion […] Adler hat sich tief in Metaphysik verstrickt.« Im Umfeld der Individualpsychologie gab es auch in der jüngeren Geschichte Ansätze einer sozialutopischen Überhöhung des Gemeinschaftsgefühls – beispielsweise beim Verein psychologischer Menschenkenntnis (VPM). Missverständlich wurde das Gemeinschaftsgefühl von Adler (1973, S. 167) als »absolute Wahrheit« bezeichnet. Aber, und das übersehen viele derjenigen, die ihr früher hart erarbeitetes individualpsychologisches Wissen und Können weltanschaulich erweitert haben: Im gleichem Atemzug bekennt Adler: »Wir sind nicht mit der absoluten Wahrheit gesegnet« und relativiert damit seine Aussage. Auf welche Bereiche erstreckt sich die Reichweite individualpsychologischen Wissens und Könnens? Wie kann in wissenschaftlicher Verantwortung mit Adlers (ebd.) Aussagen von »der aktiven Anpassung an die kosmischen Faktoren«, von der »Billigung des kosmischen Einflusses«, von »den Anforderungen des Kosmos« umgegangen werden? Die im Wörterbuch dargestellte Sichtweise, das Ich sei »seinem Wesen nach, ursprünglich also, eine [...] Teileinheit [...] der schöpferischen Kraft des kosmischen Ganzen« (Hellgardt, 1995) dürfte unter den Individualpsychologen heute kaum konsensfähig sein, weil die Unterschiede zwischen einer immanenten und transzendenten Deutung des Gemeinschaftsgefühls zu gravierend sind. Angesichts der Fülle von Sekundärliteratur erscheint der Versuch riskant bis waghalsig, die Begriffsgeschichte des widersprüchlichen und dennoch zentralen Konzepts Gemeinschaftsgefühl knapp zu skiz-
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zieren. Er ist jedoch für die vorliegende Fragestellung unverzichtbar und deshalb nötig. Das Gemeinschaftsgefühl wurde und wird unterschiedlich und sehr kontrovers eingeschätzt: – Schon 1912 hat Carl Furtmüller auf problematische Seiten des Gemeinschaftsgefühls hingewiesen und wichtige Unterscheidungen getroffen. – Auch 1919 drehte sich eine intensive Identitätsdebatte innerhalb der Individualpsychologen um das Gemeinschaftsgefühl (BruderBezzel, 2000, S. 273). – Wesentliche Systematisierungen stammen von Hans Ansbacher (1981) und Joseph Seidenfuß (1981). Letzterer unterschied das Gemeinschaftsgefühl in Formen der »Selbstverwirklichung, Anpassung und soziale Evolution«. Ersterer belegte, dass Adler das Gemeinschaftsgefühl zunächst als Gegenkraft zum Machtprinzip verstand und es erst später, ab 1928, als richtungsweisende Kraft menschlichen Strebens auffasste. – Verstanden wurde das Gemeinschaftsgefühl weiterhin als »eine eher emotionale Reaktion auf gefühlte Hilflosigkeit denn als sozialpsychologisch und sozialphilosophisch durchdachte Antwort auf ein Problem« (Wiegand, 1990, S. 115). – »Lässt man dieses Gemeinschaftsgefühl außer Acht, so bleibt Adler fast unverständlich« (Sperber, 1983, S. 48). – »Es gibt [...] Individualpsychologen [...], die dieses ›sperrige‹ Ding ›Gemeinschaftsgefühl‹ gerne forthaben möchten aus der Theorie, weil es stört und provoziert. Ich sage ihnen: ›Das geht nicht, ohne das dieses sperrige Ding ist Adler kein Adler mehr. Ihr müsst es integrieren‹« (Schmidt, 1995, S. 125). Neuere Arbeiten haben die Begriffsgeschichte des Gemeinschaftsgefühls weiter aufgearbeitet und systematisiert (Antoch, 1994, 2000, 2001; Bruder-Bezzel, 1999, 2000; Brunner, 1996, 1998; Witte, 1988, 2002; Schmidt, 2005). Antoch wirft Adler ein »moralistisches Selbstmissverständnis« vor: »Einen Begriff als wissenschaftlichen Terminus zu verwenden und ihn gleichzeitig als eine ›Erlösung‹ der Menschheit von ihren Übeln […] zu propagieren ist ein Unding. Der Streit um ›das Gute‹ im Menschen führt […] zum polemischen Streit um das ›wahre‹ Menschenbild« (Antoch, 2001, S. 27).
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Zusammenfassend ergibt sich aus den voranstehenden Überlegungen das folgende Bild: Das Gemeinschaftsgefühl, eine tragende Säule der Individualpsychologie, wurde von Adler selber und seinen Nachfolgern sehr unterschiedlich ausgedeutet. In Adlers beiden Theorieentwürfen kommt dem Gemeinschaftsgefühl jeweils eine andere Bedeutung und Funktion zu: Adler hat im Lauf seiner Theorieentwicklung das Gemeinschaftsgefühl in zwei fast gegensätzliche Kontexte gestellt. In seiner ersten Theoriestufe bildet das Gemeinschaftsgefühl eine »korrigierende Instanz« zum angeborenen Streben nach Macht. Erst später ergibt sich das Gemeinschaftsgefühl aus der Lösung der Spannung zwischen Minderwertigkeitsgefühl und dem Streben nach Macht und Überlegenheit (vgl. Antoch, 2001). Mit anderen Worten: »Mit Gemeinschaftsgefühl wird die Relation Minderwertigkeitsgefühl/Kompensation modifiziert, dann wird Kompensation vom Gemeinschaftsgefühl gefärbt (Streben nach Vollkommenheit)« (BruderBezzel, 2000, S. 284). In Bezug auf die Religiosität und Spiritualität heißt das: Die Individualpsychologie droht ideologisch zu werden, wenn sie die dialektische Grundstruktur ihrer Persönlichkeitskehre aufgibt. Wird der unaufhebbare dialektische Zusammenhang zwischen Individuum – Gemeinschaft beziehungsweise Person – Transzendenz übergangen und missachtet, sind Fehldeutungen unvermeidbar. Deshalb ist eine Klärung der Reichweite des Gemeinschaftsbezuges unumgänglich: »Mit der Widersprüchlichkeit des Begriffs »Gemeinschaftsgefühl« wird aber dem manipulativen Machtmissbrauch und damit der Wiederkehr des zuvor durch Ächtung Verdrängten Vorschub geleistet« (Antoch, 2001, S. 25). Die widersprüchlichen Deutungen des Gemeinschaftsgefühls rufen Unsicherheiten hervor. Die harsche Kritik einer transzendenten Deutung und Erweiterung des Gemeinschaftsgefühls ist von daher nachvollziehbar: »Adler tendiert später – mit Kosmos, Evolution, ewigem Gemeinschaftsgefühl – zum Mystischen, womit er in die esoterische Ecke gerät« (Bruder-Bezzel, 2000, S. 279). Gleichzeitig ist bemerkenswert, wie sich ein Vordenker der deutschen Individualpsychologen zu diesem Streit positioniert, der bisher keinerlei Neigungen zu einem metaphysischen Schwärmertum gezeigt hat. Rainer Schmidt betont (2005, S. 367f.), dass dieser Begriff für das »Grundgefühl eines
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sozialen und letztlich auch tiefen kosmischen Eingebundenseins des Menschen steht«. Schmidt versteht darunter allgemein »Mitmenschlichkeit […] präziser Kraft zur Mitlebigkeit […] Damit meine ich mehr als eine bloße soziale Bezogenheit, sondern darüber hinaus eine auch auf Transzendenz gerichtete Strebung.« Eine Möglichkeit, das Gefühl einer Bezogenheit auf eine größere Wirklichkeit sprachlich und damit auch für Beratung und Therapie zugänglich zu machen, bietet sich, wenn die eigenen weltanschaulichen Voraussetzungen überdacht und mitgeteilt werden.
Zur Notwendigkeit einer weltanschaulichen Einbettung des Gemeinschaftsgefühls
Ohne Zweifel ist eine solche Vorstellung gerade für Analytiker, die sich der Neutralität und Abstinenz verpflichtet fühlen, ein Dorn im Auge. Dennoch halte ich diesen Schritt für unerlässlich, um den WeltbildProblemen der sogenannten Postmoderne oder einer »postsäkularen« Gesellschaft entgegentreten zu können. Die beiden Schlagworte von der »fluiden Gesellschaft« und der »flexiblen Identität« deuten an, dass herkömmlich haltgebende Strukturen zerbrechen und deshalb der Bedarf nach Orientierung hoch ist. Den radikalen Rückzug auf individuelle Glaubensstandpunkte hat Ken Wilber (2001, 184ff.) mit drei Kernannahmen begründet, die nach seiner Analyse postmoderne Theorien kennzeichnet: – Realität ist nicht immer vorgegeben, sondern in einigen wichtigen Aspekten das Ergebnis individueller Konstruktion und Interpretation. – Bedeutung und Sinngebung entstehen in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext, und diese Kontexte sind im Prinzip grenzenlos. – Erkenntnis ist relativ, und deshalb sollte keine einzelne Perspektive bevorzugt werden. Durch die Vielfalt der weltanschaulichen Kontexte und subjektiven Konstruktionen treffen deshalb in jeder »postmodernen« Gemeinschaft parallele »Glaubenswelten« aufeinander, zwischen denen
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eine Verständigung wegen ihrer widersprüchlichen Grundannahmen schwierig ist. Je nach weltanschaulicher Interpretation und Festlegung entstehen unterschiedliche Bilder von der Wirklichkeit. »Weltanschauung« klingt für viele Deutsche wegen der beschämenden nationalsozialistischen Vergangenheit nach ideologischer Vereinnahmung. Der Psychiater Werner Huth (1988) hat jedoch festgestellt, dass Weltanschauungen im Gegensatz zu Ideologien oder Wahnvorstellungen keinen Abwehrcharakter besitzen und als Grundlage für die persönliche Lebensdeutung und Sinnfindung unverzichtbar sind. Gemeint ist damit eine in sich stimmige, zusammenhängende Deutung der Welt. Weltanschauung bedeutet, dass jemand aus einer bestimmten Anschauung heraus zu leben, zu handeln und zu werten weiß – und seinen persönlichen Platz im Universum gefunden hat. Eine persönliche Weltanschauung zu bilden heißt, einen Sinn zu (er-)finden, der das Gefühl von Geborgenheit und Schutz vermittelt. Sie vermittelt die Vorstellung von Kontrolle angesichts der stets ungewissen Zukunft. Weltbilder sind also vorläufige, subjektive Konstruktionen, die sich im Idealfall lebenslang weiterentwickeln. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Weltbilder erfordert eine Dialogkultur der Innerlichkeit, um sich nicht in einem separaten Glaubensmilieu zu isolieren. Dazu ist es nötig, sich über die Vorläufigkeit und Relativität des eigenen Weltbildes im Klaren zu sein. Neugierde und Toleranz gegenüber fremden Deutungen vereinfachen das Gespräch. Ohne den Dialog kann eine Weltanschauung zu einem Machtinstrument werden, dass dem Gegenüber eine Sichtweise aufzwingen möchte. Dabei ist das Gespräch über die persönliche Religiosität anspruchsvoll und anstrengend. Religiöse Themen sind deshalb so unbequem, weil sie die Wahrheitsfrage berühren. Und weil die Wahrheit nun einmal universelle Gültigkeit beansprucht, wird ein offener Gedankenaustausch über religiöse Glaubensüberzeugungen heikel. Wenn nämlich unterschiedliche Erfahrungen und Positionen zum Vorschein kommen, wird die Position des Gegenübers damit automatisch infrage gestellt. Angesichts einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft und einer Pluralität von Weltanschauungen ist jedoch die eigene Standortbestimmung wichtig. In der Erarbeitung einer eigenen Weltanschauung sieht Benesch (1990, S. 12) das wichtigste Merkmal menschlicher
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Geistestätigkeit. Dies sei heute nötiger als zu früheren Zeiten, weil die Menschen »das selbstverständliche Vertrauen in die geistige Geborgenheit eines allgemein anerkannten Weltanschauungssystems verloren haben«. Dabei unterscheidet Benesch fünf Dimensionen einer Weltanschauung: – Weltbild: Wie erklärt man sich die Welt, und was passiert nach dem Tod? – Menschenbild: Was sind die Besonderheiten, was die Grenzen des Menschen? – Sinnorientierung: Was macht den Alltag bedeutungsvoll? – Wertekanon: Welche Ideale werden verfolgt? – Moral und Ethik: Welche Regeln und Normen sind verpflichtend? Auch Skeptiker, denen die Vorstellung einer »Bezogenheit auf eine größere Wirklichkeit« zu weit reicht, werden nicht abstreiten können, dass der Mensch immer auf das Schicksalhafte seines Lebens bezogen ist – und auf seine Endlichkeit. Unausweichliche Fragen, die sich gerade bei traumatischen Erlebnissen und Krisen in den Vordergrund drängen (Warum ich? Woher kommt das Böse? Wozu das Leid? Wie kann Schuld getilgt werden? Was kommt nach dem Tod?), erfordern eine weltanschauliche Stellungnahme. Existentielle Lebensfragen entziehen sich nämlich einer bloß rationalen Analyse und Kontrolle. Eine vertrauensvolle Haltung in das Leben angesichts von Ungerechtigkeit, Leid und Sinnlosigkeit kann nur auf dem Boden einer bestimmten Weltanschauung wachsen. Hier leisten Religionen einen wichtigen Beitrag. Sie können einen gesellschaftlichen Trend korrigieren, der durch psychologisierende Deutungen Allmachtsphantasien schüren. Die Religion relativiert ein rein psychologisches Menschenbild. Dass Menschen endlich, fehlbar und schuldfähig sind, ist eine Tatsache, die nicht psychologisch wegdiskutiert werden kann. Eine Kontrolle und Steuerung des Zufalls ist trotz aller technischer Errungenschaften und psychologischer Fortschritte unmöglich. Die Verwirklichung aller Wunschträume und grenzenloses Bewundertwerden und Durchsetzen ist nicht machbar. Das Akzeptieren von Grenzen, Leiden und Scheitern gehört zum gesunden Menschen dazu und lässt ihn reifen. Was bedeutet das für die psychotherapeutische Praxis? Zumindest
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ist damit der Appell verbunden, die eigenen Grundüberzeugungen zu reflektieren. Besonders in den Bereichen der Onkologie und Palliativmedizin wird in den letzten Jahren betont, wie wichtig zum besseren Verständnis eines Patienten eine »religiöse Anamnese« dient. Mitarbeiter einer Münchener onkologischen Klinik haben deshalb ein halbstrukturiertes klinisches Interview zur Erhebung einer »spirituellen Anamnese« entwickelt (Weber u. Frick, 2002). Auch nach ihren Erfahrungen wünschen viele Patienten, dass »sie spirituelle Bedürfnisse, Ressourcen und Schwierigkeiten mit dem Arzt besprechen können, unabhängig davon, ob sie mit einem Seelsorger in Kontakt stehen oder nicht« (S. 107). Die Mitarbeiter des Tumorzentrums haben das Interview »SPIR« erarbeitet: – S: spirituelle und Glaubensüberzeugungen. – P: Platz und Einfluss, den diese Überzeugungen im Leben des Patienten einnehmen. – I: Integration in eine spirituelle, religiöse oder kirchliche Gruppe. – R: Rolle des Arztes: Wie soll er mit spirituellen Erwartungen des Patienten umgehen? Im Hinblick auf das Gemeinschaftsgefühl bleibt festzuhalten, dass eine transzendent erweiterte Fassung sich vor ideologischer Engführung schützen kann, indem die weltanschaulichen Voraus-Setzungen reflektiert und bei Nachfragen kommuniziert werden.
