Europas Werte. Wie wir zu unseren Vorstellungen von richtig und falsch kamen. Ein historischer Essay 9783506777119


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Europas Werte. Wie wir zu unseren Vorstellungen von richtig und falsch kamen. Ein historischer Essay
 9783506777119

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Martin Kaufhold Europas Werte

Martin Kaufhold

Europas Werte Wie wir zu unseren Vorstellungen von richtig und falsch kamen Ein historischer Essay

Ferdinand Schöningh Paderborn · München · Wien · Zürich

Titelbild: Pierre-Antoine Demachy (1723-1807): Un temple en ruine Louvre/Wikimedia Commons Autor: Martin Kaufhold, studierte an den Universitäten Heidelberg und Maryland (College Park, USA) Geschichte und Germanistik. Nach dem ersten Staatsexamen wurde 1993 er in Heidelberg promoviert und habilitierte dort im Jahr 2000. Seit 2003 hat er den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Augsburg inne. Forschungsschwerpunkte sind u. a. vergleichende europäische Geschichte des Spätmittelalters, politische Geschichte und die Geschichte religiöser Kultur. Weitere Publiktionen: Wendepunkte des Mittelalters. Von der Kaiserkrönung Karls des Großen bis zur Entdeckung Amerikas (2001), Die Kreuzzüge (2. Aufl. 2008), Die großen Reden der Weltgeschichte (6. Aufl. 2011).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2013 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-77711-9

Inhalt Vorwort 1. Ausgangslage

9 11

Verfall der Sitten? – „Werterelativismus“ – Die Träger der Werte – Eine andere Erfahrung von Raum und Zeit – Was sind Werte?

2. Die Achsenzeit: die Zehn Gebote

25

Die Zehn Gebote im Königreich Juda – Der Anspruch der jüdischen Tradition

3. Die Achsenzeit: Das klassische Athen

31

Sokrates, Aischylos und Antigone – Naturrecht: Das Gewissen und die menschlichen Gesetze – Die Stimme der Macht – Die Ethik des Aristoteles

4. Pax Romana und frühes Christentum

47

Armeen, Kommunikation und Ideentransfer – Die ethischen Ansprüche der neuen Religion – Augustinus’ Abschied vom antikem Ideal – Sklaverei und Christentum – Der Abgrund der Sexualität

5. Die regionalen Welten der Barbaren

65

Die Völkerwanderung und die Einengung der Horizonte – Mündliche und schriftliche Traditionen – Die Welt der Mönche – Die Regel Benedikts – Autorität und Beratung

6. Die Welt Karls des Großen und seiner Nachfolger Werte für ein großes Reich und das Vorbild des Alten Testamentes – Widerstände und christliches Einheitsideal

79

6

Inhalt

7. Eine christliche Ordnung für Europa

87

Der neue Führungsanspruch des Papsttums – Die soziale Dynamik des hohen Mittelalters – Franziskus und die städtische Erfahrung – eine Welt des Rechts und der Rituale

8. Eine neue Welt der Gegensätze

97

Petrus Abaelard und William von Ockham: der offene Umgang mit den Widersprüchen der Welt – Das Motiv der Handlung und die Ethik – Das Aufkommen der Psychologie

9. Die christliche Ordnung in der Zeit des Thomas von Aquin

105

Päpstlicher Zentralismus und die Ordnung der Welt – Der große Entwurf des Thomas von Aquin – Die politischen Grenzen der päpstlichen Autorität

10. Die Werte des Adels

113

Familie, kriegerische Ehre und Mitsprache

11. Orientierung in einer größeren Welt

117

Die gefährdete Stellung Europas in der Welt – Die Sorge um die Zukunft – Ockhams Absage an die erkennbare Ordnung der Welt – das Aufkommen individueller Maßstäbe

12. Das ausgehende Mittelalter und die neue Kultur persönlicher Frömmigkeit

131

Die Schriftkultur des 15. Jahrhunderts – Thomas von Kempens Meditationen – Das Nebeneinander der Werteordnungen

13. Religiöses Gewissen und europäische Lagerbildung Martin Luthers Kritik an den „guten Werken“ und an der Papstkirche – Reformatorische Strenge und das Weiterleben mittelalterlicher Magie

139

7

Inhalt

14. Bekenntnisbildung

153

Wertehorizonte: Ausgrenzung Andersgläubiger und Gewaltbereitschaft – die zweite Reformation und die katholische Antwort – Johannes Calvin und Ignatius von Loyola – die programmatische Abgrenzung der Lager

15. Religion und Obrigkeit

161

Religion und Politik in einem expandierenden Europa – Philip Sydney und Francis Drake – Der Augsburger Religionsfrieden und das Prinzip „cuis regio, eius religio“

16. Soziale Kontrolle

165

Langsame Wirkungen der Werteerziehung

17. Die Stimme der Vernunft und des Naturrechts

171

Hugo Grotius, Samuel Pufendorf und die Grenzen des SchwarzWeiss-Bildes – Handlungsspielräume und staatliche Wertegemeinschaften

18. Von der Aufklärung bis zur modernen Gegenwart

185

Kants Kategorischer Imperativ – Die Vielfalt der Sitten und Kulturen – Die französische Revolution und der Beginn der Massenkultur – Die neuen Kriege – Mills Ideal individueller Freiheit und die neue Rolle des Menschen in der Geschichte – Neue Erfahrungen und die Wendung zur Tradition

19. Ausblick

209

Die Notwendigkeit von Relativität und Demokratie – Der soziale Transfer von Wertvorstellungen – Freiräume in der modernen Kommunikationsgesellschaft – Ein neues Mittelalter?

Anmerkungen

219

Vorwort Die Welt ändert sich rasch. Orientierungen, die für unsere Eltern selbstverständlich waren, sind für unsere Kinder unverständlich. Sie verstehen kaum die Verwunderung über den Wandel. Der Wandel unserer Wertvorstellungen ist eine Erfahrung des Alltags. Den Autor traf diese Einsicht beim Bügeln seiner Hemden: Als ich während der Abfassung des Manuskriptes eines Tag hinter dem Bügelbrett stand und meiner Frau und meinen Töchtern dabei zusah, wie sie Sex and the City im Fernsehen verfolgten. Ich hielt einen Moment inne, sah auf das Bügeleisen in meiner Hand und dachte darüber nach, was mein Großvater sagen würde, könnte er mich sehen. Unter Familienwerten hätte er wohl etwas anderes verstanden. Historiker sehen ihr Handeln gern in größerer Perspektive. Darum soll es in diesem Buch gehen. Es möchte der Diskussion um die Werte in unserer Gesellschaft eine historische Perspektive hinzufügen. Auf Zeiten, in denen Werte etwas galten, blicken wir häufiger zurück. Die Wertvorstellungen der Gegenwart erscheinen mitunter unverbindlich und relativ. Der Blick zurück ist dabei meist ein Blick in die Tradition, nicht in die Geschichte. Das ist nicht dasselbe. Die Tradition ist eine konzentrierte Auswahl aus der Geschichte. Es ist eine Auswahl, die der Orientierung dient. Leben kann man in ihr nicht. Und es hat auch niemand in ihr gelebt. Es gibt sie nur im Rückblick. Das wirkliche Leben ist ungleich vielfältiger. Und es ist schwieriger. Darum geht es in diesem Essay. Es geht um die lange Geschichte der menschlichen Auseinandersetzung mit den Leitlinien des einzelnen und gemeinsamen Lebens. Es ist eine schwierige und komplexe Geschichte. Sie füllt ganze Bibliotheken. In einem Essay von diesem Umfang kann der Verfasser nur einige grobe Linien skizzieren. Ein solches Unternehmen ist bei dem Entwicklungsstand der historischen Wissenschaften nur möglich, wenn der Autor außerhalb seines eigenen Fachgebietes (der mittelalterlichen Geschichte) das Risiko der Vereinfachung eingeht, und sich auch dort ein vorläufiges Urteil zutraut, wo die Fachleute eine breite und notwendige Diskussion führen. Diese Diskussionen können hier nicht nachgezeichnet werden. Dafür bitte ich um Verständnis. Wenn die Fach-

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Vorwort

historiker ihre Disziplin an einer öffentlichen Diskussion beteiligen möchten, müssen sie den sicheren Boden mitunter verlassen. Dabei ist mir viel Hilfe zuteil geworden. Meinen Kollegen an der Universität Augsburg bin ich für die vielen bereitwilligen Hilfestellungen sehr dankbar. Die Wissenschaft lebt vom Austausch, der an dieser Universität lebhaft gepflegt wird. Der vorliegende Essay ist das Ergebnis eines Jahres intensiver Lektüre großer Texte. Das Nachdenken über die großen Fragen ist ein Erlebnis, zu dem wir uns immer wieder Zeit nehmen sollten. Es bereichert ungemein. Dieser Essay ist eine Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen, die das Leben der Menschen in den letzten zweieinhalbtausend Jahren bestimmt haben. Das ist eine lange Zeit. Werte sind das, was in unserem Leben wichtig ist. Auch nach der Beschäftigung mit dieser eindrucksvollen Tradition fühlt sich der Verfasser darin bestätigt, seine eigene Werteskala durch weibliche Größen angeführt zu sehen, durch die Frauen seiner Familie: Friederike, Maria und Kristina. Ihnen ist der Text gewidmet. Augsburg, März 2013

1. Ausgangslage Verfall der Sitten? – „Werterelativismus“ – Die Träger der Werte – Eine andere Erfahrung von Raum und Zeit – Was sind Werte? Das Thema Werte ist allgegenwärtig. Je nach Alter und Standpunkt beklagt man ihren Verlust oder stellt ihren Wandel fest. Dabei entstehen mitunter ungewöhnliche Allianzen. Die Klage des Papstes über den Relativismus der gegenwärtigen Werte findet auch Zustimmung bei Zeitgenossen, die ansonsten die Positionen der katholischen Kirche kaum unterstützen. Wer den Verlust der Werte beklagt, darf auf ein aufmerksames Publikum hoffen. Dabei zielen diese Klagen auf das tägliche Verhalten und auf ein sinkendes Interesse für übergeordnete geistige Fragen. Letztlich beklagen diese Stimmen eine zurückgehende Sensibilität für die Werte der bürgerlichen Existenz: für Verantwortung, Bildung, Gemeinsinn, auch für Religion. Sie verlieren ihre Verbindlichkeit und der Verlust sei spürbar. Der Einzelne sei orientierungslos und die Jugend in Gefahr. Sind diese Klagen unberechtigt? Wir erleben durchaus einen Rückgang des Respekts vor öffentlichen Institutionen, vor den Ordnungen, die bislang den gesellschaftlichen Frieden sichergestellt haben. Polizisten machen unerfreuliche Erfahrungen und der öffentliche Friede, für den sie stehen, ist ein hohes Gut. Es sollte nicht so sein, dass die Benutzung der U-Bahn zu nächtlicher Stunde zu einem Risiko wird. Respekt vor der Gesundheit und Unversehrtheit, auch der Bewegungsfreiheit der Anderen ist ein hoher Wert. Auf der anderen Seite scheint sich die öffentliche Aufmerksamkeit eher auf seichte Unterhaltung als auf geistreiche Bildung zu richten. Bildung hat in der bürgerlichen Kultur einen hohen Wert, und sie muss nicht staubtrocken sein. Die Bildung scheint auf dem Rückzug zu sein. Die großen Tageszeitungen bieten Klassiker-Reihen an –Texte, Musik und Filme, die der gebildete Mensch kennen sollte. Es ist eine Kanonbildung angesichts schwindender Bedeutung dieser

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1. Ausgangslage

Kunst. Kanonbildungen sind das Zeichen einer ermattenden kulturellen Dynamik. Aber Augenmaß ist angebracht. Weil die Modernen es lieber kurz mögen (anstatt anspruchsvoll), besuchen sie nicht mehr unsere Veranstaltungen, sondern die dieser Leute …1 Das ist keine Klage eines Theaterdirektors, dessen Klassikerinszenierungen kein junges Publikum mehr finden, sondern die Klage eines Bischofs aus dem 13. Jahrhundert, dem der Erfolg der Franziskaner missfiel. Die Bettelmönche mit ihrem neuen Lebensstil zogen die Aufmerksamkeit des städtischen Publikums auf sich. Der klassische Klerus verlor an Zuspruch und mit ihm an Zuwendungen. Die Franziskaner erscheinen uns heute kaum als Vertreter seichter Kunst, sondern eher als authentische Brüder Jesu, die zur Glaubwürdigkeit des Christentums maßgeblich beigetragen haben. Viele Geistliche sahen das damals anders. Manches erschließt sich erst im Rückblick. Die Klage über den Verfall der Sitten und die Oberflächlichkeit der Gegenwart setzt wahrscheinlich bereits mit Adam und Eva ein. Die Eltern des Menschengeschlechts dachten wohl mitunter wehmütig an die Zeiten zurück, als man im Garten noch ungestört von lärmenden Jugendlichen umher gehen konnte. Sie schrieben die Klagen nicht auf. In dem Maße, in dem die schriftliche Überlieferung der menschlichen Geschichte dichter geworden ist, werden diese Klagen fassbarer. Es ist kaum der Mühe wert, aber wahrscheinlich ließe sich in jeder Generation seit jenen Anfängen ein Zeugnis für den Verfall der Sitten finden. Für diese Feststellung läßt sich ein prominenter Zeuge aufrufen. Immanuel Kant läßt Die philosophische Religionslehre in seiner Metaphysik der Sitten mit dem Satz beginnen: Daß die Welt im Argen liege: ist eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte.2 Darum soll es hier nicht gehen. Dieser Essay bietet eine historische Auseinandersetzung mit der Frage, welche Reichweite Werteordnungen im Laufe der Geschichte beanspruchen konnten, die die europäische Kultur geprägt haben? Ein Essay ist keine Gesamtdarstellung, er ist eine persönliche Auseinandersetzung mit einem wichtigen Thema. Das Thema übersteigt die fachliche Zuständigkeit des Verfassers als Mittelalterhistoriker in vielem. Die heutige Welt und ihre Entstehungsgeschichte ist so vielgestaltig, dass es auch einem sehr gebildeten Autor schwer fallen würde, alle Facetten zu überblicken

1. Ausgangslage

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und sie angemessen darzustellen. Diese Fähigkeit möchte der Verfasser nicht beanspruchen. Hier geht es darum, die Bildung und die Wirkung des Wertebewusstseins in der europäischen Geschichte anhand wichtiger historischer Phasen zu skizzieren. Die Frage, die sich dabei immer wieder stellt, ist die Frage nach den Wertehorizonten. Für wen hatten Werte (und Wahrheiten) Gültigkeit, und wie verbindlich waren sie formuliert? Dies ist eine entscheidende Frage, wenn wir nach der Vorgeschichte des heutigen Werterelativismus fragen. Der Blick in die Geschichte bietet die Chance, die eigene Gegenwart vor einem weiteren Horizont zu sehen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist die Auseinandersetzung mit den Fragen, die für unser Leben eine Rolle spielen, die es prägen, die uns herausfordern, die wir vielleicht nicht lösen können. Die Geschichte bietet keine einfachen Antworten auf diese Fragen. Aber sie gibt uns die Möglichkeit, zu sehen, wie unsere Vorgänger mit ähnlichen Herausforderungen umgegangen sind. Gerade im Fall der Werte, also in der Frage: „Wie sollen wir richtig leben?“ zeigt uns der historische Vergleich, wie alt die großen Herausforderungen sind. Wir sehen, dass auch unsere Vorgänger über Fragen gestritten haben, die uns heute beschäftigen. Manchmal zeigt uns die Geschichte kluge Lösungen, manchmal zeigt sie uns, dass es für diese Fragen keine eindeutigen Antworten gab. Generell zeigt sie uns die Grenzen des menschlich Machbaren. Manche Konflikte haben eine Geschichte, die so alt ist wie die Menschheit. Das zu wissen, entlastet uns. Das Christentum erscheint uns mit seinen ethischen Forderungen, die in säkularisierter Form unsere Kultur nachhaltig geprägt haben, heute als eine universale Botschaft. Eine Botschaft für alle Menschen. Aber die Evangelisten Matthäus und Markus berichten, wie Jesus bei einem Besuch in Tyrus die Bitte der Mutter eines kranken Mädchens um Hilfe für ihre Tochter mit den Worten ablehnte: Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen (Mt 15,26/Mk 7,27). Die Frau und ihre Tochter waren nicht jüdisch. Für Jesus lagen sie zunächst außerhalb seines Handlungshorizontes. Er ließ sich noch umstimmen, aber wieviele seiner Anhänger werden sich in einer ähnlichen Situation abweisend gezeigt haben? Der große französische Althistoriker Paul Veyne erinnert uns zu Recht daran, dass die Frage, ob Paulus ein Bild von der Menschheit als einer universa-

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1. Ausgangslage

len Größe gehabt habe, jenseits der Vorstellung des Apostels lag.3 Dabei wird jene Stelle aus dem 2. Kapitel des Briefes von Paulus an die Römer über die Geltung des göttlichen Gesetzes häufig als eine Quelle des christlichen Naturrechtsgedankens gesehen. Paulus schreibt darin: Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind die, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist…(Röm 2,14-15). Sprach Paulus damit auch über die Menschen jenseits des Mittelmeeres, dessen Küsten er so viel bereiste? Joseph Ratzinger hat unter dem einschlägigen Titel Werte in Zeiten des Umbruchs die schöne Formulierung gefunden, dass das menschliche Gewissen – das Gewissen aller Menschen – im Grunde auf einer Ur-erinnerung an das Gute und an das Wahre (beides ist identisch) gründet, die dem von Gott geschaffenen Menschen eingegeben ist.4 Daraus leitet sich auch sein Verständnis des Naturrechts als Quelle der wahren Werte ab, die jedem Menschen eingegeben ist, der sie nicht ignoriert. Die Grundwerte des menschlichen Lebens wären dadurch allen Menschen gleichermaßen eingegeben, die sich darauf besinnen, dass sie ihr Leben Gott verdanken. Dadurch erhält die Suche nach den menschlichen Grundwerten einen ähnlichen Charakter wie die Suche nach dem Echo des Urknalls, in dem noch in der Gegenwart jenes Ereignis nachschwingt, aus dem unsere Welt hervorgegangen ist. Es ist ein Gegenentwurf zu dem Versuch der modernen Welt, die Grundwerte des gemeinsamen Lebens in einem nie endenden, geregelten Prozess an die eigene Gegenwart anzupassen. Aber: Hatte Paulus tatsächlich die ganze Menschheit im Blick? Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich geschaffen worden dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden worunter sind Leben Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit. Diesen Satz, der die Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (in einer zeitgenössischen Übersetzung) eröffnet, formulierte Thomas Jefferson im Jahre 1776. Er berief sich dabei auf die Wertvorstellungen, die in diesem Essay zur Sprache kommen werden. Aber auf seiner Farm in Virginia arbeiteten Sklaven, so wie auf den vielen Farmen des amerikanischen Südens. Diese farbigen Menschen waren nicht gemeint, wenn die Unabhängigkeitserklä-

1. Ausgangslage

15

rung von allen Menschen sprach. Das lag nicht an Jefferson und seinen Mitstreitern. Sie waren Kinder ihrer Zeit. Wir sollten uns vor dem Irrtum hüten, dass die Texte, aus denen wir die Vorstellungen über richtiges Handeln in den vielen Jahrhunderten zwischen der Achsenzeit des klassischen Athen im fünften vorchristlichen Jahrhundert und unserer Gegenwart herauslesen, dasselbe meinen wie wir, wenn sie beanspruchen, für alle Menschen zu sprechen. Sklaven etwa waren keine Menschen, sondern Sachen. Die bedeutendste Entwicklung, der wir bei der Geschichte der europäischen Wertvorstellungen nachgehen müssen, ist der Wandel der Trägerschichten und der Adressaten der jeweiligen Ethik. Dass ein Recht für alle Menschen auch einen Rechtsanspruch für Frauen, Menschen anderer Hautfarbe, anderer Religion oder anderen Standes begründet, ist eine vergleichsweise neue Entwicklung. Die Eltern mancher heute alten Menschen hätte sie noch überrascht. Die ethischen Grundsätze, auf die sich diejenigen berufen, die über den heutigen Relativismus Klage führen, wurden unter solchen anderen Bedingungen formuliert. Sie wurden als allgemein gültige Wahrheiten in einer Welt formuliert, in der es selbstverständlich war, dass diese Regeln nur für diejenigen galten, die die eigenen Grundüberzeugungen und Grunderfahrungen teilten. Das musste gar nicht eigens thematisiert werden. Ebensowenig wie die tägliche Erfahrung thematisiert werden musste, dass eine Order, die seit fünf Wochen unterwegs war, und deren Erfüllung frühestens in einem halbem Jahr überprüft werden konnte, weil dann die Flüsse wieder schiffbar waren, eine reduzierte Dringlichkeit hatte. Sie mochte eindeutig und autoritär formuliert worden sein, sowohl der Aussteller als auch der Empfänger waren sich der einschränkenden Wirkung des Raumes bewusst. Die räumliche Entfernung beschränkte darüber hinaus auch die Sanktionsmöglichkeiten deutlich. Die Nürnberger hängen keinen – sie hätten ihn denn zuvor, sagt ein altes Sprichwort seit der Raubritter Eppelein von Gailingen (1320-1381) sich dem Nürnberger Henker durch Flucht entzog. Es ist wichtig, diese grundlegende Erfahrung zu verstehen, die die Welt der Geschichte von unserer heutigen Erfahrung so sehr unterscheidet. Einem jugendlichen Zeitgenossen, der sein Leben online organisiert, sind die Kommunikationsbedingungen dieser alten Welt vollständig fremd. Aber sie haben die Lebensordnungen über viele Jahrhun-

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1. Ausgangslage

derte geprägt. Sobald eine Ordnungsvorschrift im älteren Europa eine gewisse Universalität erlangte, galt sie für Menschen unter sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen. Es war ein erheblicher Unterschied, ob man in den warmen Regionen des Mittelmeeres oder im kühleren Skandinavien mit weniger Menschen, anderer Tradition und anderer Vegetation lebte. Es war auch ein deutlicher Unterschied, ob man im Süden Frankreichs oder im atlantischen Norden lebte. Die Verantwortlichen mussten die Anweisungen vor Ort umsetzen. Das Temperament der Menschen, das Wetter, die Erfordernisse der Ernte, die Jagdsaison – es gab viele Hindernisse, die sich einer königlichen Order entgegenstellten. Und der König hatte nur wenige Möglichkeiten, die Umsetzung zeitnah zu kontrollieren. Im kirchlichen Bereich kam das Übersetzungsproblem hinzu, wenn Anweisungen auf Latein formuliert waren, aber für die Umsetzung in die lokale Sprache übersetzt werden mussten. Da ergaben sich manche Möglichkeiten der Interpretation. Auch Rückfragen waren im Alltag über längere Entfernung kaum möglich. Sie verzögerten die Umsetzung einer Anweisung zu sehr. Aus diesem Grund formulierten die Verantwortlichen oder die Herren ihre Anweisungen strikt und präzise – in der Erwartung, dass so zumindest ein Teil ihres Anliegens die Adressaten erreichte. In der gefährlichen Hektik stürmischer See mussten Kommandos kurz und klar sein. Missverständnisse gefährdeten Menschenleben, das Schiff und die Ladung. Wenn bei ruhiger See über den Kurs oder die Strategie gesprochen wurde, herrschte ein anderer Ton. Die moderne Kommunikation ermöglicht die schnelle und präzise Übermittlung von Anweisungen. Rückfragen sind technisch zeitnah möglich. Diese Veränderung hat Auswirkungen auf den Charakter der Nachricht. Sie kann bei gleicher Verbindlichkeit milder formuliert werden. Eine Order ist noch keine Norm, und eine Norm ist noch kein Wert. Aber es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Anweisungen, die zunächst für Einzelfragen ergingen und allgemeinen Normen, die daraus abgeleitet wurden. Der römische Senat oder der Kaiser, wie auch später der mittelalterliche Papst, beriefen sich bei ihren Entscheidungen auf die Grundwerte der römischen Verfassung oder der kirchlichen Ordnung. Und aus den Einzelentscheidungen gingen jene großen Rechtssammlungen hervor, die das Rechts- und das Wertebewusstsein Europas in vieler Hinsicht

1. Ausgangslage

17

nachhaltig prägten. Auch wenn Werte in der Regel nicht gerichtlich einzufordern sind, weil die ethischen Pflichten wie Kant uns erinnert, von weniger enger Verbindlichkeit sind, als die Rechtspflichten, besteht zwischen Rechtsordnung und ethischer Ordnung doch ein enger, gewissermaßen symbiotischer Zusammenhang.5 Es ist daher wichtig, dass wir uns daran erinnern, dass bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als Telegraf und Eisenbahn die Nachrichtenübermittlung enorm beschleunigten, die Kommunikationsgeschwindigkeit von der Geschwindigkeit und Belastbarkeit der Pferde abhing. Ein einzelner Bote, der sein Pferd nicht wechseln konnte, und das war bis in das 15. Jahrhundert häufig der Fall, konnte kaum mehr als 40 km am Tag zurücklegen. Das war etwa die Strecke, die auch der Läufer von Marathon bewältigt hatte – allerdings um einen höheren Preis. Erst im 15. Jahrhundert begannen die großen Handelshäuser mit dem organisierten Aufbau eines Nachrichtenwesens, das die wichtigen kaufmännischen Zentren wie Brügge und Venedig verband. Mit einer gewissen Infrastruktur und häufigerem Pferdewechsel gelang es, die Geschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung etwa zu vervierfachen. Aber die Kommunikation verblieb ein mühsames, langsames und auch stets gefährdetes Unterfangen. In einer solchen Welt wirkt die Entfernung dämpfend auf alle Anliegen und Ansprüche. Sie lässt den Akteuren vor Ort einen größeren Freiraum. Eine solche dämpfende Funktion der Entfernung ist in der heutigen Welt kaum noch möglich. Weltweite Vernetzung und internationaler Datenfluss machen es schwierig, sich dem Zugriff der Behörden dauerhaft zu entziehen, wenn nicht die Grenzen juristischer Zuständigkeit durch politische Motive gestärkt werden. Eine Weisung, die per Internet zugestellt wird und deren Durchführung ebenso schnell über das Netz überprüfbar ist, hat dagegen einen anderen Charakter. Auch sie wird selten „eins zu eins“ umgesetzt, aber sie lässt deutlich weniger Interpretationsspielraum. Sie lässt auch weniger Zeit zum Nachdenken über die Umsetzung. Diese Entwicklung wird in diesem Essay eine gewisse Rolle spielen. Kommunikations-, Reaktions- und Sanktionsgeschwindigkeit haben sich in so dramatischer Weise beschleunigt, dass sie auf den Charakter der übermittelten Norm selbst zurückwirken. Die Menschen sind heute in einem Maße in kommunikative Netzwerke eingebunden, wie dies noch vor einer

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1. Ausgangslage

Generation unvorstellbar war. Die Praxis mancher Verwaltungen oder zentraler Institutionen, in wichtigen Anliegen mit der Entscheidung mehrere Monate oder gar ein Jahr zu warten – notwendig in Zeiten, in denen die Zentrale selber vor Ort noch Fragen zu klären hatte, weswegen die Boten Zeit brauchten -, erscheint heute als Relikt aus höfischer Zeit. Die Krisen der Gegenwart entwickeln sich mitunter im Minutentakt. Die Verbindung dieser beiden Veränderungen, der tatsächlichen Geltung von Normen für alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder Beruf mit der Möglichkeit eines fast unmittelbaren Zugriffs auf das einzelne Individuum hat die Wirkungsbedingungen unserer Werteordnung entscheidend verändert. Dazu kommt die enorme Erhöhung der Zahl der kommunizierenden Menschen. Eine Werteordnung kann den Lebensrhythmus der Gesellschaft, in der sie gilt, nicht ignorieren. Die Perspektive, die wir hier verfolgen möchten, hat bislang in der Wertediskussion keine bedeutende Rolle gespielt. Ein historischer Blickwinkel hilft jedoch, die Erwartungen an die Ordnungen, die das menschliche Miteinander regeln, in einem realistischen Licht zu sehen. In der Regel befreit die tatsächliche Beschäftigung mit der Geschichte von den Lockungen der Nostalgie. Und sie sollte uns in Hinblick auf die Erwartungen an die gesellschaftlichen Wertvorstellungen daran erinnern, dass die Geschichte sich zwar mit der Vergangenheit beschäftigt, sie liest diese Vergangenheit aber nicht als Vergangenheit, sondern als die Gegenwart, die sie einmal gewesen ist. Der Weg zu einem eigenen respektablen Platz in der künftigen Geschichte wird nicht über die Hinwendung zur Vergangenheit gewonnen, sondern wir gewinnen ihn in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen unserer Gegenwart. In Hinblick auf unsere Gegenwart sollten wir die Frage stellen, welche Freiräume ein verbindlich formuliertes Wertsystem braucht, dessen Beachtung zeitnah eingefordert und überprüft werden kann. Der ethisch verantwortliche Mensch braucht eigene Spielräume und eigene Entscheidungsmöglichkeiten. Und gelegentlich braucht er oder sie Zeit zum Nachdenken. Eine Antwort auf die Frage nach der Verbindlichkeit einer modernen Werteordnung kann ein historischer Essay nicht geben. Aber er kann die Wirkungsbedingungen und Wirkungshorizonte der Wertvorstellungen vergangener Epochen skizzieren, um einen

1. Ausgangslage

19

Vergleich zu ermöglichen. Es ist die große Stärke der Geschichte, dass sie uns ermöglicht, unsere Lebensbedingungen und –erfahrungen in Beziehung dazu zu setzen, was für andere Menschen möglich und erträglich war. In diesem Sinne ist die Relativierung die Arbeit an dem richtigen Maß. Für die modernen Europäer ist bei diesem Rückblick ein historischer Graben zu überbrücken, dem wir heute vor allem in anderen Teilen der Welt, selten dagegen auf unserem Kontinent begegnen. Es ist ein Graben, der Menschen, menschliche Milieus und ihre Lebensweisen unüberbrückbar voneinander trennte. Die Menschen, denen wir in diesem Essay begegnen, waren in der Regel nicht der Überzeugung, dass sie das Leben ihrer Nachbarn etwas anginge, wenn diese Nachbarn eine andere Herkunft hatten, oder einem anderen Glauben anhingen. Man lebte nebeneinander, nicht immer friedlich, aber in der Regel desinteressiert. Es gab praktische Gemeinsamkeiten in der Enge der vormodernen Stadt, und dort gab es gemeinsame Regeln. Aber an den Regeln und Werten, nach denen die Anderen ihr Leben ausrichteten, nahm man keinen Anteil und keinen Anstoß. Diese Erfahrungen machen moderne Europäer nur in Großstädten mit namhaften Migrantenanteilen. Wir sehen es ansonsten nicht so, dass uns das Schicksal eines Mädchens nichts anginge, das in der Mitte unserer Gesellschaft gegen seinen Willen verheiratet wird. Diese Anteilnahme kann in Einmischung umschlagen, wenn sie zentrale Wertvorstellungen einzelner Menschengruppen auf den Prüfstand stellt. Manchmal ist diese Einmischung nötig, wenn es um den Schutz von Menschen geht. Aber sie schafft Konflikte, und da es um Fragen geht, an denen sich das Leben ausrichtet, sind sie kaum einvernehmlich zu lösen. In der Geschichte wurden sie zumeist durch herrschaftliche Entscheidungen gelöst. So wich das Nebeneinander, das die Lebensformen und Wertvorstellungen der Vormoderne lange prägte, erst sehr langsam einer Werteordnung, die bestimmte Wertvorstellungen für alle Menschen als verbindlich ansah. Die Durchsetzung dieser verbindlichen Ordnung für alle Menschen innerhalb eines Gebietes wurde erst möglich durch die Errichtung klarer Grenzen. Der Schritt zu der Verbindlichkeit universaler Werte für die Menschen der westlichen Welt gelang auf der Grundlage einer Einteilung dieser Welt in Nationalstaaten. Bei aller Universalität grenzte man sich in diesen Staaten gegenei-

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1. Ausgangslage

nander ab. Es ist eine der großen Fragen unserer Zukunft, ob die Durchlässigkeit unserer nationalen Grenzen in der Gegenwart ein neues Nebeneinander der Lebens- und Werteordnungen hervorbringt. Anzeichen dafür gibt es. Wir können die Geschichte nicht zurückdrehen. Daher stehen wir vor der Frage, wieviel universale Verbindlichkeit und wieviel Freiräume für unterschiedliche Lebensentwürfe wir in unseren modernen Gesellschaften benötigen werden. Es ist keine einfache Frage, und der Blick in die Geschichte zeigt, dass Konflikte zu erwarten sind. Der Blick zeigt aber auch, dass beide Modelle, die unabhängigen Parallelgesellschaften und die universale Ordnung, ihre jeweiligen Vorteile und ihre Grenzen haben. Wie die Entscheidung auch fallen wird, und es ist zu erwarten, dass sie in den verschiedenen Ländern unterschiedlich ausfällt, sie bedeutet nicht das Ende der Geschichte. Die Klage über den Relativismus unserer Werte ist heute eine hörbare Stimme in der gesellschaftlichen Diskussion und die Frage nach der Verbindlichkeit dieser Wertvorstellungen in den jeweiligen Epochen der europäischen Geschichte durchzieht diesen Essay wie ein Leitmotiv. Es sei schon hier vorausgeschickt, dass die Klage über die Uneinheitlichkeit der Lebensregeln auf eine sehr alte kirchliche Tradition zurückblicken kann. Es ist eine Tradition der kirchlichen Klage über die Zustände in der Welt, die sich diese Welt nie zu Eigen gemacht hat. Insofern erleben wir in unserer Zeit keine wirkliche Neuerung. Auch wenn die jeweiligen Klageführer diesen Eindruck für ihre Zeit gern erwecken. Papst Benedikt XVI. hat in den vergangenen Jahren in verschiedenen lesenswerten Büchern die Krise der Werte in der gegenwärtigen Zeit beklagt.6 Und ein Satz wie: Im Prozeß der Begegnung und Durchdringung der Kulturen sind ethische Gewißheiten weitgehend zerbrochen, die bisher tragend waren, würde wohl bei vielen Zeitgenossen auf Zustimmung stoßen.7 Doch bleibt unklar, was der so beklagte Relativismus eigentlich bedeutet. Das Recht auf ein eigenes, selbstbestimmtes Leben, den Respekt vor dem anderen, stellt kaum eine der Kulturen in Frage, die sich im Prozess der Globalisierung begegnen. Die ethischen Grundpositionen der verschiedenen großen Religionen und ihrer in unterschiedlichen Graden säkularisierten Hochkulturen sind in vieler Hinsicht vergleichbar. Der römische Rechtsgelehrte Ulpian hat diese Grundlage eines friedlichen Miteinander im frühen dritten Jahr-

1. Ausgangslage

21

hundert n. Chr. auf die Formel gebracht: ehrenhaft leben, dem anderen nicht schaden, jedem das seine zugestehen (honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere). Papst Benedikt beklagt den Verlust des Wahrheitsanspruches, der für ihn die eigentliche Stütze gesellschaftlicher Werte ist. Werte sind tragend, weil sie wahr sind. Wir sprechen dabei heute lieber von Werten als von Wahrheit, um nicht mit dem Toleranzgedanken und dem demokratischen Relativismus in Konflikt zu geraten.8 In der historischen Perspektive ist dieses Leiden an relativen Wertvorstellungen, die nicht aus der Wahrheit, sondern aus einem Abstimmungsprozess hervorgehen, allerdings überraschend. Denn die Forderung, dass das friedliche Zusammenleben der Menschen auf Regeln basieren müsse, die in einer gesellschaftlichen Meinungsfindung begründet seien (und damit wandelbar sind), und die nicht auf einer (päpstlich vermittelten) Wahrheit gründen, ist älteren Datums. Sie wurde erstmals von dem italienischen Arzt Marsilius von Padua im 14. Jahrhundert formuliert.9 Die großen Fragen des menschlichen Zusammenlebens sind Fragen von langer Dauer. Doch muss der Autor noch Rechenschaft darüber ablegen, was er in diesem Essay unter Werten versteht. In den meisten der hier untersuchten Texte kommt der Begriff in der heutigen Bedeutung nicht vor. Das Wort kam auf dem Weg über die Ökonomie, wo es für den Preis einer Ware oder einer Leistung steht, in die Philosophie. Dies geschah im 19. Jahrhundert. Seit etwa 1850 erfuhr der Begriff eine verstärkte Verwendung bei den Ökonomen, mit dem Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Philosophen von Werten zu sprechen, wenn sie nach dem Guten fragten.10 Dieser Wechsel von der Frage nach dem Guten zu der Frage nach den Werten bedeutete mehr als eine Änderung der Begrifflichkeit. Mit der Frage nach den Werten kommt der jeweilige Betrachter in den Blick, für den die Dinge einen Wert haben. Dieselbe Sache kann für verschiedene Menschen einen verschiedenen Wert haben. Mancher kauft lieber ein Haus als ein Kunstwerk. Insofern ist die Frage nach der Werteordnung immer auch eine Frage nach dem Betrachter, bzw. nach dem Handelnden. Für die Gegenwart ergibt sich daraus die Frage, ob die Werthaltigkeit unserer Lebensordnung grundsätzlicher Natur ist, also immer auch vom Standpunkt des Betrachters abhängt. So wie in der Teilchenphysik die Heisen-

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1. Ausgangslage

bergsche Unschärferelation im frühen 20. Jahrhundert den Einfluß des Beobachters auf die Beobachtung als ein notwendiges Prinzip formulierte, fand die Wertephilososphie in dieser Zeit zu einer standpunktabhängigen Wertediskussion als eine in der Sache begründete Form der Auseinandersetzung. In beiden Fällen ist die Berücksichtigung des Beobachters keine lästige Notwendigkeit. Sie ist unverzichtbar. Nur durch den Beobachter wird das Bild vollständig. Nur durch ihn entsteht es überhaupt in der untersuchten Weise. Dieser Befund liegt der liberalen demokratischen Ordnung zugrunde. Wobei die Feststellung, dass die Ordnung der Welt für den einzelnen Beobachter mit seinem Verstand nicht vollständig zu erfassen ist, und dass unterschiedliche Beobachter zu unterschiedlichen Schlüssen kommen konnten, auch im späten Mittelalter viele Anhänger hatte. Dass sie erst im frühen 20. Jahrhundert in dieser systematischen Form erfasst wurde, ist bemerkenswert, muss uns aber nicht überraschen. Diese Neuorientierung ethischer Überlegungen im frühen 20. Jahrhundert geht einher mit einer Umwälzung alter europäischer Ordnungen. Und die grundsätzliche Einbeziehung des Beobachters, also des menschlichen Akteurs, in das naturwissenschaftliche Weltbild und in die Ordnung der Welt lässt auf einer anderen Ebene ein neues Verhältnis des Menschen zur Beschaffenheit und zum Schicksal der Welt erkennen. Erst durch den Menschen wird die Welt zu der Welt, die sie ist – oder die sie sein soll. Eine solche Wirkungsmacht hat das menschliche Handeln erst in der Moderne erhalten. Es ist eine Entwicklung, die die Unerbittlichkeit der Kämpfe um die menschlichen Anteile an dieser Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf grausame Weise befördert hat. Eine differenzierte Nutzung der Begriffe, die dieser historischen Entwicklung Rechnung tragen würde, erschwert die Lesbarkeit des Textes. Nur aus diesem Grund wird daher auch für die früheren Epochen der Geschichte von Werteordnungen die Rede sein. Die Werteordnungen, um deren Wirkungsmöglichkeiten es im Folgenden geht, sind jene Ordnungen, die den handelnden Menschen die Orientierung darüber geben, was richtig ist und was falsch. Was sollen wir tun, was dürfen wir nicht tun? Der erste Teil der Frage ist eine Herausforderung für die Ethik, der zweite Teil auch eine Aufgabe der Juristen. Die Einhaltung von Verboten ist leichter zu überprüfen als die Erfüllung ethischer Pflichten. In

1. Ausgangslage

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der gegenwärtigen Wertediskussion kommt die Unterscheidung der Sphäre der Ethik von der des Rechts mitunter zu kurz. Nicht jede Verfehlung ist eine Angelegenheit des Strafrechts, nicht jede Sünde kann einen weltlichen Richter finden. Den Zeitgenossen in den hier untersuchten Epochen waren diese Unterschiede zumeist bewusst. Jedoch gab es auch Phasen, in denen besorgte Akteure begannen, die Möglichkeiten des Rechts für die Verteidigung ihrer Werte stärker zu beanspruchen, als dies sinnvoll war. Zumeist siegte das Augenmaß. Es mag ein Hinweis auf den Wandlungscharakter unserer Zeit sein, dass es immer wieder Stimmen gibt, die ihre Wertvorstellungen in unsere Verfassung übernehmen möchten. Den Wandel halten diese Initiativen nicht auf. Das Verhältnis der ethischen Grundüberzeugungen, die das soziale Leben prägen und verändern, zu den Rechtsvorschriften, die ihm eine Grundstruktur geben, ist immer ein vorläufiges. Der Blick in die Geschichte eröffnet eine Vergleichsperspektive. Der Blick in die Gegenwart und in die Zukunft bleibt dabei eine Aufgabe für die jeweiligen Zeitgenossen.

2. Die Achsenzeit: die Zehn Gebote Die Zehn Gebote im Königreich Juda – Der Anspruch der jüdischen Tradition Unser Weg nimmt seinen Ausgang am Mittelmeer. Im Umkreis des Mittelmeeres schlug in den langen Jahrhunderten von der Antike bis in die Zeit Karls des Großen der Puls der europäischen Kultur. Das bedeutet nicht, dass es im Europa nördlich der Alpen keine eigenständigen Kulturen gab. Aber die Überlieferung erlaubt es nicht, ihren Pulsschlag zu messen. Und als die schriftliche Überlieferung einen differenzierteren Blick auf das nördliche Europa ermöglichte, stand dies zunehmend unter dem Einfluss des römischen Reiches mit dem Zentrum um das Mittelmeer. Als Ausgangszeit wählen wir eine Phase, in der die Fragen nach dem richtigen Handeln der Menschen, nach den Wertvorstellungen, an denen sie sich orientierten, danach, wie man richtig leben sollte, in aller Klarheit gestellt wurden. In einer Klarheit, die uns heute, zweieinhalb tausend Jahre später, in ihrer Aktualität noch immer gefangen nimmt, wenn wir die distanzierende Wirkung einer anderen Sprache überwinden. Auch die Antworten, die vor etwa zweieinhalbtausend Jahren im alten Israel und in Athen gegeben wurden, vermögen uns heute noch etwas zu sagen. Karl Jaspers hat diese Zeit, in der die für die menschlichen Kulturen maßgeblichen Fragen und Antworten so grundsätzlich gestellt wurden, dass diese Auseinandersetzung mit dem menschlichen Schicksal bis heute nachwirkt, Achsenzeit genannt.1 Seine Skizze der menschlichen Geschichte liegt über ein halbes Jahrhundert zurück und entspricht in manchem nicht mehr dem heutigen Geschichtsverständnis. Wir sind historischen Gesetzmäßigkeiten gegenüber skeptisch geworden. Aber Jaspers vergleichende Beobachtungen zu den Anfängen der menschlichen Auseinandersetzung mit den eigenen Möglichkeiten und den eigenen Grenzen geben einen bedeutenden Impuls zu Beginn. Von dem,

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2. Die Achsenzeit: die Zehn Gebote

was damals geschaffen und gedacht wurde, lebt die Menschheit bis heute. In jeder ihrer neuen Aufschwünge kehrt sie erinnernd zu jener Achsenzeit zurück.2 Jaspers spannte einen weiten Bogen von Europa über Indien bis nach China, neben Sokrates bezog er auch Buddha in seine Perspektive mit ein. Die zehn Gebote finden bei ihm keine Berücksichtigung, dafür stehen sie in dieser Untersuchung am Anfang. Das hat seinen Grund in ihrer Bedeutung für die Geschichte unserer Wertvorstellungen, und die zehn Gebote würden sich nach den Forschungen der letzten Jahrzehnte zeitlich in das Umfeld der Achsenzeit einfügen. Die Wissenschaft hat wenig Respekt vor Helden. Moses, der auf dem 40jährigen Zug durch die Wüste die Israeliten zusammenhielt, und die Zweifler und Abtrünnigen an die Abmachung mit Gott erinnerte, widerstand den kritischen Fragen der Forschung zum Alten Testament nicht. In den modernen Darstellungen zur Geschichte des Volkes Israel und des Heiligen Landes kommt er als handelnde Person nicht mehr vor. Die Gelehrten halten ihn für eine Fiktion. Da helfen auch die Erinnerungen an Charlton Heston nicht. Die zehn Gebote (der Dekalog), die in ihrer langen Geschichte unterschiedliche Konjunkturen erlebt haben, würden neben der Bergpredigt wohl noch heute als eine Kurzfassung einer Ethik aus jüdisch-christlicher Tradition gelten. Mitunter galten sie dabei als knappe Fassung eines naturrechtlichen Regelwerkes, das allen Menschen, auch denen, die nicht jüdisch oder christlich waren, einleuchten musste. Ursprünglich waren sie allerdings für die Menschen formuliert, die sich dem Volk Israel zugehörig fühlten. Es sind einfache Sätze. Das gilt für ihren Inhalt. Mit ihrer Zählung verhält es sich ein wenig anders, denn die verschiedenen Traditionen verwenden eine unterschiedliche Zuordnung der mehr als zehn Sätze zu den Zehn Geboten. Wir geben hier die Zählung der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche wieder, die von der jüdischen Tradition und den Zählungen der anderen christlichen Konfessionen etwas abweicht. 1. 2. 3.

Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben außer mir. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Gedenke des Sabbats. Halte ihn heilig.

2. Die Achsenzeit: die Zehn Gebote

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4. Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt. 5. Du sollst nicht töten. 6. Du sollst nicht die Ehe brechen. 7. Du sollst nicht stehlen. 8. Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen. 9. Du sollst nicht begehren deines nächsten Haus. 10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch sein Eigentum. Der Dekalog ist im Alten Testament zweifach überliefert: im Buch Exodus (20,5-17) und im Buch Deuteronomium (5,1-21). Nach heutigen Kenntnissen wurden die 10 Gebote im 6. oder 5. Jahrhundert v. Chr. formuliert. Mit dem Verschwinden von Moses aus der Tradition ist auch die Übergabe der Tafeln in Wolken und Donner auf dem Berg Sinai verblasst. Die zehn Gebote erscheinen nun als Kernbestand des Buches Deuteronomium, das in einer schweren politischen Krise der israelitischen Stämme eine gemeinsame Identität stiftete. Der historische Hintergrund jener Wanderungserzählung, die das Volk Israel aus Ägypten durch die Fluten des Schilfmeeres, auf den Sinai und auf die langen Züge durch die Wüste mit ihren Anfechtungen schließlich in das gelobte Land führte, in dem Milch und Honig flossen, war wohl ein langer Prozess, in dem nomadische Stämme im Gebiet des späteren Israel langsam sesshaft wurden. Lange Zeit lebten diese Menschen in Dörfern, die sich in Stammesformationen zusammenschlossen. Erst in der Zeit von David und seinem Sohn Salomon, im zehnten vorchristlichen Jahrhundert, kam es für wenige Jahrzehnte zu einem politischen Zusammenschluss der verschiedenen Stämme zu einem Königreich. Als Salomons Sohn Rehoboam den herrschaftlichen Zugriff auf die Stämme seines ererbten Reiches verstärken wollte, provozierte er eine Erhebung. Das Reich zerfiel, und um 930 v. Chr. kam es zunächst im Norden zur Gründung des Königreichs Israel (beiderseits des Jordan), im Süden schloß sich das Reich Juda an. Juda besaß keinen eigenen Zugang zum Meer, da die Küste Gebiet der Philister war. In der Mitte des achten vorchristlichen Jahrhunderts gerieten die Reiche unter die Hegemonie der Assyrer. Die Gewalt der Assyrer beendete das Königreich Israel. Juda, mit Jerusalem, konnte sich behaupten. Als die Macht

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2. Die Achsenzeit: die Zehn Gebote

der Assyrer langsam schwand, führte König Josiah im Königreich Juda in seiner dreißigjährigen Herrschaft (640-609 v. Chr.) eine Reihe religiöser Reformen durch, die die Bindung seiner Untertanen an Jahwe und an Jerusalem nachhaltig stärken sollten. Kultstätten anderer Götter wurden zerstört. Literarischen Niederschlag fanden diese Reformen, die die kultische Stellung Jerusalems stärkten, in dem Buch Deuteronomium (Das wiederholte Gesetz). Dabei ist die Zeit, in der die bis heute im Alten Testament überlieferte Fassung fertiggestellt wurde, etwas unklar. Deuteronomium überliefert die längere der beiden Fassungen des Dekalogs, der durch seine Konzeption eng mit den Vorschriften des Buches verbunden ist. Die Abfassung und die Überarbeitung zog sich über längere Zeit hin, und die letzte Fassung mag nach heutiger Annahme etwa um das Jahr 500 v. Chr. zu datieren sein. Das Buch Deuteronomium ist das letzte der fünf Bücher Mose, der jüdischen Tora. Es endet mit dem Tod des Mose, dem Gott noch einen Blick auf das Land gewährte, zu dem er sein Volk geführt hatte, das er aber nicht mehr betreten durfte, weil die Israeliten auf ihrem Zug durch die Wüste wiederholt gegen Gottes Weisungen verstoßen hatten. Das Buch Deuteronomium bildet eine Art Vermächtnis des Moses, und damit einen Kernbestand der jüdischen Identität. Denn das Schicksal des Volkes hing nach seinem eigenen Selbstverständnis von seinem besonderen Bund mit Gott ab. Im Gegenzug für die Treue zu Gottes Geboten sicherte ihnen Gott ein Leben in dem Land zu, das er ihnen gewiesen hatte, und in dem Milch und Honig flossen. Es floss auch viel Blut. Auch davon wissen die folgenden Bücher des Alten Testaments zu berichten. Leider ist das Thema der Gewalt nicht nur ein Thema alter Bücher über die Geschichte dieses besonderen Landes, sondern eine Frage, die bis in die Gegenwart mit Unerbittlichkeit beantwortet wird. Mit einer Unerbittlichkeit, die die Frage nach dem Charakter der Gebote aufwirft, die das Herzstück des Buches Deuteronomium bilden, und dessen fünftes lautet: „Du sollst nicht töten“. Tatsächlich war es ein Gebot für das Volk Israel und es galt nur innerhalb des Volkes Israel. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Text des Buches Deuteronomium hat gezeigt, dass er in der Anlage viele Übereinstimmungen mit Vasallenverträgen aufwies, durch die die Assyrer in dieser Zeit ihre Hegemonie in der Region festigten. Die Verträ-

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ge enthielten Verhaltensregeln für die Unterworfenen, die diese sich regelmäßig in Erinnerung rufen mussten. Im Gegenzug dazu gewährte der assyrische König dem unterworfenen König und seinen Untertanen Schutz. Es war ein exklusiver Vertrag, der die neuen Vasallen auf einen Herrn verpflichtete. Diese Verträge waren die formale Vorlage für das Regelwerk des fünften Buches der Tora, das die zehn Gebote überlieferte. Anders als die Vasallenverträge der Assyrer aber verpflichtete dieser Vertrag die Juden nicht auf einen Herrscher, sondern auf Jahwe. Wenn die Juden ihren Teil des Vertrages einhielten, so würde Jahwe ihren Fortbestand sichern. Vertragstreue und eigenes Wohlergehen standen in einem klaren Zusammenhang. So wie das vierte Gebot: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.“ Die zehn Gebote, die das Herz dieses Vertrages bildeten, lassen sich bei regelmäßiger Wiederholung gut im Gedächtnis behalten. Sie bildeten ein Basisregelwerk für das jüdische Leben. Ihr religiöser Charakter ist unübersehbar (Gebote 1-3). Doch gehen sie über die Religion und die kultischen Vorgaben (Sabbatheiligung) deutlich hinaus. In der späteren christlichen Überlieferung hat sich diese Unterteilung in die Gebote der Gottesverehrung (1-3) und die sozialen Pflichten, bzw. Verbote (4-10) durchgesetzt. Dabei erwiesen sich die Gebote der zweiten Tafel (4-10) als so allgemeingültig, dass sie von vielen Autoren und verschiedenen christlichen Traditionssträngen im Grunde als ein naturrechtlicher Text gelesen wurden, der das Gesetz formulierte, das nach Paulus auch allen Heiden ins Herz geschrieben ist. Auch die, die nicht an Jahwe glaubten, hatten Vater und Mutter, wollten nicht getötet werden, sahen ihr Eigentum gern in Sicherheit, und schätzten es nicht, wenn die eigene Frau unangemessenes Interesse wachrief. Das hat sich kaum geändert. Und doch: So universal diese Regeln der zweiten Gesetzestafel erscheinen – auch sie waren Teil eines Regelwerkes, das zu seiner Abfassungszeit nur für die Stämme Israels Geltung beanspruchte. Höre, Israel, die Gesetze und Rechtsvorschriften, die ich Euch heute vortrage. Ihr sollt sie lernen, auf sie achten und sie halten (Dt. 5,1). So beginnt die Erzählung von der Verkündung der zehn Gebote. Die Gebote sind Gebote für das Volk Israel, für dessen Identität sie eine besondere Bedeutung erhalten. Sie richteten sich nicht an Menschen außer-

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halb dieses Empfängerkreises. Andererseits eröffnete gerade die besondere Verbindung von größtmöglicher Authentizität und direkter persönlicher Ansprache an den Einzelnen den Bestimmungen des Dekaloges eine Wirkungsgeschichte, die weit über den ursprünglichen Adressatenkreis hinausging. Immerhin waren die Gebote von Gott selbst aufgeschrieben worden – Er schrieb sie auf zwei Steintafeln und übergab sie mir (Dt 5,22). Dass das Christentum sich als berechtigter Nachfolger der jüdischen Tradition verstand, demselben Gott verpflichtet, dessen Gebote das Neue Testament nicht entkräftete, sondern mit einer eigenen Freiheit bewahrte, eröffnete den zehn Geboten erweiterte Wirkungsmöglichkeiten, wo klare Regeln gefragt waren. Der Kirchenvater Augustinus, Karl der Große und Thomas von Aquin nahmen Bezug auf die Gebote. Und als Martin Luther mit seiner besonderen Wertschätzung für das geschriebene Gotteswort allein, die zehn Gebote in seinen kleinen Katechismus aufnahm, wie sie ein Hausvater seinem Gesinde einfeltiglich fürhalten sol, eröffnete sich durch den Buchdruck ein weites Wirkungsfeld.3 Auch auf die Naturrechtslehre der Neuzeit, auf die noch einzugehen ist, haben die Regeln der zweiten Tafel eingewirkt.4 Ein Text in dieser Form und Vermittlung fand Eingang in die Sammlung menschlicher Satzungen, auch wenn über seine Geltung und Verwendung die Ansichten weit auseinandergingen. Doch sollten wir uns in der historischen Betrachtung daran erinnern, dass erst die weitere menschliche Geschichte den Wirkungshorizont der Zehn Gebote über die Ländereien der Stämme Israels hinaus erweitert hat.

3. Die Achsenzeit: Das klassische Athen Sokrates, Aischylos und Antigone – Naturrecht: Das Gewissen und die menschlichen Gesetze – Die Stimme der Macht – Die Ethik des Aristoteles Sokrates: „Was gerechte Menschen und Handlungen sind, dünken sich darüber die Leute übereinzustimmen jeder mit sich selbst und alle untereinander?“ Alkibiades: „Nichts weniger als das, beim Zeus, O Sokrates!“ Sokrates: „Sondern wie? Über die Maßen uneinig zu sein hierüber?“ Alkibiades: „Gar sehr.“ Platon, Alkibiades.1

Die zehn Gebote sprachen den Einzelnen an, geboten ihm Grundregeln für sein Leben und für das Leben in der Familie. Doch war bei dieser Ansprache klar, dass für alle angesprochenen Individuen der Stämme Israels dieselben Regeln gelten sollten. In jeder entwickelten Rechtskultur, und in jeder sozialen Situation, die nur ein Mindestmaß an Komplexität erreicht hat, bedarf das Recht der Auslegung. Galt das Verbot der Tötung gegenüber jedem anderen Juden oder gab es Ausnahmen? Durfte man von Rechts wegen töten? Wie verhielt man sich Eltern gegenüber, die einen als Kind misshandelten oder die die anderen Geschwister in einer Weise vorzogen, die Unrecht war? Durfte man unter bestimmten Bedingungen falsch Zeugnis ablegen? Etwa, um einen Menschen zu schützen? Für diese Fragen bot das Buch Deuteronomium keine direkten Antworten. Der Vertrag Gottes mit seinem Volk hatte nicht den Charakter eines Dialogs. Daher bleiben für den modernen Leser viele Fragen offen, ebenso wie für die Leser und Hörer in den vielen Jahrhunderten, seit dieser Text entstanden ist. Einen deutlich anderen Zugang zu den Fragen nach dem richtigen Leben vermitteln die Texte, die in vergleichbarer Zeit und in dem folgenden Jahrhundert in Athen entstanden: die Tragödien von

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3. Die Achsenzeit: Das klassische Athen

Aischylos, Platons Überlieferung der Dialoge von Sokrates, die Ethik des Aristoteles. Sie sind Zeugnisse einer anderen Welt. Einer Welt, deren Blick sich auch in den Zeiten starker Ausdehnung des attischen Seebundes nicht auf Jerusalem richtete, wo es wenig zu sehen gab. Das Perserreich lag zwischen ihnen, mit dem Juden und Griechen sehr unterschiedliche Erfahrungen machten. Die Siege über die Perser und die Zurückweisung ihres Herrschaftsanspruches war für die Athener des fünften vorchristlichen Jahrhunderts ein Kern ihres Selbstverständnisses. Ihre wachsende Dominanz in Griechenland verdankten sie auch ihrer Rolle bei den Siegen über die Perser. In dieser Zeit entstand in Athen eine Atmosphäre und eine Kultur, die eine völlig neue Dimension menschlicher Existenz (Ch. Meier) erschloß.2 Die Themen, die Positionen, die Probleme, Fragen und der Widerspruch erscheinen uns mitunter von frappierender Modernität, und von einer psychologischen Feinheit, die die zweieinhalb Jahrtausende als kurze Zeit erscheinen lassen. Das gilt freilich nur für diese besondere Perspektive, denn die Welt der Athener des fünften und beginnenden vierten vorchristlichen Jahrhunderts hatte auch Züge, die einen modernen Betrachter darin zurückhalten, jenes modern erscheinende Menschenbild überzubewerten. Die enorme Wirkung, die das Denken und das politische Handeln der Athener jener Zeit für die Nachwelt entfalteten, darf den Blick dafür nicht verstellen, dass die Welt des Aischylos, des Sokrates, des Platon und Aristoteles, nach heutigen Maßstäben eine kleine Welt war. Die Zahl der Bürger, die das Bild Athens als das einer Demokratie mit aktiver Bürgerbeteiligung prägte, deren Versammlungen über die Verfassung und die Gesetze ihrer Polis berieten, stritten und abstimmten, betrug etwa 40. 000 Männer. Die Zahl der Sklaven war etwa gleich hoch, dazu kamen noch etwa 10 – 20.000 Fremdarbeiter aus anderen Teilen Griechenlands. Sie genossen Schutz, hatten aber keine Mitwirkungsrechte in den Volksversammlungen. Frauen waren an den Entscheidungen nicht beteiligt. Es war eine vielschichtige und tatkräftige Welt, die ihr Handeln eingehend reflektierte. Aber es war auch eine überschaubare Welt. Eng war sie nicht. Einem weiten Geist wie Sokrates war sie genug, denn sonst würdest du ja wohl nicht so vorzüglich vor allen Athenern immer einheimisch darin geblieben sein… noch auch hat dich jemals Lust angewandelt andere Städte

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und andere Gesetze zu sehen, sondern wir genügten dir und unsere Stadt. So ließ Sokrates die Gesetze sagen, als seine Freunde ihn aus dem Gefängnis befreien wollten, in dem er auf die Vollstreckung seines Todesurteils wartete.3 Sokrates blieb seiner Stadt bis zum Ende verbunden. Das war nicht selbstverständlich. Aber auch wenn Sokrates Athen nicht verließ, so nahm er doch Anteil an den auswärtigen Erfahrungen der Athener, deren Reisen die ägäische Inselwelt durchzogen, und die gelegentlich bis nach Sizilien führten. Er traf weitgereiste Männer und solche, die sich für welterfahren hielten, auf der Agora, dem zentralen Platz der Athener, wo sich das öffentliche Leben abspielte. Die freien Männer, die dem Bildungskanon der Antike und des Mittelalters – den sieben freien Künsten (artes liberales) – den Namen gaben, trafen sich auf diesem Platz. Ein freier Athener Bürger ging keiner Arbeit nach, sondern übte sich in den bürgerlichen Pflichten, zu denen neben dem Umgang mit den Waffen auch das Gespräch über die Anliegen der Polis gehörte. Sokrates pflegte diese Gespräche mit Hingabe, die er als der alte Mann, als der er uns bei Platon begegnet, häufiger mit Männern führte, die sich ihm durch ihre Lebenserfahrung und ihre Jugend überlegen glaubten. Sokrates führte sie über die verschlungenen Wege seines Denkens an die Grenzen ihrer eigenen Weltsicht. Es ging um Fragen, deren Aktualität uns heute überrascht, die aber bereits die Athenische Bürgerschaft des fünften Jahrhunderts vor Christus beschäftigten. Also du, Sokrates, wünschtest nicht, daß dir frei stände zu tun, was dir gut erscheint in der Stadt, lieber als es nicht zu können, und bist du nicht neidisch, wenn du einen siehst, der den ums Leben gebracht hat, den er wollte, oder des Eigentums beraubt, oder ins Gefängnis geworfen?4 So fragt Polos den Sokrates, ein junger sizilische Redner, der hier einer Moral der Macht huldigt, und der die strengen Maßstäbe des kauzigen alten Mannes mit offener Geringschätzung sieht. Der Dialog Gorgias, in dem Platon Sokrates mit drei Rednern zusammentreffen lässt, hat an Brisanz kaum verloren. Der moderne Leser sieht sich gedrängt, die Plädoyers dieser bezahlten Redner (der Sophisten) als die Selbstbeschreibung moderner Public-Relations- Manager zu lesen. Die Sophisten richteten ihre Reden nach den Wünschen ihrer zahlenden Auftraggeber und sie nahmen die Selbstüberschätzung heuti-

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ger Branchenvertreter vorweg, die mitunter glauben, ein Image sei mit der richtigen Kunstfertigkeit zu erzeugen. Es ist hilfreich, die kritischen Fragen des Sokrates dazu zu lesen. Sie zeigen die Grenzen dieser bezahlten Kunst. Das zentrale Thema des Dialogs ist eine entscheidende Frage an die Werte, nach denen man sein Leben einrichtet. Wie belastbar sind sie – ist es besser Unrecht zu tun, oder Unrecht zu erleiden? Steht die Gerechtigkeit und die richtige Ordnung der Welt über den Interessen des Einzelnen oder passt er diese Ordnung seinen Interessen an? Die Gesprächspartner des Sokrates, Kallikles, Polos und Gorgias treten für ein Recht des Stärkeren ein, dafür, die eigenen Wünsche und Begierden kraftvoll auszuleben, auch auf Kosten der anderen: Denn wie könnte wohl ein Mensch glückselig sein, der irgendwem diente? Sondern das ist das von Natur Schöne und Rechte, was ich dir nun ganz frei heraus sage, daß wer richtig leben will, seine Begierden muß so groß werden lassen als möglich…. Diese Maxime hält Kallikles dem Sokrates entgegen, dessen ethische Selbstbeschränkung und Konsequenz er für schwächlich hält. Die unbeirrbare Haltung des Sokrates angesichts dieser testosterongesättigten Großsprecherei setzt noch immer ethische Maßstäbe.5 Platons Kunst hat den Dialogen des eigensinnigen alten Mannes auf der Athener Agora Unsterblichkeit verliehen und sie wahrscheinlich auch mit platonischem Denken angereichert. Die Frage, wieviel Platon uns bei dieser Begegnung mit Sokrates entgegentritt, muss uns hier nicht beschäftigen, denn es geht weniger um den authentischen Sokrates als um die Wirkung des durch die platonischen Schriften vermittelten Zweiflers. Die ethische Ordnung, die uns hier entgegentritt, ist nicht in klaren Regeln formuliert. Vielmehr wird sie im Dialog mit Hintersinn und formaler Logik aus einem Einzelfall abgeleitet. All dies vollzieht sich vor aller Öffentlichkeit. Sokrates selbst hat dies Jahre später seinen Anklägern entgegengehalten, die ihn als Unruhestifter verurteilen lassen wollten. Es ist eine andere Situation als das Umfeld der Zehn Gebote. Hier der öffentliche Platz mit großem Publikum, das durch seine Fragen auf das Verfahren einwirken konnte, dort die dem Volk entzogene Übergabe der Steintafeln auf dem wolkenverhangenen Berg. Doch Sokrates handelte nicht im Auftrag der Athener. Im Gegenteil: Dieser Mann wird nie aufhören, leeres Geschwätz zu treiben. Sage mir, Sokrates, schämst du dich nicht in

