Europas Werte: Geschichte - Konflikte - Perspektiven 9783495820810, 9783495490761


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Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Zusammenfassung
Was sind Werte? Welche Funktionen haben sie?
Die europäischen Leitwerte
Europäistischer Ansatz
Werte in der EU
Wertdominanzen in Epochen
Werte und Künste
Werte und Tugenden
Werte als Motoren der Weltgeschichte
Gefahren der Einseitigkeiten, Balance der Werte
Fünf Wertefallen in der globalisierten Gesellschaft
Gibt es universalistische Werte?
Vergessene Werte
Kapitel 1: Werte der europäischen Rationalitätskultur
1.1 Das eigenständige Denken
Zusammenfassung
Entstehung und Bedeutung der Idee des eigenständigen Denkens
Was heißt eigentlich: Selbst denken? Fragen und Zweifel als Motoren des eigenständigen Denkens
Produktivität des Denkens
Erforschen, Erkunden, Erfinden: Kultur der Innovation
Institutionalisierungen: Akademie, Schule, Universität
Produktivität in der Ästhetik
Produktivität in der Ökonomie
Demokratie, Ideologien, eigenes Denken
Eigenes Denken und Künstliche Intelligenz
1.2 Wahrheit, Wahrhaftigkeit
Zusammenfassung
Wahrheit und Wahrhaftigkeit
Der europäische Kampf zwischen wissenschaftlicher und religiöser Wahrheit
Was ist Wahrheit? Wahrheitstheorien
»Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« (Kafka). Ideologien, Geschichtslügen, Fake News
Wahrheit als Wert der zivilen Gesellschaft
1.3 Kritik, Kritikfähigkeit
Zusammenfassung
Was ist Kritik, was Kritikfähigkeit?
Schulung der Kritikfähigkeit in der neuzeitlichen Aufklärung
Kritik und Ideologie: Der Marxismus
Radikale Kulturkritik: Heidegger und die »kritische Theorie« Adornos. Kritik als Protest-Kult
Notwendigkeit von Kritik und Kritikfähigkeit für den zivilen Staat der Demokratie
1.4 Demokratie und Toleranz
Zusammenfassung
Athener Demokratie
Preisrede des Perikles auf die Demokratie
Demokratie und Toleranz
Demokratie und neuzeitlicher Staatsvertrag
Die Idee der Gewaltenteilung: Montesquieu
Die Demokratie in Amerika
Vermassung, Totalitarismen, politische Religionen
Wert der Demokratie
1.5 Freiheit
Zusammenfassung
Freiheit antik: Wahlfreiheit, Mut und moralische Bindung
Freiheit mittelalterlich
Der Freiheitskampf des Abaelard und der Heloise
Protestantische Freiheit
Freiheit in der Neuzeit: Philosophie und Wissenschaft
1.6 Individualität, Personalität, Subjektivität
Zusammenfassung
Die drei Begriffe
Individualität
Personalität
Subjektivität
Subjektivität ist Produktivität
Moderne Depersonalisierung. Individualitätskult
Individualität im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung
1.7 Bildung
Zusammenfassung
Herkunft des Begriffs
Ästhetische Bildung
Neuhumanistische Bildungsidee
Der Wert von Bildung in der Moderne
1.8 Rechtssicherheit
Zusammenfassung
Voraussetzung einer zivilen Gesellschaft
Recht im antiken Griechenland
Römisches Recht
Archaisches Recht in Germanien
Deutsches Mittelalter: Christliche Überhöhung
Recht und Rechtlosigkeit in der Neuzeit
Bürgerliches Zeitalter und politische Krisenzeiten
Das Grundgesetz
Menschenrechte
1.9 Wehrhaftigkeit
Zusammenfassung
Wehrhaftigkeit als Schutz und Expansionspolitik
Wehrhaftigkeit in Raum und Zeit: Befestigungsanlagen und Disziplin
Wehrhafte Demokratie
1.10 Technizität, Macht und materieller Wohlstand
Zusammenfassung
Der Begriff der Technizität
Technizität und Macht
Technizität und Ökonomie: Reichtum und Armut
Technische Intelligenz
Kapitel 2: Werte der Religion und des Naturrechts
2.1 Religiosität als Grundwert
Zusammenfassung
Was ist Religiosität?
Wert der Religiosität
Religiöse Erfahrung
2.2 Kritik und Wert der Religionen
Zusammenfassung
Kritik der Religion
Wert der traditionellen Religionen
2.3 Werte des Christentums und des Naturrechts
Zusammenfassung
Soziale Fürsorge, Armutsbekämpfung
Nächstenliebe
Empathie
Gleichheit
Herkunft der Idee
Ist der Mensch von Natur aus gleich? Naturrechtslehre
Das Problem der Gleichheit
Solidarität
Begriffsgeschichte
Katholische Soziallehre
Solidarität in den Problemzonen der Politik der EU
Weitere theologische und rationale Dimensionen von Solidarität
Friedfertigkeit
Schutz der Schöpfung, Nachhaltigkeit
Kapitel 3: Patriotische Werte
3.1 Patriotismus
Zusammenfassung
Warum ist Patriotismus ein Grundwert?
Begriff und Geschichte des Patriotismus
Verfassungspatriotismus
Ein deutscher Patriot unserer Tage
3.2 Muttersprache
Zusammenfassung
Bedeutung der Sprache für das Menschengeschlecht
Spracherlernung, Muttersprache, Dialekt
3.3 Heimat
Zusammenfassung
Heimat kein Grundwert der Rationalitätskultur und des Christentums
Heimaterfahrung und -zerstörung
Heimat in der literarischen Kultur
3.4 Vaterland, Nation
Zusammenfassung
Das Europa der Vaterländer
Begriff der Nation
Geschichte der deutschen Nation
Nationenbildung in anderen Ländern Europas
Kapitel 4: Ausblick: Europäischer Werte-Partriotismus und Werte-Balance
Zusammenfassung
Dominanz von Werten als Merkmal von Kultur-Epochen
Zerstörung und Balance der Werte
Europäischer Werte-Patriotismus
Bibliographie
Namenregister
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Europas Werte: Geschichte - Konflikte - Perspektiven
 9783495820810, 9783495490761

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Silvio Vietta

Europas Werte Geschichte – Konflikte – Perspektiven

B

https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Silvio Vietta Europas Werte

ALBER PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Silvio Vietta

Europas Werte Geschichte – Konflikte – Perspektiven

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Silvio Vietta Europe’s Values History – Conflicts – Perspectives There are three main families of values that have coined and that continue to impact Europe’s cultural history. The first one to mention is the European culture of rationality that goes hand in hand with the values of independent thought, the search for truth, the critical faculty and the ability to take criticism, democracy and tolerance, freedom, individuality, education, but also the rule of law, ability and willingness to protect oneself, technicity, power and wealth. The second group of values includes religious values like openness for religious experience in general and more specifically includes Christian values such as charity, social welfare, empathy, solidarity, peaceableness, protection of creation and ergo sustainability. The third group of values includes patriotic values such as mother tongue, the homeland, the fatherland and the, in terms of history, rather late value of the nation. Human beings, political bodies as well as historical epochs are coined by values that are important to them. Values are hence always in conflict with one another and can also overlap and interfere with one another. Political opinions and entire epochs therefore can be distinguished according to the values that dominate them. In this time of a decline of commonly held values the author conclusively pleads for a balance of values and a European patriotism of values.

The Author: Silvio Vietta, Professor emeritus of German and European Cultural and Literary History at the University of Hildesheim. Several visiting professorships abroad, for example in Italy, Russia, Brasil, India. His most recent publications include: »European Cultural History: An Introduction« (2006), »Rationality: A Global History« (2012), »Literature and Rationality: Functions of Literature in European Cultural History« (2012), »The Global Society: How Occidental Rationality conquered and transformed the World.« (2016)

https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Silvio Vietta Europas Werte Geschichte – Konflikte – Perspektiven

Es sind vor allem drei Werte-Familien, die Europas Kulturgeschichte geprägt haben und nach wie vor prägen: Erstens die europäische Rationalitätskultur mit dem Leitwert des eigenständigen Denkens, der Suche nach Wahrheit, Kritik und Kritikfähigkeit, Demokratie und Toleranz, Freiheit, Individualität, Bildung, aber auch Rechtssicherheit, Wehrhaftigkeit, Technizität, Macht und Wohlstand. Die zweite Werte-Familie umfasst religiöse Werte wie die Offenheit für die religiöse Erfahrung selbst sowie genuin christliche Werte wie Nächstenliebe, soziale Fürsorge, Empathie, Solidarität, Friedfertigkeit, Schutz der Schöpfung, also Nachhaltigkeit. Die dritte Gruppe umfasst patriotische Werte wie Muttersprache, Heimat, Vaterland und den historisch eher späten Wert der Nation. Menschen, politische Gruppen sowie historische Epochen werden geprägt durch die für sie bedeutsamen Werte. Werte stehen somit im Konflikt miteinander und überlagern sich auch. Politische Einstellungen und ganze Epochen können daher nach ihren Werte-Dominanzen unterschieden werden. In Zeiten des Werte-Zerfalls plädiert der Autor abschließend für eine Balance der Werte und einen europäischen Werte-Patriotismus.

Der Autor: Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt. Zahlreiche Gastprofessuren im Ausland, so in Italien, Russland, Brasilien, Indien. Seine letzten Publikationen sind: »Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung« (2006), »Rationalität. Eine Weltgeschichte« (2012), »Literatur und Rationalität. Funktionen der Literatur in der europäischen Kulturgeschichte« (2014), »Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat« (2016).

https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverbild: Marianne (aus »Die Freiheit führt das Volk« von Eugène Delacroix) mit Europaflagge, © Claudio Vietta, Berlin Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49076-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82081-0

https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Zusammenfassung (11) · Was sind Werte? Welche Funktionen haben sie? (12) · Die europäischen Leitwerte (17) · Europäistischer Ansatz (21) · Werte in der EU (22) · Wertdominanzen in Epochen (27) · Werte und Künste (29) · Werte und Tugenden (31) · Werte als Motoren der Weltgeschichte (33) · Gefahren der Einseitigkeiten, Balance der Werte (35) · Fünf Wertefallen in der globalisierten Gesellschaft (36) · Gibt es universalistische Werte? (38) · Vergessene Werte (39)

1. Werte der europäischen Rationalitätskultur 1.1 Das eigenständige Denken . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Zusammenfassung (45) · Entstehung und Bedeutung der Idee des eigenen Denkens (46) · Was heißt eigentlich: Selbst denken? Fragen und Zweifel als Motoren des eigenständigen Denkens (48) · Produktivität des Denkens (50) · Erforschen, Erkunden, Erfinden: Kultur der Innovation (52) · Institutionalisierung: Akademie, Schule, Universität (54) · Produktivität in der Ästhetik (56) · Produktivität in der Ökonomie (59) · Demokratie, Ideologien, eigenes Denken (61) · Eigenes Denken und Künstliche Intelligenz (62) 1.2 Wahrheit, Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Zusammenfassung (64) · Wahrheit und Wahrhaftigkeit (64) · Der europäische Kampf zwischen wissenschaftlicher und religiöser Wahrheit (65) · Was ist Wahrheit? Wahrheitstheorien (69) · »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« (Kafka). Ideologien, Geschichtslügen, Fake News (74) · Wahrheit als Wert der zivilen Gesellschaft (79)

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Inhaltsverzeichnis

1.3 Kritik, Kritikfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Zusammenfassung (81) · Was ist Kritik, was Kritikfähigkeit? (81) · Schulung der Kritikfähigkeit in der neuzeitlichen Aufklärung (83) · Kritik und Ideologie: Der Marxismus (85) · Radikale Kulturkritik: Heidegger und die »kritische Theorie« Adornos. Kritik als ProtestKult (89) · Notwendigkeit von Kritik und Kritikfähigkeit für den zivilen Staat der Demokratie (93) 1.4 Demokratie und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Zusammenfassung (95) · Athener Demokratie (96) · Preisrede des Perikles auf die Demokratie (99) · Demokratie und Toleranz (103) · Demokratie und neuzeitlicher Staatsvertrag (107) · Die Idee der Gewaltenteilung: Montesquieu (115) · Die Demokratie in Amerika (118) · Vermassung, Totalitarismen, politische Religionen (123) · Wert der Demokratie (125) 1.5 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Zusammenfassung (130) · Freiheit antik: Wahlfreiheit, Mut und moralische Bindung (131) · Freiheit mittelalterlich (136) · Der Freiheitskampf des Abaelard und der Heloise (139) · Protestantische Freiheit (142) · Freiheit in der Neuzeit: Philosophie und Wissenschaft (144) 1.6 Individualität, Personalität, Subjektivität . . . . . . . . . . 150 Zusammenfassung (150) · Die drei Begriffe (151) · Individualität (151) · Personalität (154) · Subjektivität (159) · Subjektivität ist Produktivität (161) · Moderne Depersonalisierung. Individualitätskult (164) · Individualität im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung (168) 1.7 Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Zusammenfassung (170) · Herkunft des Begriffs (170) · Ästhetische Bildung (172) · Neuhumanistische Bildungsidee (175) · Der Wert von Bildung in der Moderne (179)

8 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Inhaltsverzeichnis

1.8 Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Zusammenfassung (184) · Voraussetzung einer zivilen Gesellschaft (185) · Recht im antiken Griechenland (187) · Römisches Recht (189) · Archaisches Recht in Germanien (195) · Deutsches Mittelalter: Christliche Überhöhung (196) · Recht und Rechtlosigkeit in der Neuzeit (200) · Bürgerliches Zeitalter und politische Krisenzeiten (204) · Das Grundgesetz (206) · Menschenrechte (208) 1.9 Wehrhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Zusammenfassung (212) · Wehrhaftigkeit als Schutz und Expansionspolitik (213) · Wehrhaftigkeit in Raum und Zeit: Befestigungsanlagen und Disziplin (215) · Wehrhafte Demokratie (219) 1.10 Technizität, Macht und materieller Wohlstand . . . . . . . 223 Zusammenfassung (223) · Der Begriff der Technizität (224) · Technizität und Macht (225) · Technizität und Ökonomie: Reichtum und Armut (227) · Technische Intelligenz (231)

2. Werte der Religion und des Naturrechts 2.1 Religiosität als Grundwert . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Zusammenfassung (239) · Was ist Religiosität (239) · Wert der Religiosität (242) · Religiöse Erfahrung (244) 2.2 Kritik und Wert der Religionen . . . . . . . . . . . . . . 249 Zusammenfassung (249) · Kritik der Religion (249) · Wert der traditionellen Religionen (256) 2.3 Werte des Christentums und des Naturrechts . . . . . . 266 Zusammenfassung (266) · Soziale Fürsorge, Armutbekämpfung (267) · Nächstenliebe (273) · Empathie (277) · Gleichheit (279) · Solidarität (287) · Friedfertigkeit (298) · Schutz der Schöpfung, Nachhaltigkeit (306)

9 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Inhaltsverzeichnis

3. Patriotische Werte 3.1 Patriotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Zusammenfassung (313) · Warum ist Patriotismus ein Grundwert? (314) · Begriff und Geschichte des Patriotismus (315) · Verfassungspatriotismus (320) · Ein deutscher Patriot unserer Tage (325) 3.2 Muttersprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung (328) · Bedeutung der Sprache für das Menschengeschlecht (328) · Spracherlernung, Muttersprache, Dialekt (330)

328

3.3 Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Zusammenfassung (334) · Heimat kein Grundwert der Rationalitätskultur und des Christentums (334) · Heimaterfahrung und -zerstörung (336) · Heimat in der literarischen Kultur (337) 3.4 Vaterland, Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Zusammenfassung (340) · Das Europa der Vaterländer (341) · Begriff der Nation (342) · Geschichte der deutschen Nation (344) · Nationenbildung in anderen Ländern Europas (348)

4. Ausblick: Europäischer Werte-Partriotismus und Werte-Balance Zusammenfassung (359) · Dominanz von Werten als Merkmal von Kultur-Epochen (359) · Zerstörung und Balance der Werte (362) · Europäischer Werte-Patriotismus (365) Bibliographie Namenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

10 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

Zusammenfassung (1) Werte sind kollektive Leitvorstellungen für das Denken und Handeln von Menschen in ihren jeweiligen Kulturen. Als solche haben Werte eine intersubjektive Gültigkeit und meist auch eine über Generationen hinausreichende Dauer. (2) Werte bilden sich und stehen in einem Zusammenhang mit ›verwandten‹ Werten, bilden in diesem Sinne ›Wertefamilien‹. Die drei wichtigsten Wertefamilien der europäischen Kulturgeschichte sind: (A) die aus der Antike stammende Rationalitätskultur, (B) die religiöse Wertefamilie mit den karitativchristlichen Werten, (C) patriotische Werte. (3) Werte materialisieren sich in Institutionen wie die rationalen Werte in Bildungsinstanzen wie Schulen, Akademien, Universitäten, religiöse Werte in Klöstern, Kirchen, Kathedralen, patriotische Werte in nationalen Institutionen. (4) Werte motivieren Menschen und sind Motoren der Geschichte. Sie dominieren Epochen, die wiederum nach ihren Wertdominanzen zu unterscheiden sind. (5) Auch die Entwicklung der Künste steht im Zusammenhang mit den epochal je dominierenden Werten. Vielfach artikulieren die Künste Kritik an der jeweiligen Wertedominanz einer Epoche, zumal wenn Werte einseitig dominieren. Das gibt der europäischen Kulturgeschichte auch einen dialogischen Charakter: Werte und Wertekritik. (6) Einseitige Wertdominanzen erzeugen zumeist problematische, ausgeglichene Wertbalancen eher stabilere politische Strukturen. (7) Aufgrund ihrer relativen Kulturabhängigkeit gibt es keine universalistischen Werte. (8) Es gibt in jeder Kultur ›vergessene Werte‹, in der dominanten europäischen Wertekultur sind dies Werte wie ›Liebe‹ und ›Glück‹, die jedoch eine starke Präsenz in der europäischen Literatur haben. (9) Plädoyer für einen europäischen Wertepatriotismus.

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Einleitung

Was sind Werte? Welche Funktionen haben sie? Alle Kulturen der Welt folgen Werten. Werte bestimmen die Zielrichtungen dieser Kulturen, das Denken, Wollen und Handeln der Menschen in diesen Kulturen. Werte sind in diesem Sinne: kollektive Leitvorstellungen für das Denken und Handeln von Menschen in ihren jeweiligen Kulturen. Als solche haben Werte eine intersubjektive Gültigkeit und meist auch eine über Generationen hinausreichende Dauer. Werte haben somit eine Funktion nach außen wie nach innen: Sie integrieren Menschen in den Wertekanon einer Gesellschaft, die allererst durch ihre gemeinsamen Werte zu einer Gesellschaft zusammengeschweißt wird. Mit Werten und durch Werte konstituieren sich Gesellschaften. Werte integrieren somit auch den Einzelnen in einen Wertezusammenhang – den der jeweiligen Gesellschaft, in welcher der Einzelne lebt und durch den Werteverbund aufgehoben ist. Werte sind somit auch Machtmittel der Inklusion wie Exklusion, eben derjenigen, die zu einer Wertegemeinschaft gehören, und derjenigen, die nicht. Der deutsche Begriff ›Wert‹ entspringt einem ökonomischen Umfeld. Das althochdeutsche Wort ›werd‹ bedeutet ›Kaufpreis‹, aber bezeichnet auch die kostbare Ware, die einen hohen Kaufpreis verlangt (Kluge: Etymologisches Wörterbuch, 856). Bereits dieses Wort hat also eine subjektive Seite – die Wertschätzung – und eine objektive Seite, dessen Gegenstand. Erst im 19. Jahrhundert wird der Wertebegriff zu einem Zentralbegriff zunächst der Ökonomie, dann auch der Philosophie. Friedrich Nietzsche macht ›Wert‹ zu einem Zentralbegriff seiner Spätphilosophie und hier bereits im Zusammenhang mit einer radikalen Entwertung der abendländischen Leitwerte. Nietzsche nennt das »Nihilismus«. Für Nietzsche ist der Nihilismus »die zu Ende gedachte Logik unserer großen Werthe und Ideale« (Nietzsche: Sämtliche Werke 13, 190) – und knüpft daran seine eigene neue Werte-Theorie. Auch ein nachfolgender großer Denker und Soziologe – Max Weber – sieht seine Zeit in einem ähnlichen Licht. Wie Nietzsche erkennt Weber – und nennt dafür auch bereits Gründe –, dass die Neuzeit und Moderne einen gewaltigen Prozess der »Entwertung« der traditionellen Werte mit sich bringt. In seinem berühmten Vortrag »Wissenschaft als Beruf« von 1917 sagt er: »Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, 12 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Was sind Werte? Welche Funktionen haben sie?

daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit […]« (Weber: Wissenschaft als Beruf 109). Aus dem Mangel aber versucht Weber eine Tugend, zumindest für die Wissenschaft, zu machen, indem er deren Wertfreiheit postuliert. Aber gehen wir zunächst zurück in die Geschichte des Wertes ›Wert‹. In der europäischen Philosophiegeschichte gibt es mindestens drei wichtige Deutungsversuche von Werten, denen allen eines gemeinsam ist: Sie verstehen ›Werte‹ als an-sich-seiende überzeitliche Wesenheiten. Es sind also alles Positionen eines traditionellen WerteObjektivismus: (1) Der Platonismus. Er deutet Werte als Ideen, die unabhängig vom Menschen quasi wie Fixsterne am Ideenhimmel über uns prangen. Platons höchster Wert ist »das Gute« (»agathon«), von dem er glaubte, dass es eine Art kosmischer Wert sei, der nicht nur die Leitidee des Menschseins sein sollte, sondern auch die Leitidee des Kosmos ist. Im Dialog »Politeia« entwickelt Platons Sprachrohr Sokrates den Begriff des »Guten« im Sinne einer höchsten Wertethik, nach der jeder Mensch strebe (Politeia, 505 d-e). Das »Gute« stellt darüber hinaus den höchsten Wert der kosmischen Ordnung dar, in der auch der Mensch steht, dessen Seele es anleitet und nach dessen Maßgabe der Mensch auch den Staat regieren soll (Platon: Politeia 608 e u. a.). Wir erkennen nach Platon Werte, indem wir zu ihnen geistig hinauffahren in immer abstraktere Gefilde der reinen Ideen. Im Dialog »Symposion« beschreibt Platon eine solche geistige Auffahrt bis zur ›Schau‹ der reinen Idee des Schönen. (2) Die mittelalterliche Theologie: Sie identifiziert die Werte des Guten, Wahren, Schönen, Gerechten, Ewigen und Dauerhaften mit dem Begriff Gottes als Inkarnation all dieser Werte, auch wenn es in der Zuschreibung von Qualitäten erhebliche Unterschiede in der mittelalterlichen Theologie gab. Gott ist das »summum bonum«. Die höchsten Werte wurden also mit Gott identifiziert, und der war als Schöpfer allen Seins unabhängig von seinen Geschöpfen zugleich der Garant der Werte und ihrer Geltung in der Schöpfung. (3) Die neuzeitliche Subjektphilosophie: In der Neuzeit wird es dem Denken klar, dass Wertsetzungen dem menschlichen Denken selbst entspringen. Aber wie können sie da objektive Gültigkeit beanspruchen? Was nach Kant einen absoluten Wert beanspruchen kann, ist die »Würde« des einzelnen Menschen. Kant verbindet sie mit dem Begriff der Sittlichkeit der Menschheit. Und in ihr gründet das allgemeine Menschliche, mithin Übersubjektive als derjenige 13 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

Wille, der allgemeine Verantwortung für die Menschheit als Ganze übernimmt und dies auch als Richtschnur für sein Handeln. Das ist Kants berühmter kategorischer Imperativ: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« (Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 45). Kant geht davon aus, dass der Mensch einen sittlichen Kern hat, der gut ist und daher in allen Menschen schlummert, für alle Menschen zuträglich ist und daher auch übersubjektiv allgemein verbindlich. Ähnlich wie Platons Annahme einer Leitidee des Guten ist auch Kants Annahme eher utopisch. Hat ja doch die Anthropologie der Moderne und eigentlich die gesamte Geschichte der Menschheit gezeigt, dass die Geschichte weder vom Guten noch vom Sittlichen gelenkt wird. Eher ist es so, dass der Willenskern der Menschen stärker auf egoistische Ziele denn auf das allgemein Menschliche gerichtet ist und dass überhaupt abgründig Böses und negatives Denken genauso zur Natur des Menschen gehören wie das sittlich Gute. In der nach-kantischen deutschen Philosophie gibt es dann wiederum zwei Richtungen von Werte-Objektivisten. Ein Denker wie Heinrich Lotze geht zwar davon aus, dass uns Werte durch das subjektive Gefühl vermittelt werden, hält aber dabei an der »Geltung« des absoluten »Wertes des Guten« fest, wie auch am Bestand »absoluter ewiger Wahrheiten« (Lotze: Logik, 505 ff). Das ist ein wiedererstandener Platonismus. Die andere Richtung geht aus von Kants Transzendentalismus, versucht diesen aber zu korrigieren. So postuliert Wilhelm Windelband, dass die Philosophie im systematischen Sinne nichts anderes sei als eine »kritische Wissenschaft von den allgemeingiltigen Werten«, nämlich abgeleitet wie bei Kant aus der gesetzgebenden Vernunft (Windelband: Präludien I, 29 ff). Windelband ist geradezu ›empört‹ über den »schrankenlosen Individualismus« der Moderne und dessen »Relativierung aller Werte«: »Die Empörung des schrankenlosen Individualismus gipfelt in der Behauptung der Relativität aller Werte.« (Windelband/Heimsoeth: Lehrbuch der Philosophie 579) Das ist nach Windelband »die Abdankung der Philosophie und ihr Tod. Deshalb kann sie nur weiterleben als Lehre von den allgemeingültigen Werten« (ebd., 580). Da hatte aber bereits Nietzsche die »Umwertung aller Werthe« verkündet und damit auch die Relativität von Werten. Die Werte-Objektivisten versuchten ein Boot zu retten, das Ende des

14 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Was sind Werte? Welche Funktionen haben sie?

19. Jahrhunderts bereits gekentert war, nämlich der Begriff der Absolutheit der Werte und der Glaube an sie. Zu den Rettern absoluter Werte auf Kantischer Grundlage gehören auch Nicolai Hartmann, Max Scheler u. a., die Werte für Wesenheiten halten, die wie mathematische Wahrheiten eine reine objektive ideale Existenz haben. Hartmann überschreibt sogar ein Kapitel mit dem Titel: »Vom idealen Ansichsein der Werte« (Hartmann: Ethik, 148 ff). »Werterkenntnis ist reine Seinserkenntnis […] Ihr Gegenstand ist dem Subjekt gegenüber ein […] selbständig Seiendes« (ebd., 149). Max Schelers voluminöses Werk: »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik« geht zwar einen anderen Weg. Er gründet ebenfalls auf Kant, will ihn jedoch zugleich widerlegen. Aber auch für Scheler sind Werte ideale apriorische Wesenheiten – daher »Formalismus«, die sich in der phänomenologischen Wesensschau zeigen und in den »Gütern« als Wertträgern materialisieren, daher »materiale Wertethik« (Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 68 ff und 105 ff). Ohne im Einzelnen diese Diskussion der historischen WertEthiken weiter zu verfolgen, kann man sich jetzt schon fragen: Woran krankt der traditionelle Werte-Objektivismus, auch dann, wenn er sich traditionell als übermenschliche Größe darstellt und neuzeitlich-kantisch im transzendentalen Subjekt verankert? Das Hauptproblem des Werte-Objektivismus besteht darin, dass er die Historizität und Relativität der Werte nicht erkennen kann, wenn er diese in ein ›ideales‹ ›An-sich-Sein‹ jenseits der Geschichte im Ideenhimmel oder ins transzendentale Ich verschoben hat. Werte sind, wie wir bereits sagten, kollektive Leitideen unseres Denkens und Handelns. Als solche haben sie für die Gesellschaft und das Individuum eine integrative Funktion. Einerseits. Andererseits sind aber Werte bereits Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse des Zusammenlebens. Werte formieren sich in und durch die Kulturgeschichte, die sie ihrerseits wiederum formen. Werte hängen nicht am Himmel, fallen auch nicht vom Himmel, sind auch nicht ewiger Bestandteil aller Menschen, sondern bilden sich im gesellschaftlichen Zusammenleben von Menschen und wirken wieder auf dieses als Leitideen ein. Werte sind somit Produkte und Motoren der Kulturgeschichte der Menschheit. Sie werden in der Kulturgeschichte der Menschen erfunden und wiederum prägen sie diese. Wie aber kann ein Wert zugleich Produkt als auch Motor sein? Nehmen wir ein Beispiel: Die Idee der Freiheit. Sie war im frühen 15 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

Stadium der Athener Politik noch gar kein expliziter Wert, leitete aber bereits das Handeln der Griechen im Kampf gegen die Perser und wurde so dann auch zu einem expliziten Leitwert der Athener Demokratie. Darauf gehen wir in den entsprechenden Kapiteln zu den Werten Freiheit und Demokratie (1, 4 und 1, 5) genauer ein. Halten wir hier allgemein fest: Die Genese von Werten gehört selbst in die Kulturgeschichte der Menschheit, ist aber oft in ihrer historischen Abfolge nicht genau zu verfolgen. Alle Werte der Menschheit sind historische Werte, aber in ihrer Entstehung selbst nicht immer genau historisch zu rekonstruieren. Die Erkenntnis, dass Werte Produkte der Kulturgeschichte sind, hatte schon der Neukantianer Heinrich Rickert in seiner Studie mit dem Titel »Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft« von 1926. Rickert – Schüler von Windelband und Alois Riehl – war der Meinung, dass die Natur keine Werte produziere, sondern dass diese ausschließlich dem Feld der Kultur vorbehalten seien. Die Seinsform von Werten ist nach Rickert »Geltung«. »Natur wäre danach das bedeutungsfreie […], Kultur dagegen das bedeutungsvolle, verstehbare Sein« (Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 22). Die empirischen Kulturwissenschaften haben es mit diesen Bedeutungen – eben »Werten« – zu tun, und bei denen »kann man nicht fragen, ob sie wirklich sind, sondern nur, ob sie gelten« (ebd., 21). Die Geltung von Werten aber vollzieht sich nach Rickert so, dass sie mit Wirklichkeiten »verbunden« werden und damit an den Dingen, die wir für wertvoll erachten, »haften« (ebd., 86 und 81) – praktisch wie ein post-it-Zettel an einem Gegenstand: »Der Wert kann erstens an einem Objekt so ›haften‹, dass er es dadurch zum Gute macht, und er kann außerdem mit dem Akte eines Subjektes so verknüpft sein, dass dieser dadurch zu einer Wertung wird.« (ebd. 86) Die empirischen Kulturwissenschaften haben nun die Funktion, die Kulturwerte – die »Werte, die an der Kultur haften« – in einem individualisierenden Interpretationsverfahren zu erkennen und zu würdigen. Der Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaften sind demnach »Güter und wertende Menschen« (ebd., 86). An dieser Theorie ist zunächst einmal bemerkenswert, dass sie die Kulturgeschichte als den eigentlichen Nährboden der Wertetheorie erkennt und damit diese auch zum Gegenstand für die Werte-Forschung macht. Aber muss dies zu einem solchen Gegensatz von Natur- und Kulturwissenschaft führen? Ist nicht auch die Naturwis-

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Die europäischen Leitwerte

senschaft permanent damit befasst, Hypothesen zu bilden und damit auch zu werten, was relevant für die Forschung ist und was nicht? Und wie steht es mit der »Haft«-Theorie der Werte? Ist das nicht eine sehr äußerliche Form von Bewertung, die Rickert da als Modell zugrunde legt? Sicher, Rickert hat erkannt, dass Wertsetzungen subjektive Akte sind und dass sie sich in der Kulturgeschichte, zu der eben auch die Naturwissenschaften zählen können, vollzieht, aber doch nicht als ein äußerliches Anheften von Wertmarken an ein Wertobjekt. Akte des Bewertens sind Akte der Konzeptualisierung von Seiten des Menschen. Sie gründen in der Tat in der Kulturgeschichte als einem Reservoir an kulturellen Einstellungen und Bewertungsformen. Die Kategorie des »Wertes« steckt also bereits in der Sichtweise des Menschen auf Objekte und ist daher gar nicht angemessen als ein nur äußerlicher Akt der Abstempelung von Objekten als Gütern beschreibbar. Denn: Werte sind »Leitvorstellungen«, sagten wir, und diese verbinden sich so mit dem ›Objekt‹, dass sie dieses selbst durch die Perspektivität ihrer Hinsichtnahme prägen und durchdringen und nicht nur äußerlich daran haften.

Die europäischen Leitwerte Die europäische Kulturgeschichte hat vor allem drei Wertefamilien hervorgebracht, die die Geschichte Europas und heute auch der Welt geprägt und radikal verändert haben. Ich nenne diese drei Wertefamilien vorweg, will aber kurz erklären, was ich mit der Metapher der ›Familie‹ meine: Werte entstehen und wirken zumeist nicht isoliert, sondern in einem inneren Zusammenhang mit anderen, ›verwandten‹ Werten. Solche innere Verwandtschaft von Werten nenne ich: Wertefamilien. Ich vermeide damit den Begriff ›System‹, weil Werte, streng genommen, nicht Systeme bilden, wohl aber in einem inneren Zusammenhang stehen. Wir erläutern das jetzt am besten an den drei zentralen abendländischen Wertefamilien: (1) Die Wertefamilie der Rationalitätskultur. Sie entsteht in der griechischen Antike – unter dem Leitbegriff »logos«. Dabei wirksam war auch der Einfluss anderer Hochkulturen wie der babylonischen, ägyptischen, phönizischen. Die Griechen waren, und wussten dies auch, kulturelle Erben, wie Herodot in seinen »Historien« auf den Spuren der großen Nachbarkulturen nachweist. Die griechischen Kulturwerte sind aber in der Form, wie wir sie dann in Griechenland 17 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

vorfinden, eigenständige Kulturleistungen der Griechen. Die Wertefamilie der Rationaliätskultur umfasst: 1.1 den Leitwert des eigenständigen Denkens. Das, was die europäische Kultur am nachhaltigsten von allen anderen Weltkulturen unterscheidet, ist der hohe Wert, den sie von ihren frühen Anfängen in der griechischen Antike an auf das eigene Denken legte. Das eigene Denken ist einer der höchsten Werte der abendländischen Kulturgeschichte und zugleich Ursprung und Grund einer ganzen Kultur des Abendlandes: der Kultur der Rationalität, wie sie sich in Philosophie und Wissenschaft ausgeprägt hat und in der Form ihrer technischen Umsetzung die heutige Weltgesellschaft prägt. Zu diesem Leitwert gehört 1.2 der Leitwert der Wahrheit und Wahrhaftigkeit als methodisches Ideal und Zielvorgabe des eigenen Denkens wie auch der demokratischen Öffentlichkeit und des privaten Lebens, 1.3 der Leitwert der Kritik und Kritikfähigkeit als Bedingung der Möglichkeit zwischen wahr und falsch sowie anderen Alternativen des Denkens und Handelns zu unterscheiden, gehören 1.4 Demokratie und Toleranz der vor dem Gesetz gleichen Bürger und ihres in ihrer Unterschiedenheit respektvollen Zusammenlebens, 1.5 der Wert der Freiheit als Bedingung der Möglichkeit eines selbstbestimmten politischen Lebens, 1.6 die Werte der Individualität, Personalität, Subjektivität als Entwicklungs- und Bildungsspielräume des eigenen Ich, 1.7 der dazu gehörige Wert der Bildung als Bedingung der Möglichkeit der Entwicklung einer solchen Individualität, Personalität, Subjektivität, 1.8 der Wert der Rechtssicherheit als Bedingung des sicheren und zivilen Zusammenlebens der Bürger, 1.9 der Wert der Wehrhaftigkeit in der Verteidigung der Werte, insbesondere der Werte der Freiheit, Demokratie und Rechtssicherheit, 1.10 der Wert der Technizität als praktische Umsetzung von Rationalität in Technik auf den verschiedensten Anwendungsgebieten. Was verbindet diese Werte zu einer Familie? Es sind alles Werte, die im Umfeld der Rationalitätskultur im Verlauf der europäischen Kulturgeschichte zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert v. Chr. entstanden sind, wie ich das bereits in einer früheren Studie gezeigt habe (Vietta: Rationalität. Eine Weltgeschichte). In allen diesen Werten 18 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Die europäischen Leitwerte

spielt das eigeständige rationale Denken eine zentrale Rolle für die daraus entstehenden Organisationsformen und auch Instanzen: Ich erwähne die Wissenschaft und Philosophie mit ihren Institutionen der Schulen, Akademien, Universitäten, die öffentlichen Medien als Organe einer möglichst wahrheitsverbundenen Berichterstattung, die politischen Organisationen demokratischer Regierungen mit ihren Parlamenten und Amtssitzen, die Institutionen der Verteidigung mit ihren Kasernen und Waffenarsenalen und – letztlich – die Umsetzung wissenschaftlichen Denkens in technische Anwendungen, die heute unsere gesamte Alltagskultur prägen und bestimmen. Während die erste Wertefamilie eine stark säkularisierende Wirkung zeitigt, entfaltet die Wertefamilie (2) religiöse Werte, die nicht in erster Linie kognitive Wissens-Werte sind, sondern emotionale Glaubens-Werte: 2.1 Die Bedeutung von Religiosität als anthropologischer Grundwert. Religiosität meint jene von dem Theologen Friedrich Schleiermacher so erkannte religiöse Anlage des Menschen, in seinem Bewusstsein eine Dimension der Unendlichkeit zu haben, die allerdings unbestimmt bleibt und durch keine bestimmte Gottesvorstellung gefüllt ist. Sie ist aber die Bedingung der Möglichkeit von Gottesvorstellungen und Religionen. 2.2 Die Bedeutung der traditionellen Religionen als Werte: Diese Wertediskussion führt uns einerseits in die Kritik der Religion wie auch zu deren positiver Wertabschätzung durch die moderne Soziologie und Philosophie in der zunehmend rational-technologisch geprägten Wirklichkeit, 2.3 Die Bedeutung der christlichen Religion mit ihren karitativen Werten der Armenfürsorge, Nächstenliebe, Empathie, Gleichheit der Geschöpfe, Friedfertigkeit, Nachhaltigkeit. Alle diese Werte gehören in die Familie der Glaubens-Werte, sind mithin nicht primär rational begründet, sondern im Glauben und durch ihn. Wenn die Wertefamilie (1) in erster Linie auf Effizienz zielt, begründet die Wertefamilie (2) in erster Linie soziale und mitmenschliche Werte sowie einen für ihn wesentlichen TranszendenzBezug des Menschen. Es sind andere Institutionen, die die Wertefamilie (2) begründet hat: In der Antike Tempel, im christlichen Mittelalter Kirchen, Klöster, Kathedralen, aber auch kirchliche Institutionen der Armen- und Krankenfürsorge u. a. Während die Werte von (1) stark in der kognitiven Rationalität begründet sind, gründen die Werte von (2) stärker in der Emotionalität. 19 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

Schließlich die Wertefamilie (3): Sie ist entstehungsgeschichtlich die letzte der drei Wertefamilien, die patriotischen Werte: 3.1 der Patriotismus als zentraler Wert einer Beziehung zu seinem eigenen Vaterland als primärem Lebensraum, 3.2 Heimat als Beziehung zum unmittelbaren Lebensraum der frühen Lebenserfahrungen, 3.3 Muttersprache als erste Sprache und Mutter aller weiteren Sprachen, 3.4 Nationenbewusstsein – nicht Nationalismus! – als positive Beziehung des Menschen zu jenem Staat, in dem er heimisch ist oder heimisch geworden ist. Auch diese Wertegruppe (3) ist oft stark emotional befrachtet, in Deutschland mit der Besonderheit auch der Ablehnung der eigenen Nation. Die Hauptinstitutionen der Wertegruppe (3) sind Regierungssitze für Königshäuser, Parlamente, Ministerien und auch symbolische Repräsentationen der Nation und ihrer Politiker. Die Institutionen von Werten in entsprechenden Objekten – seien dies Schulen, Kirchen oder Parlamente – kann man auch Materialisierung von Werten nennen. Werte materialisieren sich in Objekten, die ihnen dienen, bzw. Werte schaffen sich Objekte der Eigenrealisierung, der solche Objekte dienen und deren darin verkörperte Werte sie repräsentieren. Werte werden so zu Objekten und zu Funktionsträgern sowie Repräsentanten der Werte, die sie hervorgebracht haben. Es ist klar, dass viele der Werte, wie sie hier vorgestellt werden, auch problematisch sind, umstritten, vielfach als überholt gelten oder gar abgelehnt werden. Auf einen solchen Wertezerfall, den ja bereits Nietzsche beklagte, gehen wir in den Kapiteln zu den Werten eingehend ein. Grundsätzlich aber gehen wir davon aus, dass die europäische Gesellschaft Werte braucht und dass die traditionellen Werte der europäischen Kulturgeschichte so, wie wir sie hier vorstellen, Werte sind, die es nach wie vor wert sind, als Werte akzeptiert oder zumindest diskutiert zu werden. Der Reichtum Europa ist auch seine reiche Wertegeschichte.

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Europäistischer Ansatz

Europäistischer Ansatz Es versteht sich, dass eine Untersuchung der europäischen Leitwerte nicht mehr einen national-philologischen Ansatz verfolgt, sondern einen europäistischen. Den Begriff der Europäistik hat der Linguist Harald Haarmann 1976 in die Welt gesetzt, in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde er von dem Historiker Wolfgang Schmale für die Historiographie verwandt. Eine Hildesheimer Tagung im Jahre 2008 zum Thema hat diese Begriffsbildung aufgenommen und erweitert. 1 Auch für unser Thema einer europäischen Werte-Theorie ist der europäistische Ansatz maßgeblich. Die Wertefamilie der Rationalität mit ihren Ursprüngen in der griechischen und römischen Antike ist ohnehin europäisches Gemeineigentum, auch wenn es sicher unterschiedliche Rezeptionsgeschichten der Antike in den verschiedenen europäischen Ländern gibt. Aber auch diese stehen in einem Diskurszusammenhang, wenn man etwa an die Renaissance der Antike denkt mit der Führungsrolle zunächst von Italien, dann aber der Ausbreitung der antiken Rationalitätskultur und ihrer Wissensbestände von dort aus in den zentralen Ländern Mitteleuropas und heute weltweit. Ebenso wie die Wertefamilie (1) bildet auch die religiöse Wertefamilie (2) einen europäischen Diskurszusammenhang, dies vor allem in der gesamteuropäischen Gelehrtensprache des mittelalterlichen und noch frühneuzeitlichen Lateins. Auch die Säkularisierungsgeschichte der christlichen Werte erfolgte in der europäischen Geschichte der Aufklärung mit Schwerpunkten in England, Frankreich, Deutschland, weniger allerdings in den rein katholischen Ländern des Südens Europas und auch Polens. Schließlich die Wertefamilie (3), der patriotische Diskurs: Auch er ist paradoxerweise eine Erscheinung der europäischen Wertewelt, insofern schon Ende des Mittelalters, Anfang der Neuzeit sich nationale Einheiten wie England, Frankreich, Spanien, Portugal, die Niederlande, auch Polen-Litauen zu Nationalstaaten zu bilden begannen. Die Welle der Bildung von Nationalstaaten setzte sich dann im 19. Jahrhundert fort mit Ländern wie Schweiz, Italien und Deutschland. Im 20. Jahrhundert formieren sich erneut Polen und andere slawische Staaten. Damit folgen alle europäischen Länder einer gesamtVietta / Gehler (Hg.): Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, 9 ff.

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Einleitung

europäischen Bewegung der Nationenbildung – auch und gerade in Konkurrenz zueinander – und somit der Idee des nationalen Denkens. Die europäischen Quellen der Wertefamilien Europas werden in den Kapiteln zu den einzelnen Werten so weit rekonstruiert, dass die zentralen historischen Entwicklungslinien dabei sichtbar werden. Die europäische Werte-Theorie selbst verdankt sich somit einem historisch-europäistischen Ansatz und vertritt diesen.

Werte in der EU Der Prozess der Vereinigung der Länder Europas zur Europäischen Union vollzog sich – auch wenn das nicht immer explizit wurde – auf der Grundlage eines Identitätsbewusstseins, das sich im Laufe der europäischen Kulturgeschichte entwickelt hat. Schon die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS oder Montanunion, 1952), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Europäischen Atomgemeinschaft (EWG und Euratom) durch die Römischen Verträgen von 1957, später zusammengefasst als Europäische Gemeinschaften im Fusionsvertrag von 1965, waren keineswegs nur rein ökonomisch-politische Gemeinschaftsbildungen. Erst recht die Gründung der Europäischen Union am 1. 11. 1993 zielte explizit und entschieden über die Wirtschaftsgemeinschaft hinaus auf eine politische Gemeinschaft. Diese setzte noch expliziter als die Europäische Gemeinschaft die europäische Kulturgeschichte als Grundlage voraus. Dabei spielen der Kultur- und Wertebegriff auch in den Vertragswerken der EU lange Zeit keine nennenswerte Rolle. Diese Defizite sind greifbar auch in dem bisherigen Scheitern der Verabschiedung einer Verfassung für Europa, wie sie 2004 vom europäischen Konvent erarbeitet wurde, aber nie in Kraft trat. Immerhin wurde eine »Charta der Grundrechte der Europäischen Union« erarbeitet, die auch 2000 im »Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften« veröffentlicht wurde. Darin heißt es in der Präambel: »Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.« Weiterhin heißt es: »In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der 22 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte in der EU

Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.« Darauf folgt der Passus: »Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene bei.« 2 Im Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Lissabonner Vertrags von 2009 werden ebenfalls diese Werte in Artikel 2 erwähnt und damit auch in ein offizielles Rechtsdokument aufgenommen: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.« Der folgende Artikel 3 formuliert darüber hinaus im ersten Absatz das »Ziel der Union […] den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.« Damit wird deutlich, dass die europäische Integration kein Selbstzweck ist, sondern grundsätzlichen Zielen dient, die das Leben der EU-Bürgerinnen und -Bürger positiv bestimmen sollen. Diese Formulierungen dokumentieren bereits einen erheblichen Fortschritt in der Wertegrundierung der EU. Es fällt aber dabei auf, wie auch in der Sekundärliteratur zum Thema, dass die Wahl der Werte recht eklektisch verläuft, dabei ihre geschichtliche Herkunft oft unklar bleibt wie auch deren innere Widersprüche wenig reflektiert werden; auch ist der immer wieder geäußerte Anspruch einer universellen Gültigkeit solcher Werte sehr problematisch. Diese Befunde gelten zum Teil auch für die Forschungsliteratur zum Thema. Der von Helmut Heit herausgegebene Sammelband »Die Werte Europas. Verfassungspatriotismus und Wertegemeinschaft in der EU?«, signalisiert bereits mit Fragezeichen und Untertitel eine Einschränkung des Themas. Ausgangspunkt für einige Beiträge des Bandes ist die eben zitierte Präambel zu dem »Vertrag über 2

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Einleitung

eine Verfassung für Europa« von 2004, die das kulturelle Erbe Europas als eines wertet, aus dem sich »universelle Werte entwickelt haben«, wie es auch in der Präambel formuliert wird (Heit: Die Werte Europas, 11). Der Schluss von Europas Werten auf ihre »universelle Gültigkeit« ist aber problematisch, weil es eben europäische Werte sind, die hier als universelle hochgerechnet werden, und auch die Menschenrechtswerte ja auch in Europa lange Zeit nicht galten. Darauf kommen wir zurück. Der Herausgeber weist zu Recht darauf hin, dass die Zitation von Werten oft »selektiv zugunsten der Selbstverständigungsbedürfnisse« von Gruppen verlief (ebd., 11). Eine Gruppe stützt sich mehr auf die antiken, eine andere mehr auf die christlichen, wieder eine andere mehr auf die patriotischen Werte, so als würden Werte in einer Art Selbstbedienungsladen zum freien Gebrauch feilgeboten. In dem Band weist ein Althistoriker wie Wilfried Nippel zu Recht darauf hin, dass die antike Demokratie noch nicht den Erfordernissen der Moderne nach Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz entsprochen habe. »Demokratie meinte in Athen immer die politische Teilhabe der eigenen, männlichen Bürger. Eine Einbeziehung der Frauen stand nicht zur Diskussion; die Existenz der Sklaverei war unbestritten« (Nippel: Antike Tradition und europäische Kultur, in Heit: Die Werte Europas, 29). Die europäischen Werte sind eben nicht als reife Früchte von dem Baume der Erkenntnis gefallen, sondern wurden in langen und komplexen Geschichtsprozessen herausgearbeitet. Daher gehört zur Wertetheorie auch deren Geschichte. Der moderne Demokratiebegriff wäre wahrscheinlich gar nicht ohne den antiken entstanden, die meisten Autoren der zweiten Aufklärung in der Neuzeit berufen sich auch in diesem Sinne auf die erste in der griechischen und römischen Antike. Das heißt: Die Geschichte der Wertegenese gehört zu den Werten und kann nicht von diesen abgespalten werden. Generell kommt der Herausgeber des Bandes zu dem eher ernüchternden Schluss, dass die »Werterealität der EU […] wenig erforscht« sei und »Skepsis« herrsche »gegenüber der Ernsthaftigkeit des Bekenntnisses zu den europäischen Werten« (ebd. 16). Ein weiterer Sammelband zum Thema ist die Publikation einer von Günter Buchstab herausgegebene Tagung der Konrad-AdenauerStiftung mit dem Titel »Die kulturelle Eigenart Europas«. Der Band ist epochengeschichtlich angelegt mit Beiträgen u. a. zu den griechischen Wurzeln, dem Römischen Recht, dem Renaissance-Humanismus, der Gotik und auch außereuropäischen Wertesystemen. Der 24 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte in der EU

Band bemüht sich bereits um einen Kanon von Grundwerten wie »Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, die Wahrung der Menschenrechte« u. a. (Buchstab: Die kulturelle Eigenart Europas, 20 ff), die in der Tat zentrale Werte der europäischen Kultur darstellen, in dieser Listenform aber in ihrer Systematik nicht klar in ihrem Zusammenhang erkannt werden können. Wichtig ist der Hinweis auf »Vernunft und Wahrheit« (ebd. 35) als Grundwerte, die ja im Wertekanon bereits eine fundierende Funktion haben. Auf die Frage nach einem »gemeinsamen Kulturraum vieler Völker« in Europa antwortet Hans Maier in dem Band eher ausweichend: »Doch was ist die europäische Kultur? […] Ihr Kennzeichen ist Vielgestaltigkeit, nicht Uniformität.« (Ebd., 224) Gleichwohl habe Europa »viele Pilotprojekte für die moderne Welt entwickelt«, wie das »Projekt der Moderne«, die moderne Rechtskultur, den Staat als »Zivilisationsgemeinschaft« (ebd. 225 ff). Skeptisch ist der Band in Bezug auf die Rolle der Religion. »Eine einheitliche europäische Religion (und Religiosität) gibt es so wenig wie eine einheitliche europäische Kultur.« (Ebd., 233) – also letztlich eher ein negativer Befund. Die Publikation einer Wiener Tagung zum Thema trägt den ambitionierten Titel »Europa geeint durch Werte? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte«, herausgegeben von Moritz Csáky und Johannes Feichtinger. Die interessante Frage, ob der auch hier zitierte »Wertekanon des europäischen Verfassungsentwurfs […] einem ›europäischen‹ Gedächtnis« tatsächlich entspreche (ebd., 16), wird in dem Band nicht wirklich nachgegangen. Im Leitbeitrag des Mitherausgebers Johannes Feichtinger werden die »wichtigsten Topoi« wie Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte genannt, aus denen sich »die universellen Werte« entwickelt hätten. Daran wird aber nun die seltsame These von Jack Goody angeschlossen, dass Europa viele dieser Werte ›gehijacked‹ hätte: »Western Democracy has hijacked many of the values that certainly existed in other societys, humanism, and the triad individualism, equality, freedom as well as the notion of charity.« (Ebd. zit., 21 f) Dieser Strang führt nicht weiter, greift auch nicht viel tiefer als in die Zeit des Nationalismus und wird dabei der europäischen Kultur der Werte und ihrem Bezug zu Nachbarkulturen nicht gerecht. Fairerweise muss man anmerken, dass der Beitrag im Band von Michael Borgolte »Die Geburt Europas aus dem Geist der Achsenzeit« (ebd., 45 ff) historisch 25 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

tiefer greift in der Herausarbeitung einer »pluralistische[n] Struktur Europas seit dem Mittelalter« (ebd., 55). Auch hier wird allerdings nicht klar genug erkannt, wie stark das Europa der Neuzeit dem Projekt der abendländischen Rationalitätskultur mit ihrem Aufbruch von Wissenschaft und Technik folgt. Einen herausragenden Beitrag zum Thema europäische Werte haben Hans Joas und Klaus Wiegandt als Herausgeber des Bandes »Die kulturellen Werte Europas« von 2005 geleistet. Das Buch versammelt hochrangige Wissenschaftler und ist kulturgeschichtlich organisiert mit Beiträgen zur Achsenzeit von Shmuel Eisenstadt als Vorgeschichte Europas, zur »jüdisch-christlichen Tradition« von Wolfgang Huber, zur »griechisch-römischen Tradition« von Christian Meier, zur »Vielfalt« Europas im Mittelalter und danach von dem bereits erwähnten Michael Borgolte, vom »Wert der Innerlichkeit« von Kurt Flasch, zum Thema »Rationalität – das Spezifikum Europas?« von Wolfgang Schluchter, Wolfgang Reinhard »Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens« und anderen gewichtigen Beiträgen. Es besteht kein Zweifel, aus dem Band kann ein Leser viel lernen. Allerdings legt der Mithausgeber des Bandes, Hans Joas, der auch ein Buch über die »Entstehung der Werte« publiziert hat, einen zu engen Begriff von ›Wert‹ zu Grunde. Joas verbindet mit dem Begriff offenbar ›gute Werte‹, es geht ihm um »Bindung an das Gute« (Joas / Wiegandt: Die kulturellen Werte Europas, 13). Werte sind aber spätestens seit der »Umwertung aller Werte« durch Nietzsche nicht immer gute Werte und waren es auch vorher schon nicht. Werte sind, wie wir sagten, »kollektive Leitvorstellungen für das Denken und Handeln von Menschen in ihren jeweiligen Kulturen«, und das sind nicht immer ›gute Werte‹ im Sinne einer ›guten Moral‹. Werte haben, wie wir vor allem bei den religiösen Werten noch sehen werden, vielfach auch Camouflage- und Rechtfertigungsfunktion – das alles kann im altmodischen Begriff der »guten Werte« nicht wirklich erkannt und begriffen werden. Auch Joas’ Glaube an das An-sich-Sein von Werten – dass »Werte auch bestehen, wenn rein gar niemand sich an sie gebunden fühlt« (ebd., 16) – lässt sich philosophisch nicht wirklich begründen. Abschließend weisen wir auf eine umfangreiche Geschichte Europas als eine Quelle hin, die deren Entwicklung historisch beschreibt: Michael Gehlers Band »Europa. Ideen, Institutionen, Vereinigung, Zusammenhalt«, der viel stärker auf einzelne politische Institutionen und Entwicklungen eingehen kann, als es eine Kultur26 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wertdominanzen in Epochen

geschichte der Werte vermag, die daher auch eine solche komplementäre Lektüre nahelegt.

Wertdominanzen in Epochen Welche Perspektiven eröffnen sich durch den Wertebegriff? Wenn Werte sich, wie wir sagten, in der Kulturgeschichte formieren, so ist umgekehrt die Kulturgeschichte auch nach ihren Leitwerten zu unterscheiden und zu differenzieren aufgrund ihrer Wertedominanzen. In welcher Epoche der europäischen Kulturgeschichte dominierten und dominieren jeweils welche Werte oder Wertegruppen? Werte und Werteformationen prägen ganze Epochen. Dementsprechend kann man – nach solcher Werte-Dominanz in den Epochen – diese auch danach unterscheiden. Im Wesentlichen sind es in der europäischen Geschichte drei Makroepochen, die wir so unterscheiden können, noch einmal unterteilt in mehrere Mikroepochen: (I) Die Antike mit ihrer Erfindung der Wertegruppe (1), der Rationalitätskultur, wobei in der griechischen Antike eher eine Dominanz von Rationalität im Sinne des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens, der Kultur der Demokratie, Freiheit, und Individualität vorherrschte. Die neue Rationalitätskultur hat in der griechischen Antike die alte Religiosität des Götterglaubens auch nie ganz verdrängt. Die Römische Antike dagegen ist geprägt von der Dominanz des Wertes der Wehrhaftigkeit, also der militärischen Kultur Roms einschließlich ihrer rationalen Strukturierung des Raumes durch geometrisierte Anlagen von Militärlagern, Städten, Straßenbau und Ackerparzellierung, entsprechende Bautechniken sowie einer hoch entwickelten Rechtskultur. Bereits in der römischen Antike entsteht aber ein neues religiöses Bewusstsein, das dem ›Kaiser gibt, was des Kaisers ist‹, gleichwohl aber ein neues Transzendenzbewusstsein schafft und damit auch eine neue Form religiös-sozialen Zusammenhalts. Daraus geht die Makroepoche II hervor: (II) Christliches Mittelalter: Das neue religiöse Bewusstsein wird in der Form des Christentums im 4. Jahrhundert römische Staatsreligion und formiert die Epoche (II), das christliche Mittelalter. Dieses kann selbst in mehrere Phasen unterteilt werden, mindestens aber drei, wie wir im Kap. 4 ausführen werden (360 f). Entscheidend für die Wertetheorie ist dabei die Verquickung von Rationalitätskultur 27 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

und christlichem Glauben in der rationalen Durchgestaltung christlicher Glaubensinhalte in der mittelalterlichen Theo-logie, wie in der Aufnahme und Fortsetzung der antiken Schriftkultur, Baukultur, Rechtskultur, auch Wehrhaftigkeit und Technizität. Es kommt so zu einer Durchmischung von antik-hellenistischen Werten der Wertegruppe (1) mit christlichen der Wertegruppe (2). Das Hochmittelalter wird geprägt von Konflikten zwischen beiden Wertekategorien der weltlichen wie religiösen Macht in der Form der politischen Konflikte und Kämpfe zwischen Kaiser und Papst als deren Repräsentanten. Das späte Mittelalter als Übergangsphase zur Neuzeit ist geprägt durch die Machtverlagerung vom Kaisertum auf lokale Fürsten und Städte, damit eine Entsakralisierung der Macht, mithin Zunahme von rational-säkularen Denkformen und Institutionen in dieser Epoche unter Abkoppelung von der religiösen Dominanz. (III) Die Neuzeit ist eine Epoche der bereits im Spätmittelalter sich abzeichnenden erneuten zunehmenden Dominanz der Rationalitätskultur (1) und ihrer Werte gegenüber den religiösen Werten (2) sowie der Bildung von Nationalstaaten, also der Wertegruppe (3). Dabei vollzieht sich bereits in der frühen Neuzeit ein Paradigmenwechsel von der religiösen zur wissenschaftlichen Weltsicht, der in Wahrheit ein Rückgriff ist auf die Werte der antiken Rationalitätskultur und ihre philosophischen wie naturwissenschaftlichen Einsichten, sowie eine Machtverlagerung weg vom »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« hin zu lokalen Fürstentümern und Städten. In Ländern, so in England und Frankreich, kommt es zu einer frühen Nationenbildung, also eine Bedeutungszunahme der Wertegruppe (3), die sich im Verlauf der Neuzeit noch verstärkt bis hin zu radikalisierten Formen des Nationalismus. Die Phase der Aufklärung ist geprägt von der Dominanz der philosophischen Rationalität (1.1) mit ihren Erfindungen neuer Formen politischer Vergesellschaftung durch Vertragsbindung, Emanzipation des Bürgertums als Träger der Rationalitätskultur, Frühformen technischer Manufakturen und neuer Kriegstechniken, also Zunahme der rationalen Technizität. Ende des 18. Jahrhunderts leitet dann die Französische Revolution einen Prozess der Demokratisierung in Europa ein, führt auch zur Bildung des ersten modernen Nationalstaates und Entwicklung eines nationalen Patriotismus in vielen Ländern Europas nach Wertekategorie (3). Die Epoche der Industrialisierung wird wesentlich geprägt durch Wertekategorie Technizität (1.10) mit ihrem Erfindungsgeist 28 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte und Künste

und ihren Anwendungsformen in der technisch-industriellen Herstellung von Waren sowie expansiven Formen des Finanzkapitalismus und neuen Formen technisierter Kommunikation. Diese Epoche geht Ende des 19. Jahrhunderts über in eine Phase eines extremen Nationalismus bei militärischer Hochrüstung, die z. T. demokratisch nicht legitimiert und nicht kontrolliert war – also unter Ersetzung der zentrale Werte der Demokratie, Freiheit, Individualität (1.4–1.6). Das führt zum Ersten Weltkrieg und, verbunden mit einem pseudowissenschaftlichen Rassismus – also unter Ausschluss von wissenschaftlicher Rationalität, und auch unter massiven Brüchen mit der Rechtsstaatlichkeit (1.8) –, zum Faschismus und zu dem von ihm ausgelösten Zweiten Weltkrieg. Die Nachkriegsphase ist geprägt von den erstmalig im deutschen Kulturraum installierten rationalen Grundwerten des freien Denkens, Demokratie, Freiheit, Individualität, Rechtsstaatlichkeit, dies allerdings zunächst nur in westlichen Teilen Europas, nach 1989 auch in dessen östlichen Ländern. Es kommt zur Neubildung des deutschen Nationalstaates nach Wertgruppe (3), aber vielfachem Ausbleiben eines deutschen Patriotismus auch im vereinigten freien deutschen Nationalstaat. Mit der wirtschaftlichen Prosperität verstärkt sich zunehmend die Problematik der Ausbeutung der Natur. Dem entspricht die Zunahme der Bedeutung des Wertes der Nachhaltigkeit (2.3.7). Die gegenwärtige Weltgesellschaft ist geprägt von der Hochphase einer Technizitätskultur mit der Expansion technischer Formen von Kommunikation, technischer Medien, technischer Formen der (Selbst-) Organisation von Arbeit, Wohnen, Leben, also einer beinahe absoluten Dominanz der Kategorie der Technizität in Europa und weltweit (1.10).

Werte und Künste Die Entwicklung der Künste in Europa und die davon abhängigen Kunstentwicklungen stehen in einem engen Zusammenhang mit den Wertedominanzen der Epochen. Das im Detail zu zeigen wäre ein eigenes Forschungsprogramm. Man kann aber darauf verweisen, dass auch die Künste Wertedominanzen in Epochenstrukturen abbilden. So entwickelt sich in der Epoche (I) der griechischen Antike und ihrer entmythisierenden Rationalitätskultur auch eine Form des 29 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

Theaters, die den Mythos säkularisiert, indem sie ihn zum Schauspiel für ein Publikum umformt und mythische Konflikte wie den zwischen Vatermord und Muttermord in der Dramentrilogie der »Orestie« des Aischylos selbst rational zu lösen versucht (Vietta: Literatur und Rationalität, 36 ff). Die antike Plastik zeigt den Menschen im freien Schritt (Kontrapost) in idealen Proportionen und ausgeglichener Gewichtsbalance als Ausdruck eines mit der Rationalitätskultur verbundenen neuen griechischen Freiheitsbewusstseins. Die Ästhetik von Stadtplanung und Architektur ist seit der Antike über die idealen Stadtutopien der Renaissance bis in die moderne Stadtarchitektur eines le Corbusier geprägt von einer Ästhetik der Geometrie, wie sie bereits die antike Rationalitätskultur als Leitwert entwickelt hat und wie sie verstärkt wieder die ganze Neuzeit und Moderne bestimmt, dies auch im 20. und 21. Jahrhundert global (Vietta: Rationalität. Eine Weltgeschichte, 125 ff »Rationalität und Raum«). In dem von christlicher Religiosität dominierten Mittelalter – Epoche (II) – schreibt Dante ein christliches Epos, deren Schauplätze: Inferno, Purgatorium, Elysium selbst metaphysische Schauplätze des Christentums sind, durchsetzt allerdings von frühneuzeitlichen Motiven des Dichters (Vietta: Literatur und Rationalität, 43 ff). Das christlich-metaphysische Epos Dantes ist auch ein Ort der Kritik an der Kirche und ihrer materialistischen Verweltlichung wie ihrer Machtpolitik. Die christliche Plastik und Malerei des Mittelalters ist dominiert vom Thema des Leidens, der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi sowie seiner Darstellung als Weltenherrscher. Die Neuzeit (Epoche III) kehrt in der sich formierenden Literatur des Romans und auch des Dramas zurück zu säkular-weltlichen Themen. Die Mikroepoche der Moderne seit der Romantik entwickelt ein Modell der Kunst als Produktionsästhetik, das dem Modell der philosophischen Wissenschafts- und Vernunfttheorie folgt: Wird hier Denken und Wissen als ein Akt der Produktion im menschlichen Geiste erkannt, so definiert die Theorie der Romantik die Kunstpraxis als produktive Akte des Künstlers, die künstlerische Imagination als eine Quelle der Erschaffung ›neuer Welten‹ (Kap. 1.1, 56 ff). Der moderne Roman ist seit Goethes »Werther« stark individuell-subjektiv ausgerichtet und ein Ort der Kritik der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Moderne und postmoderne Formen der Entwurzelung und

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Werte und Tugenden

Zerstörung von Heimat sind selbst Themen des modernen Romans (siehe Kap. 3.3, 337 ff). Insgesamt gilt für die Entwicklung der Künste seit der Antike im europäischen Kulturraum, dass sie vielfach Formen der Kritik an der jeweiligen Leitkultur der Epoche artikulieren, zumal wenn Werte einseitig dominieren, mithin die europäische Kultur selbst eine dialogische Funktion aufweist: Werte und Wertekritik. Einer der schroffsten Wertekritiker in der modernen Literatur war Hermann Broch. Auf der Grundlage der Wertekritik von Friedrich Nietzsche, auf Grundlage aber auch der Erfahrung des Ersten Weltkrieges fügt Broch seiner Romantrilogie »Die Schlafwandler« von 1931 eine Reihe von Essays bei mit dem Titel »Zerfall der Werte«. Ich zitiere nach der von Hannah Arendt herausgegebenen Sammlung der Essays von Broch: »hat dieses verzerrte Leben noch Wirklichkeit? Hat diese hypertrophische Wirklichkeit noch Leben? die pathetische Geste einer gigantischen Todesbereitschaft endet in einem Achselzucken, – sie wissen nicht, warum sie sterben; wirklichkeitslos fallen sie ins Leere, dennoch umgeben und getötet von einer Wirklichkeit, die die ihre ist, da sie deren Kausalität begreifen.« (Hermann Broch: Essays II, 5) Nietzsche hatte den modernen Nihilismus so definiert: »Nihilism: Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ›Warum?‹ was bedeutet Nihilism? – daß die obersten Werthe sich entwerthen.« (Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 12, 350). Sowohl Nietzsche als auch Broch zeigen auf, dass die Rationalität eine Hauptagentin des modernen Wertezerfalls ist. Beide sehen aber zu wenig, dass die abendländische Rationalität auch Werte gesetzt hat, dass sich um sie eine ganze Familie zentraler abendländischer Werte schart. Aber zurück zu dem Thema Werte und Künste: Das Kapitel über Bildung plädiert generell auch für eine ästhetische Bildung, weil neben der Schulung des Verstandes die ästhetische Bildung selbst das produktive Vorstellungsvermögen anregen wie auch die ästhetische Sensibilität fördern kann (Kap. 1.7, 172 ff).

Werte und Tugenden Werte stehen zumeist in einer engen Verbindung auch zur Tugendlehre. Der Begriff ›Tugend‹ leitet sich ab von ›taugen‹ und meint ursprünglich die (männliche) Kraft und Tüchtigkeit, darüber hinaus die Tauglichkeit, Vorzüglichkeit einer Person. »Später hat das Wort den 31 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

Sinn unter Einfluss von lat. virtus als Träger der christlichen Tugendlehre gewandelt.« (Kluge: Etymologisches Wörterbuch, 797). Lateinisch ›virtus‹, etymologisch abgeleitet von ›vir‹ (der Mann), verweist ursprünglich ebenfalls auf männliche Tugenden wie Tapferkeit und Mut, vergleichbar auch der Ursprungsbedeutung von griechisch ›arete‹, etymologisch verwandt mit ›agathos‹ (gut) in den homerischen Epen. Diese vorphilosophische Tugendlehre wird dann in der griechischen Philosophie mit der Rationalitätskultur verbunden und damit ›Tugend‹ auch zu einem wissensbasierten Kulturbegriff. Platon verbindet das Wissen um das Gute mit der Tugend, insofern mit jener das Streben nach dem Guten verbunden wird. Bei Aristoteles erfüllt die Phronesis (Besonnenheit, Klugheit) diese Funktion. Bei beiden Philosophen wie auch in der Lehre der Stoa korreliert der Begriff der Tugend auch mit dem der Glückseligkeit als Ziel des guten und tugendhaften menschlichen Lebens. Tugend in diesem philosophisch überhöhten Sinne, meint eine innere Haltung des Menschen, die mit der Wertlehre verbunden, aber nicht mit dieser identisch ist. Tugend ist jene Disposition eines Menschen, das Gute zu realisieren, praktisch wie theoretisch. Dazu muss man es aber zuvor allererst erkannt haben, also wissen. Die philosophische Tugendlehre vernetzt also den Tugendbegriff eng mit der rationalen Wertekultur einschließlich der Persönlichkeitsbildung. In der philosophischen Tugendlehre geht es insbesondere um die Stärkung jenes Teiles der Seele, in welcher die Vernunft angelegt ist. Darüber hinaus preist schon die antike Tugendlehre die Tugenden der Mäßigung, Gerechtigkeit, Weisheit. Germanisch-höfische Tugenden sind Ehre, Treue, Ritterlichkeit, Höflichkeit. Zu den ursprünglich christlichen Tugenden zählen Glaube, Liebe, Hoffnung. Alle christlichen Tugenden stammen letztlich von Gott und bleiben immer verankert im Glauben an Gott. Christliche Tugenden sind also immer wesentlich glaubensbasiert. Genuin christliche Tugenden in diesem Sinne sind Demut, Mildtätigkeit, Barmherzigkeit, Geduld, Nächstenliebe. Als genuin weibliche Tugenden des christlichen Mittelalters, aber auch noch lange in die Neuzeit hinein, werden Häuslichkeit, Keuschheit, Sparsamkeit angesehen. Tugenden werden auch mit sozialen Klassen verbunden. Zu den Herrschertugenden seit der Antike zählen Exzellenz, Milde, Gerechtigkeit. Als typisch preußische Tugenden des Militärs wie Beamtenapparates gelten Disziplin, Pflichtbewusstsein, Aufopferungsbereitschaft. Genuin bürgerliche Tugenden sind oft mit dem Ideal der 32 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte als Motoren der Weltgeschichte

Leistungsgesellschaft verbunden, sozialistische Tugenden mit der Idee der Solidarität. Gegenüber den positiven Tugenden gibt es auch seit der Antike Negativkataloge von Untugenden wie Maßlosigkeit, Hochmut, Habgier, Völlerei, Neid, Gier, Faulheit u. a. Tugenden wie Untugenden sind häufig vernetzt mit den Wertekategorien, stellen aber noch einmal eine eigene Gruppe persönlicher Haltungen und Einstellungen dar gegenüber den abstrakteren kollektiven Leitvorstellungen der Werte. Die Wertlehre steht über der Tugendlehre, insofern Werte die übergeordneten mentalen Einheiten darstellen gegenüber den Tugenden als der Vielzahl der daraus resultierenden und abgeleiteten persönlichen Eigenschaften.

Werte als Motoren der Weltgeschichte Man erkennt bereits aus der knappen Skizze der Wertedominanzen in Epochen, dass Werte auch als Motoren der Kulturgeschichte wirken. Besonders deutlich wird das an einigen der Leitwerte, so dem Leitwert der Freiheit. Dieser mobilisiert bereits die Kräfte der vergleichsweise kleinen griechischen Poleis gegenüber der Übermacht des persischen Großreiches in der Landschlacht von Marathon 490 v. Chr. und der Seeschlacht von Salamis 480 v. Chr. Es ist zweifellos auch das Freiheitsbewusstsein, das Widerstandskräfte übermächtigen Feinden gegenüber freisetzt. Das gilt in der Antike auch für die Frühform des republikanischen Rom gegenüber den etruskischen Königen und andern Invasoren nach Italien wie den Kelten und Karthagern. In der frühen Neuzeit verteidigen die Schweizer 1386 in der Schlacht bei Sempach ihre Freiheit gegenüber den Habsburgern, in den sogenannten achtzigjährigen »Freiheitskriegen« 1568–1648 die Niederländer gegen die Spanier – Schiller hat ihnen ein Denkmal gesetzt mit seinem »Don Carlos, Infant von Spanien«. In Mitteleuropa löste dann die Invasion Napoleons in verschiedene Staaten Freiheitskriege aus, die aber durch den Wiener Kongress wieder in eine traditionelle Form von Fürstenpolitik umgeleitet wurde. Generell kann man sagen: Der Begriff der Freiheit und die Selbstbestimmung, die sich damit verbindet, sind und bleiben ein Motor des politischen Widerstandes in Zeiten der Einengung menschlicher Freiheit, so auch in den totalitären Systemen des Kommunis33 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

mus und Nationalsozialismus mit ihren Massen an Opfern in unterschiedlich langen Zeiten des vergeblichen Kampfes um Freiheit. Die Freiheitskriege des 19. Jahrhunderts gingen über in eine neue Form von Nationalbewusstsein und auch Nationalismus nach Wertegruppe (3), die ihrerseits eine immense Prägekraft in der Geschichte entfaltet hat. Sind die patriotischen Werte doch der Motor für die Bildung der Nationalstaaten in Italien 1869 und Deutschland 1870/71 und anderer Staaten, die ihrerseits jeweils zumindest auf Zeit im Gedanken der Nation die widersprüchlichen politischen Richtungen vereinen konnten. Ein weiterer Motor der Geschichte ist der Wert der Religion (2), wie er sich in der Expansionsgeschichte des Christentums, aber auch des Islams schon kurz nach seiner Gründung im 7. Jahrhundert, aber verstärkt auch in unserer Gegenwart darstellt. Ähnlich wie der Wert der Freiheit kann auch der Wert der Religion Energien freisetzen, die ihren Träger den Tod nicht fürchten lassen und daher zu extremen Leistungen befähigen. Eine andere Frage ist es, die wir auch in Kap. 2 behandeln müssen, inwieweit der Wert der Religion sich mit Kriegen und militärischer Expansion verträgt. Zumindest das Christentum mit der Friedensbotschaft Christi scheint in solcher Kriegskultur, welche die gesamte neuzeitliche Kolonialzeit prägt, indem solche Kolonisierung unter der Flagge der Christianisierung der ›Heidenvölker‹ segelte, nicht angemessen vertreten zu sein. Schließlich der Wert (1) der Rationalitätskultur: Man kann sagen, dass sie die dauerhafteste und nachhaltig prägendste Wertefamilie in der Geschichte darstellt. Die Rationalitätskultur mit ihren Werten des eigenen Denkens, der Wahrheitssuche, Kritikfähigkeit, Individualität, Bildung und Rechtssicherheit wurde auch durch die Glaubenskultur der Religion nicht dauerhaft verdrängt, hat vielmehr jene rational umgeformt zu einer spezifischen Form der abendländischen Theo-logie. Die europäische Rationalitätskultur bildet jene Fortschrittsgeschichte Europas und der heutigen Welt, die vor allem durch die Naturwissenschaft und technische Erfindungen geprägt ist. Unsere Gegenwart wird bestimmt durch den hohen Wert der Technizität (1.10) in der Form der Technisierung, Rationalisierung, Digitalisierung unserer Kommunikation, Ökonomie (Stichwort: Industrie 4.0), Finanztechnik (Stichwort: Global Finance Management), aber auch privaten Lebensräume (Stichwort: Smart City). Marktführer in dieser Entwicklung sind gar nicht mehr europäische Länder und Firmen, sondern US-amerikanische und chinesische Firmen und 34 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Gefahren der Einseitigkeiten, Balance der Werte

die Regionen ihrer Produktionsstätten. Es hat sich hier auch zum Teil die Technizität gegenüber der demokratischen Kontrolle verselbständigt 1.4). Generell können wir in diesem Zusammenhang festhalten: Werte sind keine statischen Größen, sondern Motivatoren für Menschen, indem sie Einfluss nehmen auf deren Mentalitäten und über diese häufig auch emotional Menschen anleiten, politisch zu handeln. Auf diesem Wege werden Werte zu Motoren der geschichtlichen Entwicklung immer dann, wenn sich Kollektive in gemeinsamen Werten und unter ihrer Fahne vereinen und damit ihren politischen Zielen – auch kämpferisch – Nachdruck verleihen.