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»Tu, was du nicht lassen kannst – lass nicht, was du tun kannst – tu nicht, was du lassen kannst – lass, was du nicht tun kannst« Die Frage nach dem Sinn des Daseins und dem Wert des Machbaren in Zeiten der modernen Biowissenschaft und Medizin1
»Do what you‘re unable not to do – don’t fail to do what you’re able to do – don’t do what you’re able not to do – don’t do what you’re not able to do«: The question of the meaning of existence and the value of the what can be done and made in the era of modern bioscience and medicine I provide a philosophical survey of the problems associated with humans’ ability to »make« themselves and their world from the different approaches of anthropology, theology, the philosophy of history, the study and theories of health, the state, and evolution. These problems are considered, and given their full strength, with particular regard to the radical change that our relation towards finitude is undergoing at the boundaries of life and death.
Zusammenfassung Die Problematik des menschlichen Machenkönnens seiner Welt und seiner selbst wird in verschiedenen Zugängen – mit Blick auf Anthropologie, Theologie, Geschichtsphilosophie, Gesundheits-, Staats- und Evolutionslehre – philosophisch erkundet und auf den heutigen Umbruch unseres Verhältnisses zur Endlichkeit an den Grenzen von Leben und Sterben hin zugespitzt.
Vom Warum und Wozu »What am I doing here?« – Diese Lebensfrage eines reisenden Abenteurers und ständigen Weltenbummler (Chatwin, 1989) stellt sich gelegentlich auch dem Fremden bei Tagungsmitwirkung. Wenn man 1 Gastbeitrag.
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noch nie im Delmenhorster Kreis war, kann man sich fragen, was man hier eigentlich zu suchen hat. Es stellt sich also die Frage: »Warum bist du hier?« Darauf antworten die meisten Menschen oft mit einer »um zu«-Wendung: »um das Examen zu schaffen«, heißt es im Fachseminar gewöhnlich. Dabei handelt es sich bei solch einer Antwort allerdings um eine Vermischung der Warum-Frage mit der Wozu-Frage, wie sie inzwischen im Alltagsdeutsch typisch geworden ist. Denn eigentlich gilt, dass es nicht »Warum …« sondern »Wozu bist du hier?« heißen muss, damit man sagen darf: um dies und das zu erreichen. Aber das beantwortet nicht die gestellte Warum-Frage, denn diese richtet sich ja nicht zeitlich nach vorne und auf ein Ziel hin aus, wie das Wozu, sondern das Warum geht zeitlich nach rückwärts, in die Vergangenheit, zur Rekonstruktion von Umständen, die der Grund für den gegenwärtigen Zustand sind oder jedenfalls als solche Gründe vermeint werden. Daher ist das Warum für mich häufig viel schwieriger zu beantworten als das Wozu. Bei der Wozu-Frage kann ich mich (in direkter Intention) von der Gegenwart auf die Zukunft richten, um eine später einmal zu erreichende Station auf meiner Lebensreise zu fixieren – als einen lohnenden Zweck, der es der Mühe wert ist, weiter zu machen und durchzuhalten. Auf ein solches Nahoder Fernziel meines Strebens kann ich mich, wie bei der Wurst vor meiner Nase, direkt hin psychisch ausrichten, also geradewegs und mit vorgestrecktem, unverdrehtem Kopf. Dieser Blick nach vorn lebt seelisch vom vitalen Drang, voranzuleben, auch bei allem Schmerzlichen, »und so, über Gräber, vorwärts« zu schreiten (wie Goethe nach dem Tode seines Sohnes schrieb). Dass das Leben nach vorwärts gelebt und nach rückwärts verstanden werden muss, hat schon Kierkegaard in seinem Tagebuch befunden: »Livet forstås baglæns – men må leves forlæns« (Kierkegaard 1843/1981, S. 306). Aber mit diesem Vorgang des Rückwärtsverstehens seiner selbst wird es nun kritisch, denn jene geradeaus führende Vorwärtslinie des Wozu ist bei der Warum-Frage nicht zu haben. Hier wird die geistig-seelische Bewegung verdreht und damit komplizierter. Eine Antwort auf das Warum zu finden, erfordert von mir nämlich, dass ich mich von meiner Gegenwartsexistenz aus gedanklich in die Vergangenheit zurückbegebe, um dort denjenigen Punkt und (Aufent-)Halt zu finden, von dem aus mir jetzt verständlich wird,
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wie der dazwischenliegende Abschnitt – zwischen jener damaligen und dieser heutigen Station meines Existierens – von mir als Weg absolviert wurde. Anders als beim Wozu geht dieser gedankliche Pfeil also nicht einfach nur stets in eine Richtung geradeaus weiter, sondern er beschreibt immer eine doppelte Strecke in Form eines elliptischen Hin-und-her-Kurvens. So betrachtet, hat das Wissen-Wollen des Warum offensichtlich Bumerangqualität: Es geht erst weg, in die Vergangenheit zurück, um dann irgendwann von dort aus in einem Bogen wieder an den Ausgangspunkt der Geworfenheit seines Geschickt-Werdens zurückzukehren … – wenn es denn so geht! Oft macht man nämlich bei dieser Verdrehung des Blicks, der »intentio obliqua« als Zurückbiegung der Reflexion von der vor einem liegenden Welt weg auf einen selbst im Handeln und Gehandelt-Haben, die unangenehme Erfahrung, dass solch ein Warum-Bumerang nicht wiederkehrt zum Ausgangspunkt der (sich) zurückwerfenden Besinnung. Tatsächlich kommt ein echter Bumerang ja nur dann zum Werfer zurück, wenn er nichts traf! Wenn also mein Reflexionsbumerang nicht pünktlich wieder zurückkehrt, dann deshalb, weil mit jedem im Warum-Fragen angesteuerten Vergangenheitspunkt, der mir die letzten Etappen auf der unklaren Wegstrecke meines Lebens noch einmal einsichtig machen sollte, anstatt Halt und Begründung zu bieten, weitere Irritationen und offene Fragen verbunden sind. Der Vergangenheitsanhalt hält also nur kurz vor der Wucht der Warum-Frage stand, und hinter ihm braucht es nun immer weitere Gründe und Haltepunkte. Wie kam ich denn vorher zu eben jenem damaligen Punkt: und vorher und vorher? Welche Gründe steckten je hinter jeder dieser Entscheidungen auf dem Lebensweg? Und warum, Mensch, hast du dich nicht alternativ entschieden? Hättest du nicht eigentlich da und dort auf deinem Weg besser abbiegen können? Warum hast du es so und nicht ganz anders gemacht? Warum bin ich bloß so? – Der Bumerang solcher kreiselnden Warum-Reflexionen kommt meist nie wieder zurück, und am Ende solch rekonstruierenden Lebenswegreflexionen ist schlimmstenfalls überhaupt alles fraglich geworden nach dem Motto: »Was lange bedacht ward, wurde endlich bedenklich«. Meine Eingangsfrage »What am I doing here?« – also nochmals
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präzisiert: »Wie bist du hierher, an diesen Punkt deines Lebens gekommen?« – führt in die wachsende Verunsicherung »Warum bist du hier und nicht vielmehr anderswo?« Das ist nun eine geradezu existenzielle Frage mit häufig melancholischem Unterton, weil irgendwo anders sein zu können und damit auch endlich selber anders (oder genauer noch: zu wissen, das möglicherweise früher einmal gekonnt zu haben), dieser Gedanke an ein »Sein im Anderswo« ist für manche Menschen ein tieftrauriges Vergnügen. Denn dieser Nicht-hier-sondern-anderswo-Gedanke hat etwas zutiefst Verwunschenes: »Dort, wo ich nicht bin, dort ist das Glück« – von diesem Refrain sind die Melancholiker unter uns dunkel überzeugt. Anderswo heißt auf Lateinisch »alibi«, und so stellt das Anderswo-Alibi – das Träumen und Phantasieren von glücklicheren Daseinsmöglichkeiten in örtlicher Verrückung – ein nachgerade klassisches, verführerisches Arrangement im »Geist der Melancholie« dar (Lambrecht, 1996). Dabei wird man dann auch auf Alfred Adlers Analyse »Aus den Träumen eines Melancholikers« mit seiner eben zitierten Franz-Schubert-Paraphrase stoßen, die sich in seinem Aufsatz über Melancholie und Paranoia (Adler, 1914/1974, S. 265ff.) findet. Die Melancholie mit ihrer Flucht ins Grübeln über das »Warum bin ich bloß hier gelandet?« erscheint somit als die Vermeidung der Klärung des Machbaren, das vor einem liegt – oder doch, bei entsprechender Neuwendung des Blicks, wieder liegen könnte.