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deinem Alter auf Worte Jagd zu machen…?6 Die Athener verurteilten Sokrates schließlich zum Tode. Sie hatten sich seine Ethik nicht zu Eigen gemacht, aber weil seine Maximen auch dieser Probe standhielten, nahm er das Urteil an. Seine Prinzipien hatten den Test auf dem Forum bestanden, aber sie waren rein ziviler Art. In seiner Verteidigung berief er sich nachdrücklich auf eine göttliche Stimme, die ihn vor falschen Schritten gewarnt hätte. Er hörte sie in anderen Situationen deutlich. Sie wies ihm keinen Weg, aber sie hielt ihn von Irrwegen ab. Er hätte Alternativen gehabt. Seine Freunde hatten die Flucht vorbereitet und drängten ihn, sich zu retten. Er lehnte ab. Seine Argumente sind so eindrucksvoll wie untypisch. Er hatte ein langes Leben in Athen verbracht. Er schätzte die Stadt und er respektierte ihre Verfassung und ihre Gesetze. Er hatte nie Klagen gegen diese Gesetze erhoben. Sie erschienen ihm gut. Nun hatten die Athener ihn nach diesen Gesetzen zum Tode verurteilt. Es mochte ein Fehlurteil sein, aber es war in einem ordentlichen Verfahren ergangen. Die Gesetze gaben die Regeln des Lebens vor. Auch wenn der Verlauf einmal unglücklich sein sollte, so musste man die Regeln doch akzeptieren. Obwohl diese eindrucksvollen Worte seit fast zweieinhalb Jahrtausenden überliefert werden, werden sie selten von Menschen wiederholt, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Auch dann nicht, wenn sie viel weniger zu befürchten haben. Die Geschichte kennt dagegen viele Beispiele für die Nachfolger der alternativen Lösung: der Lossagung von der Autorität, in deren Schutz man bislang gelebt hatte und deren Regeln man respektierte, solange sie einem nützten. So handelte Alkibiades, der eine knappe Generation jünger war als Sokrates, aber einen ganz anderen Stil pflegte. Ein hochbegabter junger Mann aus gutem Hause, hatte er Erfolge in der Athener Politik, bis seine Erfolge seinen Gegnern in die Hände spielten. Obwohl er Befehlshaber der Sizilienexpedition im Krieg gegen Sparta war, ließen ihn die Athener verhaften und zurück nach Athen bringen. Ihm gelang die Flucht und er ging nach Sparta, um die Gegner seiner Heimatstadt, die ihn in der Zwischenzeit zum Tode verurteilt hatte, militärisch zu beraten. Sokrates, der Alkibiades kannte, wählte einen anderen Weg, der durch seine Konsequenz seinen Worten ein bleibendes Siegel verliehen hat: „wer rechtschaffen und gut ist, der behaupte ich, ist glückselig, sei es Mann oder Frau, wer aber ungerecht und böse, ist elend.“7

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3. Die Achsenzeit: Das klassische Athen

Sokrates war kein typischer Athener, und doch brachte die Situation jener Achsenzeit in Athen weitere Stimmen hervor, die das ganze Spektrum der menschlichen Haltungen angesichts schicksalhafter Entscheidungen aufscheinen lassen. In dieser Phase wurden die Grundlagen für eine Ethik formuliert, die einmal zu einer Ethik für alle Menschen werden sollte, wenn der tatsächliche Horizont einmal eine solche Ausweitung ermöglichte. Die eingangs zitierten Worte Thomas Jeffersons aus der Präambel der Unabhängigkeitserklärung über die Rechte aller Menschen haben bedeutende Wurzeln in der Kultur dieser Zeit. Es war auch eine Zeit blutiger Kriege. Tatsächlich war dies kein Widerspruch, das griechische Selbstverständnis hatte einen bleibenden Ausdruck in den Epen Homers gefunden. Er sang von den Helden des Krieges. Achilles erwarb seinen Ruhm nicht auf der Agora. Die Gesetze von Athen galten nur für Athener. Sie kämpften nicht für allgemeine Rechte, sondern für die Regeln, die in ihrer Stadt galten. Diese Rechte und Lebensregeln konnten die Bewohner der griechischen Städte einander entfremden, auch ihre Gegnerschaft untermauern. Die Gefallenenrede des Perikles auf die Toten aus dem Kampf gegen Sparta betonte die Unterschiede nicht die Gemeinsamkeiten. Mitunter bot der Krieg den Siegern die Gelegenheit, die Fratze einer Macht über dem Recht zu zeigen. Auch dies ist eine universale menschliche Eigenschaft, aber wichtiger sind andere Folgen. Am Beginn des Aufstiegs von Athen stand der Sieg über die Perser in der Seeschlacht bei Salamis (480 v. Chr.). Es war eine Schlacht mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Auch die Griechen verloren viele Kämpfer, aber die Zahl der toten Perser war sehr hoch. Es war eine Niederlage, die die Macht der Perser empfindlich traf. Herodot hatte in dem Kampf der Griechen gegen die Perser den griechischen Freiheitswillen am Werke gesehen, und der Sieg über die Bedrücker bot die Gelegenheit zum Triumph. Aber Aischylos, der in Salamis gegen die Perser kämpfte, verzichtet in seiner Tragödie auf jede Überheblichkeit. Seine Perser sind Menschen, die leiden: Einsam klagt um den Herrn das Haus, kinderverwaiste Eltern/Um solchen Gram.8 Die Tragödie spielt ganz am Hof der trauernden Verlierer der großen Schlacht. Und die Mutter des Xerxes, der das vernichtete Heer angeführt hatte und die Niederlage überlebt, sieht die Athener und die Perser im

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Traum als Schwestern eines Stammes.9 Den Abschluß findet das Stück in der bewegenden Klage des geschlagenen Feldherrn und des Chores über das Ausmaß der Niederlage: „Xerxes: Das Kleid zerfetz um Brust und Leib mit wilder Hand! Zweiter Halbchor: Ailinau! Ailinau! Xerxes: Und greif in die Locken zum hellen Totenlied des Heers!10 Die Feinde verbindet etwas. Etwas, das die Feindschaft nicht beendet, das aber auch nach dem Kampf eine gemeinsame Grundlage erhält. Man kann sich angesichts dieses respektvollen Umgangs mit einem Feind, der die eigene Heimat bedroht, des Vergleichs mit der Welt der zehn Gebote nicht enthalten. Dort schickten sich die Eroberer nach dem Tod des Moses zur Landnahme jenseits des Jordan an, und mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel. (Jos. 6,21). So geschah es der Überlieferung zufolge bei der Eroberung Jerichos auf Geheiß Jahwes. Die Perser hatten ein Heer geschickt. Frauen, Kinder und alte Menschen saßen nicht an den Rudern. Das Vorbild der Landnahme in Israel wirkte noch bei den Kreuzzügen nach. Die Überzeugung, im Auftrag Gottes die Waffen zu führen, hat die Kriege, die die europäische Tradition prägten, nicht menschlicher gemacht. Die Überzeugung, auf Geheiß des Höchsten zu handeln, konnte Gemeinsamkeiten verdunkeln. Aber sie konnte Gemeinsamkeiten auch gegen menschliche Satzungen behaupten, wie sich im athenischen Umfeld zeigte. Vierzig Jahre nach der Schlacht bei Salamis wurde in Athen die Antigone des Sophokles aufgeführt. Antigone, die Tochter des unglücklichen Ödipus, erlebt wie ihre Brüder sich im Kampf um Theben gegenseitig töteten. Ihr Tod führte ihren Onkel Kreon auf den Thron. Weil einer der Brüder sich gegen die Stadt gestellt hatte, verbot Kreon seine Bestattung. Dem toten Polyneikes wurde damit der Weg in den Hades versperrt. Kreon setzte die Todesstrafe für denjenigen aus, der seinem Gebot zuwider handelt. Antigone widersetzte sich dem Gesetz des Königs: Auch meint ich nicht, daß deine Ausgebote/So mächtig seien, daß die ungeschriebenen/Und wankenlosen Satzungen der Götter/Einer, der sterblich wäre, überholen könnte./Denn nicht seit heut und gestern sind sie: diese leben/Von je her, und weiß niemand, woher sie gekommen.11

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Dies ist der erste schriftliche Niederschlag eines besonderen Rechtsverständnisses, das auch ohne Schrift auskommt (die ungeschriebenen …Satzungen). Die spätere Tradition hat dieses Recht Naturrecht genannt, weil es in der der Natur des Menschen angelegt ist. Nach neuerem Verständnis ist es damit unabhängig von Herkunft oder Religion für alle Menschen gleich (vgl. etwa Thomas Jefferson). Es steht, wie Antigone dem Kreon entgegenhält, über den Gesetzen der Menschen, denn es galt bereits, als diese Gesetze formuliert wurden. Und die Gesetze der Menschen können es nicht aufheben. Etwa 100 Jahre nach Sophokles formulierte Aristoteles (384-322 v. Chr.) in seiner Nikomachischen Ethik die Haltung der Griechen zu der rechtlichen Grundlage ihres Zusammenlebens in diesem Sinne: Das Polisrecht ist teils Natur-, teils Gesetzesrecht. Das Naturrecht hat überall dieselbe Kraft der Geltung und ist unabhängig von Zustimmung oder Nicht-Zustimmung (der Menschen).12 Mit diesen Stimmen aus Athen, die sich noch vermehren ließen, hebt eine lange spannungsreiche Geschichte um die Leitlinien des menschlichen Handelns an. Folgt man den Regeln und Gesetzen, die die Gemeinschaft sich gegeben, oder die ein Herrscher ihr verordnet hat (Kreon)? Oder kann es Situationen geben, in denen ein anderes, höheres Gesetz gilt? Dies sind keine Alltagsentscheidungen, sondern Ausnahmesituationen, wie etwa die Frage, ob man dem eigenen Bruder durch ein Begräbnis den Weg in die Unterwelt eröffnen darf, wenn das Gesetz es verbietet? Antigone beruft sich auf die unwandelbaren Satzungen der Götter, deren Notwendigkeit sie angesichts des toten Bruders in sich spürt. Es ist ihr Gewissen, das ihr keine Wahl lässt. Und es ist bei Antigone sehr ähnlich angelegt, wie in der Charakterisierung, die Benedikt XVI. von ihm gegeben hat. Auch wenn es sich um unterschiedliche Götter handelt, so ist das Gewissen doch der höchsten Autorität des jeweils Handelnden verpflichtet. Das Gewissen, die Stimme des Rechts der Natur oder der göttlichen Ordnung, tritt regelnd neben die Ordnungen der Menschen, die wandelbar sind. Den Athenern war bewusst, dass die Regeln des menschlichen Zusammenlebens von Zeit zu Zeit einer Anpassung bedurften. Wenn die Normen des Gewissens wie die Satzungen der Götter dagegen ewig waren, dann war ihre Zuständigkeit auf die großen Fragen der Gerechtigkeit beschränkt. Hier entsteht die Spannung, die das ethische Handeln der Menschen bis heute

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bestimmt und die handelnden Menschen vor schwere Entscheidungen stellt. Die Geschichte ist reich an dramatischen Konflikten dieser Art. Es ist keine eindeutige Geschichte. Die christlichen Märtyrer, die ihrem Gewissen folgend in den Tod gingen, anstatt als römische Soldaten gegen ihre Glaubensbrüder vorzugehen, Martin Luther, der dem katholischen Kaiser widerstand, die Männer und Frauen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, die das geltende (Un-) recht brachen, oder die Menschen, die sich dem Unrecht der DDR durch Flucht in die Freiheit entziehen wollten, und als Republikflüchtlinge verfolgt wurden. Sie beriefen sich auf ein Recht, das höher stand, als das zu ihrer Zeit geltende Recht der Menschen. Sie zahlten dafür einen hohen Preis. So wie Antigone, die für ihre Tat zum Tode verurteilt wurde. Das Naturrecht, das dem Menschen Freiheit, Gerechtigkeit und das Streben nach Glück ermöglichen soll, hat einen Charakterzug, den ewige Prinzipien in der Geschichte häufiger haben. Sie lassen sich nicht ohne weiteres umsetzen. Das Naturrecht verfügt über keine direkten Sanktionsmöglichkeiten. Auch die zehn Gebote enthalten keine Sanktionsankündigung, für den Fall eines Verstoßes. Antigone beruft sich auf ihre Furcht vor der Götter Strafe, und manchem Märtyrer in einem Unrechtsstaat bleibt keine andere Hoffnung als die auf eine höhere oder göttliche Gerechtigkeit. Doch bleibt das Problem, dass diese Satzungen des Naturrechts keineswegs eindeutig sind. Die Sätze, auf die sich diejenigen berufen, die ihr Gewissen gegen das geltende Gesetz stellen, sind so prinzipiell, dass sie in fast allen Fällen der Auslegung bedürfen. Kriegsdienstverweigerer haben sich durch die Jahrhunderte auf das fünfte Gebot berufen. Du sollst nicht töten. Aber sie mussten sich immer mit der Position auseinandersetzen, dass auch Unterlassung töten konnte. Wenn das Land oder die Stadt angegriffen wurde, sollte man Familie und Freunde dem Angreifer überlassen? Und welcher Pazifist könnte nicht wünschen, die Wachbaracken und Öfen von Auschwitz seien beizeiten bombardiert worden? Die Stimme des Gewissens und die Regeln des Naturrechts sind selten eindeutig. Kreon hörte sie nicht, ebenso wenig wie die Grenzpolizisten, die an der deutsch-deutschen Grenze auf Flüchtende schossen. Aristoteles war sich dieser Schwierigkeit bewusst. Für ihn war nicht ausgemacht, wie ewig die Regeln dieses Naturrechts waren. Und er hielt dafür, dass jedes Handeln für sich geprüft werden

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müsse, und dass es für manche Handlungen keine festen Regeln geben könne. Denn was ohne feste Grenzen ist, verträgt auch keinen festen Maßstab.13 Diese Feststellung ist auch für die Diskussion um die Relativität unserer Werte von Bedeutung. Wenn etwa bedeutende katholische Kirchenvertreter eine heutige Krise des Naturrechts aufgrund des Weltbildes der modernen Wissenschaft beklagen – die der natürlichen Ordnung ihre Eindeutigkeit genommen habe, so ist dem wohl zu erwidern, dass das Naturrecht in seiner ganzen Anlage durch die Geschichte hindurch nicht eindeutig gewesen ist.14 Angesichts der Schwierigkeiten, ewige Satzungen (Du sollst nicht töten) auf neueste Entwicklungen der Medizin anzuwenden, wie im schwierigen Falle der Präimplantationsdiagnostik, sollte die Komplexität der Frage auch in der gebildeten katholischen Hierarchie ein breiteres Spektrum von Antworten zulassen. Dazu kommt, dass das Natur-recht deshalb Naturrecht heißt, weil es für alle die gilt, die Anteil an der menschlichen Natur haben. Und die seine Stimme vernehmen. Es ist in der Regel eine leise aber hartnäckige Stimme. Und sie spricht direkt zu den Menschen, nicht aus dem Mund hierarchischer Macht. Die Stimme des Gewissens ist durch die Geschichte hindurch hörbar geblieben und sie ist auch in der Gegenwart vernehmbar. Aber sie spricht mit der Lautstärke der Antigone vor Kreon oder der Sophie Scholl vor dem Volksgerichtshof. Sie spricht in der Regel dann, wenn die Mikrophone und Scheinwerfer ausgeschaltet sind, nicht als Stimme von Amtsinhabern mit unbeschränkter Deutungsmacht. Es gibt freilich Grenzen der Auslegung. So haben die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland bei ihren Urteilen über Täter, die an der Berliner Mauer auf unbewaffnete Flüchtlinge schossen, und damit nach DDR-Recht handelten, die Taten dennoch geahndet. Da es einen Grundbestand von Rechtsregeln gäbe, gegen die das geltende Recht nicht verstoßen dürfe, ohne zu Unrecht zu werden. Ein Unrecht, das für jeden Menschen erkennbar ist. In ähnlicher Weise hatte Antigone dem Kreon geantwortet. Ihre Erfahrung war auch die Erfahrung der Opfer an der Deutsch-deutschen Grenze. Die Berufung auf das höhere Recht schützte nicht, wenn das Unrecht geltendes Recht war. Auch wenn es bei dieser Frage um unwandelbare Prinzipien des menschlichen Handelns geht, so ist es doch gerade die Geschichte, deren Wandel diesen Regeln zu ihrem

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Recht verhilft. Tatsächlich ist die Frage des Naturrechts eine Frage mit einer immensen historischen Qualität. Antigone berief sich nicht auf die Menschheit. Ihr ging es um die Beisetzung ihres Bruders. Aristoteles schrieb zwar über das Naturrecht, aber sein Bezugsrahmen war die Polis, nicht die ganze Welt. Im Athen des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts fassen wir die Anfänge der Verschriftlichung eines ethischen Korrektivs, dessen universales Potential sich indessen erst im Laufe der Geschichte erweisen sollte. Dabei kam es nicht auf die Verbreitung dieser Texte an. Aristoteles’ machte immerhin einige Erfahrungen als Erzieher Alexanders des Großen, im Zuge von dessen Eroberungen auch die griechische Geisteswelt eine enorme Ausdehnung erfuhr. Diese universalen Prinzipien, die jedem Menschen von Natur aus eingegeben waren, sie machten sich ja auch ohne schriftliche Überlieferung geltend. Die schriftliche Auseinandersetzung mit dem Naturrecht konnte höchstens seine theoretische Behandlung befördern. Die Frage war eine andere, und die Antwort fiel im Laufe der Geschichte sehr verschieden aus. Die Rede der Antigone wird heute als Ausgangspunkt des schriftlichen Naturrechtsgedankens gefasst. Wir sehen ihre Möglichkeiten für alle Menschen. Und hatte nicht Aischylos das menschliche Schicksal in seinem Auf und Ab in bewegende Worte gebracht? Der Menschen geht keiner durchs Leben/Ohne Buße und unversehrt.15 Doch die Frage stellt sich zunächst, wen Antigone in diese Betrachtung einbezog? Sie hatte mit der eigenen Familie einen sehr kleinen Kreis im Blick. Dass die Athener nicht alle Menschen, auch nicht alle Griechen mit demselben Blick sahen, mit dem sie auf ihre eigenen Landsleute blickten, erfuhren die Bewohner der Kykladeninsel Melos im Jahre 416 v. Chr. in aller Rücksichtslosigkeit. Den Meliern erging es ähnlich wie den Bewohnern der Städte, die sich der Landnahme der Israeliten in den Weg stellten. Sie verloren ihr Leben. Die Begründung war eine andere, die Athener beriefen sich nicht direkt auf einen göttlichen Auftrag. Aber sie beanspruchten, die Regeln der Götter in eigener Stärke auszulegen. Das Schicksal der Unterlegenen war fast dasselbe. Diese blutigen Beispiele erinnern uns mit allem Nachdruck daran, dass es in dieser Phase der Geschichte, die wichtige Grundlagen für die moralische Ordnung Europas legte, eine deutliche Abgrenzung zu denen gab, die nicht dazu gehörten.

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Melos hatte sich im Krieg zwischen Athen und Sparta keiner Seite angeschlossen, auch wenn die Bewohner gute Verbindungen nach Sparta pflegten. In diesem Jahr aber forderten die Athener den Beitritt der Melier zu ihrem Bündnis. Die Melier traten in kurze Verhandlungen ein, in denen sie ihre Freiheit zu verteidigen suchten. Doch die Athener beschieden ihnen, dass ihre Hoffnung (als Schwächere) auf die Hilfe der Götter vergeblich sei, denn auch Athen genieße die Gunst der Götter. Athen sei die stärkere Macht. Und aus dieser Überlegenheit erwachse ihr Recht. Wir glauben nämlich, daß das Göttliche, ganz gewiß aber, alles Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es Macht hat, herrscht. Wir haben dieses Gesetz weder gegeben noch ein vorgegebenes zuerst befolgt, als gültig überkamen wir es, und zu ewiger Geltung werden wir es hinterlassen…16 Hier wird das Recht des Stärkeren mit brutalem Zynismus als Naturgesetz ausgegeben. Und es wurde exekutiert. Die Athener eroberten die kleine Insel, töteten alle Männer und verkauften Frauen und Kinder in die Sklaverei. Melos war kein strategisch bedeutender Platz. Es war eine kleine Insel. Die Zahl ihrer männlichen Bürger betrug keine zweitausend. Das Naturrecht war eine Stimme unter vielen, und wenn die eigene Stärke groß genug war, war sie sich selbst ihr Recht. Die Tötung der Melier und der Verkauf ihrer Familien in die Sklaverei waren gravierende Akte für die Betroffenen. Ein Sklave war eine Sache. Und während Aristoteles später zum Auftakt seiner Ethik feststellen sollte, dass das Ziel der Staatskunst das menschliche Glück sei, so stellte er doch sachlich fest, Anteil am Glück aber weist niemand dem Sklaven zu.17 Ein Sklave war kein Mensch. Athen hatte etwa so viele Sklaven wie Bürger. Sie waren von den attischen Diskursen über die Ethik der Bürgerschaft ausgeschlossen und sie profitierten auch nicht von ihnen. So eindrucksvoll das Potential dieser Ethik war und so entwicklungsfähig, so entwicklungsbedürftig war es, wenn wir auch nur annähernd neuzeitliche Maßstäbe anlegen. Die Ethik des Aristoteles ist bereits angesprochen worden, und sie verdient in dieser Entwicklungsskizze ethischer Horizonte einen eigenen Platz. Dabei geht es nicht um die philosophischen Qualitäten des Buches, sondern um seine Annäherung an das Thema. Der englische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell hat die Ethik in seiner „Philosophie des Abendlandes“

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wenig schmeichelhaft portraitiert: Das Buch wendet sich an ehrbare Menschen mittleren Alters, und solche Leute haben es auch, besonders seit dem siebzehnten Jahrhundert, dazu verwendet, dem Überschwang und Eifer der Jugend einen Dämpfer aufzusetzen. Auf einen etwas tiefer empfindenden Menschen wird es aber wohl geradezu abstossend wirken.18 Für einen konsequent und geistreich eigensinnigen Mann wie Bertrand Russell, der noch im Alter von über neunzig Jahren aktiv gegen die atomare Bewaffnung in Europa demonstrierte, waren die ausgewogenen Handlungsempfehlungen von Aristoteles ein wenig inspirierende Lektüre. Doch gerade der common-sense-Charakter des Werkes macht es für die historische Betrachtung lohnend. Aristoteles präsentierte den Horizont seiner Zeit. Wir überlegen uns das, was in unserer Macht steht und verwirklicht werden kann – denn dies allein bleibt noch übrig.19 So grenzte der Verfasser selber sein Unternehmen ein. Was von ihm und seinen Lesern verwirklicht werden konnte, das lag in der Reichweite der Athener Polis, die nach der Niederlage gegen Sparta eingeschränkt war. Für Aristoteles vollzog sich das ethische Denken ganz im Rahmen der Polis, das Ziel der Handlungen des Gemeinwesens und des Individuums seien dieselben. Insofern versteht er seine Ethik als Wissenschaft vom Staat. Das ist für den modernen Leser, dem die Staatsgewalt in der Regel als unpersönliche Bürokratie entgegentritt, ungewöhnlich. Doch Aristoteles handelt vor dem Hintergrund seiner Erfahrung mit einem Gemeinwesen von etwa vierzigtausend Akteuren. Im Normalfall dürfte die Zahl deutlich kleiner gewesen sein. In einem solchen Umfeld konnte der Mensch, der von Natur [aus] für das Zusammenleben bestimmt sei, angemessen agieren.20 Das Glück als Ziel dieses Staatswesens haben wir bereits benannt. Dabei verzichtete Aristoteles ganz auf Festlegungen, was unter diesem Glück für das Staatswesen oder das Individuum im Einzelnen zu verstehen ist. Er wusste, dass die Auffassung darüber erheblich schwanken konnte. Der Text enthält wenig Grundsätzliches, er lebt ganz aus dem Geist des Machbaren (dieser Mangel an visionärer Phantasie hat Bertrand Russells Verärgerung befördert). Daraus resultiert eine Anbindung an die menschliche Realität, die manchem philosophischen Text fehlt und die eine lange Wirkungsgeschichte erklärt. Man muss kein Philosoph

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sein, um die Ethik des Aristoteles lesen zu können. Aber die Wahrheit wird in Dingen des menschlichen Handelns aus der Wirklichkeit des Lebens gewonnen, denn diese gibt den Ausschlag.21 Seine Feststellung zu den sittlichen Werten, die nur tätig zu erlangen sein, erinnert an Erich Kästners Maxime, es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Das ist intellektuell zu bewältigen. Es ist deshalb bemerkenswert, weil im weiteren Verlauf der europäischen Geschichte Aristoteles zeitweilig zu einem der wichtigsten Ideengeber philosophischer Autoren in Europa wurde. Die Rezeption des Aristoteles, die im 13. Jahrhundert mit Nachdruck einsetzte, hat interessanterweise nicht nur den Bezugsrahmen des Aristoteles von der kleinen Polis auf ganze Königreiche ausgedehnt und die Teilhabe der Bürgerschaft übersehen, sie hat auch den abwägenden und erörternden Charakter der aristotelischen Überlegungen mit einem deutlich normativeren Charakter versehen. Für Aristoteles stand dagegen im vierten vorchristlichen Jahrhundert die Einzelabwägung im Vordergrund: Der Handelnde ist im Gegenteil jeweils auf sich selbst gestellt und muß sich nach den Erfordernissen des Augenblicks richten, man denke nur an die Kunst des Arztes und des Steuermanns.22 Aristoteles stand am Ende einer eindrucksvollen Entwicklung. Gerade die Vielgestaltigkeit der griechischen Stadtstaaten, ihrer Verfassungen und Kulturen, hatte jene Welt hervorgebracht, in der der Einzelne wirkungsvoll agieren konnte. Das Handeln einzelner Bürger wie Solon, Themistokles oder Perikles konnte den Kurs der Polis beeinflussen, und dieser Kurs konnte für das Schicksal der Polis in der kleinteiligen griechischen Welt bedeutende Folgen haben. So entstand ein Zusammenhang, der das verantwortungsvolle Handeln mit einer besonderen Dignität versah. Denn es konnte Folgen haben für die Gemeinschaft, in der man lebte. Die Verantwortung für die Gemeinschaft wurde zu einem Grundzug dieser Ethik. Aristoteles fasste dies in dem eindrucksvollen Satz zusammen: Wir bezeichnen also in dieser Hinsicht als gerecht ein Handeln, welches den Zweck hat, das Glück sowie dessen Komponenten für das Gemeinwesen hervorzubringen und zu erhalten.23 Dazu musste man ein Bürger sein und ein Mann. Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung der Polis war von dieser Teilhabe ausgeschlossen. So wurden die wichtigen Grund-

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lagen für eine Ethik mit universalem Anspruch erstmals in einem sehr überschaubaren Rahmen formuliert. Athen erscheint (natürlich nur im historischen Rückblick) wie ein Labor für die Bedingungen und Werte menschlichen Handelns in der späteren europäischen Geschichte. Die Möglichkeiten und die Folgen der Verantwortung wurden erprobt und in einem öffentlichen Diskurs durch Dichtung und Philosophie eingehend reflektiert. Christian Meier hat darauf hingewiesen, dass dieser Prozess sich in einer eigentümlichen Spannung von kleinteiliger sozialer Organisation und weitem geistigen Horizont abspielte. Die kleinteilige Einbindung der Akteure in Familien, in soziale Gruppen und Nachbarschaften ermöglichte es, dass dieses Milieu die Möglichkeit des (Bürger-) Individuums und seine Schattenseiten so frühzeitig und so differenziert erkennen lässt. Der feste soziale Rahmen unterstützte die Entstehung einer humanen Kultur des Maßes und der Selbstbeschränkung. Das schloß ein Versagen dieser Ordnung nicht aus. Zudem würden die Bürger jener Städte, die die Macht der Athener zu spüren bekamen, die Grenzen dieser Humanität stärker betonen. Doch hier geht es nur bedingt um die reale Umsetzung sittlicher Ideale. Es war gerade die Kleinteiligkeit dieses Kosmos, die seine Konzentration auf das Individuum erlaubte und dadurch die Grundlage für eine sehr weite Rezeptionsgeschichte legte. Denn so sehr sich die Gesellschaften und ihre Normen in den vielen folgenden Jahrhunderten der europäischen Geschichte auch voneinander und von unserer heutigen Erfahrung unterscheiden, so begegnen wir doch in jenen alten Texten, die weniger von zeitbestimmten Konventionen bestimmt sind, Menschen, deren Wünsche und Sorgen uns vertraut erscheinen. Die Frage der weiteren Wirkung dieser menschlichen Werte war in hohem Maße eine Frage der Geschichte.

4. Pax Romana und frühes Christentum Armeen, Kommunikation und Ideentransfer – Die ethischen Ansprüche der neuen Religion – Augustinus’ Abschied vom antikem Ideal – Sklaverei und Christentum – Der Abgrund der Sexualität In der Generation nach Aristoteles sorgten die weitgestreckten Eroberungen Alexanders des Großen mit seinen vielen Städtegründungen und schließlich mit den hellenistischen Folgereichen nach seinem Tod für eine weite Verbreitung griechischer Kultur unter veränderten Bedingungen. Die Eroberungen Alexanders des Großen streiften Europa nur. Es war eher das römische Weltreich, das für Europa zum Träger eines Werteverständnisses wurde, das bis weit in unsere Gegenwart hinein wirkt. Obwohl der Norden Europas auch für die Römer nur am Rande ihres Reiches lag, mit dem rechtsrheinischen Germanien lange Zeit als wenig attraktivem Feindesland, schufen die Strukturen des römischen Reiches und seines zeitlichen und räumlichen Fortwirkens doch die Grundlage für eine gemeinsame (allerdings nicht einheitliche) europäische Wertekultur nördlich der Alpen. Eine Wertekultur, deren Gemeinsamkeiten und gegenseitige Abgrenzungen besonders im Zuge der Christianisierung sichtbarer hervortraten. In seiner größten Ausdehnung umschloss das römische Reich das gesamte Mittelmeer. Ein Reich, das sich vom persischen Golf bis an die Grenzen schottischer Hochebenen erstreckte, musste auf die Vielfalt seiner Untertanen mit einer entsprechenden Flexibilität reagieren. Moderne Beobachter tendieren angesichts der vormodernen Weltreiche, deren kommunikativer Zusammenhalt durch Pferde und wind- oder rudergetriebene Schiffe ermöglicht wurde, zu einer Überschätzung der inneren Einheit dieser Reiche. Es ist daher nötig, sich in Erinnerung zu rufen, dass die Realität des römischen Reiches, ebenso wie die Realität der neuzeitlichen Ko-

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lonialreiche, vor Ort nur durch Vertreter dieser Reichsgewalt gewährleistet wurde. Die wirkungsvollsten Vertreter solcher Reichsgewalt waren die Armeen. Auf ihrer Präsenz gründeten Imperien, und die militärische Infrastruktur ebnete den kulturellen und ethischen Werten, für die die Soldaten auch standen, den Weg. Die Straßen, die das römische Reich erschlossen, und die häufig bis in die frühe Neuzeit hinein wichtige Verkehrswege blieben, wurden für das Fortkommen der Legionen und für ihre Versorgung angelegt. Sie erlaubten allerdings auch den Transport von Schriftrollen und Weinkrügen, deren weitere Verwendung nicht nur auf die Soldaten beschränkt blieb. So wie im Nachkriegsdeutschland der Radiosender AFN amerikanische Musik und Kultur nach dem 2. Weltkrieg nicht nur unter den amerikanischen Soldaten verbreitete. So eindrucksvoll die römische Heeresmacht bisweilen auftreten konnte, lässt sich doch feststellen, dass das römische Reich angesichts seiner Ausdehnung eher dünn militarisiert war. Der Militärdienst, der durch seine Personalbewegungen ein starkes Moment der Romanisierung gewesen war, war im spätantiken Rom unter den Römern nicht mehr populär. Die notwendige Verteidigung der langen Grenzen des Reiches oblag zunehmend den verschiedenen Verbündeten, die in römischen Diensten standen, aber ortsfest waren. Diese Entwicklung, die als Regionalisierung der Reichsstruktur durchaus auf ein Nachlassen der Integrationskraft der römischen Zentrale schließen lässt, war auf der anderen Seite wahrscheinlich die einzige Form, in der sich unter den primitiven Transport- und Kommunikationsmitteln der Vormoderne ein Reich von solcher Erstreckung regieren ließ. Für die Verbreitung von Werteordnungen hatten diese einfachen Strukturen deutliche Folgen. Die Römer sahen sich in ihren guten Zeiten als maßvolle Vertreter eines Gemeinwesens, deren Anspruchslosigkeit einen wichtigen Teil ihres Erfolges ermöglicht hatte. So erschien es zumindest im Rückblick, als in der Spätphase der Republik das Thema der Sitten ausdrücklicher erörtert wurde. Daher wurden im Frieden und Krieg gute Sitten gepflegt; die Eintracht war sehr groß, sehr klein die Habgier, Recht und Anstand herrschte bei ihnen nicht so sehr auf Grund von Gesetzen als auf Grund ihrer Natur. Hader, Zwietracht und Streitigkeiten trugen sie mit Feinden aus,

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Bürger wetteiferten mit Bürgern um Mannhaftigkeit… Dieses Bild entwarf Sallust in seiner Verschwörung des Catilina.1 Mit dem Erfolg der Armeen änderten sich die Prioritäten. Ehrgeiz und Habsucht hielten Einzug. Dazu kam, dass Lucius Sulla das Heer, das er in Asien geführt hatte, um es sich ergeben zu machen, gegen die Sitten der Vorfahren verwöhnt und allzu frei gehalten hatte.2 Sallust zeichnete ein Bild des Niedergangs. Die Sitte der Vorfahren (mos maiorum) war das Leitbild der Römer. Diese Sitten waren nicht niedergeschrieben, sie standen für einen Anstand, der das Ganze (des römischen Volkes) dem eigenen Vorteil vorzog, der die Tugenden erfolgreicher, aber nicht grausamer, Soldaten mit der einfachen Frömmigkeit und dem Respekt vor den Traditionen verband. Auf ihnen gründeten die Siege gegen die vielen Feinde der frühen Zeit, wie das Karthago Hannibals, denen Rom seinen Aufstieg verdankte. Cicero legte Wert darauf, dass selbst in diesen Kämpfen, in denen es um so viel ging, wie in dem Kampf mit Pyrrhus, der die Römer im dritten Jahrhundert vor Christus in Bedrängnis brachte, die hohen Standards der Gerechtigkeit gewahrt blieben. Das Angebot eines Verräters aus dem Lager des Pyrrhus, den feindlichen König für die Römer zu vergiften, hätte der Senat dadurch beantwortet, dass man den Mann an Pyrrhus überstellt habe.3 Auch der gefährliche Feind verdiente Respekt. Dies waren nostalgische Rückblicke in einer Zeit, in der nach der Meinung dieser sittenstrengen Autoren Eigensucht und Dekadenz eingesetzt hatten. Cicero hat sich in verschiedenen Schriften mit dem rechten Handeln und der richtigen Ordnung für das Leben der Menschen auseinander gesetzt. Das Bild, das dabei entsteht, ist das erweiterte Bild jenes antiken Milieus, das bereits die Dialoge des Sokrates in Platons Überlieferung vermittelt hatten. Es war keine abstrakte Welt, es war eine Welt des persönlichen Gesprächs. Eine Welt, in der sich der morgendliche Spaziergang der Freunde mit einem anregenden Gespräch zu einem tagesfüllenden Programm entwickeln kann, bei dem das Wesen und die Erscheinungsformen der Gesetze erörtert werden, die dem menschlichen Leben Orientierung und Regeln geben. Die Männer, mit denen Cicero seine Zeit verbrachte, entstammten der Führungsschicht der römischen Gesellschaft. Ihr Lebensstil erlaubte diese langen Gespräche, neben den Geschäften waren diese Zeiten der Muße ein Merkmal ihrer

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sozialen Stellung. Dabei achteten die Männer der römischen Oberschicht darauf, die Möglichkeiten ihres Reichtums mit dem strengen Ideal bäuerlicher Einfachheit und Selbstbeschränkung zu verbinden. Cicero lobte den legendären Feldherrn Lucius Quinctius Cincinnatus (519-430 v. Chr.), der in den Anfängen Roms von seinem Pflug weg zur Führung des römischen Heeres berufen wurde, um nach dem Sieg sogleich wieder auf seinen Acker zurückzukehren. Auch Livius und Plinius verbreiteten das Lob dieses Mannes, dessen Strenge gegen sich selbst ihn davor bewahrte, seine Vollmacht zum eigenen Nutzen einzusetzen. Zweimal rettete er die Stadt und blieb doch seiner bäuerlichen Aufgabe verbunden. Dieses Vorbild strenger Einfachheit, das die antiken Autoren bewahrten, wurde in den Kämpfen der amerikanischen und französischen Revolutionäre gegen die Macht der Könige zu einer besonderen Kraft. Denn Cincinnatus soll in seiner zweiten Amtszeit den Griff des Plebejers Maelius nach der Macht in Rom abgewendet haben. So wurde er für Thomas Jefferson und George Washington zu einem Leitbild, das den amerikanischen Verhältnissen angepasst wurde. Der Städtename Cincinnati erinnert noch immer an diese Tradition der römischen Selbstbescheidung, die auch den französischen Revolutionären bildhaft vor Augen stand. Der Nationalkonvent, mit dem die französische Revolution begann, versammelte sich unter den Statuen antiker Kämpfer gegen die Alleinherrschaft. Neben Brutus und Publicola stand auch die Statue des Cincinnatus und bezeugte das kraftvolle Fortleben einer Legende. Die reale Gesellschaft Roms setzte sich in der Zeit Ciceros aus persönlichen Beziehungen mit unterschiedlichen Graden der Nähe zusammen. Cicero entwarf ein solches Bild: Stufen aber gibt es mehrere der menschlichen Gesellschaft.4 Die weiteste, die auf einer gemeinsamen Zugehörigkeit basierte, war die der Völker oder Stämme, die dieselbe Sprache sprechen. Enger war der Zusammenhalt der Gemeinde, die die Einrichtungen der Stadt, ihre Baulichkeiten, Tempel, Rechte und Institutionen miteinander teilte. Den engsten Kreis bildete die Familie, die Ehe und die aus ihr hervorgehenden und mit ihr verbundenen Verwandten. „Von jener unermeßlichen Gemeinschaft des Menschengeschlechts nämlich schließt sie sich zum kleinen und engen Kreis zusammen.“5 Tatsächlich ist dieses Menschengeschlecht die Perspektive, vor

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dem sich die Überlegungen Ciceros entfalten. In seinem Dialog Über die Gesetze entwickelt er die Idee einer gemeinsamen menschlichen Natur, die auch gemeinsame Regeln in allen Menschen angelegt hat, fort: Nun aber können wir ein gutes Gesetz von einem schlechten nur nach dem Maßstab der Natur trennen. Und nicht nur Recht und Unrecht werden nach der Natur unterschieden, sondern überhaupt alles sittlich Gute und Schlechte. Denn dazu gab die Natur uns gemeinsame Begriffe und legte sie in unserem Geiste an…6 Diese Regeln, die in der menschlichen Natur angelegt waren, und die der Mensch mit den Göttern teilte, ebenso wie er mit ihnen durch ein festes Band verwandt war, waren universell. Sie standen im Konfliktfall über den Gesetzen der Völker, die auch von Tyrannen erlassen werden konnten. Ciceros Tugendlehre war eine Lehre für das praktische Gespräch und die abwägende Erörterung, wie er sie bisweilen in seinen kunstvollen Gerichtsreden vorführte. Eine Lehre für Menschen (in diesem Fall vor allem für Männer), deren Lebensweise und Selbstverständnis auf ähnlichen Grundlagen ruhte. Diese Feststellung ist wichtig. Denn tatsächlich sind die wenigen angedeuteten Linien dieses römischen Sittenbildes irreführend, wenn wir sie für repräsentativ für die Gesellschaften des römischen Reiches halten würden. Die Sozialgeschichte hat ein sehr viel differenzierteres und auch brutaleres Bild von der Entstehung und den Krisen des römischen Weltreiches gezeichnet.7 Sie hat die hohen sozialen Kosten der Eroberungskriege für die bäuerliche Bevölkerung herausgearbeitet. Die Kriege in Italien, Afrika oder Spanien verwüsteten das Land und die Lebensgrundlage vieler Bauern. Zudem bestanden die römischen Legionen zu großen Teilen aus Bauern, die während der langen Feldzüge ihrer Felder nicht bestellen konnten. Eine Proletarisierungswelle der Landbevölkerung nach den punischen Kriegen war die Folge. Arbeitskräfte wurden nun zunehmend aus den riesigen Heeren der Kriegsgefangenen rekrutiert, die die Kriege der siegreichen Republik zuführten. Diese vielen Zehntausend Menschen, und in der Folge ihre Familien, waren für die Sieger und ihre Landwirtschaft Sachwerte. Dazu kam, dass die Mahnungen des Cicero, mit den besiegten Feinden, etwa den Bewohnern einer eroberten Stadt, nicht grausam umzugehen, in der Realität der Kriege kein Gehör fanden. Die Bewohner einer Stadt, die dem römischen Reich untreu geworden war

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und sich auf die Seite seiner Gegner begeben hatte, durfte nach der Eroberung nicht hoffen, dass sich die Römer daran erinnerten, dass sie alle den gleichen Anteil an der Gemeinschaft des Menschengeschlechts hatten. So standen den Männern, die im gepflegten Gespräch die Natur der Gesetze erörterten, eine Vielzahl namenloser armer Bauern gegenüber, deren tägliche Erfahrung wenig Hoffnung auf eigene Rechte nährte. Für diese Menschen hatten die Regeln des mos maiorum keine Realität. Die Krise, die Sallust in seiner Verschwörung des Catilina als dramatisches Sittengemälde entwarf und der Cicero persönlich zum Opfer fiel, veränderte die aristokratische Welt der späten römischen Republik. Die Spannungen der weitreichenden Kriegszüge und der Preis ihres Erfolges beförderten eine neue politische Ordnung. Die Alleinherrschaft, der Prinzipat, veränderte die politische Ordnung des römischen Reiches stärker als die soziale Struktur, und sie erschloss der römischen Kultur und der römischen Werteordnung einen Horizont, der nach den Maßstäben der Zeit einer tatsächlichen Universalität nahe kam. Mit Augustus (30 v. Chr. – 14 n. Chr.) begann jene Epoche der pax Romana, die noch Kämpfe, aber vor allem lange Friedenszeiten sah. Die Bevölkerung dieses weitgestreckten Reiches wird mit einer Zahl von 50 bis 80 Millionen Menschen geschätzt, von denen in der Zeit des Tacitus (um 48 n. Chr.) etwa 6 Millionen das römische Bürgerrecht besaßen. In ähnlichem Verhältnis wie diese Zahlen über den Rechtsstatus (allerdings nicht deckungsgleich) standen die sozialgeschichtlichen Zahlen über das Verhältnis der Einwohner der Städte zu dem der Landbevölkerung (ca. 1:10). Die romanisierte Bevölkerung, an deren Spitze die Angehörigen des Senatorenstandes standen, bildete noch immer eine Minderheit im Römischen Reich, aber sie bildete eine Trägerschicht für die römischen Werte, deren Größenordnung sie von der Zahl der Athener Bürger deutlich abhob. Es war diese Welt, in die Jesus von Nazareth hinein geboren wurde und die sein Wirken auf lange Sicht sehr nachhaltig verändern sollte. Zu Lebzeiten Jesu war sein Wirkungshorizont freilich noch eng auf das heilige Land beschränkt. Sein Wirken und die Werte, die er durch sein Wirken und sein Leben vermittelte, und von denen die Evangelien Zeugnis ablegten, waren von einem anspruchsvollen Geist erfüllt, der für die römische Gesellschaft in

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dieser Form neu war. Die Sittengesetze des Augustus regelten die Heiratspraxis der römischen Oberschicht in weiterem Sinne und in einem Maße, das das Verhältnis von öffentlichem und privaten Leben zugunsten des princeps verschob, aber an die Ethik der Akteure stellten sie keine Anforderungen. Solange die Rahmenbedingungen eingehalten wurden, hatten die Römer einen erheblichen Gestaltungsfreiraum in der Führung ihres Lebens. Es gab keinen Moralkodex für die zu dieser Zeit knapp fünf Millionen römischen Bürger. Das Reich wurde regiert, indem die führenden Stände (ordines) vor Ort die Ordnung nach regionalen Regeln und den Erfordernissen ihrer eigenen Interessen aufrecht erhielten. Die Rechtsordnung, die politische und die soziale Ordnung folgten dabei in vielen Punkten der jeweiligen Tradition. Das römische Recht, das durch seine Verbindung mit dem Kirchenrecht im hohen und späteren Mittelalter eine wichtige Ordnungsfunktion erhielt, galt in der Zeit des Prinzipats und der römischen Kaiserzeit nur für die römischen Bürger in den Grenzen Italiens. So hatte die Regierung des gewaltigen Reiches einen starken regionalen, bisweilen lokalen Charakter. Die Interpretation dessen, was unter der römischen Herrschaft zu verstehen sei, erfolgte vor Ort. Entsprechende Spielräume waren möglich, solange die grundsätzliche Ordnung respektiert wurde. Die regierenden Familien, die dem Senatoren- oder dem Ritterstand angehörten, waren Rom insofern verpflichtet, als sie für eine regelmäßige Weiterleitung der veranschlagten Steuern sorgen mussten. Das Interesse an dem Steueraufkommen sorgte unter Caracalla (211-217 n. Chr.) dafür, dass jeder freie Untertan des römischen Reiches das Bürgerrecht erhielt. Um diese Zeit erschien dem Kirchenvater Tertullian der gesamte Erdkreis für die Menschen erschlossen. Seine Bestandsaufnahme aus dem frühen dritten Jahrhundert klingt für einen heutigen Leser überraschend:8 Wenigstens liegt es auf der Hand, dass der Erdkreis selbst von Tag zu Tag mehr angebaut wird und kultivierter ist als ehedem. Alles ist bereits zugänglich, alles erforscht, alles für den Verkehr erschlossen; verrufene Einöden sind längst in die lieblichsten Triften verwandelt, Wälder zu Ackerfeld urbar gemacht, die wilden Tiere durch die zahmen vertrieben, Sandflächen besäet, Felsen gesprengt, Sümpfe ausgetrocknet und die Zahl der Städte ist so groß als ehedem die der Hütten. Auch die Inseln sind nicht mehr Ge-

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genstand der Furcht, Klippen schrecken nicht mehr, überall sind Wohnungen, überall Bevölkerungen, überall Staaten, überall Leben. Wir sind der Erde eine Last, kaum reichen die Elemente für uns aus, die Bedürfnisse werden knapper und überall gibt es Klagen, da uns die Natur bereits nicht mehr erhalten will. In Hinblick auf die tatsächliche Größe der Welt erscheint Tertullians Feststellung verfrüht. Der Ton ist einem modernen, ökologisch bewussten Zeitgenossen nicht unvertraut. Er zeigt, dass der kritische Blick auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt schon eine gewisse Tradition hat. Jede Zeit hat ihre Maßstäbe. Sie ändern sich mit den Möglichkeiten, und Tertullians Welt, das römische Reich um das Jahr 200 n. Chr., hatte aus moderner Sicht vergleichsweise bescheidene Möglichkeiten. Tertullians Worte gaben einem Weltverständnis Ausdruck, in dem sich eine lange Phase ohne größere Kriege niederschlug. Man hatte einen weiten Horizont gewonnen. Die Menschen innerhalb dieses Horizontes teilten sich in viele verschiedene Völker, die sich mitunter fremd gegenüberstanden. Tertullian verfasste als produktiver Schreiber mit einem langen Leben auch zahlreiche polemische Texte. Aber noch schienen diese Völker kontrollierbar. Für christliche Autoren und Akteure, die sich zu Beginn des dritten Jahrhunderts in der lateinischen Kultur bewegen konnten, schien das römische Reich ein weites Aktionsfeld zu bieten. Allerdings bedeutete dieser Befund aus der Sicht des römischen Reiches auch einen Krisenbefund, denn die Kaiser standen den Christengemeinden mit wachsendem Misstrauen gegenüber. Ihre eigenen Ansprüche an die herrschaftliche Kontrolle über ihre Untertanen steigerten die Kaiser seit dem späten zweiten Jahrhundert zunehmend. Das Jahrhundert, das auf Tertullian folgte, war eine Zeit vielfacher Krisen. Das römische Reich wurde durch soziale, militärische und politische Spannungen erschüttert. Tertullians Gewissheiten galten nicht mehr. Für die Christen, die in der geordneten römischen Welt aufgewachsen waren, waren die Erschütterungen dieser Ordnung bedrückend. Aber sie eröffneten den Anhängern des neuen Glaubens auch neue Perspektiven. Die heidnische Welt der Römer hatte zwischen der pietätvollen Verehrung der Götter im heimischen Kult und den ethischen Ansprüchen an die eigene Lebensweise keinen notwendigen Zusammenhang gesehen. Man pflegte den Kult aus familiärer Tradition, aber die Götter der Rö-

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mer hatten keine Ansprüche an das Verhalten ihrer Anhänger. Manches Mitglied der Oberschicht mochte sich auf die Verbesserung seines Lebenswandels konzentrieren. Die Selbstvervollkommnung war auch ein Ideal gebildeter Heiden. Aber dies war ein persönlicher Weg. Die heidnische Götterwelt des antiken Rom stellte keine ethischen Forderungen. Sie hätte selber Schwierigkeiten gehabt, ihnen zu genügen. Diese Welt besaß kein verbindliches Regelwerk für diejenigen, die sich ihr zugehörig fühlten. Sie besaß auch keine Strukturen, Institutionen oder Autoritäten, die solche Verhaltensregeln hätten verbreiten oder durchsetzen können. In religiöser und ethischer Hinsicht war das römische Reich eine kleinteilige Welt mit weitem Horizont. In dieser Welt traten die Christen nun mit einem ungewohnten Rigorismus auf. Ihr Gott, der seinen Sohn zu den Menschen geschickt hatte, um ihnen ein neues Gebot zu übermitteln und durch das eigene Opfer zu bekräftigen: Liebet einander, verlangte von seinen Anhängern ein Verhalten, das ihren Glauben widerspiegelte. Stellt Eure Glieder nicht der Sünde zur Verfügung als Waffen der Ungerechtigkeit, sondern stellt Euch Gott zur Verfügung als Menschen, die vom Tod zum Leben gekommen sind, und stellt Eure Glieder als Waffen in den Dienst Gottes (Röm. 6,13). Eine solche Aufforderung zu einem gottgefälligen Leben, die der Apostel Paulus an die Römer schickte, war den Anhängern heidnischer Kulte fremd. Sie war anspruchsvoll und stellte eine direkte Verbindung von göttlichem Auftrag (wie sind Erben Gottes und Miterben Christi, Röm. 8,17) und praktischer Lebensführung her. Die Briefe des Paulus hielten die Gemeinden zur Solidarität, zum Ertragen der jeweiligen Schwächen und zur gemeinsamen Hoffnung an. Es musste nicht überall so sein, wie die Apostelgeschichte über die frühe Gemeinde berichtet, dass sie ein Herz und eine Seele war und alles miteinander teilte. Aber das frühe Christentum gewann aus der Einheit von Glauben, gemeinsamer Liturgie und hohem Ethos der Lebensführung eine besondere Dynamik. Und das hohe Ideal, das in der widerspenstigen Realität menschlicher Schwächen, die auch den frühen Christen nicht fremd waren, ein weites Betätigungsfeld fand, forcierte einen moralischen Ton in den frühen Christengemeinden. Tertullian gab dafür wortgewaltige Beispiele. An die frühen Christen wurden klare Ansprüche formuliert. Noch waren dies einzelne Gemeinden. Und die

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Entwicklung forderte Widerstand heraus. In einer letzten großen Kampagne, die der christlichen Tradition viele Märtyrer bescherte, überzog Diokletian zu Beginn des vierten Jahrhunderts die Christengemeinden seines Reiches mit blutigen Verfolgungen. Er hielt die Entwicklung nicht auf. Und einige Jahre nach dem Ende der letzten Christenverfolgung eröffnete die Duldung der neuen Religion durch Konstantin den Großen (306-337), der sich selbst zu ihr bekannte, dem Christentum die Perspektive erfolgreicher Mission im römischen Reich. Mit Konstantin wurde das Reich nicht christlich: Die Christen wurden ein Teil des Reiches. Das Heidentum blieb noch längere Zeit lebensfähig, es stellte Kaiser und wusste sich zur Wehr zu setzen. Der Begriff der christlichen Zeiten (christiana tempora), der gelegentlich für diese neue Zeit herangezogen wurde, war nicht als Lob, sondern als bitteres Etikett für eine Zeit gemeint, in der die Barbaren in das Reich einfielen und ganze Armeen untergingen. Es ist unser Wille, daß alle Völker, die von unserer Gnade regiert werden die Religion praktizieren, die der heilige Apostel Petrus den Römern übermittelt hat…9 Mit diesem Dekret aus dem Jahre 380 reduzierte Kaiser Theodosius I. alle anderen Glaubensrichtungen, Religionen oder Kulte zu verkommenen und ungesunden…Häresien. Zwei Jahre zuvor hatte ein westgotisches Heer bei Adrianopel die Truppen des Kaisers Valens niedergemacht. 20.000 römische Soldaten und der Kaiser ließen ihr Leben. Die heutige Geschichtsschreibung sieht in diesem Ereignis den Beginn der Völkerwanderung, die in den folgenden zwei Jahrhunderten zum Niedergang des römischen Reiches beitrug. In der Frage der Wertehorizonte führte die Völkerwanderung zu einer Neuformierung Europas, die bis weit in das 11. Jahrhundert hinein fortwirkte. Aber in der Zeit des gefährdeten römischen Reiches erhielten das Christentum und sein Ethos noch eine Ausprägung, die lange Zeit nachwirkte. Augustinus, Bischof in der nordafrikanischen Stadt Hippo Regius, starb im August 430 im hohen Alter von fast 80 Jahren, während seine Stadt von den Vandalen belagert wurde. Die Vandalen hatten im Zuge der Völkerwanderung einen langen Weg aus dem Donauraum über Gallien, die iberische Halbinsel nach Nordafrika zurückgelegt. Sie hatten in der Silvesternacht 406 den gefrorenen Rhein überquert und waren 23 Jahre später von

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Spanien über die Meerenge nach Nordafrika übergesetzt und waren auf Kathargo vorgerückt. So hatten sie auf ihrem Weg einen weiten Bogen durch den Westen des römischen Reiches geschlagen. Die Tatsache, dass sie weder in Gallien noch in Spanien sesshaft wurden, deutet auf die Konkurrenten hin, denen sie dort begegneten. Der Westen des römischen Reiches erlebte unruhige Zeiten. Dabei hatte Augustinus in einer früheren Schrift über Die wahre Religion (389) noch zuversichtlich festgestellt: Die machtvoll über den ganzen Erdkreis verbreitete katholische Kirche bedient sich aller Irrenden, sofern sie einsehen wollen, zu deren eigenen Vorteil und zu ihrer Heilung. Und sie benützt die Heiden als Material für ihr Wirken, die Häretiker zur Erprobung ihrer Lehre, die Schismatiker als Beweismittel für ihre Beständigkeit und die Juden zum Vergleich ihrer Schönheit.10 Die Vandalen, die Augustins Stadt belagerten, waren keine Katholiken, ebenso wenig wie die Goten. Diese wandernden Stämme verstanden sich als Christen, aber sie waren keine Katholiken. Sie hatten ein eigenes Verständnis des Wesens Jesu, den sie als einen besonderen Menschen, nicht aber als den Sohn Gottes ansahen. Nach dem Presbyter Arius aus Alexandria, der diese Lehre als erster formulierte, nennt man die Anhänger dieser Überzeugung Arianer. Die Arianer fügten sich nicht in das Bild des Augustinus. Dabei ging es um mehr, als um rein religiöse Fragen. Augustinus, der zu den Kirchenvätern zählt, und der im Mittelalter die meistzitierte Autorität zu vielen Fragen des christlichen Lebens war, sah Ethik und wahren Glauben nicht als getrennte Bereiche an. In seinem Alterswerk Vom Gottesstaat, in dem er eine wirkungsmächtige Deutung der menschlichen Geschichte als Kampfplatz der streitenden Kirche und der Anhänger weltlicher Werte entwarf, standen die ethischen Fragen letztlich alle in der Perspektive der Heilsgeschichte. In unserer Gegenwart verbindet das Mittelmeer die Küsten Afrikas und Europas nicht mehr zu einem Kulturraum. Viele Europäer sehen mit Sorge auf die Entwicklungen in Afrika. Sie scheinen einer anderen Welt anzugehören, vor der wir die geistigen und ökonomischen Werte Europas schützen möchten. Wir sollten aber in Erinnerung behalten, dass die Werte in diesem Europa noch immer in einer Tradition stehen, zu der die nordafrikanischen Christen in der späten Antike maßgebliche Beiträge geleistet haben.

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Mag es immerhin den Anschein haben, als geböte der Geist in löblicher Weise über den Leib und die Vernunft über die Leidenschaften, muß man doch sagen: Wenn Geist und Vernunft nicht ihrerseits Gott so dienen, wie er selbst seinen Dienst befohlen hat, können sie über Leib und Leidenschaften unmöglich so gebieten, wie es recht ist.11 Für Augustinus galt das Glück in Gemeinschaft durchaus als erstrebenswertes Ziel, aber von Dauer war doch nur die Gemeinschaft der Gläubigen, die die Gebote Gottes hielten und in der Hoffnung auf seine Heilszusage lebten. Sie bildete den Gottestaat (civitas dei), dem kein äußeres Staatswesen entsprach. Die Ethik dieses Gottesstaates war sehr viel unschärfer gefasst als die Ethik im Staatswesen des Aristoteles, in dem die Bürger sich kannten. Der Gottesstaat bestand nicht aus Menschen, die ihres Bürgerrechts gewiss sein konnten und die ihrem Leben und seinen Prüfungen mit gelassener Vernunft begegneten. Das Bürgerrecht des Gottesstaats, den Augustinus entwarf, wurde allein durch den Ratschluss Gottes verliehen, nicht durch die Verdienste und Mühen der Menschen. Und es war allein Gott, der dem Frieden in der menschlichen Gemeinschaft und der Glückseligkeit Dauer verleihen konnte. Augustinus entwarf ein Bild der menschlichen Existenz und der menschlichen Gemeinschaft, das sich von dem der antiken Philosophen deutlich unterschied. Er hatte sie gelesen, aber seine Bekehrung zum Christentum hatte ihn auf einen anderen Weg geführt. Im Gottesstaat präsentierte er die sozialen Welten, in denen sich Männer seiner Herkunft bewegten, in dunklen Farben. Die Welt der philosophischenTugenden: trostlos ohne die wahre Frömmigkeit; die menschliche Gemeinschaft: jammervoll, wenn nicht auf Gott gebaut; die Sicherheit des Rechts (man denke an Sokrates): grausam und willkürlich, wenn nicht auf göttlicher Gerechtigkeit begründet; die Vielfalt der Völker: Die Zumutungen fremder Sprachen und Kriege; die Vertrautheit im Kreis der Freunde: nur die Sorge um den Verlust. Der Gottesstaat ist ein Alterswerk. Und doch stimmte der alte Bischof ein Klagelied an, in dessen negativer Energie die Lebenswelt der antiken Oberschicht versinkt. Ein moderner Leser würde vielleicht sagen, der Bischof von Hippo dekonstruiere die alten Gewissheiten aus der Perspektive der Heilsgeschichte. Doch das klingt zu positiv. Augustinus klingt anders. So ist die Erde eine Brutstätte zahlloser Übel.12 Das hat

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Folgen. Augustinus legt nicht sehr viel Wert auf differenzierte ethische Regeln. Darum kümmert es diesen Staat nicht, in welcher Tracht oder Lebensweise jeder den Glaubensweg gehen mag, der zu Gott führt. Man darf nur nicht gegen Gottes Gebote verstoßen.13 Wenn die soziale Welt ein so vergängliches Gefüge war, das nur Elend und Jammer bereithielt, dann verdiente sie nur eine begrenzte Aufmerksamkeit. Augustinus’ Leidenschaft galt der erlösten Welt, deren Friede und immerwährendes Glück durch die Treue Gottes garantiert wurde. Wenn es soweit war. Seit den Tagen des großen Kirchenvaters sind annähernd eintausendsechshundert Jahre vergangen, in denen der Geschichtsverlauf, den er als Ringen der rechtgläubigen Menschen mit den Anhängern religiöser Irrlehren und weltlicher Werte entwarf, noch nicht zu einem Ende gekommen ist. In dieser Zeit hat sein Werk in der katholischen Welt eine lange und nachhaltige Bedeutung erlangt. Augustinus war eine wichtige Autorität bis weit in die frühe Neuzeit. Und das Bild der Welt, in der die Menschen handeln, ist für die Regeln, nach denen die Menschen ihr Leben ausrichten, von erheblicher Bedeutung. Die Welt des Augustinus war eine andere als die überschaubare, aber durchaus abgründige Welt der griechischen Stadtstaaten und ihrer Folgeordnungen. Sie war brüchiger geworden. Dagegen setzte Augustinus weniger neue Regeln als vielmehr die Hoffnung des Glaubens. Eine Hoffnung, die für alle galt, die durch die Taufe in die katholische Kirche aufgenommen waren. Allerdings gab es Grenzen. Die Bedeutung der Sklaverei hatte in der Wirtschaft des späten römischen Reiches abgenommen. Die Landarbeit wurde auch von Arbeitskräften getragen, die frei waren, aber schlecht bezahlt wurden. Die Bedeutung der persönlichen Unfreiheit für den Status ließ etwas nach, aber noch immer gab es in der antiken Welt viele Sklaven. Und die Kriege des ausgehenden römischen Reiches brachten viele Gefangene, die versklavt wurden. Die Haltung des Augustinus lässt erkennen, dass der Gottesbezug seines Denkens der Universalität des Christentums durch die Taufe Grenzen setzte. Denn die Knechtschaft war in seinen Augen die Folge der Sünde. Das galt auch für die vielen Kriegsgefangenen, die zu Sklaven wurden. Es gab gerechte Kriege, doch wer in einem gerechten Krieg unterlag, dessen Schicksal war die Folge eines Gottesgerichts. Die Niederlage im Krieg war die Folge der Sünde, und so

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war auch die Sklaverei infolge einer verlorenen Schlacht eine Folge der Sünde. Die Überlegungen des Augustinus zum gerechten Krieg haben in der Christenheit eine lange Wirkungsgeschichte gehabt. Sie gehörten zu den theoretischen Grundlagen der Kreuzzüge. In diesem kurzen Kapitel des Gottesstaates über die Sklaverei deutet sich ein Denken an, das für die Ethik in der europäischen Geschichte lange Zeit von Bedeutung war.14 Auch die Zusagen für alle Menschen ließen sich differenzieren. Gottes Verheißung war universal. Aber damit war sie auch eine universale Herausforderung an alle Menschen, sich katholisch taufen zu lassen und entsprechend den Geboten Gottes zu leben. Die Sünder taten das nicht. Sie schlossen sich selbst aus. Man mochte einwenden, dass das Evangelium wiederholt davon berichtet, wie Jesus ausdrücklich den Zöllner an seinen Tisch ruft, nicht die Gerechten, und dass er in Gleichnissen davon spricht, dass die Sünder seiner Botschaft stärker bedürfen als die Gerechten. Auch die Geschichte von dem Vater, dessen widerspenstiger Sohn doch noch in den Weinberg ging, und der so den Willen des Vaters erfüllte, ließe sich als Aufforderung lesen, jeden Einzelfall genau zu prüfen. Doch die Streiter für die göttliche Wahrheit sind kaum zu verunsichern. Das Schicksal der Gottlosen war hoffnungslos (ewige Unseligkeit). Und ihre Zahl war groß: Heiden und Anhänger der vielen Irrlehren. Es gab viele Formen des Lebens in Sünde. Die Sklaverei war eine Folge der Sünde. Wobei man sich vor Augen halten muss, dass die Sklaverei im fünften Jahrhundert ein bitteres Los war. Kriegsgefangene wurden in der Regel nicht zu Sklaven in privilegierten Haushalten der Oberschicht, sondern häufig zu rechtlosen Arbeitskräften in den Latifundien, die die Grundlage der Wirtschaft dieser Zeit bildeten. Das römische Recht, das in dieser Zeit in den großen Rechtskodifikationen gesammelt wurde, gab dem Herren das Recht, über das Leben und den Tod des Sklaven zu gebieten. Der Sklave war eine Sache – auch im römischen Recht, das die Untertanen auf den katholischen Glauben verpflichtete. Tatsächlich blieb die Sklaverei bis in das frühe Mittelalter hinein ein Element der europäischen Wirtschaft. Die Kirche drängte nicht auf ihre Abschaffung. Doch sie bewirkte Veränderungen im Rahmen der bestehenden Ordnung. Schon der Apostel Paulus hatte während einer Haft in Ephesus Besuch von einem Sklaven erhalten. Onesimus war Sklave im Haus des Phi-

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lemon gewesen. Von dort war er geflohen. Vielleicht hatte ihn die Flucht zu Paulus geführt, weil er sich die Freiheit erhoffte. Paulus kannte Philemon, weil sich in dessen Haus eine kleine Christengemeinde versammelte. Der Apostel gewann den entlaufenen Sklaven für das Christentum und schickte ihn an Philemon zurück. Das kleine Begleitschreiben ist erhalten, in dem Paulus den Glaubensbruder bittet, Onesimus in seinem Haus aufzunehmen, nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr, als geliebten Bruder (Philem.,16). Des Appells hätte es wohl nicht bedurft, wenn der neue Glaube Onesimus die tatsächliche Freiheit gegeben hätte. Paulus bittet um eine Statusänderung im Rahmen der bestehenden Verhältnisse. Es war in der Tat ein Unterschied, ob man im Haus eines gebildeten Christen in Phrygien als Mitglied der Hausgemeinschaft aufgenommen wurde, oder ob man als Sklave auf afrikanischen Latifundien arbeitete, wo allein die Zahl die Aufnahme als Bruder ausschloss. Das Christentum nahm an dem Rechtsstatus der Sklaven bis in die Karolingerzeit hinein keinen grundsätzlichen Anstoß. Wo es möglich war, drängte man auf eine menschliche Behandlung. Das Christentum änderte die Welt der Antike nicht in ihren Grundfesten, und das konnte es auch nicht. Paul Veyne hat darauf hingewiesen, dass die Christen zu dem Zeitpunkt, als sich Kaiser Konstantin für die Duldung und begrenzte Unterstützung ihrer Religion entschied, vielleicht zehn Prozent der Untertanen des Reiches ausmachten. Aber es schien eine Gruppe zu sein, deren Dynamik für die Zukunft stand. In dem Maße, in dem das Christentum zur römischen Staatsreligion wurde, nahm die Zahl der Gläubigen zu, deren Eifer sie nicht zu neuen Ufern trieb. Das war unvermeidlich. Auch Augustinus war sich dessen bewusst. Aber änderte die Ausbreitung eines Glaubens, der alle Anhänger zu Kindern des einen Gottes machte, nicht doch die Grundlage des Zusammenlebens? Orosius, ein spanischer Priester, widmete seine Sieben Bücher der Geschichte gegen die Heiden Augustinus. Für Orosius hatte der christliche Glauben zur Beruhigung einer kriegerischen Welt beigetragen. Mögen über der Erinnerung an die Vergangenheit doch diejenigen erröten, die jetzt wissen, daß sie allein durch die Einwirkungen des christlichen Glaubens und nur durch das Mittel einer eidlichen Verpflichtung mit den Feinden zusammenleben und nichts Feindliches erleiden…15 Der Eid auf

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das Evangelium, der Barbaren und Römer auf ihren gemeinsamen Schöpfer verpflichtete, sorgte für Rechtssicherheit. Er schuf Einheit. So sah es Orosius. Augustinus war weniger hoffnungsfroh. Die Aussichten waren dunkel. Wenn er auf den Erdkreis sah, sah er in der Begegnung der Völker und Kulturen Ärgernis, Ungerechtigkeit und Leid. Die Größe des römischen Reiches schuf keine Abhilfe. Um welchen Blutzoll war sie erkauft, und um welchen Preis wurde sie aufrecht erhalten? Noch immer gab es äußere und innere Kriege. Der Blick auf den Erdkreis zeigte ein Bild des Leides.16 Die äußeren Kämpfe waren bitter, aber gefährlicher für den Menschen und sein Heil waren die alltäglichen Kämpfe: Wie steht es ferner mit der Tugend selbst…? Sie beansprucht den Vorrang unter allen menschlichen Gütern und kann doch hieniden nichts weiter tun, als ohne Aufhören mit den Lastern zu kämpfen, und zwar nicht denen, die draußen, sondern drinnen sind, nicht fremden, sondern durchaus selbsteigenen.17 In dunklen Farben und in immer wiederkehrenden Wiederholungen machte Augustinus die menschliche Sexualität als gefährliche Quelle menschlicher Verworfenheit aus. Sie widersetzte sich der Kontrolle durch den Willen und führte den Menschen, der ihr folgte, ins Verderben. Tatsächlich war sie die Quelle seines Verderbens. Nach der Überzeugung des Augustinus wurde die Sünde Adams im Paradies durch den Geschlechtsakt mit Eva, der die Voraussetzung für das Entstehen weiterer menschlicher Generationen war, an die Kinder weitergegeben. So wurde die tatsächliche Fortpflanzung zur Quelle der Erbsünde, die in eben dieser Weise von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Der sexuellen Begierde widmet Augustinus ein eigenes Buch im Gottesstaat. Die Verurteilung der Sexualität hatte noch eine weitere Folge. Da Augustinus die in der Antike nicht unübliche Homoerotik (die auch keinen Fortpflanzungsaspekt hatte) nicht behandelte, konzentrierte er seine Energien auf die Unterordnung der Frauen unter eine funktionale Sexualdisziplin. Um den Weg von dem keuschen Paar im Paradies zur großen Schar katholischer Heiliger zurückzulegen, die zumindest eine irdische Existenz hatten, bevor sie in den Kreis der Heiligen aufgenommen wurden, kam auch das Geschichtsbild des Augustinus nicht ohne gelegentliche Zeugungsvorgänge aus. Aber, so tröstete er sich, die gottgefällige

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Zeugung war eine Zeugung ohne Wollust. Die paradiesische Zeugung wäre dem sinnvollen Gebrauch der Hände oder Füße vergleichbar. Augustinus verwendete einige Beredsamkeit darauf, junge Frauen für den Stand der Jungfräulichkeit zu gewinnen und sie darin zu erhalten. Frauen, die sich auf diese Vorgaben nicht beschränken lassen wollten, waren ihm dagegen suspekt. Und er verlangte, sie mit entsprechender männlicher Autorität in die Schranken zu weisen. Die Schilderungen sexueller Anfechtungen und die beharrliche Wiederkehr des Themas in seinen Schriften sind auffällig. Und sie warfen einen langen Schatten. Die Verdammung der Sexualität durch einen Kirchenvater von seiner Bedeutung hat der katholischen Kirche über Jahrhunderte ein Normenmodell für den Umgang unter den Geschlechtern nahegelegt. Die moderne katholische Kirche hat von der Jungfrauenberatung Abstand genommen, aber sie interveniert noch immer vergleichsweise häufig bei Themen, die als Folgethemen der Sexualität angesehen werden können. Augustinus war eine wortgewaltige und durch seine Stellung im afrikanischen Episkopat auch mächtige Stimme seiner Zeit. Sein Werk entfaltete über die Jahrhunderte eine enorme Wirkung. Aber er war nicht die einzige Stimme. Es gab auch geistreiche Vertreter des alten Menschenbildes, die das antike Bemühen um eine harmonische Diesseitigkeit für vereinbar mit dem Christentum hielten. Die unter der Sexualität nicht litten und die der düsteren Szenerie der Erbsünde nicht folgen mochten. Bei diesen Autoren, ebenso wie bei denjenigen, die der katholischen Lehre nicht folgen konnten, zeigte sich Augustinus unduldsam. Er bekämpfte solche Positionen mit Argumenten und mit institutioneller Macht. Den Mönch und Prediger Pelagius, der die Lehre von der Erbsünde ablehnte und eine andere Gnadenlehre vertrat und Bischof Julian von Aeclanum, der als Verteidiger des Pelagius versuchte, das antike Menschenbild gegen Augustinus zu behaupten, wurden von ihm aus kirchlichen Positionen gedrängt. Gegen die häretischen Donatisten, die für eine besondere Reinheit der Kirche in einer Zeit des Umbruchs eintraten, rechtfertigte er auch den Einsatz von Gewalt und legte damit eine Grundlage für die katholische Lehre vom gerechten Krieg. Die Eintracht des handelnden Menschen mit dem sozialen und natürlichen Kosmos war verloren gegangen. Augustinus’ Mensch

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war ruhelos, immer in Gefahr, ein Spielball seiner Leidenschaften zu werden, der göttlichen Gnade zutiefst bedürftig. Die Kräfte, die an den Menschen seiner Zeit zerrten, verdunkelten den sozialen Horizont. In einer Zeit, in der das Christentum tatsächlich zur Religion des römischen Reiches wurde, entwarf Augustinus ein Bild voller Kämpfe, in dem die Gläubigen gegen eine Vielzahl von Feinden ausharren mussten. Es war nicht so, dass der Horizont des römischen Reiches mit dem Universalismus des Christentums zu einem Raum verschmolz, in dem die Menschen nach ähnlichen Regeln lebten, wenn sie dem Willen Gottes folgen wollten. Ein Mensch kann das Lebensgefühl einer Epoche nur dann mit dauerhaften Worten formulieren, wenn seine Sicht die Erfahrung und die Mentalität vieler Menschen zum Ausdruck bringt. Das fünfte Jahrhundert sah im Westen die langsame Ablösung der römischen Ordnung durch die Lebensordnungen der Barbaren. Es war kein dramatischer Wechsel, auch wenn es dramatische Ereignisse gab. So wurde Rom im Jahr 410 durch die Goten erobert und drei Tage lang geplündert. Im Jahre 476 legte schließlich der letzte Kaiser des weströmischen Reiches sein Amt nieder. Eine jahrhundertealte Ordnung ging zu Ende. In den Jahrzehnten zuvor waren ihr einfach die Kräfte und die Mittel ausgegangen. Um das Jahr 400 waren die letzten römischen Magistrate aus England abgezogen worden. Das Imperium zog sich zurück. Übrig blieben die romanisierten Bewohner und Oberschichten der Provinzen, die damit ganz auf sich gestellt waren. In Gallien und entlang des Rheins entstand ein ähnliches Bild. Allerdings waren diese Provinzen nicht schutzlos. Die bewaffnete Abwehr innerer und äußerer Feinde lag bei den Truppen, die schon seit langem von den Verbündeten der Römer aufgebracht worden waren. Ihre Kämpfer stammten aus dem Umland oder waren Abenteurer, die sich zum Waffendienst verpflichteten. Ihre Offiziere erscheinen in den Arbeiten der Archäologen wie romanisierte Kriegshäuptlinge. Allerdings hatten diese Welten häufiger als in den Jahrzehnten zuvor mit Unruhen und Veränderungen durch die Wanderungsbewegungen zu tun, die die Völkerwanderung auf den Weg brachte.