Gefahren der Einseitigkeiten, Balance der Werte Blickt man auf die Geschichte der Werte in der europäischen Kulturgeschichte zurück, so kann man konstatieren, dass Phasen einer zu einseitigen Wertedominanz auch problematisch sind, umgekehrt eine ausgeglichene Balance der Werte eine eher erfolgreiche und dauerhafte Politik verspricht. Das führen wir abschließend in unserem Buch im Kap. 4 aus. So haben offenbar die gefährlichsten und zerstörerischsten Phasen der politischen Geschichte immer mit einer Defizienz an politischer Rationalität bei gleichzeitiger hoher Technizität zu tun: Dies gilt vor allem für den politischen Totalitarismus, wie er sich bereits im 19. Jahrhundert in einem überspannten Nationalismus anbahnte und in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts – dem von aller Rationalität verlassenen rassistischen Faschismus und Nationalsozialismus einerseits, dem real existierenden SozialismusKommunismus andererseits – in Europa und weltweit ausbreitete. Beide Systeme ignorierten rationale Werte wie das eigene Denken, den Wert der Wahrheit, Kritik und Kritikfähigkeit, Demokratie, Freiheit, Individualität, Bildung, Rechtsstaatlichkeit (1.1–1.8) beinahe vollständig und ersetzten sie durch Ideologien im Sinne von – je nach politischem System – gängigen politischen Formeln und Stereotypen mit dem alleinigen Ziel des Machterhaltes und der Machtexpansion. Diesem Ziel wurden alle anderen Werte untergeordnet bzw. durch dieses vernichtet. Eine Gefahr für die politische Rationalitätskultur war und ist immer auch ein Überdominanz der religiösen Werte. Die katholische Kirche hat in diesem Sinne sogenannte »Ketzer«, deren eigenständi35 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

ges Denken nicht mit ihren Dogmen übereinstimmte, gefoltert und auch verbrannt. Die frühe Neuzeit ist voll solcher Prozesse und Hinrichtungen. Die Auseinandersetzung der christlichen Konfessionen hat auch verheerende Religionskriege in Europa angezettelt. Das u. a. hat das rationale Denken der Aufklärung auf den Plan gerufen, um dieser Form von entfesselter falscher Religiosität Einhalt zu gebieten. In der heutigen Weltkultur ist ein fundamentalistischer Islam eine große Gefahr für eine rationale Form von Denken, Politik und Rechtsstaatlichkeit, zumal dann, wenn er diese Werte durch die »Scharia« ersetzen will. Dass der Islam auch in friedlicher Kooperation mit Christen und Juden koexistieren konnte, zeigt die Geschichte Südspaniens unter der Herrschaft der Almoraviden bis zu deren Vertreibung (siehe 2.3, 301). Wie bereits erwähnt, ist immer auch eine Überdominanz des Nationalismus ein Gefahrenherd für den Weltfrieden, weil zumeist mit Hegemonialansprüchen verbunden. Ein solcher schlechter und gefährlicher Nationalismus ist aber zu unterscheiden von einem positiven Nationalbewusstsein im Sinne einer rational gesteuerten und emotionalen Verbundenheit mit seinem Vaterland (3.1 und 3.4). Generell kann man sagen: Die beste und wohl auch klügste Verbindung der europäischen Werte ist deren ausgeglichene Balance: eine hohe Form von Rationalität nach der Werteskale (1.1–1.10), verbunden mit einer durchaus sich bescheidenden menschlichen Religiosität (2.1), einem hohen Maß an säkular-christlicher Empathie, Solidarität, Friedfertigkeit, Nachhaltigkeit (2.3), aber eben auch mit rationalem Augenmaß für deren Grenzen und Überlastung, sowie einem gesunden nationalen – nicht nationalistischen! – Selbstbewusstsein nach der Wertegruppe (3).

Fünf Wertefallen in der globalisierten Gesellschaft Mittlerweile kommen auch in den westlichen Demokratien Zweifel auf, ob die Form der Demokratie die Probleme der globalisierten Gesellschaft angemessen bewältigen kann. Die Globalisierung hat viele Bürger Europas und der westlichen Welt verunsichert. Das hängt auch damit zusammen, dass viele Bürger dieser Regionen sich durch die Globalisierung bedroht fühlen, auch viele Menschen nicht von den Handelsvorteilen, die sie bietet, profitieren. Es gibt mindesten fünf für unsere Zeit typische Reaktionsformen, die wir als Werte36 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Fünf Wertefallen in der globalisierten Gesellschaft

fallen bezeichnen können. Sie haben alle mit der Vereinseitigung von Werten zu tun, also mit der Asymmetrie der Werte (siehe auch Kap. 4, 362 ff). (1) Die erste Wertefalle inmitten der Globalisierung besteht in der Hoffnung, eine Diktatur werde die Probleme der Globalisierung lösen oder zumindest die Bürger vor deren negativen Wirkungen schützen. Im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts gibt es auch in schon demokratischen Ländern wieder die Tendenz, nach einem ›starken Mann‹ als politischer Führungsmacht zu suchen und diesem auch unbeschränkte Machtbefugnisse zuzugestehen, also eine Tendenz zum Totalitarismus. Diese Sehnsucht ist eine Wertefalle, weil sie keine Probleme löst und – wie man gegenwärtig an der Türkei beobachten kann – die Wirtschaftsprobleme eines Landes eher vergrößert als verkleinert. (2) Die zweite Wertefalle ist die Rückkehr zu einer fundamentalistischen Religion als einer Art metaphysischen Rettungsanker vor den Gefahren dieser Welt im stürmischen Zeitalter der Globalisierung. Diese Wertefalle setzt – wie alle Wertefallen – voraus, dass eine Form der rationalen Aufklärung ignoriert oder gar nicht zur Kenntnis genommen wird. Denn natürlich hat die Aufklärung gezeigt, dass eine derart direkte Form der Hilfeleistung eines Gottes für den Menschen eine »Illusion« ist. Die rationale Aufklärung hat gezeigt, dass solche Formen der Inanspruchnahme Gottes oder der Götter für eigene Ziele und Wünsche auf »Projektionen« des Menschen selbst basieren und im gewissen Sinne ja auch die Eigenverantwortung des Menschen für seine Handlungen ignorieren (siehe auch Kap. 2, 249 ff). (3) Die dritte Wertefalle besteht in einem überzogenen Nationalismus, der auch im Verbund mit den Wertefallen (1) und (2) auftreten kann. Diese Wertefalle, die zu unterscheiden ist von einem legitimen nationalen Selbstbewusstsein, wird immer da zur Wertefalle, wo eine Nation in überheblicher Manier sich von anderen abzugrenzen und gegen andere abzuschotten versucht (siehe Kap. 3.1, 342 ff). Insofern ist diese Wertefalle wie auch die vorigen (1) und (2) eine gestrige Antwort auf die heutigen Probleme, welche aber die globale Vernetzung der Staaten nicht rückgängig machen kann und auch nicht durch Hegemonialbestrebungen sicherer. (4) Die vierte Wertefalle besteht in einem entgrenzten Sozialismus. Der mag durch den positiven Wert der Solidarität motiviert sein, führt aber in eine Wertefalle, wenn er die rationalen Grenzen 37 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

der Belastbarkeit eines Staates oder eine Wertegemeinschaft missachtet und damit in Gefahr ist, diese selbst zu unterminieren oder gar zu zerstören. Auch die ursprünglich christlichen Werte der Armenfürsorge, Nächstenliebe, Empathie und Solidarität können autodestruktiv wirken, wenn sie nicht mit rationalem Augenmaß verbunden sind, also im Verbund mit der Rationalitätskultur vertreten werden (siehe 2.3, 293 ff). (5) die fünfte Wertefalle ist sicher auch ein entfesselter und rational nicht mehr kontrollierter Kapitalismus. Diesem fehlen oftmals die Werte der Empathie, Friedfertigkeit und auch Nachhaltigkeit (Kap. 2.3, 266 ff) und auch eine Form der demokratisch-politischen Kontrolle nach Kap. 1.4. Diese ist freilich um so schwerer zu realisieren, als große Firmen heute international agieren, Rechtssicherheit nach 1.8 aber weitgehend noch in den Händen von Nationalstaaten liegt. Gleichwohl könnte auch ein »Europa der Vaterländer« viel weiter sein in der Kontrolle solcher international und global agierenden Firmen. Die EU bemüht sich auch darum, hat das Thema aber eigentlich viel zu spät erkannt und auf ihre Agenda gesetzt. Sie tut sich schwer, die den einzelnen europäischen Ländern zugestandene Steuerautonomie, welche die ›global players‹ unter den Firmen zur Vermeidung von Steuerabgaben bestens nutzen können, so weit zu korrigieren, dass nicht innerhalb der Wertegemeinschaft der EU die Differenzen in der Besteuerung derart groß sind, dass einige dieser Länder geradezu ›Steueroasen‹ bilden. Es geht auch darum, Steuern dort zu erheben, wo die Gewinne anfallen. Aber das sind Spezialproblem des Steuerrechts der Länder und der EU. Im Grund sind alle diese Wertefallen Formen des Totalitarismus. Die Werte stehen nicht mehr in einem rational ausgewogenen Verhältnis zu anderen Werten, verabsolutieren sich daher und bilden somit Wertefallen.

Gibt es universalistische Werte? Eine Leitfrage des politischen Diskurses der letzten Jahre war die Frage nach universalistischen Werten, wie sie die rationalen Werte der Freiheit, Selbstbestimmung, Individualität, also die Menschenrechte, anbieten. Philosophen wie John Rawls, Richard Rorty, Jürgen Habermas und Hans Joas vertrauen darauf, dass bestimmte europäische Werte 38 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Gibt es universalistische Werte?

auch eine universale Geltung beanspruchen können. Schaut man ihre Argumentationen aber genauer an, erkennt man, dass es immer Hypothesen der europäischen Wertetradition sind, die da global hochgerechnet werden sollen. Werte sind Ergebnisse kulturgeschichtlicher Prozesse und somit immer relativ gebunden an die Kulturen, in denen sie entstanden sind. Das gilt insbesondere für die Hochschätzung der Individual- und Menschenrechte, die andere Kulturen nicht in dieser Form teilen. Kulturen wie die chinesische sind eher geleitet vom Primat des Kollektivs vor dem Individuum und so auch die indische Kultur der sozialen Kasten mit ihrem ganz eigenen Wertesystem. Die »Würde« des Menschen wird eben in der höchsten indischen Kaste der Brahmanen ganz anders definiert als in der untersten der Dalits oder Unberührbaren. Wie man es dreht und wendet, man kommt aus der Partikularität der Kulturwerte nicht heraus und somit auch nicht in die Generalisierung der Allgemeinen Menschenrechte hinein. Ein Wert, der als universal gültig proklamiert werden soll, ist und bleibt immer ein Kulturwert einer bestimmten Kultur. Im Falle der europäischen Kulturgeschichte ist es auch so, dass die heute proklamierten allgemeinen Menschenrechte lange Zeit in dieser selbst ja auch nicht Gültigkeit hatten. Von vorneherein universale Geltung beanspruchen kann kein noch so hochgeschätzter europäischer Kulturwert, es sei denn, im Sinne eines erneuerten Kulturkolonialismus, den aber kein Philosoph wollen können kann, zumal wenn er das Ideal und den Wert einer »herrschaftsfreien Kommunikation« vertritt (dazu auch Kap. 1.8, 208 ff). Etwas anderes ist es, wenn außereuropäische Kulturen sich freiwillig europäischen Werten anschließen und diese übernehmen wollen. Aber das ist dann eine freiwillige Entscheidung der außereuropäischen Kultur und nicht ein Diktat Europas und der westlichen Welt an jene. Mit der Intention, einen so positiven Leitwert wie die politische Form der Demokratie auch in Ländern einzuführen, die darauf nicht vorbereitet sind, haben Europa und die westliche Welt in den letzten Jahren und Jahrzehnten eher politischen Schaden angerichtet als den Ländern des Nahen Osten z. B. geholfen. Ein Wert wie Demokratie steht im Werteverbund mit anderen Werten wie die Eigenständigkeit von Denken, Kritikfähigkeit und Bildung, die eine solche Form der politischen Selbstbestimmung erst ermöglichen. Wo diese nicht in ausreichender Form gegeben sind, lässt sich auch ein positiver Wert wie die Demokratie nicht einfach aufpfropfen. 39 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

Vergessene Werte Es gibt in der reichen europäischen Kulturgeschichte Werte, die keine dominante Rolle in ihr gespielt haben wie der Wert der Liebe und der des Glücks, zweifellos zentrale menschliche Werte. Das hängt mit der Dominanz der Rationalitätskultur in der europäischen Kulturgeschichte zusammen: Rationalität ist eine Denkform, die sich gleich in ihrer Entstehungsphase abgrenzt von den Sinnen, den Emotionen und der Sinnlichkeit. Diese gelten eher als ›Störenfriede‹ bei der Suche nach Wahrheit im Denken (siehe Kap. 1.1, 65 f). Im Mittelalter war es eher der »amor Dei«, die Liebe Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott, in welcher Form das Thema ›Liebe‹ als Wert angesehen wurde. Immerhin kann man erwähnen, dass Martin Heidegger in seiner Zeit der Liebe zu seiner jüdischen Schülerin Hannah Arendt um 1925 nahe daran war, eine Philosophie der Liebe auszubilden. Ansätze dazu finden sich in seinen Briefen an Hannah Arendt. Heidegger greift hier zurück auf einen lateinischen Satz, den er Augustinus zuschreibt, »volo ut sis«, »ich will, dass du seiest«. Das ist eine Liebesauffassung, die den Anderen nicht vereinnahmen will, ihm auch nicht den Stempel des eigenen Ich aufdrücken, sondern in seiner Existenzform sein und werden lassen will. Heidegger schreibt der jungen Frau in einem Brief vom Juni 1925: »Nur solcher Glaube, der als Glaube an den Andern – die Liebe ist, vermag einzig das ›Du‹ wirklich zu nehmen. […] Ich mache mir nicht ein Ideal zurecht – noch weniger könnte ich je versucht sein, Dich darauf hin zu erziehen oder dergleichen; sondern ganz Dich – so wie Du bist und mit Deiner Geschichte bleiben wirst – so lieb ich Dich.« (Hannah Arendt und Martin Heidegger, Briefe, 36) Das ist auch eine Theorie der Liebe als Freiheit des Anderen, die allerdings – anders als die Theorie der Angst, die sich auch in Ansätzen in diesem Briefwechsel findet – keinen Eingang in die Daseinsanalyse von »Sein und Zeit« gefunden hat. (Dazu Vietta: ›Etwas rast um den Erdball‹. Martin Heidegger, 57 ff) Die europäische Kultur hat allerdings ein Medium geschaffen, in welcher die Erfahrung der Liebe eine besondere Rolle spielt: die Literatur. Die Liebe ist ein zentrales Thema der Literaturgeschichte von der frühen Lyrik einer Sappho bis hin zum modernen Roman. Es ist allerdings zumeist eine schmerzliche und tragische Erfahrung von Liebe, welche die europäische Literatur prägt, Hero und Leander sind ihre Leitfiguren in der Antike, Romeo und Julia in der Neuzeit. 40 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Vergessene Werte

Gleichwohl: Über das Medium der Literatur und vielfach auch der Malerei tritt auch der Wert der Liebe und Erotik in den europäischen Wertekanon ein, auch wenn sie darin ein eher unterdrücktes Dasein fristen. Auch das Glück als inneres Glück und Frieden ist kein dominanter Wert der europäischen Kulturgeschichte. Am ehesten noch das christliche Mittelalter hat Formen der »Abgeschiedenheit« – so der Titel einer Predigt des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckart (Meister Eckart: Deutsche Predigten, 58 ff) – hervorgebracht, die Glück nicht im weltlichen Trubel, sondern im Inneren des Menschen suchten und fanden. Andere Kulturen, so die chinesische und indische, haben sich viel stärker auf diesen Bereich konzentriert als die von der »vita activa« befeuerte europäische Kultur. In einer globalen Gesellschaft ist aber ein Werteaustausch möglich und findet auch statt. Es gibt mittlerweile viele Europäer, die von Formen des Buddhismus und anderen fernöstlichen Religionen angezogen sind, wie deren Kulturkreise stark auch von Werten der weltlichen Kultur geprägt werden. Ein solcher Kulturaustausch der Werte über Kulturen hinweg ist selbst ein Ergebnis der Globalisierung und nicht das schlechteste. Schließlich der Wert der Muße: Die Rationalitätskultur ist rastlos, Muße aber ein ruhiges und gelassenes Verweilen in der Zeit. Muße gilt als ein Quellgrund von Kreativität. Ideen und kreative Konzepte kommen oft und gerade nicht im aktiven Arbeitsprozess, sondern in den Phasen der Muße danach oder davor. Insofern war und ist die Muße immer auch eine wichtige Voraussetzung einer kreativen Gesellschaft. Kommen wir aber jetzt konkret zu den europäischen Leitwerten, wie sie sich in der europäischen Kulturgeschichte herausgebildet haben: (1) den Werten der Rationalitätskultur, (2) den religiösen Werten, (3) den patriotischen Werten in ihrer historischen Genese, Begriffsgeschichte, Wirkung und somit auch als ein Fundament der Diskussion über europäische Werte und Werte anderer Kulturen. Unsere Darstellung endet mit einem Plädoyer für einen europäischen Wertepatriotismus, der allerdings gerade nicht auf eine Gleichmacherei der Kulturwerte hinausläuft. Nicht nur die großen europäischen Kulturwerte, sondern auch die Vielfalt der europäischen Kulturnationen und Heimatkulturen zählen selbst zum kulturellen Reichtum Europas. Zum Schluss der Einleitung noch eine Bitte an den Leser: Vieles 41 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Einleitung

in diesem Buch, das ja ein Panorama der europäischen Werte aufblättert, kann nur skizzenhaft ausgebreitet werden. Vieles verlangt nach Ergänzung, vielleicht auch Korrektur, in jedem Falle nach einem produktiven Leser, der eigenständig die Fäden aufnimmt und weiterspinnt. Von Novalis stammt der schöne Satz: »Der wahre Leser muss der erweiterte Autor seyn« (Novalis: Schriften II, 470). Solchem Leser fällt so auch im Sinne des Wertes des eigenständigen Denkens (1.1) die Funktion zu, die Darstellung und Gedanken zum Wertethema aufzunehmen, zu ergänzen und eigenständig weiterzudenken.

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Kapitel 1 Werte der europäischen Rationalitätskultur

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1.1 Das eigenständige Denken

Zusammenfassung (1) Die europäische Kultur ist nachhaltig geprägt durch ihren Appell an das eigenständige Denken. Dieses fordert der eingravierte Spruch »Erkenne dich selbst« über dem Apollotempel in Delphi ein. Als zentrales Merkmal auch der neuzeitlichen Aufklärung nennt Immanuel Kant den »Mut«, sich seines »eigenen Verstandes zu bedienen«. (2) Gegebene Positionen in Frage zu stellen und überlieferte Wissensbestände zu bezweifeln, sind wichtige Hilfsmittel zur Mobilisierung des eigenen Denkens. (3) Im Laufe der europäischen Kulturgeschichte wurde eine Vielzahl von Theorien des Denkens entwickelt. Diese führen von einer passiven Rolle des Bewusstseins als eine Art Wachstafel für die äußeren Eindrücke zu einer modernen Theorie der Produktivität des menschlichen Geistes. Alle Formen kognitiver Prozesse werden in der Eigenproduktivität des menschlichen Bewusstseins erzeugt. Dass dies immer auch neuronal vermittelt ist, bedeutet nicht, dass das Gehirn den menschlichen Willen ausschaltet, vielmehr ist auch dieser physiologisch verankert. (4) Die europäische Kultur des eigenständigen Denkens hat eine innovative Kultur des permanenten Erforschens, Erkundens und auch Erfindens hervorgebracht, die sich fundamental von anderen Weltkulturen unterscheidet. (5) Zentrale Institutionen der Schulung des eigenständigen Denkens sind Akademie, Schule, Universität mit ihren je eigenständigen Kulturgeschichten der Emanzipation des eigenständigen Denkens von kirchlicher oder politischer Obrigkeit. (6) Die Frühromantik überträgt die Theorie der Produktivität des Denkens in die Künste. Diese selbst werden so als Akte der freien Produktivität des Künstlers umgedeutet, Beginn der Autonomie der Künste. (7) In der Ökonomie verbindet sich mit der Produktivität des Denkens die rationale Entwicklung arbeitsteiliger industrieller Produktionsformen mit der Tendenz zur Automatisierung und technischen Selbststeuerung: Gefahren und Chancen der Künstlichen Intelligenz. Diese wird heute 45 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Das eigenständige Denken

nicht mehr zentral in Europa, sondern in den USA und Asien erzeugt, Zeichen der heute weltweiten Verbreitung der ursprünglich europäischen Rationalitätskultur.

Entstehung und Bedeutung der Idee des eigenständigen Denkens Das, was die europäische Kultur am nachhaltigsten von allen anderen Weltkulturen unterscheidet, ist der hohe Wert, den sie von ihren frühen Anfängen in der griechischen Antike an auf das eigenständige Denken legte. Das eigenständige Denken ist einer der höchsten Werte der abendländischen Kulturgeschichte und zugleich Ursprung und Grund einer ganzen Kultur des Abendlandes: der Kultur der Rationalität. Die Aufforderung zum eigenständigen Denken findet sich bereits formuliert in dem Gebot »Erkenne dich selbst« (gnothi seauton), das über dem Eingang des Apollotempels von Delphi eingemeißelt war und dem Weltweisen Chilon von Sparta zugeschrieben wird. Der Spruch, der den Menschen auch an seine Endlichkeit und Sterblichkeit mahnen soll, bekundet den Anfang des philosophischen Denkens im frühen Griechenland bei den vorsokratischen Philosophen. Einer von ihnen, Heraklit, hatte in einem Fragment gelehrt: »Den Menschen ist allein zuteil geworden, sich selbst zu erkennen und zu denken.« (Diels: Fragmente der Vorsokratiker, 30). Die antike Definition des Menschen, wie von Aristoteles formuliert, bestimmt ihn geradezu als ein »denkendes Lebewesen« (zoon logon echon, lat. animal rationale, Aristoteles, Politeia 1253a). Der deutsche Philosoph Immanuel Kant leitet aus der Denkanlage die Forderung der Aufklärung ab: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 55) und er macht daraus das Programm einer ganzen Epoche: Der Mensch solle sich aus der »Unmündigkeit« befreien, zumindest in der Form der öffentlichen Meinung, wie Kant sein Programm auch wieder einschränkt. Am Leitprinzip des Selbstdenkens hängt eine ganze Wertefamilie: Die damit aufgetragene Suche nach Wahrheit mit Hilfe des menschlichen Erkenntnisapparates (Kap. 1.2), die Fähigkeit zum kritischen Denken (Kap. 1.3) will sagen: zur Unterscheidung von wahr und falsch nach Maßgabe des eigenen Denkens, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung des eigenständigen Lebens und der Politik, damit 46 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Entstehung und Bedeutung der Idee des eigenständigen Denkens

auch: die Fähigkeit zur Freiheit als Entbindung von der Unmündigkeit wie auch die damit verbundene Forderung nach politischer Freiheit als Bedingung der Möglichkeit von eigenständigem Denken, selbsttätigem Handeln und eigenverantwortlichem Leben (Kap. 1.5). Die Selbstfindung des Menschen in seiner Individualität, Subjektivität, Personalität ist an das Selbstdenken als deren Bedingung rückgebunden (Kap. 1.6), das politische System der Demokratie an die Selbstbestimmung der selbstbewussten Bürger (Kap. 1.4) und damit gegeben auch die Rechtsstaatlichkeit (Kap. 1.8) und Wehrhaftigkeit (Kap. 1.9) zu deren Sicherung und Verteidigung. Die rationale Technik ist ebenfalls ein Produkt der menschlichen Rationalität, wenn auch – wie all diese Werte – mit vielen Ambivalenzen behaftet (Kap. 1.10). Das abendländische Prinzip des Selbstdenkens ist in diesem Sinne die systematische Grundlage einer ganzen Kette von Werten, deren Geltung ihrerseits Lebens- und Handlungsformen bedingten und ermöglichten, zudem politische Strukturen ebenso wie Institutionen der Bildung und Erziehung ins Leben riefen. Das System der Rationalitätskultur und ihr Leitprinzip des eigenständigen Denkens ist das wichtigste Charakteristikum der abendländischen Kultur. Das eigenständige Denken ist eine griechische Erfindung, zumindest in der Form eines eigenen Leitprinzips. Das bedeutet nicht, dass die Völker und Epochen vor den Griechen nicht auch eigenständig gedacht hätten. Sie haben anders gedacht. Das Denken vor der Revolution der Rationalität war mythisch geprägt. Das Denken erklärte die Welt aus mythischen Mächten der Götter oder eines Gottes. Die griechische vorsokratische Philosophie dagegen erklärt die Welt aus erkennbaren irdischen Ursachen und Kräften wie Wasser (Thales von Milet), Luft (Anaximenes), Feuer (Heraklit), dem Sein (Parmenides), Atomen (Demokrit). Und: Das Wissen um Götter, Menschen und Welt war nicht für die Menschen bestimmt, sondern nur für einen ausgewählten Kreis von Priestern und Herrschern. Es war Geheimwissen. Mit dem Auftrag an den Menschen, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, wird das Wissen öffentlich, der Wissende – Philosophen, Wissenschaftler – eine öffentliche Figur. Die Athener Philosophen Anaxagoras und Sokrates verbreiteten ihr Wissen auf den Märkten von Athen. Das war allerdings auch gefährlich. Der eine musste vor seinen Verfolgern aus Athen fliehen, der andere hat seine Aufklärungslehre wegen Gottesverleugnung mit dem Giftbecher bezahlen müssen. Die ganze abendländische Geschichte hindurch ist 47 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Das eigenständige Denken

eigenes Denken auch mit dem Tode bedroht gewesen. Das gilt insbesondere für das eigenständige Denken im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, als die christliche Wertekultur noch über die Rationalität dominierte und bereits brüchig wurde (siehe das folgende Kap. 1.2). Ein Giordano Bruno wurde für seine Lehre von der Unendlichkeit des Universums im Jahre 1600 von der Inquisition öffentlich verbrannt, ein Galilei entkam solcher Tortur durch den Widerruf seiner Lehre von den Planeten gegen sein besseres Wissen. Man hatte ihm zuvor in den Verliesen des Vatikans die Folterwerkzeuge gezeigt.

Was heißt eigentlich: Selbst denken? Fragen und Zweifel als Motoren des eigenständigen Denkens Was aber ist Denken? »Was heißt Denken?« Als der deutsche Philosoph Martin Heidegger 1951/52 eine Vorlesung mit diesem Titel hielt, konnte er schon auf eine Tradition von 2500 Jahren europäischer Denk-Geschichte zurückblicken. Das Provokante an dieser Vorlesung war ihre These: »Das Bedenklichste an unserer bedenklichen Zeit ist, daß wir noch nicht denken.« (Heidegger: Was heißt Denken?, 3) Heidegger hat hier nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, die neuen Medien oder andere das Denken hemmende Instanzen gemeint, sondern nichts Geringeres als die Wissenschaft in ihrer besten Ausprägung. Nach Heidegger gilt: »Die Wissenschaft denkt nicht.« (Ebd., 4) Jedenfalls nicht im Sinne seiner Seinsphilosophie. Aber was heißt Denken im Rahmen der Rationalitätskultur? Mit dem Wert des eigenständigen Denkens verbindet sich von den griechischen Anfängen an eine neue Kultur des Fragens, In-Frage-Stellens, Hinterfragens von Sachverhalten, die man für gegeben hielt. Es verbindet sich damit der Auftrag zum Selbstprüfen, was wiederum eine Form des Zweifels an gegebenen Erklärungen voraussetzt. Die Frage und der Zweifel werden damit zu den Motoren des eigenständigen Denkens. Platons Sokrates stellt seinen Gesprächspartnern Fragen über Fragen, allerdings raffinierte, die zunächst einmal die Funktion haben, das für sicher geglaubte Wissen des Bürgers, mit dem er jeweils diskutiert, in Frage zu stellen und damit sein eigenes Denken bei der vertieften Lösung eines Problems anzustoßen. In der Frage steckt schon das eigene Denken, weil in ihr bereits das Vorgegebene fraglich geworden und ein neuer Denkansatz implizit vorausgesetzt wird. »Fragen ist erkennendes Suchen des Seienden 48 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Was heißt eigentlich: Selbst denken?

in seinem Daß- und Sosein«, so Martin Heidegger, und daher steht die Frage bei ihm ganz am Anfang der Analyse des menschlichen Daseins (Heidegger: Sein und Zeit, 5). Aber das ist nicht in allen Kulturen so. In den traditions-geleiteten Kulturen ist der Einzelne nicht aufgerufen, die gegebenen Lebensformen zu hinterfragen, sondern sie zu erfüllen. Diese in Frage zu stellen, könnte sogar ausgesprochen gefährlich sein, weil es ja Priesterwissen in Frage stellt. Auch in der europäischen Kultur sind Fragende oft aus dem Lande gejagt, ins Gefängnis gesperrt, verbrannt worden, nicht nur im Mittelalter, auch in den totalitären Phasen der Neuzeit. Noch tiefer als die Frage setzt der Zweifel vorgegebene Denkformen auf den Prüfstand. ›Etwas bezweifeln‹ heißt deren Richtigkeit in Frage zu stellen, was wiederum das Denken als eigenverantwortliches Prüfen von Sachverhalten auf den Plan ruft. Wie erwähnt: Die mittelalterliche Kirche hielt den Zweifel für etwas Gefährliches; wer an Gott zweifelte, konnte schnell auf dem Scheiterhaufen landen. Aber die Rationalitätskultur fördert den Zweifel. Das neuzeitliche Denken eines René Descartes beginnt geradezu mit einem universalen Zweifel an allen ihm vorgegebenen Wissensbeständen. »Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches ich in meiner Jugend habe gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut« habe (Descartes: Meditationen, I, 31). Dieser Meister des Denkens der Neuzeit leitet aus diesem Universalzweifel das Programm ab, »einmal im Leben alles von Grund aus umzustoßen«. Descartes fordert daher vom wahren Denken, dass es »von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse«, wenn es jemals »für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften festen Halt schaffen« wolle (ebd.). Man hört und sieht, worum es geht: Eine feste Wissenschaft soll begründet werden, indem man sie »von den ersten Grundlagen aus« neu begründet und dieses erste, für Descartes absolut sichere Fundament ist: das eigene Denken des Menschen. Es liefert nach Descartes dem Menschen sogar den einzig sicheren Beweis seiner eigenen Existenz als Mensch: »Ich denke, also bin ich«, wie er das im »Discours de la méthode« formuliert (Descartes: Discours de la méthode, IV, 55), wenn auch sicher nur, solange das Ich denkt. Die moderne Wissenschaft hat allerdings genau jenen Anspruch des »Unerschütterlichen«, den Descartes mit der Neubegründung des Denkens in der Wissenschaft verband, in Frage gestellt und die Wissenschaft selbst als einen fortlaufenden Prozess der Überprüfung al49 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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ter Wissensbestände und neuer Hypothesenbildung beschrieben. Aber auch darin steckt das Prinzip des eigenständigen Denkens als Motor des wissenschaftlichen Fortschritts als ein fortlaufend auch korrigierbarer und korrigierter Wissensprozess. Und was für die Wissenschaft gilt, gilt cum grano salis auch für das eigene Leben. Es vollzieht sich gemäß dem Leitwert des eigenständigen Denkens auch als ein Prozess des fortlaufenden Lernens und Erweiterns des eigenen Wissenshorizontes (siehe Kap. 1.7). Die moderne deutsche Literatur hat diesem Ideal eines auf eigener Selbstbestimmung aufbauenden Lebens auch eine literarische Form gegeben: den modernen Bildungsroman (siehe u. a. Selbmann: Der deutsche Bildungsroman).

Produktivität des Denkens Zu den wichtigsten Einsichten der europäischen Philosophie vor allem im Zeitalter der Aufklärung und des Deutschen Idealismus gehört die Einsicht in die Produktivität unseres Denkens. Bis in die Aufklärung hinein war die Vorstellung, wie die Wirklichkeit sich in unserem Denken spiegelt, geprägt von dem Begriff der Nachahmung (griech. mimesis, lat. imitatio). Man nahm an, die Dinge außer uns prägen sich in unserem Bewusstsein ein wie in einer Wachstafel (Platon) oder schreiben sich in es ein wie auf einem »white sheet of paper« (Locke). In der Aufklärung aber begann man zu entdecken: Denken ist selbst ein Akt der Produktivität unseres Geistes, in dessen Verlauf wir Menschen die Objekte des Denkens als Begriffe und die gedanklichen Operationen wie den Schluss von den Ursachen auf ihre Folgen in unserem Denkapparat – dem Gehirn – selbst produzieren. Wo anders als in unserem Gehirn wird auch der Satz: »Ich denke, also bin ich«, gedacht? Dabei behaupten neuerdings Gehirnforscher, »das Gehirn denkt nicht«, weil es ihrer Meinung nach einfach primitiv auf Nervenreize reagiert. 1 Dass unseren Handlungen immer auch Operationen im Gehirn vorausgehen, heißt aber nicht, dass wir die Sklaven dieser Gehirnfunktionen seien. Natürlich ist jeder Gedanke des Menschen auch physiologisch als Gehirnprozess verankert. Dass die Neuronen im Gehirn feuern, wenn ein Mensch zwischen zwei Alternativen wählt, heißt nicht, dass sie für mich entscheiden, sondern dass 1

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Produktivität des Denkens

menschliches Denken und Entscheiden genau dies auch ist: ein Feuern von Neuronen im Gehirn. Die neuronalen Prozesse im Gehirn gehen nicht dem menschlichen Willen voraus, sondern sind der Prozess der Willens-Entscheidung im Gehirn. Wir kommen im Kap. 1.5 zum Thema »Freiheit« auf das Problem zurück. Im Übrigen weiß auch die moderne Gehirnforschung nicht wirklich, wie genau das Denken in unserem Bewusstsein abläuft und welche Kategorien dabei ins Spiel kommen. Zu diesem Thema gibt es viele Theorien in der europäischen Philosophie der Neuzeit. Diese ist bewusstseinsanalytisch ausgerichtet, so Descartes’ »Discours de la Méthode« von 1637 sowie seine »Meditationes« von 1641 wie die »Regeln zur Leitung des Geistes«, auch John Lockes »Abhandlung über den menschlichen Verstand« von 1690, George Berkeleys »Prinzipien der menschlichen Erkenntnis« von 1710, David Humes »Untersuchung über den menschlichen Verstand« von 1748 sowie sein »Traktat über den menschlichen Verstand« von 1740, Leibniz’ »Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand«, erschienen 1765, und auch Kants »Kritik der reinen Vernunft«, die in der ersten Auflage (A) 1781 erschien, in der zweiten, überarbeiteten Fassung (B) 1787. Natürlich kann es im Rahmen unserer Werte-Theorie nicht darum gehen, die Vielfalt der Argumente zur Klärung des eigenen Denkens herauszuarbeiten: Wird unser Denken mehr von innen und eingeborenen Prinzipien aus gesteuert oder von außen durch die Vielfalt der Eindrücke? Wie verarbeitet unser Bewusstsein diese durch die sinnliche Wahrnehmung gegebenen Daten? Oder ist, wie die Neurologie vielfach annimmt, Denken, Ich-Sagen, Freiheit überhaupt nur eine »Illusion« unseres Denkens? Wenn es so wäre, wäre ja auch zu fragen, wer oder was in uns sich da solche hochkarätigen Illusionen ausgedacht hat – und viele Fragen mehr. Wichtig in unserem Rahmen ist, dass das Denken des Subjekts – wie auch immer es erzeugt wird – als ein so zentraler Wert gewichtet wurde und wird, dass der überwiegende Teil der neuzeitlichen Philosophie – und nicht nur in Europa, sondern auch in den USA – sich diesem Thema widmet. Und wenn noch Descartes’ dabei von einem statischen Begriff des Denkens als einer Sache ausgeht – er nennt es eine »denkende Sache« (»res cogitans«) –, hat die spätere Bewusstseinsphilosophie von Leibniz über Kant, Fichte und Hegel den Begriff des Denkens dynamisiert und als eine Form der Produktivität von Wissen beschrieben, mithin Subjektivität als Produktivität des Geistes. 51 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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Die radikalsten Formulierungen in dieser Richtung – zugleich Anstoß für die Ästhetik der Frühromantik – bietet die Subjekt-Philosophie Fichtes mit ihrer Lehre vom Ich als absoluter Produktivität, »Tathandlung« nennt das Fichte – des denkenden Ich. Es setzt nach Fichte »ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein.« (Fichte: Wissenschaftslehre, Erster Teil § 1, 18) Denken und mit ihm die Konstitution von Wirklichkeit sind das Produkt unseres Denkens und seiner Produktivität. Die moderne Sprachphilosophie seit Wilhelm von Humboldt bis Heidegger und die moderne Linguistik haben darüber hinaus noch herausgearbeitet, dass unser Denken immer auch (mutter-)sprachlich vermittelt ist und durch die Sprachen der jeweilige Wahrnehmungshorizont von Denken entscheidend mitgeprägt wird (siehe Kap. 3.2, 328 ff). Für den eigenen Werte-Diskurs halten wir fest: der Wert des eigenständigen Denkens führt geradewegs auf den Begriff der Produktivität des eigenen Denkens und damit auf einen Begriff von Wirklichkeit als Produkt des menschlichen Denkens. Das, was wir ›Wirklichkeit‹ nennen, ist nicht ohne unser Denken, was wiederum nicht heißt, dass unsere Wirklichkeit und ihre Auffassung eine rein subjektive Angelegenheit ist. Unser Denken funktioniert, wie gerade die oben zitierte Philosophie erkannt hat, nach intersubjektiven Gesetzen; was wir als Wirklichkeit erkennen, muss nach diesen ausweisbar sein und auch durch die Daten der sinnlichen Wahrnehmung belegbar. Das gilt insbesondere für solche Sätze, mit denen wir einen Wahrheitsanspruch verbinden (siehe das folgende Kapitel 1.2). Bevor wir darauf kommen, fragen wir uns: Welche Konsequenzen hat die Entdeckung der Produktivität des Denkens und welche institutionellen Folgen sind damit verbunden?

Erforschen, Erkunden, Erfinden: Kultur der Innovation Mit der europäischen Hochschätzung des eigenständigen Denkens verbinden sich soziologische Prozesse der verschiedensten Art: Die europäische Kultur hat eigene Typen von Erforschern, Erkundern, Erfindern hervorgebracht, die mit ihrem eigenen Denken und Wissen an die Erforschung, Erkundung, auch Eroberung der Erde gingen. Diesen Weg sind ja andere, traditionsgeleitete Kulturen wie China, Ägypten, Persien nicht gegangen. Diese Kulturen waren vielmehr zentriert auf sich selbst und waren gar nicht motiviert, aus dem eige52 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Erforschen, Erkunden, Erfinden: Kultur der Innovation

nen Kulturkreis herauszutreten und an die Erkundung und Eroberung der Welt zu gehen. So berichtet Herodot von den Persern, dass ihre Geographie durch die Nähe oder Ferne zum persischen Machtzentrum bestimmt gewesen sei: »Die nächsten Nachbarn genießen – nach ihnen selbst – das größte Ansehen von allen; dann kommen die entfernteren. Danach ehren sie die andern, schrittweise abwärts.« (Herodot: Historien, 1, 134) Ähnlich wie die Perser hielten es auch andere Hochkulturen. Das chinesische Reich verfügte im 15. Jahrhundert n. Chr. über eine Armada riesiger Schiffe. Sie sollen über 100 m lang gewesen sein, im Vergleich maß die Santa Maria des Columbus nur ca. 27 m. Admiral Zheng He, der damit Expeditionen durchführte in den Pazifik, in den indischen Ozean und nach Ostafrika, begründete mit diesen Erkundungsfahrten keine Welteroberungspolitik und installierte auch nicht das chinesische Reich als Kolonialmacht. China war sich selbst genug. Ein Interesse, die Welt zu erkunden und zu erobern, hatte es nicht. China blieb in seiner hoch entwickelten Kultur zentriert auf das chinesische Großreich in Abgrenzung allerdings von den Reitervölkern des Nordens (Witt: Eroberer der Meere, 48 ff). Und was hier über Persien und China gesagt wurde, gilt cum grano salis auch für das ägyptische Reich. Es waren nicht Kulturen, in denen das eigene Denken darauf aus war, Neues zu erforschen und so den eigenen Kulturraum zu expandieren. Vielmehr ›ruhten‹ diese Kulturen in sich selbst, wie denn auch die ägyptische Kunst praktisch Jahrtausende lang ihren Darstellungskanon der Herrscherfiguren konstant hielt. Die europäische Kultur, begründet auf dem eigenstäündigen Denken, ist dagegen von ihren Anfängen an eine Kultur in Unruhe, auf der Suche nach Neuem, experimentier-freudig, innovations-offen, erfinderisch. Ich habe in meinem Buch zur »Weltgesellschaft« den Expansionsprozess der abendländischen Rationalität bis hin zur Weltgesellschaft nachgezeichnet und dabei auch einen genuin europäischen Typus von Eroberer, der im Vertrauen auf die Überlegenheit der eigenen Rationalität kühn auch gegen militärische Übermacht vorstoßen und Schlachten gewinnen konnte: Alexander der Große, Caesar, neuzeitliche Welteroberer wie Cortez und Pizarro als Beispiele (Vietta: Weltgesellschaft, 61 ff).

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Institutionalisierungen: Akademie, Schule, Universität Mit der griechischen Entdeckung des eigenständigen Denkens als einem hohen Wert beginnt auch eine Geschichte der Schulung des Denkens in eigens dafür geschaffenen Institutionen (siehe auch Kap. 1.7). Wir haben hier ein erstes wichtiges Beispiel, wie sich ein geistiger Wert materialisiert und institutionalisiert, und das macht selbst einen großen Teil der Bildungsgeschichte des Abendlandes aus. Zugleich entsteht durch diesen Wert eine neue soziale Schicht: die Philosophen-Wissenschaftler als erste Lehrer – ich nenne sie in einem Wort, weil Philosophie und Wissenschaft in der Antike noch nicht getrennt waren wie in der Neuzeit. Der neben Aristoteles größte Denker der Antike, Platon, gründete bereits eine Akademie vor den Toren Athens, in denen sich lernwillige Jünglinge aus der Schicht der Athener Vollbürger trafen und dort neben dem traditionellen Musenkult auch Platons Dialoge lasen und diskutierten, mithin sich einübten in jene Logik der Argumentation, die diese Dialoge vorführen. Das war also noch keine öffentliche Schule, sondern eher ein privater Gelehrtenverein, der gleichwohl von 387 v. Chr., dem Gründungsdatum durch Platon, bis 529 n. Chr. existierte, bis der christliche Kaiser Justitian diese Institution auflöste. Das Mittelalter nimmt die Tradition der Akademie, erweitert um »christliche Wissensbestände«, wieder auf durch Alkuin am Hofe Karls des Großen. Und im 13. Jahrhundert wird eine weitere wichtige Bildungsinstanz des Abendlandes aus der Taufe gehoben: die Universität. Dazwischen dienten Klöster als Lese- und Schreibschulen, die das antike Wissen der Philosophie und Wissenschaften tradierten. Die neue Universität, die im späten 12. Jahrhundert entsteht, ist das Produkt eines neuen städtischen Selbstbewusstseins und ihrer Korporationen. Sie ist auch das Produkt des Fortlebens der antiken Tradition des eigenständigen Denkens im christlichen Kulturraum und unter der Dominanz christlicher Werte (siehe Kap. 2.3). Mit ihrer Gründung der Universität meldet sich im Rahmen der christlichen Werte-Ordnung die antike Tradition des Selbstdenkens, logischen Argumentierens und geistigen Studiums wieder zu Wort, das in den bis dahin bestimmenden Kloster- und Domschulen mit ihren introvertierten Gebetszirkeln nicht mehr befriedigt werden konnte. Es sind zunächst vor allem städtische Kleriker, die sich zur neuen Korporationsform eines studium generale zusammenschließen. Dabei steht die Anerkennung des Papstes und der Kirche als oberster 54 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Institutionalisierungen: Akademie, Schule, Universität

Macht für den offiziellen Status von Universitäten im Mittelalter zunächst außer Frage. Die Universitäten – so die von Paris – siedeln sich auch im Umfeld der Kathedrale an. Lehre und Wissenschaft haben zunächst den Status einer kirchlichen Wissenschaft und Lehre (»status ecclesiasticus«). Im Bannkreis der Kirche und ihrer GlaubensZentrierung entsteht die neue europäische Universität. Der Kampf der Universitäten um Autonomie und Selbstbestimmung gegen die Kirche wie auch gegen die weltlichen Gewalten sollte noch lange währen, dieser prägt das kulturelle Europa im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Man kann sagen: Das eigene Denken entwindet sich dabei schrittweise der Autorität und Oberhoheit der Kirche und gewinnt spätestens mit Galilei und Descartes eine Eigenständigkeit, die mit der Kirche nicht mehr zu vermitteln war. Das europäische wissenschaftliche Denken wird selbst-ständig – ein Schritt, den der Islam bis heute nicht vollzogen hat. Dabei half Europa eine Erfindung: der Buchdruck. Galilei wurde von der Kirche verdammt, seine Lehre vom heliozentrischen Weltbild zu widerrufen, der Mann wurde von der Kirche in sein Haus in Arcetri bei Florenz weggesperrt. Aber seine Bücher verbreiteten die neue Lehre in Europa gegen den Willen der Kirche. Das Wertesystem des eigenständigen Denkens und Forschens hatte damit in Europa den Sieg über die Beschränkung und Kontrolle des eigenen Denkens durch das kirchlich verwaltete christliche Wertesystem davongetragen. Die Schule als allgemeine Institution der Ausbildung wird auch zunächst sehr stark durch die Religionen bestimmt. Im Zeitalter der Reformation begründet sich ein Gelehrtenschulwesen in den protestantischen Ländern. Luther selbst fordert »die Errichtung und Erhaltung von Schulen« von der »weltlichen Obrigkeit« als Voraussetzung für die gelehrten Berufe, vornehmlich den des Theologen (Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts I, 276). Im Zuge der Gegenreformation begründen dann auch die Jesuiten in den katholischen Ländern Schulen in ähnlicher Funktion (ebd., 387 ff). Die Aufklärung trägt dann die Wissensvermittlung auch in ländliche Regionen und gründet Dorfschulen, Real- und Bürgerschulen, die ein Grundwissen an Lesen und Schreiben vermitteln. Die Lateinschule vermittelt eben diese Sprache und Rhetorik, darüber hinaus aber auch einen breiteren Fächerkanon an Religion, Mathematik und Naturwissenschaften und für eine breitere Öffentlichkeit. Dabei wird die Schule auch zu einem Instrument der Denkschulung: »Hatte die frühere Schulpraxis sich wesentlich an das Gedächtnis der Schüler gewendet, Auswendig55 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Das eigenständige Denken

lernen und Behalten von ihnen fordernd, so drang jetzt mehr und mehr das Bestreben durch, den Verstand aufzuklären und den Schüler zu selbständiger Tätigkeit heranzuziehen.« (Ebd., II, 155). Das Schlagen mit dem Stock als Strafe wurde eingeschränkt, »das ›Räsonieren‹ als freie, geistige Tätigkeit« lässt sich nicht mit Prügeln erzwingen (ebd.). Mit den preußischen Schulreformen und der neuhumanistischen Gymnasien dort wird noch fundamentaler die Erziehung »auf das »Prinzip der Selbsttätigkeit und Selbstverantwortlichkeit« gestellt, auf den höheren Schulen und Universitäten »das Studium […] auf Selbstdenken und Selbsttätigkeit« hin ausgerichtet (ebd., II, 279 und 282). Das Ausbildungsziel ist die selbst denkende, selbst verantwortliche Persönlichkeit, die Humboldt in der Antike ideal vorgebildet sah und die er daher auch zum Bildungsideal für seine Zeit erkor. Umso schlimmer waren die Vereinnahmung und der Missbrauch von Schule und Universität im Dritten Reich wie auch in den kommunistischen Staaten mit ihren ideologischen Vereinnahmungen von Pädagogik und Wissenschaft. Dazu gibt es eine Vielzahl von Studien. Heute ist Schule wie auch die Universität erneut ein Kampfplatz der Wertediskussionen geworden, in der vielfach der wichtigste Wert – nämlich die Zuträglichkeit für Kinder und Jugendliche – ideologisch überformt wird und Lehrer wie Schüler durch politische Programme, die weder kindgerecht sind noch der Schulung des eigenen Denkens dienen, belasten werden. Darauf kommen wir im Kapitel 1.7 zurück.

Produktivität in der Ästhetik Auch die Kunst wird zu den großen Werten der europäischen Kultur gezählt. Dabei nimmt sie selbst an dem Wertekanon der Gesamtkultur Anteil. Man kann sagen: Solange die Wahrnehmung der Welt in der europäischen Denkgeschichte als eine Art Abdruck der Dinge im Bewusstsein des Menschen begriffen wurde, orientierte sich auch die Kunst an dem Begriff der Nachahmung/Mimesis. In seiner Poetik definiert Aristoteles das Drama als eine Form der »Mimesis der Handlung« des Mythos (Aristoteles: Poetik 1450, 22 f). Die europäische Kunst und auch Literatur begriffen sich selbst dann im Weiteren als »Nachahmung der Natur« bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Und dieser Auffassung entsprach auch eine Praxis des Zeichnens und Malens ›nach der Natur‹. 56 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Produktivität in der Ästhetik

Mit der modernen Entdeckung der Produktivität des Künstlers wird der Begriff der Einbildungskraft aufgewertet. Mit seiner Einbildungskraft und aus ihr heraus produziert der Künstler sein Werk. Auf diese Weise dringt die Produktivität des Denkens auch in die Ästhetik und Literaturtheorie ein und definiert diese Künste neu: nämlich als Akte der Produktivität des Künstlers, mit denen dieser eine neue Welt erzeugt und als Kunstwerk in die Welt setzt. Die Umbruchstelle von der alten zur neuen Ästhetik liegt in der Frühromantik und kann vor allem aus den Schriften des Novalis abgelesen werden. Novalis betont, »daß es nur der Geist ist, der die Gegenstände, die Veränderungen des Stoffs poëtisiert, und daß das Schöne, der Gegenstand der Kunst uns nicht gegeben wird oder in den Erscheinungen schon fertig liegt« (Novalis: Schriften II, 573). Kunst bedeutet nach Novalis die »Fähigkeit bestimmt und frey zu produciren« (ebd., 585). Und so sieht er das Geheimnis der Kunst eben darin, dass der Maler, der Musiker, der Poet nicht nach der Natur arbeiten, sondern das Werk aus sich selbst schöpfen. Maler wie Musiker wie Poet ›produciren‹ das Werk aus sich heraus. Die moderne europäische Produktionsästhetik ist selbst eine produktive Reaktion auf die Philosophie des eigenständigen Denkens, wie sie insbesondere von Kant und Fichte formuliert worden war. Novalis hat diese Autoren intensiv studiert und überträgt praktisch deren Gedanken der Produktivität des Denkens in die Ästhetik (Vietta: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild, 117 ff). Dabei ist für Novalis der Künstler nur der Sonderfall einer in jedem Menschen angelegten eigenen Produktivität: »Fast jeder Mensch ist in geringen Grad schon Künstler« (Novalis: Schriften II, 574). Prinzipiell verfügt jeder Mensch über die Möglichkeit zur eigenen geistigen Produktivität. Der Künstler hat diese nur mehr aktiviert als der normale Bürger. Und: Der Künstler ›denkt‹ anders als der Philosoph: Wenn dieser in Begriffen arbeitet, so jener in ästhetischem Material, seien dies beim Maler Farben und Formen, in der Literatur das Bild- und Ideenmaterial der Sprache oder auch – beim Musiker – das Reich der Töne. Was Novalis für die Kunst und Literatur vollzogen hat, vollziehen die beiden Frühromantiker Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck auch in der Musik. Sie erheben auch für die Musik eine vergleichbare Autonomieforderung in ihren »Phantasien über die Kunst« von 1798. Dort heißt es in Bezug auf die damals neue symphonische Komposition: »In der Instrumentalmusik aber ist die 57 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Das eigenständige Denken

Kunst unabhängig und frey, sie schreibt sich nur selbst ihre Gesetze vor, sie phantasirt spielend und ohne Zweck, und doch erfüllt und erreicht sie den höchsten, sie folgt ganz ihren dunklen Trieben, und drückt das Tiefste, das Wunderbarste mit ihren Tändeleien aus.« (Wackenroder: Sämtliche Werke I, 243) Das heißt: Auch die Musik löst sich in der Romantik aus den Fesseln der Vorgaben von Kirchenmusik oder Tafelunterhaltung, sie setzt sich selbst »unabhängig und frey«, und damit begann in der Tat auch ein neues Zeitalter der großen Kompositionen in dieser Kunstform, die Epoche der romantischen Musik. Damit ist eine neue Werte-Ordnung in die Geschichte der Künste eingezogen: Der Gedanke des eigenen Denkens hat auch die Idee der Selbsttätigkeit des Künstlers freigesetzt, ähnlich wie der Wert des eigenen Denkens sich politisch mit der Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen verband. Die Begriffe Freiheit und Autonomie der Künste waren Ende des 18. Jahrhunderts natürlich auch von der Französischen Revolution von 1789 mit inspiriert. Der Gedanke der Produktionsästhetik, der Freiheit und Autonomie der Künste, verbreitet sich von der deutschen Frühromantik aus wie ein Lauffeuer über Europa. In England nehmen die Romantiker Coleridge und Wordsworth den Gedanken auf in der Gegenüberstellung von »fancy« als der passiven, bloß reproduktiven Einbildungskraft und der »imagination« als jenem Produktionsvermögen, das eine »neue Welt« aus dem Geiste erzeugen kann. Und auch Baudelaire knüpft hier an mit seinem Begriff der »imagination créatrice«, der wiederum für die Poetik und Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts richtungsweisend wird (Vietta: Texte zur Poetik, 156 ff). Weltweit vollzieht sich Anfang des 20. Jahrhunderts eine Abkehr von der alten Nachahmungsästhetik und Hinwendung zu neuen Formen des Kubismus, Expressionismus, der Abstrakten Kunst. Auch die Künste im ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhundert folgen der Linie einer nun auch vielfach medial vermittelten Autonomie der Künste, experimentellen Selbstbestimmung der Autorpoetik und der konstruktiven Komposition. Der Wandel der Werte-Theorie hat so auch die Künste fundamental verwandelt: Aus Werken der Nachahmung in Projekte der autonomen Einbildungskraft der Künstler und ihres eigenen Denkens im Medium ihrer Künste. Dabei wurde im Verlauf der ästhetischen Moderne zunehmend auch die Materialität der Künste erforscht: die Welt der Farben und Formen in der Malerei, in der Musik der Sprache 58 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Produktivität in der Ökonomie

der Töne. Es ging dabei auch um die Freisetzung der Energien des ästhetischen Materials, der ›eigenen Produktivität‹ auch der Farben, Formen, Töne und Sprache.

Produktivität in der Ökonomie Ähnlich wie in der Philosophie und Ästhetik haben wir in den Jahren vor 1800 einen Wertewandel auch in der Ökonomie: Wenn in der Ökonomie bis dahin der Reichtum eines Landes vor allem an seinen Bodenschätzen gemessen wurde, so entdeckt Adam Smith in seiner »Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker« von 1776, dass die produktive Arbeit deren Hauptquelle ist. Wir haben also auch hier einen Wandel von der Objektseite: den Dingen, der Natur, den Bodenschätzen – zur menschlichen Produktivität als Quelle der Erkenntnis, der Kunst, des ökonomischen Mehrwerts. Damit wird auch hier das eigene Denken zu einer zentralen Quelle von Innovation, der Erzeugung von Mehrwert und Reichtum. Aber was heißt eigenständiges Denken und damit auch eigene Produktivität in der Ökonomie? Zweifellos folgt die Ökonomie anderen Regeln und Denkgesetzen als Philosophie und Künste. Nach Smith ist die Hauptquelle des Reichtums in den modernen Industrienationen die arbeitsteilige industrielle Arbeit. Smith führt die »bedeutendste Steigerung der Produktivität der Arbeit« auf die »Arbeitsteilung« (»division of labour«) zurück. »Die bedeutendste Steigerung der Produktivität der Arbeit und der Großteil der Geschicklichkeit, Fertigkeit und Umsicht, mit der sie überall eingesetzt oder verrichtet wird, dürften die Wirkungen der Arbeitsteilung gewesen sein.« (Smith: Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, 89). Die Frage konzentriert sich also auf den Begriff der »Arbeitsteilung« als der Quelle der ökonomischen Produktivität. Welche Art von Denken aber steckt im Begriff der Arbeitsteilung? Zunächst einmal kann man konstatieren: Auch andere große Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts wie David Ricardo, Karl Marx u. a. stimmen Smith zu. Marx schreibt: »Die ganze moderne Nationalökonomie aber stimmt darin überein, daß Teilung der Arbeit und Reichtum der Produktion, Teilung der Arbeit und Akkumulation des Kapitals sich wechselseitig bedingen, wie daß das freigelassene sich selbst überlassene Privateigentum allein die nützlichste und um59 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Das eigenständige Denken

fassendste Teilung der Arbeit hervorbringen kann.« (Marx: Die Frühschriften, 293) Aber wie kommt Arbeitsteilung zustande, welche Art von Denken organisiert sie? Bereits rein logisch setzt ja der Begriff »Arbeitsteilung« einen Begriff von Ganzheit voraus, in deren Rahmen allein Arbeit sinnvoll geteilt werden kann. Wer oder was aber gibt einen solchen Rahmenplan vor und erzeugt – logisch wie historisch – die moderne Arbeitsteilung? Es ist aber das eigenständige Denken in der Form der organisierenden Rationalität und Technizität, welche die rationale Organisation der Arbeit erzeugt. Das Denken im Sinne der modernen Rationalität erzeugt dieses Programm und ist die eigentliche Quelle der Arbeitsteilung. Sie ist damit auch die Quelle der modernen industriellen Erzeugung von Reichtum durch Arbeit. Dort, wo diese rationale Organisation der Arbeit am weitesten vorangeschritten ist, wird auch der größte materielle Reichtum produziert, in den rational unterentwickelten Regionen der Erde aber ist die materielle Armut am schlimmsten (siehe Kap. 1.10, 227 ff). Eigenständiges Denken in der Form der Rationalität ist eine spezifische Form des Denkens, die durch Kausalität, Zielstrebigkeit, also eine möglichst zielführende Zweck-Mittel-Relation, geprägt ist und dabei möglichst messtechnisch vorgeht. Moderne Industriearbeit folgt dementsprechend einem rationalen Masterplan der industriellen Fertigung, welcher den Prozessverlauf einer Produktionserzeugung in Einzelschritte zerlegt – die Arbeitsteilung –, dies auch im Rahmen einer rationalen Zeitmessung nach Minuten- oder gar Sekundentakten und im Rahmen einer rationalen Raumplanung im Sinne der Zerlegung von Objektteilen und Arbeitsschritten entlang einer Produktionsstraße. Damit kommen wir hier zu einer ganz anderen Form von Produktivität und eigenem Denken als in Philosophie und Ästhetik. Es ist eine einseitige Form von Denken, das in der modernen Ökonomie dominiert, die wir auch mit dem Begriff der Technizität bezeichnen (Kap. 1.10). Deren Hauptproduktivitätsfaktor ist nicht die menschliche Arbeit an sich, auch nicht die künstlerische oder philosophische Kreativität. Sondern es ist die rational-technische Organisation der Arbeitsprozesse. Man kann beinahe die Formel aufstellen: je rationaltechnischer organisiert, desto fortschrittlicher, und ich füge hinzu: im Rahmen der technisch-industriellen Rationalitätskultur, die aber unser heutiges Leben – und dies weltweit – dominiert. In diesem Sinne gilt auch der Umkehrschluss: Je weniger rational organisiert, desto 60 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie, Ideologien, eigenes Denken

weniger produktiv ist eine Volkswirtschaft in dem genannten Rahmen. Damit sind hier auch die Hauptprobleme der Reichtumsverteilung der heutigen Weltgesellschaft schon benannt. Die okzidentale Rationalität und Technizität bestimmt heute weltweit den Standard, wie und welche Waren produziert, wie sie finanziert werden und der Verkauf organisiert wird und damit eben auch: was konsumiert wird und zu welchem Preis. Nur wer diesen Standards entspricht und sich sogar zum Vorreiter dieser Entwicklung macht, hat gute ökonomische Chancen und erzeugt materiellen Wohlstand in der globalisierten ökonomischen Rationalitätskultur. Reichtum und Armut in der heutigen globalisierten Welt verteilen sich entscheidend nach dem Rationalitätsstandard der Länder und Regionen, und das umfasst sowohl den ökonomischen Produktionssektor wie auch die rationale Organisation des Staates. Man kann ergänzen, dass das Wertsystem des Denkens als Rationalität auch in der westlichen Welt zunehmend andere Wertesysteme dominiert: So wurden in den letzten Jahrzehnten Zug um Zug auch die Wertesysteme der Bildung wie Schule und Universität, der Krankenversorgung, des sozialen Lebens insgesamt ökonomischen Bewertungsstandards unterstellt und damit diese Institutionen und ihre eigenen Wertesysteme zunehmend nach Werten der ökonomischen Effizienz bewertet. Das Wertesystem der ökonomischen Produktivität und Effizienz wurde damit zu einem dominierenden Werte über eine Anzahl anderer Wertesysteme.

Demokratie, Ideologien, eigenes Denken Zum Abschluss dieses ersten zentralen Wertesystems der abendländischen Kulturgeschichte – dem eigenständigen Denken – einige vorweggenommene Reflexionen zum Thema Demokratie und eigenes Denken. Wir kommen ja auf das Thema im Kap. 1.4 zurück. Es ist klar, dass die Demokratie als politische Verwaltungsform ein hohes Maß an Klugheit und eigener Denkarbeit seiner Bürger verlangt: Die antike Athener Demokratie ist nicht zuletzt daran zugrunde gegangen, dass ihre Bürger diese Form der politischen Klugheit nicht aufgebracht haben. Der große Kulturhistoriker Jakob Burckhardt nannte die Griechen ein »hochbegabtes Volk«, das aber in der Athener Demokratie auch politisch undiszipliniert und häufig geradezu 61 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Das eigenständige Denken

chaotisch agierte (Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte 19, 211 ff). Burckhardt beschreibt, wie »dasjenige Volk in Athen, welches von der ehrlichen Arbeit abgewandt und an lauter Volksversammlungen und Gerichthalten gewohnt war […] einer völlig verdrehten und lüsternen Phantasie unterlag« (ebd., 232), dabei einer Kultur der Korruption und des Sykophantentums – »fake news« könnte man das heute nennen – unterlag und dabei ihre eigenen Feldherren verriet. »Wie oft mag die Aussicht auf die Unvernunft und Bösartigkeit des Demos die Entschlüsse auch anderer Feldherren bis in weite Ferne gelähmt haben« (ebd., 239). Die Demokratie in Athen war selbstverliebt in sich und zugleich hochgradig korrupt. Das heißt: Das hochrangige Wertesystem der Demokratie wurde von seinen Bürgern selbst nicht vernünftig ausgefüllt und ging an diesem Defizit zugrunde. Moderne Demokratien haben ähnliche Probleme: Täuschung der Bürger durch »fake news«, Korruption, Undurchsichtigkeit der eigentlich anstehenden politischen Aufgaben für die Bürger, die daher leicht auch durch Ideologien oder Populismen zu steuern sind. Die Ideologien oder Populismen sind neuzeitliche Erscheinungen. Ideologien – eigentlich ›Ideenlehre‹ – sind Formen des ›falschen Bewusstseins‹: »falsche Vorstellungen«, »Hirngespinste«, wie Karl Marx das genannt hat (Marx: Frühschriften, 341), der dabei selbst die »deutsche Ideologie« durch seine eigene des Kommunismus ersetzte, also eine Ideologie durch eine andere austauschte (siehe Kap. 1.3, 85 ff). Ideologien liefern einseitige, oftmals sogar naive Lösungen auf komplexe Fragen, sie behaupten einen dogmatischen Wahrheitsanspruch, sie geben sich oft kritisch, aber immunisieren sich selbst gegen Kritik. Vielfach werden solche Ideologien heute »Populismus« genannt. Sie blockieren systematisch eigenes Denken durch Scheinantworten auf komplexe Fragen. Auf dieses Problem kommen wir in den kommenden Kapiteln zu den Werten Wahrheit, Kritik und Demokratie zurück.

Eigenes Denken und Künstliche Intelligenz Abschließend noch ein Wort zur künstlichen Intelligenz (KI). Über ihren Wert wird auch unter Fachleuten heftig debattiert. Eine solche Debatte löste der amerikanische Autoproduzent Elon Musk im Juli 2017 aus, als er vor amerikanischen Gouverneuren vor den Gefahren 62 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Eigenes Denken und Künstliche Intelligenz

der KI warnte. Sie sei die »größte Bedrohung« unserer Zivilisation. Mark Zuckerberg konterte: Wer gegen KI argumentiere, sei gegen sichere Autos, verbesserte Medizinanalysen, also gegen Hilfen für die Menschheit. 2 Die europäische Rationalitätskultur hat von ihren Anfängen an das ›reine‹ Denken von den Emotionen, von der Sinnlichkeit, mithin von der Körperlichkeit des Menschen abzuspalten versucht. Die Künstliche Intelligenz ist eigentlich nur ein spätes Produkt dieses europäischen Denkweges, der heute freilich nicht mehr in Europa, sondern in Amerika und wohl auch in China seine Hauptforschungszentren hat. In Bezug auf einfache kombinatorische Denkprozesse haben Computer vielfach das menschliche Denken schon überholt. Ob sie das menschliche Denken in seiner vollen Komplexität je überholen werden, kann mit Fug bezweifelt werden. Dieses Thema wird uns zum Abschluss unserer Wertefamilie der Rationalitätskultur im Zusammenhang mit dem Wert der Technizität (Kap. 1.10, 223 ff) noch einmal beschäftigen.

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/kuenstliche-intelligenzmark-zuckerberg-gegen-elon-musk-15123200.html

2

63 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

1.2 Wahrheit, Wahrhaftigkeit

Zusammenfassung (1) Mit dem eigenständigen Denken eng verbunden ist der Wert der Wahrheit, die Suche nach Wahrheit. Rationale Wahrheit wird von der griechischen Antike an mit der ›reinen‹ Vernunfterkenntnis unabhängig von den erkenntnisstörenden Einflüssen der Sinne und der Emotionen verbunden. (2) In der europäischen Geschichte kämpften Jahrhunderte lang die wissenschaftliche gegen die religiöse Wahrheit. Der Kampf führt in der Neuzeit zur Befreiung der Erkenntnisform der Wissenschaft von der kirchlichen Oberhoheit. Dieser Kampf ist heute wieder entbrannt. (3) Eine Vielzahl von Wahrheitstheorien bemühen sich, Wahrheit zu definieren. Für die Lebenspraxis am hilfreichsten ist die Konvergenztheorie: Wahrheit als Richtigkeit in der Übereinstimmung zwischen Erkenntnis und erkanntem Sachverhalt. (4) Politische Totalitarismen versuchen systematisch Wahrheit nach ihrer Maßgabe umzudefinieren. Fake News sind die Nachfolger einer solchen systematischen Verdrehung von Wahrheit. (5) Um so notwendiger für den auf Vertrauen aufbauenden zivilen Staat sind Wahrheit und Wahrhaftigkeit als Werte und entsprechend vertrauenswürdige Verhaltensformen.

Wahrheit und Wahrhaftigkeit Mit dem Wert von eigenständigem Denken verbunden ist unmittelbar das Prinzip der Wahrheit. Im deutschen Wort ›Wahrheit‹ steckt der altgermanische Stamm *waer, der einem Wortfeld um ›Treue‹ zuzuordnen ist. Die germanische Göttin Vār ist Göttin der Treueschwüre (Kluge: Etymologisches Wörterbuch). ›Wahrheit‹ steht hier also schon in einem engen Zusammenhang mit der Wahrhaftigkeit einer Person, zumal wenn diese ihre Treue gelobt. Wahrhaftigkeit ist »eine Denkhaltung, die das Streben nach Wahrheit beinhaltet. Wahr64 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Der europäische Kampf zwischen wissenschaftlicher und religiöser Wahrheit

haftigkeit ist keine Eigenschaft von Aussagen, sondern bringt das Verhältnis eines Menschen zur Wahrheit oder Falschheit von Aussagen zum Ausdruck.« (Artikel »Wahrhaftigkeit«, in: Klaus / Buhr: Philosophisches Wörterbuch) Das Wort ›wahr‹ ist verwandt auch mit lat. ›verus‹ und entspricht dem griechischen Wort für ›wahr‹, »alethes« mit dem Nomen »aletheia« für Wahrheit. Wir gebrauchen umgangssprachlich ›wahr‹ im Sinne einer Aussage in Bezug auf einen Sachverhalt. Der gesprochene Satz »Es ist schönes Wetter« ist wahr, wenn tatsächlich schönes Wetter ist, und der Satz »Es regnet«, ist wahr, eben wenn es regnet. Natürlich erlaubt die Sprache auch einen ironischen Umgang mit solchen Sätzen. Jemand kann angesichts von Regenschauern sagen: »Das ist ja ein schönes Wetter«, eben indem er mit dem Satz seine ironische Distanz zum Sachverhalt signalisiert und der Hörer des Satzes das auch so nachvollziehen kann. Und in fiktiven literarischen Texten wundert sich niemand wenn es im Text heißt: »Es regnete in Strömen …«, wenn über dem Leser solcher Sätze die Sonne scheint, eben weil literarische Sätze fiktiv sind und keine Wahrheitsbehauptungen im engeren Sinne. In jedem Falle aber ist mit Wahrheit eine Beziehungsrelation gesetzt von Sagen oder Erkennen eines Sachverhalts mit dem Sachverhalt selbst. Wir erwarten von wahren Sätzen, dass sie dem Sachverhalt entsprechen. Wer diese Erwartung bewusst täuscht und schönes Wetter verspricht, wenn er weiß, dass es schlecht ist, lügt, und mit Lügen kann man Menschen täuschen und sogar in den Tod jagen.

Der europäische Kampf zwischen wissenschaftlicher und religiöser Wahrheit Was aber hat Wahrheit mit dem eigenen Denken zu tun? Mit dem griechischen Wort »aletheia« verbindet sich in der griechischen Philosophie bzw. Wissenschaft der Anspruch, die Dinge nicht nur oberflächlich nach dem Augenschein zu beurteilen, sondern tiefer gehend mit dem eigenständigen Denken – dem logos, lat. ratio – zu beurteilen. In der frühgriechischen Philosophie taucht damit schon der Gegensatz auf zwischen ›Schein‹ und wahrem ›Sein‹, zwischen bloßer Meinung (»doxa«) über eine Sache und dem wahren Wissen über den Sachverhalt selbst. Dieses wahre Wissen – die Wahrheit – zeigt sich aber dem Menschen nicht auf den ersten Blick. Die Sinne täu65 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wahrheit, Wahrhaftigkeit

schen vielmehr den Menschen oft in Bezug auf die Wahrheit einer Sache. Der Atom-Theoretiker Demokrit hält daher die Sinne – »Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Getast« – allesamt für trügerisch (Diels: Fragmente der Vorsokratiker, 101) – in Bezug auf die Wahrheitserkenntnis jedenfalls. Daher muss der Mensch überhaupt erst erkennen lernen, dass er »von der Wirklichkeit [Wahrheit] entfernt ist« (ebd.). Zu den Grundeinsichten der abendländischen Philosophie gehört seit den Griechen die Einsicht: dass die Wahrheit sich nicht auf den ersten Blick gleich preisgibt, dass man sie vielmehr suchen und dabei mehr sein Denken gebrauchen muss als die (oberflächlichen) Sinne. Das Paradebeispiel für diese Verborgenheit der Wahrheit ist das Thema Sonnenuntergang, Sonnenaufgang. Im Gegensatz zu dem, was uns die Sinne, insbesondere die Augen, zeigen, sagt eben das Denken: Nein, nicht die Sonne geht auf und unter, sondern wir Menschen drehen uns auf unserer Erde um diesen Fixstern. Der neuzeitliche Bruch zwischen Wissenschaft und Kirche hat in diesem Paradigma einer neuen und tieferen Wahrheitserkenntnis ihren Ursprung, wenn Kopernikus in seiner »Kurze[n] Abhandlung über die Erklärungsgrundlagen der Bewegungen am Himmel« von 1514 behauptete: »Der Mittelpunkt der Erde ist nicht die Weltmitte, sondern nur der von Schwere und Mondkreis.« (Kopernikus: Das neue Weltbild, 4 f) Das traf die Kirche ins Herz, weil ihrer Auffassung nach Gott seinen Sohn theologisch gesehen nirgendwo anders hingeschickt haben konnte als in das Zentrum des Universums, und das war somit für die Kirche die Erde. Dass – über Kopernikus hinausgehend – das Universum noch viel größer war als nur das Sonnensystem und damit die Erde nur ein kleiner Planet im Weltraum, hat dann Giordano Bruno behauptet. Die Kirche hat ihm für diese Wahrheit die Knochen zerbrochen und ihn 1600 auf dem Scheiterhaufen in Rom verbrannt. Schon im Mittelalter und verstärkt in der frühen Neuzeit hat die katholische Kirche, die sich für den legitimen Anwalt der Wahrheit hielt, allen Wissenschaftlern, Frauen wie Männern, den Prozess gemacht, wenn deren Wahrheit von der ihren abwich. Darauf kommen wir im Kap. 2.2 im Zusammenhang von Glauben und Wissen zurück. Die Kirche hat übrigens nur darum nicht schon Kopernikus den Prozess gemacht, weil seine Hauptschrift »Über die Bewegung der Himmelskreise« (»De revolutionibus orbium coelestium«), aus dem sich der neuzeitliche Begriff der ›Revolution‹ ableitet, die These der Dezentrierung der Erde nicht als Wahrheitsbehauptung, sondern nur 66 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Der europäische Kampf zwischen wissenschaftlicher und religiöser Wahrheit

als Hypothese vertrat. Diese Hauptschrift des Kopernikus erschien erst im Todesjahr des Kopernikus im Jahre 1543. Der Nürnberger Pfarrer Andreas Osiander hatte das in seiner klugen Vorrede so formuliert: Es sei »nicht erforderlich dass diese Hypothesen wahr, ja nicht einmal, dass sie wahrscheinlich sind, sondern es reicht schon allein hin, wenn sie eine mit den Beobachtungen übereinstimmende Rechnung ergeben.« (zit. in Blumenberg: Die kopernikanische Wende, 41) Damit konnte die katholische Kirche jahrzehntelang gut leben. Dramatisch wurde es für die Kirche erst, als Wissenschaftler wie Kepler und Galilei ihre über Kopernikus hinausgehenden Erkenntnisse nicht als ›Hypothesen‹, sondern als Wahrheit behaupteten. Johannes Kepler bekannte sich schlankweg zur neuen Lehre des Kopernikus und betonte dabei, dass er »durch keinerlei religiöse Bedenken gehindert war, dem Kopernikus zu folgen, wenn das, was er vorträgt, wohl begründet ist« (Kepler: Das Weltgeheimnis, 29). Er korrigierte die Lehre von den kreisrunden Bahnen der Planeten in Ellipsen. Dabei hatte Kepler Glück, dass er als Sohn einer lutherischen Familie aus dem protestantisch württembergischen Weil der Stadt nicht jene kirchliche Verfolgung erleiden musste, die Bruno zu Tode gebracht hat und die Galilei gedroht hatte. Im Rom des Galileo Galilei aber braute sich etwas zusammen. Alarmiert von den protestantischen Aktivitäten in Deutschland, formierte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Gegenreformation in Rom. Formell richtete das heilige Offizium in Rom 1559 im Zuge der Inquisition einen »Index der verbotenen Schriften« ein, auf den dann auch im Jahre 1616 – 73 Jahre nach ihrem Erscheinen und dem Tod des Autors –, die Revolutions-Schrift des Kopernikus gesetzt wurde. 1633 musste Galilei, der seine Beobachtungen durch das Fernrohr nicht mehr nur als »Hypothesen«, sondern ebenfalls als »Wahrheiten« verkündet hatte, die These von der Bewegung der Erde um die Sonne widerrufen. Dazu wurde der greise Wissenschaftler durch den bloßen Anblick der Folterinstrumente, mit denen man ihn traktieren könnte, gezwungen. Er soll heimlich vor sich hin den wahren Satz gesprochen haben: »Und sie bewegt sich doch.« (»Eppurre se muove.«) Aber das könnte Legende sein. In jedem Falle wusste Galilei, als er der Wahrheit abschwor, dass er da selbst gerade die Wahrheit verraten hatte. Der Dramatiker Bert Brecht zeigt die Szene der Wissenschaftsblindheit der römischen Kurie in seinem Stück »Leben des Galilei«: Das Fernrohr steht aufgebaut am Hof der Medici zu Florenz. Man muss nur hindurchschauen, um 67 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wahrheit, Wahrhaftigkeit

die Wahrheit über die Monde des Jupiter mit eigenen Augen zu sehen. Galilei, der bereits hinter dem sich verabschiedenden Hof herläuft: »Aber die Herren brauchten wirklich nur durch das Instrument zu schauen!« (Brecht: Werke. Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 5, 224) Eben das tun sie nicht. Die Kirchenoberen wollten die Wahrheit nicht sehen. Die Wahrheit der Einsichten des Galilei aber sind damit nicht verloren. Sie wandern mit einem neuen Medium – dem Buch – in die Welt und verbreiten sich dort auch gegen den Willen der katholischen Kirche. Das Wahrheitsproblem der neuzeitlichen Wissenschaft ist allerdings erheblich komplizierter, als es in Brechts Drama und oft auch in der Argumentation frühneuzeitlicher Wissenschaftler erscheint. Die Wahrheit der modernen Wissenschaft ist ja gerade nicht mehr durch unmittelbaren Augenschein zu haben, sondern ergibt sich aus einem komplizierten Zusammenspiel von Messergebnissen, die bereits theorie- und hypothesengeleitet sein müssen, um überhaupt sinnvolle Daten liefern zu können, und jenem mathematischen Berechnungszusammenhang, der den eigentlichen Kerngehalt der wissenschaftlichen Theorie ausmacht. Wie erwähnt: Diese Wahrheit ist nach Maßgabe der neueren Wissenschaftstheorie eher hypothetisch als realitätsbehauptend, beansprucht aber Geltung bis zu ihrer Widerlegung. Die antiken Philosophen wie auch die neuzeitlichen Wissenschaftler der europäischen Kultur vertreten also – ob als Hypothese oder direkt formuliert – einen neuen Wahrheitsanspruch. Der ist mit dem Prinzip des eigenständigen Denkens verbunden. Dieser neue Wahrheitsanspruch hebelt in der europäischen Kulturgeschichte – bisher nicht im Islam und in keiner anderen Weltreligion – den religiösen Wahrheitsanspruch aus. Das ist zunächst der Mythos, im Europa der Neuzeit dann der katholische Glauben, dessen Wahrheit das rationale Wissen in Frage stellt und relativiert (siehe auch Kap. 2.2, 249 ff). Das geschieht unter schweren politischen Kämpfen, geht es doch auch um eine neue ›revolutionäre‹ Macht der Wissenschaft gegen die Macht der (katholischen) Kirche. Der Dreißigjährige Krieg spiegelt diese Machtkämpfe. Ein neuer Wert war mit dem eigenständigen Denken im europäischen Wertesystem aufgetaucht, und der verwandelte das politische wie soziale Leben Europas – und heute der gesamten Welt – fundamental: der Wert der Wahrheit des eigenständigen Denkens in der Form der Wissenschaft. 68 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Was ist Wahrheit? Wahrheitstheorien

Nur auf der Grundlage der Erkenntnisse der Wissenschaften konnten jene Technologien entwickelt werden, die heute unser gesamtes Leben verändert haben: Elektrizitätslehre, Chemie, AtomPhysik. Bert Brecht verurteilt am Ende seines Dramas den Wissenschaftler Galilei, dass er sein Wissen durch seinen Widerruf verraten habe. Er sei nicht wahrhaftig genug gewesen. Das ist zugleich eine Kritik an den Atomphysikern seiner Zeit, die ihr Wissen an die Politiker verraten hätten. Aber diese Kritik ist nicht realistisch: Man kann das eigenständige Denken der Wissenschaft zwar politisch lenken, aber nicht selbst aufhalten wollen. Dafür ist der Drang nach Wahrheit im Menschen zu groß. Die europäische Kulturgeschichte und heute die gesamte durch sie geprägte globale Kultur sind jedenfalls durch den hohen Wert, den sie der Wahrheit beimaßen, bis in die alltägliche Lebenswelt hinein geprägt. Das gilt aber auch für die Konflikte, die sie damit erzeugten: Denn die Wahrheit der Wissenschaft steht ja heute erneut im Spannungsfeld mit religiösen Wahrheiten aller Art (Kap. 2.2).