Der Mensch als Machender Generell besitzt die Frage nach dem »Sinn und Wert des Machbaren« existentielle Dimension, und es steht außer Frage, dass mit dem Thema des Machens und der Machbarkeit ein Kernpunkt des Menschseins berührt ist, mit philosophischen Gebietsansprüchen mindestens von Seiten der Anthropologie und der Geschichtsphilosophie. Anthropologisch gesehen ist der Mensch jedenfalls – als Mensch – ein »Macher«, ein »machendes Tier«, und das unterscheidet ihn von anderen Lebewesen: Tieren, Pflanzen, Pilzen. Sie alle leben, blühen und gedeihen, nähren sich voneinander im großen Kreislauf der Natur, sie alle sind als Lebewesen definitionsgemäß selbstaktiv, viele jagen
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einander, einige sind sogar Nesterbauer – aber das alles ist, aus der menschlichen Perspektive betrachtet, kein »Machen«, kein Hervorbringen und Verwirklichen von etwas »Machbarem«. Sondern wir sehen es vielmehr als ein Abspulen eines inneren Programms dieser Lebewesen an, auch wenn es uns häufig planmäßig, sinnvoll und zweckreich erscheint. Aber: Spätestens wenn bei Verhaltensforschungsuntersuchungen die brütende Graugans ein vor ihr liegendes Ei mit lang vorgestreckten Hals behutsam wieder zurück in ihr Nest rollt, welches dann (im zweiten Versuch) zunächst gar kein Ei, sondern ein Golfball ist, aber dennoch brav zurückgerollt wird, und welches zuletzt – wenn ihr im dritten Experimentaldurchgang das Objekt während ihrer ZurückrollAktivität unter dem Hals weggenommen ist – von ihr, nachdem sie einmal damit begonnen hat, doch weiterhin, trotz aktuellem Nichtvorhandensein, ins Nest zurückgerollt wird …, spätestens dann realisieren wir, dass das Tier hier nicht wirklich »etwas Machbares macht«. Diese Graugans handelt nicht »machend«, sondern es wird gleichsam durch sie hindurch gewirkt und ein fest programmierter Aktionsmechanismus läuft in ihr (auf den Schlüsselreiz der Ei-Erspähung hin) ab. Das Tier also in seinen arttypische Aktionen »wird gemacht«, sein Verhalten wird bewirkt, aber es ist selber kein »Machender« – sagt sich der Mensch, voller Stolz auf diese fundamentale Mensch-TierDifferenz. Dementsprechend lehrt die philosophische Anthropologie (und mit ihr die Politische Philosophie), nur der Mensch sei als ein »machendes Tier« anzusetzen, nur er habe die fundamentale Fähigkeit des »Machens«, also des Arbeitens, Herstellens und Handelns im emphatischen Sinne, wie dies etwa Hannah Arendt als Schlüsselkategorien in »Vita Activa«, ihrem philosophischen Hauptwerk, herausgearbeitet hat (Arendt, 1960): Nur der Mensch, so die alte menschheitliche Kulturüberzeugung, hat die Macht über die Dimension des Machens und der Machbarkeit. Dieser philosophische Selbstbestimmungsstolz des Menschen, ein »homo faber« und also ein (Hand-)Werker und Macher zu sein, wenn nicht sogar ein »homo creator« und also ein Weltveränderer (Grave, 1974), er wird auch theologisch bestätigt. Gemeint ist die gar nicht so stolze, sondern vielmehr schuldgeplagte Variante unseres Menschheitsbewusstseins in der religiösen Mythologie, wie sie etwa vorliegt
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im biblischen Bericht vom Ursprung unseres Menschseins aus einem Sündenfall-Geschehen heraus. Denn auch dort, im Buch Genesis, gilt: Adam (hebr. »der Mensch«) ist – leider Gottes – ein Macher und damit gleich zu Anfang schon ein Kaputt-Macher. Wohl kein anderes Geschöpf hätte doch je geschafft, was nur der Mensch vollbracht hat, nämlich den paradiesischen Urzustand zu zerstören durch eigenmächtiges Handeln, durch das Übertreten eines Verbots, etwas nicht zu machen, was gleichwohl doch für ihn machbar war: nämlich vom Baum der Erkenntnis zu essen. So ist der Mensch seinem Wesen und Ursprung nach auch für die Bibel ein Machender – in all seiner Zwiespältigkeit. Denn auf der einen Seite ist er von Anfang an ein sündhafter Übertreter fundamentaler Grenzziehungen, ein frevelnder Angreifer und Antaster des »Unantastbaren«, das Tabu zu bleiben hatte. Eines Tabubruchs, welcher aber dann doch im Bereich des Menschenmöglichen lag: Und so, weil es prinzipiell machbar war und nicht ein schlechterdings Unmögliches, wurde es denn trotz aller übergeordneten göttlichen Tabuisierung gemacht – mit den bekannten Folgen der Zerstörung des paradiesischen Urzustands. »Was immer schief gehen kann, geht irgendwann schief« – diese moderne Einsicht in menschliches Machen, bekannt als »Murphys Law«, gilt also auch schon am Anfang unserer mythischen Geschichte. Wie oft mögen in der jüdisch-christlichen Religionstradition schon die frommen Phantasien eines reuevollen Bedauerns über dieses erste Machen der Ursünde ausgesponnen worden sein: »Oh hätte Adam es doch gelassen und nicht getan, anstatt wider das ausdrückliche Machensverbot zu handeln, wir würden noch alle im Paradies sein können. Was wäre uns doch erspart geblieben! Hätte Gott das nicht besser verhindern können? Das alles hätte doch nicht sein müssen! Ach, wären wir doch nie …« – alles sehr traurige Übungen des nachträglichen Umwünschens! Hier gäbe es noch manchen Blick in die Abgründe der »Hätte-gemacht«- und »Wäre-gewesen«-Problematik der melancholischen Konjunktive des Plusquamperfekts zu eröffnen (Lambrecht, 1996, S. 199ff.). Aber schauen wir auch auf die andere Seite des zwiespältigen biblischen Bildes von den paradiesischen Urmenschen als Tabu übertretenden Machern. Dort steht die glückliche Seite ihrer Schuld, nämlich dass es damit Geschichte überhaupt gibt – als Weltgeschichte und
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Heilsgeschichte. Denn ohne das anfängliche menschlich übergriffige Machertum wäre kein Anfang der menschlichen Entwicklungsgeschichte – als eine Geschichte in der Diesseitswelt, nach der Exilierung aus dem Paradies. Bekanntlich war diese Vertreibung einerseits die fällige Strafe für das frevelnde Machen, aber sie war auch als göttliche Schutzvorkehrung vor weiterem Dammbruch motiviert, damit der Mensch nicht auch noch, neben dem »Baum der Erkenntnis«, den zweiten verboten Tabubereich im Paradieses sollte antasten können – und essen würde vom »Baum des Lebens«, was, wie manche finden, in unserer Zeit gerade dabei ist zu geschehen. Doch noch ein Weiteres ist mythopsychologisch zu bemerken: Ohne dieses anfängliche menschlich-übergriffige Machertum gäbe es nämlich auch keinen Anfang der biblischen Gottesentwicklungsgeschichte, also jener Beziehungsdynamik zwischen Gott und Mensch, die als fortgesetzte Auseinandersetzung eines väterlichen himmlischen Schöpfers mit seinem menschlichen »troublemaker«-Kind verläuft. Sie reicht alttestamentarisch vom zornigen Vernichtungswillen bis zur auszeichnenden Schließung eines Bundes mit ordnender Gesetzgebung, und sie geht schließlich, als Heilsgeschichte der Menschwerdung eines verwandelten, sich selbst aufopfernden Gotteswillen, neutestamentarisch zur finalen Lösung der fatalen Unglücksgeschichte des menschlichen Ungemachs durch Ablösung von aller Anfangsschuld hin. Weit hat es also das tabubrechende Menschenkind mit seinem Urfrevel gebracht, wenn ihm sein Himmelsvater so weit entgegenkommen musste, um weitere Niedergänge und Katastrophen in der Gott-Mensch-Geschichte zu verhindern und ein Happy End in Aussicht zu stellen. Das nennen die Theologen die »felix culpa«, eine glückbringende Schuld des Menschen als Paradieszerstörer: denn ohne Falschmachen keine Ausbesserung und ohne Verstoß keine Versöhnung. So gesehen hat der eigenmächtig handelnde Mensch viel Bewegung in die Welt gebracht, die – als kosmische Ordnung nach dem ursprünglichen Willen ihres Schöpfergottes – womöglich ohne aktives menschliches Machen ganz langweilig geblieben wäre; vielleicht so langweilig, wenn man der Häresie des Origines vom Engelfall anathematisch folgen möchte, wie diejenige des Engelhimmels, in der es ja auch nicht ohne Grund den obersten Engel Satanel mit
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seinem Gefolge schließlich zur Revolte getrieben hat (und damit zu einer weiteren Form von Geschichtseröffnung, der Geschichte des Bösen) – nämlich aus Übersättigung an der unendlichen Gotteskontemplation und aus Überdruss am Guten (Lambrecht, 2001, Sp. 8).
Machen und Macht Aber kehren wir zurück zum Irdischen: »Macht Euch die Erde untertan«, sagt der Gott des Alten Testaments den ersten Menschen nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies, fordert uns also zu weiterem Machen auf, und das haben wir – in unserer Geschichte des Machens jedes Machbaren – ja dann auch mit überwältigendem Erfolg getan, sodass man die Menschheit nunmehr, auch untheologisch, mit zu den Naturgewalten auf dieser Erde rechnen darf: Nichts sei gewaltiger als der Mensch, heißt es schon in der heidnischen Antike und zum Beginn der Moderne vor zweihundert Jahren dichtet Schiller im »Lied von der Glocke« (1800): »Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken, / Verderblich ist des Tigers Zahn; / Jedoch der schrecklichste der Schrecken, / Das ist der Mensch in seinem Wahn«. Unser menschlicher Beitrag zur planetarischen Umgestaltung ist inzwischen erheblich geworden. So erheblich, dass die optimistische Aufforderung von Karl Marx aus seinen Feuerbachthesen – »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern« (Marx, 1845/1958, S. 7) – inzwischen auf wachsende Skepsis stößt und nicht zuletzt von Odo Marquard gekontert wurde mit dem Hinweis – »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden verändert, es kommt darauf an, sie zu verschonen« (Marquard, 1974, S. 5). Nach der Aufklärung jedenfalls gilt, radikal geschichtsphilosophisch gesehen, für das menschliche Tun und das menschlich Machbare: »die Menschen machen ihre eigene Geschichte«, wenngleich, wie Marx in »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« betonte, nicht ganz aus freien Stücken (Marx, 1852/1960, S. 115), oder noch radikaler: »die Menschen machen ihre Geschichte selbst« (Luxemburg, 1913/1973, S. 182), und darin steckte immerhin ein großes, hoffnungsvolles PraxisPotential. Denn wir haben ja offenbar die nötige Macht dazu, (unsere) Geschichte zu machen.
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Immer wieder werden – vielleicht auch deshalb, weil es als Alliteration gut klingt – Machen und Macht zusammengebracht in Formulierungen wie »Macht und Machbarkeit der Technik« (Lenk, 1994) oder »Die Macht des Machbaren« (Henn u. Schroeder-Kurth, 1999). Der in solchen Buchtiteln hierbei hergestellte Zusammenhang leuchtet ein, das wirkt suggestiv und klingt schon in sich überzeugend, ist aber, begriffsgeschichtlich gesehen, sprachlich haltlos: Denn vom Wort her hat »Machen« im Deutschen gar nichts mit »Macht« zu tun. »Macht« kommt nicht von »Machen«, »Macht« kommt von »Mögen/Vermögen«. Und so gilt, mit Blick auf das finanzielle Vermögen eines Menschen, die Devise »Geld ist Macht«, was noch eher – auch sprachlich – zutreffend ist als die Losung »Machen ist Macht«. Denn »Machen« kommt von (im Dreck) »Maggeln«, sprich: Erdiges kneten, mit Lehm hantieren, sodass sich daraus Häuser bauen lassen (die sich dann als Wohnstätten »vermakeln« lassen: denn auch »Makler« kommt etymologisch von »Machen«); oder, wenn es sich beim »Machen« einmal nicht um formendes Plastizieren zum Hüttenbau qua »(Hauswände) mit Lehm verschmieren« handelt (Kluge, 2002, S. 587), dann vielleicht sogar um das Kneten von Lehmerde beim biblischen Menschenmachen: »VND gott der HERR machet den menschen aus dem Erdenklos / vnd er blies jm ein den lebendigen Odem in seine Nasen / Vnd also ward der Mensch eine lebendige Seele« (Luther-Bibel 1545, Genesis 1, 26). »Machen« als ein Kneten, Erbauen, mit Lehm Verschmieren von Hauswänden und anderes Werkeln der Händen mit Erdigem, wirft ein weiteres Licht auf das »Machbare« und die »Machbarkeit«. Denn das Machbare ist demnach das Herstellbare, Auf- und Bebaubare, das zu Bewerkstelligende: Man weiß, wie man etwas behandeln muss, damit es gelingt, man weiß anzupacken bei irdischen Problemen, man versteht das ganze Zeug und all den Kram des Lebens zu »händeln« – wie man neuerdings sagt, im Englischen als »to handle something« geläufig mit den Übersetzungen: in die Hand nehmen, handhaben, anfassen, behandeln (usw.). Wir evozieren mithin das fundamentale Praxis-Verhältnis des um sich greifenden »homo faber«, wenn wir das »Machbare« in hantierender Hinsicht verstehen, neumodisch ausgedrückt als das »Händelbare«, alt-alternativ (mit dem technikkritischen Heidegger) als die »Zuhandenheit« von Welt als »Zeug«
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– wobei »Zuhandenheit« eben die praxeologische Gegebenheitsweise meint im Gegensatz zur »Vorhandenheit«, der Gegebenheitsweise theoretischer Gegenstände (Henning, 2004).