5. Die regionalen Welten der Barbaren Die Völkerwanderung und die Einengung der Horizonte – Mündliche und schriftliche Traditionen – Die Welt der Mönche – Die Regel Benedikts – Autorität und Beratung Die Völkerwanderung veränderte die Bedingungen, unter denen sich die Lebens- und Werteordnungen im westlichen Europa künftig zu bewähren hatten, tiefgehend. Es war eine Veränderung für mehrere Jahrhunderte. Die einschneidenste Neuerung war die Regionalisierung der Horizonte. Das menschliche Leben spielte sich seit dem fünften Jahrhundert in der Regel in kleineren Räumen ab. Die historische Forschung hat das dramatische alte Bild der Völkerwanderung als eines Sturmes, in dem das römische Reich unterging, neu entworfen. Wir sehen die Völkerwanderung heute als eine Bewegung, in der sich Stämme auf den Weg machten, deren Zusammengehörigkeit nicht durch Abstammung, sondern durch Selbstverständnis bestimmt wurde. Wir sehen die Identität der wandernden Völker stärker durch politische, rechtliche und kulturelle Traditionen geprägt als durch ethnische Gemeinsamkeiten. Man wanderte nicht nur deshalb mit den Goten, weil die Eltern Goten waren. Es gab viele Menschen, die sich dem Zug der Goten anschlossen, weil ihnen die Lebensweise dieses Stammes zusagte. Dieser Anschluss wurde ihnen nicht verwehrt. Sie wurden Goten oder Vandalen, weil das Selbstverständnis, die Lebenspraxis und der militärische Erfolg es erstrebenswert machte, zu diesem Volksstamm zu gehören. Die Königreiche, die aus der Völkerwanderung hervorgingen, waren nur im Falle der Franken von langer Dauer. Doch die Völkerwanderung ließ in Europa eine Ordnung entstehen, in der Stammestraditionen und Stammesrechte eine zentrale Bedeutung erhielten. Es waren keine großen Stämme, Man geht davon aus, dass die Zahl der Krieger im Verband der West- oder der Ostgoten jeweils ca. 10.000 – 20.000 Männer betrug. Dazu kamen ihre Familien. Als die Vandalen

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nach Afrika übersetzten, soll ihre Gesamtzahl etwa 80. 000 Menschen betragen haben. Die Trägerschichten der neuen Königreiche waren zahlenmäßig nicht sehr stark. So wurde die Welt der Wertvorstellungen, denen sich die Menschen jeweils verbunden fühlten, kleiner. Aber auch diese kleineren Welten zeigten kein einheitliches Gesicht. Denn die wandernden Volksstämme, die sich nun in Gebieten ansiedelten, in denen bereits eine romanisierte Oberschicht lebte, waren überwiegend Arianer. Sie waren nicht katholisch, und dieser Unterschied verhinderte eine engere Verbindung der alten und der neuen Elite. Die Barbarenvölker hatten eine Kultur, in der die Schriftlichkeit eine geringere Rolle spielte, als bei den Römern. Dadurch entziehen sie sich stärker dem Blick der Historiker, und die Mündlichkeit der Kultur verstärkte die Regionalisierung. Die Kultur von Augustinus, Orosius und von ihren Gegenspielern war eine gebildete Schriftkultur. Augustinus hatte seine Gegner durch persönliche Auftritte, aber auch in einer Vielzahl von Briefen bekämpft. So ließ sich der Konflikt um das richtige Verständnis des christlichen Lebens über weitere Entfernungen tragen. Und die Ansichten der Kontrahenten ließen sich auf diese Weise auch weiter verbreiten. Wertvorstellungen, die aufgeschrieben und gelesen wurden, hatten eine ganz andere Wirkungsmöglichkeit. Die Originalität des Sokrates wäre ohne die Aufzeichnungen Platons bald in Vergessenheit geraten. Die Schriftform leistete den Brückenschlag, den der Veranlasser der Texte mitunter nicht leisten konnte oder auch nicht wollte. Sokrates hatte Athen nicht verlassen wollen, und dennoch regten seine bohrenden Nachfragen noch achthundert Jahre später Menschen zum Nachdenken an, die weit entfernt lebten. Die Schrift ersetzte den persönlichen Auftritt nicht immer, aber für alle Ordnungen der europäischen Geschichte, seien sie politisch oder religiös, die einen weiteren Raum überspannten, war sie ein bedeutendes Hilfsmittel. Auch in dieser Hinsicht brachte der Ausgang der Antike eine bedeutende Verschiebung. Denn mit dem Mittelalter, das nach klassischer Unterscheidung mit der Völkerwanderung einsetzt, beginnt ein Jahrtausend, in dem es für die Machtelite, den Adel und das Königtum, nicht erforderlich war, lesen oder schreiben zu können. Die Versuche Karls des Großen, im fortgeschrittenen Alter noch schreiben zu lernen, hielt sein Biograph für töricht.

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Es gab Könige, die lasen und schrieben. Aber es war für das Ansehen eines Herrschers ohne Bedeutung, ob er Cicero zitieren konnte oder nicht. Er musste ein guter Christ sein: Bibellektüre wurde von ihm aber nicht erwartet. Für das Mittelalter gilt bis in die späten Jahrhunderte hinein, dass die schriftliche Welt eine geistliche Welt war. Für die Werteordnungen dieser Zeit war das von erheblicher Bedeutung, denn viele geistliche Autoren hatten zu dem kriegerischen Ethos des Adels und des Königtums eine distanzierte Haltung. Die universalen Konzepte des Mittelalters waren die Werke geistlicher Autoren. Nicht nur die Kulturen verloren im fünften Jahrhundert ihre Reichweite. Überregionale Märkte verloren ihre Bedeutung, der Warenaustausch beschränkte sich zunehmend auf die Erzeugnisse und Produkte der einzelnen Regionen. Die römischen Straßen, über die keine Legionen mehr zogen, verfielen. Der Regionalisierungsprozess, der Europa auf diese Weise neu formte, hatte auch Folgen für die gemeinsamen Grundlagen der christlichen Ordnung, die das römische Reich als Erbe hinterließ. Das Christentum basierte auf der schriftlichen Überlieferung. Die Bibel, die Beschlüsse der frühen Konzilien und die Schriften der Kirchenväter legten eine gewisse Basis für das Leben der Gläubigen. Solange es einen Austausch über die römischen Straßen gegeben hatte, ließen sich auch Texte austauschen. Man konnte sie abschreiben oder eigene Abschriften vergleichen, um Fehler zu verbessern. Fehler schlichen sich ein, wenn die Augen des einzigen Mönches in einem Kloster, der leidlich Latein konnte, das immer weniger gelehrt wurde, schwach wurden. Das Abschreiben von Texten mit gespitzter Feder auf Pergament war eine anstrengende Arbeit. Wenn man die Texte kaum verstand, war es eine monotone Tätigkeit. Auch wenn es sich um heilige Texte handelte, forderte die gelegentliche Ermüdung ihren Tribut. Und nicht alles erschien gleich wichtig, wenn man Kräfte und Pergament einteilen musste. So erhielten manche kopierten Texte im Laufe der Zeit eine regionale Form. Das westliche Europa, das aus dem Niedergang des römischen Reiches hervorging, war in Hinblick auf christliche und römische Traditionen und Wertvorstellungen, die nun von den neuen Einflüssen überlagert wurden, in zwei Teile geteilt. Nördlich der Donau und östlich des Rheins erstreckten sich weite, unzugäng-

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liche Wälder, die durch keine Straßen erschlossen wurden. Hier lebten heidnische Stämme. Es war eine Welt regionaler und lokaler Kulte, in der es keine zentralen Instanzen gab. Der vormals römische Westen, das beginnende Frankenreich, die iberische Halbinsel, Britannien, wurde von einem Netz römischer Städte überspannt. Ihre Bedeutung als Wohnorte der Elite und als Marktorte ging deutlich zurück, aber sie hatten Anschluss an römische Straßen und sie waren Sitze der Kräfte, die die Tradition der römischen Kultur in die neuen Bedingungen der christlichen und barbarischen Welt hinüberführten. Die Bischöfe stiegen in diesen Zeiten des frühmittelalterlichen Übergangs zu Faktoren einer neuen Ordnung auf. Sie entstammten in der Regel der Schicht der Großgrundbesitzer, die als senatorischer Adel die Schaltstellen der alten Ordnung innegehabt hatten. In dem Maße, in dem die zivilen Magistrate der Römer sich aus der Verantwortung für die Rechtsprechung und Verwaltung der Provinzen zurückgezogen hatten, waren die Bischöfe an ihre Stelle getreten. Die Bischöfe verfügten aufgrund ihrer Herkunft über die Mittel, die die Regierungsaufgaben erforderten, und sie verfügten über die Bildung und die Kompetenzen, um diese Aufgaben wahrzunehmen. Doch zunächst führt uns die Frage der Werteordnung aus der Welt hinaus. Das Christentum war eine Religion der Schrift. Seine Werte wurden durch eine Tradition der Kirchenväter und Konzilien geprägt und weiter vermittelt. Eine solche Tradition hatte es nicht leicht in einer bäuerlichen Umgebung, in der nur sehr wenige Menschen lesen und schreiben konnten. Das Christentum war eine universale Kraft, aber wer lebte diese Universalität in einer Umwelt, in der es nur wenige Priester gab, und in der die Kirche, die die meisten der heutigen Zeitgenossen für eine bedeutende Macht im Mittelalter halten, tatsächlich bis weit in das hohe Mittelalter hinein nur über eine sehr dünne und schwach vernetzte Personaldecke verfügte? Wer vermittelte die Werte in einer Welt der Dörfer, wenn niemand lesen konnte und es deshalb auch nur wenige Bücher gab? Die Antwort führt im strengen Sinn aus der Welt des Mittelalters hinaus. Sie führt zumindest auf die Spur von Menschen, die sich aus dieser Welt zurückziehen wollten – in ein abgeschlossenes Haus, ein claustrum, oder Kloster. Die Mönche bildeten seit dem frühen Mittelalter eine dünne, aber zunehmend

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universal ausgerichtete Trägerschicht für die christlichen Werte, die in der Zeit von der Völkerwanderung bis zur Vollendung des ersten Jahrtausends zu einer europäischen Bezugsgröße wurden. Dabei zeigt sich eine eigentümliche Dialektik im Verhältnis von ursprünglichem Adressaten und späterem universalen Wirkungskreis. Ein Mönch war eigentlich ein Mensch, der sich in die Stille zurückzog, um gemeinsam mit Gleichgesinnten ein Leben des Gebets, des Gottesdienstes und der Arbeit zum Lobe Gottes zu führen. Die alte Kirche kannte verschiedene Traditionen der Askese. Das Mönchtum, das sich in Europa durchsetzte, orientierte sich seit der Zeit Karls des Großen zunehmend an der Lebensregel, die Benedikt von Nursia (gest. ca. 547) als Abt von Montecassino verfasst hatte.1 Zu dem Zeitpunkt ihrer Abfassung galt sie nur für das Kloster Montecassino, und nach der Zerstörung des Klosters durch die Langobarden (577) gelangte sie in die päpstliche Bibliothek. Erst im achten Jahrhundert erlangte sie durch die entschiedene Unterstützung der fränkischen Könige eine weite Verbreitung und wurde zur Lebensregel für die Klöster des lateinischen Christentums. Diese Klöster wurden überall in Europa, bevorzugt von adligen Familien, gegründet, und ihr Wirkungskreis ging weit über ihre geschlossenen Mauern hinaus. Benedikt von Nursia hatte das Kloster als eine Schule für den Dienst des Herrn gesehen. Und solange das mittelalterliche Europa eine überwiegend agrarische Welt war, in der mindestens 9 von 10 Menschen auf dem Land lebten, waren die Klöster die Stätten der Bildung und der religiösen Unterweisung. Im lateinischen Europa vor der Jahrtausendwende gab es kaum Städte von Bedeutung, namhafte Bibliotheken konnte man fast nur in den Klöstern finden. Die Mönche waren ein kleiner Teil der Bevölkerung und tatsächlich waren sie nicht mobil. Im Gegenteil, die Ortsfestigkeit, die stabilitas loci, war ein fester Grundsatz ihrer Lebensweise. Aber da sie zunehmend einer Lebensregel folgten, und da diese Lebensregel neben den Grundsätzen des klösterlichen Lebens auch ein Grundverständnis des zeitgenössischen Christentums vermittelte, gibt sie uns wertvolle Hinweise darauf, welche Grundzüge des christlichen Lebens im frühen Mittelalter universale Verbreitung fanden. Der Erfolg der Benediktsregel gibt auch Auskunft über die Erfolgsbedingungen universaler Lebensordnungen. Sie weisen über das klösterliche Milieu hinaus, in dem sie entstanden sind.

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Es wäre ein Mißverständnis, die verordnete Förderung der Benediktsregel durch die fränkischen Königs als alleinigen Grund ihres Erfolges anzusehen. Ludwig der Fromme, der Sohn Karls des Großen, der das benediktinische Mönchtum entschieden unterstützte, erlebte während seiner Herrschaft schwere Krisen. Die Reichweite seiner Macht war begrenzt. Der Erfolg der Benediktsregel erklärt sich auch aus dem hohen Ansehen, das Benedikt von Nursia genoss, seit Papst Gregor der Große im späten sechsten Jahrhundert den Mönchsvater als heiligen Menschen portraitiert hatte.2 Gregors Schriften genossen hohes Ansehen, und wer in ihnen als Vorbild gelobt wurde, war der Nachfolge wert. Vor allem aber verdankt die Benediktsregel ihren Erfolg ihrer Qualität, ihrer Klarheit und ihrem Maß, mit dem sie die hohen Ansprüche in Vorschriften für das mönchische Leben überführte. Einzelne Kapitel der Regel wurden regelmäßig bei den Mahlzeiten der Möche verlesen. So war der Text der Regel in jedem Kloster präsent. Das vierte Kapitel der Regel nennt die Werkzeuge der guten Werke. Es sind 74 einfache Vorschriften, die für das Leben im Kloster und für das gelungene christliche Leben gelten. Das Kapitel verbindet die Regeln, die besonders für das Kloster gelten (sich oft zum Beten niederwerfen) mit Vorschriften, die auch für Menschen außerhalb des Klosters galten (nicht täuschen, aber auch mit der Bedeutung nicht ehebrechen). Tatsächlich verbindet der Auftakt des vierten Kapitels die Worte des Alten Testaments zum Umgang mit den zehn Geboten (Dt. 6,5) mit der Forderung der Nächstenliebe: Vor allem: Gott, den Herrn lieben/mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit ganzer Kraft. Ebenso den Nächsten lieben wie sich selbst. Dieser Auftakt des Kapitels über die Werkzeuge der guten Taten bietet eine kraftvolle Verbindung der zehn Gebote mit der Lehre des Neuen Testaments nach den Worten Jesu in Jerusalem. Die Verse gehen dabei über das christliche Umfeld hinaus. Denn nachdem der Text die Gebote fünf bis zehn des Dekalogs in kurzer Fassung und leicht geänderter Reihenfolge nennt, schließt der Absatz mit den Maximen: Alle Menschen ehren/Und keinem etwas antun,/was man nicht selbst erleiden möchte. Beide Sätze haben direkte Vorbilder im biblischen Text – im 4. Gebot (Ehre Vater und Mutter), das hier auf alle Menschen übertragen wird, und in der Goldenen

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Regel der Bergpredigt, nach der man das, was man von anderen Menschen erwartet, ihnen selbst zuteil werden lassen soll (Mt 7,12). In dieser Zusammenstellung erhält der Text eine geradezu naturrechtliche Qualität. In Verbindung mit der Weisung an den Abt im vorangehenden Kapitel, Sklaven und Freie, die in das Kloster eintreten, in gleicher Weise zu behandeln, entsteht so fast der Eindruck, als sei das benediktinische Kloster des frühen Mittelalters eine Schule der gottesfürchtigen, aber freien Menschheit gewesen. Der Eindruck täuscht. Denn auch die Lektüre eines so einfachen Textes wurde durch die soziale Erfahrung der Menschen geleitet, die ihn lasen. Diese Menschen waren keine Sklaven, und sie stammten auch nicht von Unfreien ab. Die Klöster, deren Leben sich an der Benediktsregel ausrichtete, und deren Mönche die Lehre des Christentums in ihrem Umfeld verbreiteten, waren in aller Regel von adligen Familien gegründet worden. Viele Mönche entstammten diesen Familien, und viele von ihnen waren dem Kloster nicht aus eigenem Entschluss beigetreten. Sie waren bereits als Kinder in die Obhut des Klosters gegeben worden. Und sie wuchsen in die Welt hinein, die ihre Lebenswelt als Erwachsene werden sollte. Es war eine adlige Welt. Die berühmte Hildegard von Bingen stand im 12. Jahrhundert einer Frauengemeinschaft vor, die nach den Regel der Benediktiner lebte. Hildegard nahm in ihren Reihen nur adlige Bewerberinnen auf. Kritik an dieser Praxis wies sie zurück. Gott habe die Menschen unterschiedlich geschaffen.3 In Hildegards Zeit wurde diese Überzeugung fragwürdig. Viele Menschen begannen, dem Ideal des apostolischen Lebens nachzueifern, einem Leben in Armut, bei dem man versuchte, dem nackten Christus nackt zu folgen. Darin schlug sich der soziale Wandel nieder, der die Leitbilder von Hildegards Welt veränderte. Die Benediktinerklöster des frühen Mittelalters hatten die Armen regelmäßig gespeist. Sie hatten sie nicht in ihre Reihen aufgenommen. Die Universalität des benediktinischen Mönchtums, die das christliche Europa tiefgreifend prägte, war eine Bewegung der höheren Stände. In dieser Welt wurden die christlichen Werte zuerst heimisch. Und ihre Erwartungen wirkten auf die Umsetzungen der christlichen Wertvorstellungen zurück. Die Verbindung von Askese und Barmherzigkeit, die das vierte Kapitel der Benediktsregel verlangte, war für einen jungen Adli-

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gen ein zumutbarer Maßstab. Das Kapitel wechselt seine klaren Maximen für eine gottgefällige Lebensführung (Nicht stolz sein/ nicht trunksüchtig/nicht gefräßig) mit Vorschriften, die den Christen an seine besondere Verantwortung vor Gott erinnerten. Benedikt ging von wirklichen Menschen aus, deren Antriebskräfte und Leidenschaften eine Herausforderung für sie selbst und für die Gemeinschaft waren, in der sie lebten und wirkten. Er wusste, dass die Kräfte und Stärken dieser Menschen unterschiedlich verteilt waren und verlangte die Berücksichtigung der Schwächen. Eine Regel galt indes in dieser Gemeinschaft, deren unbedingte Formulierung erkennen lässt, dass der Gehorsam im Kloster einen besonderen Wert darstellte: Der erste Schritt zur Demut ist Gehorsam ohne Zögern/Er ist die Haltung derer/denen die Liebe zu Christus über alles geht (Kap. 4). Der Gehorsam war der Weg des Mönches zur Selbstüberwindung, und er war damit eine Haltung, die ihren Sinn in dem Ziel des Klosterlebens hatte. Gehorsam hat in der europäischen Kultur in Zeiten, die vom Krieg und Militär geprägt waren, eine wichtige, nicht immer glückliche Rolle gespielt. Die militärische Ordnung hat ihre Werte mitunter allzu sehr in das zivile Leben exportiert. Der Gehorsam des Mönches gegenüber dem Abt hat sich im adligen Milieu des Mittelalters dagegen im Leben außerhalb des Klosters nur selten fortgesetzt (sieht man von den Strukturen innerhalb der Familie ab). Im adligen Milieu galt ein anderes Prinzip, das auch die Benediktsregel noch vor dem Gehorsam behandelt. Kapitel 3 der Regel handelt Von der Einberufung der Brüder zum Rat. Es formuliert ein Prinzip, das in der europäischen Geschichte kaum überschätzt werden kann, wenn es um die Bewahrung und Verteidigung der Werteordnung ging: Sooft etwas Wichtiges im Kloster zu behandeln ist, soll der Abt die ganze Gemeinschaft zusammenrufen und selbst darlegen, worum es geht. Er soll den Rat der Brüder anhören Und dann mit sich selber zu Rate gehen. Was er für zuträglich hält, das tue er.

In der mittelalterlichen Welt des Adels war die Beratung vor der Entscheidung unverzichtbar. Die Vasallen, die ihrem Herren gegen seine Feinde beizustehen hatten, schuldeten diesem Herren Rat und Hilfe. Der Herr traf keine einsamen Entscheidungen,

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weil er diese Entscheidungen dann allein hätte durchsetzen müssen. Er hatte kein stehendes Heer. Er war auf die Unterstützung der Großen angewiesen. Er beriet sich mit ihnen, um die Entscheidung über sein Vorgehen in ihrer Gegenwart zu treffen. Wer im Kreise des Königs oder eines anderen Herren an der Entscheidung beteiligt war, der war auch an diese Entscheidung gebunden. Das ist eine herrschaftstechnische Begründung. Doch das Prinzip, das Benedikt hier formuliert, und das – glaubt man Homer – bereits im Kreis der Griechen vor Troja praktiziert wurde, hatte eine universale Qualität. Wichtige Entscheidungen bedürfen der Beratung. Der Bericht über eine der großen Gefahrensituationen, denen die Welt nach dem zweiten Weltkrieg ausgesetzt war, lässt dies in überraschender Parallele erkennen. Als die Kubakrise im Oktober 1962 die Welt an den Rand eines Atomkrieges brachte, stand auch die westliche Werteordnung auf dem Spiel. Ein Atomkrieg hätte Europa direkt betroffen. Der Bericht über das Vorgehen der amerikanischen Regierung bei der Bewältigung der Krise lässt einen Weg erkennen, der wie eine moderne Weiterführung des alten Beratungsprinzips erscheint.4 In einem dramatischen, hochreflektierten Memorandum – das nicht frei ist von der Sorge um den eigenen Platz in der Geschichte – beschreibt Robert Kennedy als Teilnehmer die Beratungen im Weissen Haus als Ringen um den richtigen weltpolitischen Kurs und um die Ideale der amerikanischen Demokratie.5 Die Wertvorstellungen und das Verfahren der Beratung bedingten einander und wiesen schließlich den Weg aus der Bedrohung: Die Tatsache, dass wir in der Lage waren, zu debattieren, argumentieren, uns zu widersprechen und weiter zu debattieren, war entscheidend für die endgültige Festlegung unseres Vorgehens.6 Die Beratungen im Weißen Haus unterschieden sich im Stil deutlich von den Ratschlägen, die die Mönche ihrem Abt in aller Demut und Unterordnung erteilen sollten. Die Benediktsregel entstammte einer anderen Zeit und einer anderen Situation. Man diskutierte nicht mit dem Abt. Aber der Kern dieses wertewahrenden Entscheidungsmodells, das alle Stimmen hörte, weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist, war die Einholung aller Meinungen, nicht nur der höherrangigen, vor jeder wichtigen Entscheidung. Was eine wichtige Entscheidung war, sagt die Regel nicht, aber wir können mit einem anderen

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Rechtsprinzip dieser Zeit ergänzen, das was alle angeht, soll von allen behandelt und gebilligt werden. Die großen Fragen waren die Fragen, die das Leben aller Mönche, die Zukunft des Klosters oder seine wirtschaftlichen Grundlagen betrafen. Es waren Fragen, in denen es um die Werte des klösterlichen Lebens ging. Zu diesen Fragen mussten alle gehört werden. Die Beratung durch diejenigen, die von den Folgen der Entscheidung betroffen waren, wurde durch Benedikt nicht begründet und die amerikanische Administration studierte in der Kubakrise nicht die Benediktsregel. Bereits in Athen traf man die Entscheidungen 1000 Jahre vor Benedikt von Nursia nach gründlicher Beratung in der Volksversammlung. Benedikt formulierte das Prinzip der Beratung für eine christliche Institution mit einer hierarchischen Struktur. Die Entscheidungsgewalt des Abtes stand außer Frage. Aber gerade deswegen mussten seine Entscheidungen zuvor eingehend beraten werden, wenn sie für die Gemeinschaft, die aus christlichen Werten heraus lebte, zur Anwendung kommen sollte. Das Prinzip der Beratung hielt durch die Wirkungsgeschichte der Benediktsregel und durch ihr hohes Ansehen auch auf anderen Ebenen der Kirche Einzug. Es war ein Prinzip, das mit der Amtsgewalt des Papstes (in Beratung mit den Kardinälen) und den Bischöfen (in Beratung mit den Domkapitularen) in einer dauerhaften Spannung stand. Aber es war eine Spannung, der man sich zur zukunftsfähigen Regelung großer Fragen aussetzen musste. Das Prinzip der geregelten Beratung wurde durch die kirchliche Praxis in viele Bereiche der europäischen Gesellschaften vermittelt und hat sich als unverzichtbar erwiesen. Die Kirche der Gegenwart hat dieses Prinzip seit längerem entkräftet – trotz der wachsenden Komplexität der Herausforderungen. Die Geschichte würde einen anderen Weg nahelegen. Dabei kommt es darauf an, die jeweils angemessene Beteiligung an diesen Beratungen festzulegen. Für Sokrates war die Frage, wer über ihn richtete, eine Frage, von der er sein weiteres Schicksal abhängig machte. Und für Aristoteles hing die Gerechtigkeit einer Entscheidung davon ab, inwieweit sie zum Glück aller beitrug. Die Frage der Beteiligung an den Entscheidungen, die das Schicksal einer Gesellschaft verändern können, hat die Werteordnung, nach der diese Gesellschaft lebt, durch die Geschichte hindurch geprägt.

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In der christlichen Welt des frühen Mittelalters wurden solche Frage außerhalb des Klosters, der Bischofssitze und der Versammlungen der Großen der verschiedenen Reiche selten gestellt. Bauern wurden nicht um ihren Rat gebeten. Und die meisten Menschen waren Bauern oder lebten in einem bäuerlichen Umfeld. Tatsächlich war der Übergang von einem freien Bauern mit einem größeren Landbesitz und entsprechendem Viehbestand zu einem armen Mann, der sich dem niederen Adel zugehörig fühlt, nicht sehr klar markiert. Aber wie sehr die große Zahl einfacher Bauern, deren Land ausreichte, ihre Familie notdürftig zu ernähren und wie sehr die vielen unfreien Bauern, die an das Land ihrer Herren gebunden waren, an der christlichen Lebensordnung Anteil hatte, die den Mächtigen eine Orientierung gab, ist schwer zu ermessen. Die Bauern des frühen Mittelalters treten nur selten in unser Blickfeld. Das gilt für ihre äußeren Lebensumstände, und das gilt noch mehr für die Wertvorstellungen, die ihr Leben bestimmten. Ein Güterverzeichnis des Bischofs von Augsburg aus der Zeit Karls des Großen über seinen Besitz in Staffelsee nennt 23 freie und 19 unfreie Hofstellen, die von einem Herrenhof vergeben wurden, dem sie unterschiedliche Abgaben schuldeten.7 Diese typische Organisationsform bäuerlichen Lebens hatte zwar eine eigene Tuchmacherei, in der 24 Frauen arbeiteten, aber sie hatte keinen eigenen Priester. Insgesamt gehörten dem Bischof von Augsburg in dieser Zeit Karls des Großen etwa 1500 Hofstellen, die er an freie und unfreie Bauern vergab. Ob er diesen Bauern auch Geistliche zugesellte, ist nicht erkennbar. Genannt werden sie nicht. Die Universalität des Christentums fand sich in dieser Welt in der schmalen Schicht mächtiger landbesitzender Familien. Ihr entstammte auch die Familie des Königs und seine Amtsträger, ebenso wie die Bischöfe und die Mönche, die in den Klöstern lebten, die diese Familien stifteten. Die Klöster standen in einer eigentümlichen Spannung aus Familieninteresse und weiterem christlichen Horizont. Sie wurden gegründet, um die Erinnerung an die Toten der Familie, die Memoria, durch ihr Gebet zu wahren und um jüngeren Angehörigen der Familie einen angemessenen Platz zu bieten, den die Familiendisziplin in der Welt nicht ermöglichte. Aber die Kraft ihres Gebetes, und damit die Kraft ihrer Fürbitten für die Stifter wuchs mit der Ernsthaftigkeit ihrer

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klösterlichen Disziplin. Wer nach Gottes Regeln lebte, dem lieh Gott bereitwilliger sein Ohr. Die Maßstäbe der klösterlichen Disziplin waren keine regionale Angelegenheit. Sie entstammten der christlichen Tradition. Benedikt benannte sie im letzten Kapitel seiner Regel. Es waren die Worte des Alten und des Neuen Testaments, die Werke der Kirchenväter, ihre überlieferten Betrachtungen und die Beschreibungen ihrer vorbildhaften Leben. Der Erfolg der Benediktsregel ist auch der Ausdruck des Bedürfnisses nach einem gültigen Standard. Nicht immer waren die Mönche diejenigen, die diesen Standard wünschten, manchmal litten sie unter ihm. Die adligen Stifter und der König verlangten nach ihm. Sie erwarteten Klöster, die ihre Gebetspflichten gewissenhaft erfüllten. Insofern war die europäische Universalität, die die Benediktsregel in der Zeit Karls des Großen und seines Sohnes erlangte, Ausdruck des christlichen Standards in der Führungsschicht dieser Epoche. Es war ein eindrucksvoller und maßvoller Standard, der klare Grundlinien zog, der aber auch ausreichend Freiräume für unterschiedliche Lebensumstände und Bedürfnisse lässt. Dieses Maßhalten war eine bewusste Entscheidung. Die Benediktsregel war nicht die erste schriftliche Regel für das mönchische Leben. Die akribische Forschung hat aufgezeigt, dass die Benediktsregel die Bearbeitung einer älteren Vorgängeregel war. Diese Regel des Meisters war deutlich umfangreicher und regelte den Tagesablauf des Klosters genauer. Die Benediktsregel überließ diese Festlegungen den einzelnen Klöstern. Dieser Gestaltungsfreiraum im Rahmen einer klaren christlichen Lebens- und Werteordnung war eine wichtige Voraussetzung für die Jahrhunderte anhaltende Dynamik der Benediktsregel. Die Geschichte der europäischen Lebensordnungen ist nicht nur eine Geschichte von Texten und Regeln, sondern sie ist auch eine Geschichte von Menschen und den Kräften, die ihr Leben bestimmen. Bedeutende Verschiebungen der Lebens- und Werteordnungen waren häufig die Folge einer Veränderung im sozialen Gefüge. Andere Menschen drängten zu einer Teilhabe an den Entscheidungsprozessen. Damit änderten sich auch die Werteordnungen, an denen sich das Leben ausrichtete. Die Ordnungen des frühen Mittelalters blieben bis in das Jahrhundert nach der Jahrtausendwende vergleichsweise stabil.8

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Das bedeutet freilich nicht, dass es eine spannungsfreie Zeit gewesen wäre. Tatsächlich erwuchs die historische Stabilität wohl auch aus der Weitmaschigkeit des Netzes, das die Herrschenden über diese bäuerliche Welt legten.

6. Die Welt Karls des Großen und seiner Nachfolger Werte für ein großes Reich und das Vorbild des Alten Testamentes – Widerstände und christliches Einheitsideal Wir können durchaus Bemühungen Karls des Großen und seiner Nachfolger und pflichtbewußter Bischöfe seines Reiches um die Verbreitung und Vermittlung christlicher Werte im Frankenreich erkennen, das mit ca. 1 Million Quadratkilometern zur Zeit seiner größten Ausdehnung einen bedeutenden Teil des damaligen europäischen Festlandes umfasste. Der König und die Amtsträger seines Reiches waren sich der Verantwortung bewusst, die ihr Herrscheramt ihnen für das Verhalten ihrer Untertanen auferlegte. Nach den Worten des Bischofs Jonas von Orléans (gest. 843) muß der König danach trachten, daß er nicht nur in sich, sondern auch den Untertanen gegenüber den Verpflichtungen seines Namens nachkommt und dafür Sorge trägt, dass das ihm untergebene Volk in überreichem Maß Frömmigkeit, Frieden, brüderliche Liebe, Gerechtigkeit, Eintracht, Harmonie und alle übrigen guten Werke aufweist, damit sie sich auf diese Weise Gott günstig stimmen.1 Das war nicht leicht in einem Reich von dieser Ausdehnung. Das Bemühen Karls des Großen um die Durchsetzung einer christlichen Lebensordnung in seinem Reich ist erkennbar. Die näheren Wirkungen dieser Anstrengungen sind es nicht. Nüchternheit ist angebracht. Der Blick auf die Realität dieser Zeit führt uns die Bedingungen vor Augen, unter denen die Auseinandersetzungen um die europäischen Werte durch Jahrhunderte geführt wurden. Karl versuchte, den Widerständen, die die enorme Erstreckung seines Reiches seinen Regelungsversuchen entgegensetzte, dadurch zu begegnen, dass er alle seine Untertanen durch einen Eid auf seine Herrschaftsgewalt verpflichtete.2 Karl ließ den Eid zweimal von allen Untertanen schwören, die durch seine Be-

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auftragten erreicht werden konnten, einmal elf Jahre vor der Kaiserkrönung an Weihnachten 800 und noch einmal zwei Jahre danach. In dem Jahr, in dem er den Eid zum ersten Mal schwören ließ (789), ließ er durch seine Beauftragten auch einen Text verkünden, der von seinem Anspruch und seinem Umfang die Grundzüge christlicher Lebensregeln verbindlich formulieren wollte. Die Allgemeine Ermahnung war ein Regelwerk aus 82 Kapiteln, das sich an geistliche und weltliche Vertreter von Karls Herrschaftsgewalt richtete. Es galt ihrer eigenen Lebensweise, die Allgemeine Ermahnung richtete sich aber auch an die einfachen Untertanen, die von Karls Beauftragten zu einer Beachtung der Regeln angehalten werden sollten. Sie sollten ermahnt, ermutigt, aber auch genötigt werden. Karl selbst berief sich in seiner Vorrede auf König Josiah im Alten Testament. Es war Josiah gewesen, dessen Politik der religiösen Reformen die Grundlage für die Abfassung der Regeln des Buches Deuteronomium und der Zehn Gebote gelegt hatte. Das Buch der Könige (II, 23,3) schreibt, dass Josiah mit Jahwe einen Bund schloss, seine Satzungen und Gesetze von ganzem Herzen und mit ganzer Kraft zu achten. Die Bemühungen Karls des Großen nahmen Maß an den Königen des Alten Testamentes. Eine karolingische Rechtssammlung, die in diesen Jahren entstand, zeigt einen Gesetzgeber unter einem Torbogen mit dem Dekalog in der Hand. Der Wunsch Karls des Großen, sich als König in der Tradition des Alten Testaments zu sehen, wurde von seiner Umgebung verstanden. Ein solcher König war seinem Gott gegenüber für die Gesetzestreue seiner Untertanen verantwortlich. Auf der anderen Seite konnte er dann auf die Zusage Jahwes bauen, dass dem Volk, das die Gesetze befolgte, die Hilfe des Herrn gewiss war. Es erben sich Recht und Gesetz wie eine ewige Krankheit fort. Mehr als Zwei Drittel der Allgemeinen Ermahnung sind knapp gefasste Wiederholungen einer älteren Sammlung, die Karl 15 Jahre zuvor von Papst Hadrian I. erhalten hatte. Es waren traditionelle Vorschriften des Kirchenrechts. Dann aber beginnt ein Teil, in dem die Wertevorstellungen der Männer am Hofe Karls des Großen zum Tragen kamen. Die Vorschriften dieses Teils sind länger und richten sich nicht an Bischöfe oder Priester, sondern an Alle. Der Auftakt ist programmatisch. Die Geistlichen sollen allem Volk predigen: Höre Israel, weil der Herr Dein Gott der ein-

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zige Gott ist. Und deshalb soll er aus unserem ganzen Herzen, unserem ganzen Geist, unserer ganzen Seele und unserer ganzen Kraft geliebt werden.3 Tatsächlich schlossen sich nun Ermahnungen an alle Untertanen an, den Namen Gottes nicht zu überflüssigen Schwüren zu gebrauchen, die vielfältigen abergläubischen Praktiken sollten unterbunden werden. Ebenso sollten Haß und Neid verurteilt werden. Ausdrücklich werden nun einzelne der zehn Gebote zitiert – das Verbot zu töten, das Verbot von Ehebruch und Lüge, das Gebot, die Eltern zu ehren. Ausdrücklich verweist die Ermahnung dabei immer wieder auf das Alte Testament, wie es im Gesetz steht. Die Heiligung des Sonntages nahm einen wichtigen Raum ein. Auch den Bauern waren am Sonntag körperliche Arbeiten in einem weiteren Sinne verboten. Die Untertanen sollten am Gottesdienst teilnehmen. Den Geistlichen, die diese Gottesdienste zelebrierten, gab die Ermahnung Handreichungen darüber, wie sie predigen sollten. Und sie verlangte von ihren Oberen, auf die Bildung und Befähigung dieser Hirten sorgfältig zu achten. Es war ein anspruchsvolles Programm. Karl der Große trat hier auf wie Moses, der die Israeliten durch die Wüste und zu ihrem Gott führte und der dabei zahlreiche Enttäuschungen erlebte. Wir besitzen keine Erzählung von den etwa 40jährigen Bemühungen Karls des Großen um die Christianisierung seiner Untertanen. Aber es gibt doch in der Spätphase seiner Herrschaft Hinweise auf Ernüchterung und Enttäuschung des Kaisers über den Grad des Erreichten. Das war nicht überraschend. Karl der Große hat die große Mehrheit seiner Untertanen nie gesehen, obwohl er ein unruhiges Leben im Sattel führte. Diese Untertanen kannten auch einander nicht. Sie waren nicht unbedingt auf der Wanderung, sondern lebten seit Generationen in einem Stammesverband, der die Sprache Karls nicht sprach, der nicht Latein las, keine Schulen kannte und keine Priester. Die Allgemeine Ermahnung ist ein eindrucksvoller Text von christlichem und ethischem Ernst. Er wurde wahrscheinlich von Karls Berater Alkuin verfasst, der aus England kam und ein Fremder in Karls Reich war. Ausdrücklich spricht die Allgemeine Ermahnung von den Fremden, die des besonderen Schutzes bedurften. Karl schätzte die Fremden, wie sein Biograph ausdrücklich

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festhielt. An Karls Hof fanden sich die Vertreter einer europäischen Elite ein, der die Umsetzung einer christlichen Werte- und Lebensordnung ein Anliegen war. Dabei gab es Grenzen. Die Universalität von Karls Werteordnung galt für die Christen. Für diejenigen, die zu dieser Zeit noch keine Christen waren, galt sie nicht. Wenn sich jemand aus dem Volk der Sachsen von nun an weigern sollte, die Taufe zu empfangen und lieber Heide bleiben möchte, so soll er sterben.4 Die Sachsen leisteten den Armeen Karls des Großen jahrzehntelang Widerstand. Schließlich erließ er gnadenlose Statuten für das besetzte Land. Das alttestamentarische Vorbild wies den Weg. Die Universalität der christlichen Ordnung war für Karl den Großen in hohem Maße mit seiner eigenen Herrschaftsgewalt verbunden. Angesichts adliger Konkurrenz war es eine gefährdete Gewalt und im Umgang mit den starken regionalen Traditionen zeigten sich bald ihre Grenzen. Die Herrschaft Karls des Großen und die seines Sohnes ruhte auf der Einbindung des Adels. Der Adel stellte die bewaffneten Kontingente, aus denen sich das karolingische Heer zusammensetzte. Die siegreichen Kämpfe Karls des Großen boten diesen Männern die Möglichkeit, Beute zu machen. Als die Eroberungen an ihre Grenzen stießen, richteten sich die bewaffneten Energien der Mächtigen gegeneinander. Der Versuch von Karls Sohn, das Reich als geeinte Herrschaft zu erhalten, scheiterte. Die Teilkräfte, die auf ihren Rechten bestanden und sie nicht in einem großen Reich aufgehen lassen wollten, leisteten Widerstand. Das Reich Karls des Großen wurde unter seinen Enkeln wieder geteilt. Dabei ging es um Eigeninteressen, vor allem aber um eigene Rechte, um lokale und regionale Traditionen, deren Vertreter nicht in einem geeinten Herrschaftsbereich aufgehen wollten. Es zeigten sich Widerstände auf verschiedenen Ebenen. Es gab politische Widerstände, weil ein Reich nur einen König brauchte, und die jüngeren Brüder sich um ihr Königsrecht betrogen sahen. Wichtiger waren aber die anderen Ebenen. Sie entziehen sich häufiger unserem Blickfeld, aber in diesem Fall verdanken wir zwei Zeugnissen des Erzbischofs Agobard von Lyon (816-840) wertvolle Hinweise. Agobard beklagte sich bitter, dass auch unter den Christen, die doch einen Herren hätten, eine Fülle von unterschiedlichen Gesetzen gelte. So komme es häufig vor, dass fünf Menschen gemeinsam unterwegs seien und keiner von

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ihnen lebe nach demselben Recht wie der andere. Wenn sich bei ihren Gesprächen eine Streitfrage ergebe, könne keiner dieser Gefährten, die sich gut verstünden, für den anderen bei Gericht als Gewährsmann auftreten, da die Rechtsordnung dies aufgrund ihrer Herkunft verhindere. Dabei habe Christus doch den alten Menschen abgelegt und den neuen Menschen angelegt. In dieser neuen Ordnung unterscheide man nicht zwischen Heiden und Juden, Beschnitten und Unbeschnitten, Barbaren und Skythen, Aquitaniern und Langobarden, Burgundern und Alemannen, Sklaven und Freien. In dieser Ordnung sei nur noch Christus der Maßstab.5 Die Klage beschreibt eine Welt, die dem modernen Menschen fremd ist, und doch klingt sie vertraut. Dass Menschen, die sich im Alltag gut verstehen, im Konfliktfall abweichenden Regeln folgen, ist ein Problem, dem wir in unseren komplexen städtischen Gesellschaften zunehmend begegnen. Agobards Klagen beschränkten sich nicht auf die Rechtsverhältnisse. Hierzulande glauben fast alle Menschen, Adel und Volk. Stadt und Land, Alt und Jung, dass Hagel und Donner von Menschen gemacht werden können. Der Erzbischof von Lyon sah viel Aberglauben dort, wohin er blickte. Er sah Wetterzauber und lokales Brauchtum, die seinen Unmut erweckten.6 Er sprach nicht über sittliche Werte in dieser bäuerlichen Welt, doch es ist klar, dass seine Vorstellung einer sittlichen, christlichen Ordnung für alle Menschen an lokalen und regionalen Widerständen scheiterte. Agobard war ein entschiedener Vertreter einer christlichen Ordnung in der realen Welt. Aber diese Welt war nicht bereit für ihn. Die Widerstände waren vielfältig. Die lokalen Traditionen der Bauern, die Rechtstraditionen der verschiedenen Stämme. Die Aufnahmebereitschaft gegenüber universalen Ordnungen war begrenzt und die Möglichkeiten dieses Widerstandes waren stark. Historisch gesehen überspannten die Männer um den Erzbischof von Lyon im frühen neunten Jahrhundert den Bogen. Karl der Große hatte zu seiner Zeit die einzelnen Volksrechte seiner Untertanen aufzeichnen lassen und gewährte ihnen Raum. Agobard litt darunter, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft nach unterschiedlichen Regeln leben sollten, wenn sie doch eine Lebenserfahrung teilten und durch Christus, an den sie alle glaubten (hier ging es nicht um Heiden) eine Lebensregel bekommen hatten, die für sie alle gleichermaßen galt. Aber diese Menschen, die den

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Glauben an Christus teilten, wollten seine Lehren in dem Leben umsetzen, das sie führten. Und das unterschied sich von dem ihrer Nachbarn. Ein Burgunder war kein Alemanne, und in vielen Fällen wollte er das auch nicht sein. Agobards Konzept einer christlichen Lebensordnung scheiterte, aber zur selben Zeit war die Regel des heiligen Benedikt erfolgreich. Es waren wohl die größeren Freiräume der Benediktsregel, die den Unterschied ausmachten. Die Universalität durfte nicht zu verbindlich werden. Darüber hinaus verweist die Verstimmung des Erzbischofs von Lyon aus dem frühen neunten Jahrhundert auf eine grundsätzliche Dimension: Das Mittelalter kannte keine „Relativität“, seine Realität waren konkurrierende, für sich absolute Regeln. Und doch verweist das Leiden des Kirchenmannes an der Vielfalt der Lebensregeln innerhalb der christlichen Welt auf ein Problem, das sich bis heute stellt. Die Einheit und Universalität der Christenheit verlangt ein einheitliches Regelwerk für alle Christen. Die Klage über die Relativität unserer Werte angesichts des einen Wertemaßstabes, den das (christliche) Gewissen geben könnte, steht in einer sehr alten Tradition. Es ist eine Tradition christlicher Intellektueller. Die Einheit dieser Intellektuellen war und ist eine gedachte Einheit, die reale Welt hat diesen Erwartungen zu allen Zeiten mit der Vielfalt ihrer Erscheinungen und Regeln widerstanden. Dennoch verweist der Anspruch der Einheit, den der Erzbischof von Lyon formulierte, auf eine Kraft, die im weiteren Verlauf der Geschichte noch eine starke Wirkung entfalten sollte. Wenn die Einheit auf Widerstände stieß, so war sie durch stärkere Autorität vielleicht durchsetzbar? Die weitere historische Entwicklung des Mittelalters ruft das Thema der christlichen Einheit wiederholt auf den Plan. Es ist eine Entwicklung, die vor allem das autoritäre Potential dieser Erwartung bestärkt. Zunächst aber fehlten die Voraussetzungen. Es fehlte die Infrastruktur, und es fehlten die gemeinsamen geistlichen Grundlagen. Es fehlten auch die Texte für eine christliche Ordnung, die auf einer schriftlichen Tradition aufbaute. So sehr die Bemühungen Karls des Großen, seines Sohnes und ihrer Berater fehlschlugen, ihr Reich, das einen bedeutenden Teil Europas ausmachte, einer einheitlichen christlichen Ordnung zu unterwerfen, so legten sie doch die Basis für eine Entwicklung in den Jahrhunderten, die folgten. „Karolingi-

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sche Renaissance“ ist der Name für die gewaltige Anstrengung, den Standard der christlichen Bildung in dem großen Reich zu vereinheitlichen und die Texte der christlichen Tradition in einem lesbaren Latein zu verbreiten. Das gelang nur zum Teil, aber so wurde eine Textgrundlage geschaffen, auf der die Initiativen des hohen Mittelalters im elften und zwölften Jahrhundert mit einer verbesserten Infrastruktur und stärkeren Vernetzung aufbauen konnten.

7. Eine christliche Ordnung für Europa Der neue Führungsanspruch des Papsttums – Die soziale Dynamik des hohen Mittelalters – Franziskus und die städtische Erfahrung – eine Welt des Rechts und der Rituale Die Einheit der Christenheit in Europa und damit die Grundlage einer einheitlichen europäischen Werteordnung wuchs nicht aus den Wünschen der kirchlichen Intellektuellen. Sie wurde vorangetrieben durch die Sorgen der Menschen des 11. Jahrhunderts. Die Intellektuellen der Karolingerzeit hatten sich nicht gegen die Widerstände ihrer Zeit durchsetzen können. Die Mächtigen, aber auch die Ohnmächtigen, hielten an vielfältigen regionalen Rechtsund Wertetraditionen fest. Sie vermittelten Sicherheiten in einer unsicheren Welt. Sie gaben Hoffnung auf Gerechtigkeit in einer Umwelt, in der eine lange Regenzeit oder eine anhaltende Trockenheit den Ausfall der Ernte und Hunger bedeutete. Die Kräfte der Menschen erschienen gering gegen die Gewalt der Natur. In dieser Welt der schlechten Straßen und gefährlichen Wege war die Einheit der Christenheit nur eine Idee. Aber sie war eine lebendige Idee und sie blieb lebendig. Auch die Kirche blieb lebendig und wuchs. Nach der Jahrtausendwende war der Aufbruch in Europa nicht mehr zu übersehen. Die Welt legte ein Gewand von weißen Kirchen an, schrieb der burgundische Mönch Radulf Glaber.1 Es wurde gebaut, die Häuser der Bauern aus Holz, aber die Kirchen wurden aus Steinen errichtet. Die Menschen drängten den Wald zurück. Rodungen erschlossen neuen Raum für Äcker, Dörfer und Siedlungen. Die alten Städte aus der Römerzeit, die lange Jahrhunderte nur von wenigen Menschen bewohnt worden waren, erwachten zu neuem Leben. Markt- und Zollrechte zeugen davon, dass der Handel zunahm, dass der Warentausch Menschen und Güter zusammenbrachte. Der große französische Mediävist Marc Bloch hat für diese Phase in der Mitte des elften Jahrhunderts für Europa von einem „take-off“ gesprochen. Es war ein

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Aufbruch in bislang unerschlossene Räume. Die Wissenschaft muss die Daten aus den unterschiedlichsten Quellen zusammentragen. Genauere Zahlen lassen sich nicht angeben, aber das ganze Bild zeigt eine verstärkte soziale Dynamik. Die Kommunikation erschloss neue Horizonte. Papst Gregor VII. (1073-1085) korrespondierte mit den Königen von Deutschland, Frankreich, England, der iberischen Halbinsel, Dänemark, Ungarn und Kroatien. Gregor gehörte zu einer kleinen Gruppe energischer Reformer, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die römische Kirche zum Zentrum der Christenheit zu erheben und die Christenheit von Rom aus zu erneuern. Es war ein radikaler und kompromissloser Anspruch. Gregor formulierte unumwunden, dass die römische Kirche niemals geirrt hat und nach dem Zeugnis der Schrift auch in Zukunft niemals irren wird.2 Daraus leitete er ab, dass die römische Kirche Streitfragen in der gesamten Christenheit durch ihr Urteil entscheiden konnte. Er führte den Gedanken der Einheit der Christenheit in aller hierarchischen Konsequenz fort und hielt fest, dass allein der Römische Bischof mit Recht universal genannt wird.3 Gregor VII. ging keinem Konflikt aus dem Weg. Seine Entschiedenheit rührte aus dem Glauben, für eine Ordnung zu kämpfen, die von Gott gewollt war. Es galt, die Welt den Gesetzen Gottes zu unterwerfen. Auch Karl der Große hatte das gewollt, aber Gregors Ordnung war eine geistliche Ordnung. Könige vergossen Blut. Sie waren Sünder, die Priester als Sachwalter Gottes versahen ein vornehmeres Amt. Die christliche Ordnung Karls des Großen war eine Idee. Auch die geistliche Ordnung der Werte, die Gregor vorschwebte, war eine gedachte Ordnung. Und doch entfaltete sie eine andere Wirkung. Mit dem 11. Jahrhundert wurde das Christentum zum europäischen Koordinatensystem. Das bedeutete nicht, dass die Europäer nun nach der Bergpredigt lebten und sich wie ein Herz und eine Seele verhielten. Aber die Auseinandersetzungen darum, wie man leben wollte, wer die Ordnung und die Regeln vorgab, wurden nun mit Argumenten aus der katholischen Tradition geführt. Sie waren darum nicht weniger kontrovers, aber sie erhielten einen gemeinsamen Bezugsrahmen. Diese Christianisierung Europas, die sich erst zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert vollzog, machte die römische Kurie zum Haupt einer hierarchisch strukturierten, weitverzweigten Kirche, die in vielfältiger Weise im Alltag der mittelalterlichen Men-

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schen präsent war. Sie bestimmte diesen Alltag nicht, aber sie bot mit ihrer einheitlichen Lehre vielerorts eine Bezugsgröße, an der sich die Menschen reiben konnten, an der sie Maß nahmen, gegen die sie angingen, oder die sie überhörten. Insofern war die kirchlich verfasste, christliche Lehre von den Dingen und Handlungen, die gut und richtig waren, eine starke Kraft. Sie entfaltete diese Wirkung, weil sie zwar von einer päpstlichen Kirchenleitung formuliert und verbreitet wurde, weil sie aber vor allem von der Sorge vieler Gläubigen getragen wurde. Die Sorge um ihr Seelenheil, die so viele Christen bewegte, wurde zu einer starken historischen Kraft, die die abendländische Kirche tiefgreifend veränderte. Wir können nicht sagen, warum diese Sorge im 11. Jahrhundert so viel stärker wurde, als in den Jahrhunderten zuvor, aber wir können die Folgen erkennen. Die Menschen verlangten nach Klarheit und die hohen Standards, die die römische Zentrale nun als verbindliche Norm für den Klerus formulierte, wurden von diesem Wunsch getragen. In diesem Ausmaß war der Wunsch der Gläubigen neu. Der Versuch Karls des Großen und seiner Berater, eine christliche Ordnung im Westen Europas durchzusetzen, unterschied sich von Gregors VII. Vorstoß in der Zahl der Unterstützer. Die Anhänger der Kirchenreform im elften Jahrhundert waren zahlreich und sie kamen aus den verschiedenen Schichten der Gesellschaft. Die Verbindung des Adels mit der Reform ist intensiv erforscht worden. Sie war stark, aber die Anliegen der Kirchenreformer fanden auch die Unterstützung der Handwerker in Mailand, deren soziale Herkunft von den Adligen der Stadt mit Geringschätzung gesehen wurde. In Augsburg beklagten sich die Geistlichen, dass die Laien ihnen zusetzen, sich von ihren Frauen zu trennen; und als Gregors Nachfolger Urban II. in Clermont zu einem bewaffneten Zug ins Heilige Land rief, folgten ihm nicht nur die adligen Krieger, sondern eine große Menge einfachen Volkes. Diese Menschen, die nun von ihren Priestern Ehelosigkeit verlangten und die sich als bewaffnete und unbewaffnete Pilger auf den Weg nach Jerusalem machten, gehörten zu einer Bewegung, die die Jahrhunderte zuvor nicht gesehen hatten. Die Sorge um ihr Seelenheil, die diese Menschen bewegte, drängte sie zum Empfang der Sakramente, die die Priester spenden konnten, wenn ihr Lebenswandel nicht gegen das ehelose Ideal verstieß, dem der Klerus nun folgen musste. Eine neue Zeit brach an.