Was ist Wahrheit? Wahrheitstheorien Über die Frage, was Wahrheit sei, streiten sich die Gelehrten seit Jahrtausenden. Ich unterscheide im Folgenden drei Wahrheitstheorien, mit denen auch ganz unterschiedliche Werte verbunden sind. Wie wir allerdings sehen werden, ist nur der Theorieblock (3) für uns von nachhaltigem Wert. (1) Seinstheorie der Wahrheit: Diese Theorie hat Martin Heidegger vertreten. Diese Theorie besagt, dass nicht der Wahrheitswert eines Satzes in Bezug auf einen Sachverhalt die ursprünglichste Form von Wahrheit darstellt. »Die Übereinstimmung des nexus mit dem Seienden und ihr zufolge seine Einstimmigkeit machen als solche nicht primär das Seiende zugänglich. Dieses muss vielmehr als das mögliche Worüber einer prädikativen Bestimmung vor dieser Prädikation und für sie schon offenbar sein.« (Heidegger: Wegmarken, 27). Heidegger reklamiert also, dass es eine ursprüngliche Form von ›Entbergung‹ des Seins geben muss, wenn man überhaupt eine Wahrheitsbehauptung über das Seiende machen will. Heidegger stützt dieses Argument mit der Etymologie von ›a-letheia‹ als »Un-verborgenheit«. »Die Satzwahrheit ist in einer ursprünglicheren Wahrheit

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Wahrheit, Wahrhaftigkeit

(Unverborgenheit), in der vorprädikativen Offenbarkeit von Seiendem gewurzelt.« (Ebd.) Aber ist das wahr? Heideggers ursprüngliche Entborgenheit von Seiendem ist immer auch durch die Sprache vermittelt, das heißt aber: durch die Prädikation. Diese Sprachgebundenheit des menschlichen Verstehens hat Heidegger immer wieder selbst herausgearbeitet, zunächst in »Sein und Zeit« im § 34 (Heidegger: Sein und Zeit, 160 ff). Wenn menschliches Dasein und seine Form des Verstehens immer auch durch die Sprache vermittelt sind, so ist es von Anfang an auch prädikativ bestimmt: Wir erkennen ja die Welt so, dass wir das Seiende als ein solches oder solches Ding wahrnehmen. Dies ist ein Berg, dieses ein Tal, dieses ist ein gefährliches Raubtier, dieses eine essbare Jagdbeute – nach diesen prädikativen Urteilen orientiert sich der homo sapiens von seinen Anfängen an. Heideggers These, dass das prädikative Urteilen der ursprünglichen Seinserfahrung erst nachfolge, widerspricht seiner eigenen Einsicht in die sprachliche Vermitteltheit allen menschlichen Verstehens. Und insofern kommt hier von Anfang an das Problem des richtigen Erkennens von Seiendem und der richtigen Aussage darüber ins lebenswichtige Spiel, nicht erst als abgeleiteter Modus einer irgendwie ›ursprünglicher‹ sein sollenden Seinserfahrung. (2) Menschenunabhängige Wahrheitstheorien mit Ewigkeitswert. Eine solche Theorie hat sich Platon ausgedacht. Platon war der Meinung, dass die »Ideen«, die für ihn das wahre Wesen der Dinge darstellen, in einem Ideen-Himmel jenseits des Menschen für sich ruhen. Der erkennende Mensch kann sich diesen Ideen in einer intellektuell-argumentativen Erkenntnismethode nähern, er kann sie – und das gilt insbesondere für die Idee des Guten und des Schönen, aber auch die anderen Ideen – ›schauen‹. Aber so, wie sie da von Platons Sokrates angedacht wurden, bilden sie ein exklusives Reich ewiger Wahrheiten (siehe z. B. Platon: Symposion 211a–e, Phaidon 100 b–e, Phaidros 250d–251b u. a.). Mit dem Platonismus konnte sich die mittelalterliche Theologie gut verbünden, indem sie Gott selbst als das Wahre, Gute, Schöne vorstellt. Wir sahen, dass im Neukantianismus eine solche überzeitliche Werttheorie wieder auftaucht, wenn nun auch mit Kant apriorisch – das heißt ein Wahrheitswert in unserem Denken vor aller Erfahrung. Auch Windelband und Rickert halten an der Vorstellung einer ›Wahrheit an sich‹ fest, für Rickert ist das Kriterium ihrer Erkenntnis die 70 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Was ist Wahrheit? Wahrheitstheorien

»Gewissheit«, in dem sich ihr zeitlos geltender Wert dem Menschen darstellt (Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis, 197 ff). Bei Windelband wie bei Rickert tritt die Wahrheit in Bezug auf Bestimmungen des Sollens, und das sind ewig geltende reine Werte. Als wenn nicht diese auch der zeitlichen Erfahrung und Interpretation von Menschen unterworfen wären. (3) Wahrheit als Richtigkeit. Damit kommen wir zur wichtigsten und argumentativ haltbarsten Wahrheitstheorie: Wahrheit als Richtigkeit einer Aussage, einer Theorie, eines Gedankens in Bezug auf einen Sachverhalt. Diese Theorie hat ihren Ursprung in der Einsicht des Aristoteles, der erkannt hatte, dass das Wahre oder Falsche nicht in den Dingen liegt, auch nicht in einem ›an sich‹ seienden Ideenhimmel, sondern im Denken: »Denn das Falsche und das Wahre liegt nicht in den Dingen, so dass etwa das Gute wahr und das Böse sogleich falsch wäre, sondern im Denken.« (Aristoteles: Metaphysik 1027b) Aristoteles hat auch erkannt, dass solche Wahrheitserkenntnis sich in Sätzen äußert, also sprachlich vermittelt ist. »Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr.« (Ebd., 1011b) Vereinfacht gesprochen: Wer behauptet, es regnet, wenn es nicht regnet, sagt – die Ironie hier einmal beiseitegelassen – nicht die Wahrheit; wer sagt, dass es regnet, wenn dem so ist, sagt die Wahrheit. Aristoteles vertritt eine Theorie der Übereinstimmung von Erkenntnis und Aussage mit dem Gegenstand der Erkenntnis und Aussage. Wahr ist, wenn Erkenntnis und Aussage dem Tatbestand entsprechen, falsch oder unwahr, wenn nicht. Zu dieser Theorie der Übereinstimmung von Denken/Aussage einerseits, Gegenstand und Tatbestand andererseits, gibt es mehrere Varianten, die wir hier nur andeuten. So hat die mittelalterliche Wahrheitstheorie Wahrheit als »adaequatio intellectus et rei« definiert (Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q 21 a. 2), also als Übereinstimmung von Erkenntnis und Sache. Die neuzeitliche Subjektphilosophie mit Immanuel Kant hat einen formalen Begriff von Wahrheit entwickelt. Wenn Kant sagt, dass die »reinen Verstandesbegriffe« (Kategorien) »der Quell aller Wahrheit d. i. der Übereinstimmung der Begriffe mit Objekten« seien, insofern sie eben die formalen Voraussetzungen von Urteilen überhaupt bilden (Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 296), sagt er eben damit nur etwas über die 71 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wahrheit, Wahrhaftigkeit

Bedingung der Möglichkeit von Wahr- oder Falschurteilen aus. Damit aber ist über den konkret-empirischen Gebrauch der Urteilsformen nichts gesagt. Aber erst auf dieser Ebene geht es konkret um wahr oder falsch. Das 20. Jahrhundert hat dann noch eine Reihe von Wahrheitstheorien herausgearbeitet, wie wir hier nur kursorisch streifen können. So hält die moderne semantische Theorie einen Satz für wahr, wenn die Prädikation, die er aussagt, mit dem Subjekt der Aussage übereinstimmt. Formal: »x ist wahr, wenn p«, eine beliebige Aussage (p) ist wahr, wenn sie auf (x) zutrifft (Tarski: Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen). Nach der Konsenstheorie ist eine Aussagen wahr, wenn ihr eine signifikante Mehrheit von Menschen zustimmt, also eine Art »general agreement« darüber besteht, so Charles S. Peirce. Auch Jürgen Habermas neigt mit seiner Theorie des Konsensus in der herrschaftsfreien Kommunikation dieser These zu. Peirce identifiziert Wahrheit mit der ultimativen kollektiven Meinung der Wissenschaftler über einen Gegenstand: »The opinion which is fated to be ultimately agreed to by all who investigate, is what we mean by thruth, and the object represented in this opinion is the real. That is the way I would explain reality.« (Peirce: How to make our ideas clear. Collected Papers 3, 273) Aber das ist durchaus problematisch: Weder dürften je alle Forscher zu einem komplexen Wahrheitsproblem einer Meinung sein, mithin würde es nie eine ultimative Übereinstimmung darüber geben können. Und einem Richter oder Bürger hilft ein Wahrheitsbegriff wenig, der diese »letztendlich« auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschiebt. Jürgen Habermas siedelt das Wahrheitsproblem in seiner Konsensus-Theorie in einem möglichst ›herrschaftsfreien Diskurs‹ an. Eine solche »ideale« Kommunikationssituation verbindet Habermas mit der Chancengleichheit, »Freizügigkeit«, Entlastung von »Realitätszwängen« aller Gesprächsteilnehmer (Habermas: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 177 ff). Aber ist eine solche Annahme realistisch? Kommunikationspartner sind irgendwie immer unterschiedlich ausgestattet: bildungsmäßig, intelligenzmäßig, different kulturgeprägt und treten sich zumeist auch nicht als gleichwertige Partner gegenüber. Nach Habermas soll in einer »herrschaftsfreien« Kommunikationssituation Wahrheit argumentativ hergestellt werden als Einsicht aller Partner in die »objektive Welt« oder was immer Gegenstand des Diskurses sein möge: »Dieser Begriff kommunikativer Rationalität führt Konnotationen 72 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Was ist Wahrheit? Wahrheitstheorien

mit sich, die letztlich zurückgehen auf die zentrale Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede, in der verschiedene Teilnehmer ihre zunächst nur subjektiven Auffassungen überwinden und sich dank der Gemeinsamkeit vernünftig motivierter Überzeugungen gleichzeitig der Einheit der objektiven Welt und der Intersubjektivität ihres Lebenszusammenhangs vergewissern.« (Ebd., 605) Aber das ist eine schöne Utopie, die mit den realen Kommunikationsbedingungen auf der Erde leider wenig zu tun hat. Nach Habermas kann die Konsenstheorie der Wahrheit gar nicht zu Wahrheiten der »objektiven Welt« vorstoßen, weil sie sich nur im Selbstgespräch um sich selbst dreht. Habermas schließt damit das Tatsachenwissen aus, weil es angeblich aus der Sprachwelt herausfällt. »Innerhalb des linguistischen Paradigmas kann die Aussagenwahrheit jedenfalls nicht mehr als ›Korrespondenz mit etwas in der Welt‹ begriffen werden. Sonst müßten wir mit der Sprache aus der Sprache heraustreten können.« (Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung, 315). Plausibel ist das nicht. Wenn ich irgendwas in der Welt als etwas erkenne – einen Baum als Baum, ein brennendes Auto als solches, die Spuren eines Einbruchs –, ist das immer sprachlich vermittelt. Da tritt niemand, der das so erkennt, aus der Sprache heraus. Die Sprache ist kein Gefängnis gegen die Welt, sondern die Bedingung der Möglichkeit ihrer Erfahrung. Und genau damit eröffnet sie auch den Erkenntisgrund der Faktizitäten, auf deren richtiger oder falscher Wahrnehmung unsere Wahrheitsaussagen basieren. Die Bedeutung der Erkenntnis der Faktizitäten in der politischen Debatte hat Hannah Arendt nachdrücklich betont. Denn: »um die Chancen der Tatsachenwahrheit, dem Angriff politischer Macht zu widerstehen, ist es offenbar schlecht bestellt.« (Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik, 49) Hannah Arendt spricht in dem Aufsatz »Wahrheit und Politik« aus dem Jahre 1967 nicht über das totalitäre Hitler-Regime, vor dem sie ja 1934 fliehen musste, sondern über die Demokratie in den USA. Sie spricht über die Vielfalt der Manipulationen von Wahrheit auch dort. Donald Trump konnte sie noch gar nicht kennen. Generell sagt sie: »Die Tatsachenwahrheit ist von Natur politisch. […] Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist.« (Ebd., 57 f) »Das organisierte Manipulieren von Tatbeständen und Meinungen ist ein relativ neues Phänomen, mit dem wir im Osten durch das ständige Umschreiben der Geschichte, im Westen durch die Propagandakünste 73 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wahrheit, Wahrhaftigkeit

des ›image-making‹ und durch das Verhalten der Staatsmänner nachgerade überall vertraut sind.« (Ebd., 75) Aber: »Tatsachen sind hartnäckig, und trotz ihrer Verletzlichkeit […] verfügen sie über eine seltsame Zähigkeit, die damit zusammenhängt, dass sie, wie alle Ergebnisse menschlichen Handelns – im Unterschied zu den Produkten menschlichen Herstellens –, nicht rückgängig gemacht werden können. An Hartnäckigkeit sind Tatsachen allen Macht-Kombinationen überlegen.« (Ebd., 85) In seinem Aufsatz über »Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« vertritt Nietzsche die These, dass die menschliche Welt immer sprachlich vermittelt ist, dabei aber nie der Wahrheit über die Dinge entsprechen könne. Dem »Sprachbildner« sei »das ›Ding an sich‹ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ganz unfasslich« (Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge, Bd. 1, 879). »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern […] Anthropomorphismen […] die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind […]« (ebd., 880 f). Aber woran gemessen? Nietzsches Maßstab ist das »Ding an sich«. Dazu aber haben wir als Menschen nun eben keinen Zugang, wie Nietzsche selbst gut weiß. Nietzsche hat später auch erkannt, dass alle Erkenntnis der Welt immer auch einen perspektivischen Charakter hat. »Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches Erkennen« (Nietzsche: Genealogie der Moral, 5, 365). Aber dies eben nur innerhalb der Welt, wie sie uns die Sprache eröffnet. Damit sind wir beim Wert von Wahrheit in der Gesellschaft, im privaten wie im öffentlichen Raum, und den Werte-Problemen, die sich damit ergeben.

»Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« (Kafka). Ideologien, Geschichtslügen, Fake News Mit den Wahrheitstheorien haben wir noch nicht den gesellschaftlichen Wert von Wahrheit und auch der personalen Haltung der Wahrhaftigkeit ergründet. Wir haben nur gesehen, mit welcher Theorie von Wahrheit wir dabei am besten operieren müssen. Das ist zweifellos die Theorie der Richtigkeit: Wahr ist eine Erkenntnis oder ein Satz, wenn er dem Sachverhalt, den er beschreibt, auch entspricht. Wir haben auch gesehen, welche Kämpfe bei der Erkenntnis von Welt in der europäischen Kulturgeschichte zu bestehen waren und heute noch zu bestehen sind, um richtige Aussagen über die Welt 74 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

»Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« (Kafka)

machen zu können. Dabei weiß die heutige Wissenschaft, dass es bei komplexen Sachverhalten keine absoluten Wahrheiten gibt, wohl aber Annäherungen an wahrheitsgemäße Beschreibungen, die sich allerdings zumeist auf einem abstrakten Niveau der Formelsprache bewegen. Karl Popper schlägt daher vor, wissenschaftliche Theorien nur nach dem »Falsifizierbarkeits«-Kriterium zu unterscheiden (Popper: Logik der Forschung, 14 ff). Aber gerade bei einfacheren Tatsachenwahrnehmungen ist das Prinzip der Richtigkeit der Aussage fundamental für eine zivile Gesellschaft, ihre Rechtsprechung, ihre Politik, die Öffentlichkeitsarbeit der Medien. Umgekehrt gerät eine Gesellschaft ins Schlingern, wenn das Wahrheitsprinzip von zu vielen Funktionsträgern nicht mehr beachtet wird. An der Lüge können private Beziehungen scheitern und auch ganze Gesellschaften. Die Athener Demokratie ist u. a. daran zugrunde gegangen. Dazu ein kurzer Blick zurück in die Geschichte. Aristoteles berichtet, wie die griechischen Demokratien um Athen herum sich durch Korruption auflösten: »Die Demokratien verändern sich hauptsächlich infolge der Habgier und Genußsucht der Demagogen.« (Aristoteles: Politik. 1304b) Die Athener Demokratie hatte die unselige Einrichtung des Sykophantentums. Das waren Spitzel des Staates, auch bezahlte Lügner, die man sich kaufen konnte, um einen Politiker anzuklagen oder einen Prozess zu gewinnen, Männer also, deren Geschäft das Lügen und Anklagen war. Man muss sich diese Sykophanten als eine Art Inquisition oder Stasi vorstellen, die sich gegenüber dem Staat mit ihren Lügengeschäften verselbständigten. Dadurch lebten auch die »Schuldlosen« in einem »beständigen Belagerungszustand«, wie der Historiker Jacob Burckhardt über die Athener Demokratie schreibt (Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, 242). Die Athener verfolgten auf diese Weise ihre eigenen Feldherren noch in der Schlacht, so ihren Heerführer Nikias im Peloponnesischen Krieg. »Nikias zitterte vor diesen Sykophanten sein Leben lang« (ebd.), und diese Furcht vor den Intriganten in der eigenen Heimat beeinträchtigte natürlich auch seine Schlagkraft und die seines Heeres nach außen. Nicht zuletzt durch diesen Doppelkrieg ihrer eigenen Strategen wurden die Athener vor Syrakus vernichtend geschlagen (siehe Kap. 1.9). Denn auch gegen den anderen Strategen, Alkibiades, war zuhause geklagt worden, worauf er sich nach Sparta absetzte, um dort den Widerstand gegen seine eigene Vaterstadt Athen zu organisieren. Das Intrigantentum auch gegen die Denker 75 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wahrheit, Wahrhaftigkeit

trieb Aristoteles in die Verbannung und Sokrates in den Tod. Die Athener Demokratie schildert Burckhardt als ein von Bespitzelung und Korruption vergiftetes System, in dem mit Geldsummen Lügner gekauft, Richter bestochen wurden, weshalb die Athener Demokratie sich am Ende auch auflöste. Im 19. und 20. Jahrhundert haben sich in Europa vor allem zwei Ideologien herauskristallisiert, die nicht nur weite Teile von Europa beherrscht haben, sondern weltweite Geltung erlangten, die Ideologie des Rassismus und die Ideologie des Kommunismus. Beide Ideologien beruhen auf fundamentalen Geschichtslügen oder Irrtümern: Denn weder ist die arische Rasse die eigentlich produktive Rasse der Geschichte gewesen, wie Hitler meinte, noch das Proletariat die eigentlich produktive Klasse, wie Marx dies sah. In den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts schrieb Franz Kafka seinen Roman: »Der Proceß«. Der Held dieses Romans, Josef K., wird darin von einer diffusen politischen Macht verfolgt, die ihn auch am Ende hinrichten lässt. Den ganzen Prozess hindurch versucht K. zu erkennen, wer ihn da verfolgt, er versucht sich zu verteidigen, aber gegen wen? Er versucht zu klären, weswegen er eigentlich angeklagt ist – alles vergeblich. Er wird von zwei Schergen hingerichtet, ohne eine Antwort auf seine Fragen zu bekommen. In einem Gespräch im Dom mit einem Geistlichen sagt der Verzweifelte: »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« (Kafka: Der Proceß 233) Die politischen Deutungen Kafkas deuten ihn zu Recht als einen – wie dies Elias Canetti genannt hat – Spezialisten der Macht. Dabei wurde der »Proceß«-Roman vor allem in Deutschland als eine Vorausdeutung des Nationalsozialismus gelesen. Schon Max Brod hatte gesehen, dass in der Kleidung der Wächter »bereits die Erscheinung eines SS-Mannes […] vorausgenommen« sei (zit. in: Born: Kafkas Roman »Der Proceß«, 67). In der Zeit der Entstehung des Romans aber gab es den Nationalsozialismus als organisierte Partei noch gar nicht. In einer der gestrichenen Stellen aus dem Kapitel 3 (»Erste Untersuchung«) gibt der Roman selbst einen Hinweis, welche politische Szenerie Kafka im Auge hatte, als er den Protagonisten K. in eine Versammlung kommen lässt, die den Protagonisten an eine »politische Versammlung« erinnert. Ursprünglich hatte es da im Text geheißen: »socialistische Bezirksversammlung« (Kafka: Der Proceß. Apparatband, 188). Und in der Tat nimmt auch die Verhaftung und Ermordung eines Josef K. eher die sozialistisch-kommunistische Praxis eines Stalin 76 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

»Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« (Kafka)

vorweg. Hitler hatte seine Feinde wohldefiniert: Juden und Kommunisten, die er ins KZ bringen und dort töten ließ. Stalin gab den Befehl, Menschen massenweise nach festgesetzten Quoten einzufangen und zu ermorden, sei es durch Massenerschießungen, viele auch durch den Hungertod. Das Ganze zeigte gerade im sozialistischen Kommunismus Russlands wie Chinas wie auch anderer Staaten Züge gröbster Willkür. Es entbrannte geradezu in beiden Systemen ein Rausch der Vernichtung angeblicher »Feinde«. Stalin ließ so auch »Tausende seiner alten Bekannten töten«, zeichnete nachts lange kollektive Todeslisten ab (Montefiore: Stalin, 265). Dabei wurden die ›Angeklagten‹ oft Scheinverhören ausgesetzt, durch Prozesse gequält, ihr Todesurteil stand bereits längst fest. Die meisten seiner Opfer wussten nicht, wer den Auftrag zu ihrer Verhaftung und Ermordung gegeben hatte, wessen sie angeklagt waren und warum sie sterben sollten? Wie Josef K. in Kafkas Roman. Neben Kafkas »Proceß« gibt es einige andere Dystopien, die den Terror und die Gewalt in totalitären Systemen gegen Wahrheit schildern: Jewgenij Samjatins Roman »Wir« von 1920, Aldous Huxleys Roman »Brave New World« und der Roman »1984« von George Orwell, der bereits die beiden genannten Negativutopien wie auch die Erfahrung mit den kommunistischen wie nationalsozialistischen Terrorregimes verarbeitet. Der Roman erschien 1949, in deutscher Erstübersetzung 1950. Die Welt ist aufgespalten in drei Supermächte, die alle drei von ähnlichen totalitären Systemen beherrscht werden. Der Roman spielt in London, der Hauptstadt von Ozeanien, eines dieser drei Reiche. Das Leben wird von totalitären Parteien beherrscht mit dem Ziel, das Eigenleben und das eigene Denken ihrer Bürger komplett auszuschalten, diese total zu kontrollieren und der Machtideologe der Partei zu unterstellen. Die Geschichte wird in einem »Wahrheitsministerium« gelöscht, das die alten Archive vernichtet und nach Bedarf der Parteiideologie umschreibt. An solcher Verfälschung der Geschichte arbeitet auch der Protagonist des Romans, Winston Smith, anfänglich mit. Innerlich aber begehrt er dagegen auf, trifft sich verbotenerweise mit einer Frau, Julia, schreibt ein Tagebuch, sucht den Anschluss an eine Oppositionsgruppe mittels des Verbindungsoffiziers O’Brian. Dieser entpuppt sich als Spitzel des Systems, und nun beginnt die Foltertortur im Zimmer 101 für Winston Smith, in dem sein Gehirn Schritt für Schritt umprogrammiert wird. »›Ihre Umschulung geht in drei Etappen vor sich‹, sagte O’Brian, Lernen, ver77 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wahrheit, Wahrhaftigkeit

stehen und bejahen. Es ist an der Zeit für Sie, in die zweite Etappe einzutreten.« (Orwell: 1984, 251) Unter Elektroschocks und anderen Foltermethoden wird ihm nun die Wahrheit ausgetrieben und die Lüge als Wahrheit eingebläut. Es kommt O’Brian dabei darauf an, den Willen des Opfers komplett zu brechen, um das Gehirn nach seinem Willen umprogrammieren zu können, Gehirnwäsche: »Freiheit ist Sklaverei«, »Zwei und Zwei ist fünf«, und was auch immer O’Brian seinem Opfer eintrichtert. Am Ende hält er ihm ausgehungerte Ratten vor seine Augen, die sich bei Klappenöffnung sofort durch die Augen des Gefolterten in dessen Gehirn fressen würden – und Smith gibt dabei tatsächlich den letzten Widerstand auf. Am Ende rennt er selbst als begeisterter Anhänger des »Großen Bruders« durch die Straßen von London: »Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den großen Bruder.« (Ebd., 287) In totalitären Systemen, so die Botschaft des Romans, wird die Wahrheit zur Lüge und die Lüge zur Wahrheit nach dem Machtwillen des Diktators umkodiert und die Bürger mit den Mitteln der Gehirnfolter auf diese eingeschworen. Solche Formen der Gehirnwäsche hatte bereits Stalin angewandt, der ein gebildeter Mann war und Teile seiner Jugend auch in einem Priesterseminar verbracht hatte. In seinem späteren politischen Leben griff dieser Diktator immer wieder zurück auch auf Mittel der ›heiligen Inquisition‹, die als erste in der Geschichte systematische Folter zur Durchsetzung ihrer kirchlichen Wahrheit angewandt hatte. 3 Und wie steht es mit unserer eigenen Gegenwart in Demokratien, nicht totalitären Systemen? Ein Leitartikel in der »Welt« vom 27. 2. 2018 behandelt das Thema: »Donald Trump und die Lügen«. Der Autor, Hannes Stein, leitet den Artikel ein mit den Worten, dass wir alle lügen, Politiker nicht einmal nennenswert mehr als andere Menschen. Nun ist aber mit Donald Trump ein Politiker in einer Demokratie an die Macht gekommen, der das Mittel Lüge viel häufiger und auch unverhohlener gebraucht als andere Politiker. »Fake News«, bewusste Lügen, Verzerrungen, extreme Einseitigkeiten prägen viele seiner Botschaften. Besonders bemerkenswert daran ist, dass viele seiner Anhänger das auch glauben wollen, was er sagt, obwohl es evident falsch ist. Der Autor schreibt: »Die schlechte Nachricht lautet, dass die technischen Methoden, um Lügen zu verbreiten, immer besser werden. Donald Trump hat auf Twitter ein Publikum von un3

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Wahrheit als Wert der zivilen Gesellschaft

gefähr fünfzig Millionen, das noch wächst; er erreicht also viel mehr Menschen als jeder amerikanische Fernsehsender.« Eine wirklich gute Nachricht hat der Autor nicht dagegenzuhalten. Der Verfasser prognostiziert, dass die Verbreitung von Fake News bei der nächsten Präsidentenwahl eine noch größere, eventuell sogar entscheidende Rolle spielen könnte. »Es wird immer schwieriger, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden, wir treten in eine neue Ära des Zwielichts ein. Wird die liberale Demokratie diese Ära überleben?«

Wahrheit als Wert der zivilen Gesellschaft Aus all dem wird deutlich, welchen immensen Wert Wahrheit und die Wahrhaftigkeit von Personen für den zivilen Staat haben, wenn dieser überleben soll. Es gibt diesen nicht ohne jene (siehe auch Kap. 1.4 und 1.8). Wenn Politiker, wenn Richter, wenn die Polizei und der öffentliche Dienst nicht auf ein hohes Maß an Wahrheit und Wahrhaftigkeit ausgerichtet sind, kann es kein Vertrauen der Bürger in ihn geben und damit keinen zivilen Staat. Auch im privaten Leben sind Wahrheit und Wahrhaftigkeit wesentliche Voraussetzungen für die Bildung der Persönlichkeit (siehe Kap. 1.7) wie für die Bildung einer gelungenen Beziehung. Dabei geht es auch um einen komplexeren Begriff von Wahrheit und Wahrhaftigkeit als den der Richtigkeit. Der Duden setzt »Wahrhaftigkeit« in inneren Zusammenhang mit »Ehrlichkeit, Loyalität, Rechtschaffenheit, Wahrheitsliebe, Zuverlässigkeit«, also wiederum einer ganzen Unterfamilie von Tugenden im Kontext des Zentralwertes der Wahrheit und der persönlichen Haltung der Wahrhaftigkeit. Die Wahrhaftigkeit einer Person hängt auch an ihrer inneren Stimmigkeit und an der Charakterstärke, eigene Spannungen und Widersprüche aushalten, womöglich auch unangenehmen Wahrheiten bei sich selbst ins Auge sehen zu können. Um solche Selbst-Durchsichtigkeit der Person herzustellen, braucht es oft Mut und Willensbereitschaft, die eigene Lebensgeschichte aufzuarbeiten und bewusst rational zu durchdringen. Das ist das Programm der Psychoanalyse oder vergleichbarer Formen der psychologischen Durchdringung. Auf Dauer jedenfalls kann keine Biographie wie auch keine gesunde Beziehung gut gelingen, die auf Lebenslügen basiert. Und was hier für das private Leben gesagt wurde, gilt auch für das öffentliche Leben. Die Problematik von Demokratien ist auch 79 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wahrheit, Wahrhaftigkeit

heute noch deren Überfremdung durch Ideologien oder eben Fake News, die ein falsches – unwahres – Bild der Realität erzeugen, falsche oder zu einseitige Lösungsvorschläge anbieten und damit zu politischen Fehlsteuerungen führen. Um das zu erkennen, brauchen der Politiker, der Journalist wie auch der mündige Bürger ein hohes Maß an eigener Kritikfähigkeit. Und das ist der Inhalt unseres nächsten Kapitels zum Werte der Kritik.

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1.3 Kritik, Kritikfähigkeit

Zusammenfassung (1) Zum eigenen Denken gehört Kritik als Instrument der Wahrheitssuche und Kritikfähigkeit als Bedingung der Möglichkeit der Unterscheidung von wahr und falsch, dies auch und gerade im Bereich der Politik. (2) Die antike wie neuzeitliche Aufklärung war durchtränkt vom Geiste der Kritik. Dabei war ein Hauptprogrammpunkt der neuzeitlichen Aufklärung, den Verstand so zu schulen, dass er zu kritischem Denken befähigt war. Aufklärung in diesem Sinne war Denkschulung. (3) In den totalitären Systemen kommt es zur Vermengung von Kritik und Ideologie, insbesondere im Marxismus. (4) Die radikale Kulturkritik und Kult der Protest-Kultur. (5) Ausgewogene Kritik und Kritikfähigkeit sind Voraussetzung für die Bildung der Individualität wie Bedingung einer guten Regierung in der Demokratie.

Was ist Kritik, was Kritikfähigkeit? Wenn das eigene Denken und die damit verbundene Suche nach Wahrheit Hauptwerte der europäischen Kulturgeschichte seit der griechischen Antike darstellen, so ist die Kritik jenes Instrument, welches das Denken bei seiner Wahrheitssuche anleitet. Denn ›Kritik üben‹ heißt ja nichts Anderes, als Falsches vom Wahren absondern, zwischen Irrigem und Richtigem unterscheiden zu können, und das heißt: vernünftig urteilen, klar denken. Mit dem Wort ›Kritik‹ verbunden ist häufig auch ein Moment der Bemängelung: Wir kritisieren etwas, wenn es unserem kritischen Urteil nach einen Mangel aufweist. In Kritik steckt also häufig auch ein Moment der Überwindung eines Gegebenen als nicht gut begründet oder gar falsch. Kritikfähigkeit ist sodann jene Eigenschaft des Menschen, welche solche Urteilsfähigkeit beinhaltet, zwischen wahren und falschen Sätzen zu unter81 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik, Kritikfähigkeit

scheiden, sei es auf dem Felde der Wissenschaft oder auch im privaten wie öffentlichen Leben. Kritik und damit auch Kritikfähigkeit sind zentrale Voraussetzungen des zivilen Staates der Demokratie bei seinen Funktionsträgern sowohl wie seinen Bürgern. Das Wort ›Kritik‹ leitet sich vom griechischen ›krinein‹ ab in der Bedeutung von ›unterscheiden‹, ›beurteilen‹, auch ›entscheiden‹ (Hist. Wörterbuch Philosophie, Kritik). Davon abgeleitet ist das Hauptwort ›kritike‹ als die Fähigkeit zu solchem Urteil. Platon lässt seinen Sokrates im späten Dialog »Theaitetos«, in dem es um nichts mehr und nichts weniger geht als die richtige Erkenntnis (episteme), bei der Erläuterung seiner eigenen Hebammenkunst als Geburtshilfe der wahren Erkenntnis eben diese durch die Kritikfähigkeit mithilfe des Logos erläutern: »so würde es gewiß die schönste und größte Kunst der Hebammen sein, zu unterscheiden, was wahr ist und was nicht« (Platon: Theaitetos 150b: »to krinein to alethes te kai me«). Das ›Wahre‹ als das ›Richtige‹ ist nicht einfach mit dem Augenschein zu haben, die sinnliche Wahrnehmung täuscht oft. Das haben wir bereits im vorigen Kapitel als Grundeinsicht der europäischen Denktradition herausgestellt. Das Wahre zu erkennen verlangt eine tiefere Einsicht, mithin Kritikfähigkeit des Denkens, nicht nur das Vertrauen auf den Augenschein der äußeren Wahrnehmung. Es können auch im Kopf sich allerhand Vorstellungen tummeln wie in einem »Taubenschlag« (ebd., 200b–c), zwischen denen wir kritisch die falschen von den wahren heraussortieren müssen. Dazu ist unsere Ratio (griech. logos), unser Verstand, berufen. Denn die »richtige Erkenntnis« ist mit der »Erkenntnis der Verschiedenheit« verbunden (ebd., 210a). Mit unserem Denken und dessen Fähigkeit zur kritischen Unterscheidungsfähigkeit können wir uns auf den Weg zur Wahrheitssuche machen. Und das ist in der Öffentlichkeitsstruktur des frühen 21. Jahrhunderts nötiger denn je. Was von den Nachrichten, die auf uns einprasseln, ist wahr, was falsch, was nur fake news und was weiterführende richtige Meldung? Darüber haben wir im vorigen Kapitel gesprochen. Auch und gerade unter den Bedingungen der überfütterten Informationsgesellschaft ist das kritische Vermögen des Urteilens gefragter denn je, wenn auch oft schwer genug einzulösen. Für Aristoteles wird der Vollbürger des Staates geradezu definiert durch seine kritische Urteilsfähigkeit: »Und hieraus können wir denn entnehmen, was ein Bürger ist: wem es nämlich zusteht, an der beratenden oder richterlichen Staatsgewalt teilzunehmen, nennen wir Bürger« (Aris82 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Schulung der Kritikfähigkeit in der neuzeitlichen Aufklärung

toteles: Politik 1275b). Aristoteles hat dabei offensichtlich schon die Nutzung des kritischen Denkens in Regierung und vor Gericht im Auge. Wir können Aristoteles’ Bürgertugend getrost auf unsere Tage übertragen: Ein vollwertiger Bürger der Demokratie ist, wer sich um ein eigenes kritisches Urteil über politische Fragen in ihm bemüht und das ist – im Rahmen unserer endlichen Erkenntniskraft – immer auch ein Ringen um Wahrheit. Niemand hat sie, wie wir bereits im vorigen Kapitel herausstellten, absolut, Erkenntnis ist immer nur Annäherung an die Wahrheit, eben durch kritisches Fortschreiten unseres Denkens einschließlich der Kontrollen von Information und der eigenen Denkschritte, die dabei anfallen. Das Wort Kritik nimmt dann in der Philologie auch eine besondere Bedeutung an: Textkritik. Sie beginnt mit den Grammatikern des Späthellenismus und lebt auf in der Wiederaneignung der antiken Schriftsteller in der Renaissance nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken im Jahre 1453. Denn diese löste eine Flucht griechischer Gelehrter nach Italien aus mit ihren kostbaren Texten antiker Schriftsteller im Gepäck.

Schulung der Kritikfähigkeit in der neuzeitlichen Aufklärung Die europäische Aufklärung ist dann ganz durchtränkt vom Geiste der Kritik. So wird das Poetik-Programm in Deutschland durch Gottsched neu begründet im Sinne einer »Critischen Dichtkunst«, das heißt einer philosophischen Fundierung von Dichtkunst überhaupt und deren Einschränkung auf möglichst ›vernünftige‹ Gehalte (Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtung). Vor allem die aufklärerische Bibelkritik aber hat das kritische Denken dann in die Religion getragen, indem die historischen und subjektiven Bedingungen der Entstehung von Bibeltexten herausgearbeitet wurden und damit der Anspruch einer direkten Gottesbotschaft durch diese Forschungen zur Historizität der Bibel stark relativiert wurde. In Deutschland wirkten Gelehrte wie Salomo Semler, Hermann Reimarus, Lessing in diese Richtung (Greschat: Die Aufklärung, 267 ff). Dem Islam steht eine solche kritische Lektüre seiner eigenen Koran-Quellen noch bevor. Auf diese Religionskritik kommen wir im Kapitel 2.2 ausführlich zurück (254 ff). Die Aufklärung verfolgte dann auf der Grundlage der Erkenntnisse neuzeitlicher Naturwissenschaften über den Kosmos und auch 83 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik, Kritikfähigkeit

den Menschen das Ziel, endlich klar zwischen falschen und richtigen Urteilen über die Welt zu unterscheiden. Sie suchte in Bezug auf die Wahrheit nach »Gewissheit«. Der Vorreiter dieser Denkbewegung war Descartes. Und er findet mit seiner kritischen Spürnase im »denkenden Ich« (»cogito«) eben jenen sicheren Grund der menschlichen Erkenntnis und ihrer Kritikfähigkeit, dies allerdings nur, wenn der Mensch seinen Verstand richtig gebraucht. Die Philosophie der Aufklärung wird somit Kritik des menschlichen Erkenntnisapparates und seines richtigen Gebrauchs, Kritik der Vernunft. Auch der italienische Philosoph Giambattista Vico definiert – und da folgt er bereits der Lehre von Descartes von der Wahrheit als »Gewissheit« – seine neue »kritische Philosophie« (»critica«) eben durch ihre Kritikfähigkeit, »ein erstes Wahres« auch »gewiß« herauspräparieren zu können (Vico: Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung, 21). Vico führt allerdings auch schon Gefahren und Nachteile der neuen Methode der Kritik auf. Der große Paukenschlag einer fundamentalen Neudefinition von ›Kritik‹ ist mit dem Namen Immanuel Kant verbunden. Kants drei große Kritiken sind mehr als eine bloße »Beurteilungskunst«, wie die philosophische Aufklärung den Begriff der Kritik bereits gedeutet hatte. Kant will insbesondere in seiner »Kritik der reinen Vernunft« die Denkmöglichkeiten, aber auch Grenzen der Vernunft an sich (»der reinen Vernunft«) und dies unabhängig von der Erfahrung (»a priori«) ausloten und damit auch allen möglichen Spekulationen darüber hinaus das Wasser abgraben. Seine fundamentale VernunftKritik war »Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen« (Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 25). Das eben ist sein Programm der »Transzendentalphilosophie« als einer Wissenschaft, welche sich »nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen beschäftigt« (ebd.). Damit aber sagt sie auch allem Dogmatismus den Kampf an. Schon in seinen »Prolegomena« hatte Kant geschrieben: »Soviel ist gewiß: wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche« (Kant: Prolegomena III, 134). Kritik wird dann im 19. und 20. Jahrhundert zu einem Hauptkampfbegriff der Philosophien vor allem gegen den »Heiligenschein« der Religion (Marx: Die Frühschriften 208, siehe Kap. 2.2, 255). Das Problem allerdings ist, dass Kritik sich da häufig selbst mit Ideologie verbindet, mithin einem neuen, ebenfalls parareligiösen Dogmatismus verfällt. 84 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik und Ideologie: Der Marxismus

Kritik und Ideologie: Der Marxismus Die Schwierigkeit der Unterscheidung von Kritik und Ideologie liegt darin, dass sich viele Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts selbst kritisch gebärden und dabei eben selbst Kritik der Ideologie und eigene Ideologie vermengen. Die Kritik nimmt dann oft – trotz der kritischen Attitüde – selbst totalitär ideologische und dogmatische Züge an bzw. dient selbst nur der scheinkritischen Begründung einer solchen Weltanschauung. Der Ideologiekritiker Karl Dietrich Bracher hat das so formuliert: »Die tiefe Ambivalenz, ja der große Widerspruch des politischen Denkens im 20. Jahrhundert liegt nun in der Tatsache, daß es schärfer und betonter denn je zuvor auch die Ideologiekritik entfaltet: das schonungslose ›Hinterfragen‹ aller politischen Ideen, um sie jeweils als Ideologien zu enthüllen und abzuwerten. Zugleich überleben solche Ideologien, oft gerade auch von den Kritikern der jeweils anderen Ideologie, bewußter und nachdrücklicher denn je zuvor eingesetzt und genutzt, ja zur einzigen Wahrheit erhoben. So hat unser Jahrhundert zugleich die schärfste Kritik und die höchste Glorifizierung von Ideologien hervorgebracht.« (Bracher: Zeit der Ideologien, 15) Am deutlichsten ist das an einer Ideologie schon des 19. Jahrhunderts, am sog. »historischen Materialismus«Kommunismus nachzuweisen, der sich selbst als »wissenschaftliche Methode« verstand, dabei aber selbst dogmatisch agierte, theoretisch wie politisch-praktisch. Das haben wir bereits im vorigen Kapitel angedeutet. Der klassische Text einer Vermengung von Kritik und Ideologie ist der Text von Karl Marx »Die Deutsche Ideologie« von 1845–46. Die Ideologie, gegen welche sich Marx kritisch wendet, ist die der Philosophie Hegels wie auch der Hegel-Nachfolger. Der Hauptvorwurf von Marx besteht darin, dass Hegel zwar das Wesen der Arbeit erkannt habe, indem er sie in seiner »Phänomenologie des Geistes« als eine Form der Selbstentäußerung des Menschen darstelle, dies aber irrig nur als eine Form der geistigen Arbeit. Schon in »Nationalökonomie und Philosophie« schreibt Marx: »Das Große an der Hegelschen Phänomenologie […] ist, […] daß er (Hegel) also das Wesen der Arbeit faßt« (Marx: Frühschriften 269), aber nach Marxens Auffassung eben falsch: »Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakte geistige.« (Ebd., 270) Was nun dagegen Marx setzt, ist die Umkehrung der Hegel’schen Geist-Philosophie: das, was er »die wirkliche Arbeit«, das 85 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik, Kritikfähigkeit

»wirkliche Leben«, den »Materialismus« nennt. Nach Marx gilt – und das ist eine berühmte Formulierung aus der »Deutschen Ideologie«: »Nicht das Bewußtsein bestimmt das Sein, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.« (Ebd., 349) Das Leben aber meint: die materiellen Lebensbedingungen. Dabei kommt nun auch ein zu Hegel gegenläufiger Begriff von Arbeit und Produktivität ins Spiel. Die ist keine Domäne der Philosophie, sondern des »Arbeiters«, des »Proletariats« als der nach Marx eigentlich produktiven Klasse. Sie produziert nach Marx die Werte, deren Gewinne allein der besitzende Bourgeois abschöpft. Erst wenn diese Entfremdung der Arbeit durch die allein revolutionäre Klasse des Proletariats aufgehoben sei, mithin die wahren Arbeiter auch Besitzer der Produktionsmittel würden, sei die kommunistische Gesellschaft hergestellt, in der eben allen alles gehört und damit auch alle Entfremdung durch Privateigentum aufgehoben sei. Wie es im »Kommunistischen Manifest« heißt: »Was den Kommunismus auszeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums.« (Ebd., 540) Dadurch aber würde die Entfremdung aufgehoben. »In der kommunistischen Gesellschaft ist die aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozeß zu erweitern, zu bereichern, zu befördern.« (Ebd., 541) Also eine weitgehende Emanzipation des Menschen, ein Zustand wie im Paradies. An diesem Gedankenkonstrukt des Kommunismus kann man mindestens vier kritische Problempunkte ausmachen. Erstens: Die Vorstellung, dass die eigentliche Arbeit gar keine geistige, sondern eine rein materielle Arbeit sei, ist aus der Gegenposition zu Hegel zu verstehen, aber in ihrer dogmatischen Antithese selbst einseitig. Die moderne industrielle Arbeit wird ja nicht durch die Hände von Arbeitern, sondern durch eine hohe Form von Rationalität gesteuert und je rationeller organisiert, desto produktiver. Auch die sogenannten »materiellen Bedingungen«, die »Basis« für jede marxistische Analyse, sind selbst Produkte der rationalen Organisation von Arbeit, mithin Materialisierungen einer Denkform, der Rationalität auf ihren verschiedenen Entwicklungsstufen. Zweitens: Damit ist auch gesagt, dass man als die eigentlich produktive Klasse der modernen Industriegesellschaft gar nicht das Proletariat ansehen kann – diese Form der Arbeiterklasse ist ja auch in Mitteleuropa weitgehend verschwunden oder wegrationalisiert. Es ist eher die bürgerliche Schicht von Naturwissenschaftlern, Technikern, 86 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik und Ideologie: Der Marxismus

Ingenieuren, Unternehmern, Kapitalgebern, die solche Industrien aufbauen und modernisieren. Die Produktivität der bürgerlichen Klasse hängt auch nicht primär an deren Privateigentum, das kann höchst unproduktiv vor sich hindämmern, sondern am Bewusstseinsgrad rationellen Wissens und rationalen Planens. Heute sind es vielfach junge start-up-Unternehmen, die mit wenig Kapital gewaltige Erfolge erzielen, dann nämlich, wenn sie die Entwicklung der Rationalitätskultur selbst produktiv nutzen. Drittens: Wenn dem so ist, können auch die Entfremdungserscheinungen der Industriegesellschaft, auf die Marx ja zu Recht hinweist, nicht so ›aufgehoben‹ werden, wie er sich das durch die Revolutionierung des Proletariats vorstellte. Die Arbeitsteilung entsteht durch die Rationalisierung der Arbeit. Diese bleibt auch erhalten, wenn die Arbeiterklasse zum Eigentümer der Produktionsmittel wird. De facto kam der Kommunismus-Sozialismus durch Revolutionen an die Macht, hat aber mitnichten solche Entfremdungsformen der Arbeit aufgehoben, sondern nur verschärft, indem in den kommunistischen Ländern sich vielfach Parteifunktionäre die Herrschaft aneigneten und dabei häufig ökonomisch inkompetent agierten. Die Arbeiterklasse wurde in solchen Systemen eher noch stärker ausgebeutet als vormals, ihre Produktivität sank, satt zu steigen, ihr Freiheitsspielraum wurde verengt, statt zu expandieren. Der Zusammenbruch vieler kommunistischer Systeme im Jahre 1989 war die Folge davon. Auf den Sonderfall des chinesischen Kommunismus kommen wir im nächsten Kapitel zurück. Viertens: Die gesamte Geschichtsdeutung von Marx steht, wie schon in Kap. 1.2 vorgetragen, auf dem kritischen Prüfstand. Der erste Satz seines »Kommunistischen Manifests« lautet: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen« (ebd., 525). In der europäischen Geschichte gab es solche Klassenkämpfe – der Spartakusaufstand der Sklaven in Rom, der Bauernaufstand in der frühen Neuzeit, die Französische Revolution hatten solche Züge –, ansonsten wurde aber die Weltgeschichte durch ganz andere Faktoren geprägt: die abendländische Rationalität und Technik mit ihrer militärischen Überlegenheit in der Kolonialgeschichte Europas und damit von Rationalitätssiegern über unterworfene Völker. In der Antike eroberten und beherrschten so die Römer fast tausend Jahre lang ihr ständig expandierendes Imperium mit Hilfe rationaler Strategien und Waffentechnik, in der Neuzeit die vergleichsweise kleinen Kolonialvölker Europas die Völker der Welt mit ihrer Über87 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik, Kritikfähigkeit

legenheit der Feuerwaffen. Klassenkämpfe spielten in dieser Geschichte nur eine untergeordnete Rolle (siehe die Kap. 1.9 und 1.10). Natürlich hat Marx seine Ideen im Laufe seines Lebens weiter präzisiert. Seine Analysen im »Kapital« zu Entfremdungsformen der Moderne, zu Gebrauchs- und Tauschwert, Warenproduktion und Konsum sowie zur Produktion von Mehrwert im Kapitalismus sind nach wie vor lesenswert. Dennoch bleibt der Hauptvorwurf: Marx klammerte sich an einen ›materiellen‹ Begriff von Arbeit, der es ihm nicht erlaubte, die moderne rational organisierte Arbeit und die ihr entsprechende Form der intelligenten Arbeitsorganisation adäquat zu erkennen. Daher bleibt auch seine Idee einer kommunistischen Gesellschaft ideologisch, eine Form des falschen Bewusstseins, wie er selbst Ideologie definiert. Der junge Marx erfindet in der »Deutschen Ideologie« ein Idealbild der kommunistischen Gesellschaft, welches viele Intellektuelle in Europa immer wieder in ihren Bann gezogen hat: »Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten, ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, auch das Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden, wie ich gerade Lust habe.« (Marx: Die deutsche Ideologie, 361) Gerade für den »kritischen Kritiker« war in der real existierenden kommunistischen Gesellschaft kein Platz. Man muss sich angesichts des Zitates auch fragen: Woher sollte denn in der kommunistischen Gesellschaft auf einmal die Intention herkommen, allen alles zu ermöglichen. Marxens Bild einer kommunistischen Gesellschaft ist alles andere als wirklichkeitsnah, es ist in seinen hedonistischen Zügen sympathisch, aber unkritisch in Bezug auf die realen Perspektiven einer kommunistischen Gesellschaft.

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Radikale Kulturkritik: Heidegger und die »kritische Theorie« Adornos

Radikale Kulturkritik: Heidegger und die »kritische Theorie« Adornos. Kritik als Protest-Kult Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt sich in Deutschland eine radikale Form von Kulturkritik. Warum gerade in Deutschland? Weil dieses Land zu dieser Zeit eine Phase der akzelerierten Industrialisierung und Technisierung durchläuft. Bereits Nietzsche kritisiert diese Form der Modernisierung radikal. Nietzsche nennt das darin waltende Verhältnis des Menschen zur Natur, zu Gott wie zum Menschen Hybris, d. h. Anmaßung, Überheblichkeit: Nach Nietzsche »nimmt sich unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus. […] Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit; Hybris ist unsere Stellung zu Gott, will sagen zu irgend einer angeblichen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne […] Hybris ist unsere Stellung zu uns, denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf […]« (Nietzsche: Genealogie der Moral, 5, 357). Als Nietzsche dies schrieb, ahnte er noch nicht, zu welchen Tier-Experimenten der Mensch noch fähig sein würde. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schrieb dann Oswald Spengler seinen »Untergang des Abendlandes«, schrieb Martin Heidegger seine Radikalkritik der abendländischen Metaphysik und schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ihre Radikalkritik der europäischen Aufklärung. Die kritische Tonlage bei den letztgenannten Autoren radikalisiert sich noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg. Insbesondere die ›feindlichen Brüder‹ Heidegger und Adorno lagen dabei in ihrer Kritik gar nicht so weit auseinander. Heidegger kritisiert die ganze abendländische Seinsgeschichte als einen Irrweg, als eine Form der »Seinsverlassenheit«. Irrsinnigerweise hatte Heidegger selbst versucht, die Seinsgeschichte von der Antike an noch einmal neu zu gestalten und hatte sich dafür ausgerechnet Adolf Hitler und die Nazis als politische Hilfstruppen ausgesucht. Den Führer wollte er wohl selbst als dessen philosophischer Führer zu neuen Wahrheiten führen. Als er seinen eigenen Wahnsinn erkannte, kehrte Heidegger sich ab von der Politik und suchte in der Dichtung die Alternative zur modernen Zivilisation. Er kritisiert dann auch die 89 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik, Kritikfähigkeit

Entwicklung des Nationalsozialismus zu einem reinen Herrschaftsdenken, »Machenschaft«, wie er das nennt (Vietta: ›Etwas rast um den Erdball‹. Martin Heidegger, 89 ff). Nach dem Krieg sieht Heidegger die nun globalisierte abendländische Kultur auf einen Vernutzungs-Kollaps zulaufen: »Die ›Weltkriege‹ und ihre ›Totalität‹ sind bereits Folgen der Seinsverlassenheit. Sie drängen auf die Bestandsicherung einer ständigen Form der Vernutzung.« (Heidegger: Vorträge und Aufsätze, 92) In solcher »Kreisbewegung der Vernutzung um des Verbrauchs willen« – Totalkonsum – wird die Erde geplündert und »verwüstet«. »Die Erde erscheint als die Unwelt der Irrnis.« (Ebd., 97) Dabei spielt nach Heidegger die Reduktion der Vernunft auf das »rechnende Denken« eine zentrale Rolle, wie es in den »Schwarzen Heften« im Verbund auch mit einer Kritik an den Juden als deren Eliten heißt (GA 96, 46), dies aber in deutlicher Abhebung vom biopolitischen Rassismus der Nazis (Vietta: a. a. O., 171 ff). Die »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adornos kritisiert ihrerseits die neuzeitliche Aufklärung als absolutes Herrschaftsdenken, gesteuert und realisiert durch ein verabsolutiertes Berechnungs- und Nutzungsdenken: »Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig.« (Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, 16) »Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben.« (ebd., 19 f) Heidegger nannte das die »Seinsverlassenheit« der »Machenschaft«. Wie Heidegger erkennen die Autoren der Frankfurter Schule in der abendländischen Kultur einen Prozess der Selbstzerstörung: »die Selbstzerstörung der Aufklärung« (ebd., 7). Und auch bei Horkheimer und Adorno findet sich die Kritik an der totalisierten Konsumgesellschaft und der »Kulturindustrie als Massenbetrug« (ebd., 144 ff). Adorno sucht, wie Heidegger, in der Kunst eine Alternative und andere Form von Rationalität gegenüber der technisch-industriellen Gesellschaft und ihrem Nutzungsprinzip. In seiner »Rede über Lyrik und Gesellschaft« von 1957 preist er die ästhetische Form als jenes »Gebilde«, das sich »keinem Heteronomen beugt und sich gänzlich nach dem je eigenen Gesetz konstituiert.« Damit aber werde sein »Abstand vom bloßen Dasein […] zum Maß von dessen Falschem und Schlechtem.« (Adorno: Noten zur Literatur I, 78) Diese antithetische Funktion von Kunst ist die Grundlage auch seiner »Ästhetischen Theorie«. 90 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Radikale Kulturkritik: Heidegger und die »kritische Theorie« Adornos

Man kann sagen: Die radikale Kulturkritik des 20. Jahrhunderts greift auf die Kunst zurück als ein Residuum, in welchem noch eine andere, alternative Form von Rationalität und Wahrheit ruhe. Darauf hatte bereits Schiller mit seinen »Ästhetischen Briefen« hingewiesen, in denen er den »schönen Schein der Kunst« gegen den »Nutzen […] dass große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen« ins Felde führte (Schiller: Ästhetische Briefe. Zweiter Brief, 447). Die Unterschiede zwischen den zitierten Autoren Heidegger und Adorno sind allerdings beträchtlich. Heidegger kam von einer konservativen Position zu seiner Kulturkritik, Adorno von einer marxistischen Basis aus. Ihre kritischen Grundpositionen sind dennoch vergleichbar: Radikalkritik der abendländischen Zivilisation als einem bedrohlich ›selbstzerstörerischen‹ Prozess verbunden mit einer Kritik an der Verabsolutierung der »Zahl« (Horkheimer/Adorno) bzw. des »rechnenden Denkens« (Heidegger). Beide Denker suchen nach alternativen Erfahrungs- und Denkformen in der Literatur und Kunst. Für beide ist dabei die Lyrik von besonderer Bedeutung. Adorno war darüber hinaus auch ein großer Musikkenner, Heidegger nicht. Für das ausgehende 20. Jahrhundert hat der französische Intellektuelle Michel Foucault den Begriff der Kritik zugespitzt. In einem Text aus dem Jahre 1978, dessen Abdruck er allerdings nicht autorisiert hat, definiert Foucault seinen Begriff von Kritik. Der nachträgliche Titel des Vortrages lautet: »Was ist Kritik?« Foucault kommt rasch auf sein Hauptthema zu sprechen: die Zunahme der »Regierungskunst« in der frühen Neuzeit. Foucaults eigene Philosophie ist weitgehend: »Kritik des Regierens«, wie ein anderer Sammelband seiner Schriften zur Politik lautet. These ist, dass es im 15. und 16. Jahrhundert in Europa eine »Vervielfältigung aller Regierungseinrichtungen« gab (Foucault: Was ist Kritik, 11). Und an die Weiterentwicklung dieser Formen der Gouvernementalität, die er auch vielfältig untersucht hat, schließt Foucault den Begriff der »Kritik« an: »Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden […]« (ebd., 12). Kritik wird so der Königsweg der Flucht aus der Übermacht der »Mächte«, der »Herrschaft«, des »Regiertwerdens« von allen Seiten. Und wer wollte ihm da nicht applaudieren. Aber wohin soll das führen? Foucault definiert »Kritik« als eine Art Generalstreik gegen die Autorität: »›Nicht regiert werden wollen‹ heißt schließlich auch: 91 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik, Kritikfähigkeit

nicht als wahr annehmen, was eine Autorität als wahr ansagt« (ebd., 14). Das passte gut ins ›antiautoritäre‹ Bewusstsein der späten 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Verweigerung als das wahre Erbe der Aufklärung Kants. »Die Bewegung, welche die kritische Haltung in die Frage der Kritik hat umkippen lassen, die Bewegung, welche das Unternehmen der Aufklärung in das Projekt der Kritik hat übergehen lassen, worin sich die Erkenntnis von sich eine richtige Idee machen wollte, diese Kippbewegungen, diese Verschiebung, diese Verschikkung der Frage der Aufklärung in die Kritik … müsste man nicht versuchen, jetzt den umgekehrten Weg einzuschlagen? […] so doch wohl vor allem aufgrund seines entschiedenen Willens nicht regiert zu werden, jenes entschiedenen Willens – einer individuellen und zugleich kollektiven Haltung, aus seiner Unmündigkeit herauszutreten, wie Kant sagte. Eine Haltungsfrage.« (Ebd., 41) Man sieht an diesem kleinen Vortragstext sehr gut, warum gerade linke Intellektuelle Foucault verehrten. Seine Totalkritik der Herrschaft führt geradewegs zu einer »Haltung« radikaler Abwehr jeglicher Herrschaftsform und Machtausübung zugunsten eben einer erhofften Überwindung der eigenen »Unmündigkeit« und Selbstfindung. Kants berühmte Schrift »Was ist Aufklärung?«, die Foucault hier mehrfach zitiert und die er auch mit seinem Begriff der Kritik als Protesthaltung zu beerben glaubt, hatte Aufklärung als Erziehung zur »Mündigkeit« lehren wollen als »Gebrauch seiner Vernunft«, zum »Selbstdenken« in der Öffentlichkeit, aber keineswegs als Verweigerung jeder Art von Gehorsam gegenüber den Staatsorganen. »Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter vor ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht.« (Kant: Was ist Aufklärung?, 57) Als Privatmann »ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonieren, sondern man muss gehorchen.« (Ebd.) Foucault überführt dieses Projekt des kritischen Denkens in eines der totalen Protest-Haltung gegen Herrschaft schlechthin, das Gegenteil der Position Kants. Ein Teilnehmer der Diskussion machte Foucault darauf aufmerksam, dass er dabei verschiedene Formulierungen gebraucht habe: »den entschiedenen Willen nicht regiert zu werden« und »nicht dermaßen regiert zu werden« (ebd., 51 f). Foucault entschied sich für die zweite Lesart: »nicht dermaßen, nicht von denen da, nicht um diesen Preis regiert zu werden« (ebd., 52), aber ohne weitere Spezifikation, welche Form von Gouvernement er denn akzeptieren könnte. Foucault hielt seinen Vortrag kurz vor dem Kollaps des Kom92 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Notwendigkeit von Kritik und Kritikfähigkeit

munismus. Die Frage, warum er seine globale Kritik der »Macht«, der »Herrschaft« und des »Regierens« im Westen öffentlich halten und drucken konnte, im totalitären Osten ihn aber seine Regime-Kritik ins Gefängnis gebracht hätte – wenn man einen solchen Kritiker überhaupt leben ließ –, hat er sich nie gestellt. Foucault hat, mit anderen Worten, nicht wirklich die kritische Frage nach legitimer Gewalt und Herrschaft im Unterschied von illegitimen Formen von Gewalt und Herrschaft gestellt. Damit hat er aber den Weg frei gemacht für eine Form eines Kultes der Kritik, nämlich als Protestkultur in der westlichen Welt, die eben jenen Kult-Begriff von Kritik übergehen ließ in Gewalt-Aktionen gegen den zivilen Staat und seine Repräsentanten, die Polizei und Politiker. Das allerdings kann man mit Fug und Recht kritisieren als eine Form des Missbrauchs von Kritik, die keinem produktiven Ziel mehr dient, sondern nur Zerstörungskräfte entbindet und entfesselt, wie dies bei den Hamburger Protesten der linksautonomen Szene im Juli 2017 auch explosiv zum Vorschein kam.

Notwendigkeit von Kritik und Kritikfähigkeit für den zivilen Staat der Demokratie Umso mehr sind ausgewogene Kritik und Kritikfähigkeit wesentliche Werte und Voraussetzungen des zivilen Staates der Demokratie. Sie sind auch notwendige Voraussetzungen zur Selbst-Bildung einer guten Individualität (siehe Kap. 1.6). Eine (selbst-)kritische Einstellung ist nötig, um die richtige Schule für sich auszuwählen – meistens noch eine Entscheidung von Eltern und Lehrern –, die richtige Berufsausbildung, später den richtigen Beruf und vor allem auch den richtigen Partner fürs Leben zu finden. Ein gutes Zusammenleben zwischen Menschen setzt Kritikfähigkeit voraus, den richtigen Blick für die Stärken und Schwächen des Partners – wie auch die eigenen Schwächen und Stärken. Kritikfähigkeit beinhaltet auch die Fähigkeit, berechtigte Kritik auszuhalten, im Allgemeinen eine Leistung einer stabilen Persönlichkeit. Kritik und Kritikfähigkeit setzen die Bildung zu einer eigenen Urteilsfähigkeit voraus, mithin eben jenes eigenständige Denken, das wir eingangs als einen Hauptwert des abendländischen Wertesystems vorstellt haben. Darüber hinaus setzen funktionierende Demokratien ein hohes Maß auch an politischer Urteilsfähigkeit seiner Eliten wie Bürger 93 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik, Kritikfähigkeit

voraus. Ohne diese kann eine vernünftige demokratische Steuerung des Staates nicht gelingen. Wenn die Kritikfähigkeit der Bürger eines Staates nicht weit genug ausgebildet ist, oder gar fehlgeleitet, tendieren sie dazu, ›Schlangenfänger‹ zu wählen: Diktatoren, Populisten, oftmals egomane Politiker, die es aber mit Spürsinn verstehen, die Nöte und Ängste der Bürger einzufangen, zu artikulieren und in eigene Wahlversprechen umzumünzen. Kritik und Kritikfähigkeit braucht der Bürger auch in Bezug auf die Neuen Medien: Zum einen den (selbst-)kritischen Umgang mit den Medien im Sinne einer vernünftigen Dosierung des eigenen Mediengebrauchs. Insbesondere verlangt das Internet mit seiner Masse an diffusen Informationen nach einem kritischen Geist der Beurteilung. Bereits die aggressive und emotionale Form von vielen Botschaften verrät sie selbst als das, was sie sind: Hassbotschaften. Auch der Umgang mit den Massenmedien verlangt kritisches Denken. Dessen Kriterium ist oftmals das Aufspüren von Widersprüchen. Einige Sendungen haben daher auch eine Art »Faktencheck« eingeführt, der die Äußerungen von Politikern und anderen Persönlichkeiten an jenen zu überprüfen erlaubt. Man würde sich manchmal wünschen, dass die Medien einen solchen Faktencheck auch in Bezug auf ihre eigene Berichterstattung einsetzen würden. Kritik und Kritikfähigkeit setzen eigenständiges Denken voraus. Als solche repräsentieren sie Hochwerte der abendländischen Kultur im Sinne einer permanenten Dynamik des Weiterdenkens und der Fortentwicklung geistiger Positionen. Kritisches Denken ist das Gegenteil von Dogmatismus und ideologischer Erstarrung. Es ist vielmehr der Garant einer offenen Gesellschaft. Eine kritische und kritikfähige Gesellschaft ist immer auch eine lebendige Gesellschaft. Kritisches Denken ist auch das Merkmal einer klugen und rationalen Regierungspolitik. Es antizipiert rechtzeitig Gefahren, erkennt Chancen und weiß diese zu nutzen. In Zeiten des epochalen Umbruchs von Gesellschaften ist kritisches Denken ihrer Regierungen eine wesentliche Voraussetzung für das weitere Gedeihen der von ihnen regierten Gesellschaften.

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1.4 Demokratie und Toleranz

Zusammenfassung (1) Im Athen der griechischen Antike wurde die Demokratie erfunden: Der Stadtstaat vertrieb seine Tyrannen und errichtete ein politisches System der Gleichheit und Selbstregierung seiner wehrfähigen männlichen Bürger, das diese auch gegen die Angriffe der persischen Großmacht in den Schlachten von Marathon 490 v. Chr. und Salamis 480 v. Chr. verteidigten. (2) Perikles lobt die Demokratie in seiner Totenrede von 431 v. Chr. in zehn Punkten. Die wichtigsten: Demokratie beruht auf der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, sie schenkt diesen Freiheit, fördert die einzelne Persönlichkeit, fordert aber auch Engagement der Bürger für die Staatsform, Respekt vor dem Gesetz sowie Wehrhaftigkeit. (3) Perikles fordert auch Toleranz gegenüber dem Anderen in einer Demokratie, verfügt aber selbst noch nicht über den Begriff der Toleranz. Dieser ist ein Produkt der Zweiten neuzeitlichen Aufklärung und auch bei John Locke und anderen Aufklärern ein Gegenbegriff zur religiösen Intoleranz in den Religionskriegen. (4) Nach Jahrhunderten der Latenz wird die neuzeitliche Demokratie als politische Repräsentation in großflächigen Staaten in einer Reihe von Aufklärungstheorien zur Bildung einer Staats-Verfassung vorbereitet. Hobbes geht davon aus, dass die Bürger ihre Macht an den Staat delegieren, damit sich die Menschen in ihrer ›wölfischen‹ Anlage durch die zivile Verfassung und das Machtmonopol des Staates vor sich selbst schützen. Rousseau glaubt, der »contrat social« würde eine ideale Staatsform mit messianischem Führertum schaffen, glaubte auch an eine Änderung der Natur des Menschen durch den idealen Staat, eine Staatsidee, die Robespierre und auch Marx fasziniert hat und in der politischen Realität eher zum Terror als zu idealen politischen Verhältnissen führte. (5) Eher empirisch soziologisch plädiert Montesquieu in seinem Buch »Geist der Gesetze« aufgrund seiner skeptischen Anthropologie für die Gewaltenteilung im Staat zwischen Legislative, Exekutive und Judika95 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie und Toleranz

tive. (6) Auf der Grundlage der Ideen der Aufklärung wird in den USA die moderne Demokratie erfunden und dient als Grundlage auch der Französischen Revolution von 1789. Die Freiheit für »alle Menschen«, die die amerikanische Verfassung bringen soll, schließt aber zunächst Sklaven und die indigenen Indianer aus. (7) In Europa, insbesondere in Deutschland, führt der industrielle Aufstieg politisch eher ins Abseits eines ersatzreligiösen Nationalismus und rassistischen Totalitarismus. Die demokratischen Anfänge der Weimarer Republik werden so auch durch den Nationalsozialismus zunichte gemacht. (8) Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird hierzulande die Demokratie aus den USA re-importiert. (9) Sieben Argumente für den Wert der Demokratie als friedliche, argumentative, tolerante Koexistenz von Bürgern in einem heterogenen Staat.

Athener Demokratie Zu den Hochwerten der europäischen Kulturgeschichte gehört die Erfindung der Demokratie. Sie wird heute in allen großen Reden auf die EU als eine Haupterrungenschaft der europäischen Kultur gepriesen im Verbund mit weiteren Begriffen wie Toleranz, Menschenrechte, Freiheit u. a. Dabei hatte die Demokratie in Europa lange Zeit einen schweren Stand. Der Wert der Demokratie war nämlich immer auch umstritten: Ist sie nicht auch eine Form der PöbelHerrschaft? Gibt sie nicht Macht in Hände, die damit nicht vernünftig und rational umgehen können? Und: leben wir eigentlich noch in einer gut funktionierenden Demokratie, wenn bei vielen Wahlen ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung gar nicht mehr von seinem Wahlrecht Gebrauch macht und viele Politiker überhaupt nicht mehr das unserer Zeit angemessene Problembewusstsein zu haben scheinen? Die Demokratie wurde im sechsten Jahrhundert v. Chr. aus der Taufe gehoben, erlebte im fünften Jahrhundert eine Blüte in Athen, um schon gegen Ende des Jahrhunderts sich dort aufzureiben und zu zerfallen. Die Demokratie steht in einem engen Verbund mit den anderen abendländischen Grundwerten: dem eigenständigen Denken, der Suche nach Wahrheit, der Kritik, der Behauptung von Freiheit, Individualität, der Rechtssicherheit, aber auch der Wehrfähigkeit einer Kultur. Sie ist somit eng verbunden mit der Geburt der Ratio-

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Athener Demokratie

nalität im antiken Griechenland als einer Neugründung aller Sektoren der Kultur. 4 Die Entstehung der griechischen Polis zu einer sich demokratisch selbst verwaltenden Bürger-Gemeinde ist ein soziologischer Prozess, in dessen Verlauf die alte Adelsgesellschaft zurückgedrängt wurde durch ein erstarktes Bürgertum, das sein neues Selbstbewusstsein auch aus den militärischen Aktionen zog. Zwar gab es bei den archaischen Griechen schon Schlachtreihen, aber die mythischen Helden – Achilleus bei den Griechen, Hektor bei den Trojanern – waren Einzelkämpfer. Seit dem siebten Jahrhundert bildet sich die Kriegsform der Hopliten-Phalanx: Eine wie eine Walze agierende Krieger-Formation von schwer bewaffneten Männern (Kap. 1.8, 192). Die Rüstung für diese Hopliten war teuer, wer sie bezahlen konnte, musste selbst über Besitz verfügen und konnte aufgrund dieses Besitzes und seiner kriegerischen Kampfkraft auch politische Rechte fordern. Wahrscheinlich entwickelt sich in dieser neuen Hoplitenschicht jenes neue politische Selbstbewusstsein, das sich nicht mehr von adeligen Herrscherhäusern oder Tyrannen kommandieren lassen, sondern in Eigenverantwortung das politische Geschehen selbst in die Hand nehmen wollte. Im Jahr 514 v. Chr. verübten die Freunde Harmodios und Aristogeiton ein Attentat auf die Tyrannenbrüder Hippias und Hipparchos. Letzterer kam dabei ums Leben. Der Anschlag gilt als Geburtsstunde der Demokratie in Athen. Das herausragende Ereignis zu deren Festigung war dann die Schlacht bei Marathon 490 v. Chr., in der die griechische Phalanx die Perser besiegte. Diese wollten wohl den in Athen vertriebenen Tyrannen Hippias wieder einsetzen. Der Sieg der Athener Hopliten sicherte die Freiheit und Demokratie Athens. Athen bildete zu diesem Zeitpunkt eine topographische Einheit mit einem freien Platz, der Agora, und einer Rednerbühne, der Pnyx, wo die Athener ihre Volksversammlungen abhalten könnten. Denn Demokratie heißt ja: Herrschaft (kratia) des Volkes (demos). Der Platz wurde schon zur Zeit des Gesetzgebers Solon mit öffentlichen Bauten geschmückt. Solon verfügte 594 v. Chr. die Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern, schränkte die Adelsmacht ein durch eine Siehe dazu Vietta: Rationalität, 47 ff; zur Athener Demokratie u. a.: Bleicken: Die Athenische Demokratie, Meier: Kultur um der Freiheit willen, Schlange-Schöningen: Antike Demokratie, Nolte: Was ist Demokratie?