Das Machbare und die Salutogenese Kaum weniger neudeutsch als das »Händelbare«, lässt sich das »Machbare« auch als das »zu Managende« übersetzen, also als das »Managebare«. Im Gesundheitsdenken von Aron Antonovsky jedenfalls, seinem »Salutogenese« genannten Lebensbewältigungsansatz (Antonovsky, 1997), entspricht nämlich einer so lebenszuversichtlich verstandenen Problematik von Machbarkeit sein Konzept der »Manageability«/»Handhabbarkeit«. Dies stellt den mittleren der drei Faktoren seines »sense of coherence« (Antonovsky, 1979, S. 123) dar, wobei dieser Sinn-Begriff der Salutogenese mit »Kohärenzsinn« mehr schlecht als recht übersetzt ist. Genauer hin wird mit »sense of coherence« ein inneres Gefühl lebensgeschichtlicher Selbst-Verbundenheit gemeint, ein sinnendes Merken- und Spüren-Können dafür, dass meine Vita kein bloßes blindes Spiel böser Kräfte, schlimmer Schläge, blöder Umstände und absurder Zufälle ist. Sondern ich gewahre, dass mein Dasein etwas in sich sinnvoll Zusammenhängendes bildet, ein strapazierfähiges Lebensgewebe von starken Beziehungsund Bedeutungsfäden meiner Biografie. Pädagogisch formuliert: »Unter Kohärenzsinn versteht Antonovsky eine globale Orientierung, die zum Ausdruck bringt, in welchem Umfang eine Person ein generalisiertes, überdauerndes und dynamisches Gefühl des Vertrauens besitzt, dass die eigene innere und äußere Umwelt vorhersagbar ist und dass mit großer Wahrscheinlichkeit die Dinge sich so entwickeln werden, wie man es vernünftigerweise erwarten kann« (Hurrelmann, 1991, S. 134). Eine weitere Zuspitzung erfährt dieser (wie mir scheint) in der Tradition der Lebensphilosophie stehende Sinnbegriff bei Antonovsky dadurch, dass auch die pragmatische »Is life worth living«-Frage nach William James (1896) sowie das »Problem der Relevanz« aus der lebensweltlich ausgerichteten phänomenologisch-verstehenden Soziologie nach Alfred Schütz bei ihm mit ins Spiel kommen. Diese Erwei-
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terung des Sinnbegriffs geschieht, wenn bei Antonovsky der weitere Faktor seines Sense-of-Coherence-Konzepts analysiert wird, den er als »Sinnhaftigkeit«/»Meaningfullness« herausstellt (der komplementäre übrige Faktor ist die »Verstehbarkeit«/»Comprehensibility«). Mit dieser »Sinnhaftigkeit«/»Meaningfullness« wird das persönlich gewahrte Relevanzempfinden im eigenen Leben thematisiert, also die innere Gewissheit, dass sich der ganze Aufwand lohnt: konzeptionalisiert als das »Ausmaß, in dem man das Gefühl hat, dass das Leben einen emotionalen Sinn hat, dass zumindest einige Probleme und Anforderungen, die das Leben einem auferlegt, es wert sind, Energie einzusetzen, sich zu verpflichten und zu engagieren, und dass sie ›willkommene‹ Herausforderungen sind, anstatt dass sie einen bedrücken und man lieber ohne sie auskäme« (Udris, 1991, S. 17). Als Kohärenzsinn wird also insgesamt »ein positives Selbstbild der Handlungsfähigkeit, der Bewältigbarkeit von externen und internen Lebensbedingungen definiert mit dem Bestreben, den Lebensbedingungen einen subjektiven Sinn zu geben und sie mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen in Einklang bringen zu können« (Hurrelmann, 1991, S. 134). Warum überstehen manche Menschen offenbar einfach alles? Von dieser Frage wurde Antonovsky während seiner langjährigen »Odyssee als Stressforscher« immer wieder eingeholt (Anonovsky, 1991), zumal wenn er bei der ausführlichen Anamnese einer seiner psychosomatisch erkrankten, behandlungsbedürftigen Klienten in Israel, zumeist Überlebende des Holocaust, wieder einmal erzählt bekam, dass es in all den von Verfolgung und Leid geplagten Familien seiner Patienten eben auch die eine oder andere Person gab, die – im Gegensatz zu den übrigen traumatisierten und mehr oder weniger an Spätschäden leidenden Familienmitgliedern oder Freunden – jene krankmachende Zeit existenzieller Beschädigungen sehr viel besser überstanden hatte, ja geradezu als gesund und ein normales Leben führend angesehen werden konnte. Nur hatte er, so Antonovskys dringliche Einsicht, als Mediziner und Psychotherapeut mit eben diesen wieder gesundeten Menschen aus dem Umfeld seiner Klienten nie zu tun, denn die kamen ja nicht zu ihm: Sie benötigten ihn als Arzt eben nicht. Antonovsky realisierte, dass er, so gesehen, immer mit den Falschen sprach: Denn nun wollte er doch eigentlich viel lieber herausfinden, was den Men-
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schen gesund erhält oder wieder zur Gesundung bringt, als sich immer nur, wie alle anderen, zu fragen, was den Menschen krank macht, krank hält und schließlich ums Leben bringt. Damit war der Paradigmenwechsel von der pathogenetischen zur salutogenetischen Herangehensweise eingeleitet, der inzwischen im Gesundheitswesen vom politischen und medizinisch-pflegerischen bis hin zum psychologischen und pädagogischen Bereich nahezu alle Sparten erfasst hat. Wo also »Pathogenese« die Krankheitsentstehungserforschung betreibt, geht es in einer solchen Betrachtung ganz allgemein immer nur um den Mechanismus des Erkrankens. Denn der Ansatz der »Pathogenese« fragt: Wie und wodurch werden oder bleiben Menschen geschädigt? Was macht uns (immer wieder) kaputt? Welches sind die schlimmen Kräfte der Krankheit? »Salutogenese«, im Gegenteil dazu, bedeutet Gesundheitsentstehungserforschung. Ihr geht es um das Geheimnis des Nichterkrankens, des Wegsteckenkönnens. Der Ansatz der »Salutogenese« fragt sich, wie und wodurch Menschen heil werden oder bleiben? Was macht uns und hält uns (immer wieder) stark? Welches sind die Kräfte der Gesundheit oder Gesundung? Dabei gab und gibt es nun eine Menge an inneren und äußeren Stärkungskräften zu entdecken, vom Immun- bis zum Sinnsystem, vom Geld bis zur Liebe : »Antonovsky erforschte die Gemeinsamkeiten dieser Widerstandsressourcen, die in der Lage sind, Menschen zu der bedeutenden Erfahrung kommen zu lassen, dass sie auf dem richtigen Weg sind, dass sie Herausforderungen bewältigen und sich in ihrem Leben bewähren« (Fischer, 2004, S. 17). Während man also vorher meist der stresstheoretischen Ansicht war, das Leben sei ein gefährlicher reißender Strom für uns arme Menschen, da es uns in den Abgrund von Krankheit und schließlich zum Tod schleudert, und es käme darauf an, uns als vom Ertrinken Bedrohte da heraus an ein rettendes Ufer zu bergen, wandelt sich salutogenetisch gewendet dieses Bild dahingehend, dass das Leben zwar immer noch reißender und gefährlicher Strom für uns Menschen ist, aber wir wollen und können darin bleiben und noch besser zu schwimmen lernen, denn wir möchten gar nicht ans sichere Ufer gerettet werden, weil wir dieses Auf und Ab des Lebens in all seiner Stromschnellendynamik annehmen und sogar begehren.
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Die Kunst des Steuerns und Möglichmachens Was wir also brauchen, sind die zur Überwindung der lebenstypischen Stromschnellen nötigen Steuermannskünste, und da der Steuermann im Griechischen »kybernetes« heißt, führt uns dies auf unserem Erkundungsgang um das »Machbare« noch einen Schritt weiter, also von der Philosophie der Gesundheit direkt zu – wenn nicht der Kybernetik, so doch wohin bitte? – der Politik! Denn tatsächlich, da aus dem griechischen »kybernetes« das lateinische »gubernator« wurde und daraus das französische »gouverneur« und das englische »governer« (ja sogar die deutsche Gouvernante), bringt uns die Problematisierung des zu steuernden Machbaren im Strom des Lebens geradewegs in den Ideenbereich der politischen Gesellschaftssteuerung. Das Machbare als die politische Klugheit in der Kunst des Möglichen zu betrachten, hat der Soziologe Max Weber von und an Otto von Bismarck gelernt: »Wenn etwas die sachlichen Ziele der Bismarck’schen Politik auszeichnete, so war es das Augenmaß für das Mögliche und politisch dauernd Wünschbare, gerade auf den höchsten Höhen berauschender militärischer Erfolge«, schreibt er 1915 in seiner Studie über Bismarcks Außenpolitik und die Gegenwart (Weber, 1915/1988, S. 127). Wenn also Politik die Kunst des Möglichen ist, wie Bismarck gesagt, dann ist damit das jeweils machbare Mögliche gemeint, mithin dasjenige Mögliche und Machbare, das sich unter den gegebenen Umständen glücklicher- wie vernünftigerweise tatsächlich verwirklichen und halten lässt. Aber wo liegt dieses relativ günstigste glücklich Erreichbare? Wenige Jahre später meint Weber in seiner Schrift über den Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften: »Es ist – richtig verstanden – zutreffend, dass eine erfolgreiche Politik stets die ›Kunst des Möglichen‹ ist. Nicht minder richtig aber ist, dass das Mögliche sehr oft nur dadurch erreicht wurde, dass man nach dem jenseits seiner liegenden Unmöglichen griff. Es ist schließlich doch nicht die einzige wirklich konsequente Ethik der ›Anpassung‹ an das Mögliche: die Bureaukraten-Moral des Konfuzianismus, gewesen, welche die – vermutlich von uns allen trotz aller sonstigen Differenzen (subjektiv) mehr oder minder positiv geschätzten – spezifischen Qualitäten gerade unserer Kultur geschaffen hat« (Weber, 1918/1985, S. 514).
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Das Problem ist also, dass es zwar immer auch ein viel Besseres, ja ein Optimum, gäbe, aber das bleibt oft im Reiche all jener unerreichten Möglichkeiten, die nie das Licht der Welt der Realisierung erblickt haben. Der Politiker beurteilt vernünftig: Mehr ließ sich gerade nicht herausholen – aber wir bleiben weiter am Ball. In Webers Worten: »Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. Es ist ja durchaus richtig, und alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, dass man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre. Aber der, der das tun kann, muss ein Führer und nicht nur das, sondern auch – in einem sehr schlichten Wortsinn – ein Held sein. Und auch die, welche beides nicht sind, müssen sich wappnen mit jener Festigkeit des Herzens, die auch dem Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist, jetzt schon, sonst werden sie nicht imstande sein, auch nur durchzusetzen, was heute möglich ist. Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber: ›dennoch!‹ zu sagen vermag, nur der hat den ›Beruf‹ zur Politik.« So lautet der Schlussabschnitt von Max Weber berühmter Abhandlung »Politik als Beruf« (Weber, 1919/1988, S. 560). Und so erscheint dieses machbar gemachte, ermöglichte Beste wohl als das Bestmögliche im Wirklichen, aber nicht als das womöglich Beste im Möglichen. Die Befriedigung des Menschen des (politischen) Wirklichkeitssinnes besteht in der Verwirklichung des jeweils erreichbaren Möglichen. Der Kummer des Menschen des Möglichkeitssinns aber ist, dass es immer noch ein Besseres gäbe jenseits des bislang Erreichbaren. Hier aber beginnt das Reich des Utopischen, wo zwar ein Melancholieverbot herrscht wie im Sonnenstaat bei Campanella und im Neuen Atlantis bei Bacon, weil man keine Miesmacher dort dulden mag, wo die Sonne der unbeschränkten Positivität und Perfektion scheint, aber der »Geist der Utopie« mag stürmen, wie er will, am Ende steht die nachutopische und postrevolutionäre Ernüchterung, der Ikarus-Sturz der zu hoch geflogenen Erwartungen der reinen Möglichkeitsmenschen, die Melancholien der Nichterfüllung und übrigens auch die der Erfüllungen (Lambrecht, 1996, S. 236ff.). Also, wie weitreichende Hoffnungen auf unsere noch unrealisier-
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ten und unentdeckten Potentiale sollen wir haben und hegen dürfen? »Was darf ich hoffen?« (Kant), mir erhoffen für mich oder für die Menschheit, und wo müsste ich damit aufhören? Sollten wir nicht immer – denn die Hoffnung stirbt beim Menschen als Letztes – nach jenem Höheren streben, das noch nicht zu haben ist, aber dermaleinst … wer weiß? Ist das nicht eigentlich christlich und auch zugleich typisch menschlich und vielleicht sogar das geheime Gesetz der Welt?
Vervollkommnung als Ziel des Lebens Der Gedanke der Vervollkommnung ist eine neue Wendung religiöser Ideen in der Philosophie und Pädagogik der Aufklärung, dort auch »Perfektibilität« genannt; individuell bezogen, kann das dem Menschen das Äußerste des ihm Möglichen abfordern und gelegentlich, als eine »Krankheit des Ideals«, bis in fundamentale Sinn- und Existenzkrisen führen, wie es beispielsweise Heinrich von Kleist erfahren und bis in den Suizid getrieben hat (Lambrecht, 1996, S. 77ff.). Aber es gibt auch eine übermenschliche Ebene dieses Perfektibilitätskonzepts, die über die Vervollkommnung des Einzelnen und der Menschheit hinaus schließlich die der gesamten lebendigen Welt in Betracht nimmt. Über eine solche Weiter- und Höherentwicklung des Lebens allgemein, die Evolution der Arten, gab es seit der Aufklärung verschiedene konkurrierende Erklärungsmodelle, deren prägnante Gegenpole in den Theorien von Jean-Baptiste Lamarck und von Charles Darwin bestehen, wobei letztere sich wissenschaftlich weitgehend durchgesetzt hat (unter anderem, weil sie sich empirisch eher bestätigen ließ). Im damit verbundenen weltanschaulichen Streit (der Evolutionisten untereinander und mit den Kreationisten als den Vertretern religiöser Schöpfungstheorien), der die Gemüter der Zeitgenossen in den vergangenen zwei Jahrhunderten beschäftigt hat, konnte man Lamarckist im 19. Jahrhundert sein, aber mit dem Aufgang des 20. Jahrhunderts, unter der publizistischen Mithilfe von Ernst Haeckel, Herbert Spencer und schließlich sogar des Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin, der den Pekingmenschen ausgegraben hatte, war man ein Darwinist, wenn man modern mithalten wollte – und nicht Kreationist blieb.