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Die Werteordnung, die die Reform beförderte, hatte einen rigiden Zug. Die Quellen vermitteln das Bild, dass die päpstliche Kurie den Zölibat mit strenger Konsequenz durchsetzte. Aber päpstliche Briefe erklären nicht, warum die Laien von ihren Priestern Enthaltsamkeit forderten. Die Kurie verschickte im Laufe des Mittelalters eine Reihe von energischen Forderungen, die die Adressaten keineswegs eifrig übernahmen. Der rigide Zug fand offenbar viele Unterstützer. Es gibt weitere Hinweise darauf, dass die Sexualität im elften Jahrhundert mit einem strengeren Blick angesehen wurde. So blieb es nicht. Die Werteordnung hatte sich auf dem sozialen Spektrum verschoben. Sie erfasste nun deutlich mehr Menschen als die traditionell Mächtigen. Die Vornehmen klagten darüber, dass der König sich mit einfachem Volk abgebe. Tatsächlich erschienen erstmals Stadtbewohner als Akteure auf der mittelalterlichen Bühne. Noch war es eine Werteordnung, an deren strengeren geistlichen Maßstäben man vorwiegend diejenigen maß, die Verantwortung trugen – als geistliche oder weltliche Herren. Doch dabei blieb es nicht. Der Aufstieg der Städte setzte sich im 12. Jahrhundert spürbar fort. Führend waren die italienischen Städte. Hier entstand eine Lebenswelt, die den Einzelnen vor neue religiöse Entscheidungen stellte. Das Christentum des Mittelalters hatte bis in das 12. Jahrhundert eine Werte- und Lebensordnung vertreten, die durch die Erfahrungen einer agrarischen Kultur geprägt war. Daran hatte auch die wichtige Rolle der Bischöfe in der kirchlichen Organisation nichts geändert. Die Bischöfe des frühen Mittelalters residierten in Städten, die nicht über eine eigene urbane Kultur verfügten. Bis weit in das elfte Jahrhundert hinein waren die Städte nördlich der Alpen, aber auch die meisten Städte in Italien zu klein für ein soziales Milieu mit eigenen Wertmaßstäben. Die Öffnung der europäischen Horizonte im elften Jahrhundert beförderte einen Wandel. Die Meere wurden für christliche Kaufleute wieder benutzbar. Das Mittelmeer war jahrhundertelang von islamischen Seefahrern und auch Piraten dominiert worden, die Ostsee und der Atlantik von den Schiffen der Wikinger, denen allenfalls die Angelsachsen erfolgreich begegnen konnten. Hier verschoben sich die Kräfte. Pilgerreisen und beginnende Kreuzzüge förderten Personen- und Handelsschifffahrt. Mit der Öffnung der Horizonte ging eine Differenzierung der Lebenswelten im Innern Europas

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einher. Es wurde nicht alles neu. Es ist wichtig, sich in den Szenarien des Aufbruchs daran zu erinnern, dass die Mehrheit der Menschen weiterhin als Bauern lebte, deren Lebensordnungen eine starke Beständigkeit zeigten. Doch die Szenarien des Aufbruchs haben das Bild geprägt, und das mit guten Gründen. Denn sie fügten der christlichen Werteordnung eine Dimension hinzu, die für die lateinische Christenheit in dieser Form neu war. Die Dimension der authentischen Erfahrung. Viele Menschen, die von den Erträgen des wirtschaftlichen Aufschwunges lebten, als Kaufleute oder Handwerker, suchten nach Antworten auf neue Fragen. Wie sollen wir leben, um den Lehren des Evangeliums zu folgen? Neu war der Anspruch an eine authentische Antwort. Es ging nicht um Worte, es ging um gelebte Werte. Der Herr gab mir, dem Bruder Franz, diesen Anfang im Bußetun. Als ich nämlich noch in Sünden war, schien es mir gar bitter, Aussätzige zu sehen. Und der Herr führte mich unter sie und ich tat Barmherzigkeit an ihnen.4 So beginnt das Testament des Franz von Assisi, mit dem der unbequeme Heilige seinen Gefährten noch einmal die Grundzüge seiner Lebensregel darlegen wollte. Der Wunsch, tätige Buße zu tun, war die Fortführung der Sorge um das Seelenheil, die die Menschen seit dem späten elften Jahrhundert verstärkt bewegte. Doch jetzt reichte es nicht mehr, die Sakramente durch einen Pfarrer zu erhalten, der ein Leben nach den Vorschriften des Kirchenrechts führte. Jetzt wollten viele Menschen dieses Leben selber führen. Dabei ging es nicht um Vorschriften oder formale Kriterien. Es ging darum, dem nackten Christus nackt zu folgen. Der hohe Anspruch, den Gregor VII. und die Reformer an die sakrale Würde und Stellung des Klerus gestellt hatten – wodurch dieser Klerus den weltlichen Gewalten übergeordnet war – , hatte zu einem starken Ausbau rechtlicher und disziplinarischer Vorschriften für die Geistlichkeit geführt. Das 12. und das 13. Jahrhundert waren eine Epoche des Kirchenrechts. Die Regeln, die aus der Bibel, den Entscheidungen der großen Konzilien, den Schriften der Kirchenväter und zunehmend aus den Entscheidungen der Päpste abgeleitet wurden, wurden systematisch zu einem differenzierten Rechtssystem entwickelt. Nahezu alle Päpste dieser Phase waren Juristen. Damit einher ging auch eine Formalisierung des kirchlichen Lebens, die den Bedürfnissen vieler Menschen nicht mehr entsprach.

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Im späten 12. Jahrhundert befand sich die Kirche in einer Krise, die in Manchem an ihre heutige Situation erinnert. Der Klerus und auch die Kirchenleitung war lange Zeit nicht in der Lage, auf die geänderten Bedürfnisse der Menschen zu reagieren. Die soziale Welt und die Lebensbedürfnisse hatten sich verändert. Neue Akteure meldeten sich zu Wort. Sie wollten ernst genommen werden, und sie suchten Raum für ihre Erfahrungen und ihre Fähigkeiten. Der hierarchische Klerus reagierte mit Abwehr und Verdächtigungen. Vielerorts schlossen sich Laien zu Gemeinschaften zusammen, die die Kirche mit Misstrauen sah. Dem Ideal der Armut und der Wanderpredigt als Lebensform standen viele Kleriker ablehnend gegenüber. Die Grenzen zur Häresie waren fließend. Es war gerade die Vielgestaltigkeit dieser Lebensentwürfe, die auf das eigentliche Bedürfnis hinweist: das authentische Leben. Im Süden Frankreichs, im Languedoc, erwuchs eine Lehre zu überraschender Kraft, die im Grunde wenig Faszinierendes anzubieten hatte. Die Katharer sahen alle sinnlichen Erscheinungen als Ausdruck und Werk des Bösen an. Es waren die Vertreter dieser Lehre, die perfecti, die so lebten, wie sie sprachen, die diese merkwürdige Lehre mit Glaubwürdigkeit versahen. Hier stand Lebenspraxis gegen kirchliche Ermahnung, der die überzeugenden Personen fehlte. Lange verschloß sich die Kurie dieser Herausforderung. Sie operierte noch mit Listen von Ketzereien, die zum Teil aus der späten Antike herrührten. Ein junger Papst und brillianter Jurist, Innozenz III. (1198-1216) leitete die Erneuerung ein, die das Papsttum und die Kirche im 13. Jahrhundert auf den Gipfel ihrer mittelalterlichen Bedeutung führte. Innozenz ermöglichte Franziskus die Gründung einer verfassten Lebensgemeinschaft, und er wies den Anhängern von Dominikus diesen Weg. Dominikus hatte in der Predigt gegen die Ketzer in Südfrankreich erfahren, dass Worte nicht reichten, sondern dass die Prediger auch so glaubwürdig leben mussten, wie die Menschen, deren Häresien sie bekämpften. Der Impuls öffnete neue Horizonte. Die Franziskaner und die Dominikaner wurden zu Trägern einer Bewegung, die die Kirche im 13. Jahrhundert erneuerte. Es war ein vielschichtiger Prozess, der sowohl authentisches Leben aus dem Evangelium wie auch autoritäre hierarchische Strukturen beförderte. Ein Prozess, der mitten in die neu entstehende städtische Lebenswelt und ihre

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unterschiedlichen Erscheinungen hinein führte. Die neuen Mönche hatten innerhalb weniger Jahrzehnte ein Netzwerk von Niederlassungen über ganz Europa ausgebreitet. Als Wandermönche verstanden sie ihre Häuser nicht als Klöster sondern als Konvente (Orte der Zusammenkunft). Sie richteten sich an das städtische Publikum und waren damit erfolgreich. Ihr Erfolg darf aber den Blick dafür nicht verstellen, dass die neuen Mönche keineswegs nur Freunde hatten. Den missmutigen Kommentar des Bischofs von Olmütz aus dem späteren 13. Jahrhundert haben wir bereits in der Einleitung zitiert. Der normale Klerus litt unter dem Erfolg der neuen Bewegung. Die Gaben der Menschen, die testamentarischen Verfügungen, die nun den Franziskanern oder Dominikanern zugute kamen, fehlten den normalen Geistlichen. Die neuen Mönche pflegten einen anderen Stil. Sie gingen auf die Menschen zu, sie praktizierten eine tatsächliche Seelsorge und verbreiteten damit auch die Werte des Evangeliums im städtischen Alltag. Das war in dieser Form neu. Tatsächlich entstand das heute (noch) selbstverständliche Konzept der kirchlichen Seelsorge wohl in dem städtischen Umfeld dieser Zeit. Und mancher herkömmliche Geistliche sah sich diesen Konkurrenten nicht gewachsen. Die wandernden Prediger des Ordens waren Spezialisten für große Auftritte. Was konnte ein ungebildeter Pfarrer einem Berthold von Regensburg oder Bernardino von Siena entgegensetzen? Diese Prediger mobilisierten Tausende von Zuhörern. Und sie sprachen vom Alltag der Menschen. Im 13. Jahrhundert wurde der barfüßige Jesus von Nazareth zu einem Bürger in den engen und dreckigen Städten nördlich der Alpen. Die Werte, für die sein Leben stand, wurden den Menschen so immer wieder vor Augen geführt. Das heißt allerdings nicht, dass sie von vielen Bürgern so gelebt wurden. Die Wanderprediger selber lassen in ihren Geschichten aus dem städtischen Alltag mit seiner Gleichgültigkeit und aktiven Sündenbereitschaft kein Bild christlicher Bürgergemeinden entstehen. Die Lehren waren präsent, deswegen wurden sie nicht von allen befolgt. So sehr wie es Zeitgenossen gab, die sich zu einem Leben in Armut gedrängt fühlten, so gab es auch Zeitgenossen, die mit dem Handel reich wurden, ohne darunter zu leiden. Diese verschiedenen Gruppen konnten dennoch zusammenkommen. Wer die vielen Grabmäler in den franziskanischen und dominikanischen Kirchen von

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Florenz oder Venedig sieht, sieht Zeugnisse des Reichtums und der Macht bedeutender Familien der Stadt, die den Platz für ihre letzte Ruhe bei den Vertretern der armen vita apostolica suchten, da diese Stätten der göttlichen Gnade näher waren. Dennoch blieben die Gegensätze bestehen. Die Gegensätze der verschiedenen Lebensordnungen waren in viel stärkerem Maße eine Signatur dieser Zeit, als dies für moderne Menschen vorstellbar ist. In der gegenwärtigen Diskussion wird es als ein Zeichen misslungener Integration angesehen, wenn in Stadtvierteln mit einem hohen Zuwandereranteil die Rechtstraditionen der Zugewanderten fortbestehen und es schwerfällt, dem deutschen Recht Geltung zu verschaffen. Für mittelalterliche Städte war dies keine ungewöhnliche Situation. Es gab in der Regel eigene jüdische Viertel, und es gab auch andere Gruppen mit einem Sonderstatus, wenn sie groß genug waren. Dazu zählte der Klerus, der weder der weltlichen Strafgerichtsbarkeit unterstand noch sich mit Steuerzahlungen an den Lasten der Städte beteiligte. Die mittelalterliche Stadt, in der vielleicht jeder zehnte Bewohner ein Geistlicher war, war ein Umfeld, in dem die Gegensätze auf engem Raum zusammenkamen. Menschen unterschiedlicher Herkunft lebten nebeneinander, die sich bei Streitigkeiten noch immer auf das Recht ihrer Heimat beriefen. Im Stadtrecht, wenn es das gab, wurden die Grundzüge festgelegt, für viele Fragen des Zusammenlebens gab es aber unterschiedliche Traditionen. Es gab einen Stadtherrn, aber er verfügte kaum über Personal, um die Ordnung in der Stadt aufrecht zu erhalten, wenn sie in Gefahr war. Eine Polizei gab es nicht. Wem ein Unrecht angetan worden war, der konnte ein Gericht bemühen. Dafür gab es das Gericht des Stadtvogtes, aber auch das Gericht des Bischofs. Der Kläger konnte entscheiden, vor welchem Gericht er seine Ansprüche verfolgen wollte. Die Sanktionsmöglichkeiten waren in allen Fällen begrenzt. Es kommt nicht von ungefähr, dass in dieser vielgestaltigen Gesellschaft der mittelalterlichen Stadt die Rituale eine besondere Bedeutung erhielten, die die gemeinsame Ordnung dieser Städte vor aller Augen lebendig hielten. Wenn etwa ein hoher Besucher wie der König durch einen großen Umzug in die Stadt eingeholt wurde, dann stellte die Stadt alles zur Schau, was für ihr Selbstverständnis und das geordnete Zusammenleben der Bürger von Bedeutung war. Die verschiedenen Gruppen der Bürgerschaft

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erhielten ihren sorgfältig bestimmten Platz in der Hierarchie des Zuges. Das friedliche und geordnete Miteinander war keine Selbstverständlichkeit, tatsächlich wurde es durch solche rituellen Handlungen immer wieder neu in Erinnerung gerufen und bestätigt. Die Gemeinschaft der (entstehenden) städtischen Gesellschaft zeigte sich im gemeinsamen vollzogenen Ereignis. Diese Form der Identitätsfindung war nötig, weil die Lebensund Wertevorstellungen der unterschiedlichen Gruppen in der Stadt erheblich voneinander abweichen konnten. In den Städten unserer Gegenwart, in denen durch die unterschiedliche Herkunft der Bewohner mit ihren verschiedenen Sprachen und Kulturen eine gemeinsame Werteordnung manchmal unsicher erscheint, haben Rituale eine neue Bedeutung erlangt. Das gemeinsame public viewing von großen Fußballspielen, bei denen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe der Nationalmannschaft zujubeln oder unter ihren Niederlagen leiden, spielt mittlerweile eine bedeutende Rolle für die Stadtgesellschaft. Der ungeordnete aber friedliche Autokorso nach dem Sieg ist eine moderne Form des mittelalterlichen Umzuges, seine Choreographie folgt anderen Regeln. Es sind die spontanen Regeln einer zunehmend ungeordneten Stadtgesellschaft. In einer Zeit unklarer Gemeinsamkeiten wirkt das gemeinsame Erleben derselben Ereignisse als Bekräftigung einer modernen Werteordnung. In der mittelalterlichen Stadtgesellschaft waren diese Rituale unverzichtbar. Das urbane Ritual war wie die gelebte oder durch Gaben unterstützte tätige Nachfolge des armen Christus eine Handlung, keine theoretische Ordnung. Aber in diesem städtischen Umfeld entstanden auch die theoretischen Überlegungen und Texte, die den christlich geprägten Wertehorizont für die neuen Realitäten öffnete. Und es entstand auch die Methode, die es vermochte, diese widerstreitenden Erfahrungen in eine Ordnung zu bringen.

8. Eine neue Welt der Gegensätze Petrus Abaelard und William von Ockham: der offene Umgang mit den Widersprüchen der Welt – Das Motiv der Handlung und die Ethik – Das Aufkommen der Psychologie Die klösterliche Welt, die eine so wichtige Grundlage für die Universalität der christlichen Werteordnung legte, war trotz innerer Spannungen eine weitgehend einheitliche und geregelte Welt. Es war eine übersichtliche Welt. Die Menschen, die ihr angehörten, hatten einen gemeinsamen Erfahrungshorizont. Auch wenn sie ihn unterschiedlich erlebten. Die urbane Welt, die im fortgeschrittenen elften Jahrhundert anbrach und die das Nachdenken über die Lebensordnungen in den kommenden Jahrhunderten maßgeblich prägte, war dagegen eine Welt der Gegensätze. Die bedeutenden Autoren, die wir für die Werteordnung dieser Zeit zu Rate ziehen, lebten in dieser Welt der Gegensätze, und die Widersprüche schlugen sich in ihren Werken nieder. Dabei widersprachen sich nicht nur die einzelnen Autoren untereinander, sondern sie formulierten die Widersprüche als Antithesen innerhalb ihrer eigenen Werke. Diese dialektische Methode wurde so sehr zum mittelalterlichen Standard wissenschaftlicher Arbeit, dass sie als Schulmethode (Scholastik) bezeichnet wurde. Dabei wurden die Gegensätze lange Zeit als notwendige Widersprüche innerhalb einer großen Ordnung gesehen. Als der Mönch Gratian um die Mitte des 12. Jahrhunderts in Bologna eine systematische Sammlung kirchlicher Rechtssätze erstellte, die zur Grundlage des mittelalterlichen Kirchenrechts wurde, gab er ihr den programmatischen Titel: Harmonisierung einander widersprechender Rechtssätze.1 Dieses Kirchenrecht wurde durch seine hohe juristische Qualität praktisch zum öffentlichen Recht Europas im späteren Mittelalter. Es hat den Umgang der Europäer mit ihren verschiedenen und konkurrierenden Wertetraditionen tief geprägt. Sein Anliegen war nichts Geringeres, als die Umsetzung

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göttlicher Regeln für das christliche Zusammenleben in dieser Welt, eine Fortführung der Politik Karls des Großen mit den entwickelteren Methoden der Juristen. Es ist nützlich, sich daran zu erinnern, dass die so erreichte christliche Ordnung des späten Mittelalters ihre Wurzeln in Rechtssätzen hat, die einander zunächst widersprachen. Petrus Abaelard (1079-1142) hat die dialektische Methode nicht erfunden, aber sein Werk trug den programmatischen Titel Sic et non (Ja und Nein) und sein Talent der Selbstdarstellung sorgte dafür, dass diese Methode der Dialektik mit seinem Namen verbunden wurde. Bei Abaelard wurden die gegensätzlichen Positionen einander gegenübergestellt und durchaus nicht immer aufgelöst. Auch William von Ockham (ca. 1285-1348) führte seine Erörterungen 200 Jahre später in dieser Form durch. Erst durch die Gegensätze wurde das Bild vollständig. Das war manchem Vertreter klarer Entscheidungen zu unbestimmt. Bernhard von Clairvaux (1090-1153) bekämpfte die Offenheit Abaelards leidenschaftlich und erreichte schließlich seine Verurteilung. Bernhard verlangte als später Vertreter klösterlicher Geistlichkeit eindeutige Positionen. Auch William von Ockham musste sich einem Prozess an der päpstlichen Kurie stellen. Nicht alle Zeitgenossen sahen in den offenen Gegensätzen ein angemessenes Bild. Die Gegensätze ließen sich auch zugunsten einer Lösung weiterentwickeln, in einem Verfahren, das das Mittelalter soweit vereinheitlichte, dass es in der Abfolge von Rede, Gegenrede und Auflösung zu einer Grundlage der Bildung wurde. Thomas von Aquin (ca. 1224-1274), der für die europäische Werteordnung zu einem bedeutenden Autor wurde, entwickelte diese Technik in seiner Summa theologiae zu einem lange wirkenden Standard. Bei Thomas wurden die Widersprüche zu einer Lösung geführt. Konnte man solche Fragen wie die nach den Grenzen und der Wandelbarkeit des Naturrechts wissenschaftlich lösen, dann konnte man sie in der kirchlichen Realität auch eindeutig entscheiden. Es ist kein Zufall, dass das Gehorsamsprinzip im Zuge dieser wissenschaftlichen Methode schärfer formuliert wurde: Es muss daher einer sein, auf den die Unterordnung aller zurückgeführt wird, und dies, wie gezeigt, erfordert die Ordnung der allumfassenden Gerechtigkeit.2 So formulierte es der Pariser Theologe und Franziskaner Bonaventura (ca. 1217-1274). Bona-

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ventura war wie Thomas ein Angehöriger der Bettelorden und ein Universitätsgelehrter. Damit waren gewissermaßen Grundpositionen skizziert: Abaelards und Ockhams Offenheit auf der einen, die Integration der Gegensätze durch eine heilsgeschichtlich notwendige Autorität auf der anderen Seite. Dieser spannungsvolle Prozess entfaltete sich vor einem europäischen Horizont, der im späten elften Jahrhundert zunehmend erkennbar wurde. Die Gegensätze, die Abaelard und Ockham in ihren Werken gegeneinanderstellten, entstammten der urbanen Welt, in der die beiden Männer lebten, aber die Positionen wurden in einem Netzwerk von Gelehrten ausgetauscht, das sich mit der Renaissance des 12. Jahrhunderts entfaltete. Paris, wo Abaelard lange lebte und lehrte, zog die Jugend des nördlichen Europa an.3 Dorthin reisten Otto von Freising, ein Onkel Friedrich Barbarossas und einer der bedeutendsten Geschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts, Stephen Langton, ein bedeutender Theologe und späterer Erzbischof von Canterbury und Ingeborg von Dänemark, als Gattin des französischen Königs erlitt sie ein trauriges Schicksal der Verstoßung. In dieser zunehmend (wenn auch noch dünn) vernetzten Welt hielt das Papsttum den Anspruch Gregors VII. aufrecht: Allein der römische Papst wird zu Recht universal genannt.4 Die Integration des christlichen Europa durch päpstliche Amtsautorität und Gehorsam war auf längere Sicht nicht zu erreichen. Die Welt wurde für den gesteigerten Führungsanspruch der Kurie zu komplex. Der Führungsanspruch wurde dadurch nicht bescheidener oder offener formuliert. Vielmehr verringerte sich seine Reichweite. Der Anspruch auf eine eindeutige Festlegung der Werte durch Autorität und Gehorsam führte in einen langen Prozess, in dem die nicht mehr integrierbaren Positionen sich schließlich als klar profilierte Größen gegenüberstanden, die die Gegenseite aus ihrer Ordnung ausschlossen. Eine Harmonisierung der Standpunkte war angesichts des Selbstverständnisses der konkurrierenden Lager nicht mehr möglich. Es war ein Prozess, der über Jahrhunderte anhielt. Er begann im späten 14. Jahrhundert, nachdem die Pest die Gefahren der Einbindung in eine große Welt dramatisch vor Augen geführt hatte, mit einer jahrzehntelangen Kirchenspaltung (1378-1414), und er erlebte in Reformation und Konfessionalisierung eine verstärkte Ausprägung. Die Lagerbil-

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dung veränderte ihre Grenzen, als die Aufklärung die Wertigkeit religiöser Ordnungen grundsätzlich relativierte. Während etwa sechs Jahrhunderten wirkten religiöse Ordnungen in starkem Maße auf die Wertehorizonte in Europa ein. Petrus Abaelard war ein junger Mann, als die Ritter des ersten Kreuzzuges sich auf den Weg machten, Jerusalem zu erobern. Er starb im Kloster Cluny zwei Jahre nachdem der berühmte Abt Petrus Venerabilis die erste Übersetzung des Koran hatte anfertigen lassen. In seiner Lebenszeit weitete sich der christliche Erfahrungshorizont deutlich. Es war nicht nur eine friedliche Ausweitung. Die Ritter des ersten Kreuzzuges sollen nach der Eroberung Jerusalems mit den Einwohnern der Stadt so verfahren sein, wie die Männer, die Moses gefolgt waren, bei der Eroberung des verheißenen Landes. Der religiöse Geist, der im elften Jahrhundert spürbar wird, hatte auch sehr aggressive Züge. Die Juden in der Heimat der Kreuzfahrer und den benachbarten Königreichen sahen sich als Feinde Christi verfolgt. Viele wurden im Zuge des ersten Kreuzzuges ermordet. Die interne Differenzierung der Christenheit, die nun einsetzte, ging einher mit einer deutlichen Abgrenzung gegenüber denjenigen, die nicht dazu gehören sollten. Diese Abgrenzung war nicht überall gleich stark, und sie war nicht überall gewalttätig, aber sie blieb eine Gefahr. Petrus Abaelard lehrte und schrieb vor diesem Hintergrund. Allerdings galt sein Augenmerk vornehmlich anderen Fragen. Seine Ethik unter dem Titel Erkenne dich selbst suchte einen neuen Zugang zu der Frage menschlicher Verantwortung. Für die Beurteilung einer Tat und der notwendigen Folgen für den Täter forderte Abaelard die Berücksichtigung des Handlungsmotives. Nicht die Tat allein war aussagekräftig für die Folgen, sondern die innere Haltung des Handelnden zu seinem Tun. Das war in dieser Form neu. Die frühmittelalterlichen Volksrechte hatten sogenannte Wergelder für unterschiedliche Vergehen festgesetzt. Für die Verletzung, Verstümmelung oder Tötung eines Menschen wurde die Zahlung eines Geldes verlangt, das die Blutrache verhindern sollte, indem der entstandene Schaden ausgeglichen wurde. Bei der Festsetzung der Höhe dieses Wergeldes spielte das Motiv etwa einer Tötung keine Rolle. Die Tat wurde von ihren Folgen für die Gemeinschaft (die Familie) her beurteilt. Das bedeutete, dass es 600 Schilling kostete, wenn man einen Priester, einen Knaben un-

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ter 12 Jahren oder eine Mutter von Kindern tötete. Die Tötung einer schwangeren Frau (ohne Kinder) musste dagegen nur mit der Hälfte dieser Summe, die Tötung einer Frau, die keine Kinder mehr bekommen konnte, gar mit einem Drittel dieser Summe vergolten werden. Tötete ein Knecht einen Knecht, so betrug die Strafe 20 Schilling. Diese Tarife entstammen dem salischen Gesetz, das in der Zeit Karls des Großen weite Verbreitung erlangte.5 Die Wergeldkataloge lassen eine soziale Wertordnung ganz eigener Art erkennen. Es war eine dezidiert christliche Ordnung, die sich auf Jesus Christus, den Beschützer des Frankenreiches berief. Noch im 12. Jahrhundert bestätigte das Augsburger Stadtrecht (1156) die Ansprüche des Domklerus auf das Wergeld. Damals war Petrus Abaelard bereits gestorben. Ethik und Recht folgten unterschiedlichen Regeln, und die Ethik des Petrus Abaelard entstammte einer anderen Sphäre als die frühmittelalterlichen Wergeldtarife, die bis in das 12. Jahrhundert galten. Doch Ethik und Recht waren eng verbunden und die Frage nach dem Motiv einer Handlung, die Abaelard so entschieden vertrat, ist für das moderne Strafrecht von erheblicher Bedeutung bei der Bemessung des Strafmaßes. Betrachten wir die Sachlage sorgfältig. Wo immer Taten durch ein Gebot oder Verbot geregelt scheinen, sind Vorschrift oder Verbot mehr auf den Willen oder die Einwilligung zu den Taten als auf die Taten selbst zu beziehen.6 Für Abaelard war es nicht mehr die Tat als solche, die gut oder böse war (und entsprechend geahndet werden konnte). Auch böse Menschen konnten in schlechter Absicht dieselben Dinge tun wie gute Menschen in bester Absicht. Allein die Intention unterscheidet sie voneinander.7 Die moralische Auseinandersetzung um das richtige Verhalten war ein innerer Kampf. Der Mensch hatte manche Anlage, die ihn zum Bösen verführen konnte. Das machte ihn noch nicht zu einem bösen Menschen. Der eigentlich problematische Schritt war der der inneren Einwilligung in die Versuchung, in dem Wissen um das Verwerfliche dieses Antriebes. Ohne diese bewusste Einwilligung war auch das äußerlich verwerfliche Handeln letztlich nicht schuldhaft. Abaelard liebte die Provokation. So wählte er als Beispiel für eine Handlung, die nach der Vorstellung seiner Zeit schuldhaft war, seiner Auslegung nach aber differenziert betrachtet werden musste, die Kreuzigung Christi. Die Männer, die Jesus ans Kreuz geschlagen hatten, hatten keine indi-

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viduelle Schuld auf sich geladen, weil sie nicht wussten, wen sie kreuzigten. Ihre Schuld, die darin lag, die Wahrheit des katholischen Glaubens nicht zu erkennen, teilten sie mit vielen Zeitgenossen. Aus ihrer Beteiligung an der Vollstreckung des Todesurteils gegen Jesus erwuchs dagegen keine persönliche Schuld. Es war ein extremes Beispiel. Doch Abaelard siedelte den argumentativen Hauptteil seiner Ethik auf einer alltäglicheren Ebene an. Es war eine Ebene, die er selbst in einer kurzen und leidenschaftlichen Affäre mit der jungen, intelligenten und hübschen Nichte eines Pariser Domherren studiert hatte. Abaelard war kein Gentleman, der die Vorzüge des Schweigens schätzte. Als Stern am akademischen Himmel von Paris im frühen 12. Jahrhundert hatte er die Vorzüge seiner Stellung ausführlich genutzt. Kiss and tell – sein späterer Bericht über die Affäre hat ihm und Heloise romantische Unsterblichkeit verliehen.8 Abaelard zahlte persönlich dafür einen hohen Preis, der erboste Onkel der jungen Frau ließ ihn überfallen und kastrieren. Abaelard selber konnte das Erlebnis und seine Folgen später als Sühne seiner früheren Taten begreifen. Aber das Thema ließ ihn nicht los. Immer wieder kommt er in seiner Ethik auf die sexuelle Versuchung zu sprechen. Dabei unterscheidet er subtil. Also nicht eine Frau zu begehren, sondern dem Begehren zuzustimmen, ist moralisch falsch, und nicht der Wunsch zum Geschlechtsverkehr, sondern das Einverständnis mit dem Wunsch ist zu verurteilen. Er wusste, dass auch das Kloster die Mönche und Nonnen nicht vor solchen Anfechtungen bewahrte. Heloise, die nach ihrer erzwungenen Trennung schließlich Äbtissin geworden war, berichtete ihm in drängenden Briefen von ihren Erinnerungen. Und der mönchische Alltag hielt Prüfungen bereit, die einen modernen Leser eher überraschen. So hielt Abaelard fest, dass es Situationen gab, in denen die Empfindung der Fleischeslust nicht als moralische Verfehlung angerechnet werden dürfe. Wenn zum Beispiel einer einen Mönch fesselt und ihn zwingt, zwischen Frauen zu liegen, und jener das weiche Bett und die ihn umgebenden Frauen spürt und zur Lust, nicht zur Einwilligung verleitet wird, wer maßt sich an, diese Lust, welche die Natur unumgänglich macht, „Schuld“ zu nennen?9 Das Thema hatte viele Facetten. Dabei war er sich bewusst, dass die Strafe, die ein Gericht verhängte, sich nach dem Schaden richtete, den die Tat anderen zufügte. Das war die Welt des Wer-

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geldes. Aber Gott richtete nach anderen Kriterien, einzig auf die Gesinnung achtet Gott.10 Das menschliche Handeln musste von seinen Konsequenzen für die Mitmenschen her beurteilt werden, daher erforderte eine Brandstiftung in der Regel eine höhere Strafe als die Unzucht. Aber diese Handlung hatte noch eine weitere Dimension. Abaelards Bild des handelnden Menschen war bei aller Beschränkung seiner Beispiele vielschichtig. Es gab verschiedene Ebenen des Bewusstseins. Die Versuchung als solche warf noch keinen dunklen Schatten auf den Menschen. Sie gehörte zu seinem Leben. Sie war eine Schwäche, aber sie war eine Schwäche, an der er (oder sie) wachsen konnte, wenn er ihr widerstand. Erst die innere Einwilligung in eine falsche Handlung (die als solche erkannt wurde), machte die Tat verwerflich. Die Versuchung war nicht neu. Neu war das öffentliche Nachdenken darüber. Bereits Gregor der Große hatte für den Mönchsvater Benedikt die schöne Charakterisierung gefunden: Allein, unter den Augen Gottes, der aus der Höhe herniederschaut, wohnte er in sich selbst.11 Auch Benedikt wird in der Einsiedelei dieser Phase, wie der Hl. Antonius nicht frei von Anfechtungen gewesen sein, und auch er musste diese Anfechtungen in sein Leben integrieren. Doch er machte sie nicht zum Thema. Petrus Abaelard gehörte in eine andere Welt. Es war eine Welt des offenen Schlagabtausches konkurrierender Gelehrter. Diese Welt hatte verschiedene Brennpunkte. Paris war einer der ersten, Bologna gewann zur selben Zeit Profil. In Paris studierte man seit dem zwölften Jahrhundert die Theologie und Philosophie, in Bologna die verschiedenen Rechte. Im 13. Jahrhundert kamen eine Reihe weiterer Universitäten und eine Vielzahl von Schulen hinzu.12 Ambitionierte Autoren und Lehrer fanden ein neues Publikum. So begann die Geschichte der europäischen Universitäten. Die Universitäten wurden zu wichtigen Schnittstellen einer christlichen europäischen Ordnung. Hier begegneten sich Gelehrte, sie studierten die Tradition, stritten und gaben ihr Wissen weiter. Die Universitäten waren geistliche Einrichtungen. Wer sich an einer Universität einschrieb, erhielt einen geistlichen Status niederen Ranges. Die Internationalität dieser Bildungsstätten machte sie zu einem bevorzugten Ort des Austausches und der Verbreitung von Lehren und Texten. Hier wurde die richtige Ordnung der christlichen Welt breit und kontrovers erörtert.

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Diese Ordnung musste neuen Herausforderungen gerecht werden. Die Vielgestaltigkeit der Welt veränderte das Menschenbild. Das Innere des Menschen, seine Versuchungen, sein Nachgeben oder seine Standhaftigkeit mussten bedacht werden. Das Augenmerk, das Petrus Abaelard auf die inneren Antriebskräfte des Handelnden richtete, wirkt bis in das moderne Strafrecht nach, das zwischen Mord und Totschlag aufgrund des Motiv der Täter unterscheidet. In den Auftritten von Petrus Abaelard und auch in den Auftritten seiner Gegner wie Bernhard von Clairvaux ist eine neue menschliche Dynamik fassbar. Das Bewusstsein der Menschen, ihre Erfahrungen und inneren Kämpfe wurden nun thematisiert und bewertet. In diese Welt der erlebten Gegensätze hielt eine Psychologie Einzug, die sich der Vielschichtigkeit menschlicher Antriebe bewusst wurde. Die Frage von Richtig und Falsch verlangte aus dieser Perspektive eine sorgfältige Prüfung.

9. Die christliche Ordnung in der Zeit des Thomas von Aquin Päpstlicher Zentralismus und die Ordnung der Welt – Der große Entwurf des Thomas von Aquin – Die politischen Grenzen der päpstlichen Autorität Ein Jahrhundert nach dem Tod von Petrus Abaelard (1079-1142) war Paris zu der bedeutendsten Bildungsstätte nördlich der Alpen geworden. Paris war die Hauptstadt des mächtigsten Königreiches im westlichen Europa. Die eigentümliche Verbindung von wissenschaftlichem Glanz und politischer Macht sicherte der Stadt eine hohe Anziehungskraft. In den 1240er Jahren kam Thomas von Aquin als junger Student im Alter von etwa 20 Jahren im Gefolge seines Lehrers Albertus Magnus nach Paris. Thomas war von seiner Familie zur Erziehung in das Kloster Benedikts von Nursia, Montecassino, gegeben worden. Er hatte dann seine Leidenschaft für das Leben der Bettelmönche entdeckt und war auch durch eine gewaltsame Intervention seiner Familie nicht von diesem Weg abzubringen. Thomas war dem Orden der Dominikaner beigetreten und hatte Theologie und Philosophie studiert.1 Der Italiener Thomas verbrachte bei wiederholten Aufenthalten bis kurz vor seinem Tod 1274 viele Jahre an der Universität von Paris. Es waren dramatische Jahre, in denen die Theologen der Dominikaner und der Franziskaner mit Nachdruck und mit Erfolg für eine neue Ordnung der Kirche eintraten. Dabei war der Konflikt, der in Paris theologisch ausgetragen wurde, eigentlich in der Realität der europäischen Städte entschieden worden. Es ging um die Leitungsgewalt des Papstes in Rom gegenüber den Bischöfen vor Ort. Weil die Franziskaner und Dominikaner durch ihren glaubwürdigen Lebensstil viel Zulauf in den Städten erhielten, reagierte der traditionelle Klerus vielerorts abwehrend bis feindselig. Die Gaben der Gläubigen für die Franziskaner fehlten den

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normalen Priestern. Sie waren keine reichen Männer. Die Zurückweisung der Bettelmönche durch den lokalen Klerus wurde häufig durch den Bischof unterstützt. Die Bettelmönche entzogen sich seiner Autorität. In diesem Konflikt mit dem lokalen Klerus wandten sich die Bettelmönche verstärkt an die Kurie in Rom, um mit päpstlichen Schutzbriefen ihrer Berufung zur Wanderpredigt zu folgen. Es ergab sich eine Allianz von glaubwürdigem Personal und päpstlicher Autorität. Beide Seiten profitierten von dieser Verbindung von Charisma und Amtsgewalt. In der Zeit, in der Thomas von Aquin seine bedeutenden Werke schrieb, deren Wirkung auf die katholische Welt- und Werteordnung bis in die Gegenwart reicht, erhielt die lateinische Christenheit eine entwickelte hierarchische Ordnung. Es war eine Ordnung, die auf der Theologie und dem päpstlich geprägten Kirchenrecht basierte. Es gab weiterhin Widersprüche und eigenwillige Stimmen, aber es wurde schwerer für sie, Gehör zu finden. Die Vertreter einer hierarchischen Ordnung konnten ein geschlosseneres Weltbild vorweisen. Das war ihre Stärke und das war ihr Problem. Denn unter den weiterhin schwierigen Kommunikationsbedingungen der Zeit war eine solche Hierarchie eine gedachte Ordnung. Die lokalen Widerstände und Besonderheiten blieben bestehen. Der päpstliche Zentralismus verfügte über einen gewissen Apparat und während einiger Jahrzehnte war das Ansehen des Papsttums in Rom so stark, dass selbst die Christen im fernen Island und Grönland sich um die päpstliche Zustimmung für lokale Traditionen bemühten. Hätte der Bischof auf Grönland die Auffassung des Papstes ignoriert und wäre den lokalen Traditionen gefolgt, hätte die päpstliche Disziplinargewalt keinerlei Handhabe gehabt, gegen ihn vorzugehen. Dennoch erbat der Grönländer die römische Erlaubnis. Das 13. Jahrhundert erscheint als eine Zeit weiter Horizonte, die noch nicht durch die Überspannung hierarchischer Amtsgewalt und durch unübersehbare Gefahren jenseits der eigenen Grenzen verdunkelt wurden. Thomas von Aquin wuchs in einem Italien auf, das durch seine Handelsverbindungen Güter aus der ganzen damals bekannten Welt bezog. Es war bereits eine große Welt, aber ihre Vielfalt und ihre Erstreckung schienen für die ordnenden Kräfte der Menschen noch erreichbar zu sein. Die Texte des Thomas von Aquin vermitteln den Eindruck einer zuversichtlichen Auseinandersetzung mit der Welt.

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Thomas hat ähnlich wie Augustinus eine lange Wirkungsgeschichte entfaltet, aber sein Ton ist anders. Thomas von Aquin hat Aristoteles für die christliche Tradition erschlossen, und in Hinblick auf die Ethik hat er dem handelnden Menschen in dieser Tradition eine besondere Würde verliehen. In seinen späten Lebensjahren hat er in seinem unvollendeten Hauptwerk, der Summa Theologiae, einen eindrucksvollen Versuch unternommen, das christliche Weltbild seiner Zeit in einer geordneten Systematik zu erfassen.2 Thomas glaubte an die Ordnung. Die Welt war für ihn die geordnete Schöpfung Gottes, die auf ihren Schöpfer hin geordnet war: Alles strebt dem Guten zu, nicht nur das, was Erkenntnis besitzt, sondern auch das, was ohne Erkenntnis ist.3 Damit erhielten auch die weltlichen Ziele des menschlichen und des kreatürlichen Lebens eine eigene Wertigkeit, denn sie waren innerhalb des Gesamtbildes von Gott gewollt: so ergibt sich daraus mit Notwendigkeit, daß das, worauf alles naturhaft hingewendet ist, von Gott gewollt und beabsichtigt ist.4 Innerhalb dieser Ordnung, deren treibende Kraft Gott war, war der Mensch in der Entscheidung über seine Handlungen frei. Freiheit bedeutete allerdings nicht, dass der Mensch sich für eine Handlung gegen die göttliche Ordnung entschied, denn dann verließ er den Raum der Freiheit. Aber solange die Menschen sich auf dem Boden der Vernunft bewegten, die das Gesetz dieser Ordnung war, solange waren seine Handlungen frei. Darum ist er nicht nur Ursache seiner selbst im Bewegen, sondern auch beim Urteilen. Daher besitzt er die Willensfreiheit, was dasselbe ist, wie „ein freies Urteil haben“ über das Tun und Nichttun.5 Hier erscheint der handelnde Mensch in anderer Weise, als der von dunklen Kräften hin- und hergerissene Protagonist des alten Augustinus. Woran richtete der handelnde Mensch seine Handlungen aus? Für Aristoteles, an dem Thomas in vielen Fragen Maß nahm, hatte der handelnde Mensch zwischen allgemeinen, eingeborenen Prinzipien und den sehr unterschiedlichen Erfordernissen des jeweiligen Einzelfalls gestanden, die es sorgfältig zu prüfen galt. Ohne dass Aristoteles vorgegeben hätte, wie eine solche Prüfung erfolgen sollte. Auch Thomas sah die Grundlinien der Ethik in einem universalen Naturgesetz festgelegt. Die Welt, in der Thomas lebte und über die er schrieb, war die reale Welt. Eine Welt des Seins, keine Hervorbringung eines

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christlichen Bewusstseins. Wenn Gott die Schöpfung mit einer vernünftigen Ordnung versehen hatte, dann musste diese Ordnung auch für die Bewohner dieser Welt erkennbar und verbindlich sein, die nicht katholisch waren. Zumindest innerhalb gewisser Grenzen. Die Ausrichtung der Schöpfung auf das Gute war eine Grundkonstruktion, keine Meinung. Entsprechend lautete die Schlußfolgerung in Hinblick auf das menschliche Handeln. Sie war ein universales Prinzip: Dies ist also das erste Gebot des Gesetzes: Das Gute ist zu tun und zu erstreben, das Böse ist zu meiden. Auf dieses Gebot gründen sich alle anderen Gebote des Naturgesetzes.6 Das Gute ist ein weites Feld, und es gab auch im 13. Jahrhundert keine eindeutigen Festlegungen, was dieses Prinzip im Einzelfall erforderte. Thomas differenzierte unterschiedliche Sphären menschlicher Handlungen, die er aber alle unter der einen Annahme betrachtete: Das Gute war das Ziel, zu dem der Mensch auf natürlichem Wege neigte. Das schloss die menschliche Sexualität (die Vereinigung von Mann und Frau) ausdrücklich ein. Der erste Bereich des Naturgesetzes war danach das Feld der Selbsterhaltung, auf dem der Mensch Schaden von sich abzuwenden suchte. Das zweite Feld war das des Erhaltes seiner Art und seiner Neigungen als Sinnenwesen quae natura omnia animalia docuit (was die Natur alle Lebewesen lehrt). Das dritte Feld war das anspruchsvollste, auf dem der Mensch sich um die göttliche Wahrheit bemühte und wo er die Dinge zu regeln hatte, die sich aus dem Leben in Gemeinschaft ergaben. Denn wie Aristoteles sah auch Thomas den Menschen als ein Wesen, das zur Erfüllung seiner Bestimmung eine soziale Existenz führte. Thomas war sich bewusst, dass die Welt der praktischen Handlungen eine andere Wahrheit erforderte, als die Welt der philosophischen Anschauung. Es waren konkretere Wahrheiten, und nicht immer ergaben sie sich in eindeutiger Weise. Woran nicht zu zweifeln war, das waren die allgemeinen Grundsätze: Im Bereich des Handelns liegt nicht für alle dieselbe tätigkeitsbezogene Wahrheit oder Rechtheit im Einzelnen vor, sondern nur hinsichtlich des allgemeinen.7 Dabei konnte es im Speziellen durchaus zu kulturbedingten Irritationen kommen, und das deshalb, weil es Menschen gibt, die eine verbogene Vernunft haben.8 So berichte etwa Julius Caesar über die Germanen, dass der Raub bei ihnen kein Verbrechen sei, auch

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wenn Raub einen klarer Verstoß gegen das Naturrecht darstelle. In dieser Weise sei es auch möglich, gewisse Folgerungen aus den Grundsätzen des Naturrechts bei manchen Menschen auszublenden. Die allgemeinen Grundsätze konnten dagegen nicht aus dem Bewußtsein gelöscht werden. Es galt also zu differenzieren. Es gab offensichtliche naturrechtliche Prinzipien, die Thomas etwa in den zehn Geboten fand: Ehre Vater und Mutter, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen. Diese Prinzipien bestanden aus einfachen Verboten und Geboten. Dann gab es subtilere Ableitungen, deren Vorschriften etwa im zivilisierten Umgang der Jugend mit weisen Männern vermittelt wurden: Vor dem alten Mann senke man das Haupt, halte die Alten in Ehren. Die höchste Form moralischer Vorschriften leitete sich nach Thomas ebenfalls aus dem Naturrecht ab, wenn der Mensch Einsicht in den göttlichen Ursprung seiner Vernunft gewinne: Du sollst dir kein Bildnis machen, du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen. Aristoteles hielt die Anleitungen für das konkrete Handeln für Entscheidungen im Einzelfall, und auch Thomas lässt erkennen, dass auf dem Weg vom allgemeinen Prinzip zur Umsetzung in einem komplexen Einzelfall die Gewissheiten der Überprüfung bedurften. Was war zu tun, wenn ein bewaffneter, offenkundig zur Gewalt entschlossener Reiter Auskunft über den Verbleib eines Menschen verlangte, dessen Aufenthaltsort man ebenso kannte wie seine Gefährdung infolge seines Eintretens für die Gerechtigkeit? Durfte man falsch Zeugnis ablegen, bereitete die wahrheitsgemäße Antwort nicht einer Tötung den Weg? Thomas hätte wohl keine einfache Antwort gegeben. Das ist wichtig festzuhalten. Thomas’ Bild der Welt als einer sinnvollen, gottgewollten Ordnung, in der der handelnde Mensch sich am göttlichen Leitfaden, aber auch an den natürlichen Erfordernissen zu orientieren hatte, hat in der Wiederbelebung des 19. Jahrhunderts eine gewisse Zuspitzung erfahren, die den Ordnungscharakter hervorgehoben hat. Als das Werk in der Welt städtischer Religiösität des fortgeschrittenen 13. Jahrhunderts entstand, da hatte es noch den zuversichtlicheren Geist eines vernunftgelenkten Aufbruchs verbreitet.

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Thomas von Aquin stand der Entfaltung der päpstlichen Amtsgewalt zu seinen Lebzeiten kaum kritisch gegenüber, seine geistige Heimat lag bei den Verteidigern des päpstlichen Zentralismus. Aber sein Werk verzichtet darauf, das ordnende Potential seines Weltbildes auf die päpstliche Gewalt hin auszurichten. Andere waren und sind weniger zurückhaltend. Wenn die göttliche Schöpfungsordnung erkennbar ist, und von jedem erkannt werden kann, der mit ehrlichem Bemühen danach sucht, dann stellte sich die Frage, ob die päpstliche Autorität nicht die Irrenden von ihrem Weg ins Verderben abhalten sollte? Immerhin folgte aus der Fülle der Amtsgewalt (plenitudo potestatis), die die Päpste im 13. Jahrhundert beanspruchten, auch eine erhöhte Verantwortung für die Christen der lateinischen Kirche. Die Päpste des 13. Jahrhunderts waren keine Theologen, sie waren Juristen. Sie verstanden etwas von den Rechtsverhältnissen einer Hierarchie. Ihre hierarchischen Ordnungen gingen einher mit den kühnen Entwürfen eines Thomas von Aquin. Daher aber erklären wir, bestimmen und verkünden wir, daß es für alle menschliche Kreatur überhaupt heilsnotwendig ist, dem römischen Papst untertan zu sein.9 Mit dieser Feststellung beendete Papst Bonifaz VIII. im November 1302 ein Sendschreiben, das einen allgemeinen Anspruch formulierte, sich dabei aber besonders gegen den französischen König richtete. Der französische König hatte die Leitungsansprüche des Papstes über die Katholiken im Königreich Frankreich zuvor scharf zurückgewiesen. Papst Bonifaz, der als Papst wenig diplomatisch agierte, hatte seinen Führungsanspruch daher in unmissverständliche Worte gefasst. Es war ein weiterer Schritt in einem dramatischen Konflikt, der im September 1303 darin gipfelte, dass der französische König den Papst in seiner Sommerresidenz überfallen ließ. Tief getroffen starb Bonifaz VIII. einige Wochen später. In dem Kampf zwischen Papst Bonifaz und dem französischen König ging es um die Grenzen der päpstlichen Amtsgewalt. Diese Grenzen wurden klar gezogen. Der Kampf war nicht um die Werte des christlichen Lebens innerhalb der umstrittenen Zuständigkeitsbereiche gegangen. Der König von Frankreich verstand sich als allerchristlichster König. Als solcher bestand er darauf, über die Angelegenheiten seiner französischen Untertanen ohne päpstliches Zutun zu entscheiden. Sowohl die französischen wie die englischen Könige dieser Zeit bestanden auf

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der Regelung der Angelegenheiten ihrer Reiche im Rahmen ihrer Königsherrschaft. Das 13. Jahrhundert hatte in den europäischen Königreichen und in der katholischen Kirche zu einer deutlichen Präzisierung von Herrschaftsverhältnissen geführt. Nun wurden die Reichweiten dieser Herrschaftsansprüche auf solchen Feldern erprobt, auf denen es konkurrierende Ansprüche gab. Dabei ging es etwa um die Besteuerung des Klerus oder um den Umgang mit Prälaten, die sich kritisch gegen ihren König zeigten. Der universale Leitungsanspruch der päpstlichen Kurie über die europäische Kirche geriet an eine Grenze. Seit dem Aufbruch der Reformer um Gregor VII. hatte die Kirche einen zunehmend zentralisierten Apparat aufgebaut. Tatsächlich war sie in diesem Zuge überhaupt erst zu einer Kirche geworden. Die Zentralisierung der europäischen Christenheit war solange möglich, solange die Ansprüche der weltlichen Herrschaft an die Untertanen gering waren, auch weil die Leistungsfähigkeit der beginnenden Staatsmacht noch schwach war. In dem Maße, in dem die Untertanen in eine tatsächliche weltliche Herrschaft einbezogen wurden, wurden etwa französische Christen daran erinnert, dass sie auch als Christen ihrem König Loyalität und Abgaben schuldeten. Die Intensivierung herrschaftlicher Kontrolle im späten Mittelalter setzte dem päpstlichen Universalismus eine deutliche Grenze. Mit den Zugriffsmöglichkeiten königlicher Amtsträger in England und Frankreich, landesherrlicher Amtsträger in Deutschland oder stadtherrlicher Amtsträger in Italien konnte die Kirche nicht konkurrieren. Dies war zunächst eine herrschaftstechnische Frage. Doch die Kraftfelder, die auf diese Weise in Europa ausbalanciert wurden, hatten Folgen für die weitere Werteordnung. Rechtsordnung und Werteordnung blieben eng verbunden. In dem Maße, in dem die Verbindlichkeit der Rechtsordnung wuchs, konnten auch die Wertvorstellungen trennschärfer formuliert werden. Und ein Bezugsrahmen wurde durch die konkurrierenden Herrschaftsordnungen gegeben. Auf die Vorbringung von Bonifaz VIII., dass er sowohl die geistliche als auch die weltliche Gewalt besitze, soll ihm der Gesandte des französischen Papstes spitz geantwortet haben: Durchaus Herr, aber Eure Gewalt ist die der Worte, unsere aber ist real.10 Bonifaz bekam diesen Unterschied zu spüren. Der Blick auf Bonifaz VIII. und den französischen König bedeutet einen Wechsel von der Welt der Städte zu einer Welt der Höfe.

10. Die Werte des Adels Familie, kriegerische Ehre und Mitsprache Die höfische Welt war die Welt des Adels, dessen Wertevorstellungen das alte Europa bis zur französischen Revolution vielfältig prägten. In dieser Welt mächtiger Familien ließen sich die realen und die ideellen Werte nicht trennen. Die Wertvorstellungen des Adels waren mit dem Besitz des Landes verbunden, dem er seine Stellung verdankte. Und der Sicherung der Rechte an diesem Land galt seine besondere Sorge. Mit dem Land war häufig der Anspruch verbunden, Berater des Königs zu sein. Am stärksten ausgeprägt war dieser Anspruch in England, wo die großen Adelsfamilien auf ihrem Recht bestanden, vom König vor wichtigen Entscheidungen gehört zu werden. Der König handelte unklug, wenn er diesen Anspruch länger ignorierte. Die Beratungs- und Entscheidungskultur war ein Wert an sich. Die Werte dieser Adelswelt wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Diese Tradition war eine Verpflichtung in Hinblick auf den Erhalt der Familienländereien und eine Verpflichtung in Hinblick auf die Freiheiten, die frühere Generationen für diese Ländereien erstritten hatten. Dies waren durchaus ökonomische Werte, denn die Freiheiten waren zu einem bedeutenden Teil Freiheiten von Abgaben. Wenn der König in Hinblick auf diese Werte etwas ändern wollte, etwa weil die Lage des Königreiches weitere Mittel für den Krieg erforderte, dann musste er mit den Betreffenden darüber beraten – von Angesicht zu Angesicht. Von ihrer Reichweite her war diese adlige Kultur der Gesprächskultur des Cicero verwandt. Man kannte sich, schätzte sich nicht immer, aber man wusste, dass man über wichtige Fragen miteinander reden musste. Diese adlige Kultur hat das alte Europa in wichtigen Bereichen bis zur Französischen Revolution und auch darüber hinaus geprägt. Da der hohe Klerus weitgehend aus diesem sozialen Milieu stammte, mussten die universalen Konzepte der Kirche mit den Interessen

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dieser Akteure in Einklang gebracht werden. Dabei ist ein Unterschied zu der Welt Ciceros besonders auffällig. Als der Graf von Warennes um 1280 im Zuge einer Kampagne des englischen Königs von dessen Richtern aufgefordert wurde, die Rechte an seinem Land nachzuweisen, ließ er ein altes Schwert herbeibringen. Meine Vorfahren sind nämlich mit Wilhelm dem Bastard gekommen und haben ihre Länder mit dem Schwert erobert, und mit dem Schwert werde ich sie gegen jeden verteidigen, der sie besetzen will.1 Der Graf ließ sich nicht auf eine Erörterung über die Rechte seiner Familie ein, wie es ein Mann in seiner Position in den Zeiten von Sokrates oder Cicero getan hätte. Die Werte seiner Familie wurden nicht durch Worte verteidigt. Dies war eine Welt von Kriegern, und sie sollte es auch noch für lange Zeit bleiben. Es war eine Welt familiärer Loyalitäten, die Wert legte auf ihre jeweiligen Traditionen. Als der englische König zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Streit mit seinen Baronen die Hilfe des französischen Königs erbat (Edward II. war mit der Tochter des französischen Königs verheiratet), entsandte Philipp IV. von Frankreich gelehrte Juristen zur Unterstützung seines Schwiegersohnes. Aber die englischen Aristokraten reagierten abweisend. Ihr Land würde nicht durch geschriebene Gesetze regiert, sondern durch die alten Gesetze und Rechtsgewohnheiten. Wenn diese mündlichen Traditionen in einem Fall nicht mehr ausreichend seien, dann würde der König im Gespräch mit seinen Großen die Anpassung vornehmen. In Frankreich war die Macht des Königs abstrakter und auch die Rechtstraditionen wurden abstrakter formuliert. Die mächtigen englischen Adligen, die im Verlauf des späten Mittelalters ihre Könige Edward II. und Richard II. absetzten, bestanden auf der Wirkung eines kontrollierenden Netzwerkes wichtiger Männer. Ihre Wertvorstellungen waren durch eine selbstbewusste kriegerische Tradition geprägt. Zu einem Kampf gehört ein Gegner. So sehr diese Barone in der Tradition der Magna Carta standen, die die Freiheiten der Kirche und der Untertanen des englischen Königs betonte, so konnte doch kein abstrakter Wert ihre Leidenschaften so sehr mobilisieren wie ein Feind am Hofe des Königs. Die Feindbilder gehörten zum aristokratischen Leben des späten Mittelalters in England. Dabei waren die Feinde nicht in erster Linie die französischen Ritter im Hundertjährigen Krieg. Diese

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waren Gegner, die man mit Respekt behandeln konnte, aber nur im äußersten Fall im Kampf tötete. Nur ein lebender Gefangener brachte ein hohes Lösegeld. Die Todfeinde befanden sich eher im eigenen Land. Männer, die am Hofe des Königs das Ohr des Königs erlangten, die den Großen den Zugang zum König verwehrten, mobilisierten den Hass des Adels. Es ging in den Konflikten des späten Mittelalters weniger um abstrakte Werte als um angemessene persönliche Anteile am Geschehen, an der Entscheidung und auch an verteilten Ländereien. Das hohe und das späte Mittelalter waren Zeiten zunehmender Abstraktion und weit gespannter Kontakte. Es waren Zeiten vielfältiger Aufbrüche und vielfältigen Wandels. Wir müssen uns dennoch daran erinnern, dass dieser Wandel, der auch den Adel erfasste, die grundsätzliche Verbundenheit dieser führenden Schicht des alten Europa mit der Welt des Kampfes und der Waffen nicht veränderte. Der religiöse Aufbruch des elften Jahrhunderts, der stark vom Adel getragen wurde, hatte Europa nicht friedlicher gemacht. Er hatte das Leitbild des Krieges zur Verteidigung des Kreuzes neu belebt. Die historische Forschung hat in jüngerer Zeit herausgearbeitet, wie bedeutend die Vorstellung der Ehre auch im fortschreitenden Mittelalter blieb. Die Ehre hatte neben der persönlichen eine allgemeine Dimension und sie hatte als herrschaftsstabilisierende Kraft auch rationale Züge. Aber ihre eigentliche Wirkungsmacht bezog sie aus der persönlichen Verpflichtung, die sie dem einzelnen Adligen bis hinauf zum König auferlegte. Sie war ein langlebiger Anspruch, der noch im frühen 20 Jahrhundert Angehörige des Offizierskorps in Konflikt mit ihrer Kirche bringen konnte, die ein Duell nicht dulden mochte. Die unterschiedlichen sozialen Rollen, die ein Mensch in einer komplexer werdenden Welt ausfüllte, konnten erhebliche Wertkonflikte zur Folge haben. Das beginnende 14. Jahrhundert ließ die Europäer auch die dunklere Seite der neu gewonnenen Einbindung in eine größere Welt erfahren.