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Demokratie und Toleranz

Einteilung des Bürgerstandes in vier Besitzklassen. Er erließ auch ein neues Gesetz, das jedem Bürger das Recht zur Anklage und Verteidigung vor Gericht gab. Nach Solon war es Kleisthenes, der in den Jahren 509–507 v. Chr. aus der Timokratie Athens eine Demokratie machte. Der Begriff dafür lautete ursprünglich gar nicht Demokratie, sondern Isonomie (ison gleich, gemein verteilen). Der Begriff betont somit die Gleichheit des Rechts aller Vollbürger. Kleisthenes erfand auch die neue Form der Aufgliederung der Stadt in Phylen: Zehn Stadtbezirke, die je 50 Vertreter in den Stadtrat entsandten, den Rat der 500 als Leitungsbehörde der Stadt Athen. Das wichtigste Entscheidungsorgan der Stadt war die Volksversammlung (ekklesia), in der die Athenischen Vollbürger – d. h. die wehrfähigen Männer über 30, keine Frauen und keine Sklaven – über die entscheidenden Fragen der Stadt abstimmen sowie Entscheidung über Krieg und Frieden, über die Verbannung korrupter Politiker aus der Stadt u. a. treffen konnten (siehe Kap. 1.8, 188). Die Athener Demokratie war somit geprägt durch das Prinzip der Agora, der Öffentlichkeit. Die Bürgervertretung und ihre Beamten rotierten ständig, um nur keine neuadeligen Machtkartelle aufkommen zu lassen. Als die Stadt schon mit dieser Regierungsform ausgestattet war, schlugen die Athener 490 v. Chr. die Perser zu Lande und 480 erneut bei Salamis auch zu Wasser. In der Nachfolge dieser Ereignisse entwickelte sich in der Stadt Athen ein starkes Selbstbewusstsein der Bürger im Verbund mit dieser neuen Regierungsform gegenüber der Königsherrschaft der Perser und ihren unfreien Ergebenheitsritualen. Pro und contra Demokratie: Gleich die erste Erwähnung des Wortes »Demokratie« setzt diese in einen ausgesprochen kritischen Zusammenhang. Es war der griechische Historiograph Herodot, der in der so genannten »Verfassungsdebatte« in seinen »Historien« die Vor-und Nachteile der Demokratie aufzählen und diskutieren lässt. Herodot verlegt die Debatte an den Persischen Hof, zweifellos eine politische Verfremdung einer eigentlich griechischen Debatte. Es ist dort der Perser Megabyzos, der seine Kritik an der Volksherrschaft so verlauten lässt: »Es gibt nichts Unvernünftigeres und Hochmütigeres als die blinde Masse. Es ist aber unerträglich, dem Übermut eines Alleinherrschers zu entfliehen und in die Selbstüberhebung einer zügellosen Masse hineinzugeraten. Jener weiß doch wenigstens, was er tut; die breite Masse aber handelt ohne Einsicht. Woher auch sollte dem Volke Vernunft kommen? Es hat das Gute weder gesehen noch 98 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Preisrede des Perikles auf die Demokratie

von sich aus; vielmehr stürzt es sich ohne Verstand einem Bergstrom gleich auf die Staatslenkung und treibt sie voran.« (Herodot: Historien, Buch III, Kap. 81) Gegen diesen Kritiker der Demokratie hatte in Herodots Debatte ein Mann mit Namen Otanes für die Demokratie gesprochen. Er tut dies vor allem als Kritik an der Machtüberheblichkeit des Einzelherrschers: »Auch wenn man den Allerbesten zu dieser Stellung erhebt, würde er seiner früheren Gesinnung untreu werden. Selbstüberhebung befällt ihn aus der Fülle von Macht und Reichtum […] Er rührt an den altüberlieferten Ordnungen, er vergewaltigt Frauen und tötet ohne Richterspruch.« (Ebd., Kap. 80) Er rät: »Wir schaffen die Alleinherrschaft ab und geben der Menge die Macht; denn auf der Masse des Volkes ruht der ganze Staat!« Aber es ist klar, dass er mit dieser Option für die Demokratie am persischen Hof nicht durchdringt. Dort entscheidet man sich für die Königsherrschaft, und hat sich dafür ja längst entschieden. Zur Zeit des Höhepunktes der griechischen Demokratie unter Perikles – die Jahres 443–429 v. Chr. – wurde die Agora als das öffentliche Zentrum der Stadt prächtig ausgebaut. Perikles nun formuliert auch die wichtigste Preisrede auf die Demokratie. Dies tut er während einer Leichenrede auf die Kriegstoten im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges 431–430 v. Chr., der ja ein griechischer Bruderkrieg gegen den Hauptkonkurrenten Sparta war und 405 v. Chr. mit der Niederlage Athens endete. Dem großen Staatsmann und Strategen Perikles steht, was er damals nicht ahnen konnte, zum Zeitpunkt der Rede sein eigener Tod nahe bevor (429 v. Chr.). Seine Rede aber ist ein Preisgesang auf die Demokratie als Ehrengedächtnis jener Toten, die für sie gefallen sind. Dabei muss uns hier nicht kümmern, wie stark der Geschichtsschreiber Thukydides, dem wir die Beschreibung des Peloponnesischen Krieges verdanken, diese Rede stilisiert haben mag. In jedem Falle ist sie ein Dokument des Selbstbewusstseins der Athener Demokratie in ihrer Blütezeit.

Preisrede des Perikles auf die Demokratie Perikles preist die Demokratie als eine Staatsverfassung, welche die Athener nicht von anderen kopiert hätten, »sondern wir sind eher das Vorbild für andere als deren Nachahmer« (Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, Buch 2, Kap. 37). Perikles definiert sodann den Begriff 99 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie und Toleranz

»Demokratie«: Sie heißt so, »weil sie nicht auf einer Minderzahl, sondern auf der Mehrzahl der Bürger beruht« (ebd.). Perikles hebt zehn wichtige Leistungen der Athener Demokratie hervor: Erstens: Die Bürger sind bei Rechtsstreitigkeiten vor dem Gesetz »gleich«. Und: Der Bürger wird in der Demokratie nicht nach seiner »Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksklasse, sondern nach seiner persönlichen Leistung« (»ap’ aretes«) geschätzt und beurteilt (ebd.). Zweitens: Die Demokratie schenkt ihren Bürgern Freiheit, der Bürger ist in ihr frei (»eleutherōs«), öffentlich wie im Privaten. Das verlangt auch Toleranz des Bürgers gegenüber seinem Mitbürger: »Wir verargen es niemanden, wenn er tut, was ihm gefällt, und setzen auch nicht jene kränkende Miene auf, die ihm zwar nichts zuleide tut, aber doch höchst widerwärtig ist.« (Ebd.) Drittens: Demokratie ist keine Anarchie, sondern beruht auf dem Respekt vor dem Gesetz, »Ehrfurcht vor dem Gesetz«, nennt das Perikles. »Wir gehorchen den jeweiligen Behörden und den Gesetzen, und zwar am treuesten denjenigen, die zum Schutze der ungerecht Behandelten gegeben sind, und jenen ungeschriebenen Gesetzen, deren Übertretung die Verachtung aller nach sich zieht.« (Ebd., Kap. 37) Hiermit scheint auch ein Moralkodex des guten Verhaltens angesprochen zu sein, der das Verhalten der Bürger in gute Normen lenkt. Darauf kommen wir zurück (127). Viertens: Die Demokratie Athens ist eine offene Institution gegenüber allen Besuchern der Stadt: »Denn unsere Stadt ist für jedermann offen, und es gibt keine Fremdenausweisungen« (ebd., Kap. 38). Für Perikles ist wichtig: Auch im Kriege bleibt diese Offenheit der Stadt für Gäste erhalten, bei dem Gegner in Sparta war das nicht so. Fünftens: Die Demokratie beruht auch auf dem Mut und der Tapferkeit ihrer freiheitlich lebenden männlichen Bürger. Perikles sieht sogar einen Vorteil darin, »lieber mit angeborenem, als mit gesetzlich befohlenem Mannesmut in den Krieg [zu] ziehn« (Kap. 39). Er betont: »Wir dagegen leben ungebunden und gehen trotzdem mit gleicher Tapferkeit einem ebenbürtigen Feinde entgegen« (Kap. 38). Sechstens: Demokratie ist eine Institution des Gebens, aber auch Forderns. Die Bürger Athens leben gut und angenehm in ihrer Demokratie, aber das verlangt auch deren Engagement für den Staat: »Wir sind die einzigen, die einen Bürger, der keinen Sinn für den Staat hat, nicht für ein ruhiges, sondern unnützes Mitglied des selben halten.« (Kap. 40) 100 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Preisrede des Perikles auf die Demokratie

Siebtens: Das Volk trifft die Entscheidungen, und diese sollten durch sorgfältige Beratungen und Informationen vorbereitet werden: »Unser Volk selber trifft die Entscheidungen oder sucht das rechte Urteil über die Dinge zu gewinnen, und wir sind der Meinung, daß Worte die Taten nicht beeinträchtigen, daß es vielmehr ein Fehler ist, wenn man sich nicht durch Worte belehren und unterrichten lässt, bevor man, wenn nötig, zur Tat schreitet.« (Kap. 40) Es ist klar, dass hier die Werte des eigenständigen Denkens, der Suche nach Wahrheit und Richtigkeit der Informationen sowie der Kritikfähigkeit der Bürger im Umgang mit den Entscheidungsprozessen in einer Demokratie eine herausragende Rolle spielen. »Die Wahrheit der Tatsachen« erwähnt Perikles explizit (Kap. 41). Demokratie ist eben nicht ein Wert im luftleeren Raum, sondern sie ist ein Leitwert im Kontext der genannten anderen Werte. Achtens: Athen ist laut Perikles eine »Bildungs- und Erziehungsstätte für Hellas« (Kap. 41). Das schließt auch die Bildung seiner Bürger zur »unabhängigen Persönlichkeit« (»to soma autarkes« ebd.) ein. Dafür erforderlich ist eine Koppelung der politischen Form der Demokratie mit dem Bildungsstand und der eigenen Denkfähigkeit ihrer Bürger. Zumindest in ihrer Idealform setzt die Demokratie eine hohe Bildungskultur (siehe Kap. 1.7) voraus. Neuntens: Die Athener Demokratie ist auch eine expansive Macht. Sie hat, wie Perikles betont, »den Zugang zu allen Meeren und Ländern erzwungen« (Kap. 41). Man kann Perikles ergänzen: Die Athener Demokratie ist selbst zu einer Hegemonialmacht im Ostmittelmeerraum aufgestiegen. Sie hat mit ihrer überlegenen Flotte die anderen Mitglieder des attischen Seebundes unter ihre Oberhoheit gebracht, hat Kolonien erobert und gegründet und ist selbst so zu einer Imperialmacht aufgestiegen. Das sollte ihr allerdings im Verlauf des Peloponnesischen Krieges zum Verhängnis werden. Zehntens: Zum Abschluss seiner Rede beschwört Perikles noch einmal den militärischen Sinn seiner Landsleute angesichts der Toten, deren Anverwandte er mit den Worten tröstet: »Diese Männer seien euer Vorbild! Begreifet, daß das Glück Freiheit, die Freiheit Mannhaftigkeit ist, und scheut euch nicht vor den Gefahren des Krieges!« (Kap. 43) Zur rechten Einschätzung dieser Worte muss man sich natürlich vergegenwärtigen, dass in Kriegszeiten die Freiheit der Polis in der Tat von der Wehrfähigkeit ihrer Männer abhing (dazu auch Kap. 1.9).

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Soweit die Rede des Perikles und ihr Preis auf die Athener Demokratie. Natürlich ist es Perikles auch bewusst gewesen, dass er hier ein Ideal beschwor, um seine Landsleute auf dieses einzuschwören. Die Klugheit und die Kampfbereitschaft, die Perikles zur Verteidigung der Freiheit aufruft, hat die Demokratie Athens im Verlaufe des Peloponnesischen Krieges aber gerade nicht bewiesen. Dafür waren auch Fehler in der Athener Verfassung verantwortlich. Die Strategen in der offenen Feldschlacht konnten zu Hause angeklagt und verurteilt werden. Genau diesen Fehler hat später die römische Republik vermieden. Hier konnten die militärischen Führer erst nach ihren Schlachten zur Rechenschaft gezogen und eventuell angeklagt werden, aber nicht während des Krieges. Athen dagegen hat sich selbst schwer geschadet, indem es seinen militärischen Führer Alkibiades durch solche Anklage in die Arme des Feindes Sparta trieb und auch den anderen großen Strategen Nikias durch Sykophanten und Intriganten in seinem Kriegseinsatz schwächte. Am Ende seines Lebens musste sich Perikles selbst in einer Reihe von Prozessen seiner Haut wehren und Angriffe auf seine Lebensgefährtin Aspasia abwehren. Der Kleinkrieg in Athen gegen ihn und seine Freunde haben ihn am Ende selbst zermürbt, er starb 429 v. Chr. an der Pest. Damit ist aber auch die Problematik des Wertesystems Demokratie angesprochen. Jene hohe Bildung des Bürgers, jene moralische Integrität seiner Persönlichkeit, die Perikles in seiner Rede beschwor und im 20. Jahrhundert auch der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde generell für eine Voraussetzung der Demokratie hielt (Kap. 1.4, 127 f), brachten nur wenige Athener Bürger mit. Der große Geschichtsforscher Jakob Burckhardt kritisiert die Athener Demokratie als eine eher diffuse, von Intriganten und Sykophanten durchsetzte und auch vergiftete Gesellschaft. Burckhardt nannte diese Sykophanten, die auch einige Ähnlichkeit mit dem Intrigenwesen der Staatssicherheit (Stasi) in der alten DDR aufwiesen, eine »soziale Pest« und einen »öffentlichen Terrorismus« (Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, 241). Der Philosoph Anaxagoras, ein Freund des Perikles, wurde, wie bereits erwähnt, mit dem Vorwurf der Gottlosigkeit (»Asebie«) aus Athen vertrieben, Sokrates mit diesem Vorwurf zum Tode verurteilt und vergiftet. Platon beschwor gegen die Verworrenheit der Athener Demokratie das Ideal eines PhilosophenStaates, Aristoteles, der die Demokratie ohnehin nicht hochschätzte, floh aus Athen vor den Sykophanten in das Königreich Makedonien und wurde dort zum Prinzenerzieher Alexander des Großen. König 102 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie und Toleranz

Philipp von Makedonien war der Erste, der die verfeindeten Griechen – allerdings unter seiner Herrschaft – einte.

Demokratie und Toleranz Perikles hat in seiner Rede die Form der Demokratie gelobt als eine Institution, die ihren Bürgern Freiheit schenkt. Das aber, so sagten wir oben, verlangt auch Toleranz des Bürgers gegenüber seinem Mitbürger: »Wir verargen es niemanden, wenn er tut, was ihm gefällt, und setzen auch nicht jene kränkende Miene auf, die ihm zwar nichts zuleide tut, aber doch höchst widerwärtig ist.« (Thukydides: Der Peloponnesische Krieg Buch 2, Kap. 37). Gefordert ist also eine Form der Toleranz, für welche persönliche Haltung der Bürger aber der Athener Perikles noch keinen eigenen Begriff zur Verfügung hatte. Der Begriff ›Toleranz‹ ist eine Prägung der neuzeitlichen Aufklärung im Gegenzug zu den neuzeitlichen Religionskriegen, welche die Antike in dieser Form noch nicht kannte. Es ist ja der Monotheismus mit seinen jeweils verabsolutierten Religionsauffassungen, welcher die furchtbarsten Religionskriege auslöste und immer noch auslöst – so den Dreißigjährigen Krieg zwischen Katholiken und Protestanten im Europa des 17. Jahrhunderts – und eben auch die heutigen Bruderkriege zwischen Schiiten und Sunniten. Gemeint ist mit Toleranz eine Haltung der Offenheit und auch des Respekts gegenüber Bürgern mit anderer Weltanschauung, dies aber nur, sofern auch diese Bürger mit anderer Weltanschauung Respekt und Toleranz gegenüber dem Anderen zeigen. Toleranz gegenüber intoleranten Menschen kann es nicht geben, weil solche intoleranten Bürger Toleranz nur als Schwäche verstehen und dessen Träger eher auszumerzen als zu respektieren versuchen. Toleranz ist eine auf Wechselseitigkeit angelegte Haltung. Sie verlangt Gegentoleranz, sonst kann sie nicht in einem demokratischen Staatswesen funktionieren. Gehen wir einmal zurück auf einen der Väter des Gedankens der Toleranz, John Locke. In seinem »Brief über Toleranz«, 1689 ursprünglich in lateinischer Sprache veröffentlicht, dann ins Englische übersetzt, argumentiert der englische Aufklärer im Sinne einer strikten Trennung von Kirche und Glauben, von Religion und Staat. Locke bewegt sich dabei auf einer Lutherischen Linie der Argumen103 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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tation: In Glaubensdingen ist in erster Linie die Heilige Schrift zuständig, nicht die kirchliche Tradition mit ihren viel späteren Reglementierungen und auch Hierarchien. Die »wahre Kirche« ist daher für Locke eine tolerante Kirche (Locke: Ein Brief über Toleranz, 3). Diese – und das gilt nun auch für die »Obrigkeit« eines Staates – solle dem Gläubigen seine Wahl zwischen religiösen Richtungen als »Gewissensentscheidung« überlassen. Das verlangt aber, den Andersgläubigen in seinem Glauben zu tolerieren und respektieren. Der Botschaft Jesu Christi wie auch der menschlichen Vernunft widerspricht diese Haltung gerade nicht: »Die Duldung derer, die von anderen in Religionssachen abweichen, ist mit dem Evangelium Jesu Christi und der unverfälschten menschlichen Vernunft so sehr in Übereinstimmung, dass es ungeheuerlich scheint, wenn Menschen so blind sind, ihre Notwendigkeit und Vorzüglichkeit bei so hellem Lichte nicht zu gewahren.« (Ebd., 11) Denn die Verbreitung des Glaubens mit »Feuer und Schwert« hat nur Unheil über die Welt gebracht, widerspricht auch dem christlichen Gebot der Liebe und Barmherzigkeit. Eine solche Anweisung zur Verbreitung der Lehre »habe ich bisher in keinem der Bücher des Neuen Testamentes finden können« (ebd., 25). Und die Obrigkeit des Staates? Auch sie solle sich nach Locke tunlichst nicht in Fragen der Religion einmischen. Das ist nicht ihre Aufgabe. Locke plädiert für eine strikte Trennung zwischen Religion und Staat. Das Gebiet der Religion fällt einfach nicht in die Kompetenz der Obrigkeit: »Nun enthüllt weder die Sorge für das gemeine Wesen noch das Recht der Gesetzgebung der Obrigkeit den zum Himmel führenden Weg mit größerer Gewißheit als ihn jeden Privatmannes Forschung und Studium diesem enthüllt.« (Ebd., 46 f) Die Obrigkeit hat sich nur in Sachen einzumischen, die in ihre Kompetenz fallen: Das ist die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung. Wer dagegen verstößt, auch aus religiösen Gründen, muss dafür von der Obrigkeit zur Rechenschaft gezogen werden. Aber das geschieht dann aus Gründen der bürgerlichen Ordnung, nicht aus religiösen Gründen. Wenn einige Christen glauben oder nicht glauben, das Abendmahl verwandle Brot in Wein, ist das für den Staat und seine Ordnung ohne Belang. Wenn eine Sekte das Abendmahl mit Kinderfleisch zelebrieren würde, was den frühen Christen einmal vorgeworfen wurde, müsste der Staat intervenieren, aber eben nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es sich dabei um ein Verbrechen im Sinne der bürgerlichen Ordnung handeln würde (ebd., 64 f). In 104 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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einem Punkte wollte Locke allerdings keine Toleranz walten lassen: In der Leugnung Gottes, also Atheismus. Das könne kein guter Staatsbürger sein, argumentiert er (ebd., 94 f). Aber diese Ausnahme von der Toleranz ist im Rahmen seiner eigenen Toleranz-Schrift nicht überzeugend, weil auch der Atheist ein guter Bürger sein kann. Ansonsten also: Toleranz in allen religiösen Dingen, die nicht die bürgerliche Ordnung tangieren und letztlich nicht den Kern der christlichen Botschaft in Frage stellen. »The sum of all we drive at is, that every man enjoy the same rights that are granted to others.« (Ebd., 104) In der Tat waren Lockes Zeiten gezeichnet von Religionskriegen von Christen gegen Christen: In England versuchte Jakob II. ab 1685 wieder gewaltsam den Katholizismus als Staatsreligion durchzusetzen. Vor ihm und seinen Häschern war auch Locke aus England nach Amsterdam geflohen, wo er seinen Toleranzbrief 1685/6 verfasste. Erst mit der Landung Wilhelm von Oraniens 1688 und der Flucht Jakobs nach Frankreich war diese Phase der versuchten Re-katholisierung Englands beendet. In Frankreich hatte Heinrich IV. im Edikt von Nantes 1598 die Religionsstreitigkeiten zu beenden versucht. Dieses Edikt wurde aber 1685 unter Ludwig dem XIV. wieder aufgehoben in Frankreich, die Protestanten wurden zum Teil blutig verfolgt. In Reaktion darauf schrieb auch der Aufklärer Pierre Bayle sein Plädoyer für Toleranz. Viele der Verfolgten flohen nach Holland und nach Brandenburg-Preußen, wo Friedrich Wilhelm der I., der große Kurfürst, 1664 ein Toleranzedikt erlassen hatte, das den Flüchtlingen dort Religionsfreiheit und Lebenssicherheit verbürgte. Die Toleranzpolitik Preußens wie auch der Niederlande bedeutete auch einen ökonomischen Gewinn für diese Staaten, weil die Hugenotten und auch Juden, die aufgrund solcher Toleranz in diese Staaten strömten, deren Wirtschaft stärkten dank ihrer Handwerkskunst und Finanzkraft. In Deutschland hat erst der erstarkende Nationalismus und Nationalsozialismus diese positive Geschichte der Toleranz beendet. In der heutigen Diskussion werben viele Soziologen und auch Politiker für eine Politik der Toleranz. Aber die Situation ist in vielerlei Hinsicht eine ganz andere als im 17. Jahrhundert. Damals ging es um Differenzen zwischen christlichen Glaubensgemeinschaften, heute vielfach zwischen Christen und Muslimen, also einer ganz anderen Glaubensrichtung. Viele der Flüchtlinge kommen auch nicht aus religiösen, sondern aus ökonomischen Gründen. Sie weisen selbst oft eine geringe schulische und berufliche Bildung auf und streben in die 105 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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europäischen, vornehmlich deutschen Sozialhilfesysteme. Der Philosoph Rüdiger Bubner hat noch vor der Hauptwelle der Flüchtlinge einen interessanten Beitrag zur »Dialektik der Toleranz« verfasst. Der Band »Toleranz«, in dem sich sein Aufsatz findet, wurde im Jahre 2000 veröffentlicht. Bubner bezieht sich bereits auf die neue Fremden- und Flüchtlingsproblematik: »Neuerdings wird das Toleranzthema lebhaft unter dem Stichwort des ›Fremden‹ erörtert.« (Bubner: Dialektik der Toleranz, 51) Die Problematik der Toleranz verändert sich aber fundamental, so Bubner, wenn sie von einem Randthema zu einem Zentralthema einer Gesellschaft wird. Wenn eine Zuwandererbewegung zu groß wird, gefährdet sie nämlich den »Stabilitätskern« einer Gesellschaft. Es geht also bei Toleranz auch um Identitäten: Die Differenz des Anderen könnte »zum Primären« werden und damit die Identität der aufnehmenden Gruppe gefährden oder sogar aus den Angeln heben, wenn diese ein Übergewicht erhält. »Unter dem Appell zu Toleranz wird ein Verzicht auf Herrschaft des Üblichen, der homogenisierten Majorität ins Auge gefasst, der eine künstliche Entmachtung erzeugt.« (Ebd., 58). Veranschaulichen wir uns den Bubner’schen Einwand an einem fiktiven Beispiel: Nehmen wir an, eine soziale Gruppe A besteht aus Bürgern, die ähnliche soziale Werte vertritt wie die Werte 1.1 bis 1.7 auf unserer Werteskala: also die Werte des eigenen Denkens, der Kritikfähigkeit, Wahrheit, Demokratie, Freiheit, Individualität, Bildung, Rechtsstaatlichkeit. Nun kommen Fremde einer Gruppe B in diese soziale Ordnung der Gruppe A, die ganz andere Werte vertreten wie die einer fundamentalistischen Religion oder eines Fremdnationalismus. Wenn die Gruppe 600 Teilnehmer hat, die Gruppe B 6, also 1 %, wäre das wohl von Gruppe A – auch bei den stark abweichenden Werten – tolerierbar. Sollten eins oder zwei der Mitglieder B kriminell werden, müsste A natürlich Sanktionen ergreifen gemäß dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit (1.8), könnte aber die Situation wohl kontrollieren. Weist die Gruppe B aber 60 Teilnehmer auf, also 10 % der Gruppe A, verschiebt sich schon das Schwergewicht. B könnte eine kleinere Parallelgesellschaft bilden, wäre also schlecht integriert und bei so abweichenden Werten schlecht integrierbar. Wenn 10 % von B auch kriminell würden, wäre das bereits eine empfindliche Einschränkung der Freiheiten von A und auch nicht mehr so leicht zu kontrollieren. Noch schlechter sieht es für A aus, wenn die Gruppe der Frem106 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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den mit radikal anderen Werten an die 50 % der Gruppe A oder sogar darüber ausmachen würden, weil dann offene Konflikte zwischen den Wertesystemen der Gruppen A und B unumgänglich wären, mithin ein friedliches Miteinander der sozialen Ordnung nicht mehr gewährleistet wäre, vielmehr ein regelrechter Kontroll- und Machtverlust der Gruppe A mit ihren Werten gegenüber der Gruppe B und deren Werte die Folge wäre. Das Modell ist, wie gesagt, fiktiv, aber es zeigt auf, wie sich Grenzen der Toleranz verschieben mit der Zahl der Fremden und ›Abweichler‹ von dem bis dahin geltenden Wertesystem einer sozialen Gruppe.

Demokratie und neuzeitlicher Staatsvertrag Zurück zur Geschichte der Demokratie: Es ist eigentlich unfassbar, wie lange nach der römischen Republik und deren Zusammenbruch dann die Demokratie in Europa ruht. Eine Art Grabesruhe für Jahrhunderte. Im Mittelalter gibt es zaghafte Neuansätze in den sich bildenden Stadtkulturen. Die Schweiz macht sich nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Habsburger Vorherrschaft in der Schlacht von Sempach 1386 frei von deren Vorherrschaft und führte damit dieses kleine Land in Mitteleuropa auf den Weg hin zu einer halb-direkten Demokratie. Ansätze zu einer parlamentarischen Demokratie gab es vor allem in England, wo ab dem 13. Jahrhundert der Monarchie ein Parlament (»House of Commons«) gegenübertrat und mit der »Bill of Rights« 1689 auch Grundrechte der Bürger festgeschrieben wurden. Die moderne Demokratie, wie sie sich dann in England, Frankreich und den USA herausbildet, unterscheidet sich wesentlich von der antiken Polis-Demokratie durch die Großräumigkeit dieser Flächenstaaten und damit Verwaltungseinheiten. Auch steht die Gründung der Demokratie in der Neuzeit im Kontext eines breiten Neuansatzes der europäischen Aufklärung. Diese gründet zum einen in der Bewegung des Protestantismus, der sich die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Menschen auf seine Fahnen geschrieben hatte, allerdings auch in die Erfahrung der schrecklichen Religionskriege führte, die sich daraus entwickelten, zum anderen aber in der Weiterentwicklung der Rationalitäts-Philosophie und ihrer Forderungen einer vernünftigen Selbststeuerung des Menschen und damit auch Neubegründung seiner Politik. Die neuzeitliche Aufklärung erfand dafür den Gedanken der ver107 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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traglichen Grundlegung der Politik, dies aber auf der Basis ganz unterschiedlicher anthropologischer Konzepte. Der englische Aufklärer Thomas Hobbes lässt den Staat – den »Leviathan«, wie er ihn in seiner Schrift von 1651 nennt – durch den Gesellschaftsvertrag seiner Bürger entstehen, um diesen vor sich selbst – »homo hominis lupus« – zu schützen. Der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau entwickelt dagegen das Konzept eines »contrat social«, publiziert 1762, auf der Grundlage einer harmonischen Auffassung vom Menschen. In beiden Projekten herrscht die Idee vor, dass die Bürger zwar Rechte abtreten müssen an den Staat, dafür dieser aber auch ihre Rechte vertreten und verteidigen müsse. Dazwischen liegt John Locke mit seinen »Two Treatises of Government« von 1690, in deren zweiten Essay Locke bereits eine Theorie der Gewaltenteilung vertritt und auch die Idee, dass der Mensch bereits im Naturzustand »frei« und auch »vernünftig« sei – »we are born free, as we are born rational« (Locke: Abh. 2, § 61, 237) – mithin die vertragsrechtliche Neubegründung der menschlichen Existenz nicht die Natur des Menschen gänzlich umkrempelt, sondern ›nur‹ die bereits im Naturzustand angelegte Vernunft zu sich selbst bringt, indem sie Gesetzes- und exekutive Sanktionsgewalt einführt und damit dem Menschen Rechtssicherheit auf sich und sein Eigentum gewährt. Darauf kommen wir zurück. Bleiben wir zunächst bei den Antipoden Hobbes und Rousseau. Es ist schon bemerkenswert, wie unterschiedlich diese beiden Denker der Aufklärung den Menschen einschätzen. Denn die Unterschiede der Anthropologie beeinflussen auch stark die Konzepte des Staates, die zunächst noch keine Demokratietheorien sind, wohl aber ein neuzeitliches Verhältnis des Menschen zum Staate anzeigen. Während nämlich Aristoteles in der ersten Aufklärung der Antike den Staat in der Naturanlage des Menschen begründet sieht – der Mensch ist ihm eine »von Natur aus politisches Wesen« (zoon physei politikon, Pol. 1, 2; 1253a) – erkennt die Neuzeit, dass der Staat selbst ein rationales Konstrukt des Menschen ist und entwickelt dementsprechende Theorien der rational vertraglichen Herstellung eines solchen Gebildes (siehe zum Folgenden auch: Pfetsch: Theoretiker der Politik, 126 ff). Dabei geht Hobbes davon aus, dass der Mensch in seinem Naturzustand ein gieriges Wesen ist, der alles haben will und dem ja auch alles offen zu stehen scheint. Wenn aber nun alle Mitmenschen naturgemäß auch so veranlagt sind, entsteht daraus zwangsläufig eine Art Konkurrenz aller gegen alle um die Ressourcen oder schlimmer: ein »Krieg aller gegen alle« (Hobbes: Leviathan, 151). Wie kann man 108 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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dem gegensteuern? Nach Hobbes eigentlich nur so, dass sich die Menschen verpflichten, ihre Macht an einen Dritten abzutreten, der für diese Preisgabe aber eines verbürgt: Sicherheit und Ordnung. Und dieser Dritte, an den der Mensch seine Rechte abtritt, um Rechtssicherheit zu erlangen, ist der Staat. Hobbes nennt ihn nach einer Bibelstelle im Buch Hiob »Leviathan«. Es ist dort ein von Gott geschaffenes Meermonster mit einem »Herz so hart wie ein Stein« und gnadenlos gegenüber allen, die sich ihm widersetzen, um Gottes Allmacht zu verkörpern (Bibel: Buch Hiob, 41). Bei Hobbes verkörpert der Leviathan nun die neue Allmacht des Staates gegenüber seinen Bürgern, die freilich ihre Macht zuvor an ihn als Garant des Friedens abgegeben hatten. Der »Staat ist eine Person, deren Handlungen eine große Menge Menschenkraft der gegenseitigen Verträge eines jeden mit einem jeden als ihre eigenen ansehen, auf daß diese nach ihrem Gutdünken die Macht aller zum Frieden und zur gemeinschaftlichen Verteidigung anwende.« (Leviathan, 155 f) Und so ist das Monster, das den Menschen beherrschen soll, selbst ein Ausdruck der monströsen Veranlagung des Menschen. Wenn der Mensch nach Hobbes eine Art ›Überwolf‹ ist, schlimmer als jedes Tier, dann kann dieses Wesen selbst nur durch einen gewaltsamen Staat von seiner Gewalt abgehalten und zum »Frieden« hingeführt werden. Was Hobbes noch nicht ahnen konnte: Dass der Staat selbst – der nationalsozialistische wie der kommunistische – zu totalitären Macht-Monstern werden konnte, die nicht den Frieden brachten, sondern die Vernichtung und den Tod für Millionen jener Menschen, die sie willkürlich als »Untermenschen« und »Klassenfeinde« aus der Menschheit ausgesondert hatten. Anders Rousseau – und es lohnt sich, auf seine Ideen vom Staatsvertrag genauer einzugehen, weil sie neben dem Rassismus einen extrem nachhaltigen Schaden für die Politik in Europa und weltweit angerichtet haben. Rousseaus Menschenbild ist vordergründig viel harmonischer und optimistischer als das von Hobbes. Rousseau preist gerade den Naturzustand als den Idealzustand des Menschen und den Gesellschaftszustand als dessen Entfremdung. Rousseau will vor allem »nicht mit Hobbes den Schluss ziehen, daß der Mensch von Natur aus böse sei« (Rousseau: Zweite Preisschrift »Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen«, 79). Und so lässt Rousseau seinen Naturmenschen »wild«, aber selbstgenügsam durch die Wälder laufen. »Er empfand nur seine wahren Bedürfnisse, beachtete nur das, was er für sich von 109 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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Interesse glaubte« (ebd., 84). Dieser ideale Wildling wird erst durch die Bildung von Eigentum in der Gesellschaft aus seiner schönen, träumerischen Einheit mit der Natur herausgerissen: »Der erste, der ein Stück Erde eingezäunt hatte und sich anmaßte zu sagen: ›Dies gehört mir‹, und der Leute fand, die einfältig genug waren, es zu glauben, war der wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.« (Ebd., 87) – und aller Entfremdungserscheinungen, die daraus entstanden, kann man hinzufügen. Noch einmal der Gegensatz zwischen Naturzustand und Zivilisation: »der Wilde lebt in sich selbst; der zivilisierte Mensch, der sich selbst immer fern ist, kann nur leben im Spiegel der Meinungen der anderen, er leitet sozusagen allein aus ihrem Urteil das Gefühl für seine eigene Existenz ab.« (Ebd., 110) Der Wilde: Immer bei sich, der zivilisierte Mensch nach Rousseau: immer fremdgesteuert. Wie erfolgt nun die Staatsgründung bei Rousseau? Wenn der Mensch von Natur aus gut ist, braucht er ja keinen so gewaltsamen »Leviathan«, um sein politisches Zusammenleben zu regeln. Auch im »Contrat social« des Rousseau muss der Mensch auf seine Unabhängigkeit verzichten, wenn er Bürger eines Staates werden will und auch hier wird das per Vertrag geregelt. Überhaupt: Warum muss der Naturmensch aus seinem idealen Status heraustreten, wenn es ihm darin so gut geht? Rousseau unterstellt, »dass die Menschen jenen Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse, die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden, in ihrem Widerstand den Sieg davontragen« (Rousseau: Contrat social/ Gesellschaftsvertrag, 31), und somit dieser Urzustand nun auch aufgelöst wird. Der Zusammenschluss der Menschen zu einem politischen Gemeinwesen erfolgt nach Rousseau in völliger Freiheit der Einzelnen und so, dass deren gemeinsamer Wille (»volonté générale«) tatsächlich auch den Wunsch und Willen jedes Einzelnen vertritt. Diese ideale Konstruktion von Einheit und Vielheit erzeugt also einen Staat, der selbst eine ideale Repräsentation der Vielheit seiner Mitglieder ist und somit eigentlich auch keine Gewalt gebraucht, um diese in Schranken zu halten. »Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft [corps moral et collectif], die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch ebendiesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Willen erhält. Diese öffentliche Person, die so aus

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dem Zusammenschluss aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis, heute trägt sie den der Republik […]« (ebd., 35 f). Nach Rousseau findet also hier ein »Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Stand« statt, den Rousseau – im Gegensatz zu seiner früheren Einschätzung von Naturzustand und Zivilisation – ganz positiv sieht: »Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt.« (Ebd., 45) Die Kehrtwendung im Denken Rousseaus ist vor allem am Eigentumsbegriff festzumachen: Der Autor der Zweiten Preisschrift von 1754 hatte in der Eigentumsbildung die Ursünde der menschlichen Zivilisation festgemacht, für den Autor des »Contrat« von 1762 ist es das Hauptziel der Staatsgründung, dieses zu schützen. Konsistentes Denken ist das nicht. Auch nimmt Rousseau hier rückwirkend eine Idealisierung der antiken Polis vor, deren Realität – wie wir oben sahen – alles andere als ideal war. Am Anfang des zweiten Buches seines »Contrat social« wiederholt Rousseau noch einmal seine Generalthese, dass das Gemeinwesen nichts anderes vertrete als die Interessen aller einzelnen Mitglieder des Staates. Es sei sogar »der Einklang derselben Interessen« (ebd., 55), der die Gründung des Staates als ein solches Gemeinwesen allererst möglich mache. Und dieses Gemeinwesen als Ausbund aller Einzelwünsche kann nach Rousseau gar nicht anders, als »immer auf dem rechten Weg« und auf das »öffentliche Wohl« ausgerichtet zu sein. Es kann dabei nicht irren (ebd., 61 ff). Der Staat wird so zur »moralischen Person« schlechthin (ebd., 65) und seine »souveräne Gewalt [pouvoir Souverain] völlig unumschränkt, geheiligt und unverletzlich« (ebd., 73), zu einer fast göttlichen, nämlich absoluten Instanz – aber diese nicht im Jenseits wie Gott – sondern im Staat. Und so kann dieser auch zum Wohle und Schutz des Gemeinwohls über Leben und Tod entscheiden (ebd., 75 ff). Den Gesetzgeber eines solchen heiligen Staates als Inkarnation des Gemeinwohls stellt sich Rousseau als einen neuen Messias vor, der, selbst eine Inkarnation der »Tugend«, mit »erhabener Vernunft« Gesetze zur Befestigung und zum Schutz des Gemeinwohls erlässt. Und so ist nun bei Rousseau ein neuer konstruktivistischer Utopismus am Werk, der den heutigen Leser schwindlig machen kann. Der Gesetzgeber des neuen Staates à la Rousseau ist nämlich auch beauftragt, »die menschliche Natur zu ändern, jedes Indivi111 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie und Toleranz

duum, das von sich aus ein vollendetes und für sich bestehendes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, von dem dieses Individuum in gewissem Sinn sein Leben und Dasein empfängt« (ebd., 89). Man kann sagen: wir wohnen hier einer zweiten Geburt des Menschen bei. In der ersten hat Gott den Menschen als Naturwesen in die Welt gesetzt. In der Preisschrift wird dies auch als ein harmonischer Zustand des Menschen mit sich beschrieben. Im »Gesellschaftsvertrag« Rousseaus nun wird der Mensch seines Naturzustandes beraubt und aus dem Geist des Staatsvertrages neu geboren. Diese Neugeburt erhält ihr Existenzrecht jetzt nicht aus der Natur, sondern aus dem »größeren Ganzen« des Staates. Der neue Mensch ist aus dieser zweiten Sicht Rousseaus in seiner Naturanlage nichts mehr, sondern empfängt alles, auch sein Lebensrecht, aus der Totalität des Staates. Rousseau lässt keinen Zweifel daran, dass er das für eine Stärkung des Menschen hält. Der Vertrag soll »die Verfasstheit des Menschen ändern, um sie zu stärken [d’altérer la constitution de l’homme pour la renforcer]«. An die Stelle »eines physischen und unabhängigen Daseins, das wir alle von der Natur erhalten haben«, soll das »Dasein als Teil« – des politischen Ganzen nämlich – in ein neues »moralisches Dasein« eintreten (ebd., 89). »Je mehr die natürlichen Kräfte absterben und vergehen [anéanties], desto stärker und dauerhafter werden die erworbenen, desto fester und vollkommener wird auch die Errichtung [institution]« – des neuen totalitären Staates, kann man Rousseau mit Blick auf die politische Zukunft seiner Ideen ergänzen. Selten kann man bei der Lektüre eines Theoretikers so direkt der Geburt einer radikal neuen und zugleich schrecklichen Staatsidee beiwohnen: Es ist der totalitär-egalitäre Staat, den Rousseaus »Contrat« gebiert, und damit den Terreur der französischen Revolution ebenso wie den Terror der totalitären kommunistischen Regimes. Sie alle konnten sich auf Rousseau berufen und taten dies auch zum Teil bei der Realisierung ihrer schrecklichen Regimes als Ausdruck einer idealistischen Idee. Gegen den totalitären Staat mit dem höchst moralischen Anspruch hat der einzelne Bürger wenig Chancen, weil eben der Staat mit Rousseau ja immer beanspruchen kann, das Gemeinwohl zu vertreten, mithin jeder Protestant dagegen als nur ein Störenfried abgestempelt werden kann, der am besten zu beseitigen oder gar zu töten sei. Der messianische Führer eines solchen Staates verfügt über absolute Gewalt, weil er sich als die absolute Moralinstanz schlechthin aufzuspielen imstande ist, gegen die es kein Aufbegehren 112 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie und neuzeitlicher Staatsvertrag

geben darf. Er selbst, der absolute Führer, wie ihn dann die Geschichte in der Gestalt eines Robespierre, Lenin, Stalin gebären sollte, kann sich selbst mit Rousseau für die Inkarnation und Repräsentation des Gemeinwillens halten: Die Geburt des totalitären sozialistischen Führers aus der Idee des »volonté générale«. Es gibt bei Rousseau keine wesentliche Differenz mehr zwischen Staat und Einzelbürger, weil der Staat letzteren sozusagen mit Haut und Haaren in sich aufgesogen und zu einem Teilkörper seiner selbst umgewidmet hat. Wer aber dagegen protestiert, ist selbst nur Ausschuss des neuen totalitären Staates, der aus der Idee des »Gemeinwohls« geboren ist. Wie gesagt: In der Französischen Revolution hat Robespierre mit Rousseau im Gepäck die Alleinherrschaft seiner Partei der Jakobiner und seiner selbst als deren Anführer begründet. Er, der ›Tugendhafte‹, sah sich ja selbst als Verkörperung des »Gemeinwillens«, den er mit aller Macht und auch Terror nicht nur gegen Adel und Klerus, sondern auch gegen alle politischen Feinde im Lande glaubte durchsetzen zu müssen. Vor allem diese Moralanmaßung, die ihm Rousseaus Schrift nahelegte, machte ihn zu einem so arroganten und selbstgerechten Massenmörder. In Georg Büchners Drama »Dantons Tod« nennt ihn Danton den »Policeysoldat des Himmels« (Büchner: Dantons Tod, Szene I, 6). Mit Rousseau im Arm und im Kopf gebar dann später auch der Kommunismus-Sozialismus noch viele solche »Policeysoldaten des Himmels«, welche die Partei als Ausdruck des Volkswillens begriffen und um willen der Wiederherstellung des paradiesischen – nämlich kommunistischen – Urzustandes der Menschheit, wie ihn ja auch Rousseau und dann auch Karl Marx entworfen hatten, millionenweise Menschen in die Hölle der Gefängnisse, Massengräber und in den Hungertod schickten. Auch Karl Marx war von Rousseau stark infiziert. In seiner Schrift »Zur Judenfrage« beruft er sich auf den »Contrat social« und hier gerade auf das Programm der gesellschaftlichen Neubegründung des Menschen (MEGA 1 Abt., Bd. 2, 162). Nach Barbara Zehnpfennig, die beide Denker verglichen hat, ist »Marx’ eigene Lösung […] seinem Selbstverständnis nach viel radikaler als die von Rousseau vorgesehene: Erst wenn der individuelle Mensch sich als Gattungswesen begreift und die gesellschaftliche Kraft nicht mehr von der politischen trennt, ist die wahrhafte Emanzipation erreicht, nämlich die menschliche. Natürlich ist dies nicht als individuelle Entscheidung gedacht, sondern als Ergebnis einer revolutionären Änderung der ge113 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie und Toleranz

sellschaftlichen Verhältnisse. Marx sieht Rousseau demnach als Stufe auf einem Weg, den erst er, Marx, zu Ende geht.« (Zehnpfennig: Rousseau und Marx, 178) Und auch die paradoxe Aufhebung der Entfremdung selbst als eine Rückkehr in einen Zustand der Einheit, Harmonie, Ganzheit ist letztlich von Rousseau abgeguckt, ein, wie die Verfasserin betont, letztlich »anti-intellektualistisches« Programm, man kann auch sagen: zivilisations- oder demokratiefeindlich, »da seine Homogenitätsvorstellung eine auf Meinungsvielfalt gegründete Wahrheitssuche ausschließt« (ebd., 205). Die Rousseau’sche Staatstheorie einschließlich ihrer Lehre vom Umbau des Menschen durch den »Gemeinwillen« hat viel mehr Menschen das Leben gekostet als die andere totalitäre Idee der Neuzeit: des rassistischen Nationalsozialismus, auch wenn beide Totalitarismen in der Idee des absoluten Rechtes des Staates gegenüber dem Einzelnen und des messianischen ›Führers‹ über alle seine Bürger konvergieren. Solcher Totalitarismus hat praktisch in der Theorie schon die Kategorie des Widerstandes erstickt, weil eben das Ganze ja den Gemeinwillen und somit das Wahre und moralisch Gute repräsentiere. Der Gedanke der Demokratie und Andersheit des Denkens ist bereits mit Rousseau im Ansatz erstickt und in den kommunistisch-sozialistischen Ländern auch in der Realität erstickt und nahezu vollständig eliminiert worden. In der Forschung wurde viel um die Deutung des »Gemeinwillens« gestritten. Patrick Riley sagt: »Ein ›Gemeinwille‹ ist ein philosophischer und psychologischer Widerspruch in sich. ›Wille‹ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt, nur im Sinne individueller Handlungen verständlich ist. Das Problem kann nicht vertuscht werden, indem man – wie T. H. Green – den Gemeinwillen auf ein ›gemeinsames Ego‹ oder einen Kants reiner praktischer Vernunft analogen Vorläufer zu reduzieren versucht.« (Riley: Eine mögliche Erklärung des Gemeinwillens, 109) Der Verfasser zitiert dagegen auch Hegels Rechtsphilosophie, in welcher jener den Begriff des Willens mit dem subjektiven Wollen eines Menschen verbindet (ebd.). Aber Rousseaus Staats-Philosophie ist ja – anders als die Philosophie von Hobbes – gar nicht in erster Linie ein Problem des Voluntarismus, sondern einer schlechthinnigen Identifikation des kollektiven Wollens und Denkens mit dem Staatssouverän. Das heißt eben in Zeiten des neuzeitlichen Individualismus, den modernen totalitären Staat begründen, nicht die Demokratie. Unter den vordemokratischen Staatstheorien ist die von Rousseau viel gefährlicher als 114 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Die Idee der Gewaltenteilung: Montesquieu

die von Hobbes, weil jener mit seinem »Leviathan« eigentlich nur die zivile Schutzfunktion des Staates für seine Bürger auch gegen diese selbst begründen will, den Bürger in seiner Freiheit und seinem Eigentumsrecht aber darin walten lässt, Rousseaus Staatsvertrag dagegen aber lässt keinerlei Spielraum mehr für das Individuum. Individualität aber ist ein zentraler europäischer Wert (siehe Kap. 1.6) und Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie.

Die Idee der Gewaltenteilung: Montesquieu Aus diesem Ringen um die neuzeitliche Form der Staatsbegründung wird schon deutlich, was ihr bis dahin vor allem fehlt: Eine Theorie der Gewaltenteilung, die der Endlichkeit, Beschränktheit und auch Verführbarkeit der menschlichen Existenz, vor denen ja schon Herodot in seiner Verfassungsdebatte gewarnt hatte, angemessen ist. Menschen bleiben, auch und gerade in hohen Machtpositionen, endliche Wesen, denen die Allmacht zu Kopfe steigen und sie selbst und andere zerstören kann. Auch gibt es in der Moderne, wie Hegel das ja in seiner Rechtsphilosophie klar erkannt hat, keine bruchlose Homogenität mehr zwischen Individuum und Staat – die es, genau besehen, nie, auch nicht in der antiken Demokratie, je gab. Mithin braucht die Staatstheorie eine Theorie der Gewaltenteilung, die sicherstellt, dass Menschen, die Menschen kontrollieren, auch von Menschen gewählt wie abgewählt werden können, und das ist dann die wahre Geburtsstunde der modernen Demokratie. Bereits Lockes »Zweite Abhandlung über die Regierung« arbeitet eine rudimentäre Gewaltenteilung aus und bereitet damit die liberal-demokratische Staatsform vor. Auch hier verzichtet der Mensch im Naturzustand auf sein Leben in vollkommener Freiheit zugunsten einer durch Recht und Ordnung geregelten Staatsform, die ihn und sein Eigentum besser schützt als dies im ungeregelten Naturzustand der Fall sein kann. Die Versammlung der Staatsbürger bestimmt hier die Exekutive wie Legislative, die sich damit gegenseitig auch kontrollieren. »Hinsichtlich der Rechtsprechung ist – entsprechend der Praxis der angelsächsischen Rechtsprechung – in der Lockeschen Theorie keine eigene unabhängige Instanz vorgesehen. Diese Aufgabe obliegt vielmehr der Legislative bzw. der Exekutive.« (Pfetsch: Theoretiker der Politik, 171) Beide Mächte bleiben rückgebunden an das Naturrecht aller Bürger auf Selbsterhaltung, die damit auch das 115 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie und Toleranz

Recht haben, jenes jederzeit gegen jene vertreten zu können. Aber: »[…] nur ungerechter und ungesetzlicher Gewalt darf Gewalt entgegengesetzt werden.« (Locke: Zwei Abhandlungen, 2, § 204) Um solches möglichst zu verhindern, spricht Locke von »balancing the power of government, by placing several parts of it in different hands« (Locke: Abh. 2, § 107). Locke wie auch der nun folgende Autor haben dann auch die Bildung der ersten neuzeitlichen Demokratie in den USA direkt inspiriert. Es war das Werk von Charles-Louis de Secondat, Baron de Montesquieu, der in seinem Hauptwerk »Über den Geist der Gesetze« (»De l’esprit de loix«) von 1748 – also noch vor Rousseau – das Modell einer dreiteiligen Gewaltenteilung im Staat zwischen Legislative, Exekutive und Judikative entwickelt und damit eine Hauptgrundlage der modernen Demokratien erkannt und offengelegt hat. Methodisch geht Montesquieu anders vor als die oben genannten Verfassungstheoretiker, nämlich eher empirisch-soziologisch. Der Philosoph Panajotis Kondylis sieht daher in Montesquieus Arbeit eine »Pionierleistung […] bei der Konstituierung moderner Sozialwissenschaft« (Kondylis: Montesquieu und der Geist der Gesetze, 15). Der »Übergang von der Typologie des Staatslehrers zur Kausalität bzw. Gesetzmäßigkeit des Soziologen« (ebd., 18) bedeutet somit selbst einen Rationalitätsschub des politisch-europäischen Denkens, der auch die soziologische Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts inspiriert hat. Für Montesquieu sind politische Gesetze keine Produkte abstrakter Konstruktion, sondern kulturbedingte Produkte. Als solche spiegeln sie ihre Zeit, spiegeln geographische Bedingungen wie Klima, Örtlichkeit einer Kultur, auch volkhafte Eigenarten und Mentalitäten u. a. Montesquieu ist – wie die meisten empirischen Historiographen – auch kein Anhänger einer naiven Gutmenschtheorie, sondern eher skeptisch in Bezug auf den Menschen, vor allem dann, wenn er zu Macht kommt. »Eine ewige Erfahrung lehrt jedoch, daß jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt.« (Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Buch 11, 4, 215) Man kann diese Einsicht, die ja auch schon die antiken Historiographen hatten, gut an Diktatoren bis in unsere Gegenwart nachverfolgen und man kann sich bei den diktatorisch regierenden Machthabern unserer Tage bange fragen, wo deren Grenzerfahrungen liegen werden. Denn oft wird ja solche Grenzerfahrung mit Kriegen und daher Leid und Not für die ganze Bevölkerung erkauft. 116 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Die Idee der Gewaltenteilung: Montesquieu

In solchem Kontext einer historisch gesättigten Erfahrung nun thematisiert Montesquieu auch seine Drei-Gewalten-Lehre eher versteckt im Kontext der englischen Verfassung im Buch 11, Kap. 3: »Es gibt in jedem Staat drei Arten von Vollmacht: die legislative Befugnis, die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Völkerrecht abhängen, und die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Zivilrecht abhängen.« (Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, 216) Gemäß dem empirischen Ansatz des Verfassers haben wir es hier mit zwei Argumentationsebenen zu tun: Erstens: die allgemeine zur Lehre des Staatsrechts schlechthin. Sie zeigt sich sprachlich an Generalisierungen wie »in jedem Staat«. Zweitens: die empirische Ebene der englischen Verfassung, die ja die Besonderheit aufweist, dass sich hier die Exekutive in der Hand des Monarchen befindet, die Legislative in der Hand der Parlamente mit den zwei Kammern Ober- und Unterhaus, die Rechtsprechung aber in der Händen gewählter Volksrichter, also Geschworener. Entscheidend für Montesquieu ist nun, dass diese Gewalten personal getrennt voneinander agieren, denn: »Sobald in ein und derselben Person oder derselben Beamtenschaft die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden ist, gibt es keine Freiheit. Es wäre nämlich zu befürchten, dass derselbe Monarch oder derselbe Senat tyrannische Gesetze erließe und dann tyrannisch durchführte.« (Ebd., 216 f) Das ist also, noch bevor Rousseau sein Konzept vom »Gemeinwillen« entwickelt hat, das genaue Gegenteil davon. Und wenn jener von tiefem Optimismus gegenüber einem messianischen Führer und Gesetzesmacher erfüllt war, so Montesquieu von einer tiefen Skepsis gegenüber dem Menschen und seinem Umgang mit der Macht. Jeder mag sich selbst fragen, wer hier realistischer gedacht hat. Noch im selben Kapitel beschwört Montesquieu geradezu die Notwendigkeit der Gewaltenteilung als Bedingungen der Freiheit schlechthin: »Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigsten oder der Adeligen oder des Volkes folgende drei Machtvollkommenheit ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private Streitfälle aburteilen.« (Ebd., 217) Es ist bemerkenswert, dass Montesquieu die drei Klassen des Volkes als gleich anfällig für den Machtmissbrauch charakterisiert. Es ist eben nach Montesquieu eine grundlegende Eigenschaft des Menschen schlechthin, durch den Besitz der Macht zum Machtmissbrauch verführt zu werden. Die einzig effektive Möglichkeit, dies zu 117 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie und Toleranz

verhindern, besteht tatsächlich in der Kontrolle der Macht, will sagen der Mächtigen durch andere Mächtige dank der Teilung der Macht. Man kann ergänzen, dass mit der Entwicklung der öffentlichen Medien – Bücher, Presse, Fernsehen, Internet – weitere Kontrollorgane dazu gekommen sind, wenn diese denn ihre Funktion als kritische Organe richtig erfüllen und nicht zu Propagandazwecken genutzt werden, wie in Kap. 1.3 ausgeführt. Montesquieu war selbst gegenüber der Demokratie als Herrschaftsform kritisch eingestellt. Aber Montesquieu hat auf der Grundlage einer realistischen Anthropologie mit der Gewaltenteilung ein wichtiges Instrument geschaffen, mit der die Neugeburt der Demokratie in der Neuzeit gelingen konnte. Das allerdings geschah nicht in Europa, sondern in den neu gegründeten United States of America.

Die Demokratie in Amerika Bekanntlich entflammte der amerikanische Freiheitsdrang am Problem der Steuererhebung. Der Kampfruf »No taxation without representation« rief die revolutionären Kräfte der neuen Welt auf in den Kampf gegen das englische Mutterland. Mit der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 löste sich Nordamerika von England durch die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika. Thomas Jefferson, der wichtigste Autor der »Declaration of Independence«, hatte seinen John Locke und andere Aufklärer gelesen. Die neue Staatsgründung sollte die Sicherheit und auch das Glück ihrer Bürger gewährleisten, diese vor allem auch durch die Bindung der Repräsentanten der Macht an das Recht schützen, und dies mittels Freiheitsgarantien und Gewaltenteilung. Die dreizehn verschiedenen Staaten Nordamerikas haben in unterschiedlichen Konventen Vorformen der Verfassung beraten, die älteste und einflussreichste Grundrechtserklärung hat am 12. Juni 1776 Virginia verabschiedet, die »Virginia Bill of Rights«. Darin heißt es in Artikel 1: »Alle Menschen sind von Natur gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, […] nämlich das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.« (Adams: Die Entstehung der Vereinigten Staaten, 259) Artikel 2: »Alle Macht ruht im Volk 118 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Die Demokratie in Amerika

und leitet sich daher von ihm ab; alle Amtspersonen sind seine Treuhänder und Diener und ihm jederzeit verantwortlich.« Artikel 3 betont den Aspekt, dass die Regierung »um des gemeinsamen Wohles, Schutzes und der Sicherheit des Volkes eingesetzt« sei, Artikel 4, dass »kein Mensch und keine Gruppe von Menschen ein Recht auf alleinige oder besondere Zuwendung« habe. Absatz 5 regelt die Gewaltenteilung: »Die gesetzgebende und die ausführende Gewalt des Staates sollen von der richterlichen Gewalt getrennt und klar geschieden sein, und damit die Angehörigen der beiden ersteren dadurch vor Machthunger bewahrt werden […]« (Ebd., 259 f). Artikel 6 regelt die Freiheit der Wahlen, Artikel 12 garantiert die Freiheit der Presse, Artikel 16 Religionsfreiheit, Artikel 15 schwört jegliche Regierung auf die ethischen »Ideale der Gerechtigkeit, Mäßigung, Enthaltsamkeit, Bescheidenheit und Tugend« ein. Damit war ein Programm vorgelegt, das auch als Grundlage der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika noch im selben Jahr dienen konnte sowie auch der späteren amerikanischen »Bill of Rights« und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, beide verabschiedet im Jahr 1789. Ein Triumph der Menschheit, kann man mit Pathos sagen. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Grundrechts-Erklärungen Virginias wie dann auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung einen Begriff enthalten und starkmachen, der in den europäischen Staatstheorien und Verfassungsentwürfen weitgehend fehlt: den Begriff des »Glücks«, »pursuing and obtaining happiness«, wie es in der Virginia-Erklärung und »the pursuit of happiness«, wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt (Thomä u. a.: Glück, 172 ff). Bei John Locke stand an Stelle dieses Begriffs der des Eigentums (property), auch wenn er in seiner Abhandlung »Über den menschlichen Verstand« die »Suche nach Glück« (»pursuit of happiness in general«) durchaus zu den allgemein menschlichen Eigenschaften zählt (Locke: Über den menschlichen Verstand, Buch I, Kap. 21, 40, 309 ff). Das Eigentum sichern war ein Hauptanliegen der europäischen Staatstheoretiker. Die in der europäischen Aufklärung geschulten Amerikaner aber führen hier an zentraler Stelle einen neuen Begriff ein, der das Kapitel aufschlägt: Staat und Glück. Der Begriff »Glück« hat sicher vielfältige Konnotationen, meint aber im Gegensatz zur metaphysischen ›Glückseligkeit‹ im Himmel ein durchaus irdisches Glück. Jefferson kontrastiert nämlich das Glück, das er sich vom Staat 119 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie und Toleranz

in der neuen Welt verspricht, mit dem Unglück vieler Bürger in der alten Welt. In diesem Sinne ist sein Glücksbegriff einer, zu dessen Erlangung der Staat Entscheidendes beitragen kann, er ist Bedingung der Möglichkeit für das Glück seiner Bürger, ein grandioser neuer Staatsbegriff! Er hat zwei Aspekte: erstens das Glück seiner Bürger im einzelnen, zweitens das Glück möglichst vieler Bürger des Staates. In diesem Sinne fordert die erwähnte »Bill of Rights« von Virginia bereits in Artikel 3, dass die Regierung »ein Höchstmaß an Glück und Sicherheit« für ihre Bürger garantieren solle (Adams: Die Entstehung der Vereinigten Staaten, 259). »Dieses Glück steht über die individuelle Lebensführung hinaus für die Wohlfahrt des Gemeinwesens insgesamt.« (Thomä u. a.: Glück, 174) Man kann sagen: Diese neuzeitliche Begründung der Demokratie in Amerika war eine Sternstunde der Menschheit. Sie war aber zugleich auch eine Katastrophe. Wie das? Wie kann eine Sternstunde der Menschheit zugleich eine katastrophale Geschichte einläuten? Das hängt an dem Begriff der Menschheit – »alle Menschen« – den die amerikanischen Verfassungsentwürfe und Verfassungen zugrunde legen. »Alle Menschen« meint eben nicht »alle Menschen«. Schon in den Sitzungsprotokollen in Virginia wird angemerkt, dass »Sklaven jedoch keine konstitutiven Mitglieder (›constituent members‹) unserer Gesellschaft seien« (Adams: Die Entstehung der Vereinigten Staaten, 262). Der Historiker Hermann Wellenreuther kommentiert dies: »›free inhabitants‹ schließt nach dem Verständnis der 1780er Jahre Sklaven und Kontraktarbeiter (›intendured servants‹) ebenso wie Indianer als ursprüngliche Bewohner des Landes aus.« (Wellenreuther: Von der Konföderation zur Amerikanischen Nation, 108) Gemeint ist mit »alle Menschen« eben nur die freie weiße männliche Bevölkerung, nicht die Frauen, nicht die Sklaven, nicht die Indianer. Damit aber war auch das Programm einer Nichtachtung, Verdrängung und Vernichtung vor allem der indigenen Indianer-Bevölkerung mitentworfen. Während die Sklaverei in den USA schon vor und nach 1800 zunehmend unter Rechtfertigungsdruck geriet, aber erst nach dem Sezessionskrieg am 31. Januar 1865 mit dem 13. Zusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten endgültig verboten wurde, war das Schicksal der Indianer deutlich hoffnungsloser. Anders als die Sklaven und anders auch als die Indianer Südamerikas waren die Nordamerikas nicht für die Zwangsarbeit zu rekrutieren. Die Siedler verachteten sie, weil sie ihr Land nicht als 120 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Die Demokratie in Amerika

Eigentum behandelten und damit in deren Sinne ›ungenutzt‹ ließen und schlimmer: Die ›wilden‹ Indianer erschienen den Siedlern als »Söhne des Satans«. Und so wurde die einheimische Bevölkerung der Indianer Nordamerikas brutal zurückgedrängt und vernichtet: The American Holocaust, wie das der amerikanische Soziologe David Stannard nennt. »Die Zahl der Native Americans« verringerte sich innerhalb von hundert Jahren nach dem ersten Kontakt mit den Europäern um schätzungsweise 90 Prozent.« (Eckert: Kolonialismus, 27) Dabei wirkten neben den Feuerwaffen auch die von den Europäern eingeschleppten Krankheiten verheerend unter den Indianern – sowie der Alkohol. Derselbe Benjamin Franklin nun, der allen Bürgern das Glück bringen wollte, hatte sich über die Indianer 1749 so vernehmen lassen: »Und in der Tat, wenn es die Absicht der Vorsehung ist, diese Wilden auszurotten, um Platz für die (wirklichen) Kultivatoren der Erde zu machen, scheint es nicht ausgeschlossen, dass der Rum das auserwählte Mittel ist. Es hat bereits alle vormals an der Ostküste lebenden Stämme vernichtet.« (Zit. in Gründer: Welteroberung und Christentum, 284) Zur Perversion der nordamerikanischen »Ausrottungs«-Politik vom 16. bis ins 20. Jahrhundert gehörte, dass sie sich als eine Art Gottes-Plan (»Vorsehung«) eines auserwählten Volkes begriff, die mit ihrem rationalen Zivilisationskonzept Gottes Willen auf Erden umsetzt bzw. diese Erde in ein »himmlisches Jerusalem« verwandeln wollte. Alle Widersacher – und als solche sah man eben die Indianer – waren damit »Widersacher Gottes«, »Kinder des Satans«, »Unrat«, wurden dementsprechend verfolgt und vernichtet (Gründer: Welteroberung und Christentum, 182 ff). Der »American Holocaust« als Begleiterscheinung der Demokratisierung der USA ist deren »dark side« und radikalisierte sich noch einmal im 19. Jahrhundert, als sich die American Frontier im Westen schloss. »Die offene Verteidigung des Genozid unter den US-Spitzenpolitikern vollzog sich in einem kulturellen Milieu, das die Indianer im Land als ›hässlich‹, ›dreckig‹, als ›unmenschliche‹, ›Tiere‹, ›Schweine‹, ›Hunde‹, ›Wölfe‹, ›Schlangen‹, ›Affen‹ bezeichnete« und sie auch wie wilde Tiere niederschoss: »wie Wölfe, Männer, Frauen, Kinder, wo immer sie Indianer vorfanden« (Stannard: American Holocaust, 145). Zu einer expliziten Ausrottungs- und Vernichtungspolitik kam es vor allem in Kalifornien. »Die indianische Bevölkerung Kaliforniens fiel von 1848 bis 1860 von 150 000 auf 31 000, während die Zahl der Weißen im gleichen Zeitraum von 25 000 auf 350 000 zunahm.« 121 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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(Mann: Die dunkle Seite der Demokratie, 137) Die Gouverneure der Region vertraten eine mehr oder weniger offene Ausrottungspolitik, so der Gouverneur Burnett, wenn er erklärte, dass »ein Ausrottungskrieg zwischen den beiden Rassen so lange fortgesetzt wird, bis die indianische Rasse ausgelöscht ist«. Ebenso sein Nachfolger McDougall: Der Krieg müsse »notwendigerweise für viele Stämme zum Ausrottungskrieg werden.« (Ebd., 139) Michael Mann weist darauf hin, dass Hitler sich nicht so offen zur Ausrottung der Juden bekannt hat wie jene Gouverneure und andere amerikanische Politiker zur Ausrottung der Indianer. »Ausrotten oder vertreiben« war der gängige Slogan vieler Siedler in Nordamerika in dieser Zeit (ebd., 140). Es ist klar, welche Folgerungen aus dieser Katastrophengeschichte der amerikanischen Demokratie zu ziehen sind: Der Gleichheitsbegriff »alle Menschen« kann nicht nur die weiße Rasse umfassen, sondern muss das meinen, was er auch sagt: »alle Menschen«. Alexis de Tocqueville hat mit seinem Buch »Die Demokratie in Amerika« von 1835 dieses Problem noch nicht breiter behandelt. Immerhin bemerkt er, dass er durch »weite Landstriche« in Nordamerika gereist sei, »die einst von mächtigen Indianerstämmen bewohnt waren, die heute untergegangen sind.« (Tocqueville: Demokratie in Amerika, Band I, Kap. 7, 82) Aber er weist hellsichtig auch schon auf andere Probleme der modernen Demokratie, nicht nur in Amerika, hin. Es ist eine gewisse »Tyrannei der Mehrheit«, die er in der neuen Demokratie ausmacht (ebd., Band I, Kap. 8, 91 ff). Und diese Tyrannei geht anders zu Werke als in den alten Tyranneien: »In den demokratischen Republiken unserer Tage geht die Tyrannei ganz anders zu Werk; sie kümmert sich nicht um den Körper und geht unmittelbar auf den Geist los. Der Machthaber sagt hier nicht mehr: ›Du denkst wie ich, oder du stirbst‹. Er sagt: ›Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten, aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird hier nicht mehr nützen‹« (Ebd., 97). Quintessenz: »geistige Freiheit ist in Amerika unbekannt.« (ebd., 98) Das ist sicher überpointiert gesagt, trifft aber doch auch eine gefährliche Tendenz der modernen Demokratien in ihrer Tendenz, diejenigen Diskurse auszugrenzen, die nicht dem mainstream des demokratischen Diskurses folgt, beziehungsweise jenen Diskurs, den die Machthaber des öffentlichen Diskurses in einer Demokratie für allein demokratiewürdig erklären. »Die Öffentlichkeit besitzt infolgedessen bei demokratischen Völkern eine eigentümliche Macht, 122 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Vermassung, Totalitarismen, politische Religionen

von der die aristokratischen Nationen sich nicht einmal eine Vorstellung machen konnten.« (Ebd., Band II, Kap. 12, 131) Es ist keine Frage, dass die wahre Demokratie auch kritische Diskurse zulassen muss, die ihr nicht lieb sind oder die nicht mit dem mainstream der Öffentlichkeit übereinstimmen. Wahre Demokratie lässt Spielraum immer auch für das Recht der abweichenden Meinung.

Vermassung, Totalitarismen, politische Religionen Das 19. und auch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts waren keine glücklichen Zeiten für Europa und die Weltgemeinschaft. Demographisch nahm die Bevölkerung in Mitteleuropa dramatisch zu, nämlich zwischen 1801 und 1911 in Deutschland von 24,5 auf 65,4 Millionen, in Großbritannien von 15,0 auf 42,9 Millionen, in Frankreich deutlich weniger von 29,4 auf 41,4 Millionen Menschen. 5 Das ging einher mit einer dramatischen Urbanisierung, auch Proletarisierung der Bevölkerung und bildete den Hintergrund für jene Theorie der Masse, wie sie Gustave le Bon in seinem Buch »Psychologie der Massen« von 1895 beschrieben hat: der Typus einer denkunfähigen und auch denkunwilligen Masse, die nach le Bon unfähig zu eigenem Urteil ist, daher anfällig für suggestive Wörter, Bilder und emotionale Rede und somit Wachs in den Händen von Diktatoren (siehe Kap. 1.1, 61 ff). Zur Entpolitisierung der Masse gehörte auch eine säkular-religiöse Aufputschung der Sprache der Politik, die bereits im Pathos des Nationalismus auftauchte und das eigene Volk wie die eigene Nation heiligte. Das begann in Deutschland bereits mit Fichtes »Reden an die deutsche Nation«, also kurz nach dem Einmarsch Napoleons nach Preußen. Im Ersten Weltkrieg reklamierten praktisch alle großen Nationen, Gottes Nation zu sein und daher politisch seinen Willen zu verkörpern, immerhin noch in Distanz des politischen Körpers der Nation zu einer transzendenten Instanz. Vor allem die beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts – der rassistische Nationalsozialismus wie der Kommunismus-Sozialismus – vereinnahmten aber dann im großen Stil säkular religiöse Rituale und heiligten ihre ›Führer‹ – http://www.deuframat.de/einfuehrung/in-einem-neuen-europa/frankreich-starkes -stueck-europa/die-bevoelkerung-von-der-poleposition-europas-zur-platzierung-immittelfeld.html

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Demokratie und Toleranz

hier Hitler, dort Marx, Lenin, Stalin, Mao u. a. – als messianische Heilsbringer und die Partei – hier die nationalsozialistische, dort die kommunistische – als eine neue Kirche, die ins »tausendjährige Reich«, bzw. ins kommunistische Paradies führen sollten. Eric Voegelin hat das bereits 1938 treffend die »politischen Religionen« genannt. Die Moderne mit ihrer rasanten Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Ökonomie – Deutschland war um 1900 der Vorreiter Europas und der Welt – führt auch zu einer Sinnkrise, die Friedrich Nietzsche mit dem Begriff des »Nihilismus« kennzeichnete, dem »Verlust der Werte«. In Deutschland führte das um 1900 zu einer regelrechten Schizophrenie: Einerseits war das Land Weltmeister in Sachen Rationalitätsentwicklung in Wissenschaft, Technik, Ökonomie, andererseits blühten gerade hierzulande die Irrationalismen (Vietta: Rationalität, 112 ff). Wir haben das Problem aber auch heute, wenn gerade in hochindustrialisierten Ländern junge Menschen sich radikalisieren auf dem linken oder rechten Spektrum oder zum IS überwechseln. Solche Sinnkrisen der Moderne im Verbund mit der ökonomisch-technischen Zivilisation schaffen Anfälligkeiten für irrationale politische Ersatzreligionen. Die beiden wichtigsten ersatzreligiösen Ideologien des ausgehenden 19., 20. Jahrhunderts leiteten ihre Macht davon ab, dass sie sich mit den Modernisierungs- und Technisierungsschüben der Rationalität verbündeten – Lenin definierte sogar den Kommunismus kurz und bündig als »Sowjetmacht plus Elektrifizierung« (Lenin: Werke, Bd. 31, 414) –, sie waren insofern Industrie-Utopien, aber begleitet von ersatzreligiösen Erlösungsversprechen, die ihrerseits ihren Führern eine beinahe gottgleiche Macht verlieh, mit der sie dann auch Millionen von Menschen in den Tod schickten. Für die Demokratien in Europa bedeutete dies aber, dass praktisch alle Vorsichtsmaßnahmen, welche die Theoretiker der Politik in der Aufklärung gegen den Machtmissbrauch schon angedacht hatten, vergessen wurden und damit eben auch jene Kontrollen der Macht wie Gewaltenteilung, Freiheit der Wahlen, Abwählbarkeit u. a. außer Kraft gesetzt bzw. nicht eingesetzt wurden. Für die Demokratien in Europa – mit Ausnahme Englands – eine Geschichte zunehmender humanitärer Katastrophen und auch zweier Weltkriege. Bekanntlich musste die Demokratie, nach schwachen Anfängen in der Weimarer Republik, nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA nach

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Wert der Demokratie

Europa re-importiert oder überhaupt erst in Mitteleuropa gepflanzt werden, um sich dann aber dort stabil zu entwickeln.

Wert der Demokratie Wenn wir abschließend noch einmal im Rahmen unserer Themenstellung nach dem Wert der Demokratie fragen und dabei die Erfahrungen der Geschichte gewichten, können wir mindestens sieben Argumente für sie ausfindig machen: Erstens: Die Demokratie entsteht mit der Ersten Aufklärung in der Antike als eine Art Entmythisierung der Vorstellung, die Götter oder ein Gott lenke die Geschichte. Der Mensch als Gattungswesen muss damit selbst ›erwachsen‹ werden und seine Politik wie Geschichte selbst verantworten. Demokratie bedeutet in diesem Sinne einen Reifungsprozess der ganzen Menschheit. Zweitens: Schon Perikles in der antiken Demokratie stellt diese selbst in den Zusammenhang einer Mündigwerdung der demokratischen Polis und auch des einzelnen Bürgers, der ja nun die Verantwortung für seine Geschicke selbst in die Hand nehmen muss, daher kulturell gebildet, gut informiert, auch persönlich gereift sein sollte. Natürlich gibt es die Ungebildetheit, Uninformiertheit und das Desinteresse vieler Wähler schon in der antiken und auch heute in den meisten modernen Demokratien, aber das hebelt ja nicht die Pflicht der Bürger aus, sich möglichst gut zu informieren und das eigene Urteil kritisch abzuwägen. Die in den vorigen Kapiteln behandelten Werte der Wahrhaftigkeit (1.2) und Kritikfähigkeit (1.3) gehören somit auch zu den Pflichtwerten einer Demokratie. Drittens: Demokratie setzt, wenn sie nach dem mündigen Bürger verlangt, auch ein gut entwickeltes Bildungssystem voraus und steht damit auch in der Pflicht, ein solches für seine Bürger zu schaffen. Mithin hat Demokratie auch die Pflicht, einen möglichst hohen Bildungsstand bei möglichst vielen Menschen sicherzustellen. Die Qualität der politischen Diskurse in der Demokratie und damit auch der Entscheidungskompetenz der Bürger hängt entscheidend davon ab (siehe Kap. 1.7). Viertens: Insbesondere die neuzeitliche Aufklärung – und hier vor allem die realistischen englischen und amerikanischen Theoretiker – hat in der Demokratie das beste System gegen den Machtmissbrauch durch Menschen gesehen und diesen vor allem durch die 125 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie und Toleranz

Gewaltenteilung und die Wähl-, bzw. Abwählbarkeit seiner Vertreter zu unterbinden versucht. Das heißt auch: Demokratie entspricht am besten den anthropologischen Schwächen des Menschen. Die idealistischen Positionen eines Rousseau wie des Kommunismus-Sozialismus haben eher unmenschliche und totalitäre Regimes in die Welt gesetzt. Die humankritischen Positionen der englischen und amerikanischen Theoretiker haben dagegen viel weniger Schaden angerichtet. Als besonders gefährlich hat sich die Theorie der Neugeburt des Menschen aus der Totalität des »Gesellschaftsvertrages« erwiesen, wie sie Rousseau und auch der Marxismus-Kommunismus vertreten haben. Diese im Grunde technische Utopie einer Neu-Konstruktion des Menschen aus dem gesellschaftlichen Verbund heraus ist so gefährlich und undemokratisch, weil sie auf eine totalitär-staatliche Steuerung der Humanität selbst hinausläuft und damit selbst inhuman ist. Fünftens: Demokratien neigen, da sie am direktesten das Interesse ihrer Bevölkerungen repräsentieren und in den meisten demokratischen Theorien auch ausdrücklich dazu verpflichtet sind, die Sicherheit und das Glück ihrer Bürger zu vertreten, zu einer friedlichen Politik. Untereinander haben Demokratien in der Moderne noch keine Kriege gegeneinander vom Zaun gebrochen, in der Antike allerdings doch, wenn wir an den Peloponnesischen Krieg denken. Sechstens: Demokratien fördern die kritische, aber friedliche Auseinandersetzung der sozialen und ethnischen Gruppen. Wichtig ist, dass solche Auseinandersetzung nicht zum Terror von Gruppen gegen Gruppen führt, wie dies in der Weimarer Republik geschah und auch linke und rechte Randgruppen der Gesellschaft dies immer wieder einführen, sondern im demokratischen Diskurs sich realisiert. Jürgen Habermas meinte, dass solche Auseinandersetzungen möglichst argumentativ und symmetrisch als »herrschaftsfreie Diskurse« ablaufen sollten. Habermas begründet das u. a. auch mit der Verlagerung der »Bürde sozialer Integration« von der Religion auf die demokratische Kommunikationsgemeinschaft: »Je mehr das kommunikative Handeln von der Religion die Bürde sozialer Integration übernimmt, um so stärker muss auch das Ideal einer unbegrenzten und unverzerrten Kommunikationsgemeinschaft empirische Wirksamkeit in der realen Kommunikationsgemeinschaft gewinnen.« (Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 147) Seitdem Habermas dies publizierte – 1981 –, haben viele Kritiker ihm widersprochen. Denn Kommunikation verläuft unter Menschen 126 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wert der Demokratie

eigentlich nie ›unverzerrt‹, ›herrschaftsfrei‹ ab. Seitdem haben auch gerade die Religionen sich als Integrationsmedien zurückgemeldet. Darauf kommen wir im Kap. 2.2 zurück. Gleichwohl macht es Sinn, Gleichheit der Bedingungen und Chancen einer Kommunikation, z. B. in den öffentlichen Medien, zu fordern und auch durchzusetzen und zudem die Religionen in Demokratien auf deren Formen festzulegen. Insbesondere für die Auseinandersetzung der verschiedenen Kulturen und Religionen, wie sie heute in den modernen demokratischen Kulturen statthat, ist solche argumentative, nicht gewaltsame Diskussionsform zu fordern und auch demokratisch-exekutiv durchzusetzen. Gleichwohl bleibt hier ein Problem, das bereits die antike Demokratietheorie des Perikles wie auch die neuzeitlichen Demokratietheorien schon thematisiert haben: dass nämlich die Demokratie auch auf einem ethischen Konsens seiner Bürger beruht, auf »ungeschriebenen Gesetzen, deren Übertretung die Verachtung aller nach sich zieht« (Perikles), also einem grundlegenden Moralkodex, den die Demokratie selbst nicht erzeugt, aber zu ihrem guten Funktionieren braucht. Wie wir sahen, schwört auch die Verfassung von Virginia die Bürger auf die »Ideale der Gerechtigkeit, Mäßigung, Enthaltsamkeit Bescheidenheit und Tugend« ein, und in gewandelter Form auch die Verfassung der USA selbst. Neuere Forschung zum Thema spricht vom »Vorpolitischen« als den »Wertgrundlagen der Demokratie«: Walter Lesch sieht in »Kultur, Moral, Religion« drei Sphären, die in unterschiedlichen Auslegungen als vorpolitische Grundlagen von Demokratien wirksam sind (Lesch: Kultur – Moral – Religion: Drei Sphären des Vorpolitischen, 89 ff). Ebenso hätte er diese drei Begriffe auch als Hauptproblemfelder der modernen Demokratien bezeichnen können. Gerade die schlimmsten Terroristen unserer Tage fühlen sich ja kulturell, moralisch, religiös gerechtfertigt, die meisten aus ihrer wahhabitisch-dschihadistischen Kultur, Moral und Religion heraus. Das Problem, um das es hier geht, hat der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde so benannt: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mit127 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Demokratie und Toleranz

teln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.« (Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit, 60) Die »moralische Substanz« des Einzelnen und die »Homogenität« der darauf beruhenden Gesellschaft ist, seit Böckenförde diesen Satz erstmals aussprach – 1964 –, eher brüchiger geworden, auch kontroverser und wird daher umso problematischer, je heterogener die Gesellschaft ist. 6 Das gerade meint ja der seitdem beklagte »Wertewandel« oder »Werteverfall«. Umso mehr aber muss Demokratie doch darauf pochen, dass jener Gewaltverzicht des Bürgers zugunsten der staatlichen Gewalt, der zu den Gründungsurkunden des modernen Staates gehört, auch eingehalten wird und damit die friedliche Diskussion oder Demonstration die einzige vertretbare Form der Meinungsäußerung seiner Bürger bleibt. Ein Krieg, wie ihn Terroristen, aber auch linke wie rechte Gruppen gegen die Demokratie und ihre exekutiven Organe immer wieder anzetteln, kann und darf eine Demokratie nicht dulden und muss solche Gewalt, wenn nicht anders möglich, auch mit Gewalt verhindern. Siebtens: Demokratien garantieren Rechtssicherheit und damit eines der wichtigsten Güter der Menschheit (siehe Kap. 1.8). Rechtssicherheit bedeutet Transparenz in Rechtsfragen und damit verlässliche Gewährleistung konkreter Rechtsnormen und Rechtspflichten in der Demokratie. Solche Rechtssicherheit garantiert, wie wir sahen, das angelsächsische Rechtssystem anders das deutsche. In jedem Falle aber soll es der Willkürherrschaft der Tyrannis vorbeugen und zur friedlichen Konfliktlösung in Demokratien beitragen. Darauf kommen wir in Kap. 1.8 zurück. Damit sind sieben Hauptmerkmale für eine Hochbewertung der Demokratie genannt. Die vielen Probleme, die mit dieser Regierungsform auch verbunden sind, werden dabei freilich nur am Rande benannt: die erwähnte Ungebildetheit, Uninformiertheit und auch das Desinteresse vieler Wähler schon in der alten und in den meisten modernen Demokratien, die Problematik einer oft schlechten Repräsentation durch Parteien und ihre Vertreter, das Problem der Korruption auch in vielen (Schein-)Demokratien, das Problem des politischen Kurzzeitgedächtnisses aufgrund der Kürze der Wahlperioden und vieles andere. 6

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Wert der Demokratie

Ein großes Problem ist ja auch mit dem Versuch der Implantation von Demokratien dort entstanden, wo vorher Tyrannen herrschten, im Irak und in Libyen zum Beispiel. Die westliche Vorstellung, dass mit der Beseitigung der Tyrannen die Demokratie einzieht, hat sich nicht so bewahrheitet wie erwartet. Vielmehr hat sich in diesen Ländern vielfach die Anarchie breitgemacht und viele Libyer wünschen sich heute den Diktator Gaddafi zurück, der immerhin die Mächte der Clans und Stämme in seinem Lande in Schach hielt, wie Saddam Hussein die Kämpfe zwischen Schiiten und Sunniten stärker kontrolliert hat, als dies nach seinem Tode möglich war. Demokratie braucht eben zu ihrem Gedeihen auch jenes Umfeld der Bedingungen, das wir genannt haben, und das ist in den genannten Ländern nicht so vorhanden, dass die Demokratie dort schon Fuß fassen könnte.