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»Leben heißt sich entwickeln«, schreibt Alfred Adler in »Der Sinn des Lebens« (Adler, 1933/1973, S. 163), gut, aber wie sollen wir uns den Ablauf der »Evolution durch Anpassung« vorstellen? Auf Darwin bezieht sich Adler dort weiter mit den Worten: »Im Lichte, das Darwin angesteckt hat, verstehen wir die Auslese alles dessen, das den äußeren Forderungen gerecht werden konnte« (Adler, 1933/1973, S. 163). Aber Adlers Denken ist von diesem Licht nicht wirklich entzündet, sonst hätte er den zitierten Satz genau umgekehrt formulieren müssen, dass wir im Lichte, das Darwin angesteckt hat, die Auslese alles dessen, das den äußeren Forderungen gerade nicht gerecht werden konnte, verstehen können. Auslese ist nämlich im Darwinismus eben keine aktive Elitenbildung, sondern passive Selektion durch Aussterben versus Übrigbleiben – und damit ist Evolutionserfolg das Glück der Überlebenden. Adler hat, als gleich im anschließenden Satz offen sympathisierender Lamarckist, diese Pointe der Darwin’schen Evolutionslehre aber gar nicht ins Auge gefasst: nämlich den entscheidenden Punkt, dass es für den Darwinismus eben keine aktive Anpassung durch ein »Ringen« (Adler, 1933/1973, S. 162) auf der Ebene des Phänontyps (der individuellen Lebenserscheinungen) ist, welche die Höherentwicklung ausmacht. Sondern es ist gerade umgekehrt nur der Reproduktionserfolg von unbezweckt vorliegenden Varianten, durch Mutation auf der Ebene des Genotyps entstanden, der als ein erlittenes Geschehen der Selektion die evolutionäre Entwicklung bestimmt – ein sich Durchsetzen als generatives Überhandnehmen versus Verdrängtwerden. Für die Theorie Darwins stellt es eben keine Errungenschaft der Einzelwesen als phänotypischer Vertreter des Genotyps dar, dass sie sich verbessert angepasst haben und diesen lebensgeschichtlich erworbenen Fitness-Zuwachs an ihre Nachkommen vererbend weitergeben konnten – so verstand Lamarck Evolution (und so verstehen wir heute übrigens umgangssprachlich den Begriff »Fitness«). Sondern die Fitness des »survival-of-the-fittest«-Dramas stellt sich in Darwins Modell als ein zufälliges Abpassen von Vermehrungschancen dar, wobei bestimmte Eigenschaft(-sabweichung)en in den Varietäten für deren Träger im Kampf des Daseins Vorteile bilden und sie damit instand setzen, mehr Nachkommen zu haben und durchzubringen als ihre Gebiets-, Nahrungs- und Paarungskonkurrenten: sodass schließ-
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lich, im Endeffekt der Generationskumulationen nach Malthus, ihre eigene Nachkommenschaften überwiegen und zuletzt als einzige Übriggebliebene im Leben stehen – als ein Sieg aus Gründen glücklicher Umständepassung. Also gilt: Fit ist, wer oder was gepasst hat, und nicht, wer trainiert hat (z. B. Fellfarbe bei Füchsen). – So gesehen und verstanden, hat aber die Evolution in der Natur kein Ziel ( – es sei denn, man nimmt an, dass hinter diesem blinden Evolutionsprozess ein apartes Spielprogramm Gottes steckt), sondern das, was heute und in Zukunft lebt, ist einfach der gegenwärtige Stand der über Mutation, Separation und Selektion jeweils am nachkommenreichsten platzierten Vermehrungserfolge aus einem umständehalber günstigen Zusammentreffen von Ausprägung und Umwelt. Das hat für uns als Betrachter durchaus etwas Deprimierendes: 98 % aller Arten sind bei diesem »survival of the fittest« im Kampf des Daseins um Reproduktionschancen bereits als nicht fit wegen ihrer weniger gut passenden genetischen Eigenschaften ausgeschieden, und nichts spricht dafür, dass es nicht weitere 98 % vom heutigen Bestand an Lebewesen sind, die noch aussterben werden – und dass der Mensch dazu gehören wird.
Das Unheimlichwerden des technisch Machbaren Allerdings betreibt nun der Mensch gerade eine aktive Anpassung, aber dies nicht aus Natur, sondern deshalb, weil er eben kein bloßes Naturwesen ist. Es ist die menschliche Kulturtechnik, die eine Weitergabe von individuellen Errungenschaften ermöglicht – von Phänotyp an Phänotyp. Aber das hat – bislang – keine Einwirkung auf den Genotyp: Meine Kinder werden nicht intelligenter geboren, weil ich Psychologie und Philosophie studiert habe, und nicht mit größeren, kräftigeren Lungen, weil ich viele Waldläufe und Bergwanderungen absolviert habe. Aber sie übernehmen vielleicht meine Begeisterung für beides, und das ist ein Effekt der Vorbildnachahmung oder Wertund Interessenbildung durch soziale Kultur. Adler hat, bei seinem Versuch der weltanschaulichen Unterstützungsfindung, im Bezug auf die moderne Evolutionslehre noch all das ausblenden können – aber das können wir heute nicht mehr. Denn
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wenn die Evolution nach dem gegenwärtigen Verständnis kein Ziel und keinen Zweck kennt, und schon gar nicht etwa uns Menschen als so etwas ansetzt, dann kann sie uns auch keinen kosmischen Sinn und keine menschlichen Werte vermitteln. Biologisch muss die Sinn- und Ziellosigkeit all dieser evolutionären Prozesse eingeräumt werden. So vermittelt die gegenwärtige Dominanz des biologischen Materialismus uns als ihren Zeit- und Zeitgeistgenossen, anders als Adler sich es in seinem Spätwerk zurechtmachte, eine eher ernüchternde, ja enttäuschende und entwürdigende Sicht auf uns selber. Der naturwissenschaftlichen Reduktionismus offeriert uns ein vielfach entzaubertes, genetisch fundiertes und cerebralistisch orientiertes Menschenbild: Menschsein bedeutet, als Laune der Natur mit einem großen Kopf im kosmischen Weltmechanismus ohne Antwort zu bleiben. Zugleich eröffnet aber sich nun unserem großen Kopf in unseren Tagen die völlig neue Perspektive, wohl doch noch vom Phänotyp auf den Genotyp einzuwirken, aber nicht wie bei Lamarck, sondern durch unser eigenes Kulturwerk in Form der Biotechnologie – als Selbstschöpfung, wenn nicht gar Selbstvergottung. Die beiden brasilianischen Befreiungstheologen Bernardini Leers und Antônio Moser schildern in ihrem Standardwerk der lateinamerikanischen Moraltheologie den religiös motivierten »Kampf gegen moderne Idolatrien«, sprich gegen die Vergötzungen, Verherrlichungen und Selbstanbetungen des heutigen Menschen im westlichen »way of life«, als da sind die Idolatrien der Macht, des Geldes, des Vergnügens, der Überheblichkeit. Die Mitte dieser fundamental-christlichen Auseinandersetzungen mit dem modernen Materialismus aber nimmt die Kritik der Idolatrie der Technik ein (Leers u. Moser, 1989, S. 232ff.). Es ist, um Klartext zu reden, für diese Befreiungstheologie das kapitalistische System, das diese verblendete Entwicklung der modernen Welt historisch herbeiführte. Als »der neue Götze« führte der »Virus der Idolatrie der Technik« – gerade in Lateinamerika – zur Vergrößerung der Kontraste und Konflikte von Armen und Reichen (Gesellschaften wie Bevölkerungsschichten) ebenso wie zur Ausplünderung und Zerstörung der Natur als industrieller Rohstoffressource. »So hat, was die Technik zu einem modernen Götzen macht, zwei Seiten. Einmal stellt sie sich als autonome, isolierte Praxis dar, die nur ein Gesetz kennt: Was (technisch) machbar ist, darf (moralisch) gemacht
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werden. Alles, was der ›homo faber‹ tun, schaffern oder manipulieren kann und will, ist gerechtfertigt und darf folglich getan werden … Zum anderen kommen in die Kalkulation der technischen Praxis, bei der es in der Regel ja um größtmöglichen Gewinn geht, lediglich die Interessen« der auf dem Markte Siegreichen zum Tragen (Leers u. Moser, 1989, S. 235). Das können wir etwa in der Entwicklung der Medizintechnologie sehen: In der Tat bleiben die meisten armen Menschen von ihren Segnungen global ausgeschlossen, also etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung, aber mehr noch, sie werden in ihrem Elend auch noch unsere Materiallieferanten. So benötigt die westliche Welt in ihrer Organtransplantationsmedizin fast zehnmal mehr Spender für ihre eigenen Bedürftigen, als sie selber aufbringen kann. Also gibt es einen (im wahrsten Sinne des Wortes) »schwarzen« Menschenmarkt, auf dem – nach europäischen Gesetzen und Werten illegal – Organe angeboten werden – aus Armut oder Verbrechen (vgl. Künzli, 2001). Aber würden wir persönlich ein solches Angebot, weil unethisch, verfallen lassen, wenn man selbst oder das eigene Kind wegen Organversagen mit dem Tode bedroht wäre? Wollten wir fötal-embryonales Gewebe zur Behandlung, etwa von Parkinson-Erkrankungen, einzusetzen ausschlagen, weil es aus »verworfenem« Leben – Befruchtungslaboren oder Abtreibungen – stammt? Der Mensch selbst wird sich angesichts solcher Machbarkeiten unheimlich. Denn wenn Querschnittslähmung durch technologische Kniffe, Eiweißmoleküle als organische Materie auf anorganische Halbleiterzellen »aufzukleben«, neuronal überbrückbar sein wird, wäre dann nicht auch Hirne zu verpflanzen möglich? Man denke: das eigene Gehirn in einem neuen Gefährt? Und könnte nicht – mit Hilfe eines in-vitro-fertilisierten genetischen Dummy-Zwillings von mir – durch die identische Proteinstruktur bei diesem vorsorglich zeitversetzt in Reserve gehegten, dumpfen »Biokörper« das störende Abstoßungsproblem gegenüber meinem wertvoller entwickelten, zu verpflanzenden Gehirn zukünftig gelöst sein? Schöne neue Welten industrieller Biotechnologie, könnten sie uns einen neuen Schritt hin zur Unsterblichkeit bieten, indem mein Bewusstsein qua transplantiertem Hirn weiterleben dürfte in solch einem Zweitleib, der alle paar Jahrzehnte später erneut gegen einen neuen Zwillingsdummy
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auszutauschen wäre? Brauchen wir neue Regeln, wie Peter Sloterdijk anregte, für den damit zu erwartenden »Menschenpark« an kopierten Klonen und optimierten Chimären? Wie viel werden wir in Zukunft von dem Baum des Leben essen oder gar verschlingen? Auf jeden Fall kommt schon bald eine neue Art der Medizin auf uns zu: die prädiktive Medizin – als zukünftige Festlegung, welche Eigenschaften unser Nachwuchs haben soll. Dann brauchen wir unsrem Nachwuchs jedenfalls nicht mehr zu predigen »Mach was aus dir!« – Wir haben das dann schon selber gemacht.