11. Orientierung in einer größeren Welt Die gefährdete Stellung Europas in der Welt – Die Sorge um die Zukunft – Ockhams Absage an die erkennbare Ordnung der Welt – das Aufkommen individueller Maßstäbe Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts gewann Europa allmählich eine Vorstellung von der Weite Asiens und damit auch eine neue Vorstellung von der Größe der Welt. In den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts hatten die Reiterheere Dschingis Khans nach ihrer Einigung zunächst China unterworfen und waren dann immer weiter nach Westen vorgedrungen. Im Frühjahr 1241 waren die Mongolen nach Siegen in Schlesien und in Ungarn in den Grenzgebieten der lateinischen Christenheit angelangt. Auf ihrem Zug hatten sie ein Reich von gewaltiger Ausdehnung errichtet und sich die unterworfenen Völker tributpflichtig gemacht. Interne Rivalitäten nach dem Tode des Khan leiteten im Sommer 1241 den Rückzug der Reiterheere ein. Ein mächtiger Besucher hatte an Europas Tore geklopft, und die folgenden Jahrzehnte erlebten eine Reihe von Gesandtschaften und Handelsreisen nach Asien, von denen die Reisen des Marco Polo am bekanntesten sind. Die Reisenden waren als Gesandte von Königen, des Papstes oder als Kaufleute in eigenem Interesse unterwegs. Sie schrieben Berichte über ihre Reisen, die zum Teil phantastische Züge hatten. Es war eine fremde Welt, exotisch und nicht christlich. Anfängliche Hoffnungen auf eine erfolgreiche Mission wurden enttäuscht. Das Wissen über die Kulturen, den Reichtum und die Gefahren Asiens zog nur in stark verfremdeter, legendenhafter Form weitere Kreise. Die genaueren Berichte waren nur wenigen Zeitgenossen bekannt. Doch es ist auch in unserer Gegenwart nicht notwendig, eine gute Kenntnis von der Vielfalt und dem Reichtum weit entfernter Kulturen zu haben, um die Beschränktheit der eigenen Rolle in der Welt erahnen zu können. Seit dem 13. Jahrhundert mehren sich die Hinweise darauf, dass die Europäer, die mit ei-

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nem wachen Blick auf ihre Welt schauten, sich der nur relativen Bedeutung der lateinischen Christenheit in der Welt bewusster wurden. Als der Bischof von Lincoln im Jahre 1250 vor dem Papst erschien, zeichnete er ein düsteres Bild vom Anteil der Katholiken an der Weltbevölkerung, er sei klein und unbedeutend.1 Das war zunächst noch eine einzelne Stimme, und sie wurde auch nicht zu einem Chor. Doch die Ereignisse sprechen eine eigene Sprache. Im späten 13. Jahrhundert ging mit Akkon die letzte Bastion der Christen im Heiligen Land verloren. Die Aufrufe der Päpste zur Hilfe für die bedrängte Stadt und die späteren Aufrufe zur Rückeroberung des Heiligen Landes mobilisierten die Europäer nicht mehr. Sie kämpften nicht mehr im Nahen Osten. Es wird nicht gesagt, aber es hatte sich herausgestellt, dass diese Kämpfe nicht mehr zu gewinnen waren. Als die Europäer im 16. Jahrhundert zu militärischen Unternehmungen außerhalb des eigenen Kontinents zurückkehrten, profitierten sie von dem Vorsprung ihrer Waffentechnik. Die Welt war zu Beginn des 14. Jahrhunderts unübersichtlicher geworden, und die Bedeutung der Christen in ihr erschien im Vergleich mit den anderen Religionen nicht mehr dominierend. Vor einem solchen Hintergrund war die Feststellung, dass alle Kreatur heilsnotwendig dem Papst untertan sein müsse, durchaus ein ehrgeiziger Anspruch. Das einschlägige päpstliche Dokument von Bonifaz VIII. wurde im Jahre 1302 durch ein Preislied auf die Einheit der Kirche und der Christenheit eingeleitet: An die eine heilige katholische Kirche zu glauben und an ihr festzuhalten mit dem Eifer des Glaubens sind wir gezwungen, und wir glauben fest an sie und bekennen sie geradewegs, da es außerhalb ihrer kein Heil gibt, keine Vergebung der Sünden, wie der Bräutigam im Hohelied verkündet: „Einzig ist meine Taube, meine Vollkommene, sie ist einzig ihrer Mutter, die Auserwählte derer, die sie gebar“ – sie verkörpert den einen mystischen Leib, dessen Haupt Christus ist – und dessen Haupt ist Gott-, in ihr ist ein Herr, ein Glaube und eine Taufe.2 Das Lob der Einheit hatte in der Konsequenz zu dem unbestreitbaren Führungsanspruch über die ganze Christenheit geführt. Einheitsgedanke und hierarchischer Anspruch gingen Hand in Hand. Das war die konsequente Fortschreibung der Einheitsträume des Agobard von Lyon. Seine Klage über die Viel-

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gestaltigkeit des Rechtslebens trotz der Erlösung aller Christen durch den einen Christus war ebenfalls durch ein langes Lob der Einheit eingeleitet worden. Agobard hatte an den Kaiser geschrieben, nicht an den Papst. In der Zwischenzeit hatten sich die Kräfte verschoben. Die Verbindung von Einheitsgedanken und päpstlichem Führungsanspruch gilt bis in die Gegenwart. Und es war nicht nur die Kirche, die den engen Zusammenhang zwischen dem Ideal der Einheit und einer starken Führungsgewalt in der europäischen Geschichte verteidigt hat. Die Geschichte der europäischen Staaten liefert manches bedenkliche Beispiel, bevor die Moderne den Pluralismus der Meinungen zu einem neuen Leitbild erhob. Die enge Verbindung von Einheit und päpstlicher Leitungsgewalt führt angesichts der Welterfahrung im 14. Jahrhundert allerdings zu der Frage, wieviel Heterogenität ein solcher Führungsanspruch integrieren konnte, ohne sich selbst in Frage zu stellen? Musste ein Führungsanspruch, der auf der Einheit basierte, nicht in der Praxis seine universale Geltung aufgeben, um das Ideal der Einheit nicht preiszugeben? Dabei ging es um die tatsächliche Reichweite, nicht um den theoretischen Anspruch. Das 14. und 15. Jahrhundert erlebten in der Geschichte der europäischen Christenheit eine eigentümliche Trennung des triumphalen päpstlichen Selbstverständnisses von seiner realen Begrenztheit, die deutlich zu Tage trat. Im Jahre 1400 gab es drei Päpste, die alle beanspruchten, die alleinigen Häupter der Christenheit zu sein. Die Christenheit, deren Haupt sie waren, blieb die exklusive Kirche des Herrn – um den Preis des Ausschlusses der Anhänger der anderen beiden Päpste. Das Große Abendländische Schisma spaltete die lateinische Christenheit zwischen 1378 und 1414 während der Dauer einer Generation. Es war ein Bruch, der die Spaltung der Christenheit in der Reformation vorbereitete – allerdings noch ohne inhaltliche Komponenten. Die Ansprüche und das Selbstverständnis der konkurrierenden kirchlichen Lager blieben absolut, daher wurden die Wirkungskreise verkleinert. Die Wertehorizonte der frühen Neuzeit kündigten sich an. Das 14. Jahrhundert zeigt uns ein Europa, das stärker von den Gefahren einer Einbindung in die große Welt bedroht wurde, als dass es die Weite dieser Welt als Herausforderung ansehen konnte. Der Einbruch der Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts hat

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das Bild dieser Zeit in finstere Farben getaucht. Auch wenn neuere Forschungen einzelne Regionen erkennen lassen, die von dem großen Sterben zunächst verschont blieben, so bleibt das Bild doch dunkel. Die Katastrophe, die etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung von insgesamt ca. 75 Millionen Menschen tötete, war die Folge der Einbindung Europas in ein weltweites Handelsnetz. Die Krankheit kam aus Zentralasien über die Seidenstraße und die Schifffahrtsverbindungen vom Schwarzen Meer nach Italien. Sie traf einen Kontinent, der durch Hungersnot und Wirtschaftskrise seit Beginn des Jahrhunderts bereits bedrückt war. Die Vielfalt der Erscheinungen dieser Zeit lässt eine einfache Zusammenfassung der großen Entwicklungslinien nicht zu. Aber es ist auffällig, dass verschiedene Akteure in dieser Phase versuchten, Entwicklungslinien in die Zukunft schriftlich festzuhalten. So sollte eine Gefährdung der Werte, die für ihr Leben eine besondere Bedeutung hatten, abgewendet werden. Das war eine neue Entwicklung. Bislang hatten die wichtigen Männer versucht, durch ihre Beteiligung an der Beratung etwa über den Umgang mit dem Erbe des Heiligen Franziskus, Fehlentwicklungen zu vermeiden. In gleicher Weise hatten die Berater des englischen Königs die Werte der englischen Tradition gegen die einseitige Auslegung durch den englischen König verhindern wollen. Nun nahm die Sorge zu, dass die mahnende Stimme nicht mehr ausreichte, um den Papst oder den König von Entscheidungen abzuhalten, die alles in Frage stellten, wofür diese Männer gelebt hatten. Franziskus hatte die Armut kompromisslos vorgelebt. Sie war sein Maßstab für ein gottgefälliges Leben gewesen, und viele Menschen hatten diese Wertvorstellung geteilt. Sie hatten die Brüder, die Franziskus nachgefolgt waren, und deren Predigten sie aufrüttelten, mit vielen Gaben bedacht. So war die Armut in einem neuen Sinne wertbildend geworden. Der Orden hatte manche wertvolle Immobilie und manche Länderei erhalten. Aber die Brüder wollten arm bleiben. Gleichzeitig hatte die Lebensweise der Bettelmönche ihre Ausstrahlung auf die gebildete Elite der Zeit entfaltet. Das war nicht überraschend, brachte aber neue Probleme. Ein Orden mit Mitteln und mit Geist stand nicht mehr am Rande der Gesellschaft. Er war wehrhaft, und Männer wie Thomas von Aquin oder Bonaventura waren auch entschlossen, um die Rolle ihres Ordens zu

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kämpfen. Ein Streit um die Werte des Ordens entbrannte. Konnte man sich arm nennen, wenn man die reichen Güter nur nutzte, den Eigentumstitel aber an die Kurie überschrieb? Tatsächlich lebten die Brüder nicht mehr in Armut. Es war eine eher theoretische als praktische Frage und Richtungskämpfe blieben nicht aus. Es gab widerstreitende päpstliche Entscheidungen, die für manchen Franziskaner an die Substanz seines Selbstverständnisses gingen. Als Papst Johannes XXII. in den 1320er Jahren die Diskussion um einen Erlass eines Vorgängers eröffnete, der das franziskanische Selbstverständnis programmatisch festgehalten hatte, erhob sich unter den Brüdern ein Aufschrei. Sie sahen die Werte ihrer Lebensweise in Gefahr. Sie versuchten, den Papst mit einem Vorstoß zu bremsen, der eine neue Dimension in die Wertediskussion brachte. Sie argumentierten, dass bestimmte Entscheidungen der Päpste eine dauerhafte Norm setzten und auch von ihren Nachfolgern nicht aufgehoben werden konnten. In gewisser Weise waren diese Entscheidungen aus der herkömmlichen Dynamik der Traditionsbildung mit ihrem steten Wandel herausgenommen. Sie standen außerhalb der Geschichte. Es war ein Versuch, und er setzte sich nicht durch. Der amerikanische Historiker Brian Tierney hat in diesem Versuch die Wurzel des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit gesehen. Das ist eine interessante Deutung, zumal sie auf eine grundsätzliche Parallele verweist, die Tierney so nicht im Sinn hatte. Die Formulierung des Unfehlbarkeits-Dogmas auf dem ersten Vatikanischen Konzil 1869/70 war auch eine Reaktion auf die Herausforderungen der Moderne, gegen die sich das Konzil abgrenzen wollte. Die katholische Kirche sah sich nach den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts mit einer Welt konfrontiert, in der ihr Vieles nicht gefiel. Angesichts dieser Aussichten hoffte sie, durch eine formale Bestandsgarantie bleibende christliche Wahrheiten über die Zeit sichern zu können. Die Wiederentdeckung des Thomas von Aquin als eines Vaters der christlichen Ordnung in jenen Jahren unterstützte dieses Bemühen. Es war ein Versuch, die Verhältnisse der Gegenwart auf einzelnen Feldern, die für das eigene Selbstverständnis unverzichtbar erschienen, auch für die Zukunft festzuschreiben. Der Versuch entbehrte der konservativen Weisheit, dass sich alles ändern muss, um zu bleiben wie es ist. Die Franziskaner des 14. Jahrhunderts fürchteten diesen Wandel

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ebenso wie die Konzilsväter des späten 19. Jahrhunderts. Aber die Franziskaner kämpften nicht auf der Seite des Papstes, sondern gegen ihn. Sie waren nicht erfolgreich. Dabei wurde erstmals die Sorge um den Erhalt der eigenen Werte in der Zukunft sichtbar. Die Franziskaner versuchten dem Wandel mit einer Festschreibung zu begegnen. Letztlich taten sie das, um Herren ihres eigenen Schicksals zu bleiben, auch wenn sie dieser Formulierung nicht zugestimmt hätten. Tatsächlich hätte diese Verteidigung der Armut im Falle des Erfolges eine Gewissheit für die Zukunft erbracht, deren Fehlen gerade die zentrale Erfahrung der Armen war. Die Armut beraubte den Armen der Kontrolle über sein Leben. Sie lieferte ihn dem Schicksal und der Fürsorge seiner Mitmenschen aus. Für Franziskus bedeutete dies, dass der Verzicht auf jeden Besitz sein Schicksal in die Hände Gottes legte. Es war eine Erfahrung, keine Interpretation. Seine Nachfolger hatten ein akademischeres Verhältnis zur Armut. In einer Welt, in der der eigene Anteil an einer Gestaltung der Zukunft unsicherer wurde, versuchte man, die Akteure der Zukunft auf eine geschriebene Deutung der eigenen Werte zu verpflichten. Es gab weitere Beispiele für diese defensive Strategie im 14. Jahrhundert. In der Gegenwart kann man eine Parallele in der Forderung erkennen, bestimmte Wertvorstellungen unserer heutigen Gesellschaft in die Verfassung zu übernehmen, um ihren Fortbestand zu garantieren. Angesichts einer Zukunft, die die Menschen an ihrer Gestaltungsmacht für das eigene Leben zweifeln lässt, soll diese Reaktion den Bestand zentraler Werte des Zusammenlebens durch die Rechtsform garantieren. Tatsächlich ist die Schriftform für die Wertsicherung nur eine begrenzte Hilfe. Sie mag eine Rechtsgrundlage erhalten, doch wenn sie nicht von der Mehrheit der Menschen mit Leben gefüllt wird, kann sie ihren Zweck nur schwer erfüllen. Die vernünftige Ordnung der Welt geriet in den frühen Krisen des 14. Jahrhunderts ins Wanken. Thomas von Aquin hatte die Ordnung, die er in der Schöpfung erkannte, als Gottes tatsächlichen Bauplan angesehen. William von Ockham, um 1285 geboren und als junger Mann in den Franziskanerorden eingetreten, hielt die Möglichkeit, eine Ordnung in der Welt zu erkennen, für eine Illusion. Es gab keine Ordnung. Als akademischer Lehrer in Oxford entwickelte er eine Sicht auf die Welt, die sich von den Ord-

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nungen des 13. Jahrhunderts deutlich absetzte: Ockhams Welt hatte keine erkennbare Struktur.3 Sie bestand aus einer Vielzahl einzelner Dinge und Erscheinungen, deren Verhältnis zueinander zufällig war. Es gab keine notwendigen Beziehungen. Die Ordnung, die Thomas im Weltgeschehen zu erkennen glaubte, war für Ockham eine künstliche Ordnung. Sie entstand dadurch, dass ihre Vertreter einzelne Erscheinungen verallgemeinerten und diese Verallgemeinerungen als reale Größen ansahen. Es gab viele einzelne Menschen, eine Menschheit gab es dagegen nicht. Diese Menschheit war eine Abstraktion. Sie war ein Wort, das ihre Verteidiger als Realität ansahen. Dabei war es eine Realität, die sie selber gemacht hatten. Sie hatte keine Entsprechung in einem göttlichen Schöpfungsplan. Es war nicht klar, ob es einen solchen Schöpfungsplan gab. Thomas von Aquin und die Menschen, die dachten wie er, vertrauten den Worten, mit denen sie die Erscheinungen und ihr Verhältnis zueinander beschrieben. Für sie erfassten diese Worte eine Ordnung mit einer tatsächlichen Wirkung. Die Worte entsprachen den Dingen und ihren Verhältnissen zueinander. Für William von Ockham waren es Worte. Er untersuchte die Sprache der Philosophen genau. Ihre Worte gaben den Sachen Namen (Nomina). Aber diese Namen sagten nichts über die Sache selber aus. Diese Sache, die vermeintlichen Regeln, die ihre Erscheinung und ihr Verhältnis zu anderen Sachen ordneten, entzogen sich der Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Er konnte Aussagen über sie treffen, aber diese Aussagen hatten nur für ihn Bedeutung. Über die Sache sagten sie nichts Gültiges aus. Man hat Ockham und die anderen Philososphen, die diese Position vertraten, Nominalisten genannt. Ihre Position stimmt in Manchem mit den Erkenntnissen der modernen Bewußtseinsphilosophie überein, wobei diese Philososphie in der Evolutionslehre freilich eine eigene Notwendigkeit der menschlichen Ordnungsvorstellungen postuliert, und zu Gottes Schöpfung eine deutliche andere Position vertritt als Ockham. Die Philosophie formulierte das Selbstverständnis einer Epoche. Sie bestärkte und korrigierte das Selbstbewußtsein einer Zivilisation… Sie thematisierte Mißverhältnisse zwischen Wertmaßstäben und realer Erfahrung; oft fand sie, daß derartige Wertkonzeptionen miteinander kollidierten, – so hat Kurt Flasch die Rolle der Philososphie in der Geschichte charakterisiert. Er hat ihre dramatischen Konflikte kenntnisreich durchleuchtet.4

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Der Nominalismus war der Ausdruck eines veränderten Lebensgefühls, das die Ordnung der Welt nicht ablöste, aber ihr an vielen Orten entgegentrat. William von Ockham erfuhr die Reaktion der Vertreter der alten Ordnung in eigener Person. Der Kanzler der Universität Oxford zeigte seine Irrtümer bei der päpstlichen Kurie an. So kam ein Prozeß in Gang, der William von Ockham nach Avignon brachte, wo die Kurie damals residierte. Die Erfahrung von Avignon machte Ockham zu einem leidenschaftlichen Gegner der zeitgenössischen päpstlichen Macht und ihres Ordnungsanspruchs.5 Dies war ein kirchenpolitisches Problem, aber es war auch ein grundsätzliches Problem, dessen Aufkommen bereits in die Zeit der Reformation verweist. Es war bei dem Ringen um einen christlichen Wertekanon, das bei der Vielfalt der Erfahrungen im spätmittelalterlichen Abendland nicht ausbleiben konnte, von einiger Bedeutung, welche Rolle man der päpstlichen Leitungsgewalt in der Kirche zuwies. Hielt man an der hierarchischen Struktur fest, die den Gehorsam gegenüber der Kurie zur besonderen Tugend erhoben hatte, wogegen der Widerstand gegen päpstliche Entscheidungen als häretisch galt, wie es bereits Gregor VII. formuliert hatte? Die Vertreter der päpstlichen Ordnungsgewalt waren nie die einzigen Stimmen gewesen. Es hatte immer Widerspruch gegen ihren Machtanspruch gegeben. Die stärksten Gegner waren die Vertreter der bischöflichen Position gewesen. Sie bestanden auf einem eigenen Recht der Bischöfe als Nachfolger der Apostel, das neben dem Rechtsanspruch des römischen Bischofs auf die alleinige Nachfolge des Apostels Petrus bestand. Diese Stimmen hatten sich gegen die Geschlossenheit des päpstlichen Leitbildes der Christenheit als eines Körpers, dessen Haupt der Papst war, nicht behaupten können. Der päpstliche Führungsanspruch hatte zudem in der Christenheit eine starke Unterstützung gefunden, zunächst in der Sorge der Menschen um ihr Seelenheil, das nur die päpstlichen Standards wahren konnten, dann in der Glaubwürdigkeit der Nachfolger von Franziskus und Dominikus, die das religiöse Lebensgefühl ihrer Zeit so konsequent umgesetzt hatten. Der Papst stand für eine Ordnung der Welt, die vernünftig und gottgewollt war, wie jeder sehen konnte, der aufmerksam hinsah. Es war eine Ordnung, die Gott nicht nur geschaffen hatte, sondern der er nach der Überzeugung ihrer Protagonisten selber verpflichtet war. Als

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Papst Innozenz IV. im Juli 1245 den Stauferkaiser Friedrich II. seines Amtes enthob, stießen die universalen Gewalten der Christenheit nach dem Investiturstreit ein zweites Mal unversöhnlich aufeinander. Papst Innozenz stellte später fest, er habe das Recht, den Kaiser abzusetzen, denn er wäre nicht als ein besonnener Herr erschienen, um mit Ehrfurcht vor ihm zu reden, hätte er nicht nach sich einen solch einzigartigen Stellvertreter zurückgelassen, der dies alles könnte.6 Die Rede war hier von Christus, dessen Umsicht der Papst davon abhängig machte, dass er in Hinblick auf das päpstliche Amt zu den denselben weitreichenden Schlussfolgerungen kam wie der Papst selbst. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts schien an der päpstlichen Kurie kein Zweifel darüber zu bestehen, dass Gott an die Ordnung gebunden war, die den Gang der Welt bestimmte und die dem Papst die Leitung der katholischen Christenheit anvertraute. Ockham klang anders, und er war nicht allein. Im Rückblick erscheinen die Jahrzehnte nach 1245 als eine europäische Übergangszeit. Der universale Anspruch einer päpstlichen geführten Christenheit erreichte einen Höhepunkt und eine eindrucksvolle Formulierung unter Thomas von Aquin. Aber etwa gleichzeitig entwickelten sich bereits die politischen und geistigen Widerstände gegen diesen Führungsanspruch. Mit Innozenz IV. und Bonifaz VIII. hielt ein Moment der Hybris Einzug in die päpstliche Amtsführung. Eine Überspannung des Leitungsanspruches in der Christenheit, die den Zeitgenossen auffiel. Kritische Geister nahmen daran Anstoß, die Anhänger der Kurie sahen darin den Ausdruck göttlichen Willens. Die Folge war eine Polarisierung, die die Geschichte der Christenheit bis zur Reformation und deutlich darüber hinaus immer wieder durchzog. Das galt nicht für alle Päpste: Es gab zu allen Zeiten Päpste mit Augenmaß. Aber auch für die maßvollen Personen, die dieses hohe Amt versahen, war die enorme Machtfülle und die damit verbundene Verantwortung eine schwere Bürde. Tatsächlich zeigte sich in den schweren Krisen, die die päpstliche Kirchenleitung im fortschreitenden 14. Jahrhundert durchlebte, dass auch solche Kandidaten, die vor ihrer Wahl und ihrer Erhebung zum Papst als integre Charaktere gelten konnten, der Vollgewalt der päpstlichen Macht erlagen und aus eigener Kraft keine Beiträge zur Lösung der Krise beisteuern konnten.

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In der Zeit Ockhams änderte sich der Widerstand gegen den päpstlichen Leitungsanspruch in bedeutender Weise. Bis in die Zeit Friedrichs II., der im Jahre 1250 starb, aber auch darüber hinaus, machten die Kritiker des päpstlichen Hoheitsanspruchs über die Christenheit geltend, dass die weltliche Gewalt ein eigenes Recht habe. Die Welt des Kaisers, der Könige und der weltlichen Fürsten war eine Welt mit eigenen Regeln und Werten. Nach der Vorstellung Friedrichs II. nahmen die Fürsten als Ordnungsmacht eine Aufgabe wahr, die die Schöpfungsordnung ihnen zugewiesen hatte. Sie mussten mit dem Recht und dem Schwert dafür sorgen, dass die Menschen einander keinen Schaden zufügten. Die menschliche Natur war seit dem Sündenfall gefährdet, und Gott hatte den Fürsten die hohe Aufgabe zugewiesen, die Schwachen vor den Starken zu schützen. Die Grenzen der päpstlichen Zuständigkeit wurden durch eine königliche Gewalt gesetzt, deren Prinzipien kaum weniger obrigkeitlich waren als die des Papstes. Nun wies die Kritik am Leitungsmonopol noch in eine andere Richtung, die für einen modernen Menschen attraktiver erscheint. Ockhams Absage an eine erkennbare Ordnung der Welt hatte Folgen für die Bewertung des persönlichen Handelns und für die Ordnung der Christenheit. Ein zentraler Gedanke des Engländers war die Feststellung, dass Gott in seiner Freiheit gänzlich ungebunden sei. Er hatte die Welt geschaffen, so wie sie war, weil er es so wollte. Nicht, weil er es aus irgendeiner Notwendigkeit hätte tun müssen. Er hätte sie auch anders schaffen können. Allerdings bestand Ockham darauf, dass sich Gott innerhalb seiner Schöpfung nicht widersprechen könne. Diese freie Setzung Gottes gestaltete die Antwort auf die Frage, was das richtige Handeln sei, etwas komplexer. Denn richtig handeln konnte der Mensch im Grunde nur, wenn er mit dem Willen Gottes übereinstimmte. Dieser Wille Gottes konnte ihm in der direkten Offenbarung mitgeteilt werden (etwa in den zehn Geboten), für die menschliche Vernunft war er dagegen nicht eindeutig erkennbar. Der Handelnde musste Gebrauch von seiner Vernunft machen, das war seine Verantwortung, aber er musste auch die Offenbarung berücksichtigen. In der Alltagsmoral bedeutete dies, dass er sich an seiner sittlichen Einsicht orientierte. Diese sittliche Einsicht, die von Gott eingegeben war, gab den Menschen eine Orientierung für ihr Verhalten.7 Aber erst dadurch, dass der Mensch mit dieser Ein-

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sicht aus freien Stücken übereinstimmte und das sittlich Gebotene in seiner Lage als erstrebenswert ansah, wurde seine Handlung zu einer guten Handlung. Der äußere Verlauf einer Handlung sagte noch nichts über ihren moralischen Charakter und über die Frage, ob sie falsch oder richtig war. Ockham führte selber wiederholt das Beispiel eines Selbstmörders an, der in einen Abgrund sprang, um sich das Leben zu nehmen. Als Selbstmord war seine Tat moralisch verwerflich. Aber wenn dieser Selbstmörder auf dem Weg in den Tod plötzlich das Fehlerhafte seines Tuns einsah (im sittlichen Sinne, nicht im Sinne der Selbsterhaltung) und er seine Tat bereute, so änderte das die moralische Qualität des Selbstmordes. Aus einem sündhaften Entschluss wurde der schicksalhafte Tod eines reuigen Sünders, der nun ein Opfer der Schwerkraft wurde. Das innere Drama blieb dem außenstehenden Beobachter verborgen. Die Betonung der eigenen Einsicht in das Richtige oder das Fehlerhafte der eigenen Handlung schloss in gewisser Weise an Abaelards Ethik an, auch wenn Ockham andere Lehrer hatte. Ockhams Welt war komplex. Und so verweigerte er sich auch dem päpstlichen Anspruch auf Gehorsam. William von Ockham wurde zu einem bedeutenden Streiter gegen den Anspruch des Papstes auf die uneingeschränkte Leitung der Kirche. Zwar kämpfte er auf der Seite eines damaligen Kaisers, aber seine Kritik wies über den kaiserlichen Standpunkt hinaus: Nun ist aber der gemeine Nutzen der Grund, weshalb einer allein als höchster Bischof allen Gläubigen vorstehen soll. Wenn also aus der Herrschaft eines einzigen gemeiner Nutzen nicht erwächst, sondern allgemeine Gefahr, muß für diese Zeit eine solche Herrschaft wegfallen. Demnach hat die Gemeinschaft der Gläubigen die Kompetenz, eine andere Herrschaftsordnung einzurichten.8 In Ockhams spätem Werk schlug sich die Polarisierung, die die päpstliche Politik in die Ordnung der Christenheit hineinbrachte, deutlich nieder. Aber daraus erwuchs die grundsätzliche Feststellung, dass die Christen das Recht hatten, die Ordnung, die das kirchliche Leben regelte – und das bedeutete nach der Vorstellung der päpstlichen Kurie das Leben der lateinischen Christenheit – zu ändern, wenn die Umstände es erforderten. Ockhams Kritik an der päpstlichen Kirchenleitung führte zu einem neuen Leitbild, in dem die Christen dem Wandel der Verhältnisse durch einen Wan-

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del ihrer Herrschaftsordnung Rechnung tragen konnten. Der Prozess, in dem die neue Ordnung entstehen sollte, musste genauer bestimmt werden. Ockham nahm Maß an der Einberufung und den Entscheidungswegen der allgemeinen Konzilien, die die gesamte Christenheit repräsentierten. Ockham war kein Demokrat, er orientierte sich an einer aristokratischen Verfassung. Das war der Realität der lateinischen Christenheit mit ihrem vorwiegend adligen hohen Klerus auch angemessen. Aber das Potential dieser Alternative wies weiter in die Neuzeit hinein. Wer musste beteiligt werden, wenn es um die zentralen Fragen des christlichen Lebens ging? Es war ein Konflikt auf verschiedenen Ebenen. Im Zentrum aber lag für Ockham ein Wertekonflikt. Denn seine Kritik an der Ordnung der christlichen Welt seiner Zeit hatte einen Ausgangspunkt in dem Versuch von Papst Johannes XXII., das Verständnis der Armut im christlichen Leben neu zu bestimmen. Papst Johannes wies die franziskanische Auffassung zurück, dass Christus und die Apostel kein Eigentum besessen hätten. Wie anders sei ihr Gebrauch der Dinge des täglichen Lebens zu erklären? Gehörte das Gewand, das der Apostel trug, bis es aufgebraucht war, nicht ihm? Ockham und andere namhafte Franziskaner seiner Zeit sahen in der neuen päpstlichen Deutung der christlichen Armut einen Anschlag auf den Wert, nach dem sie ihr Leben ausgerichtet hatten. Sie bekämpften die päpstliche Auslegung mit aller Kraft. Es war ein Konflikt über die Deutungshoheit über zentrale christliche Werte. Ockhams Auslegung der Tradition beteiligte die Gläubigen in einem Maße an der Auslegung dieser Werte, das in der Phase des aufsteigenden Papsttums außer Gebrauch gekommen war. Man kann angesichts der Gefahren der beschleunigten Kommunikation in der Zeit Williams von Ockham – auch Ockham starb mit großer Wahrscheinlichkeit an der Pest – eine für die Werteordnung wichtige Frage stellen: Bestand zwischen dieser grundsätzlichen Infragestellung des päpstlichen Führungsanspruchs in der Kirche und der weitgestreckten und arbeitsfähigen Kommunikation seit dem späten 13. Jahrhundert ein engerer Zusammenhang? Führte nicht die Verschärfung des päpstlichen Führungsanspruchs seit dem späteren 13. Jahrhundert in Verbindung mit dieser Kommunikation im Gegenzug zu der nun prinzipiellen Zurückweisung dieses Anspruchs? Es wurde schwerer, sich dem

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päpstlichen Anspruch zu entziehen, seit die Dynastie der staufischen Kaiser keine weltliche Alternative mehr bot und mit der Zunahme des Handels auch die Informationsflüsse zunahmen. Die lateinische Christenheit erlebte die Realität einer Einbindung in eine weitere Welt. Die päpstliche Kurie und ihre Anhänger reagierten auf diese Herausforderung mit einer Betonung der Autorität. Ihre Kritiker erfuhren die Ausweitung der Autorität unter Umständen, die die Freiräume zusehends einschränkten, als bedrohlich. Daher wurde die Zurückweisung grundsätzlich. Sie verwies nicht mehr in eine anderes Lager mit einem konkurrierenden universellen Anspruch, sondern in eine Zukunft stärkerer Individualisierung. Das bedeutete nicht, dass sich die Christenheit nun insgesamt in diese Richtung entwickelte. Die Anhänger der Ordnung hielten ihre Ansprüche auf Autorität verstärkt aufrecht. Dadurch entstand allmählich das facettenreiche Bild, das für das ausgehende Mittelalter charakteristisch ist.

12. Das ausgehende Mittelalter und die neue Kultur persönlicher Frömmigkeit. Die Schriftkultur des 15. Jahrhunderts – Thomas von Kempens Meditationen – Das Nebeneinander der Werteordnungen Die Papstkirche verbrachte das 14. Jahrhundert weitgehend an den Ufern der Rhone statt an denen des Tibers. Die Neuorientierung, die auf die Turbulenzen um Papst Bonifaz VIII. folgte, sorgte für einen jahrzehntelangen Aufenthalt in Avignon, bevor die Kurie im letzten Viertel des Jahrhunderts den Versuch einer Rückkehr nach Rom unternahm. Der Versuch beförderte den Kampf um die Loyalitäten in der abendländischen Kirche in dramatischer Weise und er führte schließlich zu einer Spaltung der Christenheit über mehrere Jahrzehnte. Weil der 1378 gewählte Urban VI. sich gegenüber den Kardinälen bald herrisch und undiplomatisch gab und eine rigide Unterordnung unter seine päpstliche Autorität verlangte, formierte sich Widerstand. Die Kardinäle erklärten die Wahl Urbans für ungültig, und sie wählten einen neuen Papst. Allerdings war Urban nicht bereit, seine Position aufzugeben. Eine Kirchenspaltung hob an, die Europa für die Dauer eines Menschenlebens teilen sollte (1378-1417). Sie hatte keinen inhaltlichen Anlaß oder Ursprung. Die Anhängerschaften der konkurrierenden Päpste folgten den politischen Konkurrenzen der Zeit. Es war eine unglückliche, aber aussagekräftige Entwicklung. Denn die rivalisierenden Päpste, die alle bei ihrem Amtsantritt gelobten, ihren Titel niederzulegen, wenn sich die Gelegenheit ergäbe, die Spaltung zu überwinden, hielten hartnäckig an ihren Ansprüchen fest. Auch die Wahrnehmung der Theologen war längere Zeit durch die päpstliche Theologie geprägt. So sahen die Theologen der Universität Heidelberg nach dreißig Jahren Schisma kein Problem, das einer besonderen Lösung bedürfe. Die Heidelberger hingen dem römischen Lager an, und dessen Päpste waren immer

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reguläre Päpste gewesen. Das Problem bestand allenfalls darin, dass die Avignoneser Päpste und ihre Anhänger diese offenkundige Wahrheit ignorierten. Sie standen damit außerhalb der katholischen Glaubensgemeinschaft. Das war bedauerlich, aber noch kein Grund zu ungewöhnlichen Handlungen. Man hielt lange an der überkommenen Ordnung der zentralistischen Papstkirche fest. Sie war weiterhin universal. Allerdings musste man zur Kenntnis nehmen, dass je nach Perspektive aus Avignon oder Rom ein gewisser Teil der Christenheit sich selber ausgeschlossen hatte. Grundsätzliche Korrekturen hielten die päpstlichen Theologen nicht für notwendig. Tatsächlich war es der kaum noch korrekturfähige Führungsanspruch des Papsttums gewesen, der die Kirche in diese verfahrene Lage gebracht hatte. Und es waren nicht die Päpste, die die Kirche aus dieser Lage befreiten. Es waren die Kardinäle und der römisch-deutsche König Sigismund, die die Kirche durch die Absetzung der konkurrierenden Päpste auf dem Konzil von Konstanz (1414-1417) und durch die Neuwahl eines einzigen Papstes wieder handlungsfähig machten. Es hatte fast vierzig Jahre gedauert, in denen sich die Lager gegenseitig die Berechtigung abgesprochen hatten. Es war dabei nicht um ein unterschiedliches Glaubensverständnis gegangen, nicht um die umstrittene Auslegung christlicher Wertvorstellungen oder um andere inhaltliche Anliegen. Insofern war das Große Abendländische Schisma kein direkter Konfliktfall für die Entstehung einer europäischen Werteordnung. Aber das Geschehen wies auf eine Entwicklung hin, die für die Geschichte dieser Werteordnung in den kommenden Jahrhunderten von zentraler Bedeutung war, und die eigentümlich paradox klingt: Universalität in verbindlicher Form war nur um den Preis eingeschränkter Reichweite realisierbar. In gewisser Weise wiederholte die Kirche die Erfahrung der Erben Karls des Großen, die den Anspruch des großen Kaisers auf eine Christianisierung Europas nicht im Ungefähren einer Gesetzgebung mit beschränkter Wirkung beließen, sondern konkretere Strukturen der Realisierung schaffen wollten. Die Widerstände führten zu einer Teilung der Reiche. Einige Jahrhunderte später versuchte die Kirche diese Christianisierung durch eine geistliche Obrigkeit mit universalem Anspruch durchzuführen. Noch vor dem Ende des Mittelalters war ihr Scheitern offenkundig, wenn man die Entwicklung aus einer historischen Perspektive betrach-

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tet, die alle Akteure berücksichtigt. Dieser Blickwinkel verzichtet darauf festzustellen, welche der streitenden Parteien im Recht war. Eine andere Perspektive war und ist die der Rechtgläubigen. Sie bewahren ihr Leitbild von der einen Kirche, die ihren Weg unter der Führung des richtigen Papstes unbeeindruckt fortsetzt, um den Preis, dass sie die Anhänger der anderen Päpste für Gefolgsleute einer Irrlehre halten. So steht die ungebrochene Nachfolge des Apostels Petrus durch rechtmäßige Päpste nicht in Frage. Aber diese Lösung des Schismaproblems verzichtet auf die Hälfte der abendländischen Christenheit, die sich den anderen Päpsten anschloß. Diese Anhänger der später verworfenen Päpste stehen im historischen Abseits. Wer aber davon ausgeht, dass die Mehrzahl der damaligen Akteure nach bestem Wissen und Gewissen handelte, tut sich schwerer, angesichts der gespaltenen Kirche des 14. Jahrhunderts, deren Lager sich gegenseitig bekämpften, das ungebrochene Bild der intakten Einheit unter päpstlicher Führung aufrecht zu erhalten. Die historische Entwicklung gewinnt durch die großen Konflikte an Dramatik und Prägnanz. Wir sollten uns aber immer daran erinnern, dass das Leben der meisten Menschen von vielen dieser Konflikte nur am Rande berührt wurde. Die Entwicklung der europäischen Werteordnung steht am Ausgang des Mittelalters schon in der Perspektive der Reformation. Die Reformation ist für die Geschichte dieser Werteordnung von großer Bedeutung, und sie war ein konfliktreiches Geschehen, das keinen Mangel an dramatischen Wendungen hatte. Dennoch ist dieses Geschehen ohne die bescheidene persönliche Dimension nicht zu verstehen, die sich weitab der großen Bühnen an vielen Orten des 15. Jahrhunderts ausbildete. Die persönliche Dimension, die sich im Werk Williams von Ockham gezeigt hatte, hatte im 15. Jahrhundert viele Zeitgenossen erfasst. Ihre Auseinandersetzungen mit den Werten des christlichen Europas seit der Zeit Augustins, Benedikts und Karls des Großen legte die Grundlage für den Erfolg der Reformation. Das gilt auch dann, wenn viele dieser Reformer der Kirche keineswegs kritisch gegenüberstanden. Das 15. Jahrhundert erlebte eine dramatische Zunahme des geschriebenen Wortes. Über 80% der erhaltenen Schriftstücke und der Literatur des Mittelalters stammen aus dieser Zeit. Für das Studium der Wertvorstellungen sind diese Texte aussagekräftig,

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zumal sie in vieler Hinsicht ähnlich sind. Vieles ist religiöse Literatur, durchaus reformorientiert, aber selten kirchenkritisch. Ton und Inhalt sind fromm, katechetische Texte und Heiligenleben nehmen breiten Raum ein. Gerade diese fromme Lektüre bereitete in vielfacher Weise den Boden für die Reformation. Sie bereitete die Lesekultur vor, ohne die die Reformation kaum denkbar ist, und sie schulte das Urteil und die religiöse Selbstreflexion. Es waren viele Texte für die persönliche Lektüre. Einer der Bestseller dieser Zeit war Die Nachfolge Christi (lat.: Imitatio Christi) des Thomas von Kempen, der um 1471 im Alter von fast hundert Jahren im niederländischen Kloster Agnetenberg starb.1 Von seinem Werk, das in 90 Sprachen übersetzt wurde, sind 700 Handschriften erhalten. Für ein Werk vor dem Buchdruck ist das eine enorme Zahl. Man hat den Verfasser mit guten Gründen in das Umfeld der niederrheinischen Reformbewegung der Devotio moderna gerückt, die in enger Verbindung mit dem klösterlichen Leben eine Erneuerung des christlichen Lebens anstrebte. Der Erfolg des Werkes von Thomas von Kempen geht auf die Haltung des Autors zurück. Die Nachfolge Christi atmet einen eindrucksvollen Geist persönlicher Bescheidenheit und Lebenserfahrung im Dienste des Glaubens. Es ist ein Plädoyer für ein Leben der Kontemplation und der Abwendung von der Welt. Im Innern mit Gott wandeln und im Äußern keinem Trieb verhaftet sein: das macht den innerlichen Menschen aus.2 Ein Werk voller Lebenserfahrung aus der mühevollen Arbeit an sich selbst. Der Verfasser plädiert nachdrücklich für die Nachsicht im Umgang mit den Fehlern und Unzuträglichkeiten der Mitmenschen und für Strenge im Umgang mit sich selbst. Es ist kein Werk der Lebensfreude, sondern ein Werk in Moll. Aber der Verdruss über die Welt hält sich in Maßen. Die Nachfolge Christi erinnert den Leser eindringlich daran, dass der Weg Jesu ein Leidensweg war. Es ist kein Weg des weltlichen Erfolges, und so soll der Christ nicht auf den Zuspruch der Welt hoffen. Die Distanz zu den weltlichen Dingen ist kein Verzagen vor der Welt, vielmehr gibt sie dem Menschen den notwendigen Abstand, um seine Angelegenheiten in Freiheit zu ordnen: Sei Herr und Lenker deiner Handlungen, nicht ihr Knecht oder Sklave, vielmehr ein freier, echter Hebräer, der in den Stand und in die Freiheit der Kinder Gottes eintritt. Diese stehen über dem Gegen-

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wärtigen und schauen zu dem Ewigen hinüber. Sie sehen das Vergängliche mit dem linken Auge und mit dem rechten Auge das Himmlische.3 Einen besonderen Wert stellte die Kommunion für den Gläubigen dar. Diesem Sakrament widmet Thomas von Kempen das vierte Buch seines Werkes. Die Verehrung der Kommunion ist in dieser Zeit keine Seltenheit, und sie ist wie manche Formen der Frauenfrömmigkeit dieser Phase nicht frei von einer etwas problematischen Innigkeit. Es wird viel und stark gefühlt. Die Imitatio Christi ist ein Dokument der Demut und keine reformatorische Schrift. Sie richtet sich nicht gegen Kleriker oder die Ordnung der Kirche. Diese Ordnung der Christenheit, auf die die Theologen und Juristen des Mittelalters so viel Wert gelegt haben, spielt auf dem Weg des Heils, den dieser Text weist, tatsächlich kaum eine Rolle. Das ist das eigentlich Aufschlussreiche. In der Nachfolge Christi haben wir einen Wegweiser des christlichen Lebens vor Augen, der aus dem Mittelalter hinausweist. Zwar stehen auch hier die Werte im Mittelpunkt, für die die Benediktsregel und die Gesetzgebung Karls des Großen standen. Was zu Beginn des Mittelalters eher auf unterschiedliche Lebenswege (Kloster und Welt) aufgeteilt wurde, und was durch die Autorität des Abtes und die Autorität des Königs verfügt wurde, ist hier der gläubigen Einsicht des Einzelnen anheimgestellt, der sich in eigener Lektüre in die Gesetze Gottes versenkt. Um sie zu befolgen, bedarf es der Selbstbetrachtung und der Selbstüberwindung, nicht des königlichen Gebotes. Die Werte des christlichen Lebens, die die Benediktsregel für die Mönche in den Klöstern des Abendlandes vorsah, wurden hier in freier Selbstaneignung zum Leitfaden von einer großen Zahl von Menschen außerhalb der Klöster. So hatten die klösterlichen Werte die Welt erreicht. Das Buch wurde ein Bestseller, weil die Menschen es kauften. Handschriften wurden nach Bedarf erstellt. So verweist dieser einfache Text darauf, dass die religiösen Werte, für die die Autoritäten des Mittelalters gestritten hatten, am Ende dieser Epoche bei vielen Menschen angekommen waren. In die Zukunft verweist die Haltung des Verfassers. Sie ist frei von triumphaler Heilsgewissheit, ganz Ausdruck des Wissens um das mühevolle Bemühen um das richtige Leben aus einem anspruchsvollen Glauben. Der Weg der Laien zu Gott war mit dieser Hal-

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tung ein unmittelbarer. Das Buch verweist nicht auf reformatorische Kirchenkritik, aber es bezeugt ein neues Milieu, das den Wert der individuellen Gotteserfahrung in den Mittelpunkt des Lebens stellte. Viele katechetische Texte des 15. Jahrhunderts wiesen in diese Richtung. Sie waren der Ausdruck eines gesteigerten Bedürfnisses nach einer persönlichen Suche. Die historische Forschung hat die Vielfalt neuer religiöser Ansätze in dem Jahrhundert vor der Reformation zu Tage gefördert. Die Reformation war eine Antwort in einem vielstimmigen Chor. Die Radikalität dieser Antwort und die Reaktion der Kirche führten bald zu einer Polarisierung, die die Vielfalt beendete. Aber die neue Antwort war aus der Vielfalt hervorgegangen. Diese Vielfalt war bei allem päpstlichen Anspruch auf den Gehorsam der lateinischen Christenheit das eigentliche Erscheinungsbild der Welt der mittelalterlichen Werte gewesen. Das lag weniger an den Ansprüchen als an den Möglichkeiten. Die Ansprüche Karls des Großen, Gregors VII. und Bonifaz’ VIII. waren absolut gewesen. Sie handelten im Auftrag Gottes. Nur so war die Entschiedenheit Gregors VII. zu verstehen. Gleichzeitig aber gab es konkurrierende Ansprüche der Könige und das hartnäckige kriegerische Wertmuster des Adels. Diese Welten bestanden nebeneinander. Sie trafen aufeinander, wenn sich die Ansprüche auf denselben Gegenstand richteten – etwa wenn Bischöfe oder Äbte einzusetzen waren. Bei diesen Gelegenheiten wurden die Werte benannt, in deren Namen man handelte. Doch das geschah selten. Innerhalb des Erfahrungshorizontes der normalen Menschen gab es nur selten die Gelegenheit, Zeuge eines Streites um den Bischofsstuhl oder den Königsthron zu werden. Selbst wenn der Zeitgenosse zu den Bewohnern einer Stadt gehörte und seinen Bischof kannte. Er erlebte dagegen regelmäßig, dass in seiner Stadt verschiedene Milieus nebeneinander existierten, die nach unterschiedlichen Regeln lebten. Ein Bischof, der als Geistlicher Hirte seines Bistums war, war als Fürst gleichzeitig weltlicher Herr über die Ländereien dieses Bistums und über die Wege-, Zoll- und Münzrechte. Wenn er aus einer hocharistokratischen Familie stammte, was wahrscheinlich war, dann hatte er den Wertekodex dieser Welt von früher Jugend an aufgenommen. Gregor VII. ereiferte sich über die sündhaften Anforderungen an das Amt eines Königs, Geistliche lebten nach strengeren Werten. Aber als der Bruder des englischen Königs

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nach dem Ende der Staufer zum römisch-deutschen König gewählt wurde, da freute er sich bei einem Besuch in Deutschland über die kriegerischen Erzbischöfe und Bischöfe. Die Menschen lebten in konkurrierenden Welten, die sich in der Konsequenz gegenseitig ausschließen konnten, die aber einfach nebeneinander bestanden. In diesen Welten galten verschiedene Wertvorstellungen. Niemand relativierte sie, weil sie sich widersprachen. Sie widersprachen sich, aber sie mussten sich nicht begegnen. Es gab hinreichend Raum und hinreichend Zeit, um diese absoluten Werteordnungen nebeneinander bestehen zu lassen.

13. Religiöses Gewissen und europäische Lagerbildung Martin Luthers Kritik an den „guten Werken“ und an der Papstkirche – Reformatorische Strenge und das Weiterleben mittelalterlicher Magie Das Mittelalter endete durch den religiösen Umbruch der Reformation, der durch die Medienrevolution des Buchdrucks befördert wurde und durch die weitere Öffnung des Horizontes mit den Entdeckungen in Afrika und Amerika. Alle drei Erscheinungen, die das Ende einer tausendjährigen Epoche herbeiführten, hatten Auswirkungen auf die Werteordnungen, die Europa in der Neuzeit prägten. Dabei wiederholte sich ein Zusammentreffen, das bereits den religiösen Aufbruch des elften Jahrhunderts begleitet hatte. Die Öffnung der Meere für den Handel im Norden Europas und im Mittelmeer ging einher mit den sozialen Verschiebungen des elften Jahrhunderts und dem breiten religiösen Aufbruch in dieser Zeit. Das fünfzehnte Jahrhundert erlebte regelmäßigere portugiesische Expeditionen nach Afrika und schließlich die Reisen des Kolumbus in die neue Welt. Die Länder, von denen diese Reisen ausgingen, blieben katholisch. Aber die Öffnung der Horizonte begleitete einen neuen religiösen Aufbruch, der die Geschichte Europas tiefgreifend veränderte. Ein direkter Zusammenhang ist nicht erkennbar, aber die Feststellung, dass mit der Ausweitung der Welterfahrung jeweils eine deutliche Verschiebung der religiösen Koordinaten in Europa einherging, hat eine gewisse Berechtigung. Derhalben kann und will ich nichts widerrufen, dieweil wider das Gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und gefährlich ist. Ich kann nicht anderst, hie stehe ich, Got helff mir, Amen.1 Vielleicht hat Martin Luther andere Worte verwendet, als er im April 1521 vor Kaiser Karl V. in Worms den Widerruf seiner

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Schriften verweigerte. Den Sinn seiner Rede und den Kern seines Anliegens aber trifft der überlieferte Wortlaut der protestantischen Tradition. Luther hatte in den Jahren zuvor mit kämpferischem Elan Reformschriften gegen die römische Kirchenordnung verfasst, darunter den programmatischen Traktat Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520).2 Die Reformation hatte für die religiösen, politischen und kulturellen Wertvorstellungen Europas und darüber hinaus weitreichende Folgen. In anderer Form als 450 Jahre zuvor im Investiturstreit, jedoch auch mit einer Trägerschicht aus Adel und Stadtbewohnern, erlangte das Gewissen Geschichtsmächtigkeit. Und 400 Jahre nach dem Wormser Konkordat, das den Investiturstreit in Deutschland beilegte und dabei das Zusammenwirken von herrschaftlicher und religiöser Ordnung in eigentümlicher Weise festigte, wurde die heute so ruhige Stadt erneut zu einem Schauplatz einer religiösen Standortbestimmung. Die Entschiedenheit des neuen Bekenntnisses verhinderte den Verbleib der Protestanten in der Ordnung der alten Kirche. Das war ein wesentlicher Unterschied zu der religiösen Reformbewegung des 11. Jahrhunderts. Interessanterweise richtete sich die Reformation schon bald gegen eine zentrale Neuerung der alten Reform, den Zölibat. Auch die Reformation setzte ein erhebliches Maß an religiös bedingter Gewalt frei, tatsächlich deutlich mehr, als die Investiturkonflikte des 11. und 12. Jahrhunderts. Der Grund dafür war derselbe wie für die Tatsache, dass die Reformation die Neuerer aus der Kirche herausführte. Die Ansprüche an die konsequente Regelung nicht nur des religiösen Lebens waren deutlich gestiegen. Die Normen waren verbindlicher geworden, und so ließ sich das Spektrum von Gewissensentscheidungen, die nicht nur das Gewissen, sondern auch die Vielfalt der weitgefächerten Lebensumstände berücksichtigen mussten, nicht mehr in einer Ordnung integrieren. Im Jahrhundert vor der Reformation hatte die Organisation fürstlicher Herrschaft im Reich deutlich zugenommen. Die Fürsten verstärkten die Kontrolle ihrer Untertanen, und ihr Anspruch an die eigene Regierungstätigkeit wuchs. Es wuchsen auch die Kosten solcher Politik. Das Reich hatte eine größere Zahl geistlicher Fürsten. Nicht jeder dieser Erzbischöfe und Bischöfe war durch Glaubensstärke in sein Amt gelangt. Die Verbindung von geistlichem und weltlichen Amt bot indes die Möglichkeit, etwa durch den Handel mit Ablaßbriefen, ihrem no-

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torisch bedürftigen Haushalt aufzuhelfen. Durch ein tätiges Werk der Sühne konnten die Gläubigen ihre Zeit im Fegefeuer verkürzen. Die Grenzen dieser Werkgerechtigkeit sind in der Theologie klarer als für viele der Zeitgenossen dieser Epoche. Das späte Mittelalter bot viele Möglichkeiten, die Last der eigenen Sünden durch tätige Reue zu mindern. Das war kein neues Phänomen. Neu war, dass viele Menschen daran Anstoß nahmen. Martin Luther hat diesem Unbehagen über die Bußpraxis der spätmittelalterlichen Kirche wortgewaltigen Ausdruck verliehen. Aber mit diesen Worten Luthers war es ähnlich wie mit dem päpstlichen Aufruf zum ersten Kreuzzug. Sie wirkten, weil die Zeit reif war. Die Worte fanden einen Resonanzboden, weil das religiöse Bewusstsein vieler Menschen die Wahrnehmung Luthers teilte. Nur so ist der gewaltige Aufbruch der Reformation zu verstehen. Politische und persönliche Faktoren spielten eine wichtige Rolle für den Verlauf des Prozesses. Grundlegend aber war das Bewusstsein vieler Menschen dafür, dass die alte Ordnung ihren Anforderungen nicht mehr genügte. Die Geschichtsforschung hat den Prozess der sogenannten Konfessionalisierung eingehend erforscht, der Europas Erscheinungsbild in den Jahrhunderten nach der Reformation tiefgreifend umgestaltete. Dieser Prozess hat religiöse, politische, herrschaftliche und kulturelle Ordnungen hervorgebracht, die das Leben der Europäer in sehr unterschiedlicher Weise geprägt haben. Anders als im späten 14. Jahrhundert hatte diese Kirchenspaltung starke inhaltliche Aspekte. Dass dieser Prozess Europa erfasste und über Jahrhunderte prägte, war aber nicht in erster Linie eine Folge besonderer politischer oder religiöser Strategien oder Machtstrukturen. Viele dieser Strukturen entstanden erst im Zuge der Konfessionalisierung. Der Prozess der religiösen Lagerbildung entsprang letztlich einem Bedürfnis der Europäer. Es war ein Bedürfnis nach klaren Ordnungen, die aufgrund ihrer Klarheit Abgrenzungen erforderten. Und zu deren Selbstverständnis der Ausschluss der Andersglaubenden ebenso gehörte, wie der geordnete Zusammenhalt der Rechtgläubigen. Was war ein gutes Werk? Wann handelte der Mensch richtig und wie handelte er richtig? Luthers Antwort war radikal und stand doch in einer langen Tradition. Hier kann ein jeglicher selber merken und fühlen, wann er Gutes und nicht Gutes tut. Denn findet er sein Herz in der Zuversicht, daß es Gott gefalle, so ist

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das Werk gut, wenn es auch so gering wäre, als einen Strohhalmen aufheben. Ist die Zuversicht nicht da oder zweifelt er daran, so ist das Werk nicht gut, ob er schon alle Toten aufweckt …3 Was der Mensch als Mensch zu tun vermochte, war angesichts der Größe Gottes so unbedeutend, dass seine Taten ihn dem Heil nicht näherbringen konnten. Ihre Fehlerhaftigkeit und ihre Unzulänglichkeit konnten ihm nur bewusst machen, wie sehr er Gottes Gnade bedurfte. Es war der Glaube, nicht seine unbedeutende Tat, die den Menschen retten konnte. In seinen Taten war er zum Scheitern verurteilt. Gott hatte den Menschen (nicht nur den Juden) die zehn Gebote gegeben, damit er dies einsah: Die Gebote leben und schreiben vor manches gute Werk, aber damit sind sie noch nicht geschehen. Sie weisen wohl, sie helfen aber nicht, lehren was man tun soll, geben aber keine Stärke dazu. Darum sind sie nur dazu geordnet, daß der Mensch darin sehe sein Unvermögen zu dem guten und lerne an sich selbst verzweifeln.4 Die zehn Gebote waren eine drastische Therapie für den heilsgewissen Menschen. Anders als Abaelard, für den das Begehren noch keine Sünde war, solange der Mensch nicht darin einwilligte, war diese Stimme für Luther die Erinnerung an die Schwäche der Kreatur. Luthers Menschenbild schloss an Augustinus an. Gemessen an den Standards der göttlichen Ordnung war diese menschliche Kreatur als eigenständige Größe verloren. Und daraus erwuchs dem Menschen die Freiheit. Die Einsicht in sein Unvermögen drängte den gläubigen Menschen, der an sich selbst verzweifelte, all seine Hoffnung auf Gott zu setzen. Es war ein unmittelbarer Anschluss an die Quelle alles Guten. Er gewann seine Zuversicht nicht mehr aus einer (priesterlich sanktionierten) Folge einzelner vermeintlich gerechter Handlungen, sondern er handelte gerecht, weil er aus der Zuversicht handelte, die der Glaube an Gott ihm gab. Das ist ein etwas schematisches Modell, aber die Zeit der konfessionellen Konfrontationen war auch keine Zeit der Zwischentöne. Also ein Christenmensch, der in der Zuversicht gegen Gott lebt, weiß alle Dinge, vermag alle Dinge, vermisst sich aller Dinge, was zu tun ist, und tut alles fröhlich und frei, nicht um gute Werke zu sammeln, sondern dass es ihm eine Lust ist, Gott also wohl zu gefallen, dienet Gott lauterlich umsonst, damit begnüget, daß es Gott gefällt.5 Luthers Christenmensch hat hier die Züge eines buddhistisch Erleuchteten, für den es freilich keinen

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Gott gibt, der aber diesen Grad angstfreier Autonomie erlangt, der aus der Einbindung in Hierarchien befreit. Es ist ein Idealbild, und Luthers Menschenbild war von vielerlei Ängsten bestimmt. Dazu kommt das Problem, dass das Bild des befreiten Menschen, dessen Handlungen gut sind, weil er ein guter Mensch ist – so wie ein guter Baum gute Früchte trägt – , der komplexen Motivationsstruktur menschlicher Handlungen nicht immer gerecht wird. Für die Kraft, die stets das Böse will/und stets das Gute schafft, ist in diesem Menschenbild weniger Raum. Den Grad der Freiheit zu erlangen, den Luther seinem Christenmenschen zuschreibt, ist nicht leicht. Für die meisten Zeitgenossen blieb er ein Ziel. Für Manche war er eine Überforderung, die in den Katechismus mündete. Die Haltung auf dem Weg zu diesem Ziel der Freiheit ist eine wichtige Frage. Ein solches Ziel und eine solche Haltung hatten Folgen für die soziale Organisation, wenn sie zum Lebensinhalt vieler Menschen wurden. Ein solches Ziel hatte Folgen für den Grad der sozialen Kontrolle, die Freiräume des Einzelnen und die öffentliche Moral. Es wirkte auf längere Sicht wertebildend. Das gilt für Werte im ökonomischen Sinn – auch wenn Max Webers berühmte Untersuchung über Die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus (1904/05) vielfache Kritik erfahren hat, so läßt sich doch eine erkennbare Nähe eines persönlich strengen und bescheiden lebenden protestantisch/calvinistischen Milieus und einer erfolgreichen modernen Produktionsweise und kapitalistischen Wertschöpfung nicht übersehen.6 Dass die Verbindung von persönlicher Strenge und tatsächlichem Reichtum sich nicht ausschlossen und bisweilen auch eine gewisse Bigotterie zur Folge hatte, war keine ganz neue Erfahrung. Manches erfolgreiche Kloster des Mittelalters hatte ähnliche Spannungen erlebt. Die Wertbildung vollzog sich auch im religiösen, sozialen und kulturellen Leben, wo sich in der Folge der Reformation und der katholischen Antwort darauf eigene Lebensstile mit unterschiedlichem Profil ausbildeten, die sich bewusst voneinander abgrenzten. Dabei müssen wir uns bewusst sein, dass ein anspruchsvolles Ziel selten solche sichtbaren Folgen hat, die direkt auf seine Umsetzung verweisen. Die religiöse Reformbewegung des 11. Jahrhunderts, die in Deutschland zum Investiturstreit führte, hatte die weltlichen Verstrickungen der hohen Geistlichkeit beenden wol-

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len. Die Geistlichen sollten aus ihrer Loyalität gegenüber der weltlichen Macht gelöst werden. Die Folge war, dass die Erzbischöfe und Bischöfe, auch die Äbte großer Klöster, nun selbst zu weltlichen Machthabern wurden. Die Entwicklung lockerte ihre Bande zum König, nicht aber ihre Bande zur Welt, deren Werte sie als Herren weitreichender Besitzungen nicht ignorieren konnten und auch nicht wollten. Es war kein gerader Weg. Ein Blick auf die äußere Geschichte der Reformation ist hilfreich. Martin Luthers Weg begann in den Reihen der katholischen Kirche. Als junger Mann trat er dem Orden der Augustinereremiten bei, einer strengen Richtung der Bettelorden. Einige Jahre zuvor hatte er sein Studium in Erfurt aufgenommen und nach der Studienordnung der Zeit zunächst Philosophie studiert. Die Erfurter Philosophen waren stärker von dem Weltverständnis Williams von Ockham und seiner Nachfolger geprägt. Die Sicht der Nominalisten auf die Welt hat das Denken Luthers in dieser frühen Phase geprägt. Sein weiterer Werdegang entsprach zunächst dem Weg seiner Berufung. Er wurde zum Priester geweiht und begann mit dem Studium der Theologie. Es war eher die Auseinandersetzung mit dem Bibeltext als eine Reise nach Rom, die Luther zum immer stärkeren Kritiker der kirchlichen Lehre und Realität seiner Zeit machte. Im Alter von 29 Jahren wurde er zum Professor der Theologie an der Universität von Wittenberg, ein Amt, das er fast bis zum Ende seines Lebens wahrnahm. Die Lehre zwingt den Lehrenden zu einer intensiven Auseinandersetzung mit seinem Stoff. Luthers Hauptinteresse galt dabei dem Alten Testament. Seine Auseinandersetzung mit der Bibel führte ihn zu einem Glaubensverständnis, das viele Elemente der spätmittelalterlichen Kirchenkritik aufnahm, das in seinem theologischen Zugriff aber auch eine neue Sprache und einen neuen Weg fand. Das berühmte Portrait Lucas Cranachs aus dem Jahre 1520 zeigt Luther als einen ernsten, aus innerer Überzeugung handelnden und entschlossenen Reformator. Er hatte in den drei vorangehenden Jahren ein reformatorisches Programm verfasst. Wer die zahlreichen Reformtraktate und Reformentwürfe überfliegt, die auf den Konzilien des fünfzehnten Jahrhunderts vorgelegt und erörtert wurden, dem fällt der Unterschied ins Auge. Luthers Schriften waren knapp, markant und radikal. Sie befassten sich nicht mit Symptomen. Sie fragten nicht, wie viele Pfründen ein Kardinal

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höchstens haben dürfe – um die Auswüchse der päpstlichen Finanzorganisation zurückzuschneiden. Sie stellten die Position des Klerus als eines in der göttlichen Ordnung herausgehobenen Standes grundsätzlich in Frage. Der Mann, dessen ernstes – und durchaus humorloses – Antlitz Cranach im Jahre 1520 festhielt, vollzog am Ende dieses Jahres den entscheidenden Bruch mit der kirchlichen Ordnung des Mittelalters. Am 10. Dezember 1520 verbrannte Martin Luther vor den Toren Wittenbergs die päpstliche Bulle, die ihm die Exkommunikation androhte und einen Text des mittelalterlichen Kirchenrechtes. Das war ein sichtbares Werturteil. Dieses Recht hatte das Leben der mittelalterlichen Kirche seit dem hohen Mittelalter bestimmt, als die päpstliche Kurie sich anschickte, das Haupt der europäischen Christenheit zu werden. Es stärkte die hierarchische Kirchenverfassung. In ihm wurden die vielfältigen Beziehungen der Geistlichkeit zur Welt ebenso geregelt wie die innerkirchlichen Belange. Nach der Überzeugung der Spezialisten waren die Ordnungen dieses Rechts der authentische Ausdruck des göttlichen Willens in Hinblick auf das irdische Erscheinungsbild der Kirche, an deren Spitze der Papst als Stellvertreter Christi stand. Nach der jahrhundertealten Überzeugung der Männer an dieser päpstlichen Kurie war schon der Ungehorsam gegenüber diesem hervorgehobenen Nachfolger des Apostelfürsten Petrus Häresie. Dieses Verständnis hatte im Mittelalter kritische Geister nicht davon abgehalten, einzelne Amtsinhaber scharf zu attackieren, ihre Legitimität in Frage zu stellen und auch die Machtfülle des Amtes insgesamt zu hinterfragen. Luthers Angriff auf das Papsttum und die begleitende Haltung seiner Anhänger hatten indes eine neue Qualität. Als er im April 1521 in Worms vor dem Kaiser seine Schriften verteidigte, bestand er darauf: dies mag niemand weder verneinen noch verhehlen, weil die Erfahrung aller Menschen und die Klage allermänniglich Zeugen sind, dass durch die Gesetze des Papstes und die Lehre der Menschen die Gewissen der Christgläubigen allerjämmerlichste gefangen, beschwert, gemartert und gepeinigt sind. Ein solches Verständnis des päpstlichen Amtes (und seiner Lebensregeln als menschengemachter Ordnungen) konnte in Rom und bei den Katholiken, die der mittelalterlichen Ordnung nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden, kaum auf Zustimmung hoffen. Der Kampf gegen das Papsttum, in dem Luther nicht we-

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niger als den Antichrist sah, blieb für den Reformator Zeit seines Lebens und Wirkens ein zentrales Anliegen. Das mittelalterliche Europa hatte keineswegs nach den Regeln der päpstlichen Kurie gelebt. Das Spektrum der Sitten und der lokalen, regionalen und schließlich auch beginnend nationalen Ordnungen und Rechte war viel zu weit für eine solch zentrale Regelung. Wo der päpstliche Anspruch zu offensiv aufgetreten war, da war er auf Widerstand gestoßen, der die Verbindlichkeit eigener Traditionen verteidigt hatte. Doch dabei war es eher um Zuständigkeiten gegangen. Die Legitimation des päpstlichen Anspruches auf die Autorität in Fragen des Glaubens und des religiösen Lebens war dagegen nur selten in Frage gestellt worden. Man hatte sie vielfach ignoriert oder andere Regeln für verbindlicher gehalten. Dort, wo das weltliche Recht nur auf einen geringen Erfahrungsschatz zurückgreifen konnte, hatten auch die weltlichen Juristen die Lösungen des Kirchenrechts angewendet (das etwa infolge des Zölibats seine Ämter nicht nur nach dynastischen Gesichtspunkten besetzen konnte, sondern ein rationales Wahlsystem entwickelt hatte). Nun wurde die grundsätzliche Berechtigung dieser Ordnung verworfen. Die Reformatoren brachen auch mit vielen wissenschaftlichen Traditionen der mittelalterlichen Universität, die während der letzten Jahrhunderte wichtige Orte der Auseinandersetzung um einen europäischen Wertekanon gewesen waren. Ohne Zweifel hatte die scholastische Theologie im ausgehenden Mittelalter manche formalistische Erstarrung erlebt, die es kaum noch fertigbrachte, Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit zu geben. Aber sie hatte es in den kreativen Auseinandersetzungen seit dem 12. Jahrhundert auch vermocht, die Vielgestaltigkeit des Lebens in ihre Reflexionen einzubeziehen und dabei die Widersprüche angemessen zu berücksichtigen. Das Aushalten von Widersprüchen auch in wichtigen Fragen war ein Merkmal der mittelalterlichen Lebensordnung gewesen. Oft hatten die Zeitgenossen eine Situation lieber offengehalten, in der beide Seiten nebeneinander auf ihren Positionen bestehen konnten (etwa im Falle rivalisierender Bischöfe, Könige oder Päpste), statt dass man eine Entscheidung herbeigeführt hätte, die den Status des einen Rivalen gegen seinen Willen beendet hätte. Die konkurrierenden Ansprüche bestanden fort. Das darf man nicht mit praktischer Toleranz ver-

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wechseln. Die Ansprüche der Konkurrenten schlossen sich aus. Aber sie bestanden nebeneinander. Sie konnten es, weil ihre Umsetzung selten mit letzter Konsequenz und effektiven Mitteln betrieben wurde. Die Widersprüche, die die mittelalterlichen Theologen etwa in der Frage des Abendmahles vertraten, wobei die Konkurrenten ihre Lehren zeitlebens vertreten konnten, wären in der gegenwärtigen Kirche nicht denkbar. Tatsächlich waren sie auch im Zeitalter der Reformation nicht mehr möglich, in dem der Streit über das Abendmahl zur Bildung feindlicher Lager führen konnte, die sich sogar mit Waffengewalt bekämpften. Eine neue Zeit der Eindeutigkeit brach an. Sie stellte neue Ansprüche an die Menschen, an ihre Obrigkeiten und an die soziale Ordnung. Das Europa der frühen Neuzeit war noch immer eine vergleichsweise einfache Zeit. Aber an vielen Orten zog ein neuer Geist ein. Die Menschen bezogen Positionen. Sie legten Bekenntnisse ab. Für ihren Glauben, für ihre Überzeugungen, aber auch gegeneinander. Die Eindeutigkeit führte zu einer Ordnung weltanschaulich und machtpolitisch konkurrierender Größen, die sich lange Zeit schwer taten, die Berechtigung der Andersdenkenden, Andersglaubenden und Anderslebenden anzuerkennen. Unser heutiges historische Bewusstsein verbindet mit dem Ende des Mittelalters das Ende religiöser Bevormundung und die Besinnung des Menschen auf seine selbstverantwortliche Individualität. In populären Geschichtsdarstellungen und in den Werken vieler Historiker beginnt um das Jahr 1500 eine neue Zeit. Das trifft in vieler Hinsicht zu. Indes wäre es ein Missverständnis, wollte man mit dieser frühen Phase der Moderne eine Zeit verringerter religiöser Bevormundung verbinden. Das Gegenteil war der Fall. Mit der Reformation und der katholischen Antwort auf diese grundsätzliche Herausforderung erreichte die religiöse Verbindlichkeit im Leben Europas für eine lange Zeit eine Qualität, die dem Mittelalter fremd gewesen war. Auf den Anteil, den der Buchdruck an dieser Veränderung hatte, hat die historische Forschung mit Nachdruck verwiesen.7 Der Buchdruck stellte die technischen Möglichkeiten zur vielfachen Verbreitung identischer Texte in kürzerer Zeit her. Es war eine Möglichkeit, von der etwa Martin Luther bei der Verbreitung seiner Schriften und seiner Lehren mit großem Geschick und großem Erfolg profitierte. Seine

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Schriften erreichten bei hoher Stückzahl einzelner Drucke hohe Auflagen. Der Reformator ergriff die Chancen des technischen Fortschritts. Mit einigem Recht haben die Fachleute in Hinblick auf diese Entwicklung von einer „Medienrevolution“ gesprochen. Marc Bloch hat in einem bemerkenswerten Aufsatz über Den Siegeszug der Wassermühle gezeigt, dass eine technische Neuerung längere Zeit ungenutzt bleiben kann, wenn das wirtschaftliche und soziale Bedürfnis seiner Nutzung noch nicht besteht.8 Der wirtschaftliche Fortschritt infolge dieser Neuerung war nicht allein der technischen Erfindung zu verdanken. Vielmehr war eine technische Neuerung dann erfolgreich, wenn der gesellschaftliche Bedarf an den Produkten bestand, die sich nun herstellen ließen. Der Erfolg des Buchdrucks bestätigt diese Erklärung. Der Bedarf an großen Textmengen war im Laufe des 15. Jahrhunderts deutlich gestiegen. Vor der Erfindung des Buchdrucks und längere Zeit parallel zu ihm fertigten arbeitsteilige Schreiberwerkstätten größere Stückzahlen mittelalterlicher Bestseller. Die Reformation profitierte von dieser verbreiteten Lesefähigkeit, Lesebereitschaft und dem Leseinteresse der Laien, das sich in hohem Maße auf religiöse Inhalte richtete. Ohne diese vorbereitende Lesekultur in wichtigen Städten des ausgehenden Mittelalters wäre Luthers Forderung nach der alleinigen Autorität des göttlichen Wortes ohne Resonanz geblieben. Es waren die städtischen Milieus wie etwa in Straßburg oder Nürnberg, die diese Botschaft bereitwillig aufnahmen. Wenn der Weg zu Gott allein durch die Schrift (sola scriptura) möglich war, half es, lesen zu können. Die mittelalterliche Welt war die längste Zeit eine Welt gewesen, in der viele Menschen weder lesen noch schreiben konnten. Die Fähigkeit zu lesen war auch im Adel von geringerem Wert, als der standesgemäße Umgang mit Waffen. Auch wenn im 15. Jahrhundert die Lesefähigkeit zunahm, erfolgte die Glaubensvermittlung die meiste Zeit über die Predigt der Priester, deren Textauswahl sich am Rhythmus des Kirchenjahres orientierte. In der Anfangszeit der Inquisition, im früheren 13. Jahrhundert, war der Besitz einer Bibel (die kaum erschwinglich war) in den Augen der Inquisitoren ein Hinweis auf ketzerische Überzeugungen. In der Spätphase des Mittelalters hatte die Verbreitung volkssprachlicher Bibeltexte stark zugenommen. Aber die sprachliche Kraft von Luthers späterer Bibelübersetzung, die das göttliche Wort im

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kraftvollen Klang des 16. Jahrhunderts ertönen ließ, hatten diese Texte nie gehabt. In der Glaubensvermittlung wies die Reformation durch die Entmachtung des geistlichen Standes und durch den Verweis der einzelnen Gläubigen auf die eigene intensive Auseinandersetzung mit dem Text der Bibel neue Wege. Nicht immer entsprachen die tatsächlichen Folgen den hohen Absichten. Luthers Angriffe auf die bestehende kirchliche Ordnung wurden von manchen Zeitgenossen auch als Angriff auf die bestehende Ordnung insgesamt verstanden. Das war nicht überraschend. Immerhin berief sich dies Ordnung vielfach auf die göttliche Legitimation und die Kirche verfügte überdies über erheblichen Landbesitz. Die Bauern auf diesen Ländereien, wie auch die Bauern auf den weltlichen Ländereien hatten sich seit dem 14. Jahrhundert immer wieder gegen Missstände gewehrt. Die Gründe waren vielfältig, die bäuerlichen Unruhen waren ein europäisches Phänomen, seit die Pest im 14. Jahrhundert viele Arbeitskräfte getötet hatte. Die Last, die die verbleibenden Bauern zu tragen hatten, die als Unfreie das Land nicht verlassen konnten, waren hoch. Dies war nur ein Aspekt. Die Bauern des frühen 16. Jahrhunderts trugen vielfache Lasten, und viele von ihnen verstanden die Worte des Reformators gegen die bestehende Ordnung als Aufruf zum Handeln. Luthers Bruch mit den räuberischen und mörderischen Rotten der andern Bauern hat die Zeitgenossen und die Forschung sehr beschäftigt. Der Vorgang zeigte die Grenzen von Luthers Veränderungsbereitschaft. Ihm war es nicht um die soziale Ordnung zu tun. Dennoch veränderten die Reformation und die katholische Reaktion das soziale Klima und den Umgang mit den Werten, die die Welt des späten Mittelalters geprägt hatten. Die religiöse Welt des späten Mittelalters erscheint dem modernen Menschen fremd. In Ausstellungen sakraler Kunst und in manchen Kirchen begegnen uns heute mitunter einzelne Requisiten, die das religiöse Leben dieser Zeit mit ihrer eigentümlichen Mischung aus konkreter Frömmigkeit und fast handgreiflichem Aberglauben erfüllten. Christusfiguren mit einem Ring am Kopf, an dem sie zu frommen Gesängen am Himmelfahrtstag zur Kirchendecke emporgezogen wurden, Jesusknaben, die von treusorgenden Nonnen mit Mutterinstinkt täglich gewickelt und in eine Wiege gelegt wurden, der hölzerne Leichnam des Herrn, der an Karfreitag in ein Leichentuch gehüllt beigesetzt wurde, bewegli-

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che Heiligenfiguren, die auf Prozessionen mitgeführt und um Beistand angefleht wurden. Es war in gewisser Weise die Steigerung jener Bewegung, die Franziskus mit seinem Nachbau der Krippe in Greccio auf den Weg gebracht hatte. Die menschliche Dimension der Erfahrungen, die Jesus während seines Erdenlebens gemacht hatte, sollte nachempfunden werden, um dadurch Empathie und fromme Empfindung zu wecken. In unserer modernen Gegenwart sind solche Vorgänge, in denen sich Glauben und Magie auf vergleichbare Weise verbinden, in blutigen Passionsritualen auf den Philippinen oder in den katholischen Milieus in Lateinamerika zu erleben. Manche Romane von Gabriel Garcia Marquez entführen in diese Welt mit ihrer Atmosphäre aus mächtiger katholischer Tradition, magischen Ritualen, erotischer Anarchie und bewaffneten Ehrvorstellungen. Es ist keine europäische Welt, aber sie vermittelt einem modernen Leser, dessen Blick die vielfältigen rationalen Brechungen der Moderne nicht abstreifen kann, einen authentischeren Eindruck des mittelalterlichen Lebensgefühls als die Mittelaltermärkte, die uns jedes Jahr heimsuchen. Die Quellen des späten Mittelalters geben manchen Hinweis darauf, dass die Last der Tradition die neueren Ansätze vielfach überdeckte. Aus einer tief empfundenen Religiösität heraus konnten die Auswüchse der mittelalterlichen Werkgerechtigkeit durchaus fragwürdig sein. Für viele Menschen, die ihr Leben nach ernsthaften Maßstäben leben wollten, war die reformatorische Botschaft eine Befreiung. Allerdings führte sie zu neuen Zwängen. Die magischen Aspekte des spätmittelalterlichen Glaubens und die problematische Heiligenverehrung verstellten für die Reformatoren den geistlichen Charakter der christlichen Botschaft. Die Reformation richtete sich zunächst an ein bürgerliches Milieu. Aber die Mehrheit der Menschen waren weiterhin Bauern. Auch nach der Enttäuschung, die viele Bauern durch Luthers scharfe Ablehnung ihres Kampfes erfuhren, wandten sich viele Bauern der Reformation zu, bzw. wurden durch ihre Herrschaft zu Gefolgsleuten der Reformation. Diese Menschen konnten nicht lesen. Der Aufschwung der Lesekultur des ausgehenden Mittelalters hatte sie nicht erreicht. Auch wenn die reformatorische Bewegung der Bildung einen neuen Stellenwert verschaffte, so sorgte doch der Fortbestand der sozialen Ordnung dafür, dass sich daran wenig Grundsätzliches änderte. Die meisten Bauern

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blieben bildungsfern. Auch das neue Leben brauchte eine Ordnung. Und diese Ordnung wurde dadurch nicht durchlässiger, dass sie nun in stärkerem Maße auf Gott als auf die berechtigten Interessen der Herrschenden zurückgeführt wurde. Der Kleine Katechismus Martin Luthers aus dem Jahre 1529 erlangte weite Verbreitung und hat die protestantische Kultur nachhaltig geprägt.9 Dieser Katechismus richtete sich an die Predigtherren und Hausväter, die aufgrund ihres Amtes in der Gemeinde, aber auch aufgrund ihres Weisungsrechtes gegenüber Kindern und Gesinde für eine entsprechende Lebensführung der ihnen anvertrauten sorgen sollten. Luther hatte auf seinen eigenen Reisen klägliche elende noth in Hinblick auf die Kenntnis von der Christlichen Lehre/Sonderlich auf den Dörffern erlebt, wie er in der Vorrede zu seinem Katechismus schrieb. Luthers Rezept gegen diese Mißstände war die Vermittlung der zentralen Anliegen durch die herrschaftliche oder elterliche Autorität (Er hielt allerdings auch zum Schulbesuch und zur Bibellektüre der Kinder an). Ein solcher Zugriff auf das Leben des Einzelnen bedeutete nicht in jedem Fall eine Befreiung. Tatsächlich konnte der Verstoß gegen die Anordnung eines autoritären Vaters, der sich nicht nur auf seine traditionelle väterliche Autorität berief, sondern der seine Anweisungen durch den Willen Gottes und die Worte des Reformators gestützt sah, umso schwerer fallen. Besonders, wenn der Vater, der die Worte des Katechismus vortrug, keineswegs auf seine traditionelle Autorität als pater familiae verzichtete. Im Haushalt protestantischer Pfarrer, die vom Zölibat befreit waren, konnte beides zusammenkommen. Und die Maßstäbe des evangelischen Pfarrhaushaltes haben auf die religiöse Alltagskultur der Neuzeit lange Zeit einen spürbaren Einfluss gehabt. Die neue Klarheit beseitigte manchen Freiraum. Die Sonderrolle des katholischen Klerus in der Gesellschaft des späten Mittelalters hatte ja auch zu mancherlei Konkurrenzen und Rivalitäten der weltlichen und der geistlichen Mächte geführt. Diese Rivalitäten hatten das Leben der mittelalterlichen Städte zu einem gewissen Teil geprägt – nicht immer war es dabei so menschlich zugegangen wie bei Don Camillo und Peppone. Aber die Konkurrenz dieser Autoritäten, die sich auch in der konkurrierenden Gerichtsbarkeit niederschlug, hatte dem normalen Bürger und Untertanen auch ein gewisses Maß an Freiheit verschafft. Mit der

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Eindeutigkeit, die im 16. Jahrhundert langsam in die europäische Kultur Einzug hielt, fiel diese Freiheit fort. Der Zugriff der weltlichen und geistlichen Autoritäten, die sich in der Folge enger verbanden – weil sie nun ein Feindbild hatten – auf die Untertanen wuchs. Die Kontrolle über das Leben des Einzelnen nahm zu. Dabei waren die Leitvorstellungen durchaus konservativ. Die Kinder sollten nach den Worten von Luthers kleinem Katechismus stille/trewe/gehorsam/friedesam sein. Wären sie das nicht, so besorgten sie das Werk des Teufels und erwiesen sich als Feinde Gottes und der Menschen. Als Mittel, Kinder und Gesinde auf dem Weg der Tugend zu stärken, wiederholte der Kleine Katechismus die Bedeutung der Kenntnis des Vaterunsers, des Glaubensbekenntnisses und der Zehn Gebote. Das war ein Programm, das bereits Karl der Große seinen Untertanen verordnet hatte. Er war damit nur begrenzt erfolgreich gewesen, und wie Luthers Eindrücke auf den Dörfern nahelegten, hatten auch die langen Jahrhunderte päpstlicher Kirchenleitung während des hohen und späten Mittelalters diesen Zuständen nur begrenzt abgeholfen. Luthers Katechismus verlieh den 10 Geboten eine zentrale Rolle. Die illustrierten Ausgaben begleiteten jedes Gebot mit eigenen bildlichen Darstellung aus den Geschichten des Alten Testamentes. Der Text des Reformators ging kaum über den Text der Gebote hinaus. Die Zehn Gebote erhielten durch Luthers Aufnahme in sein Volksbuch eine neue Verbreitung. Der Reformator verzichtete allerdings auf den Hinweis, dass die Gebote der religiösen und der rechtlichen Tradition der Juden entstammten, die er in seinen Schriften in scharfer Weise angriff.