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1.5 Freiheit

Zusammenfassung (1) Mit der griechischen Antike beginnt auch die Geschichte des Wertes Freiheit. Allerdings spielt der Begriff selbst zunächst in den griechischen Freiheitskriegen und auch in der griechischen Philosophie noch keine große Rolle, wohl aber in der großen Rede des Perikles, wie sie Thukydides überliefert. (2) Aristoteles definiert dann Freiheit als eine Form von selbstbegründetem und daher auch selbstverantwortetem Handeln mit Durchblick auf die Umstände. (3) Das christliche Mittelalter ist keine Hoch-Zeit der Freiheit, sondern eine von der christlichen Religion dominierte Epoche. Ähnlich wie für Paulus bedeutet Freiheit am Ausgang des Mittelalters auch noch für Luther: ganz im Gottesglauben aufgehen. (4) Gleichwohl entstehen im Hochmittelalter im Umkreis der Stadtkultur neue Formen eines Freiheitsbewusstseins in Denken und Handeln wie die neu gegründeten Universitäten, die auf die Neuzeit vorausweisen und diese vorbereiten. (5) Das wissenschaftliche Denken der Neuzeit emanzipiert sich von der kirchlichen Vormundschaft. Die Aufklärung – so John Locke – definiert Freiheit als die Fähigkeit des Menschen zu bewusstem und selbstverantwortlichem Denken und Handeln. Kant will solche Freiheit im ›Obrigkeitsstaat‹ noch auf den »öffentlichen Gebrauch« der Vernunft eingeschränkt wissen. (6) In den »Freiheitskriegen« schon der Niederländer gegen Spanien und dann des neu erwachten Nationalbewusstseins im Kampf gegen den Hegemonialismus Napoleons spielt der Begriff der Freiheit eine zentrale handlungsmotivierende Rolle. Darauf kommen wir im Kap. 3.1 und 3.4 zurück. (7) Die moderne Philosophie – so Jean-Paul Sartre – hält am Begriff der Freiheit als Wahlfreiheit fest. Sie ist auch dort gegeben, wo der Mensch biologisch determiniert erscheint.

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Freiheit antik: Wahlfreiheit, Mut und moralische Bindung

Freiheit antik: Wahlfreiheit, Mut und moralische Bindung Neben Demokratie ist sicher Freiheit ein Hochwert der europäischen Kultur und wurde auch erfunden im Kontext mit jener. Denn Demokratie setzt ja Wahlfreiheit voraus, diese wiederum die Möglichkeit zur freien Wahl, mithin ist Freiheit die Bedingung der Möglichkeit von Demokratie und Demokratie deren Erfüllung. Es versteht sich, dass damit auch die anderen bisher genannten Werte: Eigenständiges Denken, Wahrheitsliebe, Kritikfähigkeit mit ins Boot gehören, Freiheit also in einem Kontext anderer Werte steht, die sie flankieren, und wiederum ist es Freiheit, die jene Werte erst möglich macht. Denn Freiheit bedeutet ja immer auch eine Entscheidung zwischen guten oder schlechteren Alternativen, zwischen Wahrheit und Unwahrheit, damit kritisches, nämlich unterscheidendes Denken. Wenn Freiheit ein so zentraler Begriff ist, mag es erstaunen, dass es in der griechischen Polis zunächst einmal keine große Begriffsgeschichte von Freiheit gibt. In der »Ilias« kommt weder der Begriff der Freiheit vor noch der des »Freien« (Nestle: Eleutheria, 15). Die Griechen haben zwar ihre Freiheit erkämpft, indem sie die aristokratischen Tyrannen verjagten und auch töteten, und sie haben sie auch verteidigt, indem sie die persische Satrapie mit ihren Untertanenritualen zurückschlugen und die Perser aus Griechenland vertrieben. Bei Herodot, der dieses ja ausführlich berichtet, spielt der Begriff der Freiheit selbst aber noch keine größere Rolle, auch wenn es bereits zentral um griechische Freiheit ging. Allerdings war es Herodot schon bewusst, dass es beim Kampf gegen die Perser um Freisein oder Knechtschaft ging. Vor der Herrschaft der Perser über die Griechen seien diese »frei« (»eleutheroi«) gewesen (Herodot: Historien I, 6). So trägt in der bereits zitierten sogenannten »Verfassungsdebatte«, in der nach Herodot auch am persischen Hof um die beste Staatsform gestritten wird, der Verteidiger der Demokratie, Otanes, für die Demokratie zwar das Argument der »Gleichheit vor dem Gesetz« vor (Herodot: Historien III, Kap. 80, 437), aber nicht das Argument der Freiheit. Die Debatte steht ja ohnehin eher im Zeichen einer Abwertung der Demokratie zugunsten der Monarchie. Einzelne Forscher, so Max Pohlenz, vertreten zwar die Meinung, Herodot habe seine Darstellung des Perserkrieges unter den Leitstern des Freiheitskampfes gestellt, aber andere, so Dieter Nestle, halten das für eine »Ideologisierung« (Nestle: Eleutheria, 51). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die große begriffs131 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit

geschichtliche Studie zum griechischen Freiheitsbegriff von Kurt Raaflaub: Die »bisher gemeinhin für selbstverständlich gehaltene Annahme, der gegen die Tyrannis gerichtete Freiheitsbegriff sei bereits im 6. Jahrhundert konzipiert worden, ist deshalb dokumentarisch überhaupt nicht gestützt und der Sache nach durchaus fragwürdig.« (Raaflaub: Die Entdeckung der Freiheit, 110) Eine zentrale Rolle spielt der Begriff der Freiheit allerdings bei Thukydides in der im vorigen Kapitel zitierten Rede des Perikles. Diese Rede hebt auch als Leistung der Demokratie die Gleichheit der Vollbürger vor dem Gesetz hervor, dazu die Freiheit der Bürger, sich ihr Leben in dieser Staatsform angenehm gestalten zu können. Allerdings verbindet Perikles dies auch mit der Bürgerpflicht, sich für den Staat zu engagieren. Perikles betont sogar in dieser Grabrede zu Beginn des Peloponnesischen Krieges, dass die freiheitlich geleistete Wehrbereitschaft höher zu werten sei als die zwangsweise erbrachte. Er ehrt die Toten, die dabei ihr Leben ließen. Und er formuliert diese Sätze: »Diese Männer seien euer Vorbild! Begreifet, daß das Glück Freiheit, die Freiheit Mannhaftigkeit ist, und scheut euch nicht vor den Gefahren des Krieges« (Thukydides: Peloponnesischer Krieg II, Kap. 43). Die enge Koppelung von kriegerischem Mut, Glück und Freiheit ist natürlich auch Ausdruck der kritischen Lage der Polis Athen, die ja im begonnenen Krieg mit Sparta ihre Freiheit wehrhaft verteidigen musste, diese aber am Ende verlor durch ihre militärischen Niederlagen. Viele Athener Bürger gerieten im verheerenden sizilianischen Abenteuer 413 v. Chr. in Kriegsgefangenschaft und Sklaverei, hatten also ihre Freiheit verloren. Der Begriff Freiheit – eleutheria – definiert sich in der griechischen Sprache als Gegenbegriff zu Sklaverei, und genau in diese gerieten viele Männer Athens im Peloponnesischen Krieg. Sie mussten als Sklaven in den Steinbrüchen bei Syrakus ihr Leben enden. Wenn Freiheit sich so in der griechischen Polis als Unabhängigkeit von Fremdherrschaft und verantwortliche Selbstbestimmung des Bürgers definiert, und damit auch das Moment des Mutes und der Wehrhaftigkeit in der Verteidigung solcher Freiheit zu ihr gehört, ruft Perikles in seiner letzten Rede seinen Landsleuten auch zu, dass Athen selbst bereits eine tyrannische Macht für andere Stadtstaaten Griechenlands geworden ist. Diese Rolle aber nun preiszugeben sei gefährlich: »[…] eure Stellung ist bereits die einer Tyrannis geworden, die in Besitz zu nehmen vielleicht ungerecht war, die aber wieder 132 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit antik: Wahlfreiheit, Mut und moralische Bindung

preiszugeben gefährlich wäre.« (Thukydides, Buch II, Kap. 63) Dass Athen im Peloponnesischen Krieg tatsächlich seine hegemoniale Stellung verlor, lag auch am Hass der unterdrückten griechischen Völker gegen den Hegemon, und es lag sicher auch an massiven Fehleinschätzungen der Kriegslage durch den Athener Demos vor und während des Krieges, also auch an einem Mangel an Informiertheit und kritischem Denken in der Athener Demokratie. In der griechische Philosophie ereignete sich etwas Ähnliches wie in den Perserkriegen: Es ging auch hier um Freiheit, ohne dass der Begriff groß thematisiert wurde. Dabei war die erste Aufklärung in der griechischen Philosophie bereits ein mutiger Schritt in eine neue Freiheit des Denkens. Er bedeutet ja die Überwindung des mythischen Denkens und damit auch die Befreiung von den Zwängen des Mythos. Zwar kleidet die vorsokratische Philosophie eines Parmenides seine Philosophie noch in ein mythisches Gewand in der Form einer Auffahrt zur Göttin der Gerechtigkeit, um bei ihr, Dike, die Wahrheit über das Sein zu erfahren. Der richtige Weg zur Wahrheit zeigt sich aber nun in diesem philosophischen Gedicht nicht mehr – und das ist neu – in der göttlichen Offenbarung, sondern im Denken des Menschen. Die neue Argumentationslinie ist die des Logos. Parmenides macht klar, dass wir, um die Wahrheit zu finden, »mit dem Verstande prüfen müssen« (»krinai de logoi«, Diels: Fragmente der Vorsokratiker, Fragment 1). Ergebnis: Der richtige Weg der Erkenntnis kann nur mit dem richtigen Gebrauch des Logos bzw. der Vernunft (nous) gefunden werden. Der menschliche Geist kann, aber muss auch die Wahrheit selbst auffinden. Dies wiederum geht nur mit dem richtigen Gebrauch der Vernunft, also in der Freiheit des menschlichen Geistes, der auf sich gestellt den Weg finden muss zwischen dem wahren und dem falschen Weg zur Erkenntnis des Seins. Und wie in der Philosophie, so auch im antiken Drama. In vielen der Mythen herrscht ja ein Generationengeschick, das dem Menschen gar keine eigene Freiheit der Entscheidung lässt, sondern ihn einbindet in ein zwanghaftes Geschehen, das er auf tragische Weise erfüllen muss. Der unwissende Ödipus muss, wie es seinem Vater Laios im Orakel verkündet wurde, seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Als er sein eigenes vorbestimmtes Missgeschick, das auch eine Strafe der Götter für eine Schuld seines Vaters ist, erfährt, blendet er sich selbst. Er, der von seinen Eltern ausgesetzt war und als Jüngling ahnungslos seine Taten vollbrachte, hatte also eigentlich nie eine 133 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit

Chance, anders zu handeln und sich so von dem Fluch zu befreien. Die einzige Freiheit, die er hatte, war, sein eigenes zwanghaftes Schicksal zu erkennen und damit auch am Ende den Mörder seines eigenen Vaters und Ehemann seiner eigenen Mutter ausfindig zu machen und für diese Taten zu bestrafen: sich selbst. Als Ödipus sehend geworden ist, blendet er sich und verlässt die Stadt, die daraufhin auch von der Pest, die sie befallen hat, gesundet. Das Schicksal des Ödipus ist tragisch, weil der Protagonist Stück für Stück erkennen muss, dass alles, was er glaubte, frei getan zu haben, unfrei getan wurde, in Erfüllung eines schrecklichen mythischen Zwangs so geschehen musste. In der Orestie des Aischylos herrscht ebenfalls ein fataler Fluch, hier über dem Geschlecht der Atriden. Als der Atride und griechische Heerführer Agamemnon aus der Schlacht von Troja nach Hause zurückkehrt, erschlägt ihn seine Frau Klytaimestra mit Hilfe ihres Geliebten Aigisthos in der Badewanne, wird für diesen Mord von ihrem Sohn Orest erstochen, und dieser Muttermord könnte auch wieder in eine neue Orgie der Gewalt führen, wenn nicht die rationale Göttin Athene selbst dem Kreislauf von Morden und Gemordetwerden in der Form eines Gerichtsprozesses ein Ende setzen würde. Das geht übrigens einher mit der Entmachtung des Mutterrechts, als deren Anwältinnen die schrecklichen Erinnyen auftreten. So führt das Drama im Theater selbst zur Befreiung vom mythischen Zwang, Blut mit Blut zu rächen, und überführt den Mythos in die Freiheit einer rationalen Entscheidung, vom Mythos zum Logos. Von den großen griechischen Philosophen hat Platon den Begriff Freiheit zwar nicht als zentralen Begriff thematisiert, aber mittelbar doch, in der Möglichkeit der Wahlfreiheit zum Guten, wie das mehrere Dialoge ausführen, u. a. der frühe Dialog »Protagoras«. Dagegen hat Aristoteles den Begriff nachdrücklich thematisiert und dabei auch das Entscheidende herausgearbeitet: Freiheit ist Wahlfreiheit zwischen Alternativen, zwischen Gut und Böse. Freiheit wird damit selbst zu einer zentralen politischen Kategorie, wenn denn der Mensch nach Aristoteles wesentlich ein »politisches Lebewesen«, »zoon politikon«, ist. Aristoteles definiert Freiheit als eine Form des Handeln-Könnens nach eigener Maßgabe des Handelnden: »Da unfreiwillig ist, was aus Zwang oder Unwissenheit geschieht, so möchte freiwillig sein, dessen Prinzip in dem Handelnden ist und zwar so, daß er auch die einzelnen Umstände der Handlung kennt.« (Aristoteles: Niko134 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit antik: Wahlfreiheit, Mut und moralische Bindung

machische Ethik, 1111a, 48) Zwei Bedingungen also nennt Aristoteles für Freiheit: Erstens muss der Handelnde aus sich heraus tätig sein (»Prinzip in dem Handelnden«) und also nicht unter Zwang eines anderen oder einer anderen Macht als ihm selbst. Und zweitens sollte der Handelnde dabei die »Umstände der Handlung« kennen, also nicht blind agieren. Freiheit ist demnach eine Form von selbstbegründetem und daher auch selbstverantwortetem Denken und Handeln mit Durchblick auf die Umstände. Unter welchen Bedingungen aber vermag der Handelnde richtig zu handeln? Aristoteles geht davon aus, dass es unterschiedliche Seelenteile gibt, einen »vernunftbegabten und einen unvernünftigen« (ebd., 1139a). »Prinzip des Handelns« ist es nun, wenn hier »Begehren« (»orexis«) und »Denken« zusammenstimmen: »Darum gibt es keine Willenswahl ohne Verstand und Denken.« (Ebd.) Aber wie steht es mit der Wahlfreiheit dabei? In seiner »Metaphysik« behandelt Aristoteles das Thema, und zwar in einer Weise, dass eben auch die Wahlentscheidung zwischen Gut und Böse im Denken des Handelnden liegt. Denn eine Alternative muss es ja geben, wenn Freiheit Wahlfreiheit ist: »Denn das Wahre und das Falsche liegt nicht in den Dingen, so dass etwa das Gute wahr und das Böse sogleich falsch wäre, sondern im Denken.« (Aristoteles: Metaphysik 1027b) Damit übernimmt der Mensch auch anthropologisch vollends die Verantwortung für sein Handeln, er wird »autonom« (»autonomos«), wie ein verwandter griechischer Begriff lautet. Nicht ein böser Geist oder Dämon ist für unser gutes oder schlechtes Handeln als Menschen verantwortlich, sondern der Mensch selbst, und hier der vernünftige Teil in ihm. Anthropologisch gesehen betritt das griechische Denken mit dieser Erkenntnis der rationalen Selbst-Verantwortung des Menschen für sein Handeln eine neue Stufe auch seiner Verantwortung für die Geschichte. Der Mensch kann nach Aristoteles frei handeln, denn das »Prinzip« des Handelns liegt in ihm selbst, auch das Gute wie das Böse seines Handelns, und dies mittels jenes Denkvermögens, das es ihm ermöglicht, seine Freiheit der Wahl auf das Gute zu richten oder auf das Böse, was immer dieses sei. Das heißt nicht, dass es nicht Menschen gibt, die nach wie vor zwanghaft handeln und somit unfrei, aber prinzipiell – so die Einsicht der griechischen Philosophen – ist der Mensch das in Freiheit gesetzte Wesen, das selbst über sich und sein Handeln entscheiden kann, und gerade deshalb sind auch Philosophie und Bildung nötig, um ihn zum Guten, nicht zum Bösen anzuleiten. 135 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit

Freiheit mittelalterlich Das Mittelalter mit seiner Herrschaft von Königen und Kaisern »von Gottes Gnaden« unter der alles durchdringenden Macht der Kirchenfürsten als Anwälten des Himmelsreiches auf Erden war keine große Epoche der Freiheit. Paulus hatte Freiheit als Präsenz des Geistes des Herrn definiert: »Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.« (2 Kor. 3, 17) Viel Spielraum für den Menschen und sein Denken und Wollen gab es da nicht mehr. Umso bemerkenswerter, wie sich bereits im Mittelalter ein neues freiheitliches Denken formierte, das zum neuzeitlichen Begriff von Freiheit führte. Ort dieser Neugeburt von Freiheit im Mittelalter war die Stadt. Zwar ist der Satz »Stadtluft macht frei« kein mittelalterlicher Satz, sondern eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, beschreibt aber eine Tendenz der Zeit richtig. »Die Stadt war eine Rechtsform und ein Lebensstil; beide zeitigten neue Mentalitäten unter den verschiedenen Ständen der Bürger und Stadtbewohner. […] Ein charakteristisches Gleichheitsdenken waltete in der Bürgerschaft; doch neuartige gesellschaftliche Aufstiegschancen sorgten für erheblichen sozialen Druck und eine entsprechende Veränderungsdynamik, wenn sich auch im Laufe des späteren Mittelalters die ständischen Grenzen innerhalb der städtischen Gesellschaft verfestigten.« (Fried: Das Mittelalter, 196) Es versteht sich, dass unter solchen Bedingungen auch ein neues Bedürfnis nach Freiheit, Unabhängigkeit, auch Gerechtigkeit entstand: »Freiheit wurde gerade in der Stadt ein dringliches, unabdingbares Bedürfnis, um dem Unternehmungsgeist keine Schranken zu setzen und wirtschaftliches Risiko erträglich zu halten. Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit hießen von Beginn an die zentralen Forderungen der gesamten Kommunebewegung.« (Ebd. 194) Zum Schutz und zur Sicherheit der Bürger und ihrem Handel wurden nun Markt- Zollfreiheits- wie Gerichtsrechte an die Städte verliehen und damit ihre Selbständigkeit – Autonomie – gestärkt, wenn auch immer noch in Abhängigkeit von weltlichen und Kirchenfürsten (siehe auch Kap. 1, 8, 202 ff). Vor allem eine städtische Neugründung war für das europäische Freiheits-Denken von zentraler Bedeutung, die Gründung der Universität (dazu: Denifle: Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400; Ellwein: Die deutsche Universität). Die Erfindung der Universität, wie sie im 13. Jahrhundert entstand, ist das Produkt eines neuen städtischen Selbstbewusstseins 136 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit mittelalterlich

und ihrer Korporationen. Sie ist auch das Produkt der Erneuerung der antiken Rationalität im mitteleuropäischen Kulturraum des christlichen Glaubens und unter seiner Dominanz. Mit ihrer Gründung meldet sich ein neuer Entwicklungsstand des geistigen Studiums zu Wort, der in den bis dahin bestimmenden Kloster- und Domschulen mit ihren introvertierten Gebetszirkeln nicht mehr befriedigt werden konnte. Es sind zunächst vor allem städtische Kleriker, die sich zur neuen Korporationsform eines studium generale zusammenschließen. Von ihren Anfängen an ist die europäische Universität eine Organisation der westeuropäischen Christenheit. Daher ist auch die Anerkennung des Papstes für ihren offiziellen Status zunächst außerordentlich wichtig. Die neue Institution der Universität – so die von Paris – siedelte sich auch im Umfeld der Kathedrale an. Lehre und Wissenschaft haben hier zunächst den Status einer kirchlichen Wissenschaft und Lehre. Die Philosophie blieb »Magd der Theologie« (»ancilla theologiae«). Im Bannkreis der Kirche und ihrer GlaubensZentrierung entsteht aber die neue europäische Universität auch als ein neuer Freiheitsraum des Denkens, der letztlich die Fesseln der kirchlichen Vormundschaft sprengte. Mit dem in den Universitäten entwickelten freieren Denken beginnt aber auch eine Epoche geistiger Kämpfe. Die Hauptkampflinie im hohen Mittelalter verläuft zwischen augustinisch denkenden Theologen und dem neuen über die arabische Kultur vermittelten Aristotelismus. »Ab 1210 ist das Lehren der Physik und Metaphysik des Aristoteles an der Universität Paris verboten. 1215 und 1228 wird das Verbot vom Heiligen Stuhl erneuert. Doch ab ihrer Gründung im Jahre 1229 kündigt die sehr orthodoxe Universität von Toulouse, um Kundschaft anzuziehen, an, dass die in Paris verbotenen Bücher an ihr gelehrt werden. In Wahrheit bestehen die Verbote in Paris nur auf dem Papier« (Le Goff: Die Intellektuellen im Mittelalter, 118). Gleichwohl wird die Vermittlung von christlicher Glaubensbotschaft mit der antiken Vernunft- und der Naturlehre des Aristoteles zum eigentlichen Programm der mittelalterlichen Theologie von Anselm von Canterbury über Albertus Magnus, Thomas von Aquin bis hin zu Roger Bacon, Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, um die wichtigsten Theologen des Mittelalters zu nennen. Wichtig für die Hochscholastik ist die Einheit der Wahrheit, Einheit auch von Vernunft und Glauben, die nach Thomas von Aquin nur unterschiedliche Zugangsformen zur selben Wahrheit bilden, mit Priorität allerdings der Theologie vor der Philosophie. 137 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit

Auf diesem Weg dringt aber die Freiheit des Denkens auch in die inneren Zonen der christlichen Glaubenslehre ein. Die mittelalterliche Theologie ist der Versuch der rationalen Vermittlung von beiden. Im Spätmittelalter aber brechen Theologie und Philosophie in der neu gewonnenen Freiheit des Denkens in zwei Formen der Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung auseinander: einerseits im Glauben und durch ihn, andererseits in der Zuwendung der Philosophie und der Wissenschaften zur Empirie und damit zur Diesseitigkeit der Welt. So beginnt denn am Ende des Mittelalters zugleich auch jener Prozess der Neuzeit, der nicht mehr auf die theologische Integration alles Wissens aus ist, sondern auf die differenzierte Abgrenzung von Theologie, Naturphilosophie und Erkenntnistheorie. Bereits im 13. Jahrhundert – während der Zeit des Exils der Päpste in Avignon – zerfällt so die mittelalterliche Einheit von Kirche und Universität. Die deutschen Universitätsgründungen: Prag, Wien und Heidelberg im 14. Jahrhundert und im 15. Jahrhundert Leipzig, Rostock, Greifswald, Freiburg, Ingolstadt und Tübingen sind ausnahmslos Gründungen der Landesfürsten, die sich damit der kirchlichen Oberhoheit bereits zu entziehen suchen (siehe Kap. 1.8, 203 f). Der Kampf der Universitäten um Autonomie und Selbstbestimmung sowohl gegen die Kirche als auch gegen die weltlichen Gewalten sollte noch lange währen. Immerhin hatte sich die Universität von Paris in blutigen Unruhen im Kampf mit der königlichen Polizei und nicht zuletzt durch den entschlossenen Auszug der Universität aus Paris nach Orléans bereits 1229 die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit durch den König Ludwig den Heiligen erkämpft. Die Selbstbestimmung des Denkens – dieser zentrale europäische Wert – erkämpfte sich im Europa des Mittelalters in der Form der Universität erneut Geltung, wurde aber auch im Europa der Neuzeit immer und immer erneut in dem Maße zurückgedrängt, wie sich die europäische Politik gerade auch in der Neuzeit totalitären Denkformen anpasste. Die neue Universität ist lehr- und lernbezogen: Nicht mehr die Heilige Schrift, sondern die dialektische Auseinandersetzung damit, die theologische Erörterung und Darlegung stehen nun im Mittelpunkt einer Theologie bzw. Philosophie, die sich natürlich an der Offenbarung orientieren, diese aber zunehmend überformen durch den kritisch-rationalen Diskurs in der Form der Vorlesung und der disputatio und den daraus erwachsenden Publikationen. Die Hochscholastik ist ein Zeitalter der rationalen Durchdringung des Glau138 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Der Freiheitskampf des Abaelard und der Heloise

bens, der Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarung, in der eben zunehmend der Vernunftdiskurs die Offenbarung überlagert. Transportmedium solcher geistigen Entwicklung und solchen Mentalitätswandels in Europa ist das Medium Buch, das zugleich einen kritischen Diskurs festschreibt und fortsetzt, der vom Mittelalter über die Renaissance in die Aufklärung übergeht und so die universitäre Kultur Europas bis in die Gegenwart zu einem heute globalen fortlaufenden Denk- und Schreibprozess transformiert. Dieser scheint allerdings in unseren Tagen durch die Entwicklung des Internets neu formatiert zu werden.

Der Freiheitskampf des Abaelard und der Heloise An keinem anderen Denker des Mittelalters ist der neue freiheitliche Denkstil besser zu illustrieren als an dem mittelalterlichen Philosophen Petrus Abelardus. Sein Fall ist auch heute noch von Interesse, weil einigen gegenwärtigen Weltreligionen noch genau die Prüfung bevorsteht, die er an der Heiligen Schrift vornahm. Denn Abaelard hatte eine neue Methode des Denkens erfunden, die dialektisch-kritische Prüfung der Heiligen Schrift. Der Text »Ja und Nein«, entstanden ungefähr 1122 in St. Denis, stellt verschiedene Stellen der Bibel gegeneinander, die sich zu widersprechen scheinen. Abaelard will darum den Glauben nicht unterminieren oder unglaubhaft machen, wohl aber prüfen und sortieren, um welche Formen von Widersprüchen es sich dabei handelt. Handelt es sich um bloße Äquivalenzen der Wortlaute (»voces«) bei verschiedenen Bedeutungsgehalten? Kommt es zu Missverständnissen, weil den Autoritäten falsche Texte untergeschoben worden sind? Ist ein Ausdruck vielleicht nur aus seiner Zeit heraus so gebraucht worden und muss daher in seiner Bedeutung relativiert werden? Oder liegt tatsächlich ein manifester Widerspruch (»manifesta controversia«) vor? Im letzteren Falle entscheidet allerdings nicht mehr die Dialektik, sondern die Autorität der Heiligen Schrift. Ein solches Verfahren der kritischen Lektüre der Heiligen Schrift wäre für das frühmittelalterliche Denken noch undenkbar gewesen und ist es für viele Prediger des Islam in Bezug auf den Koran noch heute. Es geht hier um ein Verfahren einer kritischen Gegenüberstellung von Begriffen und Sätzen der »Heiligen Schrift«, eine kritische Argumentation von pro und contra, in der sich eine neue Freiheit des Geistes im Umgang mit den kanonischen 139 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit

Texten offenbart. Abaelards Denken markiert hier eine neue Position, insofern er eine neue Form der kritischen Erkenntnistheorie begründet, die letztendlich in der Tat den Glaubensanspruch relativiert hat. Zudem führt Abaelard in seiner Trinitätslehre auch eine Argumentation in die theologische Diskussion ein, die eine Prioritätsverschiebung bedeutet. In seiner Schrift über die göttliche Einheit und Dreieinigkeit stützt sich Abaelard nämlich nicht einfach auf die Autorität der Heiligen Schrift und der Kirchenväter, sondern wesentlich auch auf die platonische Philosophie. Explizit behauptet Abaelard, der heidnische Philosoph hätte diese ›Abstammung von Gott‹ »um vieles deutlicher als die Propheten« erkannt. »Angemessener als jene mit ›Wort‹ bezeichnet Plato die Vernunft oder die Weisheit Gottes mit ›Geist/Bewusstsein‹ (mens).« (Abaelard: Tract. de unitate III, 2, 248) Man braucht hier nicht im Einzelnen die komplizierte Trinitätslehre des Abaelard zu diskutieren, um zu sehen, dass er in der Tat eine Umbesetzung des freien Denkens vornimmt: Weg von der Autorität der Propheten hin zur Autorität der Philosophie, die nach Abaelard besser taugt, die Selbstaussage Jesu Christi zu interpretieren: »Den Worten der Philosophen zustimmend, nennt sich Christus der Herr trefflich eher ›Sohn Gottes‹ als ›Wort‹.« (Abaelard: Tract. de unitate III, 2, 255) Man sieht und hört: Das freiere Denken emanzipiert sich von der Offenbarung der Heiligen Schrift. Abaelards Feinde aber waren auch nicht müßig. Sie zeigten sich von solchen freiheitlichen Denkfiguren und Inhalten tief alarmiert. Sie hielten Abaelard für einen eitlen und auch neuerungssüchtigen Professor, der partiell nicht einmal richtig disputiere, sondern nur rumspinne: »Isto non disputante, sed dementante«. Im Grunde geht es bei solchen Vorwürfen auch um einen Krieg der Priesterkaste gegen ein neues, kritisch-dialektisches Denken eines neuen Typus: des mittelalterlichen Intellektuellen. Für Bernhard von Clairvaux, einer der mächtigsten Männer der Kirche in jener Zeit, ist das nur eitles »Geschwätz«. Aber es ist kein Zweifel, dass mit Männern wie Abaelard eine neue freiere Intellektualität in die Theologie eindringt. Der große Mediävist Jacques Le Goff sieht Abaelard in einem epochengeschichtlichen Rahmen: »Er ist – im Rahmen der Neuzeitlichkeit des 12. Jahrhunderts – der erste große neuzeitliche Intellektuelle, der erste Professor.« (Le Goff: Die Intellektuellen im Mittelalter, 40) Und noch eine andere Geschichte der Freiheit beginnt mit Abaelard: die Geschichte der modernen Liebe und der modernen Frau. Um 1114 arbeitet Abaelard als Kanonikus und Lehrer der Logik 140 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Der Freiheitskampf des Abaelard und der Heloise

an der Schule von Notre-Dame in Paris. In dieser Zeit kommt ein anderer Kanonikus mit Namen Fulbert zu ihm und bittet ihn, seine junge Nichte Heloisa zu unterrichten. Das war für die Zeit durchaus ungewöhnlich. Abaelard führt die junge Dame im Privatunterricht ein in die Lektüre der Bibel, aber auch der Philosophie und – ganz ungewöhnlich – er liest mit der jungen Frau auch die Liebesschrift von Ovid, die »Ars amatoria«. Irgendwann bei der Lektüre muss dann das literarische Studium in das der Natur übergegangen sein und das auch mit voller Absicht des Lehrers: »Unter dem Deckmantel der Unterweisung gaben wir uns ganz der Liebe hin […]« (Abaelard: Der Briefwechsel, Brief 1, 16). Die so begonnene Liebesbeziehung zwischen Lehrer und Schülerin bleibt nicht ohne Folgen: Heloisa wird schwanger. In Abwesenheit Fulberts bringt Abaelard seine als Nonne verkleidete Geliebte in die Bretagne. Dort gebiert sie einen Sohn, genannt Astrolabus. Als Abaelard nun auch noch vor der Heirat mit der Mutter seines Kindes zurückschreckt, weil er befürchtet, die Heirat könne seine Dozentenkarriere hemmen und ihn zum Gespött der Schulwelt machen, muss dem Oheim Fulbert, dessen Schmerz und »Raserei« Abaelard in seiner Autobiographie eingehend schildert, der Geduldsfaden gerissen sein. Er überfällt Abaelard bei Nacht mit einem Trupp Männer und lässt ihn kastrieren, was Abaelard retrospektiv selbstkritisch so kommentiert: »Wie gerecht war Gottes Strafe, die mich an dem Teil meines Körpers schlug, mit dem ich gesündigt hatte!« (Ebd. Brief 1, 24). Erst jetzt entwickelt sich eine ganz andere Liebe zwischen Abaelard und Heloisa, die zeitlebens anhalten wird und die Legende einer geistig-seelischen Liebe zwischen Abaelard und Heloisa im Mittelalter begründet hat. Denn auch eine Frau tritt hier mit ihrem Denken in eine neue Dimension der Freiheit ein: Heloisa drängt den »innig geliebten Mann«, seine Liebe in Worten festzuhalten und so zu verewigen. Dabei finden sich in ihren Briefen ganz außergewöhnliche Stellen einer weiblichen Emotionalität, die sich auch über die Gebote der Kirche stellt: Ihr Geliebter sei ihr »Schuldner allezeit« und dies umso mehr, »als ich dich allezeit – wie aller Welt offenbar ist – mit grenzenlosen Liebe umfaßt habe« (Ebd. Brief 2, 63). An ihn, der fern von ihr weilt, schreibt sie, »du allein magst auch meines Trostes Gnade sein. Du allein kannst mich elend machen, du nur mich erfreuen und trösten.« (Ebd., 64) Wohlgemerkt: nicht Jesus Christus, sondern der »innig geliebte Mann«. Und so beschwört sie ihn: »Höre, worum ich 141 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit

dich bitte, ich beschwöre dich! […] Da ich nun einmal deiner Gegenwart beraubt bin, so laß doch in Worten der Liebe, die dir in Fülle zu Gebote stehen, dein süßes Bild in mir einkehren!« (Ebd., 67) Und sie weiß dabei auch, dass sie mit ihrer Bitte Gottes Gnade nicht erwirken kann: »Denn von Gott darf ich dafür keinen Lohn erwarten, da ich nichts aus Liebe zu ihm bisher getan habe; […] Lebe wohl, du mein Ein und Alles!« (Ebd., 67 und 69) Eine solche Grenzüberschreitung in ein neues, von der Religion wie der Kirche sich emanzipierendes Denken und Fühlen, wie es Heloisa hier vornimmt, ist im Mittelalter allerdings einmalig, aber ist doch der Vorschein einer europäischen Emanzipation der Frau und ihrer Gefühlswelt. Heloisa hat im frühen 12. Jahrhundert etwas vorweggenommen, was es erst wieder im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa geben wird und in Ländern wie Indien und vielen Ländern des Islam bis heute nicht gibt: die freie Willensentscheidung der Frau über ihr Gefühlsleben und dies auch in Abhebung von den religiösen und traditionellen Normen und Werten. Vielen Frauen in den orthodox muslimischen wie auch hinduistischen Staaten steht diese Emanzipation in die Freiheit der eigenen Wahlentscheidung in Gefühlsdingen noch bevor.

Protestantische Freiheit Am Anfang der Neuzeit wurde ein Deutscher, Martin Luther, zum Vorkämpfer einer neuen Form der Freiheit in Abkoppelung von den Zwängen der katholischen Kirche und der römischen Kurie. Die Kampfansage gegen die Kirche bedeutete Stärkung der regionalen Fürsten und Länder, zugleich aber Stärkung des neuzeitlichen Individualismus (siehe das folgende Kap. 1.6) und auch Stärkung der Nationen (siehe Kap. 3.4). Denn Luther appelliert nicht nur an die Heilige Schrift, sondern auch an das Nationalbewusstsein, wenn er dem christlichen Adel deutscher Nation kritisch vor Augen hält: »Ich bin der Ansicht, daß Deutschland jetzt weit mehr gen Rom gibt dem Papst denn vorzeiten den Kaisern.« (Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation, 26) Zunächst einmal muss man sich vergegenwärtigen, dass für »die religiösen Überlieferungen des Alten und Neuen Testaments […] die kognitive und ethische Entscheidungsfähigkeit des moralischen Subjekts hier kein Thema ist.« (Hamm: Freiheit, 197) Freiheit war aber 142 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Protestantische Freiheit

ein Thema in der griechischen Antike. Und hier wurde bereits erkannt, dass Freiheit einerseits bedeutet: Freiheit von fremden Zwängen, die die eigene Willensentscheidung ungebührlich einschränken, und andererseits: Freiheit für dieses eigene Wollen selbst, also Freiheit von etwas und Freiheit für etwas. Eine Hauptbremse für eigene Willensentscheidungen im Mittelalter aber war die Kirche und die auf ihr begründete Macht. Das Szenario der Kurie in Rom stellt nun Luther in seiner Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation« von 1520 nur noch als eine gewaltige Ausbeutungsmaschine dar, die bereits das Nachbarland, »Welschland« ausgeblutet habe und nun auch daran ging, die deutschen Länder auszusaugen: »O edle Fürsten und Herrscher, wie lang wollt ihre euer Land und Leute solchen reißenden Wölfen offen und frei lassen!« (Luther: Adelsschrift, 31) Und in der Tat regierten in Rom ein Papst und eine Kurie, die für alle möglichen religiösen Tätigkeiten Geld kassierten: »Zuletzt hat der Papst für alle diese edlen Händel ein eigen Kaufhaus aufgerichtet, das ist des Datarius Haus zu Rom.« (Ebd., 36) Luthers Thesenanschlag 1517, seine Vernehmung durch den Kardinal Cajetan im Oktober 1518, die ebenso wenig zum Widerruf führte wie die Leipziger Disputation mit J. Eck im Jahre 1519, seine Verbrennung der Bannbulle aus Rom waren Schritte zu eben jenem faktischen Bruch mit der römischen Kirche, den Luther nicht gewollt hatte, der sich aber nun im Kontext einer Erstarkung der Länder und Länderfürsten, an die sich ja auch die Kampfschrift »An den christlichen Adel deutscher Nation« von 1520 richtete, zwangsläufig vollzog. Das war zugleich das Ende des christlichen Mittelalters und der christlichen Einheitskirche Westeuropas und die Begründung eines frühneuzeitlichen Protestantismus als einer Kette von Abspaltungsbewegungen. Luthers eigener Begriff von Freiheit war einerseits noch ganz mittelalterlich geprägt, insofern er die »Freiheit eines Christenmenschen« allein auf dem »Glauben« beruhen lässt und darin verankert: »Das ist die christliche Freiheit, der bloße Glaube, der da macht, nicht daß wir müßig gehen oder übel tun können, sondern daß wir keines Werks bedürfen, um Frommsein und Seligkeit zu erlangen.« (Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: Adelsschrift, 122 f) Ähnlich wie für Paulus bedeutet Freiheit für den Menschen: allein und ganz im Gottesglauben eingebettet sein. Luther greift da sogar auf die Sprache der mittelalterlichen Mystik zurück: Freiheit eines 143 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit

Christenmenschen ist, wenn »die Seele mit Christo wie eine Braut mit ihrem Bräutigam« vereint sei (ebd.). Andererseits: Der Glaube kommt letztlich zur Seele als »Gnade« Gottes (Ebd., 135) und diese nicht mehr über die Vermittlung der katholischen Kirche, sondern allein durch das biblische Wort: »Die Seele (hat) kein ander Ding, weder im Himmel noch auf Erden, darin sie lebe, fromm, frei und christlich sei, denn das heilige Evangelium, das Wort Gottes, von Christo gepredigt […]« (ebd., 118). Diese Freiheit über Gnade, Glaube und allein durch das Bibel-Wort löst sich so von der alten Bindung an die Kirche und begründet damit eine neue Freiheit des Menschen von deren Normen und Werten. Und mehr noch: Luther begründet alle christlichen Werte wie Nächstenliebe, gute Werke nun auch allein auf dem Glauben, als sein direkter Ausfluss. Damit löst Luther den Menschen zwar von den Fesseln der katholischen Kirche, fesselt aber, so kann man sagen, den »Christenmenschen« mehr denn je an den Glauben als alleiniges Heil des Menschen und seiner Freiheit. Und: Damit entfesselt Luther zugleich auch eine neue Form der Religionskriege, wie sie Europa bisher so nicht erlebt hatte.

Freiheit in der Neuzeit: Philosophie und Wissenschaft Nach den schrecklichen Religionskriegen des 17. Jahrhunderts in Europa plädiert die Aufklärung für eine Eindämmung der Religion und für die Selbststeuerung der menschlichen Vernunft, also deren Befreiung aus den Banden der Religion. Auf diesem Wege beginnt die Zweite, die neuzeitliche Aufklärung wieder den Freiheitsbegriff dort anzusiedeln, wohin ihn bereits Aristoteles in der Ersten Aufklärung platziert hatte: In den Bereich der menschlichen Entscheidungsfähigkeit, des menschlichen Verstandes, der Rationalität und deren eigener Willensentscheidung. Der englische Philosoph John Locke macht daran den Unterschied zwischen Mensch und Ding fest. »Einen Tennisball, gleichviel ob er durch den Schlag eines Tennisschlägers in Bewegung versetzt ist oder sich im Ruhestand befindet, hält niemand für ein frei handelndes Wesen.« (Locke: Über den menschlichen Verstand, II. Buch, Kap. XXI, 283) Und warum? Weil wir »einem Tennisball kein Denken zuschreiben und darum auch bei ihm kein Wollen, kein Bevorzugen der Bewegung gegenüber der Ruhe oder umgekehrt annehmen. Aus 144 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit in der Neuzeit: Philosophie und Wissenschaft

diesem Grunde hat er keine Freiheit, er ist kein frei handelndes Wesen.« (Ebd.) Damit ist auch schon die Bedingung für Freiheit als menschliche Option benannt. Freiheit »betrifft vielmehr die Person, in deren Macht es steht, gemäß der Wahl oder Verfügung des Geistes etwas zu tun oder zu unterlassen. Unsere Idee der Freiheit reicht so weit wie diese Macht, aber nicht weiter.« (Ebd., 284) In unserer Person laufen allerdings viele Prozesse ab, die nicht unserem freien Willen unterworfen sind, wie beispielsweise der Blutkreislauf, der zu Lockes Zeiten gerade entdeckt war und von ihm auch in diesem Zusammenhang zitiert wird. Freiheitlich sind auch nicht Handlungen des Menschen, die er unter inneren Zwängen vollzieht. Freiheitlich sind auch nicht jene Prozesse des Geistes, die halb oder unbewusst ablaufen, wie die, »immer irgendwelche Ideen im Geist zu haben« (ebd., 285), die das Ich nicht eigentlich kontrolliert. »Freiheit ist«, wie das Locke definiert, »eine Kraft, entsprechend der Weisung des Geistes zu handeln oder nicht zu handeln. Die Kraft, die Fähigkeiten des Wirkens in den einzelnen Fällen zur Bewegung oder zur Ruhe zu veranlassen, nennen wir den Willen.« (Ebd., 341) Mit dieser Einsicht des englischen Aufklärers war die Kategorie der Freiheit wieder in den Bereich des menschlichen Geistes und seiner Entscheidungskompetenz gerückt, wobei Locke eben auch deutlich macht, dass nicht jeder Prozess im menschlichen Geiste seiner Freiheit unterliegt. Im Gegenteil, es läuft eine Vielzahl von Bildern und Ideen durch den Kopf, die nicht eigentlich seiner Willenssteuerung unterliegen. Nur jenen Prozessen des menschlichen Geistes, die er selbst bewusst kontrolliert, kommt das Prädikat »frei« zu oder umgekehrt formuliert: Freiheit ist nichts anderes als die Fähigkeit des Menschen zu bewusstem und selbstverantwortlichem Denken und Handeln. Immanuel Kant hat an diese Einsichten der Aufklärung seine Definition der Epoche der Aufklärung geknüpft, die wir bereits zitiert haben: »Aufklärung«, sagt er, »ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« (Kant: Was ist Aufklärung?, 55) Und diese grenzt Kant wiederum so ein, dass er sagt: »Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. […] der öffentliche Ge145 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit

brauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen.« (Ebd., 56 f) Kant lässt also mit dem öffentlichen Gebrauch der Freiheit eine neue Epoche der Menschheit entstehen. Diese beruht auf dem mündigen Menschen, der seinen Geist in freiem Denken und deren Veröffentlichung zu nutzen wagt und damit eine neue Epoche des »Selbstdenkens« der Menschheit begründet. Kant schränkt das explizit auf den »öffentlichen Gebrauch« der Vernunft ein, also Philosophie und Wissenschaft, nicht auf den Menschen als Untertan in einem Staat, dessen Gesetzen er nach Kant immer noch zu gehorchen hat. »Hier ist nun freilich nicht erlaubt, zu räsonieren, sondern man muß gehorchen.« (Ebd., 57) Die wissenschaftliche und philosophische Befreiung des Menschen ist noch lange nicht dessen politische Befreiung (siehe auch Kap. 1.8, 204 ff). Aber: Die Befreiung von Wissenschaft und Philosophie von den Zwängen der Religion, der Kirche, der politischen Mächte ist schon ein ungeheurer Schritt der Befreiung des europäischen Denkens gewesen. Wie bereits erwähnt, hatte die ›heilige Inquisition‹ im Jahr 1600 Giordano Bruno noch öffentlich verbrannt. Er musste seine expansive Weltvorstellung noch mit Folter und Tod bezahlen. Einem Galileo Galilei, der es gewagt hatte, die theologische These von der Erde als Mittelpunkt des Universums in Frage zu stellen, war in Rom der Prozess 1633 gemacht worden und nur im Anblick der Folterinstrumente – das »rigoroso esame« der ›heiligen Inquisition‹ – hatte, wie schon erwähnt, Galilei widerrufen. Der neuzeitliche Vater des Gedankens, Kopernikus, war der kirchlichen Verfolgung nur entgangen, weil der Herausgeber seiner Schriften, Johannes Osiander, dessen Theorie als »Hypothese«, nicht als Wahrheitsbehauptung publiziert hatte (Blumenberg: Die kopernikanische Wende, 41 ff). Johannes Kepler veröffentlichte seine Thesen zur elliptischen Umlaufbahn der Planeten schon unter dem Schutze der protestantischen Fürsten, wie überhaupt der Protestantismus eine Schutzzone für die neuen Wissenschaften bot. Das heißt: Die Entstehung der neuen Freiheit der Wissenschaft vollzog sich noch unter Lebensgefahr, und einige große Denker der Neuzeit haben ihr Wagnis des freien Denkens auch mit dem Leben bezahlt. Auch Descartes, der die neuzeitliche Wendung des Denkens in seiner berühmten Formel »Ich denke, also bin ich« zusammenfasste, musste seinerseits aus dem katholischen Frankreich ins protestanti-

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Freiheit in der Neuzeit: Philosophie und Wissenschaft

sche Holland und später nach Schweden fliehen, wo er möglicherweise von Kirchenvertretern vergiftet wurde. Auch Descartes sucht nach einer neuen Methode des Denkens und stößt dabei, wie schon die antike Philosophie, auf den menschlichen Verstand als deren Agent: Der Mensch muss allerdings seinen Verstand richtig gebrauchen lernen, er muss die Methode des richtigen Denkens allererst erlernen. Somit wird die Aufklärung auch zu einer Denkschulung als Einübung in die Freiheit des Denkens. Wenn der Mensch aber seinen Verstand richtig zu gebrauchen gelernt hat, so begründet solches Denken die Wahrheit und damit auch seine eigene Existenz als freier Mensch. Der Anker, an dem Descartes das sichere Wissen festmacht, ist für ihn der in allen Zweifeln unbezweifelbare Satz: »Ich denke, also bin ich«, oder, wie es in den »Meditationen« heißt: »ego sum, ego existo« (Descartes, Meditationen, I, 44 f). Das richtige Denken führt zur Selbsterkenntnis des Ich als denkendem Wesen und des eigenen Denkens als Grundlage aller Wahrheitserkenntnis. Das menschliche Denken selbst wird so – wie schon in der antiken Philosophie bei Parmenides vorgedacht – erkannt als die einzig mögliche Form der Wahrheitsfindung und damit auch zur Freiheit des eigenen Verstandesgebrauchs als Bedingung der einzigen Möglichkeit wahrer Erkenntnis (Descartes Meditationen, IV, 103). Damit hat die Zweite, die neuzeitliche Aufklärung auch die Bedeutung des Menschen als denkendem Wesen aufgewertet beziehungsweise umgekehrt dessen Existenz mit der Selbstverantwortung und auch der Pflicht zum freiheitlich-eigenem Denken verbunden. Zugleich ist die Aufklärung ja auch die Epoche, welche in der Form eines neuen Kontraktismus über die Gründung eines Staates nachdachte, in welcher der Mensch frei und sicher leben kann. Dazu erfand die Aufklärung auch den Gedanken der Gewaltenteilung als Kontrollinstrument der Macht. Das hatten wir im vorigen Kapitel 1.4 »Demokratie« gesehen. Das neue Denken und seine Selbstverantwortung in Freiheit führt eben auch zur modernen Demokratie und Staatslehre. Eine zentrale Rolle spielt der Begriff der Freiheit in den nationalen Freiheitskriegen schon der Niederländer gegen Spanien und vor allem auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Kampf gegen den Hegemonialismus Napoleons und im Kontext der Nationalisierung des Denkens. Darauf kommen wir eingehend im Kap. 3.1 und 3.4 zurück (317 ff und 344 ff). Im 20. Jahrhundert hat der französische Philosoph Jean-Paul 147 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit

Sartre im Rückgang auf Heidegger in seinem Werk »Das Sein und das Nichts« (L’être et le néant, 1943) der Freiheit einen zentralen Platz eingeräumt. Menschliche Existenz, so Sartre, ist immer auch eine Form des Sich-Entscheiden-Müssens, damit der Wahlmöglichkeiten und der Wahl zwischen Alternativen. Gegen den Determinismus, wie ihn gleichzeitig die amerikanischen Behavioristen vertraten, die den Menschen als Objekt seiner Lebensbedingungen begreifen, betont Sartre die Möglichkeit des Menschen zum Entwurf und zur Gestaltung neuer Wirklichkeiten in der menschlichen Existenzform der Freiheit. Freiheit, so Sartre mit Heidegger, ist immer ein In-derWelt-sein, aber darin ist mein Sein nach Sartre zugleich Freiheit, will sagen: Wahlmöglichkeit: »Auch ich werde also auf meinen ursprünglichen Entwurf verwiesen, das heißt auf mein In-der-Welt-sein, insofern dieses Sein Wahl ist.« (Sartre: Das Sein und das Nichts, 793) Für Sartre ist der »freie Entwurf« die grundlegende Seinsweise des menschlichen Seins, er ist »mein Sein« (ebd., 830). Kommen wir in diesem Zusammenhang noch einmal auf den biologischen Determinismus zu sprechen. Er leugnet ja eine solche freie Wahlmöglichkeit des Menschen. Eine solche deterministische Theorie entstand schon im 18. Jahrhundert mit dem Buch »Der Mensch als Maschine« (»L’homme machine«) des Physiologen La Mettrie. Im 20. und 21. Jahrhundert vertritt die Neurophysiologie diese These: Weil das Gehirn Sekunden vor dem Gedanken bereits neuronal feuert, sei es eben nicht der freie Wille, der da entschieden habe, sondern ›nur‹ die Materie seines Gehirns. Das Modell folgt einem alten Leib-Seele-Dualismus. Natürlich ist jeder Gedanke des Menschen auch physiologisch als Gehirnprozess verankert. Dass die Neuronen im Gehirn feuern, wenn ein Mensch zwischen zwei Alternativen wählt, heißt nicht, dass sie für mich entscheiden, sondern dass menschliches Denken und Entscheiden genau dies auch ist: ein Feuern von Neuronen im Gehirn. Auch der freie Wille ist neuronal kodiert. Die neuronalen Prozesse im Gehirn gehen nicht dem menschlichen Willen voraus, sondern sind der Prozess der Willens-Entscheidung im Gehirn. Der freie Wille des Menschen läuft in ihm auch als ein biologischer Prozess ab, bevor der Geist ihn bewusst wahrnehmen kann. Die Diskussionen, die Wolf Singer und Gerhard Roth zum Thema »Illusion der Willensfreiheit« in den letzten Jahren entfacht haben, ist auch Ausdruck einer falsch gestellten Alternative: Biologie oder Geist. Die Materie ist Geist und der menschliche Geist immer 148 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Freiheit in der Neuzeit: Philosophie und Wissenschaft

auch Materie. »Die Verneinung der menschlichen Entscheidungsfreiheit ist nicht nur in der Sache irrig und unhaltbar. Hinzu kommt, dass die falsche Botschaft, die Neurowissenschaft habe die Existenz des freien Willens widerlegt, in hohem Maße unsinnige und schädliche Konsequenzen für das soziale Zusammenleben haben dürfte.« (Bauer: Selbststeuerung, 32) Die Verteidigung der Freiheit als ein Grundwert ist in Europa alt und zugleich jung: Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der westliche Teil Mitteleuropas vom (nationalsozialistischen) Totalitarismus befreit, der östliche Teil des Kontinents erst 1989 vom (kommunistischen) Totalitarismus. Die damals neue Demokratie, die damit in Deutschland entstand, hat den Grundwerten der Freiheit, Selbstbestimmung, Individualität eine hohe Priorität eingeräumt. Dass solche neuen Spielräume der politischen Freiheit auch positiv aufgenommen und gestaltet werden müssen, gehört zu den Erfahrungen der Demokratie seitdem und ist – wie dies schon Perikles angedeutet hat –, eine permanente Aufgabe. Wir kommen darauf insbesondere im Kap. 1.8 zurück.

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1.6 Individualität, Personalität, Subjektivität

Zusammenfassung (1) Anders als die meisten indigenen und auch die asiatischen Kulturen ist die europäische Kultur durch eine starke Ich-Kultur geprägt. Diese hat sich im Laufe der Geschichte unter den Begriffen ›Individualität‹, ›Personalität‹, ›Subjektivität‹ herausgebildet. (2) Dabei übernimmt die Ich-Kultur aus dem Begriff der ›Individualität‹ das Moment der In-sich-Geschlossenheit und je eigenen Perspektivität des menschlichen Bewusstseins. (3) Der aus der Theaterwelt stammende Begriff der ›Person‹ bringt Bedeutungsmomente wie: Individualität (Singularität), Tätigkeit, Würde, Beziehungshaftigkeit ein. Menschliches personales Bewusstsein vereint die verschiedenen Bewusstseinseindrücke zur Einheit der Person und stiftet so Identität der Person, die in der Goethezeit mit der eigenen Lebens- und Bildungsgeschichte verbunden wird. (4) Mit dem Begriff des ›Subjekts‹ als dem ›denkenden Ich‹ wird eine neue Basis für die Begründung der modernen Wissenschaften gefunden. Damit verbanden sich aber auch die Herrschaftsansprüche des (europäischen) Menschen über die Natur und über andere Kulturen. (5) Mit der Romantik und der Industrialisierung setzen auch Prozesse der Depersonalisierung und Krankengeschichte des modernen Ich ein, wie sie in vielen literarischen Texten seit Goethes »Werther« erzählt werden. Auch die Psychologisierung und Therapierung des modernen Ich beginnt hier. (6) Die Erfahrung der modernen Großstadtwelt ist ambivalent für das Ich. Sie befreit einerseits aus traditionellen Zwängen der Lebensgestaltung, desintegriert und vereinsamt aber auch das Ich. (7) Ähnlich kann auch die technische Netzkultur als eine Expansion des Ich und zugleich Entfremdungserfahrung gedeutet werden.

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Die drei Begriffe

Die drei Begriffe Die drei Begriffe Individuum, Personalität und Subjektivität gehören eng zusammen und bezeichnen – wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven – dasselbe: Den Menschen in seiner Einzigartigkeit, Würde seiner Erscheinung, Selbststeuerung – als Hochwerte der abendländischen Kulturgeschichte. Keine andere Kultur hat dem Einzelmenschen eine solche Hochschätzung widerfahren lassen wie die abendländische. Die asiatischen und die meisten indigenen Kulturen ordnen vielmehr den Einzelmenschen dem Kollektiv unter, ihm kommt nicht ›an sich‹ ein solcher Hochwert zu wie in der abendländischen Kultur, und dies aus unterschiedlichen Begriffstraditionen heraus (dazu Rosemont jr.: Against Individualism). In den drei Begriffen mischen sich bereits Elemente der rationalen Kultur mit denen der christlichen. Insbesondere der Begriff der »Persönlichkeit« kommt aus der römischen Theatertradition, wird dann christlich-theologisch überformt und schließlich auch durch die rationale Philosophie starkgemacht. Gehen wir einmal im Einzelnen den Begriffen nach.

Individualität Der Begriff der Individualität bezieht sich zunächst gar nicht auf den Humanbereich. Mit »individua« übersetzt Cicero das griechische Wort »atoma«, also jene elementaren und, wie Demokrit meinte, unzerstörbaren Teilchen, aus denen der Kosmos zusammengesetzt sei (Diels: Fragmente der Vorsokratiker, Frg. 125, 106). Demokrit begriff den Menschen auch schon als »eine kleine Welt«, also als einen Mikrokosmos im Makrokosmos (ebd., Frg. 34). Der Begriff der Individualität akzentuiert also das Moment der in-sich-geschlossenen Einheit eines Teilchens im Ganzen des Kosmos. Das Mittelalter und die frühe Neuzeit nennt diese Einheiten »individuelle Substanzen«, der deutsche Philosoph Leibniz nennt sie »Monaden«. »So sind denn die Monaden die wahren Atome der Natur und – mit einem Wort – die Elemente der Dinge.« (Leibniz: Monadologie, § 3) Hier aber kommt nun das Individualitätsprinzip zur Geltung: »Es muss sogar jede einzelne Monade von jeder anderen verschieden sein.« (Ebd., § 9) Leibniz geht über die Mechanik seiner Zeit entschieden hinaus, wenn er allen Monaden eine Art von Per151 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Individualität, Personalität, Subjektivität

zeption, als Wahrnehmung, zuspricht, die in verworrener oder klarerer Form bis hinauf zu ihrem Schöpfer-Gott reicht und diesen somit in sich trägt und spiegelt. Leibniz hat erkannt, dass die elementaren Bausteine der Natur keine toten Elemente sind, sondern aktive, geistbeseelte Teilchen. Er nimmt an, dass es keine absolute Grenze gibt zwischen der dinglichen und humanen Monade, dass vielmehr »jede einfache Substanz Beziehungen enthält, welche die Gesamtheit der anderen zum Ausdruck bringen, und daß sie infolgedessen ein lebendiger, immerwährender Spiegel des Universums ist.« (Ebd., § 56) Der Mensch ist in dieser Weltanschauung selbst eine individuelle Monade, die aber in ihrer Individualität zugleich auch in einem kosmischen Zusammenhang steht, der hinauf reicht bis zum Schöpfer-Gott. Was die menschlichen Monaden von anderen unterscheidet, ist, dass sie in sich eine höhere und bewusstere Formen der Perzeption habe, die Leibniz »apperzeption« nennt, die eigentliche Form des menschlichen Bewusstseins (Ebd., § 14). Durch die Individualität jeder menschlichen Monade aber kommt dieser auch eine je eigene Bewusstseinsform und damit eigene Perspektive auf die Welt zu. Jede menschliche Monade ist somit sein eigenes Welt-Zentrum der Erkenntnis, jeder Mensch hat seine eigene individuelle Wahrnehmung der Welt in der Welt. Damit hat Leibniz einen Schlüssel geliefert auch für die weitere Anthropologie. Sie besteht aus drei Einsichten: (1) Der Mensch ist ›nur‹ eine Monade unter anderen, ist also Teil des Universums, (2) Der Mensch ist aber herausgehoben aus der übrigen Schöpfung durch sein Bewusstsein, und (3) dieses je eigene monadologische Bewusstsein unterscheidet ihn von jedem anderen Menschen durch ihre je eigene Perspektivität. Die Individualität des Menschen wird also durch die Individualität und Eigenständigkeit seines eigenen, jeweils individuellen Bewusstseins geprägt und garantiert. An diesem Punkt der Einsicht in die menschliche Individualität knüpfen nun auch Herder und die Romantik an: Herder betont in seiner frühen Schrift »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele« von 1774: »der tiefste Grund unseres Daseins ist individuell«, und fügt hinzu: »so wohl in Empfindungen als Gedanken« (Herder: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum, 365). In der Goethezeit und Romantik geht der Begriff der Individualität in denen der Persönlichkeit und Subjektivität auf. In dieser Epoche wird die menschliche Individualität auch als ein Prozess begriffen. Die menschliche Individualität ist keine fixe Größe, sondern ent152 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Individualität

wickelt sich, ›bildet‹ sich (siehe Kap. 1.7 Bildung). Jeder Mensch hat seine eigene individuelle Bildungsgeschichte. Was der individuelle Mensch sein kann, muss er sich erst durch Bildung erwerben. Das literarische Medium dafür ist der moderne Bildungsroman, wie ihn Karl Philipp Moritz mit seinem »Anton Reiser«, Goethe mit seinem »Wilhelm Meister«, Novalis mit seinem »Heinrich von Ofterdingen« begründen und wie er die deutsche und europäische Literatur bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägt (Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder; Selbmann: Der deutsche Bildungsroman). Wilhelm von Humboldt hat darüber hinaus schon die individuelle Prägung jeder individuellen Sprache herausgearbeitet, die ihrerseits das Individuum prägt: »Die Sprache« – und damit meint Humboldt die Nationalsprache – »ist das bildende Organ des Gedanken.« (Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues § 9, 50) Auf diese Weise bestimmt Humboldt die geistige Natur des Menschen als eine genuin sprachliche (siehe auch 3.3, 330). Die Philosophie Heideggers und seines Schülers Karl Löwith haben zudem gezeigt, wie stark das Individuum in einer »Mitwelt« gründet, also primär gerade nicht als »Individuum« existiert. Heidegger hat das im § 26 von »Sein und Zeit« ausgeführt: »Die Welt des Daseins ist Mitwelt […] ist Mitsein mit Anderen.« Sein Schüler Karl Löwith hat diese »Rolle des Mitmenschen« für das Individuum positiv geradezu als die Erfüllung der Individualität bestimmt: »Die Autonomie eines jeden erfüllt ihren eigentlichen Sinn allererst im Verhältnis des Miteinanderseins«, also auch und gerade in personalen Beziehungen wie Freundschaft und Liebe (Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, 242 ff, insbes. 249 ff). Neueren Datums hat Charles Taylor in »Quellen des Selbst« die Bedeutung des Anderen und der Achtung vor ihm für die Konstitution des Selbst herausgearbeitet. Taylor bündelt die Identitätsfrage des Ich eng mit der Moralität und der platonischen Frage nach dem Guten. »Was damit ans Licht gebracht wird, ist die wesentliche Verbindung zwischen Identität und einer Art von Orientierung. Wissen, wer man ist, heißt, daß man sich im moralischen Raum auskennt, in einem Raum, in dem sich Fragen stellen mit Bezug auf das, was gut ist oder schlecht […].« (Taylor: Quellen des Selbst, 56) Allerdings zeigt sich schon in der Romantik, wie stark die moderne Individualität und Subjektivität zur Einsamkeit tendiert und dabei kränkelt, wie stark sie, durch die Entwicklung der Moderne selbst, angegriffen und bedroht wird und sich dabei auch festgefügte 153 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Individualität, Personalität, Subjektivität

Vorstellung von ›gut‹ und ›böse‹ eher auflösen als stabilisieren (siehe den folgenden Abschnitt Moderne Depersonalisierung. Individualitätskult). Der erste große Roman der literarischen Moderne, Goethes »Die Leiden des jungen Werthers«, erzählt diese Krankengeschichte des modernen Ich. An Werther, an den Künstlerfiguren der Romantik ist diese Tendenz, die eigene Einsamkeit emotional auszuloten und auch auszukosten, zu beobachten, und dies bei Werther sogar bis hin zu seinem eigenen Freitod. Flauberts Emma Bovary sollte ein ähnliches Schicksal ereilen. Charles Baudelaire nennt seine Gedichtsammlung »Die Blumen des Bösen«. Die ganze Ästhetische Moderne steht, wie schon Friedrich Schlegel erkannt hat, eher unter dem Leitbegriff des Hässlichen als des Schönen und Guten (Zelle: Ästhetik des Hässlichen, in: Vietta / Kemper (Hg.): Ästhetische Moderne, 197 ff). Auf die Krankengeschichte der modernen Individualität kommen wir am Ende dieses Kapitels zurück. Es geht dabei ja auch um die Bedrohung eines der Kernwerte der abendländischen Kultur. Zunächst aber zu den übrigen zwei Begriffen und ihrer Geschichte.

Personalität Der Begriff der Person entstammt – anders als der der Individualität –, von vorneherein dem Humanbereich. Die Herkunft des Begriffs ist nicht zweifelsfrei belegt. Man nimmt an, das Wort wurde von lateinisch »personare« abgeleitet im Sinne des Durchdringens einer Stimme durch eine Maske. Diese Theatermasken hatten individuelle Züge eines Charakters, wenn auch stark stereotypisiert, und konnten daher als Anhaltspunkte für bestimmte personale Charakterzüge dienen (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Person, Sp. 269). Die hellenistische Philologie ging dann auch daran, in philosophischen Texten verschiedene Sprecherrollen ausfindig zu machen. So suchte Diogenes Laertius im 3. Jahrhundert n. Chr. die Texte Platons daraufhin ab, welche Personen darin im Sinne Platons sprechen, welche aber die zu widerlegenden Positionen vertreten. Solche Übertragung des Personenbegriffs aus dem Theater auf Sprecherrollen liegt nahe. Platons Texte haben ja selbst eine dramatische Struktur. Der Begriff der Person vollzieht dann eine regelrechte Himmelfahrt. Er bezeichnet nämlich in der christlichen Theologie des Mittelalters die Einheit von Gottvater, Sohn und heiligem Geist, also die Einheit von drei Personen in einer Person, was eine nicht unerheb154 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Personalität

liche Identitätsproblematik darstellt. Die Muslime schon des Mittelalters haben diese Dreieinigkeit nicht recht verstanden, lehrt ja doch Mohammed im Koran, dass Gott einer und nur einer sei, so formuliert in der drittletzten Sure (112) des Koran: »Er ist ein Gott, ein Einziger, Gott, durch und durch (er selbst) […] Er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden. Und keiner ist ihm ebenbürtig«. Diese Zentrallehre des Islam findet sich denn auch auf einer der ältesten islamischen Münzprägungen durch Kalif Abdalmalik im 7. Jahrhundert n. Chr. (Bobzin: Der Koran, 56), und auch der Felsendom in Jerusalem zitiert einen Koranvers, welcher den Monotheismus herausstellt und die christliche Gottkindschaft ablehnt: »Es steht Gott nicht an, sich irgendein Kind zuzulegen.« (Sure 19, 35) Die christliche Theologie hatte ja auch das Problem, dass Jesus Christus seit dem Konzil von Chalcedon 451 eine Doppelnatur zugesprochen wurde, als wahrer Mensch wie wahrer Gott. Jesus Christus hatte damit zwei Naturen. Aber war er damit auch zwei Personen, die eine Mensch, die andere Gott? Die Personal-Theologie des christlichen Mittelalters hat das Problem so gelöst, dass sie beide Naturen Christi in einer Person vereinigt sieht und, darüber hinaus, auch die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und heiligem Geist als eine Person darstellt. So jedenfalls sah das Boethius im 6. Jahrhundert, und die hochmittelalterliche Theologie folgt ihm darin. Boethius betont: »Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist, und diese Dreiheit ist ein Gott, wie Degen und Klinge ein Schwert, wie Sonne, Sonne, Sonne eine Sonne ist.« (Boethius: Die Theologischen Traktate, I, 3; 13) Für die Dreieinigkeit bedeutet dies: Sie sind eines und immer Gott, aber in unterschiedlicher Relation des Göttlichen zu sich selbst. Mit anderen Worten: Die Differenzierung der Dreieinigkeit in drei Personen vereint die drei Personen in der Einheit der einen Substanz Gottes. Diese werde in ihrer absoluten Einheit als Gott nicht davon tangiert, dass sie sich in drei Personen aufspalte. »[…] vielmehr besteht die Trinität in der Vielheit der Personen, die Einheit aber in der Einfachheit der Substanz« (Ebd., II; 31), die, wie Boethius auch ausführt, keine Substanz im endlichen Sinne ist. Im Traktat V »Gegen Eutyches und Nestor« definiert Boethius dann auch den Begriff der persona selbst, indem er das Person-Sein in »Substanzen« verankert sieht, »in vernünftigen« und dies »nicht im Universalen, sondern im Individuellen«. Der Mensch ist keine Person, aber Cicero ist eine Person. Personen sind »einzelne Individuen« 155 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Individualität, Personalität, Subjektivität

(»personae singulae nuncupantur«) (Ebd., V, III; 75). Hier reichen die Kategorien ›Person‹ und ›Individualität‹ sich die Hände. Die mittelalterliche Theologie hat dann den Personen-Begriff noch – was von der Theologie her naheliegt – mit dem der Würde gekoppelt: Personen sind Personen höheren Ranges der feudalen und kirchlichen Gesellschaft. So definiert der Franziskaner Bonaventura im 13. Jahrhundert Person durch Rationalität, Unterschiedenheit und Dignität: »persona habens suam naturam intellectualem ab aliis distinctam […] nobilior inter creata« (Opera Omnia, I 405). Und: Mit dem Person-Sein wird auch – in Bezug auf die Trinität ja einleuchtend – ein Moment der Unfasslichkeit und Unaussprechbarkeit (»ineffabile«) verbunden. Der einflussreiche Thomas von Aquin bringt die entscheidenden Momente der mittelalterlichen Definition von Person auf den Begriff. Dabei nimmt Thomas die Bestimmung von Boethius auf: PersonSein heißt ein »Einzelwesen vernunftbegabter Natur« sein (»singularia rationalis naturae«; Summa Theologiae 29,1; Gott der Dreieinige, 43). Person-Sein bedeutet in eminenter Weise auch »Selbständigkeit« (»subsistentia«), wird von Thomas mit dieser geradezu identifiziert (ebd., 46). »Person bezeichnet das, was das Vollkommenste ist in der ganzen Natur, nämlich das Für-sich-Bestehende vernunftbegabter Natur.« (Summa Theologiae 29,3; 52) Und: Diese Form der einzelnen vernunftbegabten Wesenheit ist durch »Tätigkeit« ausgezeichnet. »Die Tätigkeiten gehören den Einzelwesen zu.« (Summa Theologiae 29,1; 43) Man kann sagen, dass hier auch der Keim für die neuzeitliche Subjektphilosophie liegt, insofern sie dann auch die menschliche Rationalität selbst zum Grund ihrer selbst erhebt und diese wesentlich durch »Tätigkeit«, nämlich »Produktivität« definiert wird. Aber das erfolgt erst Jahrhunderte später im Deutschen Idealismus. Für Thomas ist wichtig, dass Gott selbst, der das »ens perfectissimum« ist, diese Wesenszuschreibungen von ›Person‹ zukommen: das Für-sich-sein, die Vernunft sowie Tätigkeit. Von dem Wort Person leitet auch Thomas die »Würde« (»dignitas«) ab, insofern nämlich im Drama würdevolle Figuren »personae« genannt würden (Summa Theologiae 29,3; 53). Insofern verbindet sich mit dem Person-Sein auch Würde-Haben, worüber natürlich vor allen Wesen Gott verfügt. Da Gott aber eine Dreiheit von Personen darstellt, bezeichnet ›Person‹ wie bei Boethius so auch bei Thomas »Relation«, »Beziehung« innerhalb der Trinität (Summa Theologiae 29,4; 56). Damit hat Thomas gleich eine Vielzahl von Begriffsmomenten mit dem Wort ›Per156 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Personalität

son‹ gebündelt: Vernunftnatur, Individualität (Singularität), Tätigkeit, Würde, Beziehungshaftigkeit und, man kann hinzufügen, indem auch Gott Person genannt wird und dieses letztlich unergründlich bleibt, ein Moment der Unaussprechbarkeit. In der Neuzeit löst sich dann der Begriff der Person von der Theologie, aber übernimmt von ihr doch wichtige Einsichten. Thomas Locke definiert Person als »denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann« (Locke: Über den menschlichen Verstand, Kap. XXVII, 419), mithin als ein Bewusstsein, das auch eine reflexive Wahrnehmung von sich selbst hat. Zugleich löst Locke ein Problem, das die auf Gottes ubiquitären Geist bezogene Theologie noch nicht hatte: nämlich die Identität der menschlichen Person an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten nachzuweisen. Es ist eben nach Locke die Einheit des Bewusstseins dieses Menschen, die eben die Einheit seiner Person garantiert: »Das heißt, es [das verständige Wesen] erfaßt sich als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt.« (Ebd.) Damit sind wir nicht mehr weit von Descartes’ Definition des Menschen als »denkender Substanz« und Kants Definition der ursprünglichen Einheit der menschlichen Apperzeption im denkenden Ich. »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können« (Kant: Kritik der reinen Vernunft, § 16, B 132), wo immer nämlich und wann immer ich als Person etwas wahrnehme. Mein Bewusstsein ist somit selbst jene Instanz, welche die Kontinuität meiner Identität als Person sicherstellt. Ich bin eine Person, geeint durch die Kontinuität und Identität meines Bewusstseins. Noch einmal Locke: »Das geschieht lediglich durch das Bewußtsein, das vom Denken untrennbar ist, und, wie mir scheint, zu dessen Wesen gehört. […] Denn da das Bewußtsein das Denken stets begleitet und jeden zu dem macht, was er sein Selbst nennt und wodurch er sich von allen anderen denkenden Wesen unterscheidet, so besteht hierin allein die Identität der Person, das heißt das SichSelbst-Gleich-Bleiben eines vernünftigen Wesens.« (A. a. O., 419 f) Nun könnte ein rascher Einwand gegen Locke und die ganze Vernunft-Philosophie so lauten: Sie definiert den Menschen immer nur vom Denken her. Was ist mit seinen Gefühlen? Bestimmen die nicht noch stärker als das wetterwendische Denken die Identität der Person? Aber – so könnte man mit Locke antworten – auch Gefühle sind Bewusstseinsformen. Und auch unser Körper und das, was er uns an Lebensgefühlen vermittelt, wird uns ja über unser Bewusstsein mit157 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Individualität, Personalität, Subjektivität

geteilt. Locke selbst schreibt: »Daß sich das so verhält, beweist unser eigener Körper. Seine sämtlichen Partikel bilden nämlich einen Teil unseres Selbst, d. h. unseres denkenden, bewußten Ich, solange sie lebensfähig mit diesem selben denkenden, bewußten Ich verknüpft sind, so daß wir fühlen, wenn sie durch Gutes oder Übles, das ihnen widerfährt, berührt und beeinflußt werden und sich dessen bewußt sind. So sind für jeden die Glieder seines Körpers ein Teil seiner selbst.« (A. a. O., 422) Mit anderen Worten: Auch unsere Körperlichkeit, auch unsere Gefühle sind über unser Bewusstsein Teil unserer Identität. Was wir fühlen wird zu unserem Gefühl eben dadurch, dass diese Gefühle bewusst wahrgenommen werden. Somit garantiert die Einheit unseres Bewusstseins, in der eben auch die Gefühle ihren Platz haben, die Einheit unserer Person. Noch einmal Locke: »Auch der Körper«, auch die Gefühle, gehören »zum Begriff des Menschen.« (A. a. O., 427) Dessen individuelle Einheit als Person wird ermöglicht und gewährleistet durch die Einheit des Bewusstseins. Umgekehrt formuliert: Dadurch dass alle Gefühle und Wahrnehmungen in jeweils unserem Bewusstsein stattfinden, stiftet diese Einheit des Bewusstseins die Identität der Person. Und dies nicht nur über das Denken – Descartes: »Ich denke, also bin ich« –, sondern eben auch über das Gefühl. Mit Pascal kann man auch sagen: »Ich fühle, also bin ich«. Beide Aktivitäten des Bewusstseins finden in einer Person statt, weil diese Person durch die Einheit ihres Bewusstseins als Person geeint ist. Goethe hat dann dem gesteigerten Begriff der »Persönlichkeit« noch die Krone aufgesetzt, indem er im »West-Östlichen Divan« schreibt: »Volk und Knecht und Überwinder, / Sie gestehn, zu jeder Zeit, / Höchstes Glück der Erdenkinder / Sei nur die Persönlichkeit.« Der Text aber ist ein Rollengedicht. Suleika spricht diesen Vers, dagegen findet ihr Liebhaber Hatem im »Du« der Geliebten – Suleika – das höchste Glück »vereinet« (Goethe: Hamburger Ausgabe Bd. 2, 71 f), also eine Relativierung der Personenhaftigkeit durch das Mitsein mit anderen in Liebe oder Freundschaft, wie wir das beim Begriff der Individualität schon gesehen haben. Mit der geistesgeschichtlichen Findung der Persönlichkeit als Zentralwert in der Aufklärung und Goethezeit beginnt aber auch schon eine Geschichte der Krise, Krankheit, Dissoziation von Person. Die Romantik erforscht in den Erzählungen von Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmanns Zustände des Wahnsinns und der Ichauflösung, mit der Romantik beginnt auch eine Literatur der Erforschung der 158 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Subjektivität

Bewusstseinserweiterung durch Drogen, die von Thomas de Quinceys »Confession of an English Opium-Eater«, Charles Baudelaires »Künstlichen Paradiese«, erzeugt mit Haschisch und Opium, sowie viele literarische Drogenexperimente des 20. Jahrhunderts bis zu den »68ern« und darüber hinaus reicht. Viele Autoren und Musiker der 68er-Generation und ihre Nachfolger haben sich auf diesen ›trip‹ begeben. Generell gilt: Das Ich in der literarischen Moderne ist eher eine instabile Persönlichkeit, die von den Abgründen, Gefahren, Schmerzen des Ich-Seins berichtet als von der mentalen Verfassung einer in sich ruhenden Persönlichkeit. Große Teile der Literatur des Expressionismus 1910–1920 kann man unter den Begriff der »Ich-Dissoziation« bringen (Vietta/ Kemper: Expressionismus, 30 ff). Dazu kommen die Erfahrungen von Weltkriegen, Massentötungen, Hungerund Krankheitsepidemien, die die Icherfahrung in der Moderne auf schreckliche Weise geprägt haben. Gleichwohl: Das Personen-Sein, der Begriff der Persönlichkeit bleibt ein Hauptwert der abendländischen Kulturgeschichte. Mit der Moderne beginnt ja auch eine Geschichte der Psychoanalyse und anderer Therapieformen, die eben um diese Personenhaftigkeit im Sinne der integrierten und stabilen Persönlichkeit ringen. Die Zielsetzung der Psychoanalyse hat Freud 1932 so formuliert: »Ihre Absicht ist ja, das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden.« (Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW 15, 86).