Leben und sterben wollen Wie möchte ich leben heißt auch, wie möchte ich sterben: Wie möchten Sie, wie möchten wir alle heutzutage enden? Die Umfragen zeigen: am liebsten kurz und schmerzlos, am besten plötzlich – ohne allzu lange »dabei sein« zu müssen (vgl. Lang u. Wagner, 2007). »Ich habe überhaupt keine Angst vor dem Tod, ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert, dass er kommt«, meinte schon Woody Allen. Die Beantwortung des »Wie möchten Sie sterben?« im wöchentlichen Fragebogen des vormaligen FAZ-Magazins wurde von den Hunderten von prominenten Zeitgenossen, die ihn ausgefüllt haben, in etwa zwei Dritteln in ähnlicher Weise vorgenommen, so bei Rosamunde Pilcher, die beim Jäten ihrer Rosenbeete den Herzinfarkt erleiden möchte, und beim Schriftsteller Ror Wolf »rasch, unmittelbar nach einer Flasche Taitinger«; Robert Atzorn schreibt: »Umfallen und Schluss«; viele wollen es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Wenn das ein guter Tod ist, können wir dann sagen, dass Adler ihn durch seinen Herzinfarkt in Aberdeen wohl hatte? Oder eher doch Freud in London durch seine mit Max Schur verabredete Euthanasie (Schur, 1973, S. 620f.)? Interessanterweise lässt sich in der abendländischen Mentalitätsgeschichte feststellen, dass zu Zeiten, als der Mensch noch vielfach recht früh starb und dabei, wenn nicht zu Hause, es dann oft auf der Straße tat, also im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit, er offenbar keine oder nur geringe Angst vor dem Tod als einer Sinn- und Existenzkrise kannte. Denn man lebte und starb damals meist meta-
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physisch geborgen in der religiösen Heilsgewissheit eines gerechten Weiterlebens nach dem irdischen Tod. Dieser wurde sogar vielfach als der eigentliche Höhepunkt des Lebens angesehen, der Zielpunkt und Abschnitt meines höchsten irdischen Existenzerlebens, wo ich meiner selbst wie nie zuvor gewahr werde. Nur vor einer Art des Todes hatten die Menschen damals Angst, und das war – in genauer Umkehrung zu uns heute – der plötzliche Tod. Denn im plötzlichen, kurzfristigen Versterben war man um alle Qualitäten der Erfahrungen gebracht, auf die es ankam: um das tiefe Abschiednehmen, das endliche Verzeihen, die späte Versöhnung, die unverstellte Lebensbilanz, die aufrichtige Bereuung aller Sünden, die reinigende Absolution davon, den Beginn des neuen hinüber weisenden Lebens schon im letzten Hier und Jetzt, das Erlebnis der Lichtung nach allen Irrungen und Wirrungen im Wald der Lebensweltschrecken, die klarsichtige, unverstellte Begegnung mit sich selbst und damit, wie man »gemeint« war von Gott und dass er einen immer noch meint, und so weiter. Doch dafür, um den eigenen Tod so erfahren zu können, braucht es die Gewissheit einer christlichen Seele. Dieses Seelenkonzept aber, mit einem angeborenen Kern meines Wesen und damit einem, bei aller Freiheit, mir vorgegebenen Soll, das ich erfüllen oder verfehlen konnte in den vielfältigen Wendungen und Gewandungen meiner Selbstentfaltung, dieses Kern-Hülle-Modell der menschlichen Seele wurde mit den letzten Jahrhundert immer mehr obsolet, sodass viele sogar den Begriff der Seele zu verwenden meiden und lieber von Psyche, psychischen Apparat, Bewusstsein und Un(ter)bewusstsein, Person(alität), Selbst(konzept), (Ich-)Identität und anderem reden oder besser gleich von Zuständen unserer verschiedenen Gehirnteile. Wie also sterben wir heute, in Zeiten des Verlustes an Seelen- und Religionsgewissheit, in unserer tatsächlichen Diesseitswelt? 90 % der Menschen würden gerne zu Hause sterben, in ihrer vertrauten Umgebung, aber in der heutigen Wirklichkeit, insbesondere unserer Städte, sterben etwa 90 % aller Menschen stattdessen in einer auswärtigen Institution, und viele sehen, wenn das Auge bricht, als letztes Bild, anstatt ihrer Lieben, eher das Firmenzeichen an der Maschine neben sich. Doch wir leben gut und gern im Hier und Jetzt: Das Ende kommt irgendwann später. Dass der Tod uns nicht zu interessieren brauche, weil, solange wir seien, er (noch) nicht sei, und wenn er sei, wir nicht
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(mehr) seien, lehrt die antike heidnische Philosophie. Aber die Katastrophe des Todes kündigt sich nicht nur abstrakt-intellektuell an, sondern im Prozess des mehr oder weniger langen Absterbens konkret-sinnlich: durch den Verfall, das Siechtum, die Schmerzen. Am Ende steht vor dem absoluten Tod dann das kreatürliche Leiden. Es gibt nun einen geheimen Konsens in unserer Welt: Leid soll nicht sein, Leiden ist zu nichts gut, gehört vermieden und, wenn es irgend geht, umgangen. Wir haben, anders als frühere und fernere Kulturen, in der westlichen Moderne kaum mehr einen uns plausiblen, positiv besetzten Begriff von Leid. Dementsprechend betreiben wir die Abschaffung des Leidens, wann und wo sie machbar ist. Im Extremfall durch die Abschaffung oder Selbstabschaffung der Leidenden. Denn das steht ja heute so in vielen Patientenverfügungen: Wenn es einmal schlimm um mich steht und ich nicht selber entscheiden kann: Bitte macht ein Ende, indem ihr nichts mehr macht ... – das sind die Abenteuer der Dialektik der Machbarkeit heute. Aber noch sind wir ja nicht soweit, noch gehören wir zu unserer Welt und wir hören noch auf unsere Welt, die uns sagt: Mach was aus deinem Leben! Mach was aus dir! Mach was aus deinem Typ! Du bist Deutschland – mach voran, gründe eine Ich-AG, dann bist du ein »gemachter Mann«! Mach was aus deinem Geld, und, nicht zuletzt, mach was aus deinem Ruhestand ... Ach ja, das Ende naht nun doch schon wieder. Und spätestens im Alter wird Rückblick gehalten. Der greise Komponist Franz Liszt hat geraten, man solle sich schöne Erinnerungen schaffen …
Die Matrix von Tun und Lassen Wie wird meine Lebensbilanz ausfallen? Den Gedanken der Kunst des Möglichen als eine individuelle Lebenskunst verstanden und auf das mein eigenes Leben angewendet, bedeutet das in hoffentlich positiver Wendung also Selbstbeurteilungen wie: Ich habe mein mir Mögliches gegeben. Ich habe für mich und andere Nützliches getan und Gutes erreicht. Ich habe mir nicht selbst im Weg gestanden, sondern viele meiner Ziele erlangt: das realisierbare Mögliche wurde auch wirklich. Die alte Frage nach dem guten Leben, philosophisch seit der Antike
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immer wieder virulent, erweist sich für uns heute somit als eine Aufforderung zu einem erfüllten Leben, von dem ich, am Ende meiner Tage angekommen, wünschenswert leicht lassen kann, weil sich in der Rückschau feststellen lässt: Ich habe mein Leben gelebt, mein Potential ausgeschöpft, meine Chancen genutzt, und ich habe auch Fehler gemacht, welche eben auch zu mir gehörten und für mich irgendwie unvermeidlich waren. Ich konnte sie wohl einfach nicht nicht machen. Es war genau so, wie schon von guten Menschen, zum Beispiel den Eltern, oder von bösen, zum Beispiel dem Banditen Angelo bei Lessing, immer gesagt: »Tu, was du nicht lassen kannst!« (Emilia Galotti, II,3). Hätte ich es damals anders gekonnt, dann hätte ich es damals anders gemacht. Denn ich habe mich immer leidenschaftlich bemüht und mein Bestes eingesetzt. Würde ich also etwas anders machen, wenn ich das Leben in einem weiteren Durchlauf erneut haben könnte? Friedrich Nietzsche in seiner philosophischen (also nicht hindu/buddhistischen) Lehre von der Ewigen Wiederkehr meinte: Nein. Denn nur dann sage man zum Leben das große Ja, wenn man gerne alles – Freud und Leid – genau so wieder haben will. Dagegen hat sich kurz vor seinem Tode angeblich der Dichter Jorge Louis Borges in »Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte« (zit. nach Thuß u. Thuß, 1999) einen anderen Reim darauf gemacht (die Autorschaft ist unsicher, da es sich nicht in der Borges’ Gesammelten Werke findet): Im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht so perfekt sein wollen. Ich würde mich mehr entspannen. Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin. Ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. Ich würde nicht so gesund leben. Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen. Ich war einer dieser klugen Menschen, die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten. Freilich hatte ich auch Momente der Freude, aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, viel mehr gute Augenblicke zu haben. Falls du es noch nicht weißt:
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Aus diesen besteht nämlich das Leben; nur aus Augenblicken – vergiss nicht den jetzigen. Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuss gehen. Und ich würde mehr mit Kindern spielen, wenn ich das Leben noch vor mir hätte. Aber sehen Sie … ich bin 85 Jahre alt und weiß, dass ich bald sterben werde.
Lassen Sie mich hiervon nur eine Zeile noch einmal hervorheben – »Ich würde nicht so perfekt sein wollen« – und nun abschließend noch die Quadratur von Tun und Lassen aus meinem Vortragstitel auflösen. Denn auch von meinen Eltern hörte ich als Kind: »Tu, was du nicht lassen kannst«, aber mit gewachsenem Sinn für kantische Antinomienbildung ergänzte sich die Tun-Lassen-Matrix logischerweise zur Vollständigkeit im Vierfelderschema so: »Tu, was du nicht lassen kannst – lass nicht, was du tun kannst – tu nicht, was du lassen kannst – lass, was du nicht tun kannst«. Heute verstehe ich die Ausgewogenheit dieser mütterlichen Matrixfelder von Lebensklugheiten: 1. »Tu, was du nicht lassen kannst« – das ist: »Tun?«, aber mit Fragezeichen: Hier herrscht das Prinzip Nachsicht, der Leitsatz der Freihabe, die Ethik und Haltung des Gewährenlassens. Denn: Reisende soll man nicht aufhalten, sie sind im Aufbruch und müssen, als Getriebene, tun, was sie tun müssen. Also gilt: »Geh mit Gott, aber geh!« und »Des Menschen Wille ist sein Himmelreich«. Man sollte – bei allem schwierigem Verzicht auf fürsorgliche Bevormundung – jeden seine Fehler selber machen und den Stürmer und Dränger laufen lassen (Laisser-faire, Laisser-aller, Laisser-passer). 2. »Lass nicht, was du tun kannst« – das ist: »Tun!«, also mit Ausrufezeichen. Hier herrscht das Prinzip Einsatz, der Leitsatz der Arbeit, die Ethik und Haltung des Engagements. Hier gilt: »Steh nicht dumm herum und halt Maulaffen feil«, pack mit an, misch und bring dich ein! Von Thomas Carlyle stammt, in seiner merkwürdigen Goetheübersetzung, das oft gehörte »Arbeiten und nicht verzweifeln«; dies ist das Ethos, von selber seine Aufgabe zu erkennen und ohne Aufschub zu erfüllen. Der Feind ist die moralische Schwachheit oder (Nach-)Lässigkeit. Als »lassitude« gehört
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sie im Französischen unter die Töchter der Hauptsünden: Sei nicht so lässig, das tut dir nicht gut. Das Adjektiv zu diesem Adverb »lässig« wird selten gebraucht: »lass« bedeutet vom Wort her schwach und erschöpft seien. Lass nicht, was du tun kannst, heißt auch: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«. Dieses Sprichwort steht als erste seiner Lebensregeln unter den zehn Geboten, die sich Thomas Jefferson, als der dritte Präsident der USA, gut puritanisch aufgestellt hatte, obenan: »Man muss nicht auf morgen verschieben, was man heute thun kann«. 3. »Tu nicht, was du lassen kannst« – das ist: »Lassen?«, aber mit Fragezeichen: Hier herrscht das Prinzip Abstand, der Leitsatz der Muße, die Ethik und Haltung der Selbstbescheidung. Denn: »Weniger ist mehr« und »small is beautiful«. Man muss nicht alles haben, man darf nicht übertreiben, man soll nicht immer machen wollen. »Thue nicht alls, was du kanst! Red nicht alls, was du weist«, schreibt schon der Barockdichter Grimmelshausen im »Teutschen Michel« (zit. nach Wander, 1867/1987, Bd. 4, S. 1173). Maß halten, Mäßigung pflegen, verzichten können, Entschleunigung üben und Besinnungspausen kultivieren: Alle diese Weisen des Abstandhaltens zum Weltgetümmel und Getriebe sind, auch wenn sie erst neuerdings von den Alternativbewegungen wieder ins ökologische Spiel gebracht worden sind, im Grunde sehr alte Einübungen des richtigen Lebens aus der griechischen Weisheitslehre, von Aristoteles bis Diogenes und den Stoikern bis zu den Epikuräern. 4. »Lass, was du nicht tun kannst« – das ist: »Lassen!«, also mit Ausrufezeichen: Hier herrscht das Prinzip Abschied, der Leitsatz des Loslassens, die Ethik und Haltung der Selbstbeschränkung. Manche nennen es psychologisch »vernünftige Resignation«, manche medizinethisch die »Ars dimittendi« als schrittweise Zurücknahme des ärztlichen Intervenierens am Sterbebett (Wuermeling, 2002). Philosophisch untersucht es Robert Spaemann im letzten Kapitel seines Ethik-Bestsellers »Moralische Grundbegriffe«, das er überschreibt mit: »Gelassenheit – oder: Das Verhalten zu dem, was wir nicht ändern können« (Spaemann, 1982/1991, S. 98ff.). Mein letzter Hinweis gilt dem modernen Gelassenheitsgebet des deutsch-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr von 1943 – die
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Wendung ist recht bekannt geworden (zit. nach McAfee Brown, 1986, S. 252): »God, give us grace to accept with serenity the things that cannot be changed, courage to change the things that should be changed, and the wisdom to distinguish the one from the other« (Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine von dem andern zu unterscheiden).
Literatur Adler, A. (1933/1973). Der Sinn des Lebens. Frankfurt a. M.: Fischer. Adler, A. (1974). Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Frankfurt a. M. : Fischer. Antonovsky, A. (1979). Health, stress and coping. London: Jossey Bass. Antonovsky, A. (1991). Meine Odyssee als Stressforscher. Jahrbuch für kritische Medizin, 17, 113-130. Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie. Arendt, H. (1960). Vita Activa oder vom tätigen Leben, München: Piper. Chatwin, B. (1989). What am I doing here. London: Cape. Fischer, R. (2004). Prävention und Rehabilitation. In A. Lauber, P. Schmalstieg (Hrsg.), Prävention und Rehabilitation (S. 4-53). Stuttgart u. New York: Thieme. Grave, C. (1974). Homo creator/Homo faber (der Mensch als Handwerker). In K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 (Sp. 1173-1175). Basel: Schwabe. Henn, W., Schroeder-Kurth, T. (1999). Die Macht des Machbaren: humangenetische Diagnostik. Deutsches Ärzteblatt: Ärztliche Mitteilungen/A 96, 1555-1556. Henning, H. (2004). Zuhandenheit/Vorhandenheit. In K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12 (Sp. 1424-1425). Basel: Schwabe. Hurrelmann, K. (1991). Sozialisation und Gesundheit. Somatische, psychische und soziale Risikofaktoren im Lebenslauf. Weinheim u. München: Juventa. James, W. (1896). Is life worth living? Philadelphia: S. Burns Weston. Kierkegaard, S. (1843/2001). Skrifter, Bd.18. Kopenhagen: Gad. Kluge, F. (2002). Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Elmar Seebold (24. Aufl.). Berlin u. New York: De Gruyter. Künzli, A. (2001). Menschenmarkt. Die Humangenetik zwischen Utopie, Kommerz und Wissenschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Lambrecht, R. (1996). Der Geist der Melancholie. Eine Herausforderung philosophischer Reflexion. München: Fink.