14. Bekenntnisbildung Wertehorizonte: Ausgrenzung Andersgläubiger und Gewaltbereitschaft – die zweite Reformation und die katholische Antwort – Johannes Calvin und Ignatius von Loyola – die programmatische Abgrenzung der Lager Die religiösen Initiativen der früheren europäischen Geschichte schlugen sich in der Regel in einer Zunahme der Textproduktion nieder. Karls des Großen Vorstoß zur Verbesserung der Standards der lateinischen christlichen Überlieferung legte eine Textgrundlage für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Tradition. Die Korrespondenz der Päpste hatte in hohem Maße eine normierende Funktion. Texte ließen sich kopieren und sie sorgten durch ihre Verbreitung dafür, dass an verschiedenen Orten (annähernd) identische Grundlagen geschaffen wurden. Dabei hatte sich diese Form der mittelalterlichen Schriftlichkeit aufgrund ihrer handschriftlichen Exklusivität in hohem Maße an die „Multiplikatoren“ in den jeweiligen Netzwerken gewandt. Der Buchdruck und der reformatorische Anspruch an die Gläubigen, das Wort Gottes selber zu studieren, weitete diese Verwendung religiöser und weltanschaulicher Texte deutlich aus. Die Wertebildung wurde so in noch stärkerem Maße als bisher (in den gebildeten Milieus des Mittelalters) durch Texte vorangetrieben. Das bedeutete zum einen, dass die bislang mündlich überlieferten Wertvorstellungen nun in gedruckter Form verbreitet und vereinheitlicht werden konnten. Dadurch werden sie für uns erkennbarer. Etwa, wenn Martin Luther bei seiner Erklärung der Bitten des Vater Unser im Kleinen Katechismus die Werte aufzählt, die ein guter Christ in seiner Bitte um das tägliche Brot einschloss: Alles was zur leibes narung und notturft gehört/ als Essen Trincken/ Kleid/ Schuch/ Hauß Hoff/Acker/Viehe/ Gelt/gut/ from Gemahel/ fromme Kinder/ from Gesinde/ fromme und trewe Oberherrn/gut Regiment/gut Wetter/ Friede/ Gesundtheyt/ Zucht/ Ehre/ gute Freun-

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de/ getrewe nachparn/ und deßgleichen. Dies war eine Aufzählung, die bei umsichtiger Anpassung an die veränderten Zeitläufe für den größten Teil der europäischen Geschichte Geltung beanspruchen konnte. Anders verhielt es sich mit einer Nutzung des geschrieben Wortes, die seit dem früheren 15. Jahrhundert Einzug in die innereuropäische Überlieferung hielt. Sie zeigt die problematische Seite der Schriftlichkeit, und sie ist damit für die Entwicklungen in der Frühen Neuzeit auch eine authentische Quelle. In Luthers Schrift gegen die aufständischen Bauern findet sich der Satz: Man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss.1 Hier wurden Menschen nicht nur als Gegner oder Feinde gesehen, hier wurde ihnen in gewisser Weise ihr Charakter als Menschen abgesprochen, mit tödlichen Folgen. Martin Luther war kein Unmensch, vielmehr zeigte er sich hier als ein Kind einer Zeit, die an den Menschen zunehmend hohe Ansprüche stellte, die aber auch die Behandlung des Gegenüber als Mensch davon abhängig machen konnte, ob der Andere diese Standards erfüllte. Tat er es nicht, war er kein vollwertiger Mensch – mit der Möglichkeit all der furchtbaren Folgen, die dieses Urteil nach sich ziehen konnte. Das Mittelalter war keineswegs eine friedliche Zeit. Es gab ein erhebliches Maß an Gewalt, an Mord und Totschlag. Gegenüber Heiden und Andersgläubigen, Juden und Moslems, brachte die Zeit der Kreuzzüge im 11. Jahrhundert auch die Begründung religiös motivierter Tötungen. Im Bereich des mittelalterlichen Europa wurden die Juden wiederholt Opfer dieser Gewalt. Seit dem späten Mittelalter lassen sich systematische Ausschlüsse von Menschen aus dem Kreis derjenigen, die Anspruch auf eine Behandlung als Christen hatten, erkennen. Die Lagerbildung, die Europas Kultur seit dem späten Mittelalter unter den verschiedenen Erscheinungen der Konfessionalisierung, des Nationalismus, und der offen barbarischen Erscheinungen des Nationalsozialismus und auch des Stalinismus prägten, hat eine dunkle Seite. Wichtige Wertordnungen der Neuzeit entwickelten sich vor dem Hintergrund dieser Konkurrenzen, mitunter allerdings auch in bewusster Abwendung von solchen Weltbildern, die immer eines Feindes bedurften – eines Feindes, der durch seine eigene Entscheidung oder das Schicksal seiner Herkunft aus dem Kreis der

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Menschen ausgeschlossen war, für den die eigene Wertordnung galt. Dabei sahen sich die Werteordnungen des konfessionellen Zeitalters lange Zeit nicht als eine Teilmenge der Christenheit, die nun in verschiedene Bekenntnisse geteilt war. Die Reformatoren sahen sich als die Bewahrer der wahren, von der römischen Irrungen nicht verstellten, christlichen Religion, und die Katholiken verstanden sich als Garanten der apostolischen Tradition, die die Wahrheit des überlieferten Glaubens gegen die neuen Irrtümer verteidigten. Die Reformation hatte in Deutschland begonnen. Die politische Landschaft im Reich mit einer schwachen (katholischen) Zentralgewalt und den vielen weitgehend eigenständigen Fürsten begünstigte ihre Anfänge. Aber die religiöse Unruhe war kein deutsches Phänomen. Bald erfasste der Wandel weitere europäische Länder.2 Parallel zu Luthers Wirken in Wittenberg hatte Huldrych Zwingli in Zürich in den 1520er Jahren einen Reformprozess vorangetrieben, der sich unabhängig von Luther auf die Autorität des Bibelwortes stützte. In größerer Nähe zum reformatorischen Geschehen in Wittenberg begann ebenfalls in den 1520er Jahren der Reformationsprozess in Skandinavien, wo die Abwendung von Rom und eine Orientierung an Luthers Lehren von den Königen und ihren Beratern in Schweden, Norwegen und Dänemark vorangetrieben wurde. Ein historischer Prozess von solcher Dynamik, die in hohem Maße durch das religiöse Bewusstsein der Zeitgenossen getragen wurde, begann alsbald, sich intern zu differenzieren. Johannes Calvin (1509-1564) steht für die zweite Generation der Refomatoren, deren Wirken auf der Grundlage der vorangegangenen reformatorischen Errungenschaften einsetzte. Sie forcierten die Kontrollen über den Lebenswandel der Gläubigen in ihrem Zuständigkeitsbereich in deutlichem Maße. Calvins Wirken in Genf wurde durch die Richtlinien einer strikten Kirchenordnung (Ordonnance ecclésiastiques von 1541) bestimmt, die den Alltag der Bürger in einem Umfang reglementierte, der für eine mittelalterliche Stadt ungewohnt war. Die Entwicklung der europäischen Portraitkunst ermöglicht uns einen Blick auf die Akteure der Epoche, die uns in diesen Portraits zwar stilisiert entgegentreten, aber es ist eine Stilisierung, die diese selbst gewählt haben. Johannes Calvins Portrait zeigt einen strengen Mann, dessen Kleidung, Bart und Gesichtsausdruck durchaus

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an heutige geistliche Führer des Islam erinnert. Diese Männer Gottes lächelten selten. Humor war für sie ein zweifelhafter Wert. Johannes Calvins Genf schlug die Brücke in die französische Kultur, wo sich das Ringen um das richtige religiöse Bekenntnis mit dem Kampf um den Thron Frankreichs verband. Die Kämpfe zwischen Katholiken und Hugenotten führten nach der schlimmen Erfahrung der Bartholomäusnacht (1572) und dem Konfessionswechsel Heinrichs IV. zum Katholizismus schließlich zu einer Duldung der Hugenotten im Edikt von Nantes 1598. Die Mischung aus religiösen, politischen und persönlichen Motiven bestimmte auch die Entwicklung in England und Schottland. Während die Schotten Grundzüge des Calvinismus übernahmen, kam es in England unter Heinrich VIII. (1491-1547) zur Lösung der Kirche von Rom, wobei die dynastischen Interessen des Königs eine wichtige Rolle spielten. Der weitere Fortgang der Reformation in England wurde durch dynastische Erfordernisse und Konkurrenzen geprägt. Das Erscheinungsbild der neuen anglikanischen Kirche blieb dabei in Hierarchie und liturgischer Pracht den katholischen Formen verwandt. In Spanien kam die Reformation nicht zum Zuge. Im Gegenteil zeigte sich das Land als Hüterin katholischer Lehren und katholischen Lebens. Das Regiment, das der Herzog von Alba als spanischer Statthalter in den Niederlanden (1567-1573) entfaltete, liefert einen düsteren Hintergrund für die Prozesse der Konfessionalisierung. Und doch ging es bei dieser katholischen Politik nicht nur um die Verteidigung des Bestehenden. Auch die katholische Welt wurde von einer neuen geistlichen Dynamik erfasst. Um sie zu verstehen, ist ein Blick in die Werke des Ignatius von Loyola (1491-1556), des Gründers der Gesellschaft Jesu, des Jesuitenordens, aufschlußreich. Ignatius begann seine Laufbahn als junger Krieger aus einem Adelsgeschlecht im Baskenland. Eine Kriegsverletzung brachte ihn im besonderen Alter von 30 Jahren auf einen geistlichen Weg. Er begab sich auf eine Pilgerreise und studierte theologische Schriften. Tatsächlich fiel sein unruhiger Geist der spanischen Inquisition auf. Er setzte seine Studien in Paris fort, wo er auf Gleichgesinnte stieß. Gemeinsam mit seinen Gefährten gelobte er ein geistliches Leben. Schon bald richtete sich die Energie dieser entstehenden Gesellschaft Jesu auf die Rückgewinnung von Gläubigen, die der Reformation gefolgt waren. Die

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Gesellschaft Jesu, die im September 1540 gegründet wurde, war zunächst eine kleine Gruppe straff organisierter entschlossener Streiter für die katholische Sache. Sie wuchs bald auf viele Tausend Mitglieder an. Ignatius von Loyola hat aus seinen eigenen geistlichen Erfahrungen ein berühmtes Exerzitienbuch verfasst, das bis in die Gegenwart Anwendung findet.3 Darin formuliert er die Grundzüge einer Praxis der geistlichen Einkehr: Die erste Hinführung ist die Geschichte: Hier wird dies sein: – wie Christus alle unter sein Banner ruft und will; – und Luzifer entgegengesetzt unter das seine. Die zweite Zusammenstellung, in der man den Raum sieht. Hier wird dies sein: – Ein großes Feldlager sehend, bestehend aus jener ganzen Gegend von Jerusalem: wo der generaloberste Hauptmann der Guten Christus unser Herr ist. – Ein anderes Feldlager in der Gegend von Babylon, wo der Anführer der Feinde Luzifer ist.4 Es sind gewaltige militärische Szenarien, die Ignatius heraufbeschwört. Das ist Absicht, hier geht es um das Ganze. Dem modernen Leser ist dieser Gedanke eines Endkampfes fremd. Solche Bilder mit dieser Bedeutung erinnern uns an Den Herrn der Ringe, nicht an eine reale Welt. Ignatius war es ernst. Er wählte ein Leben des Kampfes. Es war ein geistlicher Kampf, aber er folgte den Regeln militärischer Kämpfe. Es gab einen Gegner, der besiegt werden musste: Luzifer, der böse Geist, der den geistlich Übenden in Versuchung und Schwäche führte. Der ihn traurig und zögerlich machte. Und es gab den guten Geist Gottes, der den Zögernden und Schwachen ermutigte und kräftigte. Der Mensch stand zwischen diesen Mächten, die sich bekämpften und er musste seine Wahl treffen. Luther sah diese Kräfte sehr ähnlich. Er hatte ein Tintenfass nach dem Teufel geworfen. Er war ein Mann des geschriebenen Wortes. Ignatius war ein Krieger und er wählte andere Mittel. Dabei war er sich natürlich bewusst, wie Luther auch, dass das Schlachtfeld in seinem Innern lag und das Waffen nicht halfen. Dennoch markierte die militärische Sprache eine wichtige Entscheidung. Es war eine Entscheidung für ein Lager, für Loyalität gegenüber der eigenen Fahne. Ohne Loyalität gewann man keine Kämpfe. Und Loyalität im Kampf duldete keinen Vorbehalt. Ignatius wusste das, und er sagte es sehr klar. Seine Fahne

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war die der katholischen Papstkirche. In seinen Geistlichen Übungen formulierte er eine Reihe von Regeln für die Seele des streitenden Katholiken. Die dreizehnte Regel lautete: Wir müssen immer festhalten, um in allem das Rechte zu treffen: Von dem Weißen, das ich sehe, glauben, daß es schwarz ist, wenn es die hierarchische Kirche so bestimmt.5 Es hatte Folgen, wenn der Einzelne sich einem kämpfenden Lager anschloss. Dabei muss man sehen, dass sich diese Lagerbildung nicht aus einer Verengung der Horizonte ergab. Ignatius von Loyola war sich der Ausdehnung der bekannten Welt in seiner Zeit sehr bewusst. Eindringlich forderte er die geistlich Übenden auf, sich der Bühne klar zu sein auf der sie agierten: Die große Fassungskraft und Rundung der Welt sehen, worin so viele Völker wohnen.6 Als Akteur auf dieser Weltbühne musste der Handelnde eine Entscheidung treffen, welcher Fahne er sich anschloss. Auf längere Sicht entwickelte sich in dieser Phase eine spezifische europäische Ordnung, in der sich konfessionelle, dynastische und machtpolitische Erwägungen und Notwendigkeiten überlagerten. Die Religion war dabei nicht die einzige und auch nicht immer die entscheidende Antriebskraft, aber sie beförderte das charakteristisches Profil konkurrierender Mächte im frühneuzeitlichen Europa.7 Die historische Forschung hat diesen Prozess der Selbstvergewisserung und der gegenseitigen Abgrenzung der entstehenden religiösen Lager Konfessionalisierung genannt. Der Begriff leitet sich ab vom lateinischen Confessio, d.h. Bekenntnis. Mit den 1530er Jahren setzte eine Welle von Bekenntnisformulierungen ein, die von den jeweiligen Anhängern in schriftlicher Form abgefasst und für verbindlich erklärt wurden. Das wichtigste Bekenntnis der neuen reformatorischen Bewegung war das sogenannte Augsburger Bekenntnis, die Confessio Augustana (CA) aus dem Jahre 1530.8 Die CA wurde von Philipp Melanchthon als gemeinsame Grundlage der protestantischen Reichsstände verfasst, wobei die verschiedenen Richtungen der Protestanten sich bei der Verständigung auf die Formulierungen bewusst waren, dass sie mit manchen umstrittenen Begriffen unterschiedliche Vorstellungen verbanden. Die CA war ein Kompromiss, aber sie war ein Kompromiss mit langer und bedeutender Wirkungsgeschichte. Denn als im Jahre 1555 Katholiken und Protestanten nach blutigen Kämpfen im Augsburger Religionsfrieden einen modus viven-

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di begründeten, der das Nebeneinander (nicht das Miteinander) des katholischen und des lutherischen Bekenntnisses ermöglichte, da wurde der rechtliche Schutz des Reiches für alle Anhänger der Confessio Augustana garantiert.9 Der Frieden von Augsburg räumte den Fürsten der Konfessionen, die auf dem Boden der CA standen, zudem das Recht ein, die kirchliche Reform in ihren Territorien voranzutreiben. Das galt sowohl für die katholischen wie für die lutherischen Reichsfürsten. Auch das katholische Lager hatte mit der Eröffnung des Konzils von Trient 10 Jahre vor dem Augsburger Religionsfrieden – das Tridentinum tagte mit verschiedenen Unterbrechungen bis 1563 – eine Stimme erhalten, die sich um eine zeitgemäße Antwort auf die Herausforderungen der Reformation bemühte. Sowohl die Confessio Augustana als auch die Beschlüsse von Trient sollten das konfessionelle Leben der Frühen Neuzeit für sehr lange Zeit prägen. Die CA bestand darauf, dass sie keine neuen Lehren verbreite, sondern dass sie die alte, unverfälschte Lehre der Kirche wiedergebe. Nach dem Verständnis der Reformatoren standen sie für die eine heilige, christliche Kirche (Art. 7). Selbstverständlich galt dies in gleicher Weise für die katholische Seite, die daran festhielt, die unverbrüchliche apostolische Tradition zu vertreten, von der sich die Anhänger der Reformation mit ihren Irrlehren abgewandt hätten. Dabei hielten beide Seiten an ihrem absoluten Wahrheitsanspruch und an ihrem Ideal der Einheit fest. Die heutigen Kritiker des Werterelativismus, die mit diesen Positionen durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen, sollten sich vielleicht an einen Befund erinnern, den Martin Heckel mit Blick auf diese Phase der Konfessionalisierung formuliert hat: Die Identitätsbehauptung und der Absolutheitsanspruch, mit denen beide Seiten diese Einheit der Kirche und des wahren Rechts verfochten, hat sich realiter als vergiftend trennendes Einigungshindernis herausgestellt.10 In der Tat entstammten elementare Positionen der CA der traditionellen Lehre der Kirche über die Conditio humana: Weiter wird bei uns gelehrt, daß nach Adams Fall alle natürlich geborenen Menschen in Sünde empfangen und geboren werden, das heißt, daß sie alle von Mutterleib an voll böser Lust und Neigung sind... (Art. 2). Augustinus erlebte in dieser Phase eine Renaissance. Das Menschenbild der Reformation war nach dem Verständnis seiner Verfechter ernsthafter als das des Mittelalters.

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Menschenfreundlicher war es kaum. Der sündige Mensch brauchte Führung und Anleitung. Darin stimmten die Reformatoren mit den mittelalterlichen Lehren überein. Unterschiede gab es in Hinblick auf das menschliche Handeln. Die CA legte großen Wert darauf, dass ihre Lehre sich nicht gegen gute Werke stelle (Art. 20). Vielmehr würde die protestantische Lehre diese Werke ausdrücklich begrüßen und fördern. Sie sah sie nur nicht als Mittel an, mit dem der sündige Mensch die Gnade Gottes erwerben konnte. Die Werke waren Ausdruck des Glaubens, der allein den Menschen rechtfertigte, nicht ein Weg zum göttlichen Heil. Dadurch, dass die guten Werke aus dem richtigen Glauben resultierten, der dem sündigen Menschen erst die Kraft für die richtige Handlung gab, bestand durchaus ein enger Zusammenhang zwischen Glauben und Handeln. Da die gute Handlung aber als Folge des Glaubens gesehen wurde, auf den es eigentlich ankam, und nicht als erkennbarer Ausdruck dieses Glaubens, war es nicht erforderlich, dass derselbe Glaube überall dieselben Handlungen zur Folge hatte. Im Gegenteil: Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, daß überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden (Art. 7). Das war ein Unterschied von einiger Bedeutung. Denn die höhere Wertschätzung der religiösen Handlung in der katholischen Tradition, die im Mittelalter zu einer (unvollständigen) Vereinheitlichung religiöser Riten und Handlungen geführt hatte, schlug sich nach dem Konzil von Trient in einer strikten Zentralisierung des katholischen liturgischen Lebens durch das Römische Messbuch nieder. Die auf Rom ausgerichtete Vereinheitlichung als maßgebliches Moment katholischer Identität erhielt so eine neue Qualität. Sie wirkte weit über den Gottesdienst hinaus, und die drohende Konkurrenz im eigenen Land erhöhte den Bezug zu Rom deutlich. Die unterschiedlichen Grade der Abhängigkeit von der Zentrale trennten die Konfessionen sichtbar, zumal die katholische Seite zur Abgrenzung von der Reformation nahezu jede Verwendung landessprachlicher Texte oder Elemente in der Liturgie untersagte. Latein wurde in höherem Maße als bisher für die katholischen Pfarrer verbindlich. Das hatte auch zur Folge, dass deren Ausbildung verbessert werden musste. Dafür traf das Konzil von Trient wichtige Beschlüsse.

15. Religion und Obrigkeit Religion und Politik in einem expandierenden Europa – Philip Sydney und Francis Drake – Der Augsburger Religionsfrieden und das Prinzip „cuius regio, eius religio“ Das religiös – soziale Leben des Mittelalters war in hohem Maße durch Ereignisse und Einrichtungen geprägt worden, für die die Kirche Anlass oder Ursache war. Das galt für die vielen Bruderschaften, die zumindest einen Heiligen als Patron führten oder die Wallfahrten, die wie bei Chaucer farbig berichtet, ebenso dem Erlebnis dienten wie der religiösen Erbauung.1 Bei den Reformatoren stießen diese Bemühungen auf wenig Verständnis: ... kindische, unnütze Werke, wie Rosenkränze, Heiligenverehrungen, Mönchwerden, Wallfahrten, Fastenordnungen, Feiertage, Bruderschaften... (CA, Art. 20). Es machte einen Unterschied, ob man sich einer den Sinnenfreuden nicht ganz feindlichen religiösen Welt zugehörig fühlte, die ein weitmaschiges Netz von Gemeinden unterhielt, das römischen Vorgaben in einer lateinischen Basissprache folgte, oder einer weitgehend autonomen calvinistischen Gemeinde, die stolz auf ihre Selbstbestimmung war, sie in der Landessprache pflegte und auf einen strengen Sittenkodex achtete, der sich in einer überschaubaren Gemeinde umso konsequenter durchsetzen ließ. Der Unterschied ist bei Reisen durch Deutschland beim Übergang von einstmals katholischen Regionen in strikter reformierte Gebiete noch heute zu spüren. Die Zahl der Gasthäuser nimmt ab. Die Infrastruktur wird privater. Das hat auch historische Gründe. Wallfahrer brauchten Unterkunft und sie brauchten etwas zu essen. Wenn man Chaucer folgt, brauchten sie auch etwas zu trinken. Das sind eher einfache Wertvorstellungen, aber für den Alltag hatten sie eine gewisse prägende Kraft. Die Reformatoren verteidigten die Freiheit des Christenmenschen, bestanden aber darauf, dass dieser Mensch auch als freier Christ seiner Obrigkeit Untertan sein müsse. Von der poli-

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cey und dem weltlichen Regiment wird gelehrt, daß alle Obrigkeit in der Welt und geordnetes Regiment und Gesetze gute Ordnung sind, die von Gott geschaffen und eingesetzt sind (CA, Art. 16). Auch evangelische Christen konnten für diese Obrigkeit tätig sein, selbst dann, wenn sie als Richter kaiserliches (d.h. katholisches) Recht sprechen mussten. Die gute policey, das war nach der Begrifflichkeit der Zeit der Ausdruck für die Ordnung des Zusammenlebens. Diese Ordnung reichte weit in den Alltag der Untertanen hinein. Sie bestand zunächst aus Vorschriften, wie die Untertanen zu leben hätten. Es ist kein Zufall, dass die zehn Gebote in den Kirchen- und Lebensordnungen des 16. Jahrhunderts von Protestanten und Katholiken nun stärker bemüht wurden. Sie waren durchaus Bestandteil der katechetischen Tradition des Mittelalters gewesen, aber diese Tradition lässt sich eher über einzelne Handschriften verfolgen als über einen breiten Schriftenstrom. Das änderte sich nun, nicht nur mit Luthers Katechismus. Auch die Katholiken räumten dem Dekalog einen wichtigen Platz in ihrer Glaubenserziehung ein. Die Gebote waren nicht nur eine Richtlinie für das Kirchenleben. Bereits im Jahre 1516 (also in dem Jahr vor Luthers Thesen) hatte der Wittenberger Rat bei Lucas Cranach eine Tafel mit der Darstellung der Zehn Gebote in Auftrag gegeben. Der Rat sollte die Gebote vor Augen haben, wenn er zu Gericht saß. Damit waren die Zehn Gebote in ein neues Wirkungsfeld gerückt. Bei der Ausübung der Gerichtsbarkeit ging es auch um die Frage von Sanktionen bei Verstößen gegen die Vorschriften Gottes. Wie wir gesehen hatten, waren die Zehn Gebote ursprünglich eine jüdische Handlungsnorm gewesen, nicht aber Teil eines Strafrechts, das die Verfehlungen differenziert verfolgte. Es sollte sie möglichst im Vorfeld verhindern. Diese eingeschränkte Sanktionsfähigkeit entsprach den Möglichkeiten der Obrigkeit am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Frühen Neuzeit. Die weltliche Obrigkeit verfügte in der Regel nicht über Strukturen, um die Urteile ihrer Gerichte auch selber durchzusetzen. Das war ein Grund dafür, dass etwa Gläubiger, die allzu lange auf die Zahlung ausstehender Schulden warten mussten, sich an das bischöfliche Gericht wandten (und nicht das Gericht ihres weltlichen Herren). Das bischöfliche Gericht konnte mit der Exkommunikation zumindest eine Sanktion gegen säumige Schuldner verhängen – und tat das auch oft. Im Gefolge des

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neuen Verständnisses obrigkeitlicher Gewalt, die sich nun auch erzieherisch mit der guten policey zu bewähren hatte, nahm das Bemühen um die Bestrafung von Verstößen gegen die göttliche und menschliche Ordnung zu. Ausdrücklich stellte die CA fest, dass protestantische Gläubige ohne Sünde als Richter Übeltäter mit dem Schwert bestrafen konnten (Art. 16). Die Verbindung von Religion und politischer und damit herrschaftlicher Gewalt war keine spezifische Erscheinung des Reiches mit seinen konfessionellen Gegensätzen. In seiner Betrachtung über die religiöse Haltung des reformierten englischen Staatsmannes und Dichters Philip Sydney (1554-1586) hielt sein Zeitgenosse Fulk Greville (1554-1628) fest, dass Sydney die enge Verbindung von Religion und Politik, für die etwa Wilhelm von Oranien (1533-1584) stand (der die Überlegungen über den Staat und über die Religion niemals voneinander trennte), für vorbildlich hielt.2 Sydney hatte die Bartholomäusnacht (1572) in Paris miterlebt, Wilhelm von Oranien stand für den Unabhängigkeitskampf der reformierten Niederlande gegen das katholische Spanien Philipps II. Hier stehen wir mitten im europäischen Geschehen, einem dynamischen und dramatischen Gewebe aus Politik, Religion, dynastischen Interessen und konkurrierenden Lebensmodellen. Es ging um europäische Machtverhältnisse, aber es ging auch um Wertvorstellungen. Ausführlich behandelte Sir Fulk Greville die Werte, nach denen Philip Sidney in dieser Epoche sein Leben ausrichtete: In der Tat war er ein wahres Wertemodell. Ein Mann, fähig zur Eroberung, Pflanzung, Reformation oder allen Taten, die unter den Menschen zu den größten und härtesten gezählt werden.3 Dies war die Bühne, auf der die Kämpfe um die europäischen Werte ausgetragen wurden. Es war eine expandierende Bühne: Eroberung, Pflanzung, Reformation. Die Spanier und Portugiesen erschlossen seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert immer weitere Gebiete jenseits der Meere. Papst Alexander VI. hatte bald nach den ersten Fahrten des Kolumbus eine Teilung der Neuen Welt zwischen den katholischen Mächten Spanien und Portugal verfügt, deren westlicher Teil den Spaniern und deren östlicher Teil den Portugiesen zukam. In diesen neuen Gebieten, die der Papst der Gerichtsbarkeit der katholischen Könige unterstellte, sollten Spanier und Portugiesen die Bewohner im katholischen Glauben unterweisen und sie gute Sitten lehren.4

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Aber nicht nur die katholischen Mächte expandierten. Um 1600 hatten auch niederländische und englische Kaufleute erste Niederlassungen in Ostasien gegründet. Zuvor waren dort die Portugiesen in Erscheinung getreten. Die Konkurrenz war nicht in erster Linie religiös motiviert, es ging auch um massive Handelsinteressen, aber es fällt doch auf, dass die dynastischen und politischen Konkurrenzen mit Wertzuschreibungen einhergingen, die eine lange Dauer entfalteten. Elisabeth I. von England musste sich in ihrer Regierungszeit (1558-1603) mit einer offensiven Politik des katholischen Spanien auseinandersetzen, dessen Armada die englische Flotte im Sommer 1588 erfolgreich von Englands Küste abdrängen konnte. Mit Hinblick auf die Bedrohung durch die spanischen Truppen sprach Elisabeth 1601 vor dem Parlament in ihrer berühmten Goldenen Rede davon, dass es ihre Aufgabe gewesen sei, ihre Untertanen vor der Versklavung durch ihre Feinde, und vor der grausamen Tyrannei und der grausamen Unterdrückung, die man für uns vorgesehen hatte, zu beschützen.5 So stand in England und in den Niederlanden eine reformierte Freiheit gegen die katholische Tyrannei der Spanier. Es ging um mehr als um Interessen oder um Throne – auch wenn die Interessen und die Machtanteile nach wie vor sehr wichtige Motive blieben. Sie waren nun ausdrücklicher in konkurrierende Wertsysteme eingebettet. Dabei agierten die Rivalen vor immer weiteren Horizonten. Sir Francis Drake (1540-1596), der die englische Seestrategie gegen Spanien maßgeblich bestimmte, hatte 1577-1580 in einer waghalsigen Fahrt (The Famous Voyage) die Welt umsegelt.6 Er war westwärts nach Südamerika gesegelt, hatte das gefährliche Kap Hoorn umrundet, war die amerikanische Küste bis auf die Höhe des späteren Nordkalifornien hinaufgefahren, um dann den Pazifik zu überqueren. Über die ostasiatische Inselgruppe, den Indischen Ozean und um das Kap der Guten Hoffnung herum segelte er schließlich wieder nordwärts nach England. Reich beladen mit Beute, die er auf der Reise spanischen Schiffen abgenommen hatte, kehrte er heim. Auch die Niederlande sandten ihre Schiffe immer weiter aus und stiegen im 17. Jahrhundert sogar zur führenden Seemacht in Europa auf. Diese Erfahrungen in der Welt sollten schließlich helfen, die europäischen Konflikte zu relativieren. Zunächst aber steuerten diese auf einen finsteren Höhepunkt zu.

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Der Augsburger Religionsfriede hatte den konfessionellen Kämpfen im Reich eine gewisse Ruhepause verschafft. Sie war indes nicht von Dauer. Die Friedensordnung von 1555 hatte für die Anhänger des reformierten Bekenntnisses, die die ausgleichende Haltung der Lutheraner nicht akzeptierten, keinen geschützten Raum geschaffen. In der europäischen Entwicklung hatte das reformierte Bekenntnis in der Nachfolge Calvins an Bedeutung gewonnen, sah sich aber auch rücksichtsloser Verfolgung ausgesetzt (Bartholomäusnacht). Etwa 50 Jahre nach dem Augsburger Religionsfrieden nahmen die Spannungen zu. Das Reich wurde durch seine Einbindung in das europäische Kräftefeld aus Macht-, Religions- und dynastischer Politik zum Schauplatz des 30-jährigen Krieges, in dem sich 1618-1648 das Konfliktpotential der Epoche gewaltsam entlud.7 Der Westfälische Friede von Münster und Osnabrück, der das blutige europäische Geschehen im Jahre 1648 beendete, fasste die Grundzüge der politisch-religiösen Ordnung in einem Vertragswerk zusammen, das für das Reich eine lange Wirkungsdauer haben sollte. Manche Historiker der Frühen Neuzeit haben dem Friedenswerk eine grundsätzliche Bedeutung zugestanden, an der man aus einer langfristigeren Perspektive Zweifel hegen wird. Der westfälische Frieden schuf nicht unbedingt die politische Grundordnung des frühneuzeitlichen Europa, indem er das Konzept verschiedener Staaten gegenüber dem universalen Konzept der Kaiserherrschaft etablierte. Das universale Konzept des (mittelalterlichen) Kaisertums hatte tatsächlich keinen staatlichen Anspruch, die Legitimität der verschiedenen Königsherrschaften, aus denen im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit allmählich Staaten wurden, stand nie in Frage. Insofern hat der Westfälische Frieden mit seiner Grundordnung weniger eine Entscheidung getroffen, als vielmehr eine sehr lange Entwicklungslinie vertraglich formuliert. Auch das war ein wichtiger Schritt. Der dreißigjährige Krieg und der Westfälische Frieden zeigten die Grenzen der religiösen Politik. Einmal durch die Intervention des katholischen Frankreich auf der Seite der bedrohten Protestanten, aber auch durch die Begrenzung des Ius reformandi der deutschen Reichsfürsten. Das Prinzip des Augsburger Religionsfriedens, das die spätere Überlieferung als cuius regio, eius religio wiedergegeben hat, wonach der Landesherr über die Konfession seiner Untertanen bestimmte, wurde nun begrenzt. Das Jahr 1624 wurde

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zum Normaljahr in Hinblick auf die Besitzstände der drei Konfessionen (Katholiken, Lutheraner, Reformierte) erklärt. Das heißt, der Besitzstand und die Verbreitung einer Konfession im Jahre 1624 sollte künftig geschützt sein und durfte nicht mehr verändert werden. Auch dann nicht, wenn der Landesherr seine Konfession wechseln sollte. So wurden herrschaftlich-staatliche und religiöse Ordnung differenziert. Die Untertanen, die das Bekenntnis ihres Landesherrn im Normaljahr nicht teilen wollten, mussten die Hoffnung auf einen Wandel aufgeben, konnten aber legal emigrieren (ohne ihren Besitz zu verlieren). Wenn sie sich entschieden, zu bleiben, durften sie ihren Glauben im privaten Rahmen praktizieren. Die staatliche Gewalt gestand legitime Freiräume zu.

16. Soziale Kontrolle Langsame Wirkungen der Werteerziehung Tatsächlich präsentierte sich Europa im fortschreitenden 17. Jahrhundert als ein komplexes Gefüge. Ein Sittenbild dieser Zeit wäre überaus facettenreich. Und wir sollten auch nicht versuchen, diesen Befund zu vereinfachen. Ein Jahrhundert der Konfessionalisierung (seit der Mitte des 16. Jahrhunderts) hatte eine Fülle einschlägiges und sich voneinander abgrenzendes Schrifttum hervorgebracht. Die Theologie hatte kontroverse Positionen formuliert und die führenden Köpfe der Konfessionen und eifrige kirchliche Amtsträger hatten sich bemüht, die Sitten ihrer Gläubigen einer religiös gestimmten Moral zu unterwerfen. Die zehn Gebote, der lutherische und der katholische Katechismus hatten eine weite Verbreitung erfahren. Die Bildung der lutherischen Pfarrer und katholischen Priester wurde als Aufgabe erkannt. Die historische Forschung hat vielfache einschlägige Bemühungen festgestellt. Aber sie hat bei ihren Forschungen auch immer wieder die Grenzen des vermeintlichen religiösen Eifers dieser Epoche erfahren. Tatsächlich ist dies eine wichtige Erinnerung. Der Wandel ist das zentrale historische Thema. Er ist spannender als der gleichbleibende ruhige Strom alltäglicher Erfahrungen, die stärker durch Naturereignisse, zwischenmenschliche Kommunikation und die Erreichbarkeit der Orte, an denen sich das Leben notwendig abspielt (mithin die Infrastruktur) geprägt wurden, als durch Verschiebungen oder Umbrüche auf den oberen Ebenen politischer oder kirchlicher Hierarchien. Aber trotz der Bemühungen lutherischer Theologen aus dem städtischen Umfeld blieb die Mehrheit der Bevölkerung leseunkundig und lebte auf dem Land. Die Erträge der Ernten blieben noch lange ein zentrales Problem dieser Zeit, und die bäuerliche Welt war keineswegs bereit, sich einfach von ihren alten Riten und Praktiken zu verabschieden. Sie hatte die Bemühungen der Reformer Karls des Großen überstan-

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den, sie hatte Berührungen mit den religiösen Reformen des 11. und des 13. Jahrhunderts, und sie hatte die Reformation auch als eine Möglichkeit zum sozialen Wandel verstanden. Dabei war sie durchaus enttäuscht worden. Die bäuerliche Welt war nach wie vor (und blieb es noch sehr lange) eine nur begrenzt schriftliche Welt. Das bedeutet auch, dass die Sitten und Gebräuche ebenso wie die Wertvorstellungen dieser Menschen für die historische Forschung nur schwer fassbar sind. Sie sind es dort, wo sie in Kontakt mit Trägern der Schriftlichkeit kamen, und das bedeutete zumeist, mit Vertretern der kirchlichen oder weltlichen Obrigkeit. Wenn etwa die kirchlichen Oberen im Zuge der Visitation den Bildungsstand des lokalen Klerus und den religiösen Kenntnisstand der Laien prüften. Die historische Forschung hat neben der Konfessionalisierung auch das Bemühen der Obrigkeiten um die Sozialdisziplinierung ihrer Untertanen hervorgehoben. Diese Normierung des alltäglichen Verhaltens nach moralischen Maßstäben zielte auf die Sexualität und das Eheleben, den Alkoholkonsum, das Fluchen, abergläubische Riten und dergleichen. Die Ergebnisse, die die Forschung zutage gefördert hat, lassen indes keine schnellen Erfolge der moralischen Bemühungen erkennen. Das Bild ist je nach untersuchter Gegend und auch nach verwandter Interpretationsmethode nicht ganz einheitlich. Aber es zeigt, dass der vereinheitlichende Zug innerhalb der konfessionellen Lager auf vielfache Hindernisse und Verzögerungen stieß. Die Moralisten mussten dicke Bretter bohren. Tatsächlich gibt es auch Forscher, die den Grad der Christianisierung Europas im Jahrhundert nach der Reformation noch sehr gering ansetzen. Das gilt für die ländliche Welt. Vielleicht haben sie Recht. Aber das kommt auf die Maßstäbe an. Wir müssen uns daran erinnern, dass die Reformation und die katholische Reaktion und Reform die Ansprüche an die einzelnen Christen erhöht hatte. Das bedeutete nicht unbedingt, dass das Verhalten sich in gleichem Maße änderte. Mit der Erhöhung der Ansprüche stieg die Chance, die Maßstäbe deutlicher zu verfehlen. Anspruchsvolle religiöse Werteordnungen steigerten das Sündenbewusstsein, darauf gibt es mancherlei Hinweise. Ob sie das Verhalten der Sünder veränderte, ist eine andere Frage. Die moralisierenden und religiös geprägten Wertevorstellungen des konfessionellen Zeitalters zeigten keine schnellen Wirkungen.

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Aber auf lange Sicht zeigten sich Erfolge. Auswirkungen, die ein langes Leben hatten und deren Nachwirkungen mancher ältere Zeitgenosse noch erlebt haben wird. Etwa in der Frage von überkonfessionellen Ehen. Sie wurden in der Tat selten, und angesichts der Bedeutung der Familie als sozialer und wertebildender Erfahrungswelt in der Vormoderne war dies eine wichtige Entwicklung. Die blutige Gewalt, die die Truppen der verschiedenen Konfessionen im Namen desselben Gottes gegeneinander gerichtet hatten, mochte manchen Zeitgenossen innehalten lassen. Erbstreitigkeiten sind häufig bitter, aber im Falle des Kampfes um den richtigen Glauben ging es nicht nur um angestammte Rechte, sondern auch um gelebte Glaubwürdigkeit. Religiöse Wahrheiten und das rechte Abendmahlsverständnis mochten bedeutende Fragen sein, aber wenn sie mit vom Blut fetten Schwert (Andreas Gryphius) unter den eigenen Landsleuten verbreiten wurden, geriet der Streit in ein problematisches Licht. Der Dreißigjährige Krieg hatte manche deutschen Landstriche regelrecht entvölkert. Die hässliche Dynamik des Krieges bremste auf längere Sicht die Dynamik der konkurrierenden Konfessionen im Ringen um ihre Gefolgschaften. Man richtete sich ein und grenzte sich ab, ohne sich im Namen des Glaubens direkt zu bekämpfen. Die Religion bot vielen Menschen eine genauer umschriebene soziale Heimat mit einer eigenen Moral. Es war keine universale Moral. Man war sich bewusst, dass man unterschiedlich glaubte und nach verschiedenen Sitten lebte, wenn man die Grenzen überschritt. Das Ungefähre, das nicht genau festgelegte Koordinationssystem, das dem mittelalterlichen Menschen erlaubt hatte, seine Werte- und Rechtsordnung mit sich zu nehmen, wenn er weitere Strecken zurücklegte, wich einer Grenzziehung, die die Reichweiten von herrschaftlicher Gewalt und Wertvorstellungen näher bestimmte. Die Einheit der europäischen Vorstellungswelt litt darunter, denn die Einheit war nur möglich, solange die Ansprüche diffus blieben. Es war nicht mehr die Religion, wie noch in der Zeit Karls des Großen, die nun den Zusammenhang des tatsächlichen Europa aufrechterhielt. Es waren im 17. Jahrhundert andere Kräfte. Manche waren sehr alt. Aber manche waren auch neu. Wir beginnen mit der Erinnerung an die alten Kräfte. Denn wir müssen uns bei der allmählichen Aufteilung Europas in konfessionelle und in staatliche Lager immer wieder in Erinnerung rufen,

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dass dieses alte Europa in einer ständischen Ordnung lebte, in Gesellschaften mit starker sozialer Schichtung, in denen die Zugehörigkeit zu einem Stand prägender war als die Zugehörigkeit zu einem Land oder einer Konfession. Die konfessionellen Abgrenzungen vollzogen sich zunächst zwischen den Akteuren einer sozialen Ebene, etwa des städtischen Bürgertums. Für die Familie Wilhelms von Oranien, die in ihrer hessischen Grafschaft die Reformation eingeführt hatte, war es etwa möglich gewesen, für den Antritt von Wilhelms Erbe in den Niederlanden die Verpflichtung einzugehen, den Sohn katholisch erziehen zu lassen. Familienund Herrschaftsinteressen standen über der Konfession. So war es ja auch bei dem Hugenotten Heinrich von Navarra gewesen, der nach der Konversion zum Katholizismus als Heinrich IV. König von Frankreich wurde. Paris war eine Messe wert. Und für Herzog August den Starken von Sachsen, dessen Land immerhin die Heimat der Reformation gewesen war, war die Aussicht auf die polnische Krone am Ende des 17. Jahrhunderts Grund genug, zum Katholizismus zu konvertieren. Das ständische Ethos dieser herrschenden Schicht überspannte Europa mit einem familiären Netzwerk, dessen Loyalitäten untereinander stärker waren als gegenüber den bürgerlichen Glaubensbrüdern der eigenen Konfession.

17. Die Stimme der Vernunft und des Naturrechts Hugo Grotius, Samuel Pufendorf und die Grenzen des Schwarz-Weiss-Bildes – Handlungsspielräume und staatliche Wertegemeinschaften Ich sah in den christlichen Ländern eine entartete Kriegführung, deren sich selbst rohe Völker geschämt hätten. Man greift aus unbedeutenden oder gar keinen Gründen zu den Waffen, und hat man sie einmal ergriffen, so wird weder das göttliche noch das menschliche Recht geachtet, gleichsam als ob auf Befehl die Wut zu allen Verbrechen losgelassen worden wäre.1 Hugo Grotius (1583-1645) schrieb diese Sätze im Jahr 1625. Sie entstammen der Vorrede seiner Drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens, dessen Rang ihm den Namen eines „Vaters des Völkerrechtes“ eingetragen hat.2 Zum Zeitpunkt der Abfassung seines Werkes wurde im Dreißigjährigen Krieg bereits seit einigen Jahren gekämpft, und die Brutalität der Kampfhandlungen hätte Grotius’ Worte nachhaltig bestätigt. Aber Grotius war Niederländer und lebte zur Zeit der Abfassung seiner Schrift in Paris. Die Sätze waren kein Echo des Dreißigjährigen Krieges. Sie waren ein Echo ihrer Zeit. Der konkrete Anlass für Grotius’ Überlegungen lag eher in Zusammenstößen der Niederländer mit den Portugiesen im Zuge der Expansion ihrer Kaufleute nach Ostindien. Im frühen 17. Jahrhundert skizzierte das Werk von Hugo Grotius vor dem Hintergrund der europäischen Glaubenskämpfe und der europäischen Expansion eine neue Perspektive des Zusammenlebens menschlicher Gemeinschaften. Darin schlägt eine Skepsis gegenüber denjenigen durch, die um des christlichen Glaubens willen Kriege führen. Grotius fragt ausdrücklich, ob man gegen diejenigen Kriege führen könne, die die christliche Verkündigung gehört hätten, die aber den Glauben

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nicht annehmen wollten? Das könne man nicht, denn die Beweise, auf die sich die Wahrheit des Glaubens stütze, die Auferstehung Christi und die Taten der Apostel, seien historische Tatsachen. Ein Zeitgenosse könne sich von ihnen nicht mehr überzeugen. Um sie dennoch für wahr zu halten und den christlichen Glauben anzunehmen, bedürfe es eines göttlichen Zutuns. Durch menschliches Tun allein sei der Ungläubige nicht zu gewinnen. Da helfe auch keine Gewalt. Auch im Umgang mit irrenden Gläubigen war Gewalt nicht angezeigt.3 Bei diesen Appellen zur Geduld mit Glaubensabweichlern und Ketzern berief sich Grotius wiederholt auf Augustinus und ließ den Kirchenvater dadurch wohl duldsamer erscheinen, als Augustinus es gegenüber Ketzern tatsächlich gewesen war. Es gab auch für Grotius eine Grenze für die Geduld. Wer seinem Gott gegenüber respektlos war, der konnte zu Recht mit dem Tode bestraft werden.4 Das Verhältnis von Gesellschaft und Religion erschien hier in einem anderen Licht. Grotius argumentierte ausführlich mit historischen Beispielen. Aber es war nicht nur die Kirchengeschichte, die er heranzog. Ausführlich ließ er die antiken Klassiker zu ihrem Recht kommen. Und so zitierte er neben Origines auch Plutarch, Seneca und Platon. Eine lange humanistische Bildungstradition kam hier zu Wort, auch wenn der Verfasser diese Autoren nicht alle im Original gelesen hatte, sondern einschlägige Sammlungen konsultierte. So hatten auch die mittelalterlichen Gelehrten gearbeitet. Grotius schätzte sie. Sein ganzes Werk ist von ruhigem, gemessenem Ton. Religiöser Eifer war ihm fremd. Es besteht ein erheblicher Unterschied zwischen einer Unterweisung in geistlichen Übungen und einem Traktat zum Völkerrecht. Und dennoch ist es hilfreich, sich die kriegerische Bildsprache des Ignatius von Loyola in Erinnerung zu rufen, wenn man das zweite Kapitel des Hugo Grotius liest, das unter der einfachen Frage steht: Kann ein Krieg überhaupt gerecht sein?5 Für Ignatius war der Kampf die Grundsituation. Auch Grotius hätte zugestimmt, dass der Mensch gegen das Böse kämpfen müsse. Nur sah er sich nicht in einer vergleichbaren Bedrohungssituation. Sein Mensch war nicht böse, auch wenn er gewalttätig werden konnte. Dafür gab es Gründe. Und man konnte versuchen, diese Konflikte Regeln zu unterwerfen. Es waren Regeln der Vernunft. Ignatius hatte ein Schwarz-Weiß-Bild der Welt, und wenn die streitende Kirche es verlangte, hielt er das

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Weiße für Schwarz. Grotius kannte solche Situationen. Aber er differenzierte mit nüchterner Vernunft: Das nun, was wir sittlich genannt haben, ist nach Beschaffenheit des Gegenstandes entweder bis auf den Punkt genau (um mich so auszudrücken), so daß selbst die geringste Abweichung bereits ein Fehler ist, oder es läßt einen freien Spielraum, so daß seine Beachtung löblich ist, es aber auch ohne Schaden gelassen oder anders getan werden kann. Es ist gleichsam, als ob das eine Mal der Übergang vom Sein zum Nichtsein plötzlich geschähe und das andere Mal zwischen den Gegensätzen, wie schwarz und weiß, noch ein Mittelglied sich befinde, sei es eine Mischung oder eine Annäherung von beiden Seiten.6 Die Welt des Ignatius, die Welt der Glaubenskämpfe war die Welt in der die Dinge auf den Punkt genau festgelegt wurden. Es war die Welt der schriftlich formulierten Bekenntnisse, in der man geschützt war, solange man in seinem Lager stand. Die Geschichte Europas und der Welt hat diese Situationen bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder erlebt. Von Right or wrong, my king bis in die Gegenwart von Anti-Terrorgesetzen mit ihrer unerbittlichen Logik haben diese Konflikte unbedingte Bekenntnisse zu einer Seite herausgefordert und haben die Regeln der Vernunft in den Hintergrund gedrängt. Die Regeln der Vernunft sind nicht schwarz oder weiß. Bei Grotius waren sie grau – zwischen den Gegensätzen, und das sind sie noch heute. Der Versuch, Regeln für den Konflikt zu formulieren, weil auch im Konflikt der Gegner seine natürliche Würde als Mensch behielt, war ein Werk der sittlichen Vernunft. Der freie Spielraum, jene Sphäre des Handelns, in der es Richtlinien aus moralischer Verpflichtung aber keine Gesetze gab, war der Raum, in dem sich der Mensch bewähren musste, und in dem seine Verfehlung nur einen Tadel und keine Bestrafung nach sich zog, weil die Richtlinien anspruchsvoll waren. Ein heutiger Zeitgenosse, der nach einem längeren Abend mit Freunden in der U-Bahn zu seinem Hotel zurückfährt und bemerkt, wie drei betrunkene Jugendliche einen unbeteiligten Passagier belästigen, steht vor einer schweren Entscheidung. Er sollte dem Bedrängten zur Hilfe kommen, sein Handy hat im Tunnel keinen Empfang und bis zum Eintreffen der Polizei ist der Schaden längst angerichtet und die Täter auf dem großen U-Bahnhof an der nächsten Station wahrscheinlich geflohen. Er sollte helfen, aber er muss es nicht. Unter Berufung auf

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Cicero stellte auch Grotius fest, es sei die erste Pflicht, daß sich jeder in seinem natürlichen Zustand erhalte.7 Der Mensch ist nicht verpflichtet, einem Bedrohten zu Hilfe zu kommen, wenn er dadurch seine eigene Gesundheit oder gar sein eigenes Leben gefährdet. Sein Gewissen wird es ihm gleichwohl raten, und so spielt sich in der Folge in seinem Innern eben das Ringen um den Spielraum ab, den Grotius benennt und der das eigentliche Feld sittlichen Handelns ist. Der Bogen spannt sich im Grunde von Hugo Grotius bis zu Immanuel Kant (1724-1804), der in seiner Metaphysik der Sitten (1797) festhielt, dass das Gesetz nur die Prinzipien einer Handlung gebieten, nicht aber die Handlung selber vorschreiben könne, weswegen für den Handelnden ein Spielraum entstünde, in dem er die Handlung nach seinem Ermessen gestalten konnte.8 Mit Kant haben wir einen Höhepunkt der Aufklärung erreicht, jener Bewegung, die im 18. Jahrhundert ihre große Zeit erlebte, und die durch Kant gleichsam ihre Definition erfuhr: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit... Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.9 Hugo Grotius stand am Anfang dieses Weges, der die Vernunft schließlich zum alleinigen Maßstab erhob. Die Vernunft erschloss und sicherte die Spielräume für das menschliche Ermessen (und verengte sie in manchen Fällen dann wieder, in denen ein nur vernünftiges Vorgehen auch eine Verkürzung darstellen konnte). Auch das Mittelalter hatte dem Menschen Spielräume zugebilligt; bereits Aristoteles hatte die Einzelfallprüfung bei ethischen Fragen für notwendig gehalten. Aber diese früheren Epochen mussten die Spielräume nicht so ausdrücklich als Ermessensräume für den Handelnden beschreiben. Denn er hatte in den meisten Fällen ohnehin genügend Raum. Das ist durchaus topographisch gemeint. Die Kommunikationsgeschwindigkeit verlangte selten Entscheidungen hier und jetzt. Die primitive Erschließung des Raumes gewährte dem Handelnden eine gewisse Autonomie. Das haben wir bereits gesehen. Das Mittelalter kannte nicht viele Situationen, in denen ethische Vorschriften diesen Raum verdichtet hatten. Das änderte sich im Zuge des europäischen Ausgreifens in die Welt und im Zuge der Herrschaftsverdichtung im Innern.

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So begann die Theorie, dem Handelnden Ermessenspielräume zu sichern, als die realen Räume, die ihn (oder sie) bis dahin vor dem Zugriff geschützt hatten, enger wurden. Grotius war von der Frage angeregt worden, inwieweit es eine freie Schifffahrt auf dem Meer geben konnte, angesichts rivalisierender Mächte mit weit agierenden Flotten? Weit entfernte Ereignisse stellten die Europäer vor neue Fragen. Die Kommunikation nahm zu und wurde auch über große Entfernungen aufrecht erhalten. Auch Kant sah diese Möglichkeit, daß Übel und Gewalttätigkeit, an einem Ort unseres Globus, an allen gefühlt wird.10 Goethe hatte in seinem Faust das Interesse seiner bürgerlichen Zeitgenossen an gewalttätigen Ereignissen etwas weniger sensibel formuliert, wenn er sie beim Spaziergang vor dem Tor sagen ließ: Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten weit, in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen. Das war nur wenige Jahre nach Kant. Man konnte auf die Nachrichten aus anderen Teilen der Welt unterschiedlich reagieren. Aber sie wurden nun im frühen 19. Jahrhundert Teil des Alltages. Die Welt wuchs zusammen. Die Räume wurden enger. Der einzelne Mensch wurde erreichbarer und es wurde schwerer für ihn, sich der Gesellschaft zu entziehen. Dadurch wurde es für ihn nötig, den Spielraum, den er in früheren Zeiten allein aufgrund fehlender gesellschaftlicher Strukturen und Kommunikationsmöglichkeiten gehabt hatte, als sein Anrecht zu beanspruchen und zu definieren. Die soziale und technische Entwicklung machte die Räume enger, und das Individuum begann, seinen eigenen Platz auch in der Theorie seiner Lebensordnungen zu behaupten. Das war dann möglich, wenn der einzelne Mensch in der Werteordnung seiner Zeit einen Anspruch auf eine respektvolle Behandlung erheben konnte. Für die anderen bedeutete das Zusammenwachsen auch eine Gefahr. Der Sklavenhandel von Afrika an die Küsten Nordamerikas erreichte in den Jahren um 1800, als Kant und Goethe das Echo weit entfernter Ereignisse in ihren Werken anklingen ließen, einen Höhepunkt. Es ist erforderlich, sich daran zu erinnern, dass die Erschließung der Welt durch die Europäer in dieser Epoche vielen Völkern außerhalb unseres Kontinents die Bürde des weißen Mannes auferlegte.