Subjektivität Mit »Subjekt« bezeichnet die Philosophie eine neuzeitliche Wendung der Philosophie vom Menschen: Der Mensch als denkendes Wesen erklärt sich selbst zum Handlungszentrum und »Herrn« seiner selbst und der Welt. Der französische Philosoph René Descartes vollzieht im 17. Jahrhundert in seinen »Meditationen über die erste Philosophie« diesen Schritt. Er setzt dabei – selbst Naturwissenschaftler – schon die Erfolge der neuzeitlichen Naturwissenschaften voraus. Wenn Descartes in seinem »Universalzweifel« alle bisherigen Wissensbestände in Frage stellt, so weiß er schon, worauf er hinauswill: 159 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Individualität, Personalität, Subjektivität

auf eine Neubegründung alles menschlichen Wissens im wissenden Ich selbst. Descartes zieht alles bisherige Wissen in Zweifel, weil es schlecht begründet sei. Er zieht aber dann in der zweiten seiner Meditationen nach allem Zweifel den berühmten Schluss: »Ich bin, ich existiere, das ist gewiss.« (»ego sum, ego existo […] necessario esse verum«, Meditationen, II, 44 f.) Descartes verbindet dies sodann mit der schon klassisch abendländischen Selbstdefinition des Ich: »Ich bin also genau nur ein denkendes Wesen, d. h. Geist, Seele, Verstand, Vernunft […]« (»sum igitur precise tantum res cogitans, id est mens, sive animus, sive intellectus, sive ratio«, Meditationen, II, 46 f). Neu an Descartes’ Schluss vom Wissenszweifel auf das eigene Ich ist nicht dessen Bestimmung als »Geist, Seele, Verstand, Vernunft«, auch die mittelalterliche Philosophie der Person definierte ja den Menschen durch seine rationale Natur. Neu aber ist an Descartes’ Denkschritt, dass er seine damit auch verbundene Frage nach der menschlichen Existenz generell auf das eigene Denken zurückführt. Ich bin nicht, weil mich Gott gemacht hat. Ich bin auch nicht, weil mich Eltern gezeugt haben – Descartes war Sohn eines Juristen, geboren 1596 in der Touraine – und auch nicht, weil mich Erziehungsinstitutionen geistig ausgebildet haben: den jungen Descartes die Jesuitenschule in La Flèche. Nein, ich bin, weil ich denke, »cogito, ergo sum«, wie eine andere Formulierung lautet. Das heißt: Mein Sein ist ein Produkt meiner selbst, nämlich meines Denkens. Meine Existenz als Mensch-Sein begründet letztlich nichts anderes als das eigene Denken. Dabei hat die Descartes-Forschung zu Recht darauf hingewiesen, dass die Selbstreflexion des reinen Ich eigentlich nur eine Selbstgewissheit für die Dauer der Reflexion selbst bieten kann. Das »Ich bin, ich existiere« garantiert also, streng genommen, nur die Existenz des Ich als denkendem Subjekt im Prozess (»solange« die Selbstreflexion dauert). Das Fundament für eine absolut sichere Wissenschaft kann das cogito daher streng genommen gar nicht liefern. Gleichwohl: Descartes hat damit die methodische Basis der neuzeitlichen Wissenschaft im »denkenden Ich« als Subjekt selbst freigelegt: Es ist das Denken des Menschen, das die Welt erkennt, nach seinem Bilde formt und somit den Menschen selbst zum »Herrn der Natur« macht (»maîtres et possesseurs de la nature«, Diskurs, VI, 100 f). Und in der Tat beginnt ja mit der Neuzeit auch ein Prozess der globalen Eroberung und Ausbeutung der Natur und fremder Kulturen – der neuzeitliche Kolonialismus –, in welchem der (europäische) 160 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Subjektivität ist Produktivität

Mensch sich zu »Herren und Eigentümern der Natur« und auch fremder Kulturen macht. Der (europäische) Mensch wird so auch zum »Herrn« der Weltgeschichte. Und wenn Descartes in der Arithmetik und Geometrie die methodischen Hilfsmittel sieht, mit denen der Mensch die Welt vermessen und begreifen kann – so formuliert er das in den »Regeln zur Leitung des Geistes« (Descartes: Regeln zur Leitung des Geistes, 17) –, so gehen die europäischen Kolonialherren in dieser Zeit daran, die Welt zu erobern, die Räume rechtwinklig zu parzellieren, Stadtanlagen in der Neuen Welt ebenso geometrisch rechtwinklig anzulegen wie die Heerlager und Städte in Europa (Vietta: Rationalität. Eine Weltgeschichte, 150 ff). Die neuzeitliche Subjektphilosophie steht auch am Anfang einer »planetarischen Raumrevolution«, wie der Staatsrechtler Carl Schmitt das nannte (Schmitt: Land und Meer, 41 f). Genau besehen ist die neuzeitliche Wendung des Denkens zur Subjektphilosophie aber gar nicht so neu. Es ist ja doch die menschliche Rationalität, die schon in der Antike beginnt, die Welt geometrisch zu vermessen, zu kartographieren und zu erobern. Die Neuzeit kann direkt daran anschließen und tut dies auch: Kolumbus benutzte die antiken Karten des Ptolemäus, Kopernikus das antike Wissen für die Berechnung der Planetenumlaufbahnen. Bereits die Pythagoreer hatten in der Antike die Parole ausgegeben, die Welt arithmetisch-geometrisch zu begreifen, und die Neuzeit setzt genau mit diesem Projekt an. Neu in der Neuzeit aber ist das Selbstverständnis des Menschen als das handelnde Subjekt dieser Weltvermessung und Eroberung. Die antiken und mittelalterlichen Philosophen waren keine Subjektphilosophen. Sie sahen nicht das Wissen in ihrem Denken lokalisiert, sondern am Sternenhimmel, in der Ideenwelt oder in Gott.

Subjektivität ist Produktivität Die Neuzeit nun begreift, dass das Wissen der Welt nirgendwo sonst lokalisiert ist als im »denkenden Ich«. Dieses begreift Descartes noch als eine »Substanz« (»res cogitans«). Die weitere Entwicklung der Subjektphilosophie in der Aufklärung und im Deutschen Idealismus verläuft über Leibniz, Hume, Locke, Kant bis zu Fichte und Hegel und darüber hinaus so, dass dabei das menschliche Bewusstsein immer 161 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Individualität, Personalität, Subjektivität

deutlicher als eine »Tätigkeit«, »Produktivität« erkannt wird, mithin heißt »denken«: geistig produktiv sein. Wir erinnern uns: Das Moment der »Tätigkeit« hatte bereits Thomas von Aquin mit dem Begriff der Person verbunden. Nun wird es neu entdeckt am denkenden Ich und seinem Bewusstsein: Das menschliche Ich wird in der Aufklärungsphilosophie wesentlich identifiziert mit dem Denken und dieses als eine Form der geistigen Produktivität. Darauf hatten wir bereits im Kap. 1.1 hingewiesen: Der erste und zentrale Leitwert der europäischen Kultur ist eben die Entdeckung des eigenen Denkens. Die Bewusstseinsphilosophie, so sagten wir dort, dynamisiert den Begriff des Denkens und beschreibt ihn als eine Form der Produktivität, mithin Subjektivität als Produktivität des Geistes. Die radikalsten Formulierungen in dieser Richtung – zugleich Anstoß für die Ästhetik der Frühromantik – bietet die Subjektphilosophie Fichtes mit ihrer Lehre vom Ich als absoluter Produktivität, »Tathandlung« nennt das Fichte – des denkenden Ich. »Das Ich setzt sich selbst […] Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein.« (Fichte: Wissenschaftslehre, Erster Teil § 1 und § 2.) Fichte begreift das Ich somit als »absolute Produktivität«. Genau dies, so können wir ergänzen, lehrt auf ihrem Felde die Neurophysiologie, indem sie alle Geistprozesse, auch die Erinnerung, auch emotionale Prozesse, als neuronale Produktivität unseres Gehirns deutet, die allerdings nicht, wie einige Forscher annehmen, den Geist einfach determiniert. Sicher ist menschlicher Geist, ist Denken, Fühlen, Bewusstsein immer auch neuronal kodiert. Genau jene neuronalen Impulse, die jene Wissenschaft messen kann, wenn eine Entscheidung im Gehirn getroffen wird, sind aber die Freiheit des Willens, dieses oder jenes zu denken, zu entscheiden. Der menschliche Wille selbst vollzieht sich als eine neuronale Aktivität. Weiterhin haben wir schon in Kap. 1.1 konstatiert: Die moderne Sprachphilosophie seit Wilhelm von Humboldt bis Heidegger und die moderne Linguistik haben darüber hinaus noch herausgearbeitet, dass unser Denken immer auch (mutter-)sprachlich vermittelt ist und durch die Sprachen der jeweilige Wahrnehmungshorizont von Denken entscheidend mitgeprägt wird (siehe Kap. 3.2, 328 ff). Das Thema »Bewusstsein«, »Selbstbewusstsein« ist dann noch ein großes Thema der Philosophie der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gewesen. Philosophen wie Dieter Henrich, Manfred Frank u. a. wenden sich dem Thema zu. In einem resümierenden Beitrag mit dem Titel »Subjekt, Person, Individuum« diskutiert Manfred 162 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Subjektivität ist Produktivität

Frank die traditionellen und neueren Ansätze von Descartes, Kant, Sartre, Strawson, Derrida und anderen und kommt dabei zu dem erstaunlichen Schluss, dass Selbstbewusstsein keine reflexive Beziehung des Bewusstseins auf sich selbst sei, »Subjektivität überhaupt kein Fall von Beziehung ist« (Frank: Subjekt, Person, Individuum, 10). Subjektivität sei überhaupt »kein Fall von Wissen oder von expliziter Reflexion« (ebd.). Aber weiß nicht zumindest ein intaktes Bewusstsein, dass die Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, die es hat, seine Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen sind? Ein Subjekt würde in völlig unvermittelte Teile auseinanderfallen, wenn es nicht diese Kontinuität des Selbstbewusstseins gäbe, das freilich nicht immer explizit aufgerufen sein muss. Das war schon die Einsicht John Lockes gewesen. Frank wie auch andere neuere Bewusstseinsphilosophen fallen da zum Teil hinter den Stand der älteren Tradition in der Begriffsbildung zurück. Enttäuschend ist auch das Ergebnis, zu dem Frank dann nach langen klugen Erwägungen vorstößt: Individualität, die nun die Einzigartigkeit von Person und Subjektivität hervorhebt, sei nichts anderes als »eine Folge kontinuierlicher Transformation von Zuständen […], die einer Person zu einer Zeit zukommen« (ebd., 19). Das klingt wie eine frühe Version eines Computers, die in den Siebzigerjahren, als Frank den Beitrag schrieb, gerade in der Herstellung war. Kein Wort darüber, dass menschliches Bewusstsein Produktivität ist, dass diese – auch wenn der Begriff der Person fällt – in einem menschlichen Körper statthat, dass eben geistige Prozesse, seien sie hochbewusst oder auch nur halb- oder unterbewusst, einer Person nicht einfach »zukommen«, sondern von dieser in ihrem Gehirn aktiv erzeugt werden, Einsichten, die die ältere Theorie der Person zum Teil schon hatte. Gleichwohl hat Manfred Frank aber in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts Bedeutendes geleistet zur Differenzierung der Begriffe ›Bewusstsein‹, ›Selbstbewusstsein‹ wie auch seiner präreflexiven Formen (siehe dazu auch Borner: Über präreflexives Selbstbewusstsein). Es ist ja auch das Ergebnis der Neurophysiologie, dass Bewusstsein wie Selbstbewusstsein Phänomene sind, »die sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch und schließlich auch aktualgenetisch aus zahlreichen und sehr vielfältigen Vorstufen entstehen, nämlich von nicht-reflexiven über präreflexive zu reflexiven Prozessen« (Gerhard Roth in Borner: Über präreflexives Selbstbewusstsein, 13), die wir im Einzelnen gar nicht wahrnehmen und verfolgen kön163 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Individualität, Personalität, Subjektivität

nen, wenn wir als Individuen uns eines Eindrucks oder Gedankens bewusst werden. Für eine Theorie der Individualität und Personalität ist es aber wichtig, dass es letztlich ein Ich ist, welches ein Bewusstsein von sich und der Welt hat, wie stark aufgesplittert auch im Einzelnen die Bewusstseinselemente im Bewusstsein entstanden sein mögen. Ohne diese Synthese im Bewusstsein einer Person gäbe es auch keine Verantwortung eines Subjekts für seine Gedanken und Taten. Darauf aber muss ein Rechtsstaat pochen (siehe Kap. 1.8).

Moderne Depersonalisierung. Individualitätskult In der modernen Soziologie wurde dann auch ein Problem diskutiert, das in der oben genannten Forschung zum Thema Bewusstsein und Selbstbewusstsein keine Rolle spielte: Die Rückwirkung nämlich, welche die moderne Massengesellschaft auf das moderne Subjekt hat. Soziologen wie Gustave le Bon in »Psychologie der Massen«, Ferdinand Tönnies in »Gemeinschaft und Gesellschaft«, Georg Simmel in seiner »Soziologie«, Emile Durkheim in »Über die Teilung der Arbeit« haben das Phänomen der Vermassung sogar schon vor und kurz nach 1900 thematisiert, dies zumeist als eine Form der Depersonalisierung des Menschen in der Masse und – so bei Tönnies – auch mit Sehnsucht nach vorindustrieller »Gemeinschaft«. Auf der anderen Seite findet sich in diesen Theorien auch schon ein Kult des Individuums, der es geradezu heiligspricht. Hier sind auch die Einflüsse Nietzsches zu vermerken. So hat Emile Durkheim in seiner Vorlesung über »Erziehung, Moral und Gesellschaft«, die er 1902–03 an der Sorbonne hielt, sein Hauptaxiom so formuliert: »In der Tat ist es eines der Hauptaxiome unserer Moral (man könnte sagen, das Hauptaxiom), daß die menschliche Person heilig ist. Sie hat Recht auf den Respekt, den der Gläubige aller Religionen seinem Gott vorbehält.« (Durkheim: Erziehung, Moral und Gesellschaft, 153 f). Und Durkheim verbindet diesen Begriff von Person und Individualität wie Kant mit der »Autonomie des Willens«: »Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze […] die Autonomie ist das Werk des vernünftigen Willens […]« (ebd., 155 f). Hier sind also noch einmal zentrale Werte, welche die europäische Tradition mit den Begriffen ›Individualität‹ und ›Personalität‹ verbindet, zusammengeführt: Vernunftnatur, Würde, Autonomie als Eigenständigkeit des Willens, sogar Heiligkeit. Das klingt geradezu nach Rückkehr der 164 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Moderne Depersonalisierung. Individualitätskult

Heiligkeit der göttlichen Person aus dem Mittelalter in die Moderne. In der Tat meinte der national-konservative Durkheim, ohne eine neue »Sakralität« werde die moderne Demokratie nicht überleben. Hans Joas knüpft mit seinem Buch zur Sakralität der Person daran an (Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, siehe Kap. 1.8, 210 f). Tatsächlich aber hat sich in der jüngeren Geschichte das Umfeld total verändert: Die industriell-arbeitsteilige Gesellschaft hat den modernen Menschen der Großstadt einerseits herausgehoben aus traditionellen Lebensbezügen, die Moderne geht einher mit einer Entwertung der traditionellen Werte und damit auch ihrer Lebensformen wie Familie und dörfliche Gemeinschaft. Das Individuum in der modernen Großstadt fühlt sich daher vielfach vereinsamt, atomisiert, desintegriert. Die moderne Literatur des Expressionismus ist voll von solchen Entfremdungserfahrungen (Vietta: Lyrik des Expressionismus, 30 ff »Großstadterfahrung«). Andererseits erlaubt aber genau dieser Hinfall traditioneller Werte und Lebensformen und die damit verbundene Desintegration des Individuums auch die Erprobung und Erforschung neuer Lebensformen, auch und gerade solcher, die vormals in der traditionsgeleiteten Gesellschaft tabuisiert waren. Auch dafür ist die moderne Literatur und Kunst ein Beispiel, insofern ihre Avantgarden in einem konstanten Streit mit der »bürgerlichen Moral« sich befinden und dagegen opponieren. Von Friedrich Schlegels Eheroman »Lucinde« über Charles Baudelaires »Blumen des Bösen«, Oskar Wildes Homosexualität bis zu D. H. Lawrence’ Roman »Miss Chatterley’s Lover« und darüber hinaus reicht dieser Streit der ästhetischen Moderne mit der bürgerlichen Moral. Und noch ein dritter Faktor ist bedenkenswert: Die moderne Rationalitätskultur normiert auch sehr stark das moderne Leben in der Form der Standardisierung der Arbeitsprozesse, Normierung der großstädtischen Bau-, Wohn- und Essenskultur, Normierung auch des Warenangebots. Diesen letzten Punkt hat insbesondere der polnische Philosoph und Soziologe Zygmunt Bauman herausgearbeitet. In seinem Essay »Mach’ doch was du willst! – oder: Individualität als Fetisch« unternimmt es der Autor, den modernen Individualitätskult als eine Art eigenen und neuen Warenfetischismus zu entlarven. Bauman argumentiert: »In der Konsumgesellschaft sind die Menschen selbst Konsumprodukte, erst diese Eigenschaft macht sie zu vollwertigen Mit165 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Individualität, Personalität, Subjektivität

gliedern dieser Gesellschaft.« (In: Bauman: Leben in der flüchtigen Moderne, 125) Aber schon in dieser Formulierung steckt eine Übertreibung. Natürlich sind wir alle Mitglieder einer Konsumgesellschaft, aber nicht diese Eigenschaft, sondern unsere Fähigkeit als Individuen, sich selbstbewusst darin zu bewegen und zu behaupten, macht uns »zu vollwertigen Mitgliedern dieser Gesellschaft«. Bauman redet einem Fatalismus das Wort: der moderne Mensch als Opfer der Konsumgesellschaft. Seiner Meinung nach kann »in der Konsumgesellschaft […] niemand ein autonomes Subjekt sein, ohne zunächst zur Ware zu werden« (ebd., 132). Wie konnte sich denn da der Autor als Kritiker der modernen Konsumgesellschaft behaupten, wenn er selbst so komplett vermarktet und zur Ware geworden wäre? Noch einmal Bauman: »Der Individualismus ist in der Verbrauchergesellschaft das, was die Ware in der Industriegesellschaft war: ein Fetisch […]« (ebd., 134). Die »Rolle des Subjekts« sei nichts als »Maske« (ebd., 135). Wofür unser Autor dann plädiert, ist ein System der Organisation des Soziallebens mit »sozialstaatliche(r) Überwachung, Eindämmung und Lenkung«, also mehr oder weniger klar: das alte sozialistische System, aus dem er selbst kommt. Es »soll verhindern, dass immer mehr Menschen zu Opfern des Marktes werden« (ebd., 141). Als wenn nicht im sozialistischen System die Abhängigkeit von den Waren noch größer war, weil man sie dort nicht bekam beziehungsweise nur die Parteieliten zum exklusiven Warenmarkt Zugang hatten. Niemand verkenne die Abhängigkeit des modernen Menschen von der Warenwelt und ihrer psychologisch raffinierten Be-Werbung. Sicher sind auch Warenfetischismus, Kaufrausch und Konsumsucht als das zu beurteilen, was sie sind. Aber aus solchen Phänomenen generell die moderne Subjektivität als nichtig und maskenhaft abzukanzeln, ist fahrlässig und falsch. Der Freiheitsraum, den ein Kritiker wie Bauman in der modernen demokratischen Gesellschaft selbstverständlich für sich in Anspruch nimmt, ist das beste Argument gegen seine eigenen radikalisierten Thesen von der Nichtigkeit des Subjekts in der Moderne. Moderne Individualität ist eingespannt in eine extreme Ambivalenzstruktur: Einerseits viel selbstbestimmter leben zu können in einer modernen desintegrierten Großstadtwelt als in einer traditionsgeleiteten Gesellschaft, andererseits aber auch viel stärker isoliert zu sein und dafür ein normiertes Angebot an Konsumgütern und Lebensoptionen vorzufinden. Der moderne Markt stellt sich darauf ein 166 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Moderne Depersonalisierung. Individualitätskult

und versucht das Warenangebot stärker denn je zu individualisieren. Es bleibt aber trotzdem ein normiertes Angebot. Die moderne Individualisierung aber stellt ein ganz anderes Problem für die Gesamtgesellschaft dar. Wer oder was regelt denn, wenn das Individuum seine eigenen Lebensregeln entwerfen und danach leben kann, den Gesamtzusammenhalt der Gesellschaft? Das ist praktisch ein Problem für alle modernen Gesellschaften geworden. Wir erinnern uns an das Kapitel über Demokratie mit seiner Formel von Thomas Hobbes der »Mensch ist des Menschen Wolf«: »homo hominis lupus«. Nach Hobbes ist es der Gesellschaftsvertrag, der den Menschen vor sich selbst schützt, indem er seine Macht an den Staat abtritt, der ihm dafür Sicherheit und Schutz seiner selbst und seines Eigentums garantiert. In der Tat erleben wir Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts fast wöchentlich weltweit irgendeine Art von Amoklauf und Massaker, in der ein entfesseltes Individuum oder mehrere Menschen wahllos mit Waffen, Sprengstoff, Fahrzeugen andere Menschen töten. Motiv ist meistens der Hass auf die Gesellschaft, sei dieser religiös oder rein individuell-psychopathisch bedingt. Zygmunt Bauman erhofft sich von einer »normativen Individualität« die Rückkehr auch zu einer gesellschaftlichen Vernunft. Bauman geht von einer natürlichen Moralität des Menschen aus, die man nur wieder zu sich selbst kommen lassen und befreien muss. »Die Radikalität der Lösung Baumans zur Vermeidung der von ihm kritisierten modernen Dynamiken, die ein barbarisches Potential beinhalten, liegt nun in einem normativen Individualismus, der quasi-automatisch seine eigene Verwirklichung und Umsetzbarkeit […] impliziert.« (Kron: Moralische Individualität, 130) Baumans Glaube an die natürliche Moralität des Menschen ist bester Rousseauismus, aber nicht wirklich realistisch. Eine freie und demokratische Gesellschaft wird vielmehr auch dem Individualismus der Moderne Schranken setzen müssen und diesen so eingrenzen, dass er im Kollektiv eben nicht schädlich wirkt oder wirken kann. Im Grunde kommt eine moderne Gesellschaft auch nicht mehr allein mit Kants Maxime durch, die da lautet: »handle jederzeit nach derjenigen Maxime, deren Allgemeinheit als Gesetz du zugleich wollen kannst«, oder noch allgemeiner formuliert: »Handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstand haben können.« (Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, II, 64) Das ist nach wie vor ein sinnvoller Grundsatz, aber zugleich wissen wir: Es sind zu viele Individuen un167 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Individualität, Personalität, Subjektivität

terwegs, die nicht danach handeln. Polizei, Gerichte, Strafverfolgung und eine Politik, die nicht blauäugig den Menschen zu sehr idealisiert, sondern auch seine Gefahrenpotentiale kennt, sind daher vonnöten. Das geht nicht ohne Zwänge ab. Aber sie regeln und garantieren auch, dass sich eine gute Individualität und Persönlichkeit in einer Gesellschaft umso (angst-)freier entfalten kann.

Individualität im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung Das Zeitalter der Digitalisierung hat eine ungeahnte Expansion der Individualität gebracht. Das Ich kann sich im Netz beinahe grenzenlos ausbreiten, vernetzen, Kontakte mit aller Welt aufnehmen, und viele Individuen in der modernen Gesellschaft tun das auch. Andererseits ist genau diese neue Existenzform ›im Netz‹ auch ein Problem, weil sie das Ich seiner nächsten Umwelt entfremden kann. Es gibt heute eine Vielzahl von Individuen, die sich fast gänzlich in die zweite Wirklichkeit des Internets zurückgezogen haben, dort durch die Welt ›surfen‹, dort auch – zumeist in fiktiver Identität – ihre Kontakte schließen und am Ende oft selbst nicht mehr wissen, wer sie eigentlich sind. Individualität kann sich selbstverständlich auch in der Nutzung moderner Medien zeigen, aber bleibt doch rückverwiesen auf die eigene körperliche Existenz, die ja bis auf das Starren auf den Bildschirm und Klicken und Tastentippen weitgehend ausgeschaltet ist. Sie bleibt aber rückverwiesen auch auf die personale Begegnung mit anderen Menschen, wenn ein Individuum selbst als vollwertige Person existieren will. Bereits im mittelalterlichen Begriff von ›Person‹ kommt, wie wir sahen, der personalen Relation eine zentrale Rolle zu: primär in der Dreieinigkeit, sekundär in der Gesellschaft in der Beziehung des Menschen zu Gott, eines Menschen zu anderen Menschen und auch in der Beziehung eines Menschen zu sich selbst. Das Netz individuell zu nutzen, ist sicher legitim und hilfreich, in es abzutauchen und darin als Person zu verschwinden, aber gefährlich und in der Wirkung auch depersonalisierend. In der gegenwärtigen Globalisierung kann man, wenn man realistisch denkt, die Chancen der klassisch-europäischen Wertbegriffe Individualität, Personalität, Subjektivität auch skeptisch beurteilen. Der Hauptgrund dafür ist die Explosion der Weltbevölkerung. Allein 168 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Individualität im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung

in Afrika wird sich beim gegenwärtigen Wachstum der afrikanischen Bevölkerung diese in den nächsten drei Generationen zweimal verdoppeln auf geschätzte über vier Milliarden Menschen. Welche Chancen hat ein Mensch in den von Menschen überquellenden, zugleich extrem armen Lebensräumen von Niger, Burkina Faso oder wo auch immer, seine Menschenwürde zu wahren. Es geht dort jetzt schon und wird immer mehr nur um das nackte Überleben gehen. Umso sinnvoller aber mag es sein, zumindest dort, wo es noch möglich scheint, traditionelle Werte zu wahren. Dies auch im Gegenzug zu den Nivellierungs- und Normierungstendenzen der heutigen Weltgesellschaft.

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1.7 Bildung

Zusammenfassung (1) »Der Mensch ist, was er sein soll, erst durch Bildung« (Hegel). Daraus resultiert der Wert der Bildung. (2) Sie soll den ganzen Menschen erfassen und nicht nur Spezialwissen vermitteln. (3) Bildungsprozesse verlaufen über die Aktivierung des menschlichen Bewusstseins. Sie setzen dessen Eigenproduktivität in Gang. (4) Ästhetische Bildung kann und soll die Bildung des Verstandes ergänzen im Sinne eines produktiven Vorstellungsvermögens (Einbildungskraft), Sinnlichkeit und Emotion. (5) Neuhumanistische Bildung sah das Bildungsideal in der Antike verwirklicht, diesem – der idealen Bildung des ganzen Menschen – strebt sie nach. (6) Pädagogische Leitideen der Moderne und Postmoderne sind oft zu technizistisch ausgelegt, so das Konzept von Bildung als »Transformation«. (7) Bildung in der Gegenwart hat zwei Schwerpunkte: A. Ausbildung im Sinne der Rationalitätskultur und deren Beherrschung (MINT-Fächer), B. Humanbildung im Sinne der Literarität, Lese-, Schreib-, Denkfähigkeit und der Werte: eigenes Denken, Wahrhaftigkeit, Kritikfähigkeit, Emotionalität.

Herkunft des Begriffs Der Begriff der Bildung stellt wie die vorigen einen Hochwert der europäischen Kultur dar und gehört wesentlich mit jenen zusammen, insbesondere mit der vorigen Begriffstrias: Individualität, Personalität, Subjektivität. Denn ein Individuum und eine Person im emphatischen Sinne wird der Mensch erst durch Bildung. Erst durch sie wird er, was er sein kann. So drückte es Hegel in seinem »System der Philosophie« aus: Der Prozess, durch welchen sich das einzelne Individuum zu seiner komplexen Konkretion entwickelt, ist die Bildung: »Dieser Entwicklungsproceß ist die Bildung.« (Hegel: Sämt170 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Herkunft des Begriffs

liche Werke Bd. 10, 94) Der Mensch ist, was er sein soll und kann, erst durch sie. Wenn der Imperativ der Aufklärung hieß: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« (Kant: Was ist Aufklärung?, 55), so lautet der ihm entsprechende Imperativ der klassischen Pädagogik: Werde, der du sein kannst, durch Bildung deines Verstandes wie auch deines Herzens, also des ganzen Menschen. Denn die Pädagogik der Goethezeit hat nicht mehr nur die Verstandesbildung als Ziel vor Augen, sondern die Bildung des ganzen Menschen, Verstand wie Herz, Geist wie Körper. Durch Bildung kommt auf diese Weise Dynamik in die Philosophie des Menschen. »Die menschliche Individualität ist keine fixe Größe«, sagten wir im letzten Kapitel, sie »entwickelt sich, ›bildet‹ sich. Jeder Mensch hat seine eigene individuelle Bildungsgeschichte« –, die freilich auch deren Scheitern einschließen kann. In jedem Falle ist Bildung jene wertvolle Kategorie, durch die der Mensch eigentlich erst wird, was er sein kann und schon geworden ist. Das deutsche Grundgesetz garantiert das Recht auf »freie Entfaltung der Persönlichkeit« sowie das »Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen« (GG, Art. 2 und 12, siehe Kap. 1.8, 206). Der Begriff der ›Bildung‹ kommt aus der Mystik und hat dort zunächst einen eher negativen Charakter. Für Meister Eckhart, den deutschen Mystiker des 13., frühen 14. Jahrhunderts, gilt: »Das ist das eigentliche Bild der Seele, wo nichts aus- noch eingebildet wird, außer, was Gott selbst ist.« (Meister Eckhart: Predigten II, 203) Solche ›Bildung‹ des inneren Menschen geschieht nach Meister Eckhart durch einen Prozess der Entleerung. Der Mensch muss sich freimachen von äußeren Eindrücken und Zwängen, um Gott rein in sich empfangen zu können: »ein solcher Mensch ist befreit von allen geschaffenen Dingen« (ebd.). In ihm strahlt jener göttliche »Seelenfunken«, den jeder Mensch in sich trägt, ihn aber kaum wahrnimmt vor lauter Fremdbestimmung der Seele. Erst wenn die Seele sich davon freimacht, kann sich Gott in ihr ›einbilden‹. Die Entwicklung des Begriffs im Sinne der Bildung zu einer geistigen Kultur vollzieht sich dann im Humanismus und in der frühen Aufklärung. Insbesondere Leibniz entwickelt eine eigentümliche, aber einflussreiche Idee des menschlichen Bewusstseins als »Monade«, die durch innere Aktivität geprägt ist, die »actions internes« (Leibniz: Monadologie § 18). Beim Menschen sind das bewusste Akte der Perzeption, in der das monadische Bewusstsein die äußeren Dinge in sich spiegelt, und der Apperzeption oder reflexiven Erkenntnis 171 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Bildung

»des inneren Zustandes« (Leibniz: Vernunftprinzipien, § 5). Der Leibniz-Schüler Christian Wolff hat dafür den Begriff der »Einbildungskraft« geprägt und damit die Aktivität des menschlichen Bewusstseins auch für Prozesse der Erinnerung von Wahrnehmungen geprägt: »Die Vorstellung solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pfleget man Einbildungen zu nennen. Und die Kraft der Seele dergleichen Vorstellungen hervorzubringen, nennet man die Einbildungskraft.« (Wolff: Deutsche Metaphysik, § 235) Im Folgenden unterscheidet dann die Philosophie zwischen reproduktiver und produktiver Einbildungskraft. Erstere ruft aktiv ins Bewusstsein, was vormals schon darin war, hat somit Erinnerungsfunktion, zweitere produziert aus den Bewusstseinsdaten kreative neue Inhalte. Damit, mit der Entdeckung der Eigenaktivität des menschlichen Bewusstseins, war auch eine neue Bildungskultur geboren worden, die unter ›Bildung‹ nun die produktive Aktivierung des menschlichen Bewusstseins verstand und dieses auch über die Ästhetische Theorie hervorrufen wollte: Bildung des Menschen nicht nur über den Verstand, sondern auch über die ästhetische Einbildungskraft.

Ästhetische Bildung Ein Fanal der neuen Bildungsidee kam aus der Beschäftigung mit den Antiken. Johann Joachim Winckelmann war für den deutschsprachigen Kulturraum der Entdecker der Antike. Sein Hauptbegriff dabei ist daher noch nicht die Einbildungskraft, sondern vielmehr der Begriff der Nachahmung. Für Winckelmann hat sich der »gute Geschmack« in den Künsten »zuerst unter dem Griechischen Himmel« herausgebildet, daher sei es die Aufgabe seiner Zeitgenossen, diesen durch Nachahmung wiederaufleben zu lassen. »Der eintzige Weg für uns, groß, ja (…) unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten« (Winckelmann: Kleine Schriften, 29). Bildung also durch Nachahmung. Aber die produktive Eigenaktivität des sich bildenden Menschen ist dabei noch gar nicht recht erfasst. Gegenüber Winckelmann hat dann Karl Philipp Moritz in seiner Schrift »Über die bildende Nachahmung des Schönen« betont, dass wir »das Schöne« nicht einfach durch Nachahmung in uns erzeugen können, sondern dass es »nothwendig wieder aus uns herausgebildet werden« muss (Moritz: Schriften zur Ästhetik, 66). Für diese innere Aktivität mobilisiert auch Moritz den Begriff der Einbildungskraft. 172 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Ästhetische Bildung

»Zu dem Begriff des Schönen« gehöre es, dass er »von unsrer Einbildungskraft umfaßt werden könne« (Ebd., 72). Damit ist auch der Theorie der Klassik wie auch der Romantik der Weg gewiesen: Kunst ist nicht einfach Nachahmung anderer großer Kunst, sondern ein Werk der Einbildungskraft und ihrer Erfindung von neuen Welten. Novalis fragt: »Ist nicht die Einbildungskraft, oder das höhere Organ, der poëtische Sinn überhaupt?« (HKA II, 568) Er definiert die Kunst lapidar als Produktionsvermögen: »Kunst – Fähigkeit bestimmt und frey zu produciren […]«. (HKA II, 585) In England nehmen die Romantiker Coleridge und Wordsworth den Gedanken auf in der Gegenüberstellung von »fancy« als der passiven, bloß reproduktiven Einbildungskraft und der »imagination« als jenem Produktionsvermögen, das eine »neue Welt« aus dem Geiste erzeugen kann. Und auch Baudelaire knüpft hier an mit seinem Begriff der »imagination créatrice«, der wiederum für die Poetik und Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts richtungsweisend wird (Vietta: Ästhetik der Moderne, 117 ff). Die moderne Poetik und Ästhetik seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert betont also das Moment der Aktivität und Produktivität des Geistes, ähnlich wie es die Philosophie der Zeit in Bezug auf die Erzeugung von Wissen im Bewusstsein getan hatte (siehe Kap. 1.1, 50 ff). Auch sie hatte ja die Erzeugung von Wissen im Bewusstsein als einen Akt der Produktivität des menschlichen Geistes gedeutet. Welche Auswirkung hat das nun für die Bildungstheorie? Bereits der englische Philosoph Shaftesbury verbindet ›Bildung‹ mit ästhetischen Prozessen, in deren Verlauf sich »a genteel charakter« formieren könne und eine »inward form« herausbilden, in der deutschen Übersetzung wird dafür der Begriff »Bildung« gebraucht (Liebsch: Die Geburt der Bildung 183 f). Wir sind hier aber erst bei der Bildung der Eliten des Adels, noch nicht bei der Bildung des Menschen oder gar: der Menschheit, die das Anliegen des Neuhumanismus vor und nach 1800 war. Friedrich Schiller in seinen »Ästhetischen Briefen« sieht in der Kultur eine doppelte Aufgabe: die »Ausbildung des Gefühlsvermögens« wie auch »Ausbildung des Vernunftvermögens«, beide sollen sich in der Bildung des Menschen vereinigen und somit »der Mensch mit der höchsten Fülle von Daseyn die höchste Selbständigkeit und Freyheit verbinden« (Schiller: Ästhetische Briefe, 349). Also Bildung der Einheit der Persönlichkeit über die Ausbildung wie Vereinung beider Seiten seiner Natur und dies mittels der ästhetischen Bildung. 173 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Bildung

Aber was bringt eigentlich die ästhetische Bildung zur logischrationalen hinzu? Es sind tatsächlich unterschiedliche Formen des Bewusstseins: Das logisch rationale Denken (A) verläuft nach einem berechenbaren Schema derart, dass der Folgeschritt aus dem vorigen sich zwangsläufig ergibt, er kann daher aus dem Vorausgehenden deduziert, berechnet werden. Das Grundmodell dafür liefert die Algebra: 2 + 2 = 4, das Ergebnis steckt bereits in der Aufgabe. Daher kann man solche linear-logischen Prozesse auch durch mathematische Maschinen errechnen lassen und dies heute in unvorstellbar größeren Datenmengen, als sie das menschliche Gehirn je zu bewältigen vermöchte. Der heutige Bildungsauftrag für Schulen und Universitäten lautet daher: Solche Prozesse erkennen und auch auf höherer Stufe Maschinen programmieren zu können. Das ist auch nötig, wenn der Mensch Herr des Computers bleiben will und soll. Die vielfach durch die Fantasie angeleiteten ästhetischen Prozesse (B) aber folgen einer anderen Logik, einer Logik der Einbildungskraft oder Fantasie. Diese verläuft nicht so linear wie in (A), kann daher auch nicht so einfach rechnerisch deduziert werden. Alle Versuche, die Künste wie mathematische Gleichungen behandeln und ihre Ergebnisse vorausberechnen zu wollen, sind gescheitert. Die Logik der Künste verläuft sprunghafter, assoziativer als die lineare Logik der Mathematik. Die ästhetische Logik verläuft oft gerade entgegen der Alltagslogik unserer Wahrnehmung. Metaphern wie Paul Celans Anfangsverse in seiner Todesfuge: »Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts / wir trinken und trinken […]« (Celan: Mohn und Gedächtnis, 37) erzeugen ihre eigene Bedeutung im Gedicht gerade durch die Abstoßung von der Alltagsbedeutung der Wörter. Milch ist nicht schwarz, sondern hat eine helle, weißliche Farbe. Es ist daher klar, dass die »schwarze Milch«, die uns der Gedichttext zu trinken gibt, nicht die unserer Alltagserfahrung ist. Die »schwarze Milch« des Celan-Gedichtes ist vielmehr eine Metapher für die Leiderfahrung des Holocaust durch den jüdischen Autor, das Trinken zu allen Tageszeiten eine Metapher für die Permanenz dieser Leidenserfahrung. Die Logik der Poesie macht also Sprünge: Heraus aus der Alltagswahrnehmung und hinein in die assoziative Welt des ästhetischen Raumes, in dem neue Bedeutungsfelder geknüpft und versprachlicht werden. Was aber bringt das für die Bildung eines Menschen? Genau darauf ver-

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Neuhumanistische Bildungsidee

suchte die neuhumanistische Bildung der Klassik und Romantik eine Antwort zu finden.

Neuhumanistische Bildungsidee Die zentrale Bildungs-Idee des Neuhumanismus war es, den ganzen Menschen ausbilden zu wollen, also auch: den Menschen als Ganzheit. Warum aber, so könnte man fragen, braucht ein Mensch, der im Handwerk, in der Industrie oder als Politiker arbeitet, auch eine Schulung in der oben beschriebenen ästhetischen Logik (B)? Warum überhaupt an der Idee einer Ganzheit der Bildung festhalten? Weil, so lautet die kurz gefasste Antwort, der Mensch es in vielen Lebenslagen mit kreativen Aufgaben zu tun hat, die er nicht rein rechnerisch lösen kann, sondern für die er eine produktive Einbildungskraft braucht. Dies vor allem auch, um die Folgelasten einer Entscheidung mitzubedenken. Menschen, die blind sind gegen die Folgelasten ihrer eigenen Planung, wollte Friedrich Schiller mit seinen »Ästhetischen Briefen« aus dem »einförmigen Kreis« ihres »Geschäftsgeistes«, in dem sie »eingeschlossen« sind, herausführen (Schiller: Ästhetische Briefe, 325). Er wollte ihnen zeigen, dass es neben dem »Nutzen«, dem »große(n) Idol der Zeit« (ebd., 311) noch ganz andere Kriterien für die Gestaltung der Wirklichkeit gibt. Aber vermutlich hatte keiner der Verantwortlichen ihn gelesen. Die Bildungsidee der vorhumanistischen Aufklärung war zu eng auf reine Nützlichkeitserwägungen abgestellt. Und das ist die Bildungsidee ja heute auch wieder, Bildung nach Maßgabe des »Nutzens« und »Nützlichen«. Das Problem ist dabei, dass diese Begriffe selbst zu kurzatmig definiert sind. Nicht nur das Nützliche ist eben nützlich, sondern die Fähigkeit eines Menschen – und je höher im Management angesiedelt, desto mehr –, sich auch die Folgelasten eines Projektgedankens umfassend in seinem Kopf ›einbilden‹ zu können. Einbildungskraft, Vorstellungsvermögen sind da gefragt. Fast alle großen Fehlleistungen der politischen Eliten der letzten Jahre, Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte haben damit zu tun: der Einmarsch Napoleons nach Russland, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Hitlers Wahnsinnspläne zur Eroberung der Welt. Der neuhumanistische Gelehrte und spätere Kultusminister von Preußen, Wilhelm von Humboldt, hatte wie Schiller den Plan zu 175 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Bildung

einer umfassenden Menschenbildung. In einem Fragment zur »Theorie der Bildung des Menschen« visiert Humboldt nicht nur das Ziel der Bildung eines Menschen zur Ganzheit, sondern auch der Menschheit »als ein Ganzes« an (Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen, Werke I, 234). Die Vermittlung der universalistischen Ebene mit der individuellen liegt darin, dass wir als Menschen selbst Teil der Menschheit sind und diese in uns tragen: der »Begriff der Menschheit in unsrer Person« (ebd., 235). Die Bildung des einzelnen Individuums – oder dessen Nicht-Bildung – hat somit positive oder negative Rückwirkung auf die ganze Menschheit. Warum aber Bildung unserer Person wie auch – durch uns – der Menschheit? Die Frage führt in die Werttheorie: »Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von dem ganzen Menschengeschlecht, wenn man ihm seine Achtung und seine Bewunderung schenken soll?« Humboldt antwortet: »Man verlangt, dass Bildung, Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet, als möglich, unter ihm herrschen, dass es seinen innern Werth so hoch steigern, dass der Begriff der Menschheit […] einen großen und würdigen Gehalt gewönne« (ebd., 236) – und dies durch jeden Einzelnen wie eben auch das Ganze. Das Mittel, mit dem Humboldt solche Bildung erreichen wollte, teilt er nicht in diesem Fragment mit, wohl aber in einer Reihe von Studien zur Antike wie »Ueber den Charakter der Griechen«. Die Griechen, so Humboldt, hätten beispielhaft die Idee der Menschheit verkörpert. Das sieht Humboldt ähnlich wie Winckelmann. »Die Griechen sind uns nicht bloss ein nützlich historisch zu kennendes Volk, sondern ein Ideal.« (Humboldt: Über den Charakter der Griechen, Werke II, 65) Es zeige sich bei den Griechen »meistentheils der ursprüngliche Charakter der Menschheit überhaupt« (Humboldt: Über das Studium des Altertums, Werke II, 19). Individuum und Gattung seien hier ideal vereint gewesen. Die Griechen hätten das »ganze Wesen des Menschen (…) in eins vereint« (ebd., 19) und dies vor allem durch ihren Schönheitssinn. In diesem verschmelzen aber nach Humboldt körperliche wie geistige Schönheit (ebd., 14) zu eben jener Ganzheit des Menschen, die Humboldts Bildungs-Ideal darstellte. An dieser hier nur grob skizzierten Bildungsidee fällt auf, dass sie nicht an der Moderne orientiert ist, sondern an der Antike, und dies gerade weil in der Moderne all das auseinandergefallen sei, was in der Antike vereint war. Die Antike als Bildungsideal hat also eine Kompensationsfunktion für die Moderne. Weiterhin ist Humboldts 176 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Neuhumanistische Bildungsidee

Bildungsidee in erster Linie auf »unsre innere Bildung«, nicht auf äußere Bildung und auch nicht auf materielle Ziele abgestellt. Damit ist allerdings nicht der Rückzug auf bloße Innerlichkeit gemeint. Für Humboldt ist der Bezug des Ichs zur Welt zentral: »die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt« und dieser den Stempel unsres »Geistes« aufzudrücken (Humboldt: Theorie der Bildung, Werke I, 235 und 237). In diesem Sinne und mit diesem Auftrag ist Bildung Persönlichkeitsbildung zu einer möglichst ganzheitlichen Form von aktivem Menschsein und dies im Rückgang auf eine weit zurückliegende, aber geniale Phase der Menschheitsentwicklung. Man kann diesen Ansatz rasch kritisieren als nicht mehr zeitgemäß, auch zu idealistisch in der Bewertung der griechischen Kultur. Dennoch hat Humboldts Bildungsidee Institutionen wie die Berliner Universität – die hat er 1809 selbst mitbegründet – und das humanistische Gymnasium mit auf den Weg gebracht, die offenbar auch für die zunehmend fragmentierte Moderne ideale Lehr- und Lernsituationen bereitstellten (dazu Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts). Gerade in Zeiten zunehmender Entfremdung des Menschen von seiner Arbeitswelt durch die moderne Industrialisierung, die ja im frühen 19. Jahrhundert schon im Gange war, auch der Entfremdung des Menschen vom Menschen durch einen neuen Klassenantagonismus mag gerade die Idee wichtig werden, die an der Komplexität und Ganzheit der Ausbildung des Menschen festhält und die Verbindung des Individuums mit der ganzen – heute würden wir sagen – WeltGesellschaft beachtet. In seinem Bildungs-Fragment betont Humboldt, dass der Mensch »in dieser Entfremdung« des Umgangs mit einer sich von ihm abspaltenden Welt nicht »sich selbst verliere«, dass er den Gegenständen »die Gestalt seines Geistes aufdrücken« solle (Humboldt: Theorie der Bildung, Werke I, 237), im Zeitalter der Automatisierung und zunehmenden Fremdsteuerung von Prozessen durch diese eine nach wie vor bedenkenswerte Idee. Das Problem vieler pädagogischer Leitideen unserer Gegenwart ist ja, dass sie oft viel zu kurzatmig den Menschen nur an die Maschine anpassen wollen, entweder durch eine Vertechnisierung der Bildung oder auch durch eine gänzliche Resignation der Bildungsidee und ihre Verharmlosung zur naiven Spielwiese. Mit Maschinen umgehen lernen ist wichtig in unseren Zeiten, aber doch mit einer Idee des Menschen im Hinterkopf, die uns sagt, dass der Mensch mehr ist als eine, wie es häufig heißt, »informationsverarbeitende Maschine«, 177 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Bildung

eine Art schlechter und schwerfälliger Computer. Diesen zu steuern vermögen, fordert auch die Bildung einer ebenso hochgebildeten Rationalität wie Kreativität. Julian Nida-Rümelin hat recht, wenn er in seinem Plädoyer für einen »erneuerten Humanismus« Humboldts Bildungsidee wiederbelebt und an ihr das Moment der Ganzheitlichkeit wie Eigenständigkeit hervorhebt: die Ermöglichung der Befähigung »selbständig zu denken« (Nida-Rümelin: Humanismus als Leitkultur, 15). Nida-Rümelin argumentiert mit der Antike – hier Platon – gegen die permanente »Instrumentalisierung der Bildung« (ebd., 31), wie sie gerade die deutsche Politik der letzten Jahre immer wieder zum Ärger vieler Eltern betrieben hat. Der Arbeitsmarkt der Zukunft verlangt nach Nida-Rümelin gerade »nicht nach dem Spezialisten, sondern nach Persönlichkeiten, die artikulationsfähig sind, die sich ein Urteil bilden können, die Ich-Stärke haben und sich auf verschiedene kulturelle Situationen einstellen können« (ebd., 34) – also jene Werte verkörpern, die zu den europäischen Grundwerten gehören. Die ganzheitliche und auf Eigenproduktivität des Menschen setzende Bildungsidee Humboldts hat, wie erwähnt, dem klassischen humanistischen Gymnasium wichtige Impulse gegeben. Die Entwicklung dieser Bildungsanstalt schon im 19. Jahrhundert entfremdete sich allerdings immer mehr zu einer stoffhuberischen Lehrund Lernmaschine, in welcher die Schüler mit Lehrstoff geradezu überschüttet wurden und so das zentrale Ziel Humboldts: die Bildung des eigenen Denkens und der eigenen Persönlichkeit – gerade nicht mehr gefördert wurde. Ein Hauptproblem der Schulentwicklung des 19. Jahrhunderts war die »Überbürdung« der Schüler mit Stoff in überfüllten Schulen, zunehmend auch naturwissenschaftlichen Stoffen, also Entwicklungen, welche die Möglichkeit zur eigenständigen Begriffsbildung und Denkschulung der Schüler eher einschränkten als förderten, also das Hauptanliegen Humboldts auch wieder konterkarierten (Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. II, 585 ff). Im preußischen Gymnasium in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde zu viel Stoff rezipiert und das eigene Denken zu wenig gefördert. Der Kampf um das Gymnasium in unseren Tagen wird von einer ganz anderen Seite geführt: nämlich mit der Idee des Abbaus seiner Leistungsfähigkeit um willen einer unreflektierten Idee der Gleichheit, die sich oft am unteren Standard orientiert und als solche gerade nicht mehr Bildung im ausreichenden Maße fördern kann. Auch die Idee der Inklusion ist ja nur scheinbar integrationsförderlich und 178 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Der Wert von Bildung in der Moderne

wohl eher leistungsfeindlich. Die FAZ vom 6. Dezember 2017 berichtet, dass laut Iglu (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) auch die Grundschulbildung in Deutschland schwach abschneidet. »Hierzulande indessen verlässt jeder fünfte Viertklässler die Grundschule, ohne richtig lesen zu können. Der Anteil dieser Schüler, lange als Risikogruppe bezeichnet, hat sich auf 18,9 Prozent erhöht (2001 waren es noch 16,9 Prozent). Viele Inklusionskinder und noch mehr Kinder aus eingewanderten bildungsfernen Familien gehörten dazu.« Dabei gibt es über achtzig Leseförderprogramme in den Ländern, »davon aber wirken nur vier«. Die meisten wurden gar nicht recht evaluiert. Das kann man als eine Katastrophe für ein Bildungsland wie Deutschland bezeichnen. Es rächt sich dabei auch, dass die ganze Zuwandererdebatte unter der falschen Nazi-Kategorie des Rassismus abgehandelt wurde und nicht unter dem Gesichtspunkt des Bildungsstandes der Zuwanderer und auch, dass eine gänzlich ungeprüfte Experimental-Pädagogik wie »Schreiben nach Gehör« Eingang in die deutschen Schulen gefunden hat. Insgesamt scheint die Bildungspolitik in Deutschland mehr ein Projekt politischer Ideologien geworden zu sein als das einer anthropologisch-kindgemäßen professionellen Förderung. Die Hauptleidtragenden sind dabei die schlecht ausgebildeten Schüler, die nicht einmal gelernt haben, richtig zu lesen und ihre eigene Bewerbung fehlerfrei verfassen zu können, wenn sie die Schule verlassen. Das ist für ein Land, das für sein gutes Funktionieren als Demokratie und Wirtschaftsstandort gut ausgebildete Bürger braucht, existenzgefährdend.

Der Wert von Bildung in der Moderne Zum Problem der Bildungsforschung gehört, dass sie keinen entwickelten Begriff der Moderne und damit auch nicht ihrer Anforderungen an den Menschen hat. Immerhin bietet die Transfer- und Komplexitätsforschung Anknüpfungspunkte. So definieren Thomas Rucker und Elmar Anhalt in ihrem Buch »Perspektivität und Dynamik. Studien zur erziehungswissenschaftlichen Komplexitätsforschung« die Moderne einschließlich der Postmoderne als eine um Aufklärung ringende »offene« Gesellschaft. Moderne sei vor allem durch ihre Zunahme an Komplexität charakterisiert, mithin scheine »zumindest eine Erwartung an allgemein- erziehungswissenschaftliche Theoriebildung und Forschung heute darin zu bestehen, Komple179 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Bildung

xität zu berücksichtigen.« (Rucker und Anhalt: Perspektivität und Dynamik, 36) Die Verfasser wollen dies leisten, indem sie den Bildungsprozess selbst als eine Form der dynamischen Antwort auf diese Herausforderung begreifen, die grundsätzlich durch Zukunfts-Offenheit gekennzeichnet ist. »Offenheit bedeutet, dass die Dynamik nicht auf einen bereits vorab feststehenden Zustand finalisiert ist.« (Ebd., 38) Das klingt einladend, ist aber ein Stück weit illusorisch. Denn die Moderne ist nicht einfach nur durch Komplexitätszunahme gekennzeichnet, sondern im Gegenteil durch einen Prozess durchgreifender Rationalisierung der Welt, der zunehmend Monostrukturen auf allen Gebieten erzeugt und der auch selbst in vieler Hinsicht nicht wirklich ›zukunftsoffen‹ ist (Vietta: Rationalität, eine Weltgeschichte). In der Agrarwirtschaft wie im globalen Städtebau kann man das mit Augen sehen, in der Entwicklung der Wirtschaft mit Händen greifen. Komplexer werden die Steuerungstechnologien dieser durchgreifenden Rationalisierung auf allen Lebensgebieten. Das heißt aber: Der Bildungsauftrag in der Moderne muss sich diesen Anforderungen anpassen, indem er sie selbst zu begreifen und zu steuern sucht. Bevor wir darauf eingehen, noch ein Wort zur Bildungsforschung. Ein weiterer zentraler Begriff ist der Begriff der »Transformation«. Bildung sei Transformation. Der renommierte Bildungsforscher Hans-Christian Koller vertritt diesen Ansatz (Koller: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse). Aber macht dieser Ansatz zumindest mit seiner Terminologie nicht den Fehler einer zu nahen Annäherung menschlicher Bildung an maschinelle Transformationsprozesse? Zwar knüpft Koller an Humboldt und neuere Theoretiker des 20. Jahrhunderts an. Er will »bildungstheoretische Überlegungen auch anschlussfähig an die (qualitativ-)empirische Untersuchung von Bildungsprozessen« machen (a. a. O., 16 f). Mit dieser Intention entfaltet der Verfasser seine »Theorie transformatorischer Bildungsprozesse« (a. a. O., 17). Aber ist der Begriff der Transformation geeignet, Bildungsprozesse überhaupt angemessen zu beschreiben? »Wird Bildung«, so argumentieren Rucker und Anhalt, »ausschließlich als Transformation begriffen, so ist es zum Beispiel nicht mehr möglich, die Aufrechterhaltung einer Position auch gegen Widerstand als eine eigene Phase der Bildung zu begreifen.« (A. a. O., 55) Ein Transformator ist ein Bauelement der Elektrotechnik, er transformiert mit Hilfe von Kupferdrahtspulen einen elektrischen 180 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Der Wert von Bildung in der Moderne

Spannungszustand in einen anderen. Ist das ein gutes Modell für menschliche Bildungsprozesse? Eher nicht. Menschen sind keine Durchlauftransformatoren und auch nicht, um ein anderes gängiges Begriffspaar der Pädagogik zu gebrauchen, »im Spannungsfeld von Input- und Outputsteuerung« (Benner: Bildung und Kompetenz, 95 ff). Menschliches Verstehen – und darüber verlaufen Bildungsprozesse – vollziehen sich immer an einem menschlichen, will sagen: biologischen Organismus. Dieser hat eine Eigendynamik, die so verlaufen kann, dass ein zu einem Menschen gesprochener Satz Wochen, Monate, Jahre in diesem arbeiten kann, auch in Zonen des Vor- und Unterbewussten, und erst dann seine volle Bedeutung entfaltet. Aus der Technik sind solche hermeneutischen Prozesse nicht bekannt. Zur menschlichen Hermeneutik und Bildung gehört, dass sie im menschlichen Gehirn produziert werden müssen. Das gilt für das Verstehen wie Erfinden von Erkenntnissen (siehe Kap. 1.1). Dass Wissensprozesse Formen geistiger Produktivität sind, wusste noch die Aufklärungsphilosophie, aber scheint in vielen Projekten neuerer Pädagogik nicht mehr präsent zu sein. Koller konstatiert immerhin in Anlehnung an Ulrich Oevermann, dass Bildung in der Form der Krisenbewältigung »die Produktion ›innerer Bilder‹ in Gang setzt, die das, was zur Bewältigung der Krise führt, in noch unartikulierter Form vorwegnehmen« (Koller: Bildung anders denken, 119). Ob solche Formen des akuten Krisenmanagements überhaupt zum engeren Kreis von Bildungsprozessen gehören, ist fraglich. Krisenbewältigung ist im Allgemeinen viel zu sehr von kurzfristig pragmatischen Handlungsstrategien in Beschlag genommen, um Bildungsprozesse im Sinne einer langfristigen Selbstentfaltung des Subjekts auf den Weg zu bringen. Bildung im emphatischen Sinne entfaltet eine andere, längerfristige Zeitlichkeit als momentanes Krisenmanagement. Deshalb hat sie es in unserer kurzlebigen Zeit so schwer. Bildung mobilisiert eigentlich genau jene Werthaltungen, die wir als solche beschreiben: die Fähigkeit zum eigenen Denken, also die mentale Eigenproduktivität des Ich sowohl in der reproduktiven Aufnahme von Wissen als im produktiven Umgang damit, seine Fähigkeit zur Wahrheitssuche, Kritikfähigkeit, auch ein gewisses Maß an Wehrhaftigkeit, seine Bildungswerte auch zu verteidigen. Dazu kommen jene Werte christlicher Abkunft, die wir noch betrachten werden und die zur entwickelten Individualität und Personalität eines Menschen führen: Dazu gehört häufig ein religiöses Bewusstsein im weiteren Sinne, 181 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Bildung

das den Menschen nicht isoliert sieht, sondern in größeren Zusammenhängen, und auch Verantwortung für die Mitwelt. Häufig hat eine gebildete Persönlichkeit auch eine Form der kulturellen Anbindung an Heimat und nationale Identität. Es ist nicht der Typus des entwurzelten Jet-Setters. Bildung offenbart sich ebenso im direkten Umgang zwischen Menschen wie in politischen Haltungen im gesellschaftlichen Kontext. Noch der Philosoph Herder ging davon aus, dass der Mensch mit seinem aufrechten Gang und Gehirnbildung zu einer im weiteren Sinne genuin humanen Bildung angelegt ist (Herder: Ideen nur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 118 ff). Dabei sieht Herder in der Sprache das eigentliche »Mittel zur Bildung der Menschheit«: »es war das göttliche Geschenk der Rede. Nur durch die Rede wird die schlummernde Vernunft erweckt« (Ebd., 138). Sie vermittelt die Ideen und Werte, Erkenntnis und Wahrheit und damit auch das Selbstgefühl unseres Daseins: »Nichts gewährt dem Menschen ein so eignes Gefühl seines Daseins, als Erkenntnis; Erkenntnis einer Wahrheit, die wir selbst errungen haben […]« (ebd., 184). Nimmt man diese kurzen Hinweise beim Wort, so sind es vor allem zwei Richtungen, welche Bildung im Zeitalter der Moderne und Postmoderne anvisieren und erreichen sollte: Erstens den pragmatischen Umgang mit jener Rationalität, die zwar eine Form unseres eigenen Denkens ist, in der heutigen Technologie aber ein ungeheures Maß an Verselbständigung erreicht hat bis hin zur Entwicklung sich selbst steuernder technischer Intelligenz. Solche Technologie steuern und beherrschen zu können muss ein zentrales Ziel einer heutigen Bildungstheorie sein. Das verlangt viele Kenntnisse in der Mathematik, Informatik bis hin zur Erlernung und Ausübung von Programmiersprachen. Im Wesentlichen sind es die sog. MINTFächer, die hier das notwendige Wissen vermitteln, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Zweitens: Das zweite Ziel aber weist in die genau gegenteilige Richtung: die Herausbildung und Bewahrung von Humanität gerade im Gegenzug zur Überschwemmung durch Technik und deren Omnipräsenz in der heutigen Weltgesellschaft. Dieses zweite Erziehungsziel muss die Sprachfähigkeit und Denkfähigkeit des Individuums fördern, seine Literarität im Sinne der Lese- und Schreibfähigkeit, der Kompetenz des Verstehens und Verfassens komplexer Texte. Das fordert und fördert die Schulung des eigenen Denkens, Kritikfähigkeit, Wahrheitssuche, also all jene genannten Werte, zudem eine his182 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Der Wert von Bildung in der Moderne

torische wie auch religiöse Kompetenz in der Einordnung der eigenen Lebenssituation in größere geschichtliche wie weltanschauliche Zusammenhänge. Diese zweite Werteskala ist nicht direkt mit der ersten gekoppelt, sie hat ein Eigenleben in der Fähigkeit des Menschen ›bei sich‹ zu sein, mit anderen Menschen und nicht nur mit Maschinen zu kommunizieren, sich selbst und andere Menschen annehmen und lieben zu können, die eigene Menschheitsgeschichte in Grundzügen zu verstehen und den Lebensraum Erde in seiner Schönheit als Heimat des Menschen wahrzunehmen und zu bewahren. Zur Bildung zur Humanität gehören, um das noch einmal zu nennen, Denkschulung, Kritikfähigkeit, Wahrheitssuche, Persönlichkeitsbildung. Dazu gehört auch jene ästhetische Bildung, die wir oben genannt haben. Herder betonte auch, dass die Schulung unserer Sinne zur menschlichen Bildung gehört: »Man verliert seine Jugend, wenn man seine Sinne nicht gebraucht.« (Herder: Journal meiner Reise, 116) Die Erziehung zur Humanität im umfassenden Sinne einer Schulung von Denken, Sinnen, Ästhetik und Emotionalität umfasst somit die ganze hier entfaltete Wertetheorie, diese könnte daher die Grundlage sein für jene. Bildung zum kritischen Umgang mit der Technik und zur entwickelten Humanität, diese zwei Ziele – nicht getrennt voneinander, sondern parallel zueinander – definieren die Hauptaufgaben einer heutigen Bildungstheorie auf all ihren unterschiedlichen Bildungsstufen und Institutionen. Eine solche Bildungstheorie mit ihrer antagonistischen Zweiheit der Werte ist sicher schwer genug umzusetzen, aber könnte und sollte zumindest die zentralen Werte einer heutigen Bildungstheorie beinhalten.

183 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

1.8 Rechtssicherheit

Zusammenfassung (1) Rechtssicherheit ist eine wesentliche Voraussetzung einer zivilen Gesellschaft von Bürgern in Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Rechtssicherheit ist in Europa gerade durch die jüngsten Entwicklungen der Flüchtlingspolitik wieder zu einem zentralen Politikum geworden. (2) Rechtssicherheit hat sich in Europa in einem langen Geschichtsprozess entwickelt, in der zunehmend das römische Recht zur Grundlage einer säkularisierten bürgerlichen Gesellschaft wurde. (3) Frühe Phasen des germanischen wie griechischen und römischen Rechts sind durch kollektive Strukturen der Sippe bzw. Familie und Gewohnheitsrecht geprägt. Der Mann war Herr der Sippe und Familie, der sie nach außen vertrat und nach innen beherrschte. (4) Mit der schriftlichen Kodifizierung von Recht und deren Veröffentlichung – Drakon und Solon in Griechenland, das Zwölftafelgesetz in Rom – beginnt eine neue Phase der Rechtsgeschichte, auch der politischen Geschichte im Sinne der Zunahme der Bürgerrechte und Zurückdrängung der traditionellen Adelsherrschaft. (5) Das römische Recht korrigiert die Schwächen der griechischen Poleis durch seine Verfassung. Das römische Recht wird anfänglich vertreten durch die Könige, in den Zeiten der Republik durch Prätoren und Konsuln. Es entwickelt sich zunehmend zu einer differenzierten Rechtswissenschaft, unterteilt nach Zivil- und Strafgerichtsbarkeit. Anfänglich vertreten die Prätoren und Konsuln diese Gerichtsbarkeit. In den Zeiten des Kaisertums wird das Akkusationsrecht ersetzt durch ein Kognitionsverfahren (»extraordinaria cognitio«, außerordentliches Gerichtsverfahren), das vom Kaiserhof und durch eine rechtskundige Beamtenschaft von Amts wegen und nicht mehr auf Antrag der Kläger vertreten wurde. Am Ende der Antike lässt Kaiser Justinian das römische Recht von einer Rechtskommission in der Form von »Pandekten« (»Allumfassendes«) aufschreiben, Grundlage für die Rechtsentwicklung im Mittelalter und in der Neuzeit. (6) Im Mittelalter 184 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Voraussetzung einer zivilen Gesellschaft

vermischen sich lange Zeit germanische und römische Rechtsgrundsätze. Das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« setzt einerseits die Tradition des römischen Imperium Romanum fort, beansprucht andererseits christliche Sakralisierung, eine Doppelrolle, die zu einem dauerhaften Konflikt zwischen Kaiser und Papst führt und langfristig zur Schwächung des deutschen Kaisers und Reichs. (7) In der Neuzeit verlagern sich in deutschen Landen Rechtsprechung, Macht und, nach Auflösung der römischen Einheitskirche, die religiöse Oberhoheit auf Länderebene und ihre Fürsten. Das gilt auch für die Städte. Diese Regionalisierung der politischen Macht blockiert allerdings – im Gegensatz zu Frankeich und England – die Bildung eines Nationalstaates in Deutschland und ähnlich auch in Italien. (8) Das moderne bürgerliche Recht, wie es im Ansatz durch den Code Civil Napoleons, das BGB von 1900 in Deutschland und vollends das Grundgesetz der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert wird, garantiert Grundrechte des Bürgers wie die Unantastbarkeit, freie Entfaltung und Sicherheit der Persönlichkeit – letzteres auch gegen deren totalitäre Vereinnahmung, wie im sog. »Dritten Reich« erfolgt. (9) Die europäischen »Allgemeinen Menschenrechte« sind ein hohes Gut, aber Ergebnis der europäischen Kulturgeschichte und können daher keine Weltgeltung beanspruchen.

Voraussetzung einer zivilen Gesellschaft Der Begriff der Rechtssicherheit stellt wie die vorigen Werte einen Hochwert der europäischen Wertegemeinschaft dar. Rechtssicherheit ist sogar die Voraussetzung einer gelebten Wertegemeinschaft im zivilen Staat. Denn ohne Rechtssicherheit gibt es keine Entfaltung des freien Denkens, der Suche nach Wahrheit, der Möglichkeit, Kritik zu üben, der Demokratie, Freiheit, Individualität. Die totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts haben das noch einmal deutlich gemacht. Ein Hitler wie ein Stalin gingen daran, genau diese Grundwerte zu liquidieren und durch totalitäre Kategorien wie die »Einheitspartei« – hier die nationalsozialistische, dort die kommunistische – und deren Vorgaben zu ersetzen. In beiden Systemen ersetzte das Führerprinzip die bestehenden Rechtsordnungen, und das war in Deutschland immerhin schon eine gewählte Volksregierung gewesen, die Weimarer Republik. Die nationalsozialistische »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat« vom 28. 2. 1933 ersetzte 185 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Rechtssicherheit

in Deutschland weitgehend den Rechtsstaat durch einen Partei- und Führer-gesteuerten Terror mit weitgehender Beschränkung der persönlichen Freiheit und weitgehenden Eingriffsrechten des Staates in jene. Die Väter des Deutschen Grundgesetzes nach dem Zweiten Weltkrieg waren daher erpicht, genau diese Werte, die der totalitäre Staat negiert hatte, zu garantieren. In Osteuropa dauert der Prozess der Rehabilitierung von Menschenrechten und Garantie ihrer Rechtssicherheit noch an. Mittlerweile ist insbesondere Deutschland wieder zur Konfliktzone von Rechtssicherheit geworden. Die Aufnahme von weit über einer Millionen Flüchtlingen – davon nur ca. ein bis zwei Prozent echte Asylfälle nach § 16a des Grundgesetzes – hat eben auch eine Menge von Menschen nach Mitteleuropa geführt, die die Willkommenskultur nicht mit Dankbarkeit quittierten, sondern auch Kriminalität und Terror ins Land brachten. Das Schlüsselereignis war hier der Terrorüberfall vom Breitscheidplatz –, aber auch die sexuelle Kriminalität wie die Übergriffe arabischer junger Männer Neujahr 2015/ 16 auf der Kölner Platte sowie einige Ermordungen junger Frauen durch Migranten seitdem. Die zu optimistische Einschätzung der Folgelasten der Flüchtlingsströme durch Politik und Medien hat mittlerweile zu Verwerfungen auch in der politischen Landschaft geführt – den massiven Stimmenverlusten der Volksparteien in den Landtags- und Bundestagswahlen seitdem wie auch der gleichzeitigen Stimmenzunahme der AfD in diesen. Das Problem hat auch schwere Krisen in Europa ausgelöst. Die deutsche Grenzenlosigkeit der Aufnahmebereitschaft wollte kaum ein EU-Land mitmachen, England entschied sich für den Brexit und insbesondere die slawischen Länder sträubten sich gegen den Zuteilungsschlüssel, wie ihn Deutschland erzwingen wollte. Diese Probleme haben zum ersten Male seit dem Zweiten Weltkrieg auch zu der Frage geführt, ob der Staat selbst noch ausreichend Rechtssicherheit garantieren kann, und sie haben hierzulande mittlerweile auch zu starken Veränderungen des öffentlichen Lebens geführt wie Kameraüberwachungen an öffentlichen Plätzen. Dazu gehört auch die Problematik des Umgangs mit minderjährigen kriminellen Flüchtlingen und solchen, die ihre Identität verschleiern oder sich sonstwie gegen Identifizierung und Abschiebung sträuben. Es geht also um die Wahrung von Rechtssicherheit auch unter ganz neuen, problematischen Bedingungen. Dabei war die Herstellung von Rechtssicherheit in Europa selbst 186 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Recht im antiken Griechenland

ein langwieriger und auch schmerzlicher Geschichtsprozess. Wir benennen im Folgenden die wichtigsten Phasen des Prozesses.