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Personenverzeichnis
A Abraham, K. 62, 71 Adler, A. 9, 14, 26–30, 35, 39–41, 45–48, 50–52, 54, 62, 88, 92, 95, 96, 99, 109, 117, 120–122, 128, 135, 139, 142, 152, 153, 169, 170–180, 184, 192, 204–206, 208, 214 Allen, W. 208 Allers, R. 8, 172 Ansbacher, H. 179, 184 Antoch, R. F. 27, 31, 35, 47, 55, 98, 106, 109, 142, 153, 175–177, 179, 180, 184 Antonovsky, A. 198–200, 214 Arendt, H. 87–89, 193, 214 Aristoteles 8, 57 Atzorn, R. 208 B Bacon, F. 75, 202 Baltes, P. 8 Banck, G. 65, 71 Barth, K. 75 Bayle, P. 76, 77 Benesch, H. 182, 183, 185 Benner, D. G. 172, 185 Bertram, H. 117, 135 Bibring, E. 62, 72 Billmann-Mahecha, E. 133–135 Bion, W. R. 52, 55 Birnbaum, F. 122 Black, D. M. 168, 185 Blumenberg, H. 53, 55
Borges, J. L. 211 Bowlby, J. 127, 128, 136 Brandl, G. 169, 172, 185 Branke, W. 170, 185 Breloer, G. 145, 153 Briggs, J. 98, 109 Brisch, K. 128, 136 Broda, M. 168, 187 Bruder-Bezzel, A. 175, 176, 178– 180, 185 Brunner, R. 173, 175, 176, 179, 185 Buber, M. 123 Burger, M. 122, 136 C Campanella, T. 202 Carlyle, T. 212 Chatwin, B. 189, 214 Christiansen, S. 39 Clarus, I. 95, 109 Condrau, G. 93, 109 D d’Aquili, V. 166, 186 Danzer, G. 170, 185 Darwin, C. 8, 203, 204 de Robespierre, M. 82 de Sade, M. 87 Descartes, R. 75 Dornes, M. 130, 136 Dostojewski, F. M. 39 Drucker, P. F. 157, 163 Dubiel, H. 42, 55 Dürer, A. 59, 60
Personenverzeichnis E Eagle, M. N. 102, 109 Eckensberger, L. H. 112, 117, 118, 136 Eckhart, M. 51, 52 Eggert-Schmid Noerr, A. 132, 136 Egner, H. 169, 185 Ehrenberg, A. 63, 72 Eichmann, A. 87 Ellerbrock, J. 169, 185 Emde, R. N. 119,136 Erikson, E. H. 123–125, 136 Erlbruch, W. 7 F Fahrenberg, J. 167, 168, 185 Fehige, C. 92, 109 Fichte, H. 76 Fischer, D. 145, 153 Fischer, R. 200, 214 Flammer, A. 173, 185 Fonagy, P. 128, 136 Frankena, W. K. 112, 136 Freud, A. 62, 119, 136 Freud, S. 30, 34, 45, 48, 54, 61, 72, 91, 111, 119, 136, 169, 171, 208 Frick, E. 184, 187 Friedman, M. 159, 163 Fromm, E. 94, 109, 134, 136 Furtmüller, K. 179 G Gerlach, A. 169, 185 Glöckel, O. 122 Goethe, J. W. 14 Göppel, R. 133, 136 Göppert, H. 62 Görnitz, B. 46, 55 Görnitz, T. 46, 55 Grave, C. 193, 214 Green, A. 62, 63, 72 Greenacre, P. 119, P 136 Grimm, J. 158, 163 Grimm, W. 158, 163 Grimmelshausen 213
217 Günther, M. 169, 172, 185, 186 Gupfinger, F. 123, 124, 126, 127, 136 H Haeckel, E. 203 Häfner, H. 8 Hamer, D. 166, 185 Hare, R. M. 112, 136 Hartmann, H. 62 Hegel, F. 76, 77 Heidegger, M. 53, 54, 91, 93, 109 Heisterkamp, G. 31, 33, 35, 98, 110, 172, 186 Hellgardt, H. 170, 174, 178, 186 Henn, W. 197, 214 Henning, H. 198, 214 Heubach, B. 12, 17, 25 Hippokrates 57 Hitler, A. 83 Hofstäde, G. H. 158, 163 Hüfner, B. 170–172, 175, 186 Hurrelmann, K. 198, 199, 214 Husmann, B. 169, 186 Huth, W. 182, 186 J Jahn, E. 177 James, W. 123, 136, 198, 214 Jaspers, K. 76 Jefferson, T. 213 Jendritza, E. 177, 186 Jung, C. G. 30, 169 K Kambartell, F. 112, 136 Kant, I. 8, 38–40, 50, 51, 55, 76– 78, 85, 113, 160, 163, 203 Kausen, R. 99, 110 Keßler, N. 17, 25 Kierkegaard, S. 190, 214 Kipphoff, P. 60, 72 Klein, M. 50, 55, 62, 72 Kluge, F. 197, 214 Knopp, M.-L. 12, 15, 17, 25 Koch, H. 17, 25
218 Kofman, F. 157, 163 Kohlberg, L. 111, 112, 114–118, 124, 136 Kohut, H. 50, 62, 72 Kolbe, C. 171, 186 Konfuzius 77 König, E. 144, 153 Kotter, J. P. 157, 163 Kraepelin, E. 60, 72 Kretschmer, W. 175, 186 Krieger, W. 169, 172, 186 Krüger, H. 144, 153 Künkel, F. 172, 175, 186 Künzli, A. 207, 214 L Lamarck, J. B. 203, 204, 206 Lambrecht, R. 192, 194, 196, 202, 203, 214, 215 Lang, F. R. 186, 208, 215 Laotse 8, 77 Leers, B. 206, 207, 215 Lehmkuhl, G. 72 Lehmkuhl, U. 72 Leibniz, G. W. 76–79 Lenk, H. 197, 215 Lessing, E. 211 Liszt, F. 210 Lohauß, P. 125, 137 Löwith, K. 73–78, 88 Lübbe, H. 87–89 Luther, M. 75 Luxemburg, R. 196, 215 M Maak, T. 160, 163 Malkwitz, L. 168, 186 Malthuss, T. R. 205 Marquard, O. 79, 89, 196, 215 Marx, K. 196, 215 McAfee Brown, R. 214, 215 McGregor, D. 159 Meggle, G. 109 Mettnitzer, A. 133, 134, 137 Metzger, W. 27, 35, 139, 140, 153, 171, 177, 178
Personenverzeichnis Miller, W. C. 161, 164 Mintzberg, H. 156, 157, 163 Montada, L. 123, 137 Moser, A. 206, 207, 215 Moser, T. 168, 186 Munch, E. 60, 61 Mutter Teresa 134 N Napp, K. 12, 25 Newberg, A. 166, 186 Niebuhr, R. 213 Nietzsche, F. 37–39, 45, 46, 55, 76–78, 84, 86, 211, Noda, S. 169, 187 O Oerter, R. 123 Ostow, M. 168, 187 Ott, G. 12, 15, 25 P Peat, F. D. 98, 109 Piaget, J. 111–115, 137 Pilcher, R. 208 Platon 57 Pless, N. M. 160, 163 Plessner, H. 83, 84, 85, 86, 89 Pruzan, P. 161, 164 R Rattner, J. 169, 170, 187 Rauschenbach, T. 144, 153 Rause, E. 166 Reuter, W. 168, 187 Rieken, B. 170, 187 Ringel, E. 9, 133 Rost, J. C. 157, 164 Rotthaus, W. 130–132, 137 Rousseau, J. J. 80, 81, 82 Rudolf, G. 63, 72 Ruff, W. 168, 187 Russell, B. 102, 110 S Safranski, R. 80, 81, 89, 171, 187
Personenverzeichnis Sauer-Schiffer, U. 140, 144, 149, 153 Sausele, I. 144, 153 Schäfer, G. E. 126, 137 Schermer, V. L. 168, 187 Schiller, F. 196 Schlösser, A.-M. 169, 185 Schmidbauer, W. 168, 187 Schmidt, J. 141, 143, 146, 151, 152, 154 Schmidt, R. 171, 174, 179–181, 187 Schroeder-Kurth, T. 197, 214 Schulte, C. 85, 87–89 Schur, M. 208, 215 Schütz, A. 198 Seidel, U. 177, 187 Seidenfuß, J. 179, 187 Seiffge-Krenke, I. 127, 129, 130, 137 Seneca 8 Senf, W. 168, 187 Sloterdijk, P. 208 Sokrates 75 Solomon, A. 57, 72 Sorenson, R. L. 168, 187 Spaemann, R. 213, 215 Spencer, H. 203 Sperber, M. 79, 86, 89, 171, 179, 187 Spiel, W. 9, 117, 122, 137 Spitz, R. 127, 137 Springer, A. 169, 185 Stalin, J. 83 Stein, H. 46, 55 Stork, J. 94, 95, 110 Streeck-Fischer, A. 127, 137 T Teilhard de Chardin, P. 203 Tellenbach, H. 60, 72 Thuß, L. 211, 215 Thuß, R. 211, 215 Tymister, H. J. 140, 154 Tyson, P. 119, 137 Tyson, R. L. 119, 137
219 U Udris, I. 199, 215 Utsch, M. 166, 187 V van Luk 9 Voegelin, E. 84 Voltaire, F. M. 77, 82 von Aquin, T. 75 Augustin 75 von Bismarck, O. 84, 201 von Kleist, H. 203 von Kues, N. 44, 55 von Werder, L. 14, 25 Vossler, A. 134, A 137 W Wagner, G. G. 208 Walser, M. 86 Wander, K. F. W. 213, 215 Weber, M. 201, 202, 215 Weber, S. 184, 187 Wessels, U. 109 Wexberg, E. 121, 137 Wiegand, R. 47, 55, 173, 175, 179, 188 Wiegand, R. 47, 55 Wilber, K. 181, 188 Winterhagen-Schmid, L. 132, 137 Witte, K. H. 47, 55, 175, 177, 179, 188 Wittkowski, J. 94, 110 Wolf, R. 208 Woltmann, R. 177, 186 Wortmann, K. H. 97, 110 Wuermeling, H.-B. 213, 215 Y Yalom, I. 94, 110 Z Zanke, M. 98, 110
Stichwortverzeichnis
A Abwehrfunktion 106 Affektkontrolle 126 Aggressionshemmung 62 Akzeptanz 147 Allmacht 104 Allmachtsanspruch 97 Allmachtsdialektik 97 Allmachtsfiktion 98, 102, 108 Allmachtsphantasien 101 Allmachtswünsche 109 Antistigmaarbeit 19 Apparat, intrapsychischer 30 B Beratungsarbeit 153 Besinnungspausen 213 Beziehungsangebot 71 Beziehungsarbeit 153 Beziehungserfahrung 31, 108 Beziehungsgestaltung 140 Beziehungsgestaltung, kooperative 147 Beziehungskonflikt 66 Beziehungskrise 69 Beziehungsstrukturen 148 Bezugspersonen, primäre 129 Bezugssystem, menschliches 171 Bindung 127 Bindungserfahrungen 108 Bindungsmuster 127, 128 Bindungsqualitäten 99 Biotechnologie 207
C Common sense 88 Darwinismus 204 D Denkstile 131 Depression 57, 63, 64, 65 Depressionskonzepte 61 Differenzwahrnehmung 151 Diskursfähigkeit 104 E Effektivität 157 Effizienz 157 Egozentrismus 114, 115 Einfühlungsvermögen 142 Einheit der Person 118 Emotionsregulierung 128 Entmutigung 62 Entscheidungsfindung 158 Entwicklungsbegriff 129 Entwicklungsdynamik 118 Entwicklungsgeschehen 118 Entwicklungskontexte 130 Entwicklungslinie 119 Entwicklungslogik 118 Entwicklungspfade 130 Entwicklungspsychopathologie 130 Entwicklungsstadien 33 Entwicklungsverlauf 116 Erwachsenenbild 139 Erwachsenenbildung 144, 146, 148 Erziehungsmittel 124 Erziehungsprozess 114
Stichwortverzeichnis Erziehungsstile 33 Erziehungsverhalten 131 Erziehungsziele 126 Ethikrat 38 Evolutionserfolg 204 Evolutionslehre 205 Evolutionsprozess 205 Existenzkrise 203, 208 F Faktoren, archetypische 3 kollektive 30 Finalität 42, 45 Fortschrittsglauben 78 Freiheitsbewusstsein 38 Fremdeinschätzung 142 Freude 33 Freundschaftsbeziehungen 129 Führungsgrundsätze 162 Führungskräfte 158, 159 G Gegenübertragung 51, 66, 68 Gegenwartsexistenz 190 Gelassenheitsgebet 214 Gemeinschaft 28, 87 Gemeinschaftsbezug 174 Gemeinschaftsgefühl 9, 14, 28, 31, 46, 47, 49–52, 96, 101, 106, 120, 121, 143, 172–180, 184 Gemeinschaftsglauben 83 Gemeinschaftssehnsucht 83 Gemeinwesen 82 Geschichtsphilosophie 81 Gesellschaftskörper 82 Gesellschaftssteuerung 201 Gesellschaftsvertrag 81 Gestaltungskraft 27 Gewissensentscheidung 167 Globalisierung 8 Gottesebenbildlichkeit 76 Gotteskontemplation 196 Grundeinstellungen 160 Grundwerte 39
221 H Handlungskompetenz, professionelle 149 Heilsgewissheit 209 I Idee des Todes 94 Identität 123 Individualität 31 Individuation 96 Individuum 7 Instanzenmodell 34 Interpretationsfähigkeit 151 J Judenvernichtung 73 K Kernkompetenz 148 Kindheitsforschung 132 Kindheitsmuster 132 Kohärenzsinn 199 Kommunikationshilfen 167 Kosmosphilosophie 75 Kraft, schöpferische 174 L Laborsitzungen 152 Leben 12 Lebensaufgabe 28, 103 Lebensbilanz 210 Lebensexpertise 7 Lebensfragen 40, 183, 189 Lebensgefüge 42 Lebensgefühl 49 Lebenskrisen 15, 24 Lebenslust 68 Lebensorientierung 168 Lebensperspektiven 17 Lebensphilosophie 176 Lebenspraxis 92 Lebensqualität 22 Lebensregeln 213 Lebensstil 98, 101, 120, 174 Lebensträume 93 Lebensweg 191