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Die Entwicklung, die schließlich zur Aufklärung führte, setzte im 17. Jahrhundert ein. Bereits Grotius schlug einen anderen Ton an als frühere Autoren, die so leidenschaftlich für die Wahrheit ihrer Religion gestritten hatten. Grotius erörterte den Nutzen der Religion. Nicht ihre Wahrheit stand an erster Stelle, sondern ihre ordnungsstabilisierende Funktion. Sie stützte das Recht. So war sie besonders dort von Nutzen, wo die herrschaftliche Gewalt das Recht nicht schützen konnte, weil es über ihre Grenzen hinausging: in der überstaatlichen Gemeinschaft. Bei der Frage, welche Religion diese Aufgabe übernehmen konnte, orientierte sich Grotius am Christentum, war aber zurückhaltend in seinen Formulierungen. Das Recht war als friedenstiftende Kraft seine eigene unveränderliche Gewalt. Das Naturrecht galt Grotius als so beständig, daß selbst Gott es nicht verändern kann.11 Es war die unveränderliche Grundlage für das Zusammenleben der Menschen in der überstaatlichen Gemeinschaft, also für die Erfahrung, der sich die Menschen seit dem 17. Jh. immer weniger entziehen konnten – wenn sie als Kaufleute in weitgestreckten Handelsunternehmungen unterwegs waren, wenn sie als Bürger mit ihren Geldeinlagen vom Schicksal solcher Handelshäuser betroffen waren, oder wenn sie als Bauern von durchziehenden Armeen heimgesucht wurden. Gab es in einer Welt, die schon immer unübersichtlich gewesen war, deren Vielfalt der einzelne Mensch sich aber immer schwerer entziehen konnte, noch eine Ordnung, die in Konfliktsituationen gewisse Wertvorstellungen bewahrte? Man suchte nach einer Ordnung des Rechts jenseits religiöser Konkurrenz. Die Stimme des Rechts war dabei vielfach eine Stimme der Vernunft. Denn aufgrund eines unveränderlichen Gesetzes steht ein für allemal fest, daß man aus Schwarz nicht weiß machen kann. So vermerkte Samuel von Pufendorf (1632-1694) in der Vorrede seines Traktates Über die Pflicht des Menschen und Bürgers nach dem Gesetze der Natur (1673).12 Pufendorf gehört nach Hugo Grotius mit Christian Thomasius (1655-1728) zu den Vordenkern und Wegbereitern einer neuen Naturrechtsvorstellung, die in diesem Recht eine Grundlage für das menschliche Leben in Gemeinschaft mit anderen Menschen sahen.13 Nachdem das Naturrecht als göttliches Recht in der Kritik der Nominalisten, den Kämpfen der Reformation und den Lagerbildungen der Konfessi-

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onen seinen überparteilichen Charakter eingebüßt hatte, erhielt es als Grundlage eines allein auf das irdische Leben bezogenen Wertekanons eine neue Begründung. Ausdrücklich setzte Pufendorf in der Vorrede zu seiner Schrift über die Pflichten sie dadurch von der Moraltheologie ab. Diese Lehre galt nur im Umkreis des irdischen Lebens.14 Wenn ein solches Recht grenz- und konfessionenübergreifend gelten sollte, musste es einer anderen Farbenlehre folgen, als die rivalisierenden Bekenntnisse. Die zitierten SchwarzWeiss-Bezüge lassen das erkennen. Die Vertreter einer vernünftigen Ordnung, die als gläubige Christen ihre Ordnungsentwürfe weniger auf den Glauben als auf die vernünftige Einsicht stützten, suchten nach Gewissheiten, denen sich niemand verweigern konnte. Weiß war Weiß und Schwarz war Schwarz. Der Unterschied war evident. Doch wir sollten uns vor einem Missverständnis hüten. Es geht hierbei um den großen Prozess des historischen Wandels der Koordinatensysteme, in denen sich das menschliche Leben abspielte. Die neue Ordnung der Vernunft, die nun im 17. Jahrhundert eine Stimme erhielt, die im 18. Jahrhundert unüberhörbar wurde, wurde zunächst von einer kleinen Gruppe von Gelehrten vertreten. Hugo Grotius und Samuel von Pufendorf waren Männer, die ihren Wirkungsort wiederholt wechseln mussten, weil ihre Ansichten sie in Gefahr brachten. Grotius wechselte von den Niederlanden nach Paris, Pufendorf studierte in Leipzig und Jena, wirkte und schrieb in Kopenhagen, in Heidelberg und im schwedischen Lund, in Stockholm und in Berlin. Es war ein Gelehrtenleben in Bewegung. Pufendorfs Stationen waren die einer protestantischen europäischen Reise. Es gab Entsprechungen auf katholischer Seite mit Stationen in Frankreich und Italien, evtl. in Spanien. Überkonfessionell war Pufendorf nicht, und das war in dieser Zeit auch kaum möglich. Dennoch gab es unter diesen Gelehrten auch über konfessionelle Grenzen hinweg einen Austausch von Schriften, Ideen und Argumenten. Die Forschung zur Frühen Neuzeit spricht mit Blick auf diesen Diskurs von einer Gelehrtenrepublik. Und wer die Wege zu einer europäischen Werteordnung sucht, sollte den Spuren dieser Vordenker eine Strecke weit folgen. Sie bereiteten einen neuen Weg. Auf lange Sicht wurde er zu einer bedeutenden Straße. Es ist aber wichtig, dass wir uns daran erinnern, dass noch sehr viele Menschen auf den alten magischreligiösen und konfessionell-religiösen Wegen gingen. Der histori-

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sche Wandel, der sich im 17. Jahrhundert andeutete, bestand nicht darin, die alten Lebensformen zu beenden. Er bestand darin, ihnen eine Möglichkeit mit großem Potential hinzuzufügen. Das Spektrum erweiterte sich. Auch wenn die gelehrten Vordenker des Naturrechts überzeugt waren, dass die Evidenz ihrer Gewissheiten sich jedem erschloss, der hinsah, so waren keineswegs alle Menschen bereit, ihren Blick entsprechend zu wenden. Und wenn sie es taten, so sahen sie möglicherweise ein anderes Bild. Ich werde sie bei den Köpfen nehmen und sie vor das Bild schleifen. Auch die Mönche sind Menschen, Sagredo. Auch sie erliegen der Verführung der Beweise. Das läßt Bertolt Brecht seinen Galilei auf den Einwand hin sagen, dass der Blick auf die Sterne die Gegner nicht überzeuge.15 Brecht schrieb sein Leben des Galilei vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Es war eine Zeit, in der die Ideologie in seiner Heimat die Vernunft zum Schweigen zwang. Das katholische Bekenntnis im 17. Jahrhundert war keine Ideologie. Aber diese Form des konfessionellen Glaubens zog Ideologen an. Als Galileo Galilei (1564-1642) sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts anschickte, das kopernikanische Modell der Welt als ein System, das um die Sonne kreist, im Rahmen eines großen dynamischen Entwurfes zu beweisen, da stieß er durchaus nicht nur auf Widerstand in der katholischen Welt. Er fand lange Zeit auch offene Ohren. Aber die Gegner seines naturwissenschaftlichen Denkens setzten sich durch.16 Dabei mochte Galileis Auftritt eine Rolle gespielt haben. Galilei achtete darauf, dass er gut zu sehen war. Es war und ist indes für die Berechtigung naturwissenschaftlicher Entwürfe nicht zwingend erforderlich, dass ihre Vertreter bescheidene Personen ohne eigene Interessen sind. Die Struktur des menschlichen Erbmaterials wurde von Watson und Crick in einem vergleichsweise unbescheidenen Vorgang entschlüsselt.17 Sie ist darum nicht weniger gültig. Die Verurteilung Galileis durch Papst Urban VIII. im Jahr 1633 hat das Verhältnis der katholischen Kirche und der beginnenden Naturwissenschaften kaum befördert. Es ist noch immer problematisch, und die Geschichte des Umgangs mit dem GalileiProzess ist ein eigenes Lehrstück darin, wie schwer es sein kann, einen offenkundigen Irrtum einzugestehen. In diesen Auseinandersetzungen reichte es nicht immer, Fakten präsentieren zu können.

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Es ließe sich darauf verweisen, dass Kant die Aufklärung als Aufbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit definiert hat, die dem Betrachter der Geschichte in diesem Vorgang einprägsam vor Augen geführt wird. Daran ist viel Richtiges, und aus der modernen Perspektive einer vernunft- und effizienzgesteuerten Gesellschaft ist die Haltung der vielen Gläubigen im 16. und 17. Jahrhundert, die an ihrem alten Glaubens und seinen magischen Momenten festhielten, kaum verständlich. Doch aus einer Werteperspektive wäre auch darauf zu verweisen, dass die Überlegungen zum Nutzen der Religion, wie sie nun aus der Perspektive der Vernunft verstärkt angestellt wurden, eine Abwertung der Religion im Leben vieler Menschen bedeutete. Kant selber hat in einem Text von eindrucksvoller Grundsätzlichkeit mit allem Nachdruck darauf bestanden, dass die sittlichen Pflichten, die für den Menschen gelten sollten, unter keinen Umständen pragmatisch begründet werden dürften. Wer über Vor- oder Nachteile bestimmter Pflichten nachdenke, beschädige die Würde der Tugend und damit auch den Adel des Menschen.18 Dieser Grundsatz, der einen modernen Leser gleichsam aus der Ferne anrührt, galt auch für die Religion. Wer über den Nutzen der Religion nachdachte, war nicht weit davon entfernt, sie zu einem Instrument für ein besseres Leben zu machen und damit ihre Rolle als tragenden Grund des Lebens zu verändern. Es gab Gründe für diese Veränderung, aber es war eine Änderung, die für die europäische Kultur auf längere Sicht einen deutlichen Wandel bedeutete und mit der sich viele Menschen schwer taten. Demgegenüber ist all das, was das Leben des Menschen an Annehmlichkeiten bietet, das Ergebnis gegenseitiger menschlicher Hilfe.19 Samuel Pufendorfs Mensch war eine schwache Kreatur. Hilflos bei der Geburt, angetrieben durch Eigennutz, bereit, seinen Mitmenschen zu schaden. Seine Schwäche konnte er nur ausgleichen, wenn er seine Stärken mit denen der anderen Menschen verband. Dieser Gemeinsinn war eine Voraussetzung für sein Überleben und somit eine der Grundregeln des Naturrechts. Nach dem Grundsatz: „Wer ein Ziel will, dessen Wille umfaßt notwendigerweise auch die Mittel, ohne die das Ziel nicht erreicht werden kann“ folgt daraus: Gebot des Naturrechts ist alles, was für das Leben in Gemeinschaft notwendig und nützlich ist; was stört und schadet, ist verboten.20 Man ahnt bereits, dass es über die Einschät-

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zungen, was dem Leben in Gesellschaft nützlich ist, unterschiedliche Meinungen geben konnte (Selbst unter Männern – Frauen, die solcher Logik häufig etwas distanzierter gegenüberstehen, hatte Pufendorf nicht im Blick). Auch Pufendorf hielt das für unausweichlich. Es bedurfte daher einer staatlichen Ordnung, die die widerstreitenden Energien in geordnete Bahnen lenkte. Pufendorf würde sicher den Vergleich mit Papst Innozenz IV. zurückgewiesen haben, auch wenn beide Juristen waren. Aber bei der Begründung der Notwendigkeit des Staates aus den Regeln der Vernunft klang Pufendorf ähnlich wie Innozenz, als dieser die Notwendigkeit darlegte, dass der Papst seine eindrucksvolle Amtsgewalt innehaben müsse.21 Der göttlichen Vernunft fehlte es im Laufe der Geschichte selten an konsequenten Interpreten. Wir sehen, wie die menschliche Vernunft wieder zu einer Geltung kam, die sie durch die Kritik der Nominalisten und der Reformation in mancher Weise verloren hatte. Thomas von Aquin und die Juristenpäpste seiner Zeit hatten mit den Mitteln der Vernunft auf die göttliche Ordnung geschlossen. Daraus leiteten sie ab, was für die christliche Gegenwart erforderlich war. Für die Nominalisten, die den Begriffen der menschlichen Vernunft misstrauten und die die unbegrenzte Freiheit Gottes nicht dem begrenzten Verstand der Menschen unterordnen wollten, war diese Schlussfolgerung eine Illusion. Für Luther war die menschliche Vernunft zu korrumpiert, um den Plänen Gottes nahe zu kommen. Was den menschlichen Verstand überzeugte, musste Gott nicht einleuchten. Der Versuch, durch die menschliche Vernunft Gottes Schöpfungsplan zu ergründen, hatte diese Vernunft in eine längere Krise geführt. Sie schien den Weg des Heils nicht mehr ausreichend weisen zu können. Der menschliche Verstand stand der Freiheit Gottes im Wege. Die zwingende (und nicht nur erfreuliche) Kraft der Vernunft gewann die historische Bühne zurück, als sie sich von der Religion trennte. Seit die frühen Aufklärer die Religion zu einer Ordnung mit eigenen Regeln erklärten, die nicht mehr für alle Menschen bindend war, gewann die Vernunft ihre zwingende Folgerichtigkeit zurück. Angesichts von Äußerungen wie der Pufendorfs über die Notwendigkeit von Staaten lässt sich ahnen, dass auch diese rein weltliche Logik ein erhebliches Konfliktpotential barg. Der eigentliche Bezugsrahmen für das Naturrecht, auf dem diese Juristen die soziale Ordnung aufbauten, war die menschliche

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Gemeinschaft. In ihr musste sich der handelnde Mensch bewähren. Diese Entwicklung führte Pufendorf an die Ethik des Aristoteles heran, für den der Maßstab des gerechten Handelns das Glück der Polis gewesen war. Aristoteles hatte in seiner Ethik die Bewertung des Handelns von der jeweiligen Situation abhängig gemacht, da es immer auf den Einzelfall ankam. Auch Pufendorf entwickelte keinen Handlungskatalog, die Einzelentscheidungen waren aus den Hauptregeln des Naturrechts abzuleiten, die der menschlichen Vernunft eingegeben waren oder auf die sich die menschliche Gemeinschaft ohne größere Widersprüche einigen konnte. In der Theorie gab es für den Einzelfall keine Festlegung und es konnte durchaus sein, dass unterschiedliche Lösungen denkbar waren. Weniger klar ist, ob der vernunftgeleitete Praktiker Pufendorf alternative Lösungen als vernünftig akzeptiert hätte. Die Frage stellte sich indes nicht. Pufendorf war kein Mann der Praxis. Anders als bei Aristoteles ging es bei Pufendorf um die menschliche Gemeinschaft im Rahmen des Staates. Die Größenordnungen veränderten sich, Pufendorf war diese historische Entwicklung bewusst. Dabei war die größere menschliche Gemeinschaft noch immer eine ständische Gesellschaft, die im Osten Europas das Land mit leibeigenen Bauern erschloss und bebaute. Während die Agrarwirtschaft im Westen vorwiegend kleinteilige bäuerliche Familienbetriebe aufwies, war östlich der Elbe die Bewirtschaftung mit unfreien Bauern noch weit verbreitet. Pufendorfs Wirkungsorte hatten ihn zumindest wiederholt in die Nähe dieser Realitäten geführt, und seine letzte Station Berlin lag in Sichtweite dieser ostelbischen Landgüter, die von leibeigenen Bauern bestellt wurden. Es war nicht nur Theorie, was Pufendorfs Schrift über die Sklaverei sagte, wenn der Begriff auch altertümlich klang. Sklaven waren Sachen: Sowohl die Sklaven, die infolge von Gewaltanwendung im Krieg zu Sklaven geworden sind, als auch diejenigen, die gegen Entgelt gekauft werden, können der Übung entsprechend wie andere Gegenstände in unserem Eigentum jedem beliebigen übertragen und wie eine Ware verkauft werden.22 Daher kamen Sklaven in dem kurzen Kapitel Über die Anerkennung der natürlichen Gleichheit des Menschen auch gar nicht vor. Pufendorfs Schrift Über die Pflicht erschien in ihrer lateinischen Erstausgabe 1673 in London. Hundert Jahre später, am 4. Juli

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1776 proklamierten die britischen Kolonien, deren Gründer seit dem frühen 17. Jahrhundert aus England gekommen waren, ihre Unabhängigkeit vom Heimatland. Wir haben zu Beginn dieser Untersuchung festgestellt, dass der Text der Unabhängigkeitserklärung Thomas Jeffersons wichtige Elemente der europäischen Rechts- und Wertetradition aufnahm und auf die besondere Situation der amerikanischen Siedler anwandte. Ausdrücklich berief sich die Declaration auf das Naturrecht, und die Wahrheiten, die sie als offenkundig (self evident) ansah, dass Gott den Menschen die Rechte auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit verliehen habe, die den Menschen eigen waren und nicht genommen werden konnten, hatten ihre Wurzeln in dieser Tradition. In der vorangegangenen Tradition waren diese self-evident truths als principia per se nota angesehen worden. Die Darlegung des Rechtes eines Volkes, eine Regierung abzuschaffen, die die Bewahrung dieser Rechte behinderte, erinnert in der Argumentation durchaus an die Überlegungen Williams von Ockham über die Rechte der Christen, ihre monarchische Verfassung in eine aristokratische umzuwandeln, um Schaden von der Christenheit abzuwenden. Das waren Traditionslinien in prinzipiellen Fragen. Die Rahmenbedingungen für die Umsetzung hatten sich indes deutlich verändert. Die Staatsgewalt hatte im Mittelalter keine zentrale Rolle gespielt: Für die längste Zeit des Mittelalters tut sich die Forschung schwer, überhaupt von einem Staat zu sprechen. In der Declaration of Independence wurde nun dieser Staat zum Garant der Grundrechte: to secure these rights, governments are instituted. Darin schlug sich ein wichtiger Strang der europäischen Entwicklung seit dem Beginn der Frühen Neuzeit nieder. Wir haben gesehen, wie sich im Zuge der Konfessionalisierung die Schutz- und Ordnungsfunktion der Obrigkeit deutlich verstärkt hatte.23 Pufendorf hatte den Staat mit der Folgerichtigkeit päpstlicher Interpreten der göttlichen Ordnung für notwendig erklärt: daß Gott mittels des Gebotes der Vernunft schon von Anbeginn an vorgeschrieben hat, daß Staaten gegründet würden.24 Bei den Gründervätern der Vereinigten Staaten war dieser Staat nun zum Garanten zentraler Werte der menschlichen Gesellschaft geworden. Und die staatliche Obrigkeit war ihrem Volk für die Einhaltung ihrer Schutzaufgabe Rechenschaft schuldig. Thomas von Aquin, der die Grundzüge des mittelalterlichen Naturrechts so

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klar benannt hatte, war sehr zögerlich bei der Frage gewesen, ob die Untertanen einen tyrannischen Herrscher absetzen dürften. Die Gefahr, dass sich durch einen Sturz des Herrschers die Situation verschlimmere, sei ernst zu nehmen. Thomas befürwortete die Geduld der Christen mit schlechten Herrschern.25 Thomas Jefferson und seine Mitstreiter sahen das anders. Wenn die Regierung sich wiederholten Missbrauchs der Macht schuldig gemacht hatte, war es das Recht und die Pflicht der Untertanen, diese Regierung abzusetzen. Das Verhältnis von Regierung und Regierten hatte sich verändert. Die Ansprüche waren deutlich gewachsen. Der Wunsch nach eindeutigen Verhältnissen, der die obrigkeitliche Durchdringung der europäischen Gesellschaften seit dem frühen 16. Jahrhundert befördert hatte, wurde nun zu einem Maßstab der Leistungsfähigkeit dieser Obrigkeit bei der Erreichung geordneter sozialer Verhältnisse. Etwa zweieinhalb Jahrhunderte nachdem die europäischen Obrigkeiten ihren Zugriff auf ihre Untertanen verstärkt hatten, sahen viele Untertanen die Grenzen der so erreichten Ordnung. Es blieb nicht bei dem Aufstand der amerikanischen Siedler gegen ihren König. Gut zwanzig Jahre später beendete die Französische Revolution eine Königsherrschaft, die in den zurückliegenden Jahrhunderten die wahrscheinlich mächtigste und glanzvollste Monarchie Europas gewesen war. Die Wertvorstellungen und Rechtsansprüche, die seit dem 16. Jahrhundert den verstärkten Zugriff der Obrigkeit auf die Untertanen begleitet hatten, wendeten sich nun als strenge und erneuerte Maßstäbe gegen ihre bisherigen Vertreter. Dem Umsturz der Reformation war ein Jahrhundert vorangegangen, in dem die Zahl der urteilsfähigen und interessierten Gläubigen erkennbar angewachsen war. Das Medium der Urteilsbildung war die Schrift. Den Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts ging eine deutliche Ausweitung der schriftlichen Kommunikation in Büchern, Romanen und Zeitschriften voraus. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstand eine literarisch und schriftlich vernetzte Öffentlichkeit, die die großen Fragen der Kultur, der Gesellschaft und der Politik intensiv erörterte.26 In diesen Diskursen wurden die großen Umbrüche am Ende des 18. Jahrhunderts vorbereitet, die die alte Ordnung Europas beendeten. Es waren Diskurse, in denen die Vernunft und die Sprache eine zentrale Rolle spielten. Es war ein Jahrhundert mit großen Namen: Newton, Diderot,

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Voltaire, Herder, Goethe, aber auch Händel, Bach, Vivaldi und Mozart. Diderot und Voltaire, deren Werk das Wissen ihrer Zeit reflektierte, waren weltläufige Gelehrte, deren umfangreiche Schriften von einer europäischen Öffentlichkeit gelesen und diskutiert wurden. In Deutschland wurde der Begriff der öffentlichen Meinung erstmals von einem Gelehrten verwendet, der wichtige Impulse zu seinem Werk von Samuel Pufendorf erhalten hatte: von Christian Thomasius (1655-1728).27 Thomasius, verwendete sich als Jurist mit aller Entschiedenheit dafür, die Sphären von Theologie und Naturrecht deutlich zu trennen: weil die Natur und Offenbarung als unterschiedliche Principia nicht vermenget und confudiret werden müssen.28 Diese entschiedene Trennung liegt über 300 Jahre zurück. Thomasius hielt in Hinblick auf das sittliche Handeln fest, dass das, was dem einen fromme, dem anderen missfalle. Es war ein individueller Maßstab, den er hier für das richtige Handeln anlegen wollte. Dabei war er sich bewusst, wie weit das Spektrum menschlicher Erfahrungen inzwischen reichte. Die unterschiedliche Beschaffenheit des Himmels und die andersartige Erziehung hätten zur Folge, dass man die Verschiedenheit der Sitten bei den Orientalen und Okzidentalen, den Afrikanern und Europäern, den Asiaten, Amerikanern, Spaniern, Franzosen, Deutschen, Welschen, Engländern, Ungarn, Polen, Böhmen, den nordischen Völkern und den anderen mit Händen greiffen könne.29 Der Jurist aus Halle spannte bei seinem Blick auf das sittliche Verhalten der Menschen einen weiten Bogen.

18. Von der Aufklärung bis zur modernen Gegenwart Kants Kategorischer Imperativ – Die Vielfalt der Sitten und Kulturen – Die französische Revolution und der Beginn der Massenkultur – Die neuen Kriege – Mills Ideal individueller Freiheit und die neue Rolle des Menschen in der Geschichte – Neue Erfahrungen und die Wendung zur Tradition Die Welt von Thomasius, Diderot, Voltaire, Kant und Goethe hatte eine eigentümliche Struktur in ihrer Spannung zwischen Lebenswelten mit begrenzter Erstreckung und einem weiten Netzwerk gleichgesinnter Geister, das die Grenzen überspannte. Voltaire entzog sich der königlichen Haft durch die Überfahrt nach England, Goethes Wirkungskreis in Weimar wirkt im Vergleich zu der Welt, die seine Dichtung erschuf, provinziell, Kant hing an Königsberg wie Sokrates an Athen. Die Grenzen boten Schutz vor Verfolgung, wenn man die richtige Seite erreichte. Der Kontakt zu den Gleichgesinnten riss durch den Grenzübertritt nicht ab. Kants räumliche Selbstbeschränkung stand in starkem Kontrast zu seiner enormen Wirkung in gebildeten Kreisen. Die grenzüberschreitenden Diskurse der Gelehrten, der Dichter und der Philosophen zeigen, dass die Lagerbildungen in der europäischen Religion und Politik die Gemeinsamkeiten nicht zerstört hatten. Tatsächlich hatte diese Welt noch viele familiäre Züge. Sie wurde von mächtigen Königsfamilien regiert, die in vielfacher Weise miteinander verwandt waren. Das Schicksal von Ländern und Reichen konnte von den Verwicklungen und auch von den Katastrophen dieser Dynastien abhängen. Die Regeln dieses alten Europa waren in hohem Maße durch dynastische Politik geprägt. Gleichzeitig reichte die Macht dieser europäischen Königsfamilien bis auf die andere Seite der Welt, in die Kolonien und Handelniederlassungen in Amerika, in Indien oder China. Das 18. Jahrhundert erleb-

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te einen dynamischen Aufbruch der Weltwirtschaft, die den europäischen Märkten um 1750 ein spürbares Wachstum bescherte. Handelsstädte wie Bordeaux, die durch ihre Anbindung an die Atlantikrouten von diesem Aufschwung profitierten, erlebten ihre goldene Zeit. Waren und ökonomische Werte aus Übersee beförderten wie die Nachrichten aus den Kolonien den Sinn für einen Zusammenhang des Weltgeschehens. Die Neuigkeiten wurden in Zeitungen und in den Salons ausgetauscht, erörtert und verbreitet. Es waren die Kreise des aufgeschlossenen Adels und des emporstrebenden Bürgertums, die sich in dieser Öffentlichkeit begegneten, die das Geschehen der Welt mit lebhaftem Interesse erörterten, wobei ihre Gesprächspartner ihnen in der Regel bekannt waren. Die Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts war keine anonyme Größe. Der wirtschaftliche Wandel dieser dynamischen Epoche veränderte vielerorts die festen Ordnungen des Handels und Gewerbes. Der Markt mit seinen eigenen Regeln beanspruchte sein Recht. Er bot neue Chancen für die bürgerliche Schicht, aber es gab auch viele Adlige, die sich erfolgreich in der verstärkten Geldwirtschaft betätigten. Die Öffentlichkeit, in der die grundsätzlichen Fragen behandelt wurden, für die die Aufklärung steht, war auch eine Marktöffentlichkeit, in der sich die Autoren mit ihren Werken wirtschaftlich bewähren mussten. Die Wirtschaft beförderte die neue Spannung von Individuum und Gemeinschaft. Der Einzelne traf seine Entscheidung am Markt, aber der Markt entstand erst durch die Einbindung des Einzelnen in die weltweiten Strukturen des Handels. Diese weltweiten Handelsstrukturen werden in der Globalisierung unserer Gegenwart durchaus als bedrohliche Kräfte erlebt, die dem Individuum die Entscheidung über das eigene Schicksal abnehmen. Den Theoretikern des Aufklärungszeitalters erschien der neue Horizont eher als eine Herausforderung, der sich der Einzelne in seinen persönlichen Bezügen verantwortungsvoll stellen konnte. Auf der Ebene der ökonomischen Theorie formulierte Adam Smith die positive Erwartung, dass das Handeln des Einzelnen zum eigenen Vorteil letztlich zum Wohle aller führe.1 Kant formulierte das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft in der Sprache des Philosophen. Diese theoretischen Annäherungen an die neue Wirklichkeit lassen den veränderten Horizont erkennen, aber sie sind in einer Umwelt formuliert, in der das Leben sich noch immer in sehr

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überschaubaren Bezügen abspielte. Der Wandel kündigte sich an, aber die Kräfte der alten Ordnung waren noch lange lebensfähig. Die Fragen, die nun erörtert wurden, waren Fragen des richtigen Lebens, der richtigen Erziehung des richtigen Gebrauchs der Vernunft. Das waren Fragen nach der Gültigkeit gemeinsamer Werte. Die Vernunft, die Hugo Grotius und Samuel Pufendorf beschworen hatten, hatte neben den Kämpfen der Religion eine gemeinsame Basis befestigt, die Voltaire um die Mitte des Jahrhunderts in euphorischen Worten beschwor: Europa sei eine große Republik, in der Staaten mit unterschiedlichen Verfassungen sämtlich miteinander harmonisierten, in der die Religion im Grunde dieselbe sei, wenn auch in unterschiedliche Richtungen aufgeteilt. Dieses Europa bekenne sich sämtlich zu denselben völkerrechtlichen und politischen Grundsätzen, die den übrigen Erdteilen noch fremd waren.2 Die Frage nach der europäischen Werteordnung führte Voltaire zu einer lichten Perspektive, in der die Vielgestaltigkeit im Geiste der Toleranz und der Vernunft in eine friedliche Ordnung mündete. Eine friedliche Ordnung auf der Grundlage gemeinsamer Werte aus einer langen christlichen Tradition. Der Einzelne, der sich diesem Denken verpflichtet sah, konnte sich in ein grenzüberspannendes Netz von Gleichgesinnten eingebunden sehen. Kants kategorischer Imperativ schlug den Bogen von der Haltung des Einzelnen zu seiner Einbindung in die Gesellschaft. Handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann.3 Der Zusammenhang mit der Gesellschaft war allerdings ein theoretischer. Kants Ethik war keine soziale Philosophie, sie ging nicht von der Erfahrung aus, wie es etwa Aristoteles unternommen hatte, mit dem Ziel einer glücklichen Polis. Kant fragte vor dem Hintergrund weltweiten Handels und weltumspannender Kolonialpolitik, aber er näherte sich der Frage des richtigen und falschen Handels aus der abstrakten Perspektive der Vernunft. Jede Maxime, die sich hiezu nicht qualifiziert, ist der Moral zuwider. So ergänzte er seinen Imperativ. Das Ergebnis der solchermaßen zu prüfenden Handlung war für deren Moralität nicht erheblich. Für die Moralität einer Handlung war ihr Motiv entscheidend. Kant selber hat dies ausdrücklich in seiner Tugendlehre festgehalten: Die Ethik gibt nicht Gesetze für die Handelnden (denn das tut das ius) sondern nur für die Maximen der

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Handlungen. Eine Maxime war die persönliche Richtlinie, die der Handelnde selbst zu seinem Prinzip erhoben hatte. Er hatte sie gewählt, um an ihr seine Handlungen auszurichten. Eine solche Maxime war ein grundsätzliches Leitbild, Leutselig sei, doch keineswegs gemein, wie es etwa Polonius seinem Sohn Laertes mit auf den Weg gab (Hamlet I,3). Kant richtete sich an die gebildete Öffentlichkeit seiner Zeit, in der er sich auch mit seinem berühmten Beitrag „Was ist Aufklärung“ positionierte, der in der Berlinischen Monatsschrift erschien und eine dort begonnene Debatte fortsetzte.4 Der verpflichtende Bezug auf die Allgemeinheit, an dem der Handelnde die Motivation für all sein Tun überprüfen sollte – denn es ging um die Antriebskräfte für sein Tun, nicht um die äußere Handlung selbst – war ein anstrengendes Ideal. Auf diese Weise leuchtete das Licht der Vernunft auch in jene Winkel des eigenen Verhaltens, die im Halbschatten persönlicher Motive ganz verträglich eingerichtet sein konnten. Die allgemeine Gesetzgebung konnte nicht danach streben, den Bürgern über die wahren Verhältnisse des Staates ein falsches Bild zu vermitteln. Aber musste man als ethischer Mensch kantischer Prägung deshalb seiner Schwester die Wahrheit über ihr Erscheinungsbild in dem neuen Kleid mitteilen, in dem sie wenig vorteilhaft erschien? Das gefährdete den Familienfrieden, und eine solche Direktheit konnte es dem Philosophen im höfischen Umfeld schwer machen, wenn er Königsberg verließ. Das Leben mit einem Moralisten konnte anstrengend sein. Kant selber hat diese Probe vermieden und darauf verzichtet, zu heiraten. Inwieweit seine Maxime bei dieser Entscheidung eine Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung sein könnte, verschließt sich dem äußeren Betrachter. Allerdings ließen die Maximen, wie wir bereits oben bemerkt haben, dem Ausführenden einen gewissen Spielraum bei der Umsetzung seines Vorsatzes in die Realität. Hatte er die Maxime, einem Notleidenden zu helfen, so konnte er seine Hilfe noch immer nach dem Ernst der Lage und den eigenen Möglichkeiten ausrichten. Der kategorische Imperativ verpflichtete den Menschen zu einem folgerichtigen Vorgehen. Die Pflicht war ein Leitmotiv der Kant’schen Ethik, und in der Popularisierung seines nicht einfach zugänglichen Werkes wahrscheinlich das erfolgreichste. Dabei ging es nicht allein um die äußere Verpflichtung zu einer Handlung. Kants Pflicht entstand aus der akzeptier-

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ten Verbindlichkeit des kategorischen Imperativs. Es entstand aus der Einsicht, dass das Prinzip nach dem man zu handeln sich anschickte, nicht Eigennutz oder äußerer Druck war, sondern ein vernünftiges Leitbild, das man ohne Schaden auch für die weitere Menschheit verpflichtend machen konnte. Eine solche Einsicht konnte zu den Freuden der Pflicht führen, sie führte zumindest zu ethisch unbedenklichen Handlungen. Der kategorische Imperativ hat sich tief in die ethische Grammatik unseres Kultur- und Wertebewusstseins eingeschrieben. Dass er in der Gegenwart noch viele Anhänger findet, ist dagegen nicht sicher. Er hat durchaus einen historischen Charakter. Sein Rigorismus lässt sich nur schwer mit der Komplexität unserer modernen Welt vereinen, in der zwar dieselben Regeln für alle gelten sollten, in der aber die Vielfalt der Erfahrungen und Verpflichtungen eine Fülle von Handlungsmotiven zur Folge hat. Sie sollten nebeneinander bestehen können, solange dies friedlich möglich ist. Kants kategorischer Imperativ steht für eine Epoche, in der die Gesinnung des Einzelnen und seine Rolle in der menschlichen Gesellschaft enger miteinander verzahnt wurden – und zwar aus der Perspektive des Einzelnen, nicht aus der Perspektive der Obrigkeit. Der Einzelne übernimmt in Hinblick auf die Allgemeinheit eine reflektierte Verantwortung. Dabei ist diese Allgemeinheit schon erkennbar eine Allgemeinheit des 18. Jahrhunderts, in der es zumindest denkbar ist, dass sie nach denselben Regeln lebt. Es ist eine etwas ungebührliche Reduktion eines großen Prinzips der abendländischen Geschichte, aber in gewisser Weise formulierte der kategorische Imperativ jene Verbindung von persönlicher Motivation und Ordnung des Zusammenlebens in der abstrakten Sprache der Vernunft, die die weltlichen und geistlichen Obrigkeiten durch ihre Reformen seit dem frühen 16. Jahrhundert gefördert hatten. Der kategorische Imperativ verlagerte die Verantwortung für diese Verbindung nun auf die Ebene des einzelnen handelnden Bürgers und entkleidete sie aller religiöser Ansprüche. Ein solches Prinzip wäre im Mittelalter mit seinen konkurrierenden Autoritäten, deren absolute Regelungsansprüche nebeneinander bestanden, nicht verständlich gewesen. Das handelnde Individuum, das Kant vor Augen stand, konnte sich bei der Rechtfertigung seiner Handlungen nicht mehr auf seinen adligen oder geistlichen Stand berufen. Es war durch seine

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menschliche Natur denselben Regeln unterworfen, wie die anderen Menschen auch. Das war zumindest die philosophische Theorie. Die Durchdringung der Gesellschaft mit einem zunehmend einheitlicheren Ordnungsanspruch war erkennbar vorangekommen. Wir haben diesen Weg der Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung auf den zurückliegenden Seiten skizziert. Es war ein Weg, auf dem die Akteure Grenzziehungen vorgenommen hatten. Sie hatten ihre Zuständigkeiten und ihre Ansprüche markiert. Und sie hatten Ausschlüsse vorgenommen. Für die jeweiligen Herrschaftsgebiete oder Kirchenbezirke waren verbindlichere Regeln formuliert worden. Allerdings endete die Reichweite dieser Regeln an der jeweiligen Grenze. Als der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm 1685 als Reaktion auf die Aufhebung der Duldung der Hugenotten in Frankreich den nunmehr Verfolgten eine Tolerierung in seinen Landen angeboten hatte, da begann das Edikt mit den Worten: Chur-Brandenburgisches Edict, Betreffend Diejenigen Rechte, Privilegia und andere Wohlthaten, welche Se. Churf.Durchl. zu Brandenburg denen Evangelisch-Reformirten Frantzösischer Nation, so sich in ihren Landen niederlassen werden daselbst zu verstatten gnädigst entschlossen seyn.5 Der Kurfürst hatte die Duldung der verfolgten Hugenotten für den Bereich seiner preussischen Herrschaft deklariert. Für das Königreich Frankreich konnte er dies nicht tun. Die dortige Gesetzgebung fiel nicht in seine Zuständigkeit. Es ging um religiöse Toleranz. In den letzten Herrschaftsjahren Ludwigs XIV. erlebte sie eine schwierige Zeit. Seitdem hatten sich die Zeiten etwas geändert. Nur wenige Jahre bevor Kant seine Metaphysik der Sitten abschloss, hatte Lessing mit Nathan dem Weisen seine Version der Ringparabel im Geist der Toleranz und der Aufklärung vorgelegt. Ein Vater vererbt seinen drei geliebten Söhnen einen Ring mit einer besonderen Kraft, den er nicht teilen kann. Da seine Söhne ihm alle gleichermaßen ergeben sind, lässt er Kopien des Ringes anfertigen, die vom Original nicht mehr zu unterscheiden waren. Froh und freudig ruft/Er seine Söhne, jeden insbesondere;/Gibt jedem insbesondre seinen Segen,-/Und seinen Ring, – und stirbt. Die Kraft des Ringes rührte daher, dass sein Träger an seine Echtheit glaubte. So hatte der Vater durch den besonderen Bund mit jedem seiner Söhne jedem von ihnen dieselbe Kraft vererbt – ohne dass sich der

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echte Ring noch feststellen ließ. Die Ringe standen im multireligiösen Milieu der Handlung für die drei großen Weltreligionen. Sie waren eng miteinander verwoben, und angesichts ihrer gemeinsamen Herkunft konnten die Differenzen zurücktreten.6 Religiöse Verfolgung sollte es nach dem Willen der Aufklärer nicht mehr geben. Lessing dachte nach über Die Erziehung des Menschengeschlechts zu Vernunft und Toleranz. Aber die Zuständigkeit der Gesetzgeber reichte nur so weit wie ihre Herrschaftsgewalt. Wie weit reichte die Gesetzgebungsgewalt für Kants allgemeinen Gesetzgeber? Der Begriff der Gesetze ist in diesem Fall mehrdeutig. Denn Kant unterschied grundsätzlich zwischen ethischer Gesetzgebung und äußerer Gesetzgebung (ius). Die ethische Gesetzgebung richtete sich auf die Motivation der Handlung, die äußere Gesetzgebung auf das Verhalten ohne Berücksichtigung der Motive. Für die äußere Gesetzgebung reichte es, dass ein Bürger ein Verbot beachtete (etwa die günstige Gelegenheit zum Diebstahl auf einem Markt nicht zu nutzen), während die ethische Gesetzgebung verlangte, dass das Motiv für den Verzicht tugendhaft war (also nicht ein Verzicht auf einen Diebstahl, weil der Betreffende als gesuchter Verbrecher nicht auffallen wollte, obwohl er die Gelegenheit gern genutzt hätte, sondern aus Respekt vor dem Eigentum anderer). Die Reichweite solcher allgemeiner ethischer Gesetze konnte weiter sein als die herrschaftlicher Gesetzgeber. Doch die Trennung war aufgrund der engen Verbindung von Ethik und Recht nicht grundsätzlich. Die Vernunftidee einer friedlichen, wenngleich noch nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden, die untereinander in wirksame Verhältnisse treten können, ist nicht etwa philantropisch (ethisch), sondern ein rechtliches Prinzip. So eröffnete Kant den Paragraphen über das Weltbürgerrecht.7 Die Frage nach dem Vergleichshorizont, den der kategorische Imperativ eröffnete, ist damit nicht klar beantwortet. Aber die leichte Unklarheit (die wohl weniger auf Kant als auf das Verständnis des Schreibenden zurückzuführen ist) verweist doch auf eine sehr wichtige Frage. Sie stellt sich dann ein, wenn die Idee einer Menschheit Gestalt annimmt, die über gewisse unveräußerliche Rechte verfügt. Ist es erlaubt, vielleicht gar gefordert, im Namen solcher Rechte auch jenseits der eigenen Zuständigkeit einzugreifen, wenn diese

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Rechte brutal gebrochen werden? Die ethischen Standards gelten auch jenseits der Grenze. Die Staatengemeinschaft tut sich bis in die Gegenwart schwer mit dieser Frage. Im März 1999 sah die NATO die Verstöße gegen die Rechte der (albanischen) Bürger im Kosovo als so gravierend an, dass sie sich zur militärischen Intervention entschloss. Andere Interventionen dieser Art nahmen einen unglücklichen Verlauf (Somalia), und angesichts der Weltlage ist damit zu rechnen, dass sich die Frage weiterhin stellen wird. Befürworter und Gegner haben beide gute Argumente und können auf einschlägige Erfahrungen verweisen. In gewisser Weise beginnt diese Geschichte im späten 18. Jahrhundert und die Spannung entstand aus der Weite des Wertehorizontes, der in Hinblick auf eine Reihe von Grundrechten allmählich die Menschheit umfasste (vorerst in der Theorie, die Sklaverei bestand noch einige Jahrzehnte) und den immer klarer definierten Herrschafts- und Rechtsgrenzen. Zwischen Gesetzen und Sitten herrscht folgender Unterschied: die Gesetze regeln mehr das Verhalten des Bürgers, die Sitten mehr das Verhalten des Menschen, so hatte Montesquieu (16891755) einige Jahrzehnte vor Kant im Geist der Gesetze geschrieben.8 Montesquieu entstammte einer alten, aber mittellosen Adelsfamilie aus der Nähe von Bordeaux. So konnte er, nachdem er 1716 das Amt des Gerichtspräsidenten und die Güter seines Onkels geerbt hatte, die Anfänge des enormen Aufschwungs erleben, der der Stadt in den Jahrzehnten nach 1717 eine Blütezeit bescherte. Kaffee aus Martinique wurde zu einem begehrten und einträglichen Handelsgut. Die wachsenden Handelsverbindungen nach Übersee führten auch dazu, dass Bordeaux zum wichtigsten Auswandererhafen Frankreichs wurde. Die Schiffe aus Bordeaux fuhren in wachsender Zahl auf die Antillen, für die Zeit nach 1730 sind jährlich etwa 125 Reisen bezeugt. Diese Schiffe brachten regelmäßige Neuigkeiten und Geschichten aus dem Leben in Übersee, dem der Auswanderer, aber auch dem der dortigen Bevölkerung. In diesen Jahren begann Montesquieu mit seinem Geist der Gesetze, nachdem er zuvor einige Jahre durch Europa gereist war. Er hatte Sitten, Gebräuche, Gesetze und Verfassungen der Nachbarländer studiert und sich Gedanken über Unterschiede und notwendige Gemeinsamkeiten gemacht. Montesquieu zielte bei seiner Unterscheidung von Gesetzen und Sitten auf eine Differenzierung innerhalb der einzelnen Län-

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der, nicht auf eine Differenzierung der Reichweiten. Gesetze, die das Leben der Bürger regelten, mussten nach seiner Überzeugung dem Volk, für das sie gelten, so eigentümlich sein, daß sie nur durch einen großen Zufall einem anderen Volk auch gemäß sein könnten. Wir erleben, dass die Engländer es vorziehen, ihre Straßen in Fahrtrichtung auf der linken Seite zu befahren, während Kontinentaleuropäer die andere Seite wählen, die Deutschen schließen ihre Läden zu einer Zeit, die die Italiener überrascht. Für Montesquieu wäre dies eine Selbstverständlichkeit. Er stellte fest, dass die Gesetze eines Landes mit seiner physischen Beschaffenheit, dem Klima, den Bodenverhältnissen und der Erwerbstätigkeit der Bewohner im Einklang stehen müssten. Sie müssten dem Freiheitswillen der Bewohner ebenso Rechnung tragen, wie ihrer Religion, ihrer Zahl, und ihren Lebensgewohnheiten.9 Montesquieus Haltung zu Sitten und Gesetzen ist als Relativismus charakterisiert worden.10 Tatsächlich war für ihn ein Gesetz eine Relation (ein Bezug): In Ihrer weitesten Bedeutung sind Gesetze die notwendigen Bezüge, wie sie sich aus der Natur der Dinge ergeben.11 Mit dieser etwas rätselhaften Definition eröffnete er sein Werk und wies damit einen bedeutenden Weg, der durchaus bis in die Gegenwart führt: Welche Regeln für ein Volk oder ein Land die richtigen waren, das hing von den jeweiligen Bedingungen ab. Ohne die Berücksichtigung der jeweiligen Umstände ließ sich nicht sagen, ob Gesetze gut oder schlecht waren. Auch Montesquieu ging davon aus, dass der Menschenverstand sich in den Gesetzen ausdrücke. Aber anders als bei dem eine Generation älteren Pufendorf war dieser Verstand kein ausreichender Gradmesser für die Qualität eines Gesetzes. Dazu musste man (in der Theorie) die Mühe auf sich nehmen, und die betreffenden Länder bereisen, um ihre spezifische Erscheinung kennenzulernen. So wie die fiktiven Perser, die Montesquieu ihre Erfahrungen in Frankreich in einer Briefkorrespondenz austauschen ließ. In ihr schlug sich die neue Auseinandersetzung mit den fremden Kulturen in überraschender Form nieder. Europa blieb der Maßstab der Aufklärer, aber die Akteure aus fremden Kulturen wurden zu einer vorstellbaren Größe. Montesquieus Persische Briefe und Der Geist der Gesetze gehören zur großen Tradition der europäischen Aufklärung. Sie verwiesen auch auf eine Alternative zum ethischen Universalismus, den viele Anhänger der Aufklärung für eine notwen-

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dige Folge der Vernunft hielten. Gesetze und Sitten sollten vernünftig und der Situation angemessen sein, aber sie mussten nicht notwendigerweise gleich sein. Die Erhebung der Vernunft zu einem sozialen Maßstab hatte das europäische Wertespektrum bedeutend erweitert. Sie schlug Brücken über Grenzen, aber sie schaffte diese Grenzen allenfalls in der Theorie ab. In der europäischen Realität verfestigten sie sich zunehmend. Und mancher Aufklärer verlieh dieser Grenzziehung seine Stimme. Pufendorf und Jefferson hatten die staatliche Gewalt als Garant der natürlichen Rechte des Menschen angesehen. Die staatliche Gewalt hatte eine begrenzte Reichweite. Innerhalb der Staaten lebten die meisten Menschen ohne die weiten Bezüge und die Mobilität mancher gelehrter Aufklärer. Diese Menschen waren ortsgebunden, eingebunden in die Familie, ihren Lebenserwerb, viele in ihre Kirche. Ihr Leben wurde durch Sitten und Regeln bestimmt, die, wie Montesquieu mit klarem Blick gesehen hatte, stark variierten. In einer Zeit, in der diese Menschen begannen, die Regeln, die ihr Leben bestimmten, die Sitten und Gebräuche, mit denen sie groß geworden waren, mit den politischen Ansprüchen zu verbinden, die sie gegenüber ihrer Obrigkeit artikulierten, entstand aus staatlicher Ordnung und der Tradition von Lebensweise und Wertvorstellungen eine eigene Identität. Das Nationalgefühl hatte eine Tradition, die mancherorts vielleicht bis in das späte Mittelalter zurückging. Im 18. Jahrhundert erfuhr es die spezifische Verbindung von politischer und kultureller Identität. Diese Verbindung setzte voraus, dass die Träger des Nationalgefühls auch ein Bewusstsein für eine staatliche Verantwortung entwickelten: Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika (Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten, 1787).12 Das 18. Jahrhundert wurde zu einer Zeit, in der das Gefühl für die spezifischen Besonderheiten der europäischen Kulturen, Traditionen, Lebensweisen und Wertvorstellungen mit der Vorstellung

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zusammenging, dass diese Unterschiede ihren Ausdruck in getrennten staatlichen Einheiten finden sollten. Ein wesentliches Medium in diesem Prozess war die Sprache. Als Montesquieu in der Mitte des Jahrhunderts die Notwendigkeit dargelegt hatte, auf die verschiedenen Sitten und Lebenssituationen der Völker mit unterschiedlichen Gesetzen zu reagieren, hatte er unter den Kräften, die das Leben der Völker prägten, die Sprache nicht aufgeführt. Montesquieu hatte zu jenem Netzwerk gelehrter Männer gehört, die ihre Gedanken über die Grenzen austauschen konnten, weil sie die Sprache der anderen verstanden. Französisch war zudem an vielen Höfen Europas geläufig. Grotius und Pufendorf hatten ihre Schriften auf Latein verfasst, der Sprache der Gelehrten ihrer Zeit. Doch im Laufe des 18. Jahrhunderts nahm die Bedeutung volkssprachlicher Schriften erkennbar zu. Darin schlug sich auch eine soziale Erweiterung des Leserkreises nieder, der nun zunehmend bürgerliche Leser in namhafter Zahl umfasste. Die Vorstellung, dass die Staaten, die die notwendige soziale Ordnung und die Rechte der einzelnen Menschen garantieren sollten, keine abstrakten Größen waren, sondern aus den vermeintlichen Eigenschaften, Sitten, Werten und auch der Herkunft ihrer Bewohner eine lebendige Notwendigkeit gewannen, nahm erkennbar zu. Staaten erlangten ihre eigentliche Bestimmung als Nationalstaaten. Es ist aufschlussreich, dass die Ereignisse, die am Ende des 18. Jahrhunderts in besonderer Weise auf die Universalität der natürlichen Rechte des Menschen verwiesen – die amerikanische und die französische Revolution – gleichzeitig als nationale Ereignisse in die Geschichte eingegangen sind. Die Französische Revolution führte schon bald zu einer Serie von Kriegen mit den Nachbarn, die in Napoleons bis dahin beispiellosen Eroberungen einen Höhepunkt erreichten. Es brach eine Zeit an, in der universale Ansprüche auf eigentümliche Weise in eine Spannung mit nationalen Grenzen traten. Am Ende des 13. Jahrhunderts war das französische Königtum unter Philipp dem Schönen dem universalen Anspruch des Papstes auf die Herrschaft in der ganzen Christenheit energisch begegnet. Auch in dem neuen Kapitel der bewegten Geschichte europäischer Wertvorstellungen im Spannungsfeld von universalem Standard und nationaler Umsetzung nahm Frankreich eine Vorreiterrolle ein. Die Französische Revolution war ein Einschnitt von gewaltiger historischer Tragweite.13 Sie erschütterte die politische und sozia-

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le Ordnung, die in Europa seit Jahrhunderten geherrscht hatte. Die Umwälzungen, die sie auslöste, haben bis in die Gegenwart nachgewirkt. Die Französische Revolution war nach den Erkenntnisse der neueren Forschung eher ein Ineinander von drei Revolutionen: die Revolution der Abgeordneten der Generalstände in Versailles, die städtische Revolution der Kleinbürger und unterbürgerlichen Schichten und die Revolution der Bauern. Diese Revolutionen wurden durch eine aktuelle Finanzkrise Frankreichs in den 1780er Jahren ausgelöst und nahmen zum Teil einen zunächst unabhängigen Verlauf, um sich dann zu überlagern. Als der König in einer aktuellen Finanzkrise 1788 die Parlamente seines Königreichs einberief, um sie zur Bewilligung neuer Anleihen zu veranlassen, erhielt die Unzufriedenheit mit den Zuständen in Frankreich eine Bühne. Es war der Prolog zu einem revolutionären Geschehen von enormer Tragweite – verschärft durch aktuelle Missernten. Angesichts der Haltung Ludwigs XVI. gegenüber den Problemen des Landes konstituierte sich die Nationalversammlung aus der ursprünglichen Ständeversammlung mit der Aufgabe, eine Verfassung zu erarbeiten. Eine Verfassung sollte die Regeln festlegen, die für alle Franzosen galten – unabhängig von ihrem Stand. Mehr als die Hälfte der Abgeordneten entstammten dem bürgerlichen dritten Stand. Um ihren Anteil an den Entscheidungen wurde gerungen. In Paris wuchs derweil die Unruhe. Am 14. Juli 1789 stürmte das Volk von Paris das königliche Gefängnis, die Bastille. Im Oktober zwang die Bevölkerung den König, aus Versailles nach Paris zu kommen und dort zu residieren. Unterdessen formierten sich die Lager: auch der König hatte starke Verbündete. In der folgenden Zeit radikalisierten sich die Positionen, dazu kam, dass das Ausland die Revolution zum Anlass nahm, Frankreich anzugreifen. Die Stimmung wurde unbarmherziger. Am 21. Januar 1794 wurde Ludwig XVI. hingerichtet. Die Gegner der Revolution erhoben sich gegen die neuen Machthaber. Der Krieg mit den Nachbarn verlief nicht günstig. In dieser Situation wurde Maximilien Robespierre an die Spitze des erst im April geschaffenen neuen Exekutivgremiums, des Wohlfahrtsausschusses gewählt. Auf die Bedrohung im Innern und im Äußern antworteten die Revolutionäre mit äußerster Entschlossenheit. Erstmals in der europäischen Geschichte wurde eine allgemeine Wehrpflicht ein-

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geführt und das ganze Volk zu den Waffen oder der Unterstützung der Kämpfenden gerufen. Dadurch wurde die Revolution vor ihren äußeren Feinden gerettet. Die Aufstände im Innern wurden mit großer Brutalität und grausamer Konsequenz niedergeworfen. Die Revolution erlebte die dunkle Zeit des Terrors, aber sie konnte sich behaupten. Die Selbstbehauptung hatte ihren Preis – den Aufstieg Napoleons zum Alleinherrscher, der in den letzten Tagen des alten Jahrhunderts auf zunächst 10 Jahre mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet wurde. Fünf Jahre später folgte die Kaiserkrönung des vormaligen Revolutionärs. Bis zu seiner endgültigen Niederlage im Juni 1815 bei Waterloo hatte Napoleon mit seinen Truppen zwischenzeitlich eine machtvolle Hegemonie auf dem Kontinent errichtet, die die neuen Gesetzmäßigkeiten des 19. Jahrhunderts ankündigte. In der historischen Disziplin beginnt mit der französischen Revolution die Neuere Geschichte. Die europäische Geschichte der Neuzeit ist so komplex, vielgestaltig und spannungsreich, dass hier nur einige Grundlinien skizziert werden können, die die Werteordnungen dieser Zeit geprägt haben. Dabei kommt es vor allem auf die veränderte Dynamik dieser Epoche an. Das Tempo und der Charakter der Konflikte änderten sich. Diese Änderungen waren die Folgen sozialer Umbrüche und einer rasanten technischen Entwicklung. Es entstand manches Neue und das Alte erschien in neuem Licht. Die Dramatik der revolutionären Ereignisse und die napoleonischen Eroberungszüge in der Folge der Revolution ließen die alte Ordnung auch in anderen Ländern in Europa wanken. Sie wankte, aber sie fiel nicht. Sie mobilisierte ihre Kräfte. Mit der Niederlage Napoleons setzte die Restauration der alten Obrigkeiten, ihrer Werte und Strukturen ein, die sich auf eigentümliche Weise mit den Neuerungen verbanden. So hatten Napoleons Säkularisationen die Macht der Kirche erheblich erschüttert, die über die langen Jahrhunderte seit ihrem Aufschwung im Mittelalter Landbesitz in großem Umfang erworben hatte. Gegen die Reformer und Eroberer, die unter Verweis auf die französischen Entwicklungen traditionelle Autoritäten in Frage stellten, erstarkten aber auch die Vertreter der Traditionen, der Königsund Fürstenhäuser und der Konfessionen. Sie belebten die vielschichtige Tradition nun in dem Geist und mit den Mitteln des neunzehnten Jahrhunderts. Der Geist und die Mittel ließen diese

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erneuerten Traditionen eindeutiger erscheinen, als sie es jemals gewesen waren. Die beginnende sozial übergreifende Eindeutigkeit gab der neuen Epoche einen besonderen Charakter. Sie äußerte sich auf ganz unterschiedlichen Feldern, und sie richtete ihren Anspruch auf die Gegenwart und die Zukunft, aber sie prägte mit diesem Geist auch das Verständnis der Vergangenheit: Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. So hatte Friedrich von Hardenberg – Novalis – seine programmatische und wirkungsvolle Schrift Die Christenheit oder Europa im Jahr 1799 eingeleitet.14 Sie entwarf das romantische Gegenbild zu den spannungsvollen Aufbrüchen seiner Zeit und zeichnete ein Mittelalter, das es niemals gegeben hatte. Wir haben gesehen, wie sehr die soziale Realität des Mittelalters dem Ideal der Einheit widersprochen hatte. Das Mittelalter hatte die Einheit dennoch behauptet und die Einmütigkeit als Ideal aufrechterhalten, weil die Zeitgenossen dieser Epoche die große Zahl von Menschen, die über keinen Besitz verfügten und weder Geistliche noch Adlige waren, aus dem Bild ausklammern konnten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich das geändert. Das revolutionäre Frankreich rief in bedrohter Lage das ganze Volk zu den Waffen: Die jungen Männer werden in den Kampf ziehen, die verheirateten werden Waffen schmieden, das Heer versorgen und den Unterhalt der Nation sichern. Die Frauen werden Uniformen und Zelte nähen und in den Krankenhäusern Dienst tun. Die Kinder werden Leinen zupfen und ihre reinen Hände zum Himmel erheben, die Greise werden das Beispiel der alten Völker nachahmen, sich auf die öffentlichen Plätze tragen lassen, um den Kriegern Mut und Haß gegen die Könige zu predigen.15 Mit diesen Worten beschloss der französische Konvent im August 1793 die allgemeine Mobilmachung. Der Krieg und der Kampf um die revolutionären Werte waren ein Anliegen des ganzen Volkes geworden. Nach Jahrhunderten der kalkulierten Kriege mit (kleinen) Ritterheeren oder bezahlten Söldnern und Landsknechten änderte der Krieg sein Gesicht. Es hatte auch in der Frühen Neuzeit erbitterte Kämpfe um die eigene Heimat gegeben, aber dass der Kampf nun zu einer Ange-

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legenheit der ganzen Nation wurde, war eine neue Erscheinung. Die neuen Kriege mobilisierten ganze Länder in einer Weise, in der der Krieg gegen die Perser Athen mobilisiert hatte. Der Mobilisierungsgrad veränderte den Charakter der europäischen Kriege. Wenn alle jungen Männer eines Landes zu einem Kampf auf Leben und Tod gerufen wurden, dann war das Land in ganz anderer Weise an den Entscheidungen beteiligt. Familie, Freunde, Verlobte mussten eine Position zu dem blutigen Geschehen einnehmen, das ihr ganzes Leben verändern konnte.16 Aus einer modernen Perspektive, die den furchtbaren Preis dieser Kriege berücksichtigen muss, sehen wir die Werbung für den Krieg als Propaganda. Die Verbindung von Werten mit dem blutigen Geschehen auf den europäischen Schlachtfeldern des 19. und 20. Jahrhunderts fällt uns zu Recht schwer. Doch ist dies die historische Perspektive. Es war nicht nur die Technik und eine kriegsverherrlichende Propaganda, die eine Gewalt in die europäische Geschichte brachte, die frühere Epochen nicht gekannt hatten. Es war auch eine neue Gesinnung mit einer breiten Trägerschaft, die diese neue Unerbittlichkeit herbei führte. Zwei kurze Passagen aus Clausewitz’ (1780-1831) berühmten Buch Vom Kriege lassen den Wandel erkennen: ... nach dem alle diese Fälle gezeigt haben, welch ein ungeheurer Faktor in dem Produkt der Staats-, Kriegs- und Streitkräfte das Herz und die Gesinnung der Nation sei,- nachdem die Regierungen all diese Hilfsmittel kennengelernt haben, ist nicht zu erwarten, daß sie dieselben in künftigen Kriegen unbenutzt lassen werden. 17 Wenn wir von der Vernichtung der feindlichen Streitmacht sprechen, so müssen wir hier ausdrücklich darauf aufmerksam machen, daß uns nichts zwingt, diesen Begriff auf die bloße physische Streitmacht zu beschränken, sondern vielmehr die moralische notwendig darunter mit verstanden werden muß, weil beide sich bis in die kleinsten Teile durchdringen und deshalb gar nicht voneinander zu trennen sind.18 Clausewitz’ Schrift erschien nach seinem Tode und erreichte eine enorme Wirkung. Die neuen Realitäten des 19. Jahrhunderts mit der Kraft der nationalen Leidenschaften schlugen sich in dem Werk nieder, das den Krieg gleichwohl als ein erweitertes Mittel

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legitimer Politik ansah. Womit Clausewitz in gewisser Weise in einer Tradition mit Hugo Grotius stand, wenngleich er sich nicht um einen überparteiischen Standpunkt bemühte. Es war die Tradition des alten Europas, das den bewaffneten Konflikt als Mittel des Interessenaustrags selbstverständlich gekannt hatte, und das sich um eine Integration dieses Mittels in eine vernunftgesteuerte Ordnung bemühte. Doch die geänderte Realität entfesselte in den späteren Jahrzehnten des 19. und den beginnenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kriegerische Kräfte, die sich in keine vernünftige Ordnung mehr fügen ließen. Das Ausmaß der Gewalt des 1. und des 2. Weltkrieges richtete sich schließlich gegen jegliche humane Tradition, die Europa in seiner langen Geschichte hervorgebracht hatte. Wenn in den Schützengräben von Verdun oder in der Schlacht an der Somme für wenige Kilometer Geländegewinn, der schon bald wieder verlorenging, junge Männer zu Hunderttausenden in den Tod geschickt wurden, dann verloren ethische Ordnungen ihren Sinn. Ein Kern des Problems klang bereits bei Clausewitz an. Wenn er von der Vernichtung der moralischen Streitmacht des Gegners spricht – und die zwei Weltkriege auf europäischen Boden bieten dafür ein ganzes Spektrum trauriger Beispiele – dann ging es um den Kampf gegen das, was für den Gegner einen wichtigen Wert darstellte. Wenn der Gegner sah, dass die Fortsetzung des Kampfes diese Werte in Gefahr brachte, dann mochte er seine Entscheidung überdenken. In ähnlicher Weise konnte man gegen den Widerstand in besetzten Gebieten vorgehen. Wer dafür kämpfte, was ihm im Leben wertvoll war, der hatte auch viel zu verlieren. Es hat wichtige Versuche gegeben, dem Ausmaß der Gewalt durch überstaatliche Vereinbarungen zu begegnen, wie die Haager Landkriegsordnung von 1907 und die Genfer Konventionen von 1949. Am Kern des Problems konnten sie kaum etwas ändern, einem Geist, der die Regeln der eigenen Humanität im Konfliktfall nur für die Anhänger der eigenen Nation oder ihrer Verbündeten gelten ließ. Die sozialen Veränderungen des 19. Jahrhunderts schlugen sich keineswegs sogleich in einer erweiterten politischen Mitsprache von Bürgertum und Arbeiterschicht nieder. Ein Frauenwahlrecht sucht man auch in den parlamentarischen Ordnungen dieser Zeit vergebens. Aber der gesellschaftliche Wandel veränderte doch das

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Leben in einer Weise, die für zurückliegende Epochen überraschend gewesen waren. Die schiere Zahl wurde zu einer bedeutenden Größe. Die französische Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht am Ende des 18. Jahrhunderts wurde als Massenerhebung bezeichnet. Die Masse war nicht nur eine militärische Größe, sie begann auch das kulturelle und politische Leben zu prägen. Gegenwärtig geht alle Individualität in der Masse unter. In der Politik ist es fast eine Trivialität zu sagen, daß die öffentliche Meinung jetzt die Welt beherrscht. So klagte der englische Ökonom und Philosoph John Stuart Mill (1806-1873) in seinem einflussreichen Traktat Über die Freiheit (1859).19 Es ist ein radikales Plädoyer für eine absolute persönliche Freiheit, die ihre Grenze nur dort findet, wo sie dem Mitmenschen schadet. Bis zu jenem Punkt sollte jedermann das Recht haben, sein eigenes Leben ohne moralische oder andere Vorgaben seiner Mitmenschen zu führen. Er trug dafür auch die Verantwortung. Bei Mill bezog sich diese Freiheit nicht nur auf Männer. Er war, für seine Zeitgenossen ungewöhnlich, und durch seine Frau Harriet Taylor beeinflusst, ein Verteidiger weitreichender Frauenrechte. Über die Freiheit war eine erkennbare Reaktion auf eine öffentliche Moral, die dem Liberalen Mill als bedrückend und einschnürend erschien. Für ihn lag die Stärke Europas nicht in der Einheitlichkeit. Es sei gerade die Vielfalt der Wege gewesen, die Individuen, Klassen und Nationen eingeschlagen hätten, die Europas Stellung in der Welt begründet hätten.20 Mill sah jene Phasen der europäischen Geschichte, die mit überkommenen Autoritäten gebrochen hätten, in ihrer Dynamik als prägend an: die Jahrzehnte nach der Reformation, die Philosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die kurze Phase des deutschen Geisteslebens in der Zeit Goethes und Fichtes. Der Impuls, den diese drei Perioden vermittelten, hat Europa zu dem gemacht, was es heute ist.21 Der vereinheitlichende Impuls seiner Zeit, den Mill geistreich beklagte, wurde indes von einer Dynamik vorangetrieben, die zum Zeitpunkt der Abfassung seines Traktats erst eingesetzt hatte.22 Mill hatte die Frühgeschichte der Eisenbahn und des Telegraphen erlebt. Der Ausbau des Schienennetzes hatte in dem Jahrzehnt, das vor der Mitte des 19. Jahrhunderts lag, einen deutlichen Schritt nach vorn gemacht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Streckenausbau des weltweiten Schienennetzes noch einmal mehr als ver-

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zehnfacht. Über das Schienennetz, das um das Jahr 1900 etwa eine halbe Millionen Kilometer umfasste, fuhren immer schnellere Züge. Während der Zug auf der ersten kommerziellen englischen Trasse zwischen Liverpool und Manchester 1830 noch 48 km/h in der Spitze erreichte, konnten in Frankreich um die Mitte des Jahrhunderts schon Züge über 100 km/h fahren, um 1900 erreichten die nunmehr elektrifizierten Züge in den USA und Deutschland Spitzenwerte um die 200 km/h. Dazu kam ein Telegraphennetz, das im Jahr vor dem Erscheinen von Mills Traktat erstmals Europa mit Amerika durch ein Seekabel verband. Um 1900 waren Westeuropa und die USA durch ein dichtes Schienennetz erschlossen und durch zahlreiche Telegraphenlinien miteinander verbunden. Die Welt rückte durch die immer schnellere Übermittlung von Nachrichten immer enger zusammen. Noch zu Lebzeiten von Mill gelang es 1871, das Ergebnis von Londoner Pferderennen innerhalb weniger Minuten in die englische Kolonie nach Kalkutta zu übermitteln.23 Die Schnelligkeit der Nachrichtenübermittlung wurde zum Pulsschlag der Tagespresse, die ein wachsendes Publikum mit Informationen und Meinungen versorgte. Mills öffentliche Meinung wurde aus vielen Quellen gespeist und sie pflanzte sich auf vergleichbar breiten Wegen durch Europa und die Welt fort. Sir Francis Drake hatte im späten 16. Jahrhundert etwas mehr als tausend Tage gebraucht, um die Welt zu umrunden und reich beladen heimzukehren. Phileas Fogg, Esq. benötigte im Jahr 1873 neunundsiebzig Tage für seine fiktive, aber vorstellbare Reise um die Welt.24 Als Mill im selbstgewählten Exil in Avignon im selben Jahr 1873 starb, hatte seine neue französische Heimat gerade einen Krieg verloren, aus dem Deutschland als ein Kaiserreich hervorgegangen war. Die Zeit stand weniger im Zeichen individueller Freiheiten als nationaler Gesinnungen. Die Verschiedenheit der Wege, die Mill als Europas Stärke gesehen hatte, wich eher einem Wettlauf auf demselben Weg. Die Spätphase des 19. Jahrhunderts erlebte den Höhepunkt des Imperialismus, der die Herrschaft über Afrika selbstverständlich unter den europäischen Mächten verteilte. Aber es zeigte sich noch auf einem anderen Gebiet, dass die Konkurrenz zunahm. Das 19. Jahrhundert war eine Zeit großer sozialer und politischer Umbrüche und es war eine Zeit der Geschichte. Die Auseinandersetzung mit der menschlichen Geschichte, die Versuche, einen möglichen Plan für

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die Geschehnisse zu ergründen, die das menschliche Leben mitunter erschütterten, hatten eine lange Tradition. Der Anspruch allerdings, die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte mit wissenschaftlicher Systematik zu bestimmen, der in der Aufklärung anklang, gewann im 19. Jahrhundert an Kraft. Es war ein Jahrhundert großer Geschichtserzählungen. Autoren wie Jules Michelet, Thomas Carlyle oder Leopold von Ranke vermittelten ihren Zeitgenossen wirkungsmächtige Bilder ihrer Vergangenheit. Und die Geschichte war noch nicht an ihr Ende gelangt. Karl Marx’ Deutung der Geschichte als Folge von Klassenkämpfen, die auf ein Ziel in der klassenlosen Gesellschaft zuliefen, hat bis in das weit in das 20. Jahrhundert hinein viele Menschen mobilisiert. Für die vielen Anhänger dieser Weltsicht und anderer historischen Perspektiven stand das Schicksal der Menschheit zur Entscheidung. Die Welt war in einem Maße zusammengerückt, wie es in den vielen Jahrhunderten der europäischen Geschichte zuvor nicht denkbar gewesen war. Alle älteren Ordnungsvorstellungen waren mit Blick auf eine Umwelt verfasst worden, die allein durch ihre Erstreckung und durch ihre naturräumlichen Widerstände jeden ambitionierten Entwurf durch schwer passierbare Berge, gefährliche Wälder oder widrige Winde verlangsamte. Die Reaktionszeiten gaben dem Einzelnen meist Raum zur ruhigen Beratung und Entscheidung. Sie gaben ihm auch die Möglichkeit, sich der Entscheidung einfach zu entziehen. Als Jerusalem am 8. Juli 1187 seine Tore für den siegreichen Saladin öffnete, fiel ein Symbol der Kreuzzugspolitik, die seit dem Beginn der Kreuzzüge fast 100 Jahre zuvor sehr viele Menschen in Europa bewegt hatte. Es dauerte im Fall Friedrich Barbarossas zwei, im Falle des englischen und des französischen Königs sogar fast drei Jahre, bis die Kreuzfahrer in Europa zu einem Zug aufbrachen, um Jerusalem zurückzugewinnen.25 Das war nach den Standards des Mittelalters keine besonders lange Reaktionszeit. Ein so hektischer und gefährlicher Rhythmus wie in der Julikrise 1914, die zum Ausbruch des 1. Weltkrieges führte, war in den Jahrhunderten vor der Einführung der Eisenbahn und des Telefons nicht denkbar.26 Die Beschleunigung der Nachrichtenübermittlung, die das moderne Leben in vieler Hinsicht erleichtert und bereichert hat, konnte in Spannungssituationen auch krisenverschärfend wirken.