Recht im antiken Griechenland Die griechische familiare Ordnung war zunächst Gewohnheitsrecht und wurde traditionell vermittelt. Herr der Familie war der Mann, der sie auch im öffentlichen Leben vertrat. Die Frau besaß auch im demokratischen Athen keinen Status als Vollbürgerin. Frauen waren keine juristischen Personen, sondern standen unter der Vormundschaft ihres Vaters, des Ehemannes oder eines männlichen Verwandten und besaßen weder aktives noch passives Wahlrecht. Sie waren auch nicht erbberechtigt, hatten aber Anspruch auf Versorgung und genossen Klageschutz bei schlechter Behandlung (Dahlheim: Die griechisch-römische Antike. Bd. I. Herrschaft und Freiheit, 206 f). In Euripides’ Drama »Medea« klagt die aus Kolchis stammende fremde Zauberin, dass der Frau in der griechischen Polis keine angemessene Rolle zukommt. Vor dem Frauenvolk der Korintherinnen spricht sie dies offen aus: »Sind doch wir Frau’n das traurigste Gewächs. / Erst müssen wir für teures Geld den Gatten / Uns kaufen, dann verfügt er über uns / Als Herr; ist das nicht schlimmer noch als schlimm? / Und davon hängt nun alles für uns ab, / Ob uns ein schlechter oder guter Mann/ Beschieden. Scheidung schadet ja dem Ruf / Der Frau. […] und trägt der Ehe Joch geduldig – / Das ist das Glück! Wenn nicht, hilft nur der Tod.« (Euripides: Medea, Verse 231 ff) Medea allerdings wählt einen anderen Weg, als sich in das Geschick der geduldigen Gattin zu fügen. Sie vergiftet ihre Rivalin, tötet ihre Kinder und vernichtet so ihren untreuen Gatten Jason damit psychisch. Mit der griechischen Tragödie beginnt auch eine europäische Geschichte der Emanzipation der Frau. Die Entstehung der griechischen Polis zu einer sich selbst verwaltenden Bürgergemeinde ist ein soziologischer Prozess, in dessen Verlauf die alte Adelsgesellschaft zurückgedrängt wird durch ein erstarktes Bürgertum, das sein Selbstbewusstsein offenbar aus seinen militärischen Aktionen zieht. Das ist ein Prozess, der sich im Zeitraum zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. vollzieht. Er bedeutet einerseits Schwächung der feudal-aristokratischen Macht, führt andererseits zur Bildung einer neuen Bürgerelite und deren Selbstverwaltung. Die antike Polis wird wesentlich durch das Prinzip der 187 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Rechtssicherheit

politischen Machtausübung der männlichen Vollbürger und ihrer Selbstverwaltung geprägt: die Geburt der Demokratie (siehe Kap. 1.4). Die Hochform der griechischen Polis und ihrer demokratischen Selbstverwaltung finden wir in Athen. Athen bildete um 600 v. Chr. eine topographische Einheit mit einem freien Platz, der Agora, wo die Athener ihre Volksversammlungen abhalten konnten. Der Platz wurde zur Zeit des Gesetzgebers Solon auch mit öffentlichen Bauten geschmückt. Solon verfügte 594 v. Chr. mit einer Reihe von schriftlich auf Holztafeln fixierten Gesetzen die Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern, schränkte die Adelsmacht ein durch eine neue Einteilung des Bürgerstandes in vier Besitzklassen und erließ auch ein neues Gesetz, das jedem Bürger das Recht zur Anklage und zur Verteidigung vor Gericht gab. Bereits um 620 v. Chr. hatte Drakon das Recht schriftlich fixiert, schwere Strafen für Diebstahl verhängt und die Blutrache abgeschafft. Zur Zeit des Höhepunktes der griechischen Demokratie unter Perikles – die Jahre 443 bis 429 v. Chr. – wurde die Agora als das öffentliche Zentrum der Stadt mit Tempeln, Amtshäusern, Gerichtsgebäuden, Münzprägestätte, Basaren und eben auch der Rednerbühne prachtvoll ausgebaut. Das wichtigste und tragende Entscheidungsorgan der griechischen Demokratie (Herrschaft = kratos des Volkes = demos) war die Ekklesia (Volksversammlung), in der die athenischen Vollbürger über die entscheidenden Fragen des Stadtstaates – so die Entscheidung über Krieg und Frieden – abstimmen konnten. Zu dieser Gemeinschaft freier Bürger gehörten nicht die Sklaven. Die Athener Demokratie beruhte auf Sklavenarbeit. Die wahlberechtigten Bürger konnten sich ihren demokratischen Pflichten – die sie oft genug nachlässig erfüllten – nur hingeben, weil Sklaven für sie die Arbeit verrichteten. Darauf beruhte auch die antike Wirtschaft (Finley: Sklaverei im antiken Griechenland). Vorbereitet wurden die großen öffentlichen Abstimmungen, bei denen um die fünf- bis sechstausend abstimmungsfähigen Bürger anwesend sein konnten (Hansen: Demography and Democracy), durch die sogenannte Bule (Rat der 500). Eine Gruppe von 50 Prytanen (amtsführende Ratsmitglieder aus dem Rat der 500) leitete die eigentlichen Geschäfte, blieb aber – wie auch der Rat der 500 – immer eingebunden in die Entscheidungen der Ekklesia. Nach der Vertrei-

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Römisches Recht

bung des Tyrannen Hippias hat der Athener Kleisthenes diese Demokratiereform in den Jahren 509 bis 507 v. Chr. durchgesetzt. Der griechische Freiheitsbegriff (eleutheria), der sich entscheidend im Kampf gegen die Perser gebildet und behauptet hatte, legte die politische Willensbildung in die Hände der freien männlichen Bürgerschaft, des Demos (siehe Kap. 1.5). Dessen Zusammensetzung vollzog sich nach dem Prinzip der Isonomie (Gleichheit, siehe Kap. 1.4, 98). Die Vollbürgerschaft in Athen definierte sich auch nicht mehr durch Besitzstand. Isonomie heißt, dass die Bürgerschaft mit gleichen Rechten und selbstverantwortlich ihre Entscheidungen zu fällen hatte. Isonomie heißt auch, dass alle Bürger prinzipiell gleiche Macht haben. Allein die Mehrheit der Stimmen der durch Isonomie zusammengeführten Bürger ist für die politische Entscheidung verantwortlich (Meier: Athen, 182 ff). Der Untergang der Hegemonialmacht Athens war letztlich in ihrer eigenen Verfassung begründet, in der jeder Bürger den anderen anklagen durfte, auch die kriegsführenden Strategen, die so im Peloponnesischen Krieg einen Zweifrontenkrieg führen mussten und dabei aus Rache über ihre Anklage in ihrer eigenen Stadt eben dieser schadeten. Athen trieb während des Peloponnesischen Krieges den Strategen Alkibiades durch Prozessanklage in die Hände der Spartaner, deren Kriegseintritt danach die Niederlage des Sizilianischen Eroberungsfeldzuges für Athen im Jahre 404 v. Chr. einleitete. Dieses Verfassungssystem hat denn auch Rom nicht übernommen, sondern an entscheidenden Punkten verändert. Insgesamt wurde die Rechtssicherheit in Athen durch das Sykophantentum stark beeinträchtigt, also die Möglichkeit jederzeit auch fälschlich angeklagt und durch gekaufte falsche Zeugen vor Gericht belangt und sogar verurteilt zu werden (siehe Kap. 1.4). Der Philosoph Anaxagoras wurde so aus der Stadt vertrieben, Sokrates verurteilt und zum Tode hingerichtet, Aristoteles floh aus der Stadt wegen des Sykophantentums an den Hof des makedonischen Königs Philipp, der ihn als Erzieher seines Sohnes einsetzte, Alexander des Großen.

Römisches Recht Im zweiten Jahrhundert stellte der griechische Historiker Polybios Überlegungen an, wie es dem Stadtstaat Rom hat gelingen können, die Weltmacht zu erringen? Polybios konfrontiert diesen Gedanken 189 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Rechtssicherheit

mit dem Scheitern der griechischen Poleis. Zumindest Athen war ja auf dem Sprung zur Weltmacht gewesen, dann aber bei seinem sizilianischen Abenteuer im Peloponnesischen Krieg gescheitert. Polybios kam zur Erkenntnis, dass es die römische Verfassung war, die Rom solchen Aufstieg zur Weltmacht ermöglichte. Polybios transferiert also das Problem der Weltherrschaft Roms auf eine verfassungsrechtliche Ebene, auf die Ebene der Rationalität seiner Staatsverfassung. Daher schaltet er den Exkurs über die römische Verfassung ein. Polybios’ Antwort ist: Die Römer haben eine ideale Mischung der drei Verfassungen der Monarchie, Aristokratie und Demokratie hergestellt, indem sie die Konsuln in Kriegszeiten mit königlicher Macht ausstatteten, den Senat mit aristokratischer und den Volksversammlungen neben der Wahl der Magistrate Macht in der Legislative und der Entscheidung über Krieg und Frieden gaben (Polybios: Historien, VI, 11). Die römische Machtbalance ist in der Tat bei allen Spannungen, die sie erzeugt hat, ein Meisterwerk der Verfassung, die viele Schwächen der Athener Verfassungen – z. B. die inneren Konflikte zwischen den Strategen und Stadtpolitikern in Kriegszeiten – überwand und Rom in Krisenzeiten entscheidende Rückendeckung gab. Mit dieser Verfassung und auch den von Athen übernommenen Kriegstechniken und Kriegsmaschinen (siehe Kap. 1.9) konnte Rom zu einer Weltmacht werden. Das alte römische Recht war wie das griechische und auch germanische zunächst noch nicht schriftlich fixiertes Gewohnheitsrecht. Der Mann war Herr des Hauses (römisch: pater familias), hatte auch das Recht über Leben und Tod seiner Familienmitglieder. Das Modell für die schriftliche Fixierung von Recht liefert auch hier Athen, die Rechtstafeln des Solon. Nach dem Bericht des Livius soll eine Gesandtschaft von Rom nach Athen geschickt worden sein, um die Gesetzestafeln des Solon zu kopieren (Livius: Römische Geschichte, 3, 31,8). Auf dieser Grundlage entstand das römische Zivilrecht des Zwölftafelgesetzes, deren originale Tafeln allerdings beim gallischen Brand von 390 v. Chr. zerstört wurden (Waldstein / Rainer: Römische Rechtsgeschichte, 45). Das Gesetz formulierte Grundrechte und war eine Basis auch für die weitere Rechtsentwicklung etwa in der formalen Art der Ladungsverfahren, Prozessbürgschaften, Verfahren der Urteilsrichter, generell die Einführung einer formellen, sachlichen Juristensprache einschließlich der Regelung von Terminen und Fristen (Söllner: Einführung in die römische Rechtsgeschichte, 36 ff). Die Gesetze regeln Familien-, Erb-, Geschäftsangelegenheiten, Kauf190 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Römisches Recht

geschäfte, letztere unterschieden nach Übereignungssachen (»res mancipi«) wie Sklaven, Grund und Boden sowie Tieren einerseits, einfachen Sachgegenständen (»res nec mancipi«) andererseits. Ähnlich wie im germanischen Recht kann die oberste Rechtshoheit – hier erst König, dann Prätor, dort König, Graf, Herzog – übertragen werden auf Schöffen und Geschworene, wobei der Prätor formell Herr des Verfahrens bleibt. Nach der Vertreibung der etruskischen Könige aus Rom um 500 v. Chr. bildete Rom ein politisches System, das auf den drei Säulen des Rates (Senat), der Volksversammlung (Komitien) und der Ämterverwaltung (Magistrat) beruhte (dazu die Darstellungen der römischen Rechtsgeschichte von Söllner; Waldstein / Rainer; Kunkel / Schermeier; Härtel / Pólay; Gmür / Roth). Dabei war die Volksversammlung in der republikanischen Zeit das höchste Organ. In ihren comitia wurde über Krieg und Frieden entschieden, wurden die Beamten gewählt und die Gesetze beschlossen. Die Bürgerversammlung trat gegliedert in Hundertschaften zusammen, man erkennt darin auch die militärische Organisation des Stadtstaates. Später wurden die Bürger nach Steuerklassen unterschieden, wobei sich das Gewicht der Stimmenmehrheit immer mehr zu den Wohlhabenden hin verschob. Die römischen Bürgerrechte wurden großzügig auch an Fremde und Bundesgenossen vergeben, die dadurch auch Schutzrecht genossen wie der römische Bürger und Apostel Paulus vor der Verfolgung durch die Pharisäer (Apostelgeschichte 21 ff). Den Magistrat (Obrigkeit) bildeten zwei gewählte Prätoren, später Konsuln. Dabei galt das Prinzip der Annuität, also Wahl auf ein Jahr. Die beiden Spitzenbeamten waren die Träger der politischen Gewalt wie des militärischen Kommandos. Ihnen oblag auch die Rechtsprechung und die Polizei- wie allgemeine Befehlsgewalt (imperium). Die imperiale Gewalt konnte im Felde bei Ungehorsam die Todesstrafe verhängen, die innerhalb Roms aber durch »Anrufung des Volkes« ausgesetzt werden konnte. In Krisenzeiten, innen- wie außenpolitisch, konnte ein Diktator ernannt werden, der für die Dauer von sechs Monaten absolute Befehlsgewalt hatte, daher in dieser Zeit auch nicht wie die Athener Strategen angegriffen werden konnte, sich allerdings nach dieser Zeit auch für seine Aktionen rechtfertigen musste. Über die Form der Diktatur vollzog sich in der späten Republik der Übergang zur Einzelherrschaft des Prinzipats. So ließ sich Sulla 82 v. Chr. zum Diktator ernennen und Caesar 46 v. Chr. als Diktator auf zehn Jahre, im Februar 44 v. Chr. sogar zum dictator perpetuus. Das 191 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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Amt nahm so die Funktionen der Konsuln wie auch der Zensoren in sich auf. Einen Monat später an den Iden des März 44 v. Chr. wurde Caesar aus diesem Grunde ermordet. Die römische Republik allerdings war mit diesem Mord nicht mehr zu retten. Kommen wir auf die zweite Säule der römischen Verfassung innerhalb der Republik zu sprechen, den Senat (wörtl. Altenrat, von »senex«, Greis). Ursprünglich bestand dieser aus Adeligen, später aus ehemaligen gewählten Magistratsbeamten, also Konsuln und Prätoren, später auch aus Ädilen, hohen Verwaltungsbeamten für die Staatskasse, Markt- und Straßenpolizei. Der Senat gliederte sich nach Rangklassen und übte großen Einfluss auf das politische Geschehen der Stadt aus durch seine Ratschläge (»consulta«), sein Verfügungsrecht über die Gemeindefinanzen und auch die Konstanz seiner Zusammensetzung durch erfahrene Männer gegenüber den jährlich wechselnden Magistraten. Dann, drittens, die Volksversammlung: »Die Volksversammlung dürfte zunächst mit der Versammlung der bewaffneten Krieger identisch gewesen sein.« (Söllner: Einführung in die römische Rechtsgeschichte, 23) Die Plebs, das ›niedere‹ Volk, hatte die republikanische Zeit hindurch das Problem, für seine Rechte kämpfen zu müssen. Militärisch beruhte die Macht Roms auf der wahrscheinlich schon im 6. Jahrhundert v. Chr. eingeführten Hoplitenphalanx der schwerbewaffneten Bauern. Sie bildeten den Kernbestand der militärischen Macht(expansion) Roms (siehe das folgende Kap. 1.9). Zugleich aber wurden diese Männer durch ihren Kriegsdienst oft genug von ihrer Feldarbeit abgehalten und gehörten auch nicht zu den Siegern der römischen Expansionspolitik: Zu diesen gehörten in erster Linie die adeligen Senatoren durch Besitznahme der eroberten Gebiete sowie der Ritterstand durch Finanzverwaltung der Provinzen und die damit verbundenen Finanzgeschäfte in der mehr und mehr zu einer Finanzmetropole werdenden Hauptstadt Rom. Gerade die Schicht, welche die Hauptlast der Kriege trug, gehörte am wenigsten zu deren Profiteuren. In der Spätphase der Republik führte dieser Konflikt zu einem Machtkampf zwischen der aristokratischen Oberschicht einerseits, den Plebejern andererseits. Tiberius und Gaius Gracchus kämpfen für deren Rechte, ersterer wurde 133, Gaius 121 v. Chr. ermordet. Im ersten Jahrhundert v. Chr. strömte aber bereits ein solcher Reichtum aus Provinzen wie Sizilien, Sardinien, Makedonien, Asia, Africa, Hispania, Germania nach Rom, dass die Bürger von Steuern befreit werden konnten. Es bildete sich in Rom dann jenes Proletariat, 192 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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das mit Brot und Spielen bei Laune gehalten wurde, aber wenig mit dem moralisch integren frühen Römertum gemein hatte. Mit der Einführung der Monarchie (»Prinzipat«) ändert sich dann die Verfassung Roms fundamental derart, dass zunehmend die Kaiser und ihre hochrangigen Rechtsberater die Macht an sich ziehen und den Senat zu einem reinen Akklamationsgremium herabsetzen konnten. Zwar gelang es Augustus noch, wieder eine relativ strenge Moralität in Rom einzuführen, aber diese verfiel dann rapide unter den folgenden Kaisern wie Claudius, Nero, Caligula. Die Rechtssicherheit der Bürger wurde durch die Willkürherrschaft solcher Kaiser stark beeinträchtigt. Nero schickte sogar seinem Lehrer, dem angesehenen Philosophen Seneca, den Strick als Urteil zum Selbstmord, den dieser dann auch zusammen mit seiner Frau befehlsgemäß vollzog. In der Kaiserzeit verändert sich auch das römische Rechtssystem fundamental. Es folgte ursprünglich dem Akkusationsprinzip, also der Klage eines Bürgers gegen einen anderen vor Gericht und nach deren formalem Ablauf, das schon in der Republik durch ein formloseres Formularverfahren ergänzt und teilweise ersetzt worden war. Die Kaiser zogen dann die Gerichtsbarkeit an sich, beraten von Rechtsexperten, und verwandelten es in ein Kognitionsrecht (extraordinaria cognitio) der kaiserlichen Anordnung und kaiserlichen Rechtsbehörde. Diese Ordnung gewährte »dem Kaiser und seinem Beamtenapparat einen zunächst nur mäßigen, ab dem dritten Jahrhundert an aber entscheidenden Einfluss auf die Rechtsentwicklung« (Kunkel/ Schermeier: Römische Rechtsgeschichte, 172). Sie zentralisiert die Rechtsverfahren bei der kaiserlichen Beamtenschaft, ruft von Amts wegen vor Gericht, vereinheitlicht auch die Prozessformen. »Dieses Verfahren allerdings hatte die Entwicklung und die Blüte der römischen Rechtswissenschaft ermöglicht.« (Ebd., 173) 534 n. Chr. hat der oströmische Kaiser Justinian die römische Rechtspraxis in einem großen Sammelwerk zusammenfassen lassen, dem Corpus Iuris Civilis. Den Hauptteil dieses Werkes bilden die Pandekten (Allumfassendes) oder Digesten (Geordnetes), gesammelt und geordnet von ca. 40 Juristen aus über 200 Schriften (Waldstein / Rainer: Römische Rechtsgeschichte, 246 f). Diese bilden auch die Grundlage für den Siegeszug des römischen Rechts im weiteren Verlauf der Geschichte. Das »Corpus Iuris Civilis« ist, wie die Herausgeber und Übersetzer schreiben, der größte Schatz »spezifisch zivilrechtlicher Erfah193 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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rungen, den die Weltgeschichte des Rechts kennt« (Corpus Iuris Civilis, II, XIII). Es sicherte dieses Rechtswissen zunächst aus dem Lateinischen des weströmischen ins Griechische des oströmischen Reiches und wurde in der Abschrift einer Handschrift aus dem 6. Jahrhundert im 12. Jahrhundert in Bologna wiederentdeckt. Von dort hat es Eingang in die mittelalterliche und dann neuzeitliche Rechtsgeschichte gefunden. Das »Corpus Iuris Civilis« definiert »Gerechtigkeit« grundsätzlich als den »dauerhaften Wille(n), jedem sein Recht zu gewähren.« (Ebd., I, 1) »Jedem«: Das sind zunächst die männlichen Vollbürger des römischen Reiches. Erst die Neuzeit hat diesen Grundsatz auf alle Menschen ausgeweitet. Im Ansatz aber wird diese Ausweitung schon im Begriff des »Naturrechts« (»Ius naturale«) vorgedacht: »Naturrecht ist, was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat.« Von der Sache her regeln die Digesten eine Fülle von Rechtsfällen des zivilen Rechts zwischen Bürgern wie Eigentumsfragen, Erwerb und Verkauf, Diebstahl, Erbschafts- und Testamentsregelungen, des Pfand-, Hypotheken- und auch Völkerrechts. Es unterscheidet zwischen geschriebenem und ungeschriebenem Recht, aber enthält noch nicht den Satz der Aufklärung, dass es ohne geschriebenes Recht auch keine Verurteilung geben kann (»Nulla poena sine lege«). Dieses Prinzip der notwendigen Gesetzlichkeit jedes Straftatbestandes hat erstmals Paul Johann Anselm von Feuerbach 1801 ausdrücklich formuliert in der Form: nulla poena, nullum crimen sine lege (»keine Strafe ohne Gesetz, kein Verbrechen ohne Gesetz«, Feuerbach: Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltendes Peinlichen Rechts). 7 Den Wertekanon, den schon das römische Recht in der spätantiken Kompilation des Corpus Iuris Civilis enthält, haben die Herausgeber zusammengefasst: »die rechtliche Gleichheit der Bürger im Privatrecht, die Vereinigungsfreiheit, der Minderjährigenschutz, […] das Gebot von Treu und Glauben, das Verbot der Arglist, die Unantastbarkeit des einzelnen Bürgers, der Schutz des Hauses, die Freiheit des Eigentums, Gleichstellung der Frau im Vertragsrecht und Erbrecht« u. a. (Corpus Iuris Civilis II, XXI).

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https://de.wikipedia.org/wiki/Nulla_poena_sine_lege

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Archaisches Recht in Germanien

Archaisches Recht in Germanien Das Germanische Recht war in Europa historisch nicht das älteste, gehört aber zu den archaischen Formen der Rechtsprechung noch vor deren schriftlicher Kodifizierung. Eine solche eben gab es in der alten germanischen Kultur nicht. Daher ist der ältere Rechtsbestand auch nicht durch schriftliche Zeugnisse belegt. Die schriftlichen Quellen entstammen fremden Kulturen, wie Caesars »Bellum Gallicum« und Tacitus’ »Germania«, das allerdings Germanien in seiner Schilderung idealisiert im Gegenzug zum Sittenverfall Roms unter den Cäsaren. Sicher aber ist das älteste germanische Recht, das sich ja auch in Stammeskulturen aufspaltet, Volksrecht gewesen. »Alles Recht ist ursprünglich Gesamtrecht; die Gemeinschaft steht vor und über dem einzelnen« (Lieberich: Deutsche Rechtsgeschichte, 15). Dabei war die Grundform der Gemeinschaft die Sippe, die Stärke und Rechtssicherheit des Einzelnen hing also von der Stärke des Verbandes ab, dem er angehörte. Die Sippe definierte ursprünglich die von einem Stammvater abstammenden Männer, später auch Angeheiratete. Sie bildete einen Kreis der »fehde- und unterstützungspflichtigen Verwandten« (ebd., 16). Die Sippe war also Rechtsschutz-, Friedens-, Wehrgemeinschaft und somit die grundlegende familiare Ordnungsmacht der germanischen Gesellschaft. Sie war herrschaftlich geordnet, mit einer starken Stellung auch der Frau, die Tacitus hervorhebt: »Die Germanen glauben sogar, den Frauen wohne etwas Heiliges und Seherisches inne.« (Tacitus: Germania, Kap. 8) Zur Frau und den Kindern kamen Gesinde, Mägde und Knechte, die alle der Richtbarkeit des Hausvaters, seiner munt – d. i. das Herrschaftsrecht über Personen – unterstehen. Das ist im Prinzip ähnlich wie im alten griechischen und römischen Recht. Über das germanische Bodenrecht berichtet Tacitus im Kap. 26: »Ackerland nehmen sie in einem Ausmaß, das der Anzahl der Bebauer entspricht, mit gesamter Hand für einander im Besitz; dann teilen sie es nach ihrem Range unter sich auf.« Nach Tacitus entstehen dabei keine Konflikte, weil genug Grund und Boden zur Verfügung steht. Es gab daneben »Allmenden« zur gemeinschaftlichen Nutzung. Die germanische Gesellschaft verfügte über eine Ständeordnung kraft Geburt vom Adel, über Freie oder Freigelassene hinunter zu unfreien Knechten (Lieberich: Deutsche Rechtsordnung, 21 f). Die Sippen und Stämme bildeten eher offene kleine Staatsgemeinschaf195 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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ten, die in Form von Landverbänden regelmäßig zur »Thing«-Versammlung zumeist bei Mondwechsel zusammentraten. Tacitus berichtet im § 12: »Vor der Versammlung darf man auch Anklage erheben und die Entscheidung über Leben und Tod beantragen. Die Strafen richten sich nach der Art des Vergehens: Verräter und Überläufer hängt man an Bäumen auf; Feiglinge und Kriegsscheue und Unzüchtige versenkt man im Sumpf […]«. Prozesse wurden überhaupt erst auf Klage eines Sippengenossen gegen eigene oder Genossen einer anderen Sippe geführt, vergleichbar dem römischen Akkusationsrecht. Solche Prozesse wurden oft über Zweikämpfe, aber auch Versöhnungsverträge, z. B. durch Abgabe von Vieh, entschieden (ebd., § 21). In der germanischen Gesellschaft gibt es bereits einen Fürstenrat, dessen Ergebnisse das Volk annehmen oder ablehnen kann. Der höchste Fürst war der König, er entstammt der adligsten Sippe und hatte zugleich auch eine religiöse Funktion in der Vermittlung zu den Göttern. In den Zeiten der Völkerwanderung wurden diese Führungspersönlichkeiten, wie Geiserich bei den Vandalen, Alarich bei den Westgoten, immer wichtiger als potente Kriegsführer. Bekanntlich endete mit diesen Einfällen der Germanen ins Römische Reich auch dessen Existenz im Jahre 476 durch Absetzung des letzten Kaisers Romulus Augustulus durch den Germanen Odoaker. Das bedeutete zugleich auch den Bruch mit der römischen Rechtstradition, war aber auch der entscheidende Geschichtsimpuls zur Romanisierung der germanischen Kultur.

Deutsches Mittelalter: Christliche Überhöhung Das sogenannte Mittelalter umfasst eine lange Epoche vom Ende des Römischen Reiches um 500 n. Chr. bis zum Beginn der Neuzeit um 1500, also ca. tausend Jahre. Natürlich vollziehen sich in dieser Zeit gewaltige Umbrüche. Für die Geschichte der Rechtssicherheit sind dabei von besonderer Bedeutung die Bildung neuer Machtstrukturen, wie sie durch das Frankenreich entstehen, die Christianisierung und auch Sakralisierung von weltlicher Macht des Königs bzw. Kaisers, der Zunahme der Macht der Landesfürsten in Deutschland und Übergang von Stammes- in Nationalstaaten, insbesondere Frankreich und England, wie sie dann für die Neuzeit bedeutsam werden. Das Europa des Mittelalters erobert nun auch die Gebiete Nord- und Osteuropas, 196 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Deutsches Mittelalter: Christliche Überhöhung

die das römische Reich noch nicht umfasst hatte (Padberg: Die Christianisierung Europas im Mittelalter, 94 ff). Dabei vollzieht sich die christliche Missionierung im germanischen Raum anders als im Mittelmeerraum. Vielfach treten nun ganze Völkerschaften im Sinne einer kollektiven Gefolgschaft mit der Taufe des Herrschers zum Christentum über. Ein wichtiges Datum in diesem Sinne war die Taufe des Frankenfürsten Chlodwig im Jahre 498, denn damit war das größte Herrschaftsgebiet im westlichen Europa für das Christentum gewonnen. Die Karolinger sollten zur wichtigsten Stütze der Ausbreitung des Christentums im westlichen Europa werden. Bereits mit dem Frankenkönig Pippin III. (714–768) beginnt auch eine neue, christlich-religiös kodierte Herrschaftsform, wenn es richtig ist, dass er sich 751 einer kirchlich sakramentalen Salbung unterzog, worüber aber die Quellen uneinig sind (Schneider: Die Königserhebung Pippins 751, 243 ff). Mit Sicherheit aber besiegelten Karl der Große durch die päpstliche Kaiserkrönung im Jahre 800 durch Papst Leo III. ebenso wie die Kaiserkrönung des Saliers Otto I. im Jahre 962 durch Papst Johannes XII., dass der deutsche König zugleich Kaiser war und damit auch das Erbe eines christianisierten römischen Imperiums antrat. Die christlichen Symbole der Reichskrone, des Reichsapfels und der heiligen Lanze repräsentierten diesen ebenso weltlichen wie durch Tradition und christlichen Glauben überhöhten Machtanspruch. Mit der Synthese von weltlicher und geistlicher Macht allerdings war auch ein Dauerkonflikt programmiert: der Konflikt zwischen Kaiser und Papst. Der Kaiser war weltlich gesehen »Vogt« – Schirmherr des Papstes und der Kirche –, spiritualiter aber diesem als Repräsentanten des Gottesreiches auf Erden unterstellt. Der Streit zwischen Kaiser und Papst entflammte im Investiturstreit, der das päpstliche Verbot der Laieninvestitur durchsetzen sollte. In diesem Kampf kam es zur Unterwerfung des Kaisers Heinrichs IV. unter die geistliche Macht des Papstes Gregor VII. – der bekannte Bußgang des Kaisers nach Canossa 1077, um Absolution zu erlangen –, de facto auch zu einem Zerbrechen der Einheit von Papst- und Kaisertum, womit die Machtkriege des späteren Mittelalters wie der frühen Neuzeit zwischen geistlicher und weltlicher Macht vorprogrammiert waren. Das Wormser Konkordat von 1122 zwischen Kaiser Heinrich V. und Papst Calixtus II. regelte abschließend den Investiturstreit so, dass die Bischöfe kirchlich durch das Domkapitel gewählt werden, 197 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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dies aber unter Gegenwart des Kaisers oder seines Gesandten geschah, der seinerseits Mitspracherechte hatte. Die geistliche Macht, symbolisiert durch Ring und Stab, überreichten Kirchenvertreter, sein Zepter als Zeichen der weltlichen Macht der Kaiser (Buschmann: Kaiser und Reich, 63 ff), auch das ein Symbol der Trennung von weltlicher und geistlicher Macht innerhalb der Kirche. Dieser Konflikt zwischen der religiösen und weltlichen Macht innerhalb der Kirche gehört in der Tat zu den Grundkonflikten des Mittelalters. Von den Evangelien her war das Christentum eine Religion der Armut. Jesus’ Satz: »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt«, den immerhin drei Evangelien überliefern (Mk 10, 25; Mt 19,24; Lk 18,25), zeigt – wie immer man das Wort »Nadelöhr« auffasst, es könnte damit auch eine Straße in Jerusalem gemeint sein –, dass Jesus Christus das Himmelreich nicht verkündet als ein Auffangbecken für Reiche. Reich und immer reicher aber wurden im Mittalalter kirchliche Institutionen wie Klöster, Bischofssitze, die Kurie und der Papst in Rom, der seit der Pippin’schen Schenkung dort auch über ein weltliches Staatsterritorium verfügte. Die Christianisierung in den nichturbanen Räumen Galliens und Germaniens hatte zudem zu einer neuen missionarischen Kirchenstruktur geführt, in der die Bistümer und Klöster selbst zu Eigentümern und Lehensträgern wurden. Zugleich wandelte sich die Kirche zur Adelskirche, in der alle hohen Positionen im Klerus und Mönchstum von Adeligen – häufig Geschwister des Herrschers – besetzt wurden. Die Kirche selbst wurde so zu einer Staatsmacht mit Grundbesitz und Lehensrechten, in der die urchristliche Idee einer armen Kirche zunehmend vergessen wurde. Genau das führte aber zu immer erneuten Armutsbewegungen, die die Kirche auch immer wieder gewaltsam niederschlug, bis es ihr bei Martin Luther unter dem Schutz des Landesfürsten von Sachsen nicht mehr gelang und die Einheit der weströmischen Kirche zerbrach. Auch das ein Fanal der Neuzeit. Dabei war die Rechtssituation im Mittelalter lange Zeit dadurch geprägt, dass sich römisches und germanisches Recht überlagerten bzw. im Konflikt miteinander standen. Die Kirche vertrat weitgehend kanonisches, d. i. gesetztes römisches Recht, baute dieses auch weiter aus im Sinne der Prozessordnung. Seit dem 13. Jahrhundert praktizierte die Kirche im internen Kampf gegen sogenannte Ketzer und Häretiker eine verfeinerte Prozessordnung der Inquisition, in der nicht mehr das germanische Recht der Anklage (Akkusation) prakti198 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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ziert wurde, sondern ein Chefankläger der Kirche protokollarisch genau die Prozessführung gegen den oder die Angeklagten übernahm. Dabei dienten insbesondere Zeugenaussagen – oft genug falsche – als Beweismittel, »peinliche Befragungen« – Folter – als Mittel der Wahrheitsfindung durch Geständniserpressung, der Feuertod als Akt der Reinigung des Beschuldigten von seinen Sünden vor seinem Tode. Die Inquisition entflammte sich geradezu selbst, vor allem in der spätmittelalterlichen Krise der Kirche, in massenhaften Prozessen gegen Häretiker, darunter nun auch viele Frauen als »Hexen« auf der Grundlage des sog. »Hexenhammer«, und dies in katholischen Ländern noch weit in die Neuzeit herein. Der sog. »Hexenhammer« des Dominikaners Heinrich Kramer, 1486 in Speyer veröffentlicht, regelte zwar die Hexenverfolgung – nicht an Hexen zu glauben, erklärte er bereits zur Häresie – in streng rational-scholastischer Argumentation, war aber als Ganzes in seiner Angst vor vornehmlich weiblichem Wesen und Wissen, weiblicher Sexualität und abweichendem Gedankengut ein Machwerk abergläubisch-kirchlicher Wahnvorstellungen. Das Weib sei von Natur aus »fleischlicher gesinnt als der Mann, wie es aus den vielen fleischlichen Unflätereien ersichtlich ist«. Offensichtlich hat hier Gott selbst einen kapitalen Fehler begangen, nämlich »bei der Schaffung des ersten Weibes, indem sie aus einer krummen Rippe geformt wurde« (Sprenger: Hexenhammer, 99). Der Autor leitet »femina« etymologisch irrig von fe (fides = Glaube) minus (weniger) ab (ebd.), also die Glaubensschwache. In Wahrheit hängt der lateinische Stamm mit idg. *dhe zusammen in der Bedeutung von »nursing, breastfeeding« (Etymological Dictionary of Latin, 210). Das pseudogelehrte Machwerk von Kramer wurde auch von aufgeklärteren Kirchenvertretern abgelehnt. Der deutsche Kaiser war nach wie vor Volkskönig der Franken und baute seine Macht auf germanischem Lehensrecht auf, also der Vergabe von Lehen gegen Dienstleistung. Er war selbst der oberste Richter des Staates, vergab das Recht, Gericht zu halten, auch an Fürsten wie Grafen, die bei Kapitalverbrechen im »Blutgericht« die Todesstrafe aussprechen konnten. Das aus dem germanischen Raum kommende Lehensrecht des Königs trat aber im Verlauf des Mittelalters zurück zugunsten einer fest etablierten Fürstenherrschaft und deren Recht auf die Kaiserwahl. Die »Goldene Bulle« von 1356 setzte das Wahlkollegium auf sieben Kurfürsten fest, die Erzbischöfe von Trier, Köln, Mainz, der König von Böhmen, Pfalzgraf bei Rhein, Her199 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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zog von Sachsen und Markgraf von Brandenburg. Zunehmend wurde hier Gerichtsbarkeit auch zur Landessache, und die Länder selbst wurden zu den autonomen Machtzentren der Neuzeit (Buschmann: Kaiser und Reich, 105 ff). Die Rechtssicherheit im Mittelalter war lange Zeit in dem Maße ungesichert, wie nicht eine starke Herrschergewalt für Recht und Ordnung sorgten. Viele Adelige, darunter Ritter, lagen miteinander in Fehde, ganze Sippen bekämpften sich. Der Kaiser hatte daher die Intention, durch den sog. »Landfrieden« wie den »Mainzer Reichslandfrieden« von 1235 und – am Ausgang des Mittelalters – den »Ewigen Landfrieden« Maximilians I. friedensstiftend zu wirken. Dieser »Landfrieden« von 1495 umfasst auch Dokumente der Rationalisierung des Rechts – weg vom germanischen Anklageprinzip und der Form der Wahrheitsfindung über Zweikämpfe und Gottesurteile, hin zu einer zentralen staatlichen Rechtsgewalt mit möglichst rationaler Erforschung der Sachverhalte. Zudem galt es, auch die Straßen von Wegelagerern und Räubern zu befreien, wie auch die Ost- und Nordsee von den sog. »Vitalienbrüdern«, Freibeutern, Seeräubern. Mit dem Erstarken der Städte gelang dies auch immer besser. Städtebünde wie die Hanse sorgten für die Befreiung der Meere von Seeräubern – die Gefangennahme und Enthauptung von Klaus Störtebeker 1401 in Hamburg war der bekannteste Fall unter ihnen – und sorgten für Sicherheit auch auf den Handelsrouten. Die Städte selbst wurden als Körperschaften juristische Personen mit eigenen Organen, Räten, Ratssatzungen, Parteien und Fraktionen bei Wahlen und Entscheidungen, also Keimzellen auch für demokratische Selbstverwaltung (Liebereich: Deutsche Rechtsgeschichte, 274 ff). Die Städte sind auch die neuen Zentren der Warenproduktion, des Handels, der Finanzverwaltung, also eben jener Modernisierungen, die ihrerseits die traditionell mittelalterlichen Strukturen unterhöhlen sollten und die Neuzeit vorbereiten.

Recht und Rechtlosigkeit in der Neuzeit Um 1500 beginnt ein neues Zeitalter Europas und der Menschheit auf mindesten sieben kulturgeschichtlichen Sektoren, die alle auch dramatische Rechtsfolgen hatten: (1) Mit der Entdeckungsfahrt des Kolumbus begann ein Zeitalter der Entdeckung und Eroberung der neuen Welt, die zugleich eine 200 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Recht und Rechtlosigkeit in der Neuzeit

Geschichte der Kolonisation der neu entdeckten Territorien einleitete. Das war ein Prozess, der für die indigenen Bevölkerungen dieser Territorien katastrophal war, weil sie nicht als Rechtssubjekte im europäischen Sinne galten und daher rechtlos waren und somit versklavt oder auch umgebracht wurden. Das galt zunächst für die Bevölkerung Nord- und Südamerikas – der amerikanische Soziologe David Stannard spricht hier vom »American Holocaust« –, aber ebenso für die Ureinwohner von Afrika, Neuseeland, Australien und anderer Zonen der Erde. Die damit entstandenen Folgelasten wirken auch über das Ende der Kolonialzeit hinweg bis in unsere eigene Gegenwart nach (Vietta: Rationalität. Eine Weltgeschichte, 272 ff). (2) Waffentechnisch markiert die Neuzeit den Übergang von Handwaffen wie Schwert und Lanze zu Feuerwaffen (siehe auch das folgende Kap. 1.9). Die Eroberungsgeschichte ist ohne Waffenentwicklung nicht denkbar, weil die europäischen Eroberer zwar zahlenmäßig den indigenen Völkern zunächst weit unterlegen waren, durch ihre Feuerwaffen aber weit überlegen und daher siegreich über die älteren Kulturen und deren Kriegsstrategien. Die Kriegstechnik mit den immer verbesserten, immer zielgenaueren, immer weiter reichenden Feuerwaffen hatte nun auch innerhalb Europas verheerende Folgen, wie schon der Dreißigjährige Krieg von 1618–48, die Napoleonischen Kriege ab 1798 und – noch in ganz anderem Ausmaße weltweit – die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts zeigen. All diese Kriege haben Formen von Zerstörung, Massentötung, Massenplünderung und Vergewaltigung hervorgebracht, also schreckliche Phasen nicht nur der Rechtsunsicherheit, sondern der Vernichtung und Auslöschung von Menschen – zunehmend dabei auch der Zivilbevölkerung. Ein besonders schreckliches Kapitel in dieser Geschichte ist der deutsche Holocaust durch seine fabrikmäßige Form der Menschenvernichtung. (3) Mit dem Umbruch der Waffentechnik verbinden sich soziale Umbrüche, so der Niedergang des Rittertums. In der Schlacht von Pavia feuerten die mit Hakenbüchsen ausgestatteten Söldnerheere des Jörg von Frundsberg im Dienste Karls V. die adligen Ritter des Franz I. mit Feuersalven von ihren Pferden herunter, die Macht der Gewehre besiegte so die mittelalterliche chevalereske Ritterformation. Die Kugeln der Landsknechtshaufen durchschlugen einfach die ritterlichen Rüstungen. 1525 kam es auch zu Bauernaufständen gegen den Adel, an denen auch Städter und Bergleute teilhatten, die aber brutal niedergeknüppelt wurden, dies auch mit dem Segen Mar201 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Rechtssicherheit

tin Luthers. Die ganze Neuzeit hindurch entwickeln sich mit den technisch-ökonomischen Dynamiken auch neue soziale Schichten – mit der Industrialisierung das Proletariat, die Angestellten, die moderne Massengesellschaft – bei Machtverlust der alten, insbesondere des Adels und Klerus, letztere aber endgültig erst nach dem Ersten Weltkrieg. Alle diese Umbrüche sind auch mit revolutionären Begleitumständen und deren Rechtsunsicherheiten verbunden, die erst nach und nach in neue Rechtsformen überführt werden. (4) Mit Luther und seinem Wirken zerbricht die Einheit der römischen Kirche. Der Protestantismus verändert die politische Landschaft in Europa grundlegend, insofern er die Länder aufteilt in katholische und evangelisch-protestantische. Damit stieg die Rechtssicherheit für religiöse wie auch wissenschaftliche Abweichler, die ihre Gedanken in den liberaleren und toleranteren protestantischen Ländern entwickeln und publizieren konnten. Der Kampf der Konfessionen führte aber auch zum schrecklichen Dreißigjährigen Krieg, dessen Vernichtungspotential man mit den heutigen religiösen Bruderkriegen zwischen Schiiten und Sunniten vergleichen kann. Nach dem Westfälischen Frieden von 1648 war die deutsche Bevölkerung landauf und landab noch jahrzehntelang traumatisiert von der vernichtenden Wirkung dieses Krieges auf die zivilen Lebensräume in deutschen Landen. Das war eines der Motive für die Aufklärung und ihre Zurückdrängung der Religion als politikbestimmende Kraft und sogar für die Französische Revolution. (5) Mit der Zeitenwende um 1500 verlagert sich der Schwerpunkt der Macht vom Kaiser weg auf die Landesfürsten und Städte. Schon der Aufstand Luthers gegen Regularien der katholischen Kirche und ihr Oberhaupt, den Papst, war nur möglich unter dem Schutz des Landesherrn von Sachsen. Der Speyrer Reichstag von 1526 überließ den Landesherren die Ordnung über die kirchlichen Verhältnisse nach der Formel »cuius regio ejus religio«. Mit dem Erstarken der Länder wird die Religion zur Ländersache bei weitgehend toleranter Handhabung der Religion insbesondere in Preußen. Die Religion wird Ländersache. Mit der Verlagerung des politischen Schwerpunktes von Kaiser und Reich auf die Länder rüsten diese auch auf mit eigenen Heeren. Insbesondere die Entwicklung von Brandenburg-Preußen ist davon geprägt. Auch die Schwerpunkte der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit verlagerten sich auf Länderebene und führten dort zur Ausbildung oberster Landesgerichte wie auch eigener Polizeiordnungen, 202 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Recht und Rechtlosigkeit in der Neuzeit

dies durchaus verbunden mit einem Gewinn an Rechtssicherheit für die Bürger, da kleinere Ländereinheiten effizienter regiert und kontrolliert werden können als eine diffus große Reichseinheit. Mit der zunehmenden Rationalisierung der Rechtsprechung nach Muster des römischen Rechts verschwinden auch die alten abergläubischen Rechtsformen wie das Gottesurteil, die Hexenprozesse und die Foltertechniken als Beweismittel. Die letzten Hexenprozesse dauerten in Brandenburg bis Anfang, in Süddeutschland bis Mitte des 18. Jahrhunderts. 1782 wurde in dem Schweizer Kanton Glarus der letzte Hexenprozess durch Enthauptung der angeblichen Hexe beendet. Mit dem Vormarsch der wissenschaftlichen Rationalität endete auch das Zeitalter der Hexen, Teufel und Dämonen und ihrer gerichtlichen Verfolgung. Allerdings bedeutet dies auch einen Übergang zum Obrigkeitsstaat, wie er im Mittelalter gar nicht möglich war, also der weitgehenden Kontrolle des Bürgers durch den Landesherrn, seine Gerichtsbarkeit und Polizei. Noch Kant fordert in seiner Schrift zur Aufklärung zwar das Recht auf freie Meinungsäußerung als Gelehrter in öffentlichen Debatten, als Privatperson aber müsse der Bürger »seinen Oberen […] gehorchen« (Kant: Was ist Aufklärung?, 57). Die Länder entwickeln auch eine eigene merkantilistische Ökonomie mit eigenen Produktionsstätten, Schutzzöllen, Ansiedlungs- und Handelsstrategien, die in Brandenburg-Preußen stark auf den Zuwachs der militärischen Stärke und die Ausrüstung des Heeres ausgerichtet ist. Das Erstarken der Länder in Deutschland, der Stadtstaaten in Italien verhindert die Bildung von Nationalstaaten in diesen Ländern, wie es Frankreich und England schon zum Ausgang des Mittelalters mit der Zentrierung in den Hauptstädten Paris und London gelang. Die verspätete Gründung eines Nationalstaates erfolgte in Italien erst 1861, in Deutschland 1871 (siehe Kap. 3, 344 ff). (6) Der Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit ist auch durch ein mediales Ereignis gekennzeichnet: Die Erfindung des Buchdruckes durch Johann Gensfleisch zum Gutenberg schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Sowohl die Verbreitung des Protestantismus wie auch des neuen wissenschaftlichen Denkens eines Kopernikus, Kepler, Galilei oder Descartes wäre ohne diese Erfindung in dieser Form nicht möglich gewesen. (7) Ein zentrales Ereignis der europäischen Kultur ist der Bruch zwischen Religion und Wissenschaft, europaweit verbreitet durch das neue Medium Buch. Dieser Bruch unterscheidet auch die europäische 203 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Rechtssicherheit

Kultur fundamental von anderen, so dem Islam, der diese Trennung bis heute nicht vollzogen hat. Bis zu den Kreuzzügen war die islamische Kultur der europäischen überlegen, seit der Neuzeit hat sich das Verhältnis umgekehrt und zum einen die Erfolge der westlichen Kultur in Industrie und Technikentwicklung mit sich gebracht, zum anderen aber die islamischen Länder in genau dieser Entwicklung gebremst. Der religiöse Fundamentalismus in diesen Ländern kann als eine kompensatorische Reaktion darauf angesehen werden. Da die heutige Weltkultur im Wesentlichen durch die rationalen Naturwissenschaften und ihre Anwendungstechniken geprägt wird, bedeutet dies auch eine politische Schwächung der islamischen Länder bei wirtschaftlicher wie politischer Stärkung jener Länder, die über den modernsten Stand an Wissenschaft und Technik verfügen. Dass deren Entwicklung zu eigenen sozialen wie ökologischen Krisenszenarien führt, gehört allerdings auch zu deren Geschichte.

Bürgerliches Zeitalter und politische Krisenzeiten Mit der endgültigen Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806 durch Napoleon, durch seinen »Code Civil«, wie auch die Entwicklung der modernen Industrialisierung, Verwissenschaftlichung und Technisierung beginnt auch ein neues bürgerliches Zeitalter, denn das Bürgertum war selbst der Hauptträger dieser Prozesse. Bereits die Französische Revolution von 1789 hatte sich die Forderungen »Liberté, égalité, fraternité« auf ihre Fahnen geschrieben und das Ende der Herrschaft von Adel und Klerus eingeläutet. Dieser erstarkte aber wieder und bestätigte auf dem Wiener Kongress von 1815 alte Adelsprivilegien wie das Gottesgnadentum der Könige und Herrscher. Erst nach dem Ersten Weltkrieg endete zumindest in Deutschland, Österreich, Italien, Polen und Frankreich diese traditionelle Herrschaftsform, in Russland schon mit der Oktoberrevolution von 1917. Ende des 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde in den deutschen Landen die Leibeigenschaft abgeschafft, das Allgemeine Landrecht in Preußen hatte sie schon 1794 als unzulässig bezeichnet. Frankreich hatte diese 1789 bereits abgeschafft, Russland erst 1861. Im 19. Jahrhundert fiel auch in den meisten ehemaligen Kolonialländern die Sklaverei, in den USA endgültig nach dem Sezessionskrieg im Dezember 1865, in Brasilien erst am 13. Mai 1888. 204 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Bürgerliches Zeitalter und politische Krisenzeiten

Die Niederlage Preußens im Krieg mit Napoleon hatte dort einen Schub »defensiver Modernisierungen« in Gang gesetzt, wie dies Hans-Ulrich Wehler genannt hat (Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, 493). Neben der Aufhebung der Erbuntertänigkeit ging es bei diesen Anfang des 19. Jahrhunderts von den Ministern Stein und Hardenberg eingeleiteten Reformen um eine neue Städteordnung, Agrarreform, Judenemanzipation, Gewerbefreiheit (Aufhebung des Zunftzwanges) sowie die Heeresreform unter Scharnhorst und Gneisenau. Diese Reformen brachten dem Land in der Tat einen Modernisierungsschub, der den Aufstieg Preußens im 19. Jahrhundert mit in Gang setzte. Dadurch wurde mittelbar die Reichsgründung von 1871 unter der Vorherrschaft von Preußen ermöglicht und der Aufstieg Deutschlands zur führenden Industriemacht in Europa und der Welt. Vor allem die Finanz- und Zollreformen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, darunter die Gründung des Deutschen Zollvereins im Jahre 1833 und die Gründung des Norddeutschen Bundes 1866, ebneten den Weg für eine freiere Ausbreitung von Handel und Wirtschaft in deutschen Landen und die Voraussetzung für die explosive Entwicklung der Industrialisierung in Deutschland nach 1850, dem so genannten »industrial take off« (Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland, 68 ff). Bekanntlich aber spielte das Bürgertum als die tragende Schicht dieser Prozesse gerade in Deutschland bis nach dem Ersten Weltkrieg keine politikbestimmende Rolle, auch nicht bei der Reichsgründung und Kaiserkrönung von 1871. Immerhin war 1900 bereits das weitgehend säkularisierte BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) verabschiedet worden, ein Privatrecht gemäß der römischen Rechtseinteilung und somit geprägt von römischrechtlichen Vorstellungen bei der Regelung von Schuldverhältnissen, Sachenrecht, Familien- und Erbrecht. Während des Ersten Weltkrieges allerdings wurden die Rechtsverhältnisse in Deutschland stark eingeschränkt. Danach entwickelte die Weimarer Verfassung von 1918 eine Reichsverfassung, der gemäß das deutsche Volk, darunter nun auch Frauen, in freien und geheimen Wahlen einen Reichstag wählen konnte. Der früheren Stellung des Kaisers entsprach dabei der Reichspräsident, dessen Amt als erster der Sozialdemokrat Friedrich Ebert übernahm. Dass diese republikanische Verfassung von vielen Deutschen nicht begeistert aufgenommen wurde, hing auch damit zusammen, dass sie ein Produkt der deutschen Niederlage zu sein schien und deren Lasten durch die Ver-

205 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Rechtssicherheit

sailler Verträge noch erheblich gesteigert wurden. Bekanntlich haben Hitler und die NSDAP Profit aus dieser Lage schlagen können. Diese bekämpften die »Erfüllungspolitik« der Weimarer Politiker und baute sich selbst als Befreier von den verhassten Modernisierungseliten der jüdischen Rasse auf. Zunächst am 30. Januar 1933 noch als Reichskanzler gewählt, verfügte Hitler noch keineswegs über unbegrenzte Macht. Er ließ aber sogleich Neuwahlen ausschreiben, nutzte dabei den Reichstagsbrand zur Propaganda gegen die Kommunisten und gewann damit die absolute Mehrheit, Voraussetzung für das Ermächtigungsgesetz vom 24. 3. 1933. Die Folge: diktatorische Macht und Terror gegen alle Gegner des Regimes und alle Juden. Der »totale Staat«, den Hitler und seine Partei pseudowissenschaftlich flankiert durch die Rassenlehre, ersetzte den Gleichheitsgedanken durch die Herrschaftsansprüche der arischen Rasse bei totalem Vernichtungswillen gegenüber der jüdischen und hatte generell für das Einzelwesen Mensch und seine Würde keinen Platz mehr. Das Ende dieser Geschichte eines entgrenzten Machtwahns ist bekannt.

Das Grundgesetz Umso mehr achteten die Väter des Grundgesetzes von 1949, dass die Rechte des Individuums in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland gewahrt werden und vor Übergriffen des Staates geschützt sind. Erarbeitet wurde dieses Grundgesetz von Mitgliedern der beiden damals zugelassenen Parteien CDU und SPD unter dem Vorsitz des Kölner Altbürgermeisters Konrad Adenauer und dem Ausschussvorsitzenden Staats- und Völkerrechtler Carlo Schmid (SPD). Inhaltlich stellt das GG nun die Grundrechte des Bürgers an den Anfang, so in Artikel 1 den Schutz der Menschenwürde – »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Art. 2, die freie Entfaltung der Persönlichkeit – »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit« –, ist ein Grundrecht, das für die Entwicklung und Bildung der Bürger von zentraler Wichtigkeit ist (Kap. 1.7). Artikel 3 verfügt die Gleichheit vor dem Gesetz – »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich« – und verankert dabei insbesondere auch die »Gleichberechtigung von Männern und Frauen«. Artikel 4 setzt die Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnisfreiheit fest einschließlich des Rechtes, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Artikel 5 beinhaltet 206 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Das Grundgesetz

das Recht auf freie Meinungsäußerung und der Pressefreiheit: »Eine Zensur findet nicht statt.« Zu den Grundfreiheiten gehört auch die Versammlungsfreiheit (Art. 8), Vereinigungsfreiheit (Art. 9), eingeschränkt allerdings nach den Erfahrungen der Weimarer Republik auf Vereine, »deren Zwecke oder deren Tätigkeiten den Strafgesetzen (nicht) zuwiderlaufen«. Ähnlich regelt § 21, Abs. 2, dass die Gründung von Parteien frei sei, aber diese »demokratischen Grundsätzen« entsprechen müssen. Generell erklärt das Grundgesetz im § 20: »Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«, in dem »alle Staatsgewalt […] vom Volke« ausgeht, dies aber nicht in der Form der direkten Demokratie, sondern »in Wahlen und Abstimmungen«, also in repräsentativer Demokratie (siehe Kap. 1.4). Wichtig in § 20 ist auch der Hinweis darauf, dass die BRD ein Bundesstaat ist, also in die schon vor 1949 neu geschaffenen Länder gegliedert. Das GG stellt aber in Art. 29 in Aussicht, dass das Bundesgebiet neu gegliedert werden kann. »Dabei sind die landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit sowie die Erfordernisse der Raumordnung und der Landesplanung zu berücksichtigen.« Das ist bis heute nicht erfolgt. Dem Gesamtstaat gegenüber sind in § 30 die Länder gestärkt worden mit ihren föderalen Aufgaben, wie in §§ 83–85 festgelegt. § 106 regelt den Anteil der Länder an der Einkommens- und Köperschafts- und Umsatzsteuer wie auch Vermögens- und Erbschaftssteuer als Ländersache. Zu den Grundrechten gehört auch das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10), die Freizügigkeit im gesamten Bundesgebiet (Art. 11) wie auch die Freiheit, seinen Beruf nach eigenem Gutdünken zu wählen (Art. 12), sowie Art. 13: die Unverletzlichkeit der eigenen Wohnung. Gerade dieses schon im Codex Justinians gesicherte Recht hatten die SA- und SS-Horden mit Füßen eingetreten. Das GG regelt Rechte und Pflichten von Bundestag (§§ 38–48), Bundesrat (§§ 50–53) sowie der wichtigsten politischen Ämter des Bundes und der Länder, Gesetzgebung des Bundes wie der Länder einschließlich deren konkurrierende Kompetenzen, der Bundesregierung (§§ 62–69), der Rechtsprechung einschließlich der Unabhängigkeit der Richter (§ 97), das bereits erwähnte Finanzwesen, den Verteidigungsfall (§ 115, mit vielen Zusatzregelungen versehen), Übergangsund Schlussbestimmungen. Das deutsche Grundgesetz ist zweifellos ein hohes Gut, das den Aufbau und Erhalt einer stabilen Demokratie zunächst nur im West207 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Rechtssicherheit

teil Deutschlands, ab 1989 auch in den Ländern der ehemaligen DDR ermöglicht hat und damit zum ersten Male in Deutschland eine umfassende Rechtssicherheit der Bürger in diesem Lande gewährleistet. Dass die Auslegung der Gesetze zu enormen Schwierigkeiten und Debatten geführt hat und ständig führt, ist nur natürlich. Generell kann man dazu vom Standpunkt der Wertetheorie sagen: Eine Auslegung des GG nach Maßgabe des Zusammenwirkens der Werte, also sowohl der Rationalitätsgesichtspunkte als auch der christlichen Werte, als auch der landsmannschaftlichen und nationalen Werte, kann am ehesten eine einseitige Auslegung verhindern und zu einer vernünftigen Auslegung führen (siehe dazu bereits die Einleitung 35 ff).

Menschenrechte Bereits 1950 hatte der Europarat eine Menschenrechtskonvention verabschiedet, die 1953 und in überarbeiteter Form 2010 in Kraft trat. Sie beruft sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 in den Vereinten Nationen und ist daher für alle Staaten der UNO verbindlich. Nach der Erfahrung von Weltkrieg und Totalitarismus bekannte sich die Präambel der UN-Charta zum »Glaube(n) an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein«. 8 Die Charta formuliert das bewusst als »Glaubens«-Sätze, die letztlich gefüllt sind mit abendländischen Wertvorstellungen: Persönlichkeitsrechte jedes Menschen, Gleichberechtigung von Mann und Frau, »Würde und Wert« des Menschen. Aber wie steht es mit der Allgemeingültigkeit dieser Menschenrechte? Der Theorie nach sollen die »Allgemeinen Menschenrechte« für alle Menschen gelten, es sollen Rechte sein, »die alle Menschen aufgrund ihres bloßen Menschseins für sich in Anspruch nehmen dürfen« (Koenig: Menschenrechte, 9). Auch wenn sich Koenig hier zunächst auf das »Alltagsverständnis« von Menschenrechten bezieht, steckt darin bereits der entscheidende Denkfehler: Aufgrund »ihres bloßen Menschseins« verfügen keineswegs »alle Menschen« über dieselben Rechte, und dies aus dem einfachen Grund, weil »alle Menhttps://www.menschenrechtsabkommen.de/praeambel-der-charta-der-vereintennationen-1213/

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Menschenrechte

schen« immer in bestimmten Kulturen leben und diese die Rechte von Menschen höchst unterschiedlich auffassen und regeln. Das gilt, wie wir sahen, ja auch schon für die europäische Kulturgeschichte mit ihren unterschiedlichen Formen von Klassen und Sippen. Die Vorstellung allgemeiner Menschenrechte mit ihrem Anspruch aller Menschen auf Gleichheit vor dem Gesetz ist ein hohes Gut, aber sie ist aus der europäischen Kulturgeschichte erwachsen und daher nicht ohne weiteres als universelle Rechtsnorm zu propagieren. Die Gleichheitsforderung der Menschenrechte beruht in der europäischen Kultur auf drei Wurzeln: (1) der Bibel. Das erste Buch Moses lehrt, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe, »zum Bilde Gottes schuf er ihn; schuf sie als Mann und Frau« (1 Mos 1,27). Von weiteren Differenzierungen oder Hierarchisierung ist in diesem Schöpfungsbericht nicht die Rede. Eine weltumspannende allgemeine Theorie der Menschenrechte aber lässt sich nicht darauf begründen, denn die jüdischbiblische Tradition ist nur eine unter den Religionen der Erde. Es gibt ganz andere wie den Hinduismus, der den Menschen von Geburt an in Kasten unterteilt, die streng hierarchisch gegliedert sind und deren Karma über den Tod hinausreicht und die Wiedergeburt der Seele mitbestimmt. Die jüdisch-christliche Religion hat auch in ihrer eigenen Geschichte ganz andere Funktionen übernommen, als die Gleichheit der Menschen zu begründen, nämlich die Hierarchie zwischen Adel und gemeinem Mann, die Machtstellung der Fürsten durch ihr »Gottesgnadentum« und auch die Rangstellungen im Klerus (siehe dazu auch Kap. 2.3). (2) Die zweite Grundlage des abendländischen Gleichheitsgedankens liegt in der antiken Demokratie und ihrem Gedanken der Isonomie, also Gleichheit der Rechte der waffenfähigen Männer in Athen. Das war aber ein sehr exklusives Recht, das beispielsweise Sklaven und auch Frauen vom öffentlichen Leben ausschloss, also nicht wirklich die Gleichheit aller Menschen begründete (siehe Kap. 1.4). (3) Die dritte und entscheidende Quelle ist die neuzeitliche Aufklärung und ihr Grundgedanke, dass in allen Menschen eine gleiche Vernunft angelegt sei. Descartes geht in seinem »Discours« von 1637 geradezu davon aus, dass die Vernunft »gleich ist bei allen Menschen« (»égale en tous les hommes«). Es käme nur darauf an, »sie gesund zu gebrauchen« (Discours de la Méthode / Von der Methode, Erster Diskurs, 3 f). Daher kommt nun in der Aufklärung der Methode des Denkens – »Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und 209 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Rechtssicherheit

der wissenschaftlichen Forschung« lautet der vollständige Titel – solche Bedeutung zu. Die – ihrem Selbstverständnis nach – in der Aufklärung zur Vernunft gekommene Vernunft schult also die Vernunft und bringt ihr bei, wie man die Vernunft richtig gebraucht. Dass dabei die genuin abendländische Rationalität mit ihrer pythagoreischen Hochwertung von Arithmetik und Geometrie das Leitbild abgibt, war Descartes und auch den anderen Aufklärern wie Locke, Leibniz oder Kant nicht bewusst. Sie alle stützen sich jetzt auf die Theorie der Vernunft, die letztlich die Geschichte der abendländischen Rationalität abbildet. Die Meisterdenker der Aufklärung glaubten: Im Prinzip haben alle Menschen dieselbe Vernunftanlage. Sie müssen sie nur richtig schulen und dann können alle Menschen gleich ›richtig‹ denken. Hier schließt auch die Naturrechtslehre der Aufklärung an, die im Ansatz ja bereits im Corpus Iuris Civilis des Kaisers Justinian enthalten war. Der neuzeitliche Naturrechtler Samuel Pufendorf beruft sich cartesianisch auf die Vernunft: »Im Naturrecht wird behauptet, daß etwas zu tun sei, weil der echte Gebrauch der Vernunft zu der Einsicht führt, daß es für den Fortbestand der menschlichen Gesellschaft notwendig ist.« (Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, 13) Pufendorf leitet auf diese Weise auch die »Anerkennung der natürlichen Gleichheit des Menschen« ab wie auch dessen »Würde«: »In dem Wort Mensch selbst scheint selbst sogar eine gewisse Würde zum Ausdruck zu kommen […]« (ebd., 78), so als sei diese Prädikation bereits im Subjekt Mensch enthalten. Schaut man genauer hin, ist diese Begründungsstrategie der Aufklärung, die auch die Virginia Bill of Rights von 1776, die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 wie auch die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 mit auf den Weg brachte (siehe Kap. 1, 4), als Wertgeneralisierung problematisch. Dies aus dem einfachen Grund, weil die Rationalitätsphilosophie, die in der Begründung der menschlichen Gleichheit und Freiheitsrechte steckt, ein rein abendländisches Produkt ist und in der Form in keiner anderen Kultur nachweisbar. Selbst in Europa ist ja die Vorstellung der individuellen Freiheit – der »Kult des Individuums«, die ›Heiligkeit‹ der Person, wie Durkheim das nannte und neuerdings Hans Joas dieses Motiv aufnahm (siehe Kap. 1.6) – ein spätes Produkt der europäischen Kulturgeschichte. Ursprünglich war auch germanisches, auch römisches Recht auf die Sippe bzw. Familie ausgerichtet und der Hausherr deren Vertreter 210 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Menschenrechte

vor dem Gesetz. Andere Kulturen wie die chinesische, indische und die meisten indigenen Kulturen kennen nicht die Hochstellung des Individuums, sondern binden dieses immer ein in das Primat der Gemeinschaft von Sippe, Familie, Clan, Kaste, Gesellschaft. In Regionen Südeuropas und auch in weiten Teilen Afrikas ist das auch heute noch so zumindest im Alltagsleben. Hans Joas, der das Motiv der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte jüngst wiederaufnahm, beruft sich dabei auch nicht wie der amerikanische Philosoph John Rawls auf die »rationale Begründung letzter Werte«, hält aber doch an der »Geltung universalistischer Werte« fest (Joas: Die Sakralität der Person, 13 f). Nur, wie sind diese zu begründen? Joas beruft sich auf die »affirmative Genealogie des Universalismus der Werte« (ebd., 15): Sie sind historisch entstanden, aber entwickeln nach Joas eine Überzeugungskraft und »subjektive Evidenz«, hinter die man nicht mehr zurückkönne (ebd., 251 ff). Was aber, wenn Kulturen wie die chinesische mit ihrem Primat des Kollektivs vor dem Individuum oder indische Kultur mit ihrem Kastendenken gar nicht erst dahin wollen? Die »Würde« des Menschen wird eben in der höchsten indischen Kaste der Brahmanen ganz anders definiert als in der untersten der Dalits oder Unberührbaren. Wie man es dreht und wendet, man kommt aus der Partikularität der Kulturwerte nicht heraus und somit auch nicht in die Generalisierung der Allgemeinen Menschenrechte hinein (siehe auch Einleitung, 38 ff). Ergebnis: Die ›Allgemeinen‹ Menschenrechte als Rechte der Gleichheit und Freiheit des Individuums sind ein wunderbares Gut und ein Hochwert der abendländischen Kultur, aber allgemeine Weltgeltung können sie nicht beanspruchen. Paradoxerweise kann man die Weltgeltung der Menschenrechte nur reklamieren, wenn man die Gedanken der Gleichheit und Freiheit hierarchisch als höherwertige Kulturformen ansetzt und damit rechtfertigt, sie anderen Kulturformen aufzuerlegen. So verfuhren beispielsweise die Engländer in ihren Kolonien, darunter Indien. Dass dies aber heute gerade angesichts des Gleichheitsgedankens der Kulturen problematisch ist, ist evident. Wenn man nicht von der Superiorität der europäischen Kultur ausgehen will, kann man nicht das Gleichheitsdenken als anderen Weltkulturen überlegene Kulturform begründen und vertreten.

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1.9 Wehrhaftigkeit

Zusammenfassung (1) Wehrhaftigkeit wird vielleicht nicht sofort als ein Kulturwert angesehen, ist aber die Voraussetzung für die Verteidigung der europäischen Werte. Ohne Wehrhaftigkeit hätten sich die Werte der Freiheit, Demokratie, Individualität u. a. in Europa nicht behaupten können. Wehrhaft haben bereits die Griechen und Makedonen diese Werte im 5. und 4. Jahrhundert gegen die Perser behauptet und wurden im Mittelalter und in der Neuzeit europäische Werte gegen den eindringenden Islam verteidigt. (2) Wehrhaftigkeit hat das Antlitz Europas jahrhundertelang geprägt: Bereits die griechischen Städte waren mauerbewehrt, das römische Reich durch Grenzwälle geschützt, mittelalterliche Siedlungen wurden als Burgen angelegt oder als Städte durch Mauerringe geschützt. Diese wurden in der Zeit der Kanonen sternförmig angelegt. In Bezug auf die Zeit hat Wehrhaftigkeit neue Formen der Disziplin, der Tempovorstöße im Krieg, des effektiven Zeitmanagements wie auch die Vereinheitlichung der Zeitmessung für die militärische Koordination befördert. (3) Mit den immer weiterreichenden Waffen wurden diese Mauern und Wehren im 19. Jahrhundert funktionslos und weitgehend auch geschleift. In den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts waren die europäischen Städte den Angriffen zur Luft eher schutzlos preisgegeben. (4) Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die Demokratieform wehrhaft gegen Extremismus von links wie von rechts zu behaupten. (5) Mit der Regierung Trump tritt die EU in eine neue Ära der Selbstverantwortung und Selbstverteidigung ein. Die bereits mit dem Vertrag von Maastricht in der Verteidigungspolitik beschlossene Kooperation der EU-Länder wurde im Jahre 2017 durch das von 23 Ländern unterzeichnete Pesco-Abkommen (»Permanent Structured Cooperation«) ergänzt und erweitert.

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Wehrhaftigkeit als Schutz und Expansionspolitik

Wehrhaftigkeit als Schutz und Expansionspolitik Wehrhaftigkeit wird in der heutigen westlichen Gesellschaft nicht unbedingt als ein Wert angesehen, ist aber ein hohes Gut. Denn ohne Wehrhaftigkeit hätten sich auch die anderen Werte der europäischen Kulturgeschichte wie Freiheit, Demokratie, Individualität nicht behaupten können. Hätten die Griechen nicht diese Werte 490 v. Chr. bei Marathon gegen die Perser und noch einmal 480 v. Chr. in der Seeschlacht von Salamis gegen denselben Feind verteidigt, wären sie eine persische Satrapie geworden und die Weltgeschichte wäre mit Sicherheit ganz anders verlaufen. Wehrhaft hat dann Alexander der Große diese griechisch-abendländischen Werte in Schlachten 333 und 331 v. Chr. erneut gegen den persischen Großkönig verteidigt, dann selbst allerdings persische Unterwürfigkeitsallüren wie die Proskynesis eingefordert, den Fußfall vor dem Herrscher. Wehrhaft mussten sich auch die Römer zeigen im Kampf gegen die Latiner, gegen einfallende Kelten, Kimbern und Teutonen und andere Feinde. Das Reich brach zusammen, als das Imperium Romanum sich nicht mehr der eindringenden Germanenstämme erwehren konnte. Im Mittelalter und in der Neuzeit musste sich Europa seit dem 8. Jahrhundert gegen die islamischen Araber verteidigen, die 711 nach Spanien vordrangen, in kurzer Zeit große Teile der Halbinsel eroberten und erst 732 bei Poitiers in Mittelfrankreich von Karl Martell an der weiteren Eroberung Europas gehindert wurden. Zweimal standen dann auch die Türken vor Wien als Eingangstor nach Mitteleuropa: Das erste Mal belagerte Sultan Suleyman I. mit ca. 150.000 Mann Wien vom 27. September bis 14. Oktober 1529. Die Hauptstadt des Habsburger Reiches konnte aber mit Hilfe von Truppen des Heiligen Römischen Reiches behauptet werden. Auch 1571 gelang es der sog. »Heiligen Allianz« in der Seeschlacht von Lepanto die zahlenmäßig überlegene Flotte der Türken zu schlagen. 1683 standen die Türken zum wiederholten Male vor Wien, hatten die Stadt auch weitgehend eingeschlossen. Erneut eilten Truppen aus anderen Teilen Europas zu Hilfe: Bayern, Sachsen, Franken, Schwaben, Polen, mit deren Hilfe es in der Schlacht am Kahlenberg gelang, die Türken zu besiegen und zurückzuwerfen. Europa behauptete in diesen Kriegen gegen den Islam seine Freiheit durch seine Wehrhaftigkeit. In der Neuzeit zeigte vor allem der Dreißigjährige Krieg, wie katastrophal es für ein Volk sein kann, wenn es nicht wehrhaft in einem Staatsverbund organisiert ist. Die zerrissenen deutschen Lande 213 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wehrhaftigkeit

wurden so zum Schlachtfeld der kriegsführenden Parteien, der Habsburger katholischen Partei auf der einen, der von Schweden angeführten protestantischen auf der anderen Seite. Dieser Mangel an Wehrhaftigkeit der deutschen Länder, die offenen Grenzen nach allen Seiten haben, hat noch jahrzehntelang in der Erinnerung traumatisch nachgewirkt. Ähnliches gilt für den Einfall der Franzosen unter Ludwig XIV. in die Pfalz mit seiner verheerenden Spur der Verwüstung dieser Region. Und Ähnliches gilt auch für das in Stadtstaaten zersplitterte Italien und Griechenland im Kampf gegen die Türken. Wer nicht wehrfähig organisiert ist, kann leicht zur Beute von Fremdmächten und ihrer fremden Machtinteressen werden. Allerdings hat Europa in seiner Geschichte nicht nur Verteidigungskriege geführt. Ganz im Gegenteil ist die Geschichte Europas die einer permanenten Expansion. Sie ist der Überlegenheit – nicht größeren Weisheit – der europäischen Rationalitätskultur geschuldet, insbesondere ihrer Kriegs- und Waffentechnik: Das waren in der Antike die verschiedenen Formen der Phalanxformationen sowie ballistische Kriegsmaschinen, in der Neuzeit die Feuerwaffen (Vietta: Die Weltgesellschaft, 61 ff). Die von Europa aus bestimmte Weltgeschichte ist auch die einer immer weiter ausgreifenden Welteroberung gewesen: Schon die Hegemonialmacht Athen setzte zur Eroberung des Mittemeerraumes an, scheiterte aber mit diesem Projekt. Der erste Welteroberer überhaupt war Alexander der Große. Er wollte nicht nur die Perser und Nachbarreiche unterwerfen, sondern die ganze damals bekannte Welt vom Ganges bis zur Straße von Gibraltar. Der Gedanke der »Weltherrschaft«, den Alexander in die Welt gesetzt hatte, wird im Rom des 1. Jahrhunderts v. Chr. aufgenommen und dann auch zu einer Art Staatsideologie ausgebaut: Rom als ein »imperium orbis terrarum« und ohne Grenzen (»sine fine«), wie es Jupiter der Stadt Rom in Vergils »Aeneis« verheißt (Buch 1, Vers 279). Auch die Göttermutter Juno anerkennt nun die Römer als »Herren der Welt« (»Romanos, rerum dominos«, 1, 282). Seit der antiken Entgrenzung des Weltbegriffs, so kann man resümieren, geistert auch der Gedanke der Weltherrschaft durch die Weltgeschichte. Bekanntlich expandierten die Römer ihr Imperium bis weit nach Afrika hinunter und nach Germanien, Britannien sowie den Donauraum hinauf. In der Neuzeit wurde die gesamte Erdkugel von Europa aus erforscht, erobert, kolonialisiert. Die Geschichte der Neuzeit ist die der Bildung einer globalen Gesellschaft in und durch diese Geschichte der 214 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wehrhaftigkeit in Raum und Zeit: Befestigungsanlagen und Disziplin

Entdeckung und Eroberung der Erde bis zum Zusammenbruch der Kolonialpolitik und ihrer Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg. Der von Hitler entfesselte Zweite Weltkrieg war selbst ein totalitärer Eroberungskrieg, dessen Niederlage das Ende der militärischen Expansionspolitik Europas markierte.