222 Lebenswegreflexionen 191 Lebenswelten 134 Lebenswelten, postmoderne 133 Lebenswerk 48 Lehrer-Schüler-Beziehung 123 Leid 210 Leistungsgesellschaft 48 Leistungsseite 156, 157 Leitkultur 86 Leitsatz 212, 213 Leitungsaufgaben 139 Libido 61 Logik 114 M Machbarkeit 197 Machtbewusstsein 38 Macht 193, 196, 197 Macht, Streben nach 180 Machtinstrument 182 Machtmissbrauch 84 Machtprinzip 179 Machtstreben 177 Mangellagen 173 Märchen 94 Marktorientierung 145 Medienwelt 130 Melancholie 57, 59, 60, 62, 192 Melancholieverbot 202 Menschenbild 170, 172, 173, 176, 179, 206 Menschengemeinschaft 78 Menschenrechte 84 Menschlichkeit 85 Mentalisierung 128 Methodenlabor 145, 146, 152, 153 Methodenlaborarbeit 141 Minderwertigkeit 29, 99 Minderwertigkeitsgefühl 99, 108, 121, 174, 180 Moral 112, 114, 115 Moralentwicklung 135 Moralerziehung 117 Moralisches Denken 118 Moralstufen 124 Mord 95
Stichwortverzeichnis Mutter 64, 67, 71, 97 Mutter-Kind-Beziehung 120 Mutter-Kind-Trennung 127 N Nationalpazifismus 86 Nationalsozialismus 73, 85, 86 Neurosendefinition 46 Nihilismus 39 O Objektbeziehungen 41 Ohnmacht 99, 103 Ohnmachtsdialektik 97 Ohnmachtsgefühl 173 Organtransplantationsmedizin 207 P Paradies 95 Paradieszerstörer 195 Partnerschaftlichkeit 153 Pastoralpsychologie 172 Persönlichkeit 163 Persönlichkeitsbildung 162 Persönlichkeitsstruktur 60, 123 Phänomenologie 41 Phantasietätigkeit 127 Politreligionen 84 Prinzip 45 Problemlösungsstrategien 131 Prozess, totalitärer 87 Q Qualitätssicherung 145 R Rationalität 45 Realitätsschranken 93, 108 Rechte, individuelle 116 Reflexion 148, 150, 152 Reflexionsfähigkeit 151 Reflexionsfähigkeit, pädagogische 148 Relevanzempfinden 199 Religion 166, 168, 171
Stichwortverzeichnis Religionskritik 169 Risikofaktoren 121 Rollenkonflikt 158 S Salutogenese 198, 200 Säuglingsforschung 32 Schamgefühl 124 Schöpfungsgeschichte 74 Schöpfungsidee 78 Schöpfungsparadies 75 Schreibwerkstatt 15 Schuldgefühle 112, 124 Schuldkonzept 79 Schule 117 Schutzfaktoren 121 Selbstakzeptanz 35 Selbständigkeit 132 Selbstbesinnung 54 Selbstbezug 33 Selbstbild 30, 122 Selbsteinschätzung 142 Selbsterleben 33 Selbstgefühl 30, 49 Selbstkonzept 129, 148 Selbstorganisation 134 Selbstreflexion 159 Selbstschöpfung 206 Selbstsein 80 Selbstverdrängung, kollektive 53 Selbstvergessenheit 53 Selbstvergewisserung 168 Selbstverlust 54 Selbstverständnis 125 Selbstwahrnehmung 35, 151 Selbstwertgefühl 30, 122 Selbstwertverlust 62 Sinn 9, 29 Sinn des Lebens 28, 43, 52 Sinnfrage 44 Sinngebung 7 Sinnhaftigkeit 30 Sinnkrise 54, 203, 208 Sinnreduktion 43 Sinnstiftung 168 Spiritualität 166, 168
223 Sprache 14 Stigmatisierung 18 Strukturmodell 119 Suizidalität 63 Suizidimpulse 69 Sündenbockmechanismus 80 T Tabu 12 Tabubereich 195 Tabubruch 194 Theodizee 76, 77 Therapieverlauf 104 Tod 92, 95, 208–210 Todesangst 91 Todestrieb 91 Transzendenz 173, 180 Transzendenzbezug 174 Trauer 62, 67 Traum 66 Traumaforschung 122 Traumerlebnis 68 Traumtätigkeit 127 Triangulierung 102 Triangulierungserfahrung 70 Triangulierungsfähigkeit 69 Triangulierungsprozess 68 U Über-Ich-Entwicklung 119 Überlebende des Holocaust 199 Überlegenheit 180 Übertragung 65 Übertragungsmuster 66 Überwindung von Mangellagen 171 Unmündigkeit 40 Unternehmensführung 163 Unternehmenskultur 162 Unternehmenswerte 161 V Vater 67, 96 Vernichtungsängste 100–102 Vernunftglauben 78 Vernunftsprinzipien 45
224 Versprechen 37 Versuchsschule, individualpsychologische 122 Vertraulichkeit 147 W Wahrnehmungsstile 131 Weltanschauung 182, 183 Wert 7, 134 Wertbegriff 8 Wertbewusstsein 32 Werteentwicklung 135
Stichwortverzeichnis Wertempfinden 32 Werterleben 32 Wertfragen 9, 29 Wertgefühl 34 Widerstandsressourcen 200 Wiederkehr des Religiösen 166 Willensentschluss 77 Z Zielgerichtetheit 30 Zivilisation 80
Die Autorinnen und Autoren
Gertrude Bogyi, Dr. phil., ist Klinische Psychologin und Psychotherapeutin an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters in Wien, Psychotherapeutische Leiterin des Ambulatoriums für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen »Die Boje« in Wien, individualpsychologische Lehranalytikerin und Supervisorin. Kurt Hemmer, Dr. phil., ist Diplompsychologe und Psychoanalytiker (DGIP) in eigener Praxis in Bonn. Ulrike Kahl, Dr. med., ist Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und als Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT) in eigener Praxis in Mainz. Marie-Luise Knopp ist individualpsychologische Beraterin in Düsseldorf. Peter Kunz, Prof. Dr., ist Direktor des MBA-Programmes an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und geschäftsführender Partner der PSM-Partner für Strategie- und Managemententwicklung in Braunschweig. Roland Lambrecht, Dr. phil., Diplompsychologe, unterrichtet in Bonn an Ausbildungsstätten der Alten- und Krankenpflege im Rheinland. Ursula Sauer-Schiffer, Prof. Dr. phil., ist individualpsychologische Beraterin in Bremen und Professorin für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung an der Universität Münster. Michael Utsch, Dr. phil., Diplompsychologe, ist Psychoanalytiker (DGIP) und Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin.
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Die Autorinnen und Autoren
Pit Wahl ist Diplompsychologe, Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP, DGPT) in eigener Praxis in Bonn. Ronald Wiegand, Prof. Dr., Professor für Soziologie i. R., lebt in Berlin. Karl Heinz Witte, Dr. phil., ist als Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP, DGPT) in eigener Praxis in München tätig.
Beiträge zur Individualpsychologie 32: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Instanzen im Schatten Väter, Geschwister, bedeutsame Andere 2006. 175 Seiten mit 21 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45013-0 In der herkömmlichen tiefenpsychologisch fundierten und analytischen Psychotherapie gibt es eine Fülle von Literatur zur Bedeutung der Mutter für die Entwicklung des Kindes. Andere Familienmitglieder oder gar Freunde, Bekannte kommen darin deutlich seltener vor. Lediglich die Väter haben in den letzten zwei Jahrzehnten etwas Terrain wettgemacht. Diesem Mangel will dieser Band abhelfen, indem er Beiträge enthält, die sich mit den »anderen Instanzen« beschäftigen. Damit wird ein Beitrag zur zunehmenden Zentrierung psychoanalytischer Theoriebildungen auf Beziehung und Interaktion geleistet. Erkenntnisse der Bindungs- und neueren Säuglingsforschung werden einbezogen.
31: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Die Gesellschaft und die Krankheit
Die Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit den Verknüpfungen und Berührungspunkten der Begriffe »Krankheit« und »Gesellschaft«. Das Thema ist allgegenwärtig. Nicht nur Patienten, auch Ärzte, Therapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen müssen mit neuen Definitionen leben und umgehen, neue Grenzen ziehen, diese begründen und möglicherweise mit Zweifeln leben. Das Bestmögliche im Bereich Gesundheit ist nicht mehr selbstverständlich für jeden. Gefragt ist eine solide Grundversorgung, die bezahlbar ist und möglichst vielen zugute kommt. Mit anderen Worten: Wie viel an (Psycho-)Therapie können wir uns leisten?
30: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Die Bedeutung der Zeit Zeiterleben und Zeiterfahrung aus der Sicht der Individualpsychologie 2005. 262 Seiten mit 22 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45011-6
Perspektiven und Ansichten der Individualpsychologie
29: Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Wie arbeiten Individualpsychologen heute?
2005. 336 Seiten mit 16 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45012-3
2003. 324 Seiten mit 4 Abb. und 9 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45010-9
Alfred Adler Studienausgabe Herausgegeben von Karl Heinz Witte
Alfred Adler Persönlichkeit und neurotische Entwicklung Frühe Schriften (1904–1912) Alfred Adler Studienausgabe, Band 1. Herausgegeben von Almuth BruderBezzel. 2007. 292 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46051-1 Die Aufsätze aus der Zeit von 1904–1912 dokumentieren die frühe freudianische und sozialpädagogische Ausrichtung Adlers wie auch die Entfaltung der neuen Konzepte, mit denen er von Freud abrückte. Dazu gehören seine psychosomatische Theoriebildung (Organminderwertigkeit und Kompensation) und die Einführung des »Aggressionstriebs«. Im vertieften Minderwertigkeitsgefühl, im Streben nach Sicherung und persönlicher Überlegenheit sieht Adler die Kennzeichen des neurotischen Charakters.
Die kommentierte textkritische Ausgabe dieses grundlegenden Werkes Alfred Adlers stellt die Originalfassung von 1912 vor. Damit wird der Stand der Theorie Adlers nach seiner Trennung von Freud zugänglich, wie er sie innerhalb des Kreises um Freud und zugleich gegen Freud entwickelt hatte. Der Variantenapparat dokumentiert alle Veränderungen der Neuauflagen von 1919, 1922 und 1928. So kann man diese Ausgabe wie einen Werkstattbericht aus Adlers Arbeit an seiner Theorieentwicklung lesen.
Alfred Adler Menschenkenntnis (1927) Alfred Adler Studienausgabe, Band 5. Herausgegeben von Jürg Rüedi. 2007. 235 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46052-8
Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie
Adlers Schrift »Menschenkenntnis«, 1927 erschienen, hat die weiteste Verbreitung erfahren. Indem er Hintergründe und Motivationen von Verhalten aufzeigt, Wesen und Entstehung von Charakter analysiert, will der Begründer der Individualpsychologie zu einem tieferen Verständnis des Menschen anleiten.
Alfred Adler Studienausgabe, Band 2. Herausgegeben von Karl Heinz Witte, Almuth Bruder-Bezzel, Rolf Kühn. 2., korrigierte Auflage 2007. Ca. 420 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-46053-5
Das Erscheinen der kompletten Alfred Adler Studienausgabe wird 2009 abgeschlossen sein.
Alfred Adler Über den nervösen Charakter (1912)