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Die beschleunigte Kommunikation veränderte die Einbindung des Einzelnen in die soziale Ordnung nachhaltig. Es wurde schwerer, sich einer Anordnung zu entziehen, die in einem persönlichen Telefonat übermittelt wurde. Das historische Interesse des 19. Jahrhunderts stärkte das Bewusstsein für Traditionen. In manchen Fällen entstanden diese Traditionen erst im historischen Rückblick.27 Der historische Rückblick zeigte den Menschen des 19. Jahrhunderts hierarchische Traditionen (etwa in der Kirche), die ihre autoritären Ansprüche im Laufe der langen europäischen Geschichte auch deshalb so massiv formuliert hatten, weil ihre Köpfe die vielfachen Widerstände immer berücksichtigen mussten. Die technischen Fortschritte halfen nun, viele dieser naturräumlichen Widerstände zu überwinden. Die Verbindung der weitgehenden hierarchischen Ansprüche mit den technischen Möglichkeiten der einsetzenden Moderne förderte eine Kultur der sozialen Einordnung, die es in der Geschichte bis dahin nur in speziellen Milieus, wie der Armee oder den kirchlichen Orden, gegeben hatte. Die Verunsicherung, die die Moderne in manches traditionelle Milieu hinein trug, wie etwa in die katholische Kirche, beförderte die Hinwendung zu einer Tradition, die sich etwa in der Erhebung des Thomas von Aquin zum verbindlichen Kirchenlehrer oder im Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes niederschlugen. Es waren Versuche, in einer ins Wanken geratenen Welt feste Orientierungspunkte zu setzen. Diese Hinwendung zur Geschichte in den Beunruhigungen der Gegenwart entkleidete die Tradition ihrer inneren Widersprüche. Sie erschien eindeutiger, als zu den Zeiten, in denen sie noch eine lebendige Gegenwart gewesen war. In Hinblick auf die Werteordnung, die als lebendige Ordnung eine Auseinandersetzung mit den Anforderungen der jeweiligen Gegenwart sein sollte, war eine solche historische Haltung weniger ergiebig. Die Hinwendung zur Geschichte vermochte zudem keine überzeugende Antwort auf die soziale Frage zu geben, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer drängender geworden war.28 Die Arbeiterbewegung war keine einige, aber eine starke Kraft, die in einem eigenen Verständnis von der Geschichte ihre Zeit in der Zukunft kommen sah. Der soziale Wandel beförderte ein Klassenbewusstsein und eine Einbindung in soziale Milieus, die ihre jeweils eigenen Traditionen pflegten. Aber der Wandel stellte auch

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viele Traditionen des alten Europa in Frage. Die Romane Thomas Manns spiegeln die Veränderungen und die Verunsicherung der bürgerlichen Welt, in der der Einzelne versuchte, sich in einer Welt zu behaupten, die zwischen sittlicher Ordnung und Todessehnsucht schwankte. Die äußerliche Ordnung der bürgerlichen Welt bot keine dauernde Sicherheit gegen die stärker werdende psychische Faszination der Auflösung der bürgerlichen Werte. Nietzsches Formel von der Umwertung aller Werte war ein besonders radikaler Ausdruck des neuen Weltgefühls, dem die Verlässlichkeit alter Wahrheiten abhanden gekommen war. Hier zeigte sich die Schärfe der Gegensätze des 19. Jahrhunderts: Auf der einen Seite wurden die alten religiösen Lebensformen zur verbindlichen Leitlinie erhoben, und mit neuer Schärfe eingefordert, auf der anderen Seite stand Nietzsches illusionslose Feststellung: Gott ist tot. Gott bleibt tot. Und wir haben ihn getötet.29 Die radikale Erkenntnis, dass es keine objektive Ordnung gab, weil die absolute Bezugsgröße abhanden gekommen war, die einer solchen Ordnung einen Orientierungspunkt gegeben hätte, machte den Menschen zum alleinigen Herrn seines Schicksals. Nietzsche gab einer Haltung Ausdruck, der alle Moral fragwürdig wurde, weil alle moralischen Ordnungen (die christliche besonders, aber auch die vernunftgestützte) letztlich einer absoluten Fixierung bedurften.30 Nietzsche selbst wurde nicht zum Agitator seiner Lehren, die manche schlimme Verzeichnung erfuhren. Er musste sich nach schwerer Erkrankung früh aus seiner Tätigkeit als Professor für klassische Philologie in Basel zurückziehen und starb schließlich in einer Irrenanstalt. Aber seine kraftvolle, aphorismenreichen Sprache entfaltete nach seinem Tod 1900 eine starke Wirkung, weil sie einer Kulturkritik Worte verlieh, die den Nerv vieler Menschen trafen. Die absoluten Bezugspunkte der europäischen Tradition – gesetzt durch Gott oder durch die Vernunft – hielten in den Augen dieser Menschen der Kritik nicht weiter stand. Die Werteordnung des alten Europa war in hohem Maße in einer abstrakten Rationalität begründet. Das galt für die christliche Tradition, das galt aber auch für ihre Gegenspieler, die die Verhaltensnormen nicht mehr auf das göttliche Gebot zurückführten, die diese Normen selber aber nicht in Frage stellten. Tatsächlich hatten die Menschen die meiste Zeit der europäischen Geschichte in Umständen gelebt, die ihnen in Hinblick auf ihre Verhaltensregeln

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zwar Spielräume, aber keine radikalen Alternativen ermöglichten. Das Leben im alten Europa folgte für die meisten Menschen dem Rhythmus der Natur. Es war die längste Zeit vorwiegend eine agrarische Welt. Es war eine Welt, in der das Handeln der Menschen Folgen hatte, die sie durch ihr Handeln aber nicht grundsätzlich ändern konnten. Für die meisten Menschen war das alte Europa eine Welt mit engen Spielräumen. Eine solche Welt war keine Umgebung für radikale Umwertungen. Es war schwer genug, am Leben zu bleiben. Diese bescheidene Rolle des Menschen in der erlebten Geschichte änderte sich im späten 19. Jahrhundert. Viele Menschen machten diese Erfahrung. Dazu musste man nicht Nietzsche lesen. Die Erfahrung, dass der Mensch immer mehr zum Schicksal des Menschen wurde, war eine Erfahrung des Alltags. Die technische Emanzipation der Menschen von ihrer natürlichen Umwelt ging in schnellen Schritten voran. Die Elektrifizierung versorgte um 1900 bereits viele Stadtteile mit elektrischem Licht. Die Techniker hatten für die Beschleunigung des Handels den Suez- und den Panamakanal gebaut, die Bergmassive wurden von langen Tunneln durchquert und die Luftfahrt begann, zu einem Geschäft zu werden. Für Manchen ergab sich aus diesen Möglichkeiten der Blick auf neue Welten. Für andere wurden die Werte, die ihr bisheriges Leben getragen hatten, umso wertvoller. Doch die Entscheidung für die Beibehaltung oder für die Verteidigung der alten Werte, veränderte die Position des Menschen innerhalb einer Ordnung, die noch immer durch traditionelle Elemente bestimmt wurde. Die Achse dieser Ordnung verschob sich in Richtung des Menschen, der in ihr lebte. Er stand zunehmend in ihrem Zentrum. Die Texte der Wiener Moderne um die Jahrhundertwende, von Hugo von Hofmannstal und Arthur Schnitzler, standen für diesen eigentümlichen Geist. Die Akteure bewegten sich noch in ererbten Formen, aber sie taten es in kalkulierender Absicht. Während sie die traditionellen Handlungen vollzogen, schienen sie sich bereits über die Schulter zu schauen, in der Erwartung der Erlösung, die die Belohnung für ihr Tun sein sollte. Der Handelnde rückt in dieser Traditionsbildung ins Zentrum, er ist nicht mehr nur Teil einer größeren Ordnung, die ihren Regeln ganz unabhängig von ihm folgt. Diese Entwicklung, die in hohem Maße eine Entwicklung der Technik war, durch die sich die Menschen von den Regeln des

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Naturkreislaufs emanzipierten, bereitete den Weg für die Entstehung der Werte im modernen Sinne. Es war ein durchaus gegenläufiger Prozess. Denn während diese Traditionsbildung den Menschen stärker in den Mittelpunkt des Geschehens rückte, entwickelte die technische Welt allmählich ihre eigenen, anonymen Gesetze. Die Kunst hat diese Automatisierung vielfach aufgegriffen und ihr Ausdruck verliehen. Im realen Arbeitsleben der Modern Times war der Einzelne nur ein Rädchen im Getriebe. Die Frage nach dem Wert, die ursprünglich eine ökonomische Frage gewesen war, war die Frage danach, was eine Sache, aber auch ein Prinzip oder eine persönliche Bindung für die jeweils fragende Person für eine Bedeutung hatte. Der Wert, oder die gesellschaftlichen Werte ließen sich nur in Hinblick auf die Person, auf eine Gruppe von Menschen, auf eine ganze Gesellschaft, evtl. auch auf die ganze Menschheit, bestimmen. Die Relativität der Antwort lag in der Natur der Frage begründet. Die Frage war bereits im späten 19. Jahrhundert aufgekommen. Sie wurde mit Blick auf die enorme Breite des Spektrums der menschlichen Erfahrungen und Möglichkeiten sehr unterschiedlich beantwortet. Hoffnungsfrohe Zukunftsentwürfe gingen in den furchtbaren Erfahrungen des ersten Weltkrieges unter. Alle Straßen enden in schwarze Verwesung (Georg Trakl).31 Die traumatische Erfahrung einer jungen Generation ließ für viele die alten Ordnungen endgültig zerbrechen. Fragwürdig geworden waren sie bereits zuvor. Es galt persönliche Antworten auf persönliche Fragen zu finden. Die Zeit zwischen den Weltkriegen ist von der späteren Hinwendung vieler Deutscher zu der verbrecherischen Ordnung der Nationalsozialisten überschattet. Tatsächlich war es auch eine Zeit vieler kreativer Aufbrüche: in der Literatur von Thomas Mann, Robert Musil oder Rainer Maria Rilke, in der Malerei von Georges Braques oder Pablo Picasso, in der Musik von Strawinsky, Gershwin, dem Jazz und so vieler anderer. Die Werke von Sigmund Freud und Albert Einstein begründeten einen neuen Blick auf die Menschen und die sie umgebende Welt. Die Wirtschaftskrise der späten 1920er Jahre überschattete diese Aufbrüche und verschärfte in Deutschland eine Haltung, die nationale Traditionen pervertierte und ein verbrecherisches Weltbild verabsolutierte. Die Wege, die zu Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust führten, lassen sich nicht in wenigen Sätzen skizzieren.

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18. Von der Aufklärung bis zur modernen Gegenwart

Die historische Forschung hat eine Fülle von Erklärungsversuchen unternommen und eine eindrucksvolle Zahl von empirischen Studien vorgelegt, die das Aufkommen, die Durchsetzung und das Ende der nationalsozialistischen Ordnung dargestellt haben.32 Die beklemmende Frage, wie in einem Land, das zu der Tradition europäischer Werte bedeutende Beiträge geleistet hat, ein System menschenverachtender Barbarei Einzug halten konnte, lässt sich nicht schlüssig beantworten. Die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft – und der vor allem deutschen Mittäter- und Mitläuferschaft – hinterlassen neben dem vielteiligen Ordnungsgefüge europäischer Werte einen finsteren Krater der Mahnung. Die regulierende Kraft der Werteordnungen ist eine fragile Größe. Sie bietet eher Orientierung für die Handelnden als verlässlichen Schutz für die Bedrohten. Die Nationalsozialisten erhoben ihre Interessen und ihre Ideologie zu absoluten Größen, die sie nicht nur auf Kosten des Lebens anderer Menschen verfolgten, sondern die die Vernichtung des Lebens anderer Menschen ausdrücklich zum Ziel erhob. Europa hat im 20. Jahrhundert weniger unter den Folgen einer relativierenden Kultur gelitten, die das Spektrum unserer Erfahrungen mit bleibenden Werken der Kunst, der Wissenschaft und den Grundzügen für die Gestaltung einer menschlichen Gesellschaft bereichert hat, als unter der zerstörerischen Wirkung einer absoluten Ideologie, die nichts hinterlassen hat, was einen bleibenden Wert hätte. Der Blick auf die lange europäische Geschichte sollte uns eine Antwort an jene Kritiker unserer Gegenwart nahelegen, die das Fehlen der Wahrheit und unumstrittenen Moral in unseren manchmal schwierigen demokratischen Entscheidungsvorgängen beklagen: Unser parlamentarisches Entscheidungsverfahren, das die Vielzahl der Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft berücksichtigt, ist keine historische Notlösung sondern die notwendige Folge aus einer konfliktreichen Geschichte.

19. Ausblick Die Notwendigkeit von Relativität und Demokratie – Der soziale Transfer von Wertvorstellungen – Freiräume in der modernen Kommunikationsgesellschaft – Ein neues Mittelalter? Welche Werte für die Menschen in einem Europa des 21. Jahrhunderts Verbindlichkeit haben können oder sollen, kann in einer historischen Untersuchung nicht beantwortet werden. Die Leitlinien für das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft können nur in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Gegenwart gewonnen werden. Die Tradition europäischer Werte, an deren Anfang sowohl die Protagonisten des klassischen Athen wie auch Moses stehen, der auf dem Berg Sinai die Tafeln mit den zehn Geboten entgegennahm – um sich danach im kalten Licht historischer Kritik aufzulösen – , entstand durch die bewusste Bewahrung von erinnerungswertem, vorbildhaften Verhalten. Aber die Erinnerung musste sich immer in der Gegenwart bewähren. Und in den lebendigen Phasen der Geschichte wurde die Vergangenheit immer aus der Perspektive der Gegenwart gelesen. Traditionsbildung ist ein lebendiger Vorgang. Auf große Fragen gibt es in der Regel verschiedene Antworten. Das ist keine Entwicklung der Neuzeit, sondern eine sehr alte Erfahrung, die für Aristoteles eine Selbstverständlichkeit war. Die europäische Geschichte kannte Zeiten, in denen Könige, Päpste oder Fürsten die Formulierung von Richtlinien als ihr Recht beanspruchten, an denen sich das Leben ihrer Untertanen auszurichten hatte. Auf die Mitwirkung der Untertanen konnten sie dabei nicht verzichten. Erst ein neuzeitliches Missverständnis hat daraus ein Untertanenverhältnis gemacht, in dem ein König oder Papst ohne die Rückversicherung bei den relevanten Kräften über deren Leben entscheiden konnte. Dennoch haben das Mittelalter und die Frühe Neuzeit hierarchische Ordnungen hervorgebracht, die uns heute mit Recht fremd sind. Der demokratische, parlamentarische Rechtsstaat ist keine

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19. Ausblick

Notlösung, sondern die politische Ordnung, die aus einem langen historischen Prozess hervorgegangen ist, in dem sie sich als die Verfassungsform erwiesen hat, in der die Werte, die die europäische Kultur geprägt haben, am besten geschützt werden können. Die Verbindung von gelebten Werten und Verfassung ist von der Haltung des Sokrates über William von Ockham und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung – die auf dem Boden der europäischen Tradition stand – bis in die Gegenwart eng geknüpft. Im demokratischen Prozess ist die Diskussion, auch der Streit, unverzichtbar. Daher ist auch der Streit um die Werte unverzichtbar, an denen sich das Leben einer Gesellschaft orientieren sollte. Tatsächlich ist dieser Streit keine neue Erfahrung. Die historische Untersuchung hat gezeigt, wie lebendig und wie langlebig die Auseinandersetzung um die Wertvorstellungen zu allen Zeiten der europäischen Geschichte gewesen ist. Und sie hat gezeigt, wie grundsätzlich die Positionen in diesem Streit mitunter waren, von denen heutige Akteure glauben, sie seien einer Entwicklung der Moderne geschuldet. Die Klage über die Unterschiede sozialer Wertvorstellungen aus der Perspektive eines katholischen (hierarchischen) Einheitsgedankens hat eine lange und durchaus ehrwürdige Tradition, die in die Zeit Karls des Großen zurückführt. Das Auseinandertreten von Naturrecht und göttlicher Schöpfungsordnung wurde bereits von William von Ockham im 14. Jahrhundert vorbereitet und von Christian Thomasius im frühen 18. Jahrhundert ausdrücklich festgestellt. Das bedeutete nicht, dass diese Vorstellungen zu ihrer Zeit von allen Menschen geteilt worden wären. Es gab zu allen Zeiten konkurrierende Werteordnungen. Zudem ist die Erwartung, dass die Menschen die vorgegebenen Leitlinien tatsächlich verfolgten, eine eher neuzeitliche Entwicklung. In der Wertewelt des Mittelalters herrschten eher „italienische Verhältnisse.“ Es gab klare Regeln, aber sie widersprachen sich. Es gab Vorgaben mit absolutem Anspruch, aber sie schlossen sich aus. Das konnten sie, weil sie nebeneinander bestanden. Es gab nur wenige kirchliche Intellektuelle, wie den Erzbischof Agobard von Lyon, die eine Vereinheitlichung dieser Ordnungsvorstellungen anstrebten. Sie setzten sich nicht durch. Erst die neuzeitliche Ernsthaftigkeit, die Verbesserung der Kommunikation und die verstärkte Erfassung der Untertanen führten zu einem Wandel. Langsam, häufig sehr langsam, wurden immer mehr

19. Ausblick

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Menschen in die sozialen, politischen und kulturellen Ordnungen einbezogen. Dass universale Werte tatsächlich für alle Menschen ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen gelten, wie dies die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 vorsieht, ist eine neue Entwicklung. Und obwohl Eleonor Roosevelt an dieser Erklärung mitgearbeitet hatte, wurde Rosa Parks 1955 verhaftet, als sie sich weigerte, ihren Sitzplatz in einem Bus in Montgomery nach einem langen Arbeitstag für einen weißen Fahrgast zu räumen.1 Die sozialen Werteordnungen galten die meiste Zeit unserer Geschichte nicht für alle Menschen in gleicher Weise. Inzwischen umfasst die Bevölkerung der Erde etwa 7 Milliarden Menschen. Als Kant vor über 200 Jahren die Welt zusammenwachsen sah und davon sprach, dass ein Übel, das einem Menschen an einer Stelle des Globus widerfahre, an allen anderen Stellen gefühlt werde, da hatte er keine Vorstellung von der Zahl der Schicksale, die einem heutigen Menschen in Echtzeit zugänglich sind. Schon für Kant war die Sicherung von Spielräumen bei der Auslegung von Maximen unerlässlich. Wobei die Maximen individuell festgelegt wurden. Für die Menschen des 21. Jahrhunderts ist die Einbindung in ein weltweites Geschehen gegenüber der Zeit der Aufklärung so dramatisch gewachsen, dass eine moderne Werteordnung Lessings Ringparabel in die digitale Welt überführen muss. Nicht nur die Söhne haben gleichwertige Ringe erhalten. Wir leben in Zeiten der Patchworkfamilie. Die Familienverhältnisse sind etwas unübersichtlicher geworden. Es gibt nicht nur die Söhne aus erster Ehe, auch die Töchter beanspruchen ihren Anteil mit allem Recht. Und sie tauschen ihre Erfahrungen online aus. Die Geschichte der europäischen Werteordnungen ist nicht nur eine Geschichte bedeutender Texte. Sie ist vor allem die Geschichte der Wirkung von Texten, Erzählungen und Normen. Dabei ändern sich die Normen mit den Trägern, die sie sich zu eigen machen. Es ist ein Unterschied, ob die Ethik des Aristoteles für die Bürger der Polis von Athen Geltung beansprucht oder für die Untertanen eines ungleich größeren mittelalterlichen Königreichs. Die Werte des Christentums blieben im Wortlaut durch die lange

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19. Ausblick

Geschichte der Kirche dieselben, aber sie wurden in den frühen christlichen Gemeinden der individuell Bekehrten anders aufgefasst als in der Volkskirche der ausgehenden Antike. Der Übergang von der Adelskirche des frühen Mittelalters zu der Kirche, die im einsetzenden Hochmittelalter auch Handwerker, Kaufleute und Bürger mobilisierte, veränderte den Charakter des Christentums. Der Übergang der vernunftgeleiteten, historisch geprägten Vorstellungen der Aufklärung aus dem kleineren Kreis universaler Gelehrter auf breite Bevölkerungsschichten hatte Folgen. Der Grundbestand menschlicher Wertvorstellungen wandelte sich weniger als die Auslegung in der notwendigen Anpassung an die Verhältnisse. Es gab Wertvorstellungen, die als Kodex einer sozialen Schicht nur bedingt übertragbar waren, wie die Ablehnung körperlicher Arbeit in der attischen Oberschicht und dem Adel des Mittelalters. Für Bürger und Bauern war diese Zurückhaltung kein Wert. Aber es gab Wertvorstellungen, die durch den sozialen Transfer etwa vom Adel in die Welt der Handwerker und Bürger eine neue Dynamik erhielten. Das galt für die Wertvorstellungen des Christentums. Es galt auch für das Freiheitsideal von der Magna Carta über die Declaration of Independence bis zu Martin Luther Kings großer Rede in Washington. I have a dream. Die bedeutenden Wertvorstellungen unserer Geschichte haben diesen sozialen Transfer erfahren, und sie haben ihre weiterreichende Gültigkeit erst durch den geglückten Transfer erlangt. Wertvorstellungen und Werteordnungen stehen immer in diesem lebensvollen Bezug zur realen Welt. Dabei diente der Verweis auf die Geschichte den Akteuren häufig als Vorbild für bessere Zeiten. Nicht nur die Römer lobten die Sitten der Vorfahren. Die Klage über den Niedergang der Moral und den Verfall der Werte lässt sich auch in der Gegenwart vernehmen. Aber die Geschichte unterstützt diese Klagen kaum. Denn erst im Rückblick wird sie zur Geschichte. Solange die fraglichen Werte tatsächlich geprüft werden, solange Sokrates allein vor seinen Richtern steht, oder solange der Bürger mit gesenktem Haupt abdreht, weil sich vor der jüdischen Bäckerei, die er ansteuerte, zwei SA-Männer aufgebaut haben, ist sie Gegenwart. Sie ist vielschichtig, sie ist widersprüchlich, sie ist sehr selten heroisch. Wir sollten unsere Handlungen bisweilen im Licht der Geschichte prüfen. Die Bilanz wäre nüchtern. Die historische Betrachtung unterscheidet sich von der

19. Ausblick

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Traditionsbildung dadurch, dass sie die Geschichte in die Offenheit der Gegenwart zurückführt. Sie stellt die Entscheidungssituation wieder her. Die Tradition trifft eine Auswahl. Sie hat bereits entschieden. Sie blendet die Widersprüche und das alltägliche Versagen aus und sie verklärt das Geschehen. Das ist ihre Aufgabe. Im Rückblick ist Woodstock ein Konzert für eine ganze Generation. Dagegen ist wenig vorzubringen. Nur sollte man diese Traditionsbildung, die immer eine Verklärung ist, nicht gegen die Gegenwart ausspielen. Die Tradition gibt Orientierung, in ihr leben kann man nicht. Im Nachhinein ist man immer klüger. Die Gegenwart hat ihre eigenen Gesetze. Das wichtigste ist die Offenheit des Ausgangs. Die Klassiker von heute erregten zu ihrer Zeit Anstoß. Das gilt für Thomas von Aquin ebenso wie für Jimmy Hendrix. Wer mit dem Blick auf die Geschichte über den Verfall der Werte klagt, sollte sich eingestehen, dass er (oder sie) nach Skandalen ruft. Mancher Geistliche, der heute in der Liturgie Texte des Franziskus von Assisi als Teil der Tradition zitiert, ist ein Nachfolger der Priester, die die frühen Gefolgsleute des Franziskus aus der Stadt geprügelt haben. Die Kommunikationstechnik der Gegenwart und die Entwicklung des Verkehrswesens haben den Raum in einer Weise relativiert, die während der fast zweieinhalbtausend Jahre der europäischen Wertegeschichte, die dieser Beschleunigung vorangingen, nur in Wundererzählungen oder Märchen möglich war. Damit haben sich die Koordinaten für die Werteordnungen der Gegenwart verschoben. Denn diese Ordnungen wurden in der langen europäischen Geschichte aus der realen Erfahrung heraus entwickelt: In den Dialogen des Sokrates und des Cicero auf den Foren der antiken Städte, in den Klöstern und den einfachen Bauerndörfern des Karolingerreiches, in den städtischen Milieus des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, vor den expandierenden Horizonten eines Kontinents, der sich anschickte, eine weltweite Hegemonie zu errichten, in den dramatischen Umbrüchen und Kriegen der Moderne. Es ging und es geht um die handelnden Menschen. Sie brauchen Spielräume – Spielräume für die Gestaltung ihres Lebens, Spielräume für die wichtigen, aber auch für die alltäglichen Entscheidungen. Die einfachen Kommunikationsbedingungen der Vergangenheit eröffneten diese Räume häufig, wobei die primitiven Lebensbedingungen sie vielfach einschränkten.

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19. Ausblick

Die verbesserte Kommunikation der Gegenwart würde die modernen Spielräume einengen, wenn wir die Regeln nicht flexibler gestalten. Angesichts der Fülle konkurrierender Lebensmodelle ist unter diesen Bedingungen die Abschwächung der Vorgaben, auf die der einzelne Mensch trifft, eine notwendige Folge. Sie ist keine Schwäche der Moderne. Sie ist die gebotene Reaktion auf eine historische Entwicklung. Die historische Entwicklung hat sich im früheren 20. Jahrhundert mit der sozialen und der naturwissenschaftlichen Erkenntnis verbunden (sie hat diese Erkenntnisse möglicherweise befördert), dass es ohne Betrachter kein Bild gibt. Das gilt für das Weltganze ebenso wie für die kleinsten Elementarteilchen. Die moderne Bewusstseinsphilosophie stützt dieses Modell. Die Ordnung der Welt (wenn es sie gibt) steht daher ebenso wie ihre kleinsten Bauteile immer in Beziehung zu dem Menschen, für den sie in der jeweiligen Situation von Belang ist. Das heißt, die Welt und ihre Ordnung ist aus der Sicht des Betrachters eine relative Größe. Für die Werte und ihre Ordnung gilt das in besonderer Weise. Es liegt in ihrer Natur. Die Geschichte bleibt nicht stehen. Wie die Geschichte die europäischen Werteordnungen in der Zukunft verändern wird, darüber vermag ein Historiker keine professionellen Aussagen zu treffen. Aber der historische Blick sieht den Wandel nicht als Problem, sondern als Normalfall. Dadurch mag das Bild der Gegenwart, die sich erkennbar im Wandel befindet, eine Ergänzung erfahren. Die Frage nach der Tragfähigkeit der Wertvorstellungen, die das Leben unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten bestimmt haben, ist auch eine Reaktion auf die vermeintliche Zunahme der Gewalt im öffentlichen Raum. Diese Gewalt ist für die meisten Zeitgenossen keine eigene Erfahrung, aber die Aufzeichnungen der Sicherheitskameras zeigen mitunter beunruhigende Bilder. Polizisten berichten übereinstimmend davon, dass sie im Alltag einer erhöhten Gewaltbereitschaft begegnen. Der Respekt einer gewaltbereiten Klientel vor der Polizei als Vertretern des Staates sinkt. Wenn in unseren großen Städten ebenso wie in anderen europäischen Großstädten Stadtviertel entstehen, in denen die bürgerlichen Gesetze ihre Geltung einbüßen, wird unser Rechtsverständnis herausgefordert. Wir sehen es nicht gern, wenn in Vierteln mit hoher Einwandererquote die uns unverständlich anmutenden Regeln fremder Kulturen herrschen. Besonders be-

19. Ausblick

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unruhigend sind Bilder brennender Stadtteile, in denen jugendliche Randalierer Geschäfte plündern und Autos in Brand stecken. In manche dieser Stadtteile wagt sich die Polizei kaum noch hinein. Es ist längst eine akzeptierte Praxis, dass in diesen Stadtteilen die westlichen Wertvorstellungen keine Rolle spielen. Der Passant begegnet Verhaltensweisen einer anderen Welt in einer fremden Mischung und in einer fremden Sprache. Es beunruhigt uns, wenn wir uns in unseren Städten fremd fühlen. An diesem Gefühl wird sich wenig ändern lassen. Doch die Geschichte bietet nicht nur Informationen, sie vermittelt in gewissem Sinn auch eine Identität. Kollektive Identitäten haben immer eine historische Dimension. So mag der Blick in die Geschichte auch eine beruhigende Funktion haben. Dieser Blick zurück hat gezeigt, dass Zeiten, in denen fremde Menschen nebeneinander nach eigenen Bräuchen und Wertvorstellungen lebten, während langer Jahrhunderte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit eine normale Erfahrung in den europäischen Städten waren. In diesen Städten, die im 11. Jahrhundert zu bedeutenden Orten der Kultur wurden, lebten Fremde nach jeweils eigenem Recht und mit eigenen Traditionen nebeneinander. Es war keineswegs immer ein friedliches Nebeneinander. Es kam immer wieder zu Gewalttaten, es kam auch zu Gewaltausbrüchen gegen Geistliche oder gegen jüdische Nachbarn. Dass die Bürger einer Bischofsstadt sich gegen die Geistlichkeit erhoben (die eine Minderheit in der Stadt darstellte), ihre Häuser anzündeten und das Eigentum verwüsteten, kam in wiederholten Fällen vor. Es gab in der Regel keine Ordnungsgewalt, die diesen Übergriffen entgegen getreten wäre. Die Verantwortlichen wurden selten bestraft. In der Regel fand man nach dem Abklingen der Gewalt einen Weg, den Schaden zu begleichen. Insofern hatten die Londoner Erfahrungen im Sommer 2011 durchaus mittelalterliche Züge. Die Aussicht auf ein neues Mittelalter wird für wenige Zeitgenossen ein Trost sein. Diese Aussicht ist auch nicht sehr wahrscheinlich. Gerade die als beunruhigend angesehene Rolle der mittelalterlichen Kirche wird sich kaum wieder einstellen. Die Kirche des Mittelalters, deren Rolle in der Regel überschätzt wird, hat europäische Standards gesetzt, die aus einer Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Realitäten hervorgingen. Es waren die differenzierten Antworten auf die Heraus-

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19. Ausblick

forderungen der Epoche, die der Kirche des Mittelalters eine Wirkungsgeschichte eröffneten, die zum Teil bis heute anhält. Von dieser Zeitgenossenschaft ist die heutige Kirche weit entfernt. Es gibt weitere Rahmenbedingungen, die dem Vergleich mit dem Mittelalter im Wege stehen. Wir haben das frühe Mittelalter als eine Zeit charakterisiert, deren Horizonte sich verengten, nachdem die weiten Bezüge des römischen Weltreichs aufgegeben wurden, und die Meere für die Europäer kaum noch schiffbar waren. Die heutige Alltagserfahrung geht in die entgegengesetzte Richtung. Es sind gerade die vielfältigen Erfahrungen der Globalisierung, die den gegenwärtigen Wandel beschleunigen.2 Der Luftverkehr, der dem Mittelalter fehlte, hat auch für den normalen Europäer längst ein weltumspannendes Netz geknüpft. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Dennoch gibt das Mittelalter eine gewisse Orientierung. Das Zurücktreten der Staatsgewalt zeigt sich nicht nur bei aggressiven Jugendlichen. Es zeigt sich auch in der Veränderung der militärischen Szenarien in Europa. Die Gefahr eines innereuropäischen Eroberungskrieges zwischen den alten Kontrahenten ist einem spannungsreichen Miteinander gewichen. Gewalt zwischen den großen europäischen Nationen ist in hohem Maße unwahrscheinlich geworden. Die Frage, ob wir innerhalb unserer Gesellschaften eine Zunahme privater Gewalt und privater Gegeninitiativen erleben werden, ist vielleicht noch nicht abschließend beantwortet. Es gibt verschiedene Entwicklungen, die eine zumindest punktuelle Privatisierung bewaffneten Schutzes erkennen lassen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich dieser Prozess fortsetzt. Es kann eine problematische Entwicklung sein. Es ließe sich allerdings auch darauf verweisen, dass die Garantie eines gewaltfreien Raumes innerhalb einer rechtsstaatlichen Ordnung – verbunden mit einer Ächtung der Gewalt – eine vergleichsweise neuere Entwicklung ist. Sie wurde erst in einer Phase der europäischen Geschichte durchgesetzt, die einen hohen Preis für das Erstarken der staatlichen Gewalt im Rahmen konfessioneller und nationaler Lager gezahlt hat. Die Aufklärung hat der Toleranz den Weg bereitet. Die großen europäischen Kriege hat sie nicht verhindert. Es ist möglich, dass Europa für die Schwächung nationaler Ordnungen einen Preis zahlen muss. Das Absenken nationaler Grenzen lässt auch die Verbindlichkeit der europäischen Werteordnungen sin-

19. Ausblick

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ken. Ihre jeweilige gesellschaftliche Wirkung wurde durch die Abgrenzung gegenüber den Nachbarn erhöht. Das Mittelalter war keine friedliche oder romantisch verklärte Zeit, in der die Türme der Kathedralen frommen Wanderern Orientierung gaben. Aber es war trotz unzureichender Frauenrechte und hoher Kindersterblichkeit eine vergleichsweise offene Epoche, in der konkurrierende Ansprüche und Werteordnungen nebeneinander bestanden. Der primitive Nachrichtenfluss erlaubte es daher manchem Zeitgenossen, mit dem Ort auch die Rolle zu wechseln. Das galt nicht für jedermann, aber dieser Wechsel der Lebensordnungen mit dem Wechsel des Ortes machte das Reisen zu einem Abenteuer. Die Welt war vielgestaltig und ihre Farbigkeit war eher eine Herausforderung als eine Gefahr. Natürlich gab es auch andere Stimmen. Es war keine tolerante Zeit, aber die Aufklärung hat hier eine Grundlage gelegt, hinter die die Zukunft kaum zurücktreten kann. Wir laufen nicht Gefahr, in das Mittelalter zurück zu fallen. Unsere Horizonte werden sich kaum verengen. Das Hereintreten der weiten Welt in unseren Alltag ist für viele Menschen eine konkrete Erfahrung, die sie auch beunruhigt. Aber auch hier zeigt die Geschichte mit dem Blick auf die Völkerwanderung, dass die zugewanderten Fremden weniger durch eine ethnische Identität als durch gemeinsame Traditionen und Wertevorstellungen zusammengehalten wurden. Es waren anpassungsfähige Wertevorstellungen, die nur dort eine längere Wirkungszeit entfalteten, wo sie sich mit den Werten der Menschen verbanden, in deren Umfeld sie sich niederließen. Aus dieser Erfahrung könnten wir nach dem Absenken nationaler Grenzen, die über Jahrhunderte errichtet und schließlich auch zu Wertegrenzen wurden, eine zeitgemäße Offenheit erhalten. Eine Offenheit, die sich aus der Kenntnis ihrer Geschichte des ständigen Wandels bewusst ist. Die sich daran erinnert, dass die großen Fragen seit zweieinhalb Jahrtausenden immer wieder gestellt werden, und dass jede Generation ihre Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben geben muss. Wir sollten Verengungen vermeiden. Solange diese Antworten die alte Leitlinie Ulpians nicht über Gebühr verfremden, sollten wir der Zukunft gelassen entgegen sehen: ehrenhaft leben, dem anderen nicht schaden, jedem das seine zugestehen .

Indes ist es unnötig, ein Thema immer derart erschöpfend zu behandeln, daß dem Leser nichts zu tun bleibt. Es geht nicht darum, zum Lesen zu bewegen, sondern zum Denken. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze XI, 20.3

Anmerkungen 1. Ausgangslage 1

2 3 4 5 6

7 8 9

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Das Zitat aus der Relatio (1274) des Bischofs Bruno von Olmütz in: Monumenta Germaniae Historica Constitutiones, Bd. 3, hrsg. von J. Schwalm, Hannover-Leipzig 1904-06, Nr. 620, S. 591. Immanuel Kant, Die Metyphysik der Sitten, Einleitung zur Tugendlehre VII, Frankfurt/M. 1977 (Werkausgabe VII), S. 520. P. Veyne, Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht, München 2011 (Beck’sche Reihe), S. 142. J. Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg 2005, S. 115f. Immanuel Kant, Die Metayphysik der Sitten, Einleitung zur Tugendlehre VII, S. 520. Vgl. etwa das bereits zitierte Werte in Zeiten des Umbruchs, außerdem etwa J. Ratzinger/M. Pera, Ohne Wurzeln, Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2004. Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs, S. 28. Ebd. S. 51. Marsilius von Padua formulierte seinen Traktat, Der Verteidiger des Friedens im 14. Jahrhundert interessanterweise nach seinen Erfahrungen mit dem päpstlichen Wahrheitsanspruch. Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens, hrsg. von H. Kusch, Bd. 1-2, Berlin 1958. Vgl. dazu etwa J. Miethke, De potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000, S. 204-235. Vgl. dazu das historische Wörterbuch der Philosophie, Bd 12, hrsg. von J. Ritter/K. Gründer/G. Gabriel, Darmstadt 2004, Sp. 556-583.

2. Die Achsenzeit: die Zehn Gebote 1 2 3 4

K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 3. Aufl. München 1952. Ebd, S. 26. Siehe etwa Martin Luther, Kleiner Katechismus, Nürnberg 1547 (Neudruck Nürnberg 1979). Für einen Überblick vgl. etwa Ch. Becker, Die Zehn Gebote. Verfassung der Freiheit, Augsburg 2004 und M. Köckert, Die Zehn Gebote, München 2007.

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Anmerkungen

3. Die Achsenzeit: Das klassische Athen 1 2 3 4 5

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

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Platon, Sämtliche Werke II, Frankfurt/M.-Leipzig 1991, S. 91. Ch. Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 1993, S. 109. Platon, Kriton, Sämtliche Werke I, Frankfurt/M. – Leipzig 1991, S. 293. Platon, Gorgias, Sämtliche Werke II, 243 (Sprache etwa modifiziert). Ebda, S. 313. Vgl. die Antwort des Sokrates ebda, S. 245: Polos: Du also wolltest Unrecht leiden lieber als Unrecht tun? Sokrates: Ich wollte wohl keines von beiden; müßte ich aber eines von beiden unrecht tun oder unrecht leiden, so würde ich vorziehen lieber unrecht zu leiden als unrecht zu tun. Ebda, S. 305 (Kallikles). Ebda, S. 299. Aischylos, Die Perser V. 555f., übers. v. G. Droysen Ebda, V. 165. Ebda, V. 994-996. Sophokles, Antigone V. 454ff , in: Tragödien, hrsg. v. B. Zimmermann (übers. Von W. Schadewald), Düsseldorf-Zürich, 2002, S. 153. Aristoteles, Nikomachische Ethik V. 10, übers. v. F. Dirlmeier, Stuttgart 1969, S. 138. Ebda, V. 14, S. 149f. Vgl. etwa Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs, S. 25 und S. 35. Aischylos, Die Totenspende V. 1017f., in: Aischylos, Die Orestie. Agamemnon. Die Totensspende. Die Eumeniden, übers. v. E. Staiger, Stuttgart 1958, 103. Der Melierdialog in: Thukydides, Geschichte des Peleponnesischen Krieges V. 105, hrsg. v. P. Landmann, Reinbek 2. Aufl. 1964. Aristoteles, Nikomachische Ethik X. 6, S. 287. Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung, Frankfurt/M. 1951, S. 156. Aristoteles, Nikomachische Ethik III. 5, S. 62. Ebda IX. 9, S. 262. Ebda X. 10, S. 299. Ebda II. 2, S. 36. Ebda V. 3, S. 121.

4. Pax Romana und frühes Christentum 1 2

Sallust, Die Verschwörung des Catilina, Kap. 9, in: Sallust, Historische Schriften, München 1983, S. 35. Ebda, Kap. 11, S. 36.

Anmerkungen 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

221

Marcus Tullius Cicero, Vom rechten Handeln (De officiis Libros III), I, 40, 2. Aufl. Zürich-Stuttgart 1964, S. 39. Ebda, I, 53, S. 49. Ebda. Marcus Tullius Cicero, Über die Gesetze, I, 44, hrsg, v. E. Bader/L. Wittmann, Reinbek 1969, S. 24f. Vgl. etwa G. Alföldy, Römische Sozialgeschichte, 4. Aufl. Wiesbaden 2011. Tertullian, De anima (Über die Seele), Kap. 30, in: Tertullians sämtliche Schriften, übers. von K. A. H. Kellner, Bd. 2, Köln 1882; S. 336. Codex Theodosianus, XVI,1,1. Aurelius Augustinus, Die wahre Religion, 6. Kap., 10, Paderborn 1957, S. 10. Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat, XIX, 25, übers. v. W. Thimme, München 2007, S. 579. Ebda, XIX, 8, S. 543. Ebda, XIX, 19, S. 564. Kapitel 15 des XIX. Buches Vom Gottesstaat (S. 557-559). Paulus Orosius, Die antike Weltgeschichte in christlicher Sicht, III, 20, 66, übers. v. A. Lippolt, Zürich-München 1985, S. 196. Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat, XIX, 7, S. 540-542. Ebda, XIX, 4, S. 531.

5. Die regionalen Welten der Barbaren 1 2 3 4

5

Regula Benedicti. Die Benediktusregel (lat./dt.), hrsg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, 3. Aufl. Beuron 2001. Gregor der Große, Der hl. Benedikt. Buch II der Dialoge (lat./dt.), hrsg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, St. Ottilien 1995. Vgl. T. Altenburg, Soziale Ordnungsvorstellungen bei Hildegard von Bingen, Stuttgart 2007. Zur Kubakrise vgl. etwa B. Greiner, Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg, München 2010; D. Mutton/D. A. Welch, The Cuban Missile Crisis. A Concise History, New York 2007;G. T. Allison/ Ph. Zelikow, Essence of decision. Explaining the Cuban missile crisis, New York et al. 1999. R. F. Kennedy, Thirteen Days. A Memoir of the Cuban Missile Crisis. Foreword by Arthur Schlesinger, jr., London 1999, S. 30: Whatever military reasons he and others could marshal, they were nevertheless, in the last analysis, advocating a surprise attack by a very large nation against a very small one. This, I said, could not be undertaken by the U.S. if we were to maintain our moral position at home and around the globe. Our struggle against communism throughout the world was far more than physical sur-

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6 7

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Anmerkungen

vival – it had as its essence our heritage and our ideals and these we must not destroy. Ebda, S. 85. Das Inventar des Hofes Staffelsee: G. Franz (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes im Mittelalter, Darmstadt 1967 (Freiherrvom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 31), Nr. 27, S. 66-71. Vgl. dazu auch das klassische Werk von H. Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, Bd. 1-2, Stuttgart 1984.

6. Die Welt Karls des Großen und seiner Nachfolger 1

2

3 4 5 6

Jonas von Orléans, De institutione laicali: Le De Institutione Laicali de Jonas d’Orléans: edition, traduction, commentaire, ed. O. M. Dubreucq, Paris 2007. Zu Karl dem Großen einführend: Einhard, Vita Karoli Magni. Das Leben Karls des Großen (Lateinisch/Deutsch), Stuttgart 1995; M. Becher, Karl der Große, 5. Aufl. München 2007; R. McKitterick, Karl der Große, Darmstadt 2008; W. Hartmann, Karl der Große, Stuttgart 2010. Monumenta Germaniae Historica Capitularia Regum Francorum, Bd. 1, hrsg. v. A. Boretius, Hannover 1883, Nr. 22, S. 58 (§ 61). Capitulatio de partibus Saxoniae, ebda, Nr. 26. Monumenta Germaniae Historica Epistolae Carolini Aevi III, Berlin 1899, S. 158f. Die Passage aus einem Traktat Agobards ist übersetzt und kommentiert in: A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/M.-Wien-Berlin 1973, S. 372-377 (Zitat S. 372).

7. Eine christliche Ordnung für Europa 1 2

3 4

Rodulfi Glabri, Historiarum Libri Quinque III.4, Rodulfus Glaber, The Five Books of History, ed./transl. von J. France, Oxford 1989, S. 116. Dictatus papae Gregors VII. (22), Register Gregors VII., Nr. II, 55a, dt. Übersetzung: J. Miethke/A. Bühler(Hrsg.), Kaiser und Papst im Konflikt. Zum Verhältnis von Staat und Kirche im späten Mittelalter, Düsseldorf 1988, S. 61 u. 62. Dictatus papae Gregors VII. (2), ebda. Franz von Assisi, Fioretti. Gebete, Ordensregeln, Testament, Briefe, übers. von W. von den Steinen, Zürich 1979, S. 45.

Anmerkungen

223

8. Eine neue Welt der Gegensätze 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Decretum Magistri Gratiani: Corpus Iuris Canonici, hrsg. von E. Friedberg, Leipzig 1879. S. Bonaventura, De perfectione evangelica, Quaestio 4, Art. 3, in: Opera Omnia 5, Quaracchi 1891, S. 194. Zu Petrus Abaelard in seiner Zeit vgl. M. Clanchy, Abaelard. Ein mittelalterliches Leben, Darmstadt 2000. Dictatus papae Gregors VII. (2), in: Miethke/Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt, S. 61f. Lex Salica. 100-Titel Text, hrsg. von K. A Eckhardt, Weimar 1953; vgl. zur Verbreitung etwa W. Hartmann, Karl der Große, S. 140. Peter Abaelard, Scito te ipsum [Ethica]. Erkenne dich selbst, § 16, Hamburg 2006, S. 33. Ebda, § 17, S. 35. Petrus Abaelard, Historia Calamitatum. Die Geschichte meiner Leiden und der Briefwechsel mit Heloise, etwa Berlin 2002. Ebda, § 12, S. 25. Ebda, § 29, S. 57. Gregor der Große, Der hl. Benedikt. Buch II der Dialoge, Kap. 3, S. 115. Vgl. für eine Übersicht M. Kintzinger, Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter, Ostfildern 2003.

9. Die christliche Ordnung in der Zeit des Thomas von Aquin 1

2

3

4 5 6

7 8

Zu Thomas vgl. etwa: R. Heinzmann, Thomas von Aquin, Eine Einführung in sein Denken mit ausgewählten lateinisch-deutschen Texten, Stuttgart-Berlin-Köln 1994. Summa Theologiae, in : Opera omnia iussu Leonis XIII edita cura et studio Fratrum Praedicatorum, Bd. 4-12, Rom 1888-1906; Die Summa ist nicht vollständig übersetzt, Teile in der deutschen Thomas-Ausgabe, hrsg. vom Katholischen Akademikerverband. Thomas von Aquin, Quaestio XXII de appetitu boni, et voluntate, die deutsche Übersetzung im Anhang zu Heinzmann, Thomas von Aquin, S. 180-185, Zitat S. 181. Ebda, S. 183. Ebda, S. 189. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I/II, Quaestio XCIV de lege naturali, art. 2, Die deutsche Thomas Ausgabe, Bd. 13. Das Gesetz. Kommentiert von O. H. Pesch, Heidelberg-Graz-Wien-Köln 1977, S. 74. Thomas von Aquin, Quaestio XCIV de lege naturali, art. 4, Übersetzung S. 81. Ebda, S. 83.

224 9 10

Anmerkungen

Bonifaz VIII., Bulle Unam Sanctam, in: Miethke/Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt, S. 121-124, S. 124. Wilhelm Rishanger, Chronica, ed. H. Th. Riley, London 1865, S. 197f.

10. Die Werte des Adels 1

The Chronicle of Walther of Guisborough, ed. H. Rothwell, London 1957 (Camden Series, 89), S. 216.

11. Orientierung in einer größeren Welt 1 2 3 4 5

6

7

8

Siehe R. W. Southern, Robert Grosseteste. The Growth of an English Mind in Medieval Europe, Oxford 1968, S. 278. Bonifaz VIII., Bulle Unam Sanctam, in: Miethke/Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt, S. 122. Zu William von Ockham vgl. etwa einführend V. Leppin, Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch, Darmstadt 2003. K. Flasch, Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Frankfurt/M. 2008, S. 57. Jürgen Miethke hat diesen langen Konflikt von William von Ockham mit der päpstlichen Kurie in seinen Facetten in zahlreichen Untersuchungen behandelt, vgl. zuletzt: ders., De potestate papae, S. 248-295. Kommentar von Innozenz IV. zu seiner Absetzungsbulle in seinem Apparatus in V libros decretalium, Frankfurt 1570 (Nachdruck 1968) II.27.27, fol. 317v, die deutsche Übersetzung zitiert nach: Miethke/Bühler, Kaiser und Papst im Konflikt, S. 112. Zu dem komplexen Thema der Handlungsethik bei Ockham vgl. J. Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969, 300-347; S. Müller, Handeln in einer kontingenten Welt. Zu Begriff und Bedeutung der rechten Vernunft (recta ratio) bei Wilhelm von Ockham, Tübingen-Basel 2000. Dort werden auch zahlreiche Textbeispiele aufgeführt. Willhelm von Ockham, III Dialogus I ii, c. 20, in: Wilhelm von Ockham, Texte zur politischen Theorie, hrsg. von J. Miethke, Stuttgart 1995, S. 181.

Anmerkungen

225

12. Das ausgehende Mittelalter und die neue Kultur persönlicher Frömmigkeit 1 2 3

Thomas von Kempen, Die Nachfolge Christi. Vier Bücher, hrsg. von W. Meyer/L. Hardick, Kevlaer 2007. Die Nachfolge Christi, II, Kap. 6, S. 126. Ebda, III, Kap. 38, S. 260.

13. Religiöses Gewissen und europäische Lagerbildung 1

2

3 4 5 6 7

8

9

Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7, Weimar 1897, S. 838 (wobei der erste Teil des berühmten Satzes auf Latein vorgetragen wurde). Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, Gütersloh 1995. Zu Martin Luther vgl. einführend: Th. Kaufmann, Martin Luther, München 2006; R. Schwarz, Luther, 2. Aufl. Götingen 1998; H. Obermann, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, 2. Aufl. Berlin 1983. Martin Luther, Sermon von den guten Werken, in: ders., Von der Freiheit eines Christenmenschen, Gütersloh 1995, S. 68. Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, ebda, S. 10. Martin Luther, Sermon von den guten Werken, ebda, S. 70. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausgabe, 3. Aufl. München 2010. Zur Rolle des Buchdrucks in der Zeit der Reformation vgl. etwa J. Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617, Stuttgart 2002; ders. (Hrsg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, München 2005 (HZ-Beihefte, NF, 41); M. J. Edwards, Printing, Propaganda and Martin Luther, Berkeley 1994. Marc Bloch, Antritt und Siegeszug der Wassermühle, in: F. Braudel, L. Febvre u.a. (Hrsg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt/M. 1977, S. 171-197. Siehe etwa die faksimilierte Ausgabe des Druckes von Christoph Gutknecht, Nürnberg 1547, jetzt Nürnberg 1979.

226

Anmerkungen

14. Bekenntnisbildung 1 2

3 4 5 6 7

8 9

10

Martin Luther, Weimarer Ausgabe, Bd. 18, Weimar 1908, S. 361. Vgl. zur Geschichte der Reformation etwa V. Leppin, Das Zeitalter der Reformation. Eine Welt im Übergang, Darmstadt 2009; Th. Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt/M.-Leipzig 2009; U. Rublack, Die Reformation in Europa, Frankfurt/M. 2003; G. Elton, Europa im Zeitalter der Reformation 1517-1559, 2. Aufl. München 1982. Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, übers. von P. Knauer, 4. Aufl. Würzburg 2006. Ebda, Zweite Woche, Vierter Tag, S. 73. Ebda, S. 142 (Dreizehnte Regel). Ebda, Zweite Woche, S. 64. Vgl. für einen Überblick: E. W. Zeeden, Das Zeitalter der Glaubenskämpfe 1555-1648 (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl., Bd. 9), Stuttgart 1970; H. Schilling/ L. Behrisch (Hrsgg.), Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Frankfurt/M. 1999; A. Schindling/W. Ziegler (Hrsgg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 15001750, Münster 1997; Th. Kaufmann, Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006.. Confessio Augustana: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen 1986 Zum Augsburger Religionsfrieden, seinem historischen Umfeld und seiner Wirkung vgl. etwa: C. A. Hoffmann (u.a.) (Hrsgg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden, Regensburg 2005. M. Heckel, Die katholische Konfessionalisierung im Spiegel des Reichskirchenrechts, in: W. Reinhard/H. Schilling (Hrsgg.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993, Gütersloh 1995, S. 184-227, S. 213.

15. Religion und Obrigkeit 1 2 3

Geoffrey Chaucer, Die Canterbury Erzählungen. Zweisprachige Ausgabe, Bd. 1-3, München 1994. Sir Fulk Greville’s Life of Sir Philipp Sidney, Oxford 1907, S. 35f. Ebda, S. 33. Vergl. die vorangehenden Seiten für eine eingehendere Erörterung.

Anmerkungen

227

Alexander VI, Inter caetera, 4. Mai 1493: F. G. Davenport (Ed.), European Treaties bearing on the History of the United States and its Dependencies to 1648, Washington D.C. 1917, S. 71-75, (Übers. S. 75-78). Die Goldene Rede Elisabeths I. in deutscher Übersetzung in: M. Kaufhold, Die großen Reden der Weltgeschichte, 5. Aufl. Wiesbaden 2009, S. 85-94. Vgl. J. Sugden, Sir Francis Drake, New York 1991. Vgl. Etwa Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt/M. 2006; ders., Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763 (Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte, 10. Aufl. Bd. 11), Stuttgart 2006.

4

5 6 7

17. Die Stimme der Vernunft und des Naturrechts 1

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3 4 5 6 7 8 9

10 11 12

13

14 15 16

Hugo Grotius, De Jure Belli Ac Pacis Libri Tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, Paris 1625, Tübingen 1950 (Die Klassiker des Völkerrechts, 1), Vorrede, 28 (S. 37). Zu Hugo Grotius vgl. etwa die Lebens- und Werkskizze von E. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. Tübingen 1963, S. 253-310. Grotius, De Jure Belli Ac Pacis, II,20,XLVIII, S. 362-364. Ebda, II, 20, LI, S. 365. Ebda, I, 2, S. 58. Ebda, I, 2, I, S. 58. Ebda. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Einleitung zur Tugendlehre VII , S. 520. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: B. Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, Quellen, Nr. 1, S. 280-83. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 62, S. 476. Grotius, De Jure Belli Ac Pacis, I, 1, X, S. 519. Samuel Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetze der Natur, Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, 1). Zu Pufendorf vgl. etwa Wolf, Samuel Pufendorf, in: ders., Große Rechtsdenker, S. 311-370. Pufendorf, Über die Pflicht, Vorwort (S. 15): Das Naturrecht lehrt also die Menschen, wie sie dieses Leben in rechter Gemeinschaft mit anderen Menschen zu verbringen haben.“ Ebda, S. 15. Bertolt Brecht, Leben des Galilei, 3. Bild, Frankfurt/M. 1962, S. 38. Vgl. zu Galileis neuem Denken etwa: Bernard Lovell, Das unendliche Weltall. Geschichte der Kosmologie von der Antike bis zur Gegenwart, München 1983, S. 70-84.

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22 23

24 25

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27 28

29

Anmerkungen

Vgl. dazu die lebendige (und durchaus selbstbewusste) Darstellung von J. D. Watson, Die Doppelhelix, 20. Aufl., Reinbek 1997. Kant, Die Metaphysik der Sitten. Ethische Methodenlehre/Anmerkung Bruchstücke eines moralischen Katechismus, S. 623. Pufendorf, Über die Pflicht, I,3, § 3 (S. 46). Ebda § 9 (S. 48). Vgl. Pufendorf, Über die Pflicht, II, 6, § 14 (S. 167): Und weiter gilt auch das Prinzip, daß der, der befiehlt, ein Ziel zu verfolgen, auch die dafür nötigen Mittel anordnet. Aus all diesen Gründen muß die Sache so angesehen werden, daß Gott mittels des Gebotes der Vernunft schon von Anbeginn an vorgeschrieben hat, daß Staaten gegründet würden, die durch die Errichtung einer höchsten Gewalt geradezu beseelt werden. Zu Innozenz’ IV. Ableitung seiner Amtsgewalt aus der göttlichen Vernunft s.o. (Anm. 101): denn er [d.h. Christus] wäre nicht als ein besonnener Herr erschienen, um mit Ehrfurcht vor ihm zu reden, hätte er nicht nach sich einen solch einzigartigen Stellvertreter zurückgelassen, der dies alles könnte. Pufendorf, Über die Pflicht, II, 4, § 5 (S. 157). Vgl. die bisherige Darstellung, für einen konzentrierten Überblick über die Geschichte des Staates: W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. Vgl. Anm. 21. Zur Frage des Widerstandsrechts vgl. etwa J. Miethke, Der Tyrannenmord im späteren Mittelalter. Theorien über das Widerstandsrecht gegen ungerechte Herrschaft in der Scholastik, in: G. Beestermöllr/H.-G. Justenhoven (Hrsgg.), Friedensethik im Spätmittelalter. Theologie im Ringen um die gottgegebene Ordnung, Stuttgart 1999, S. 24-48. T.C.W. Blanning, Das Alte Europa. Kultur der Macht und Macht der Kultur, Darmstadt 2006. Vgl. auch die seit langem klassische Untersuchung von J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt/M. 2004. Zu Thomasius vgl. etwa Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, S. 371-423. Christian Thomasius, Grundlehren des Natur- und Völkerrechts, Grundlehren, Vorrede § 17, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Frank Grunert, Hildesheim-Zürich-New York 2003 (Christian Thomasius, Ausgewählte Werke, 18), S. 5. Ebda, Grundlehren, S. 73f.

18. Von der Aufklärung bis zur modernen Gegenwart 1

Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen: eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, nach der 5. Aufl. London 1789, München 1978.

Anmerkungen 2 3 4 5

6 7 8 9 10 11 12

13

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23 24 25

229

Voltaire, Das Zeitalter Ludwigs XIV, in: Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Quellen 4, S. 288. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Vorbegriffe, S. 332. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (1784). Das Edikt von Potsdam: D. Mempel (Hrsg.), Gewissensfreiheit und Wirtschaftspolitik. Hugenotten und Waldenserprivilegien 1681-1699, Trier 1986, S. 39-46. Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, 3. Aufzug, 7. Auftritt, Stuttgart 1964, S. 78-80. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 475. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brede et de la Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 19, 16, Stuttgart 1965, S. 304. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1,3, S. 104. I. Berlin, Montesqieu, in: ders., Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, hrsg. von H. Hardy, Frankfurt/M. 1981, S. 219-258, S. 235. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, I, 1, S. 97. A. R. Amar, America’s Constitution. A Biography, New York 2005; C. D. Bowen, Miracle at Philadelphia: The Story of the Constitutional Convention, May to September 1787, Boston 1996; J. N. Rakove, Original Meanings: Politics and Ideas in the Making of the Constitution, New York 1996. Zur französischen Revolution vgl. etwa: F. Furet/D. Richet, Die französische Revolution, Frankfurt 1968; E. Schulin, Die französische Revolution, 4. Aufl. München 2004; M. Vovelle, Die Französische Revolution – Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, München-Wien 1982. Die Darstellung folgt hier meiner eigenen knappen Skizze, in: M. Kaufhold, Die großen Reden der Weltgeschichte, Wiesbaden, 3. Aufl., S. 95-100. Novalis, Schriften, Bd. 3: Das philosophische Werk II, hrsg. von R. Samuel/H.-J. Mähl/G. Schulz, Darmstadt 1983, S. 507-524, S. 507. Schulin, Die französische Revolution, S. 211. Vgl. zu den Kriegen Napoleons etwa: D. Gates, The Napoleonic Wars 1803-1815, London 1997. Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 19. Aufl., Troisdorf 1980, S. 413. Ebda, S. 226. J. S. Mill, Über die Freiheit, Hamburg 2009, S. 94. Ebda, S. 103. Ebda, S. 49f. Zur Geschichte des technischen Fortschritts im 19. Jh. vgl. etwa W. König/W. Weber, Netzwerke und Strom. 1840 bis 1914, Berlin 1990 (Propyläen Technikgeschichte). Konrad Dussel, Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004, S. 69. J. Verne, Reise um die Erde in achtzig Tagen, 20. Aufl., Zürich 1974 (Erstausgabe Paris 1873). Vgl. zum dritten Kreuzzug jetzt Th. Asbridge, Die Kreuzzüge, Stuttgart 2011.

230 26

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29 30 31

32

Anmerkungen

Zur Julikrise vgl. J. Joll/G. Martel, The Origins of the First World War, 3. Aufl. Harlow 2007; W. Mulligan, The Origins of the First World War, Cambridge 2010; G. Kronenbitter, „Krieg im Frieden“. Die Führung der k.u.k. Armee und die Grossmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906-1914, München 2003, S. 487-519. Vgl. etwa E. Hobsbawm/T. Ranger, Invention of Tradition, Cambridge, Ndruck 1992. Vgl. etwa G. A. Ritter, Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998; vgl. auch die klassische Darstellung von Friedrich Engels aus dem Jahr 1845, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 2. Aufl. Leipzig 1848. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Leipzig 1887, Aphor. 125. Zu Nietzsche vgl. etwa H.-M. Schönherr-Mann, Friedrich Nietzsche, Paderborn 2008; V. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 2006. Georg Trakl, Grodek. Vgl. zu diesem Umbruch die Studie von M. Mayer, Der erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven, München 2010. Vgl. etwa M. Broszat, Die Machtergreifung, München 1984, Nationalsozialismus; A. Wirsching (Hrsg.), Das Jahr 1933: Die nationalsozialistische Machteroberung und die deutsche Gesellschaft, 2009; M. Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt/M. 2000; D. Süß (Hrsg.), Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, 2. Aufl. München 2009; P. Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998.

19. Ausblick 1 2

3

Vgl. etwa B. Ward/T. Badger (Hrsgg.), The Making of Martin Luther King and the Civil Rights Movement, Houndmills-Basingstoke-London 1996. Die Globalisierung sollte nicht als alleinige Ursache des Strukturwandels gesehen werden. Vgl. dazu etwa A. Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982-1990 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland), München 2006. Das Aufziehen eines neuen Mittelalters hat W. Reinhard 1999 angesprochen, aber aufgrund fehlender gemeinsamer Wertvorstellungen als unwahrscheinlich verworfen: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 516. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze XI, 20, S. 253.