Wehrhaftigkeit in Raum und Zeit: Befestigungsanlagen und Disziplin Welche Folgen hatte und hat Wehrhaftigkeit für die Organisation von Raum und Zeit in Europa? Man kann sagen: Während es Kulturen gibt, die weitgehend ohne Befestigungsanlagen auskamen – so die Indianerkulturen Nord- und Südamerikas, die Hochkultur Chinas aber musste sich durch ihre berühmte Mauer gegen die einfallenden Nordvölker schützen –, ist die Raumplanung in Europa jahrhundertelang stark vom Gesichtspunkt der Wehrhaftigkeit geprägt worden. Schon die Stadtstaaten außerhalb Europas im Zweistromlande schützten sich durch wehrfeste Mauerringe gegen Angreifer. Das Gilgamesch-Epos aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend schildert das Bild einer wehrhaften Stadt, wie sie der sagenhafte Helden-König Gilgamesch von Uruk nach der Sintflut errichtet hat: »Steig doch hinauf, auf der Mauer von Uruk wandle umher!/ Die Fundamente beschaue, und das Ziegelwerk prüfe:/ ob das Ziegelwerk nicht aus Backstein besteht/ und ob die Sieben Weisen nicht selbst die Grundmauer legten!« (Gilgamesch, Tafel 1, 18 ff) Das Zweistromland ist die Wiege der befestigten Stadtanlagen in der Menschheitsgeschichte. Auch die Stadtanlagen im antiken Griechenland waren bereits wehrfest ausgebaut: »Schon im Frühstadium der griechischen Staatsbildung gab es erste Stadtmauern, und vom frühen 5. bis zum späten 4. Jahrhundert kamen immer mehr dazu, und sie wurden immer massiver. Spätklassische Stadtmauern waren insgesamt solider (Steinmauerwerk statt Lehmziegel), besser ausgebaut (Türme, Brustwehren, Bastionen) und in zahlreichen Fällen mit vorgelagerten Befestigungen und ausgefeilten Systemen zur Verteidigung des Umlands ergänzt (Forts, Wachtürme, Grenzmauern mit kontrollierten Übergängen).« (Ober: Das antike Griechenland, 78) Die griechischen Stadtstaaten glichen sich so auch in ihrem Kampf um die Vorherrschaft in Griechenland einander an als Befestigungsburgen. Sparta machte eine Ausnahme, weil es mehr auf die Verteidigungskraft sei215 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wehrhaftigkeit

ner Männer baute. Nach dem Sieg der Spartaner über Athen zwangen die Sieger im Peloponnesischen Krieg den Stadtstaat Athen, seine langen Mauern, die bis hinunter zum Hafen Piräus reichten, zu schleifen. Niemals mehr sollte Athen zu seiner alten Macht und Größe zurückfinden. Die Römer handelten eher wie die Spartaner: Sie siedelten nicht auf Berghöhen und in Burgen, sondern in der Ebene und legten dort ihre geometrisch angeordneten Kriegslager und Siedlungen an (Burckhardt: Militärgeschichte der Antike, 93). Das alte Rom allerdings war bekanntlich auf sieben Hügeln erbaut und auch mehrfach durch Mauern befestigt worden, so durch die Servianische Mauer vor 500 v. Chr., die nach dem Kelteneinfall des Jahres 390 v. Chr. erneuert und verstärkt wurde. In der Blütezeit des Imperium Romanum trotzte dieses seinen Feinden durch die Armeen in den Provinzen und die dortigen Grenzwälle, den Limes. Das Reich wurde durchzogen von einem Netz möglichst gradlinigener Heer- und Handelsstraßen, um die Kommunikation zwischen Hauptstadt und Provinzen in möglichst kurzer Zeit in Eilmärschen oder zu Pferde zu ermöglichen (Heinz: Straßen und Brücken im römischen Reich). Nach den ersten Einfällen von Alemannen und Goten in das Reichsgebiet baute dann Kaiser Aurelian 270–275 n. Chr. eine neue Stadtmauer, die die Hauptstadt Rom vor kommenden Angriffen schützen sollte, diese ist bis heute mit seinen Toren weitgehend erhalten. Im Mittelalter gab es kaum eine Stadt, die sich nicht durch hohe, meist begehbare Mauern und Wehrtürme mit Schießscharten und Zinnen schützte. Dazu kamen unzählige befestigten Burgen als Stammsitze feudaler Grundherren. Deutschland zählt noch heute über zweitausend Burgen und Wehrbauten, die meisten davon in Süddeutschland. 9 Sie dienen heute zumeist als Touristenattraktion oder stehen vergessen in der Landschaft, auch als Erinnerung an eine ehemals sehr kleinteilige und durch viele lokale adlige Grundherren beherrschte deutsche Landschaft. Mit dem Aufkommen von Feuerwaffen, Kanonen insbesondere, veränderten sich die Befestigungsanlagen: Sie wurden sternförmig angelegt, um den Kanonen keine Breitseiten zu bieten, was die sternförmigen barocken Mauern von Städten wie Hannover und Mannheim aus dem frühen 18. Jahrhundert bezeugen. Erst im späten 18. Bayern 534, Hessen 310, Baden-Württemberg 278, Rheinland-Pfalz 228, http:// www.burgenwelt.org/deutschland/lokal/lokal1-deutschland.php

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und 19. Jahrhundert wurden diese Stadtmauern weitgehend geschleift, sie hatten angesichts der neuen Kriegstechniken keine Wehrfunktion mehr. Bekanntlich hat dann das 20. Jahrhundert mit seinen zwei Weltkriegen die Grenze jeglicher terrestrischen Festungsanlage aufgezeigt. Die Bomberangriffe zerstörten die Städte von oben und weitgehend ohne Unterscheidung zwischen Zivilbevölkerung und militärischen Anlagen. Dasselbe Schicksal erleiden gegenwärtig ja auch syrische Städte. Das neue Zeitalter der Drohnenkriege ist gerade erst angebrochen, und es ist durchaus möglich, dass auch die Großstädte Europas wieder Zielobjekte solcher Angriffe, z. B. von einem wieder erstarkten IS, werden könnten. Wehrhaftigkeit und Zeit: Wahrscheinlich hat die militärische Anordnung der Phalanx das Zeitgefühl in der frühgriechischen Kultur stark verändert. Diese Schlachtordnung einer geometrisierten Front von Männern im gemeinsamen Gleichschritt bei Angriff wie Verteidigung musste ja trainiert werden. So wurde bereits im antiken Griechenland militärischer Drill auf Kommando und in zeitlich getakteten Aktionen erfunden. »Drei Jahre lang wurden den jungen Männern täglich die entsprechenden Phalanxtaktiken einexerziert.« (Mann: Geschichte der Macht I, 324) Die rationale Formation der Krieger tritt so an die Stelle des heldischen Einzelkämpfers, der noch wie Achilles und Hektor vor Troja durch die gegnerischen Reihen der Trojaner bzw. Griechen tobte. Die römische Manipelformation mit ihren kleinteiligeren Kampfeinheiten (120–160 Mann), deren nach Rüstung gestaffelten Kampfverbänden, verlangte noch mehr an disciplina und der in ihr vorgenommenen Rationalisierung der Zeit. Erst als die Germanen das von den Römern gelernt hatten, konnten sie diese auch schlagen. Man wird sich auch das Leben in den Kriegslagern als streng organisiert und diszipliniert zeitgetaktet vorstellen müssen, obwohl es die mechanische Zeitmessungsmaschine Uhr damals noch nicht gab. Die Stundenmessung in der Antike erfolgte noch mittels Sonnen- oder Wasseruhren in Temporalstunden je nach Länge des Tages pro Jahreszeit (Wendorff: Zeit und Kultur, 146 f). Erst durch die Erfindung der mechanischen Uhr mit Spindelhemmung und Waagbalken im ausgehenden 13. Jahrhundert konnte nun die Zeit gleichförmig mechanisch gemessen und durch Stundenschlag mit Hilfe von Kirchenglocken auch der Dorf- oder Stadtgemeinschaft angezeigt werden. Max Weber bemerkte, dass die mittelalterlichen Klöster die 217 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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ersten Institutionen waren, welche den total geregelten Tagesablauf einführten. »Der Mönch ist der erste in jener Epoche rational lebende Mensch, der methodisch und mit rationalen Mitteln ein Ziel anstrebt, das Jenseits. Nur für ihn gab es Glockenschlag, nur ihm sind die Tagesstunden eingeteilt zum Gebet. Die Wirtschaft der klösterlichen Gemeinschaften war die rationale Wirtschaft.« (Weber: Wirtschaftsgeschichte, 311) Zur rationalen Nutzung von Zeit im Kontext von Wehrhaftigkeit gehört auch der Tempovorstoß: Die dünne, aber mutige griechische Phalanx lief so bei Marathon auf die Perser zu und schlug diese tatsächlich in die Flucht. Alexander gewann seine Schlachten gegen den Perserkönig bei Issos wie Gaugamela durch den Tempovorstoß mit seiner Reiterei um die Schlachtreihe herum auf den Großkönig zu, der beide Male in Panik versetzt und in die Flucht geschlagen wurde. Caesar stürmte in Eilmärschen mit seinen Truppen auf Rom zu und schaltete so Pompeius aus. Napoleon und – horribile dictu – Hitler gewannen anfänglich ihre Schlachten auch mit überraschend offensiven Tempovorstößen. Carl von Clausewitz sieht im Prinzip der »Überraschung« einen Hauptfaktor der erfolgreichen Kriegsführung. »Geheimnis und Schnelligkeit sind die beiden Faktoren dieses Produktes […]« (Clausewitz: Vom Kriege, 204). Im sog. »Sechstagekrieg« Israels gegen Ägypten 1967 hatten die Israelis schon die ägyptische Luftwaffe zerstört, noch bevor diese aus den Hangars gerollt worden waren. Das effektive Zeitmanagement sollte in der durch Rationalisierung geprägten europäischen Kulturgeschichte eine herausragende Rolle spielen. Bereits im Dreißigjährigen Krieg verfeinerte Moritz von Nassau den militärischen Drill derart, dass er alle Handgriffe des Ladens, Anlegens und Schießens eines Gewehres mit einem speziellen Befehl belegte und deren genaue Abfolge per Drill einüben ließ. Das ging einher mit einer auch kostensenkenden Standardisierung der Waffen und Ausrüstungen (McNeill: Krieg und Macht, 128 f). Die stehenden Heere des europäischen Absolutismus unterlagen so einem immer präziseren Drill. In der Epoche der Industrialisierung des Krieges spielte dann zunehmend die synchrone zeitliche Taktung auch entfernter Truppenteile wie Schiffe eine wesentliche Rolle. Das war einer der Gründe, warum Graf Helmuth von Moltke sich 1891 im deutschen Reichstag dafür einsetzte, dass die fünf bis dahin geltenden deutschen Zeitzonen zu einer vereinheitlicht wurden. Im Ersten Weltkrieg gehörte 218 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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dann auch die Armbanduhr zur Standardausrüstung des deutschen Soldaten. In der Kriegsführung mit Drohnen und Trägerraketen spielt die Zeit eine entscheidende Rolle in der Früherkennung von eventuellen Angriffen und der Mobilisierung der Abwehr, deren Kürze auch großes Gefahrenpotential birgt, eben weil nicht viel Zeit für Entscheidungsprozesse bleibt. Die Amerikanische Invasion in die Schweinebucht von Kuba 1961 führte die Menschheit bereits an den Rand einer solchen Atomkriegsbedrohung. Es könnte sein, dass auch das Europa der Zukunft wieder auf Überraschungsangriffe sich einstellen muss, die ihrerseits schnelle Abwehrsysteme erfordern. Das könnte eine der Herausforderungen des weiteren 21. Jahrhunderts sein.

Wehrhafte Demokratie Unter wehrhafter Demokratie verstehen wir heute ihren Abwehrkampf gegen Extremismus und diesen von rechts wie von links. Das jüngste wichtigste Ereignis dieser Art auf der einen Seite war der NSU-Prozess gegen die rechtsextreme Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« mit ihren neun Morden an Migranten, an einer Polizistin, zwei Sprengstoffanschlägen und fünfzehn Raubüberfällen, der bisher größte Prozess gegen Neonazis in der Bundesrepublik Deutschland. Auf der anderen Seite sorgten die gewaltsamen Ausschreitungen von linksextremen Gruppen während des Hamburger G20-Gipfels 2017 für eine groß angelegte Strafverfolgung. Beide Justizaktivitäten sind Anfang des Jahres 2018 noch im Gang, mit dem Urteil des NSU-Prozesses aber ist gesprochen mit der Verhängung der lebenslangen Haftstrafe für die Hauptangeklagte. Linke Politiker in Deutschland beteuerten nach den Hamburger Ausschreitungen, dass linke Politik und Gewalt sich ausschlössen. Aber das entspricht nicht der Geschichte: Sie hat bereits in der Französischen Revolution linken Terror mit zehntausenden von Opfern hervorgebracht, in der Stalinära des 20. Jahrhunderts mehr als zwanzig Millionen Opfer und auch in der BRD dreiunddreißig Todesopfer des Baader-Meinhof-Terrors. Leider haben sich nicht nur rechte, sondern auch linke Politik und Gewalt in der Geschichte sehr gut gepaart. 10 Mit https://www.welt.de/geschichte/article166531184/Linke-und-Gewalt-passen-nicht -zusammen-Oh-doch.html

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der Radikalisierung der 68er-Bewegung hat sich die Politik einer als legitim empfundenen »Gewalt gegen Sachen« konsequent auch, zumindest bei gewaltbereiten Linken, zu einer Form der Gewalt gegen Personen weiterentwickelt. Immer war das auch mit der Bedrohung von Wissenschaftlern verbunden, die liberal, aber nicht links-orientiert waren und so auch jüngeren Datums gegen die Historiker Herfried Münkler und Jörg Baberowski von der Humboldt-Universität. Letzterer hatte es gewagt, die Geschichte des Stalinismus als eine des »roten Terrors« zu beschreiben (Baberowski/ Manteuffel: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus) und diesen auch mit dem von Hitler zu vergleichen (Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium). Der Vergleich der beiden Formen von Totalitarismus ist ohnehin in Deutschland seit der sog. Historikerdebatte von 1986 auf seltsame Weise tabuisiert, obwohl es evident ist, dass beide Systeme bei allen ideengeschichtlichen Unterschieden die Werte der Freiheit und Individualität der Bürger nicht achteten und ihre Feinde so brutal zu vernichten versuch(t)en, wie dies Saint-Just gefordert hat. Wenn die Wissenschaft solche Kongruenzen nicht mehr denken und sagen darf, ist das ein Indiz für ein ebenfalls totalitäres Denken. Wenn man das Wort des französischen Revolutionärs und Terroristen Saint-Just »Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!« befolgt hätte, wären sowohl der rechte Nationalsozialismus wie auch der linke Sozialismus-Kommunismus unmöglich gewesen. SaintJusts Wort »Die Grundlage der Republik ist die vollständige Vernichtung dessen, was gegen sie ist«, zeigt allerdings auch schon auf, wie rasch die Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in linken Totalitarismus umschlagen können. Praktisch alle bürgerlichen Freiheitswerte wurden im rechten wie linken Totalitarismus liquidiert. Immer war dabei auch das missbrauchte Argument der Wehrhaftigkeit mit im Spiel: Gegen die »Feinde des Systems«, sei dies der nationale oder internationale Sozialismus. »Freie Gesellschaften entstanden nur dort, wo die Machtmittel des Staates nicht zur Verwirklichung von Utopien (und zur Vernichtung ihrer Gegner), sondern zum Schutz des Einzelnen eingesetzt wurden; auch zu dem des widerständigen, irregeleiteten und unangepassten Individuums.« 11 In der Rechtsprechung der BRD ist die Frage der Wehrhaftigkeit http://www.faz.net/aktuell/politik/kommentar-wehrhafte-demokratie-1544484. html

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der Demokratie mehrfach im Zusammenhang mit Urteilen gegen Parteien und politische Richtungen diskutiert worden, die die politische Ordnung der BRD selbst in Frage stellten, wie die SRP (Sozialistische Reichspartei) oder die KPD (Kommunistische Partei Deutschlands.) Das Bundesverfassungsgericht hat grundsätzlich dazu geäußert, dass nur die Parteien am Verfassungsgefüge »politisch sinnvoll« teilhaben können, die »auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung stehen« (Lameyer: Streitbare Demokratie, 29, zit. BVerfGE 2, 1 (73) u. a. Vorausgesetzt wird also ein »Minimalkonsens der Grundwerte« und der Respekt davor in der politischen Praxis. »Aufgrund der Konstituierung des (offenen) Wertsystems ›freiheitliche demokratische Grundordnung‹ hat der Begriff ›freiheitliche demokratische Grundordnung‹ eine Schlüsselstellung für die streitbare Demokratie, denn er steckt die Grenzen ab, außerhalb deren sich ›Abwehrbereitschaft‹ beziehungsweise ›Streitbarkeit‹ des GG aktualisieren.« (Ebd., 39) Trotz der Diskussionen, die die Einschränkung von demokratischen Rechten für den Erhalt der Demokratie nach sich zogen, ist dies ein Beispiel mehr, wie stark sich die europäischen Werte wechselseitig bedingen und zu einem System vernetzen. Das Prinzip der Wehrhaftigkeit setzt bei aller Diskussion über dessen Grenzen eben jene Werte von Demokratie, Freiheit, Individualität und Rechtsstaatlichkeit voraus, die zu schützen, zu sichern und nicht zu gefährden es angetreten ist. Das Europa der Nachkriegszeit hat jahrzehntelang im Windschatten des Kalten Krieges existiert und der westliche Teil konnte sich dabei auf die Verteidigungskraft der USA verlassen. Mit der Ära des Präsidenten Trump scheint diese Epoche zu Ende zu gehen. Die EU begreift, dass sie für ihre eigene Verteidigung zuständig ist. Bereits der Vertrag von Maastricht von 1993 sollte zu einem intensiveren Austausch an Information und zu mehr Abstimmung auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik führen. Das ungefilterte und unkontrollierte Eindringen der Migrationsströme von 2015 hat allerdings die Problematik der ungeschützten und offenen Grenzen der EU deutlich gemacht. Im Juni 2016 haben daher Europäischer Rat, Parlament und Kommission einen gemeinsamen Text zur Verordnung über die europäische Grenz- und Küstenwache verabschiedet. Rat, Parlament und Kommission hatten die Einigung am 21. Juni erzielt. Der damalige niederländische Minister für Migration und Präsident des Rates, Klaas Dijkhoff, begrüßte die Einigung: »Wir benötigen 221 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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dringend eine europäische Grenz- und Küstenwache, um unsere gemeinsamen Außengrenzen strukturiert zu verstärken. Mit besseren Grenzkontrollen haben wir mehr Kontrolle über die Migrationsströme und sorgen wir für mehr Sicherheit für unsere Bürger. Ich bin davon überzeugt, dass die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament sich bemüht haben sicherzustellen, dass die europäische Grenz- und Küstenwache ihre Tätigkeit möglichst bald aufnehmen kann.« 12 Zu einem weiteren Schritt in Richtung einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik haben sich dann 23 der 28 Mitgliedsstaaten im Herbst 2017 verpflichtet. Die Außen- und Verteidigungsminister der Unterzeichner-Staaten haben sich für die Teilnahme an der sogenannten »Pesco« entschieden. Die Abkürzung steht für »Permanent Structured Cooperation«. Sie enthält 20 Bedingungen für die Teilnahme, darunter die Verpflichtung zu regelmäßig steigenden Verteidigungsausgaben. 20 Prozent davon sollen in Neuanschaffungen fließen. Zudem verpflichten sich die Pesco-Mitglieder, »wesentliche Unterstützung« in Form von Truppen und Material für EU-Auslandseinsätze bereitzustellen. Es zeichnet sich am politischen Horizont deutlich ab, dass das Europa des 21. Jahrhunderts für seine eigene Verteidigung und seinen Grenzschutz verantwortlich ist und dass es diese Verantwortung auch ernst nehmen muss, wenn es seine Identität bewahren und die Sicherheit seiner Bürger schützen will.

http://www.consilium.europa.eu/de/press/press/releases/2016/06/22/border-andcoast-guard/

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1.10 Technizität, Macht und materieller Wohlstand

Zusammenfassung (1) Technizität bezeichnet die in der europäischen Kultur entwickelte Fertigkeit, naturwissenschaftliches Wissen in Technik umzusetzen. Sie ist eine Anwendungsform der Rationalität, des rationalen Wissens. Sie bestimmt die europäische Kultur von ihren antiken Anfängen an bis in die Jetztzeit immer mehr, obwohl Technizität nicht ausdrücklich als ein Hochwert der Kultur galt und gilt. (2) Mit militärischer Technizität verbindet sich die Kategorie der Macht durch kriegstechnische Überlegenheit. Militärische Technizität in der Antike bedeutete geometrisierte Formen der Infanterie als Phalanx-Formation, das Schmieden von Waffen sowie den Bau von Kriegsmaschinen: vor allem Torsionsmaschinen. In der Neuzeit verbindet sich militärische Technizität hauptsächlich mit der Konstruktion von Feuerwaffen, die im Verlauf der Geschichte der Neuzeit immer genauer und weitreichender feuern können. Mit der militärischen Überlegenheit der europäischen Technizität wurden schon in der Antike Kolonialreiche erobert und in der Neuzeit große Teile der Erde. (3) Die Hautquelle von Reichtum in Zeiten des Kolonialismus war die Ausbeutung von Kolonien. Die Hauptquelle von Reichtum in der Neuzeit ist die ökonomische Technizität: die technisch-maschinelle Organisation der Arbeit in der Industrialisierung und zunehmend deren technische Automatisierung. Länder und Regionen, die über einen hohen Standard an ökonomischer Technizität verfügen, weisen einen relativ hohen Wohlstand auf, Länder und Regionen, die dies nicht tun, gehören eher zu den Armutsregionen der Erde. (4) Gegenwärtig strebt die Entwicklung der ökonomischen Technizität die Konstruktion von technischer Intelligenz an, Formen maschineller Netze, die mathematisch-algorithmisch funktionieren und bereits eine Vielzahl von automatisierten Such- und Steuerfunktionen übernehmen können und dies in Zukunft noch mehr tun werden. Die Entwick-

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lungszentren für technische Intelligenz liegen gar nicht mehr in Europa, sondern in den USA und China.

Der Begriff der Technizität Mit Technizität definiere ich die Fähigkeit der europäischen Kultur, rationales naturwissenschaftliches Wissen in Technik umzusetzen. Auch wenn der Begriff nicht zu den traditionellen Hochwerten der europäischen Kultur zählt, ist diese – die europäische Kultur – nachhaltig von Technizität geprägt. »Was ist Technik?«, fragt der Philosoph Martin Heidegger und antwortet selbst: »nichts Technisches«: »So ist denn auch das Wesen der Technik ganz und gar nichts Technisches.« (Heidegger: Die Frage nach der Technik, 5) Man kann die moderne Technik, die heute unser ganzes Leben – und dies über den ganzen Globus hin – bestimmt, nicht rein instrumental durch Umgang mit technischem Handwerkzeug oder Geräten erklären und verstehen wollen. »Die neuzeitliche physikalische Theorie der Natur ist die Wegbereiterin nicht erst der Technik, sondern des Wesens der modernen Technik«. (Ebd., 21) So steckt in der modernen Elektrotechnik die abstrakte mathematisch-naturwissenschaftliche Theorie der elektromagnetischen Wellen und des Lichts. Technizität ist die Fähigkeit, diese umzusetzen in Techniken der Beleuchtung, der elektrisch angetrieben Verkehrsmittel auf Schienen, in elektrische Kommunikationstechniken wie Telegraph, Telefon, Radio, Fernsehen, Internet oder die Elektronik des Computers und der damit gesteuerten diversen Computeranlagen. Auch Künstliche Intelligenz ist ein Produkt der modernen Technik und damit der Technizität. Die gesamte abendländische Geschichte ist von ihren Anfängen an geprägt durch eine sich seit der Antike entwickelnde Technizität auf allen Kulturgebieten. Sie hat die Eroberung der Erde mittels militärischer Techniken sowie die kommunikative Vernetzung der Erde mittels der modernen Kommunikationstechniken herbeigeführt. Die anfänglich in Europa entwickelte Technik und korrespondierende Technizität definiert dementsprechend heute die globale Weltkultur – und ich füge gleich hinzu: mit all ihren Fortschritten und auch Problemen. Die heutige Weltgesellschaft ist bis in ihre entferntesten Winkel von der abendländischen Technik geprägt und dies mit all ihren sozialen Folgen. Denn dies bedeutet auch: Wohlstandsregionen auf Erden sind solche Regionen, die einen hohen Standard an Tech224 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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nizität aufweisen, arme und unterentwickelte Gegenden eher solche, die nicht über einen solchen Standard verfügen. Damit ist nichts über die Würde und die Qualität von Kulturen gesagt, die nicht der europäischen Werteskala der Technik und Technizität entsprechen. Wohl aber über deren Wohlstand angesichts einer globalen Kultur, die – ob wir dies befürworten oder nicht – durchgängig von der europäischen, heute globalen Technizität und ihren Formen der Produktivität geprägt ist. Technizität wird im Allgemeinen nicht als ein Hochwert der Kultur genannt. Er ist eher ein de facto-Wert: Die Kulturgeschichte folgt ihm faktisch jahrhundertelang, ohne dass sie sich diesen Wert ausdrücklich auf ihre Fahnen geschrieben hätte. Oft genug wird er von Scheinwerten anderer Art überlagert wie dem Motiv der ›wahren‹, der christlichen Religion oder der ›Kultivierung‹ von angeblich ›unkultivierten‹ Völkern in den Phasen der europäischen Kolonialgeschichte (siehe das vorige Kap. 1.9). Es gibt allerdings keinen anderen Wert der europäischen Kulturgeschichte, der so nachdrücklich und – über Geschichtsbrüche hinweg – so kontinuierlich die europäische Kultur geprägt hat wie der Wert der Technizität. Technizität ist eine Anwendungsform der Rationalität, des rationalen Wissens. Sie setzt daher immer auch einen hohen Standard an Bildung voraus, dies insbesondere in den MINT-Fächern (siehe Kap. 1.7). Als Produzentin von Wohlstand ist sie auch ein Hauptfaktor der Ökonomie und damit eine wesentliche Voraussetzung für die geisteswissenschaftlichen Kulturformen, auch wenn diese vielfach in kritischer Distanz zu jener stehen.

Technizität und Macht Betrachten wir zunächst den Zusammenhang zwischen Technizität und Macht. Ein hoher Standard an Technizität bedeutet Macht. Dies vor allem durch die Anwendung von Technizität in der Kriegstechnologie. Wie ist es möglich gewesen, dass das kleine Europa – der kleinste Erdteil – über 2500 Jahre die Welt erobern und kolonialisieren konnte? Wie konnte es dem kleinen Land Makedonien, wie dem kleinen Stadtstaat Rom gelingen, die damalige Welt zu erobern? Wie gelang es in der Neuzeit vergleichsweise kleinen Ländern wie Spanien, Portugal, Holland, England, jeweils große Weltreiche zu erobern und 225 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Technizität, Macht und materieller Wohlstand

diese auch über längere Zeiträume hinweg zu kontrollieren? Das vergleichsweise kleine England kontrollierte zeitweilig das flächenmäßig größte Imperium aller Zeiten: bis zu 25 % der Landmasse der Erde! Warum überhaupt vollzog sich die vom Abendland ausgehende Weltgeschichte vor allem als eine Geschichte der Welteroberung? Dafür verantwortlich war und ist immer noch ein kultureller Wert: die abendländische Technizität und die ihr zugrunde liegende Denkform der Rationalität, vor allem als militärische Rationalität und Technizität. Rationale Militärtechnik war und ist ein Hauptfaktor für die Überlegenheit Europas und heute der Großmächte, die über die modernste Kriegstechnik verfügen, in der Weltgeschichte. Die machtpolitische Überlegenheit der Kultur der Technizität über die Völker und Nationen der Erde in den Phasen des Kolonialismus und auch heute noch beruht(e) in erster Linie auf der Dominanz ihrer Kriegstechnologie und -strategie. In der Antike war das vor allem die Strategie der Phalanx in ihren verschiedenen Varianten und waren das die antiken Waffen wie Schwert, Schild, Speer und die Kriegsmaschinen, letztere vor allem ballistische Torsionsmaschinen. Man kann vereinfacht sagen: Die ganze Antike von der Schlacht der Griechen gegen die Perser bei Marathon 490 v. Chr. bis zum Zusammenbruch des weströmischen Imperiums 476 n. Chr. – also ca. 1000 Jahre Weltgeschichte –, war kriegstechnisch beherrscht von der Strategie der Phalanx und ihrer Überlegenheit über jede andere Form der Kriegsführung zu Lande. In der Neuzeit war das die Konstruktion und Anwendung von Feuerwaffen, deren Präzision, Reichweite und Durchschlagskraft die ganze Neuzeit hindurch verbessert und erweitert wurde, angefangen von der »Faulen Metze«, die im 15. Jahrhundert 550 Kilo schwere Steine durch die Luft schleudern konnte, bis zu den ferngelenkten Fernwaffen des 20. und 21. Jahrhunderts. Diese Sicht der Dinge wird gestützt durch die freilich immer auf bestimmten Gebieten arbeitende Militärforschung: Die Welteroberung der Neuzeit ist möglich gewesen nur auf Grund der »absolute or relative superiority of Western weaponry and Western military organization over most others« (Parker: Military Revolution, 115). »Die Siege, welche die Europäer in dieser Periode regelmäßiger Konflikte mit anderen Völkern der Erde errangen, bezeugten den ungewöhnlich effizienten Charakter der militärischen Strukturen in Europa, und diese Erfolge erleichterten wiederum das stetige Anwachsen des Überseehandels, das mit dazu bei-

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trug, daß der Unterhalt der stehenden Heere und der Flotten für die Europäer leichter zu tragen war.« (McNeill: Krieg und Macht, 132) Militärische Technizität bedeutet darüber hinaus auch kartographische Erfassung und Vermessung der Erde, bedeutet kapitalistische Finanzierung von Heer und Tross, bedeutet kriegstechnische Aufrüstung von Schiffen, Navigationstechnik und politische Organisation der eroberten Gebiete, bedeutet Ausbau von Kommunikationstechniken aller Art, bedeutet Rationalisierung der Zeit und Zeitmessinstrumente, also Anwendung von Rationalität und technischem know how, das vielfach dabei erst entwickelt wurde, auch auf vielen anderen Kultursektoren. Die abendländische Kulturgeschichte einschließlich der außereuropäischen Kolonialvölker hat mit ihrem hohen Maß an Technizität jeweils andere in ihrer Form hoch entwickelte Weltkulturen marginalisiert, ausgebeutet und deren indigene Populationen vielfach auch vernichtet. Denn – wir sagten es bereits – überlegene Technizität bedeutet Macht über jene Völker und Regionen, die über solche Technizität nicht verfüg(t)en. Was ist Macht? Die Kategorie der Macht bedeutet Herrschaft, und dies nicht nur von Menschen über Menschen, sondern einer Kulturform über eine oder mehrere andere. Die Herrschaftsstruktur der abendländischen Geschichte ist nicht primär den überlegenen Herrscherpersönlichkeiten geschuldet, wie Alexander, Caesar, Karl dem Großen, den Eroberern Pizarro, Cortez, Napoleon und wie sie heißen mögen. Sie ist vielmehr ihrer jeweils höheren militärischen Technizität geschuldet, die solche Eroberer aber besonders schlagfertig zu nutzen verstanden. Das wiederum trieb und treibt die permanente Rüstungsspirale voran, eben weil höhere militärische Technizität auch ein Mehr an Macht bedeutet. In dieser Spirale bewegt sich auch unsere gegenwärtige Weltgesellschaft, ohne dass dabei Europa noch ein Hauptakteur wäre.

Technizität und Ökonomie: Reichtum und Armut Reichtum in der Antike und auch auf lange Dauer in der Neuzeit wurde vor allem über Eroberungen angehäuft, also mittels militärischer Technizität. So flossen in das selbst relativ unproduktive Rom ungeahnte Reichtümer aus den von römischen Legionären eroberten Provinzen. Schon mit der Eroberung der Provinzen Sizilien und Sardinien noch im dritten Jahrhundert v. Chr. hatte sich Rom große 227 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Technizität, Macht und materieller Wohlstand

Kornkammern gesichert. Mit der Eroberung der Provinzen Hispania 197 v. Chr. öffneten sich die Silberminen dort für die römische Ausbeutung. Mit der Provinz Afrika 146 v. Chr. kamen weite fruchtbare Getreidezonen zu Rom, mit der Eroberung der Provinzen Asia 133 v. Chr. flossen ungeahnte Reichtümer an Luxusgüter und Sklaven aus den Hochkulturen Asiens nach Rom. Zuvor schon waren auch die Gebiete Makedoniens (148 v. Chr.) und Griechenlands (Achaea, 146 v. Chr.) – die vormaligen ›Weltmächte‹ – erobert worden. Bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. expandierte das Imperium Romanum durch immer neue Gebietseroberungen und entwickelte schon zu Kaiser Augustus’ Zeiten die Ideologie eines »Imperium ohne Grenzen« (Vergil: Aeneis, 1,279). Dessen Reichtümer flossen in die Hauptstadt, nährten sattsam seine politischen Eliten und seine Bevölkerung und machten Rom auch zu einer Hauptstadt des Luxus und der Verschwendung. Gegenüber der Antike ist die Neuzeit durch noch viel höhere Ausbeutungszahlen geprägt. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung bedeutet Kolonialismus »die Ausdehnung der Herrschaftsmacht europäischer Länder auf außereuropäische Gebiete mit dem vorrangigen Ziel der wirtschaftlichen Ausbeutung. Zwar waren im Zeitalter der Entdeckungen auch missionarische Gründe und der Handel für den Kolonialismus maßgeblich (seit der Industrialisierung v. a. der Bezug billiger Rohstoffe); im Vordergrund stand jedoch immer die Mehrung des Reichtums der Kolonialherren und Mutterländer.« 13 In der Definition fehlt die entscheidende Begründung, warum eine solche Ausbeutung überhaupt möglich war. Sie war und ist möglich aufgrund der Überlegenheit der abendländischen Technizität. Dabei hatten sich die europäischen Völker vielfach die Ideologie auf ihre Fahnen geschrieben, dass ihre Religion die ›einzig wahre‹, ihre Zivilisation die höherwertige sei. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschte in der Anthropologie die Meinung vor, dass allein der weiße Mann zur Herrschaft über die Erde berufen sei. Der renommierte Anthropologe Lucien Lévy-Bruhl vertrat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Meinung, dass die sog. »Primitiven« zu höheren Formen rationalen Denkens gar nicht fähig seien, dass sie sogar eine »ausgesprochene Abneigung gegen das verstandesmäßige Denken« zeigten, dass sie dementsprechend zu einer höher entwickelten Technizität gar nicht fähig seien (Lévy-Bruhl: Die 13

http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/17718/kolonialismus

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Technizität und Ökonomie: Reichtum und Armut

geistige Welt der Primitiven, 5 ff). Immer wieder wurde von den Missionaren auch beklagt, dass die Naturvölker zur Erkenntnis des »wahren Gottes« kaum zu bewegen seien (ebd., 8 f). Unter den Kolonialvölkern war vor allem Spanien an der direkten Ausbeute der Gold- und Silberminen in seinen Kolonien interessiert. Durch die neuen Minen in Südamerika und den Export ihrer Ausbeute nach Europa stieg sowohl die Weltgold- als auch die Weltsilbermenge sprunghaft an. Die Forschung schätzt, dass zwischen 1500 und 1800 ca. 147 000 Tonnen Silber und 2547 Tonnen Gold aus den amerikanischen Minen nach Europa flossen (Barrett: World Bullion Flows, 228 f). Das bedeutet: Zwischen 1500 und 1800 kam 85 % des Weltsilbers und 70 % des Weltgoldes aus den Silber- und Goldminen Amerikas. Von der Beute floss mindestens ein Fünftel, der »quinto real«, direkt in die spanische Königskasse. Mittels der Abgaben der Minenbesitzer, durch Steuern auf Umsatz und Transfer kamen noch weitere Abgaben hinzu: Die spanische Krone zog auch den »Zehnten« (»diezmo«) für die Kirche ein, wodurch »mindestens 20 bis 40 Prozent des ganzen Silbers, das aus Nord- und Südamerika nach Spanien verschifft wurde, […] direkt in die Staatskasse« wanderte (Weatherford: Eine kurze Geschichte des Geldes, 126). Dieser Reichtum von Übersee finanzierte das »goldene Zeitalter« – das »siglo de oro« – Spaniens von 1550–1680. Das amerikanische Silber- und Goldgeschäft heizte auch den Sklavenhandel an. Neben den Indios mussten Sklaven aus Afrika die Arbeit in den portugiesischen und spanischen »Beherrschungskolonien« Südamerikas leisten. Dieser Begriff steht im Gegensatz zu den »Siedlungskolonien« vor allem Englands in Nordamerika (Osterhammel: Kolonialismus, 17), wobei das Schicksal in den Siedlungskolonien für die indianischen Ureinwohner noch mörderischer war als in den Beherrschungskolonien. Denn die Spanier und Portugiesen brauchten Indianer als Sklaven für ihre Minen und Landgüter, die Siedler aber brauchten das Land der Indianer für sich und vertrieben oder vernichteten daher dessen Ureinwohner. Der europäische Kolonialismus mit seiner überlegenen militärischen Technizität vollzog sich in einem Klima der Konkurrenz der Nationalstaaten und eines Kampfes um die Vorherrschaft in Europa wie Übersee und hat sehr viel mit der Rationalitätsentwicklung in diesen Ländern zu tun. Man kann geradezu eine Konvergenz zwischen dem fortschrittlichen Standard an Rationalität und Technizität eines Landes und seiner Hegemonialität konstatieren. Vereinfacht gesagt: Jeweils dort, wo 229 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Technizität, Macht und materieller Wohlstand

der Spitzenstand der technisch-ökonomischen Entwicklung lag, war auch ein Zentrum der europäischen Kolonialmacht, verlagerte sich das eine, so auch das andere. Deutschland, das erst spät, dann aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dramatischen Entwicklungssprüngen zur europäischen Großmacht der Technik und Industrialisierung aufgestiegen war, beanspruchte daraufhin auch Kolonien in Afrika und war maßgeblich beteiligt an der Entfesselung des Ersten Weltkrieges – zugleich des ersten großtechnischen Krieges der Menschheitsgeschichte. Deutschland war dann mit dem Ziel der Eroberung von Weltherrschaft Alleinverursacher des Zweiten Weltkrieges, zugleich das Ende der europäischen Kolonialgeschichte und Übergang in die postkoloniale Ära mit all ihren Folgelasten und Problemen. Mitte des 20. Jahrhunderts und nach dem Zweiten Weltkrieg vollziehen sich zwei weltgeschichtliche Umbrüche. Erstens verlagert sich die Dominanz der militärischen Technizität von Europa weg hin zu den Siegermächten Russland und den USA, heute vor allem: USA und China. Zweitens verlagert sich der Expansionismus der abendländischen Rationalitätskultur weg von den militärischen Eroberungen hin zur ökonomischen Technizität und ihrer Dominanz. Diese Verlagerung des abendländischen Expansionismus weg von der direkten militärischen Eroberungskultur hin zu einer ökonomischen Expansionsgeschichte führt heute zur Dominanz der rationalen Ökonomie und ihren Formen der Technizität über alle anderen Wirtschaftsformen. Die ökonomische Technizität des Abendlandes hatte sich schon durch Kolonialgeschichte weltweit verbreitet, wird aber nun zu dem Grundmodell der Weltwirtschaft überhaupt, an dem nun auch alle nationalen Wirtschaften gemessen werden. Die Hauptquelle des Reichtums in der modernen industriellen Ökonomie ist, wie schon Adam Smith und Karl Marx erkannten, die industrielle Arbeit. Deren Hauptquelle ist aber nicht die Teilung der Arbeit, wie Smith und auch Marx glaubten, sondern die technische Organisation von Arbeit, also die moderne Technizität. Die rationaltechnische Organisation der Arbeit ist es, die das Programm einer arbeitsteiligen Produktionskette erzeugt und damit die eigentliche Quelle der Unterteilung eines Produktionsprozesses in viele kleine Arbeitsschritte nach einem rationalen Masterplan ist. Dort, wo dieser Rationalisierungsprozess von ökonomischer Produktivität einschließlich der dazu nötigen Infrastruktur am weitesten vorangeschritten ist, wird auch der größte materielle Reichtum produziert. In den rational 230 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Technische Intelligenz

unterentwickelten Regionen der Erde ist dementsprechend die materielle Armut am schlimmsten. Moderne Industriearbeit folgt einem rationalen Masterplan der industriellen Fertigung, welcher den Prozessverlauf einer Produktionserzeugung möglichst automatisiert, heute auf der Industrialisierungsstufe 4.0 – auf der die praktischen Handgriffe gar nicht mehr durch Menschen, sondern von Robotern getätigt werden, die auch im Rahmen ihrer digitalen Vernetzung untereinander agieren können. Der Hauptproduktivitätsfaktor solcher Arbeitsorganisation ist somit nicht die menschliche Arbeit an sich, sondern die technisch-rationale Organisation der Arbeit, mithin ein möglichst hoher Standard an Technizität. Der Mensch und seine Produktivität bemessen sich in der industriellen wie auch postindustriellen Produktion an seiner Technizität. Diese selbst treibt zu einer immer abstrakteren und automatisierteren Form der Produktion und Produktivität. Man mag das bedauern, auch handwerklichen Formen der Produktion nachtrauern, die es ja immer noch gibt, aber das ist der Lauf der Weltgeschichte unter der Dominanz der Kategorie der Technizität.

Technische Intelligenz Die Entwicklung von technischer Intelligenz ist wahrscheinlich ein Höhepunkt und Abschluss der Kultur der Technizität. Was ist technische Intelligenz? Sie ist eine Form der Verlagerung menschlicher Intelligenz auf technisches Gerät. Wie ist das möglich? Und handelt es sich wirklich um menschliche Intelligenz bei der technischen Intelligenz? Lange Zeit wurde das menschliche Denken mit der mathematischen Logik identifiziert. Bereits die antike Gelehrtengruppe der Pythagoreer glaubte, alle Probleme logisch-mathematisch lösen zu können. »Und in der Tat hat ja alles was man erkennen kann Zahl«, schrieb Philolaos, ein Zeitgenosse des Sokrates (Philolaos Frg. 4, Diels: Fragmente der Vorsokratiker, 77). Der Pythagoreer formuliert diesen Erkenntnisanspruch der Zahl sogar mit einem Ausschließlichkeitsanspruch, wenn er im selben Fragment fortfährt: »Denn es ist nicht möglich, irgendetwas mit dem Gedanken zu erfassen oder zu erkennen ohne diese.« Bereits die antiken Pythagoreer glaubten, dass die Zahl alle Seinsbereiche umfasst, auch die menschliche Sprache und die Musik: »Du kannst aber nicht nur in den dämonischen und 231 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Technizität, Macht und materieller Wohlstand

göttlichen Dingen die Natur der Zahl und ihre Kraft wirksam sehen, sondern auch überall in allen menschlichen Werken und Worten und auf dem Gebiet aller technischen Verrichtungen und auf dem der Musik.« (Philolaos Frg. 11, ebd., 78) Also auch die Musik und die Sprache sollte der Mathematik unterworfen werden. Dabei war die Zahlenlehre der Griechen noch einfach, die Zahl Null kannten sie noch nicht und die irrationalen Zahlen entdeckten sie gerade. Aber die Grundidee, alle Denk- und Sprachprozesse quantitativ auszudrücken und damit berechenbar zu machen, wurde bereits hier geboren (Vietta: Rationalität, 71 ff). Daran knüpfen die Neopythagoreer der Neuzeit an, wenn Galilei der Meinung war, dass die Natur in der »Sprache der Mathematik« verfasst sei (Galilei: Sidereus Nuncius, 53 und 157) und es die frühe Aufklärung unternahm, auch Denk- und Sprachprozesse rein zahlenmäßig-mathematisch auszudrücken. Hobbes und Leibniz waren fasziniert von dem Gedanken: Denken ist Rechnen. Sie glaubten, man könne alle prädikativen Aussagen über Objekte in Gleichungen übersetzen und somit die Wahrheit solcher Sätze wie mathematische Gleichungen errechnen (Vietta: Rationalität, 88 ff). So definiert Thomas Hobbes: »Unter rationeller Erkenntnis verstehe ich Berechnung.« Und er kann schlussfolgern: »Also ist rationelle Erkenntnis dasselbe wie Addieren und Subtrahieren« (Hobbes: Vom Körper, 6). Leibniz wie Hobbes waren besessen von dem Gedanken, das Universum des Sprechens und Denkens in ein Zahlen- und Rechenuniversum transformieren zu können, aus dem sie dann die Wahrheiten quasi mathematisch errechnen könnten. Leibniz erfand auch bereits eine Rechenmaschine und eine zweiwertige Zahlenlehre, die jede Zahl allein durch die Ziffern 1 und 0 auszudrücken imstande war, Grundlage der modernen Computertechnik (Leibniz, Gottfried Wilhelm: Explication de l’Arithmetique Binaire). An Leibniz’ Experimenten lässt sich gut verfolgen, was passiert, wenn Sprache und Denken in mathematische Formeln übersetzt wird. Schon Leibniz überträgt nämlich Sätze in mathematische Formeln. So schreibt er die Bedeutung ›Menschsein‹ wie eine mathematische Gleichung, nämlich ›Mensch = vernünftiges Lebewesen‹. Wenn man der Bedeutung ›vernünftig‹ den Wert 3 beimisst, dem Wort ›Lebewesen‹ den Wert 2, erhält man eine Gleichung 6 = 3 mal 2. Im Wert von 6 für ›Mensch‹ ist damit die Multiplikation 2 für ›vernünftig‹ und 3 für ›Lebewesen‹ enthalten. Die Rechnung stimmt also, aber nur, wenn man diese semantischen Merkmale vorher diesen 232 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Technische Intelligenz

Zahlenwerten zugeordnet hat. (Leibniz: Fragmente zur Logik, 180). Leibniz hatte die Idee, eine Art universalen Kalkül zu erstellen, genannt »characteristica universalis«, in welchem die Definitionen aller Grundelemente unserer Vorstellungen von der Welt enthalten und in Zahlenwerten ausgedrückt sein sollte, wodurch alle vernünftigen Aussagen darüber kalkulierbar, ›berechenbar‹ würden. Wenn dann noch jemand eine unsinnige Behauptung aufstellt, könnte man einfach sagen: »Rechnen wir, mein Herr!«, um diesem Menschen die Wahrheit demonstrativ zu zeigen (Leibniz: Fragmente zur Logik, 91). Ignoranten würde eine derart logisch-mathematische Beweisführung endgültig zum Verstummen bringen. Allerdings hätte auch Leibniz gestaunt, wenn er gut dreihundert Jahre danach gesehen hätte, was heute mit der Mathematik und den modernen Rechnern möglich ist. Ziel der KI (künstlichen Intelligenz) ist es heute, »Maschinen zu entwickeln, die sich verhalten, als verfügten sie über Intelligenz«. So definierte John McCarthy 1955 die KI (zit. in Ertel: Grundkurs künstliche Intelligenz, 1). Die Definition ist wichtig. Die Maschine tut so, als ob sie über Intelligenz verfüge, sie simuliert diese, aber hat sie nicht wirklich. Das Hauptsimulationsmittel der KI heute sind die künstlichen neuronalen Netze und ihre Simulation kognitiver Prozesse im Medium des Rechners. Sie »kopieren die Funktionsprinzipien ihrer natürlichen Vorbilder« (Schlieter: Die Herrschaftsformel, 25). Im Prinzip erfolgt das nicht anders als bei Leibniz vorgedacht: Die Inputwerte aus der realen Welt werden zum Beispiel über Sensoren empfangen und dann übersetzt in reale Zahlenwerte. Reale Informationen werden also nach mathematischen Regeln zu Zahlenwerten in einem künstlichen Netz oder einer ganzen Kette von hintereinander geschalteten Netzen verarbeitet. Damit lassen sich komplexe Strukturen und auch Muster der Realität in eine technisch-maschinelle Sprache verwandeln und dann damit rechnen. Die Kompetenz, die man dazu braucht, ist Computer-Technizität, Programmiertechnik. Was geschieht nun in der Maschine? Wenn sie ein Muster erkennen soll, zum Beispiel ein Verkehrsschild, übersetzt sie die Pixel in ein Muster mittels der unterschiedlichen Aktivierung ihrer künstlichen Neuronen und tut dies durch die unterschiedliche Zuordnung von Zahlenwerten. Die Maschine selbst übersetzt also die gegebene Struktur in ein Netz von Zahlenwerten, die unterschiedlichen Aktivierungen entsprechen. Sie erzeugt so die gegebene Struktur in der Form einer internen Zahlenstruktur und dies eben alles durch die 233 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Technizität, Macht und materieller Wohlstand

Zahlen 1 und 0, Strom oder Nicht-Strom. Die heutigen Rechner können so eine Vielzahl von Netzen hintereinanderschalten, die miteinander auch in der Form der Rückkoppelung vernetzt sind und Korrekturen an den eigenen Zwischenergebnissen durchführen können. Die Maschinen können sich also selbst korrigieren, »deep learning«. Wie das mathematisch korrekt erfolgt, kann man in Fachbüchern nachlesen (u. a. Ertel: Grundkurs künstliche Intelligenz, 265 ff mit weiteren Literaturangaben). Fakt ist: Die Biologie einer bestimmten Form der menschlichen Intelligenz – nämlich des rechnenden Denkens – wird auf diese Weise simuliert, und das funktioniert auch bei der heutigen Hochleistung von Rechnern. »In einer Studie des Pentagon heißt es: ›Computerprozessoren werden wahrscheinlich die Rechenleistung des menschlichen Gehirns in den 2020er Jahren erreichen.‹ In den nächsten 15 Jahren erhöhe sich die Rechenleistung bis zu 100.000 Prozent.« (Zit. in Schlieter: Die Herrschaftsformel, 35). Nun ist es geradezu unheimlich, welche Folgelasten die gewaltige Aufrüstung der menschlichen Gesellschaft mit technischer Intelligenz für diese hat: Bereits heute wird in China wie auch in Deutschland eine Technologie der Gesichtserkennung und damit Identifikation von Menschen im öffentlichen Raum angewandt. Die Speicherung und maschinelle Verarbeitung, will sagen Musterkennung, von Milliarden von Daten, die Megafirmen wie Google, Microsoft, Facebook, Amazon, u. a. anhäufen, erlaubt schon heute differenzierte Prognosen über kollektive Trends als auch einzelne Biographien. Facebook rühmt sich mittlerweile zu wissen, wann sich Paare trennen werden allein auf Grund der Algorithmen ihrer Freundschaftskreise und Aktivitäten in den sozialen Medien. 14 Im Grunde werden hier bereits alle – auch emotionalen – Daten von Menschen in Zahlenwerte transferiert, was das Zukunftsverhalten der Personen und ganzer Gesellschaftsgruppen berechenbar und damit auch steuerbar macht. Alle Daten von Personen sind von hoher Bedeutung für Firmen, für den Staat, für die Gesellschaft und werden von diesen bereits genutzt. Wie es gegenwärtig aussieht, könnte die technische Intelligenz von Big Data zu einer neuen Form von Kontroll- und Verhaltenssteuerung führen und dies in den westlichen Demokratien wie in totalitären Staaten, die sich durch die Technisierung der Information http://www.handelsblatt.com/panorama/aus-aller-welt/datenauswertung-facebook -warnt-vor-dem-ende-der-liebe/9495068.html

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Technische Intelligenz

auch angleichen. Personale Daten wie die Lust am Alkohol eines Users, häufige Partnersuche und -wechsel über die sozialen Medien, fettes Essen, psychische Instabilität u. a. können sich auf Krankenversicherungen, Einstellungschancen, soziale Bewertung eines Menschen auswirken, wenn sie gesammelt und gespeichert sind und gegen Geld oder aus sonstigen Motiven abrufbar. Der chinesische Staat verteilt bereits Punkte für soziales Wohlverhalten bzw. Abweichung davon, nach Maßgabe der Parteiführung versteht sich. Die durch die technische Intelligenz der Großrechner und ihrer Groß-user gesteuerte Gesellschaft führt zu einer »kybernetischen Kontrolle«, wie sie vormals selbst in den totalitären Polizeistaaten nicht möglich war. Es könnte sein, dass die Hochwerte der europäischen Kultur: das eigenständige Denken, Wahrhaftigkeit, Kritik, Demokratie, Freiheit, individuelle Subjektivität, sogar die Rechtsstaatlichkeit durch die technische Intelligenz und deren Nutzung zur Steuerung der Gesellschaft gefährdet werden und es schon sind. Ganz anders als George Orwell es in seinem Roman »1984« vorhersah, geben ja die Menschen heute in den sozialen Medien ihre Geheimnisse freiwillig oder arglos preis. Die Rettung der genannten Werte würde also auch einen kritischen Umgang mit diesen neuen Technologien nahelegen.

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Kapitel 2 Werte der Religion und des Naturrechts

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2.1 Religiosität als Grundwert

Zusammenfassung (1) Religiosität ist eine Anlage des Menschen. Sie bezeichnet nach dem Philosophen Friedrich Schleiermacher eine Unendlichkeitsstelle im menschlichen Bewusstsein. Der Mensch hat anders als Tiere einen Bezug zur Dimension der Unendlichkeit und Jenseitigkeit außerhalb seiner irdischen Existenz. Schleiermachers Religionsbegriff zielt somit auf einen transkonfessionellen Religionsbegriff, der zugleich einen Horizont der Ganzheit und der Metaphysik über dem Menschen eröffnet. (2) Die religiöse Dimension entzieht sich aber zugleich auch dem menschlichen Wissen. Sie ist eine Unbestimmtheitsstelle des menschlichen Bewusstseins, den die verschiedenen Kulturen und Religionen mit jeweils ihren Kultur- und Religionsvorstellungen ausfüllen. (3) Der Wert der Religiosität liegt in der bewussten Annahme dieser menschlichen Anlage zur Totalität und Unendlichkeit. Insofern die Naturwissenschaften und die Philosophie sich auf diese Dimension beziehen, verfügen sie selbst über eine religiöse Dimension, wenn auch in Konkurrenz zur Religion. (4) Es gibt verschieden Formen religiöser Erfahrung in den verschiedenen Kulturen. Auch die moderne Literatur ist im Zeitalter der Säkularisation auf der Suche nach religiöser Erfahrung.

Was ist Religiosität? Religiosität ist eine generelle Anlage des Menschen. Sie entspringt dem durch Sprache geformten Bewusstsein des Menschen. Insofern ist Religiosität eine Anlage, die nicht durch eine spezielle Religion, wie das Christentum oder den Islam, vermittelt ist. Religiosität als die menschliche Anlage zur Religion geht den Religionen voraus. Sie meint vielmehr die Disposition des Menschen – und man kann sagen: in allen Kulturen –, so etwas wie Religion auszubilden. Sie ist 239 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Religiosität als Grundwert

die Anlage des Menschen zur Religion, die dann von den bestimmten einzelnen Religionen ausgefüllt wird. Weil der Mensch von seiner Naturanlage her religiös ist, entwickelt er Religionen. Aber welche Anlage des menschlichen Bewusstseins meinen wir damit? Um das genauer zu bestimmen, gehen wir zurück auf einen Theologen der Aufklärung, Friedrich Daniel Schleiermacher, der über das Wesen der Religion geforscht und nachgedacht hat. Schleiermacher hat 1799 ein Buch publiziert, das uns hier Auskunft geben kann: »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern«. Die Frage nach dem Wesen der Religion vollzieht sich ja bereits in einer Kultur, die stark von der Rationalität der Aufklärung geprägt ist. Schleiermacher wendet sich gerade auch an die kritischen Köpfe der Aufklärung, um ihnen die Bedeutung der Religion nahezubringen. Was aber ist der religiöse Kern des Menschen, wie er nach Schleiermacher offenbar in allen Menschen aller Kulturen ruht? Schleiermacher bestimmt diesen religiösen Kern als eine Relation: als den Bezug des Menschen zu einer Dimension der Unendlichkeit, die wir Menschen – alle Menschen – in uns tragen. »Religion«, sagt Schleiermacher, »ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche« (ebd., 30). Unser religiöser Sinn eröffnet somit einen Bezug zum Universum in seiner Unendlichkeit, ist also selbst so etwas wie eine Unendlichkeitsstelle in unserem menschlichen Bewusstsein. Tiere haben diese Unendlichkeitsstelle nicht in ihrem Bewusstsein. Anschauung der Unendlichkeit des Universums ist somit die Kernformel der Religiosität: »Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus Ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Grenzen aufs genauste bestimmen lassen.« (Ebd., 31) Und Schleiermacher ergänzt noch diese »Formel der Religion« durch den Zusatz: »Alles Anschauen gehet aus von dem Einfluß des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird.« (Ebd., 31) Fasst man diese »Formel der Religion« zusammen, so lassen sich drei Gedankenschritte darin unterscheiden: (1) Der religiöse Sinn des Menschen ist sein Bezug zu einer Dimension der Unendlichkeit des Universums.

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Was ist Religiosität?

(2) Diese Dimension der Unendlichkeit eröffnet sich in der Anschauung und, wie Schleiermacher auch hinzufügt, im »Gefühl« (ebd., 33). (3) Diese Anschauung der Unendlichkeit und Totalität des Universums als der Kerndimension des Religiösen zeigt uns Menschen in einer eher empfangenden Haltung, nicht als die primär aktiv Handelnden. Damit ist eine »Formel der Religion« gewonnen, die für alle Religionen gilt. Das heißt aber: Die einzelnen Bestimmungen eines »höchsten Wesens«, den oder die wir Gaia, Durga, Jahwe, Gott, Allah oder Manitu nennen können, sind von sekundärer Bedeutung, weil sie ja nur regionale und epochale Ausgestaltungen desselben »Weltgeistes« sind, den wir in allen Religionen verehren. »Den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen, das ist das Ziel unserer Religion« (ebd., 45), ganz gleich, wie wir dieses höchste Wesen in den einzelnen Religionen nennen mögen. »In der Religion also steht die Idee von Gott nicht so hoch als Ihr meint« (ebd., 72), eben weil alle Götternamen in allen Religionen letztlich auf dasselbe hinzielen: Das Wesen der Religion ist der Bezug des Menschen zur Unendlichkeit und einer göttlichen Macht (»Weltgeist«), die diese durchdringt. Wie er diese göttliche Macht im Einzelnen nennt, ist sekundär oder, so können wir auch sagen, kontingent, weil abhängig von Kultur, Nation, Zeit, Völkern, Individuen, die aber alle darin übereinkommen, dass sie Religion haben – will sagen: eine Unendlichkeitsstelle in ihrem Bewusstsein, die sie im Einzelnen nach ihren Vorstellungen besetzen mögen, wie es eben ihre Kultur erlaubt. Schleiermacher hat so aus der anthropologischen Bestimmung des Menschen als einem Wesen, das eine Dimension der Unendlichkeit in seiner Wahrnehmung hat, einen transkonfessionellen Religionsbegriff abgefiltert, der auch der Rationalität standhält, weil er sich nicht auf irrationale und unüberprüfbare Offenbarungen beruft, sondern auf die Natur des Menschen selbst. Jeder Mensch trägt diese Dimension in sich, ganz gleich, ob er daran denkt oder nicht. Mit seiner allgemeinen Definition von Religiosität weist Schleiermacher zugleich auch all jene Religionen in ihre Grenzen, die in ihrer menschlichen Endlichkeit und Unvollkommenheit behaupten, die allein wahre Religion zu sein. Jede Religion ist einzigartig, aber keine ist im Besitz der alleinigen Wahrheit. Oder anders formuliert: Jede Religion ist ein gleichwertiger Ausdruck der menschlichen Religiosität. Jedenfalls kann keine Religion einen Anspruch auf den 241 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Religiosität als Grundwert

Alleinbesitz der religiösen Wahrheit rational behaupten und begründen. Mit dieser Definition der Religiosität als Beziehung des Menschen auf das Unendliche des Kosmos sind zugleich zwei weitere Dimensionen dem menschlichen Kognitionsapparat eingeschrieben: die Dimension der Metaphysik und der Ganzheit, Totalität. Meta-Physik deute auf das, was über (»meta«) das Physische hinausgeht: also eine Dimension des Jenseitigen, die den Menschen umgibt, sich aber zugleich seinem Wissen entzieht. In dieser Dimension der Metaphysik sind die Religionen angesiedelt mit ihren Erklärungsmodellen. Diese beziehen sich in der Religion immer auf eine Ganzheit des Kosmos. Sie erklären zunächst in mythischer Sprache die Entstehung der Welt, das Hineinwirken von guten und bösen Mächten in sie, viele auch das Ende oder den Untergang der Welt. Die Religionen bieten also anschauliche Modelle für die Dimension der Religiosität, und dies verbunden mit vielfachen Funktionen für das Leben der Menschen.

Wert der Religiosität Warum aber ist Religiosität ein Kulturwert? Wenn Religiosität eine Anlage des Menschen ist und ihm quasi genetisch eingeprägt, dann bedeutet Religiosität als Haltung auch die bewusste Übernahme einer genuin menschlichen Anlage. Der Mensch wird ausdrücklich zum Menschen dadurch, dass er seine natürlichen Anlagen entwickelt und auslebt, so eben seine Sprachfähigkeit zu einer Sprachkompetenz ausbildet und seine angeborene Religiosität zu einer bewussten Haltung der Religiosität. Tiere – so weit wir es von ihnen wissen – verfügen nicht über diese Dimension. Sie bewegen sich in einer Sphäre der täglichen Nahrungssuche, des Sozialverhaltens, der Fortpflanzung, auch des Spiels, aber nicht in einer religiösen Sphäre des Unendlichen. Damit verbunden sind viele genuin menschliche Fragen: Sie verbinden sich mit der menschlichen Dimension der Un-endlichkeit, insofern sie über unsere endliche menschliche Existenzform hinausgehen, zugleich aber diese gar nicht abweisen können, weil sie zu unserem menschlichen Wahrnehmungshorizont gehören. Woher kommen wir? Wohin gehen wir nach dem Tode? Ist der Tod ein absolutes Ende oder gibt es eine Weiterexistenz unserer Psychoenergie 242 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wert der Religiosität

– unserer »Seele« – auch danach? Wer oder was hat den Kosmos in seine Form gebracht? Gibt es einen Gott oder Götter, die über dem Wahrnehmungshorizont des menschlichen Bewusstseins existieren und daher vom Menschen aus nicht klar erkennbar sind, der oder die aber doch Einfluss auf unser Leben nehmen? Auf all diese Fragen gibt es keine letztlich verbindlichen Antworten, eben weil sie das Bewusstsein des Menschen übersteigen, aber mit der Unendlichkeitsstelle unseres Bewusstseins sich als Fragen doch stellen. Religiosität bedeutet also ein Primat der Frage und des offenen Horizontes vor der Antwort. Sie bedeutet, sich diesen über unsere Endlichkeit hinausgehenden, in diesem Sinne metaphysischen Fragen zu stellen, unabhängig davon, wie wir sie als einzelne Individuen beantworten. Individualität, Persönlichkeit, im Sinne von Kap. 1.6 skizziert, zeigt sich auch in der je eigenen Wahl der Antworten auf diese religiösen Fragen. Auch das hat Schleiermacher mit Blick auf die Religiosität der Aufklärung vorgedacht: »mit eignen Augen soll dann jeder sehen und selbst einen Beitrag zu tage fördern zu den Schätzen der Religion« (Schleiermacher: Reden über die Religion, 67). Religiosität ist gerade »kein Sklavendienst und keine Gefangenschaft« im Rahmen einer Religion oder religiösen Sekte (ebd., 67). Sie beinhaltet die neuzeitliche Freiheit des Menschen. Zu dieser Freiheit gehört auch, dass ein Mensch zumindest zeitweilig die religiösen Fragen aus seinem Leben verdrängen kann. Spätestens im Verlauf schwerer Krankheiten oder der Erfahrung des Todes von nahen Menschen oder der eigenen Todeskrankheit stellen sie sich dann wieder. Man kann ergänzen, dass auch die Wissenschaften und auch die Philosophie in diesem Sinne religiöse Komponenten beinhalten. Auch die Naturwissenschaften halten Antworten auf die religiösen Fragen parat – dies vor allem mit und seit der Evolutionsbiologie und Kosmologie. Was genau die »Schwarzen Löcher« im Universum sind, die die Wissenschaft durch gewaltige Teleskope im Weltraum ausfindig machen kann, bleibt für dieselbe selbst aber auch ein letztlich unlösbares Geheimnis. 1 Sie kann solche Objekte im Kosmos ja nur aus großer Ferne wahrnehmen, wird sie wohl nie genau untersuchen können. Somit bewegt sich die Wissenschaft mit ihren Vermutungen hier auch auf einem spekulativen Feld, auf dem sie nicht in https://www.focus.de/wissen/videos/beunruhigende-nasa-ergebnisse-millionenschwarze-loecher-forscher-entdecken-grosse-gefahr-fuer-die-menschheit_id_47982 81.html

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Religiosität als Grundwert

der Weise Belege erbringen kann, wie auf dem Feld der Stoffzusammensetzungen irdischer Substanzen. Dass die Wissenschaft aber diese Fragen stellt, in diese Dimensionen vorzustoßen versucht und auf die Fragen der Struktur und Zusammensetzung des Universums Antworten sucht, zeigt die religiöse Dimension auch von rationaler Wissenschaft auf. Zwar hat die Wissenschaft im Verlaufe der Neuzeit eine Vielzahl von religiösen Mythen und Erzählungen als Formen des Aberglaubens entlarvt: so die Rede von Hexen, Dämonen, Geistern, dem Teufel – aber vermag eben doch nicht die Unendlichkeit des Kosmos selbst ganz in rationale Erklärungen aufzulösen. Man kann sogar die These wagen: Je größer die Inseln des Wissens, desto größer das Meer des Ungewussten darum herum. Gleichwohl beerbt die Wissenschaft die Religion und tritt zugleich in Konkurrenz zu dieser, insofern auch sie Erklärungen des Ganzen des Kosmos anbietet und somit explizit eine Dimension der Totalität in sich trägt. Und auch die Philosophie: Insofern die abendländische Philosophie die Frage nach der Existenz und den Existenzformen des Menschen gestellt hat und immer noch stellt, verfügt sie selbst über eine explizit religiöse Dimension. Platon fragt nach dem Guten, die christliche theologische Philosophie nach dem höchsten Sein, nach der Natur und dem Menschen in der Schöpfung, die neuzeitliche Philosophie der Humanität und der moderne Existenzialismus eines Kierkegaard, Heidegger, Sartre u. a. stellen ja explizit solche Fragen und mühen sich um Lösungen und Antworten, ohne dass es je endgültige Antworten auf diese Fragen geben kann, eben weil sie Fragen der Religiosität sind und damit in einem offenen Horizont sich bewegen, dessen Unendlichkeit vom Menschen in seiner Endlichkeit niemals gänzlich ausgeleuchtet werden kann. Halten wir fest: Bewusste Religiosität des Menschen bedeutet bewussten Umgang mit der Endlichkeit des Menschen in Rahmen der Unendlichkeit des Universums, mithin auch eine verehrende Haltung – in welcher Form auch immer – für die Unendlichkeitsdimension, die uns umgibt.

Religiöse Erfahrung Religiöse Erfahrung wird als eine Form der »Selbsttranszendenz« beschrieben. Der Soziologe Hans Joas nennt sie so in seinem Buch »Braucht der Mensch Religion«. Gegenüber der starken Säkularisie244 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Religiöse Erfahrung

rung, die Europa erfahren hat, rekurriert er dabei auf eine Erfahrungsform, die die Menschheit von ihren Anfängen an begleitet hat. Es ist eine Erfahrungsform im Rahmen der Religiosität, nicht nur einer bestimmten Religion. »Ich schlage also vor, auf eine Art von Erfahrungen zu reflektieren, die nicht selber schon Gotteserfahrungen darstellen, ohne die wir aber nicht verstehen können, was Glaube, was Religion eigentlich ist. Ich nenne diese Erfahrungen Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Dies bedeutet: Erfahrungen, in denen eine Person sich selbst übersteigt, nicht aber, zumindest zunächst nicht, im Sinne einer moralischen Überwindung ihrer selbst, sondern im Sinne eines Hinausgerissenwerdens über die Grenzen des eigenen Selbst, eines Ergriffenwerdens von etwas, das jenseits meiner selbst liegt, einer Lockerung oder Befreiung von der Fixierung auf mich selbst.« (Joas: Braucht der Mensch Religion, 17) Man sieht der Definition, die der Religionsdefinition von Schleiermacher nahesteht, schon an, wogegen sie auch anschreibt: gegen die übermäßige Selbstfixierung, den modernen Ego-Kult als Entartungsform von Individualität und Personalität. Die These von Joas ist es, dass das Ich in solchem religiösen »Ergriffensein« über sich hinausgerissen werden kann und teilhat an einer Erfahrung ganz anderer Art als der alltäglichen. In der Tat ist die Ethnographie voll von Beschreibungen solcher Art wie dem Schamanismus in den verschiedenen indigenen Kulturen. Die Öffnung des Bewusstseins auf religiöse Erfahrungen hin kann durch Drogen, Fasten, Gebetsrituale, Gesänge, Tänze stimuliert und herbeigeführt werden. 2 Auch die moderne westliche Kultur ist ja von diesen Phänomenen stark angezogen und produziert ihre eigenen Formen chemisch stimulierter Ekstasen. In der europäischen Kulturgeschichte beginnt in der griechischen Antike mit der Verbreitung des Weinkultes um den Gott Dionysos eine Kultur transrationaler religiöser, auch sexuell stimulierter Erfahrungen von Rauschzuständen. In vielen griechischen Poleis wurden dem Gott zu Ehren zweimal im Jahr bacchantische Umzüge abgehalten. Der Philosoph Heraklit schildert einen solchen, in dem auch männliche Phalloi als Fruchtbarkeitssymbole herumgetragen wurden, in einem Fragment: »Denn wenn es nicht Dionysos wäre, dem sie die Prozession veranstalten und das Lied singen für das Schamglied (Phallos), so wär’s ein ganz schamloses Treiben.« (Diels: 2

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Religiosität als Grundwert

Fragmente der Vorsokratiker, 25) Die abendländische Philosophie versucht ja, solche als irrational eingestuften Erfahrungen zu überführen in Rationalität. Insbesondere im christlichen Mittelalter gab es immer wieder Phasen, in denen ganze Kollektive in Rausch- und Wahnzustände verfielen, so die spätmittelalterliche Geißler- und Flagellantenbewegung als eine Form der religiösen Selbstüberschreitung durch brutale (Selbst-)Geißelung und dabei auch brünstige Nachahmung des Leidens Christi. 3 Selbstgeißelung gibt es auch im Islam. Im Aschura-Fest gedenken auch heute noch viele schiitische Muslime mit dieser religiösen Praxis des im Jahre 680 in der Schlacht von Kerbela gefallenen Enkels des Mohammed, Husain, der als eine Hoffnung der Schiiten auf den Kalifenthron galt. 4 Aber die Religionsgeschichte kennt auch sanftere Formen der religiösen Erfahrung: So die mystische Meditation im Zen-Buddhismus, deren undogmatisch-religiöse Erfahrung von Tiefe, Stille und Einheit auch viele Menschen der westlichen Kultur anzieht. Im Mittelalter blühte die oft erotisch eingefärbte Frauenmystik vor allem ab dem 12. und 13. Jahrhundert auf und brachte auch hochrangige literarische Texte hervor. Sie war aber immer in Gefahr, von Seiten der Katholischen Kirche der Häresie verdächtigt und verurteilt zu werden. So spricht die Begine Mechthild von Magdeburg in ihrem Gedicht »Das fließende Licht der Gottheit« Gott selbst an: »Lebendiger Gott, du sollst gegrüßt sein! / Du bist vor allen Dingen mein«. Mechthild fühlt sich dabei als »unedle Braut« Jesu. Jesus aber ist für sie »mein rechtmäßiger Traut [Bräutigam]« (Mechthild: Fließendes Licht, V, 17). In diesem Text und in der Vision, der ihm zugrunde liegt, bildet sich so eine ganz persönliche, spirituellerotische Beziehung zwischen der Seele der Mystikerin und Jesus, die die Kirche als Vermittlungsinstanz Gottes nicht mehr braucht. Der Text warnt allerdings auch vor dem »heißen Brand« der Gottheit und davor, dass die volle Hingabe der menschlichen Seele an den göttlichen Bräutigam Jesus diese in ihrer irdischen Existenz vernichten würde. »Wollt ich mich nach meiner Macht dir geben/ du behieltest nicht dein menschlich Leben.« Eine solche volle unio mit Gott wird erst im Jenseits möglich sein. Der Text der Mechthild von Magdeburg wurde von ihrem Beichtvater Heinrich von Halle ab 1250 aufgezeichnet, und sie hat es wohl kluger theologischer Vermittlung 3 4

https://de.wikipedia.org/wiki/Flagellanten https://de.wikipedia.org/wiki/Aschura#Aschura_im_schiitischen_Islam

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Religiöse Erfahrung

zu danken, dass sie nicht wegen häretischer Freigeisterei angeklagt wurde. Ein Nebenmotiv dieser religiösen Texte ist die Emanzipation der Frau durch die mystische Erfahrung und Literatur. Die religiöse Erfahrung war eine Form der kulturellen Erhöhung der Frau und Abkoppelung von ihrer nur hausfraulichen Existenz. Es ist bemerkenswert, dass auch im Zeitalter der Säkularisation ein wesentlicher Teil der modernen Literatur um die religiöse Erfahrung kreist. Spätestens seit Hölderlin und der Romantik sucht die Literatur nach eigenen Formen der Religiosität: Autoren wie Hölderlin, Novalis und im 20. Jahrhundert Kafka, Rilke, Robert Musil u. a. sind auf der Suche nach einer religiösen Erfahrung auch und gerade unter den Bedingungen einer modernen Entgötterung bzw. Säkularisation (Vietta: Die literarische Moderne, 111 ff). So ist Hölderlins Dichtung auf der Suche nach den »entflohenen Göttern«, wie es in der Hymne »Germanien« heißt. Der Romantiker Novalis beschreibt die visionäre Präsenz seiner früh verstorbenen Braut Sophie von Kühn als eine religiöse Entrückung an ihrem Grab (Novalis: Hymnen an die Nacht, Schriften I, 134). Seine »Lehrlinge zu Sais« beschwören eine Form des Einswerdens mit der Natur in »Liebe und Wollust« als Erfahrung einer »himmlischen Allgewalt auf Erden« (Schriften I, 104). Auch im 20. Jahrhundert ist die religiöse Erfahrung ein zentrales Thema bei Dichtern wie Rilke, Musil, Kafka. In Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« ist der Protagonist Ulrich – ein rationaler Mathematiker und Ingenieur – zusammen mit seiner Schwester Agathe auf der Suche nach religiöser Erfahrung auch in den Zeiten der säkularisierten Moderne. »Er und Agathe gerieten auf einen Weg, der mit dem Geschäft der Gottergriffenen manches zu tun hatte, aber sie gingen ihn, ohne fromm zu sein, ohne an Gott oder Seele, ja ohne auch nur an ein Jenseits und Nocheinmal zu glauben.« (Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, 761) Kafkas Texte kreisen regelrecht um ein religiöses Zentrum, das aber sein Geheimnis gerade nicht preisgibt. In seinem Roman »Der Proceß« sieht der von den anonymen Prozess-Mächten gehetzte Protagonist Josef K. im Dom »[I]n der Ferne […] auf dem Hauptaltar ein großes Dreieck von Kerzenlichtern« flimmern (Kafka: Der Proceß, 216). In der Parabel vom »Türhüter«, die ihm der Geistliche im Dom erzählt, kann der Mann vom Lande am Ende zwar den »Glanz, der unverlöschlich aus der Tür des Gesetzes bricht« erahnen (ebd., 227), aber niemals in voller Pracht sehen. Er bleibt vor der Tür des »Gesetzes« liegen und verendet dort. 247 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Religiosität als Grundwert

Ein Ergebnis der religiösen Erfahrung in der modernen Säkularisation ist, dass religiöse Erfahrung in der Moderne und Postmoderne selbst verschattet, gebrochen ist. Wir können darum ringen, aber haben sie nicht mehr so unmittelbar wie religiöse Zeiten vor den Zeiten der Säkularisation. Diese ist ja ein Hauptergebnis einer spezifisch abendländischen Form der Religionskritik. Das führt uns in ein zweites Kapitel dieses 2. Teils zu den religiösen Werten.

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2.2 Kritik und Wert der Religionen

Zusammenfassung (1) Die abendländische Kritik der Religion in der antiken wie neuzeitlichen Philosophie kreist um ein einziges Argument: dass die Götter und Götterwelten, die sich die Menschen in ihren Religionen ausmalen, eigentlich nur menschliche Projektionen, eben nur Vorstellungen des Menschen sind. Der Religionskritiker und HegelSchüler Ludwig Feuerbach bringt dies auf die These, das offenbare »Geheimnis der Religion« sei die Anthropologie. (2) Diese Einsicht führt nach Nietzsche zu einer radikalen Form von Säkularisation als »Entwertung« der obersten Werte, einem Zustand des »Nihilismus«, der die abendländische Kultur seitdem prägt. (3) Dieser Zustand wird aber im ausgehenden 20., beginnenden 21. Jahrhundert als zunehmend problematisch wahrgenommen und führt in der jüngsten Moderne und Postmoderne zu Überlegungen bei Soziologen und Philosophen, Religion wieder aufzuwerten und nach ihren positiven Funktion für die säkularisierte Gesellschaft zu fragen. Es sind vor allem fünf Funktionen, um die es dabei geht.

Kritik der Religion Die Bedeutung von Religiosität und Religion für das Leben der Menschen wurde von Philosophie und Wissenschaften erst Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts wiederentdeckt. Die traditionelle Philosophie und Wissenschaft der Aufklärung – schon in der Antike und erst recht in der Neuzeit – pflegte eine ausgesprochen kritische Haltung gegenüber der Religion. Im Grunde ist es ein einziges zentrales Argument, das die kritische Philosophie von der Antike an über die neuzeitliche Aufklärung von Voltaire, über Hume bis hin zu Hegel, Feuerbach, Marx und Nietzsche herausstellte: eben das Argu-

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Kritik und Wert der Religionen

ment, dass die Religion keineswegs eine göttliche Offenbarung sei, sondern nichts anderes als eine menschliche Erfindung. Bereits Anfang des 5. Jahrhunderts v. Christus fasste der antike Philosoph Xenophanes dieses Argument in folgendes Bild: »Wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art selbst gerade das Aussehen hätte.« (Diels: Fragmente der Vorsokratiker, 19) In seiner kurzen Religionssatire verfremdet Xenophanes das Problem der Vielzahl der Mythen und Götterwelten bei den verschiedenen Völkern der Erde zu einem Problem der Tiere. Jede Tierart, so Xenophanes’ These, würde sich ihre eigenen Götterbilder schaffen, wenn sie malen könnten. Die Götter der Ochsen, Pferde oder Esel sähen dann eben aus wie Ochsen, Pferde oder Esel. Was der Philosoph den Menschen damit sagen will, ist klar: Denkt einmal über eure eigenen Göttervorstellungen nach! Denn übertragen auf den Menschen heißt das: Auch die Menschen formen ihre Götterbilder nach Maßgabe ihrer je eigenen Kultur und auch: nach Maßgabe ihrer je eigenen Rasse. Das hat Xenophanes ebenfalls explizit noch einmal in einem anderen Fragment ausgesprochen: »Die Äthiopen behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, blauäugig und rothaarig.« (Diels: Fragmente der Vorsokratiker, 19) Die Götterbilder der Menschen seien nichts anderes als Ausgeburten der menschlichen Einbildungskraft, ihrer Kultur und ihrer Rasse. Damit steht bereits mit der griechischen Frühantike das zentrale religionskritische Argument im Raum: Göttervorstellungen des Mythos wie der Religionen sind anthropomorphe Projektionen, auch wenn Xenophanes und die ganze Antike über diesen Begriff noch nicht verfügten. Wir Menschen projizieren unsere Vorstellungen von den Göttern in einen ›Götterhimmel‹. Diese Vorstellungen beschreiben also nicht die Götter, ›wie sie sind‹, vielmehr sind diese nichts anderes als nach unserem eigenen Bilde geformte menschliche Vorstellungen und sehen dementsprechend so aus, wie wir sie uns vorstellen: versehen mit unseren eigenen Merkmalen als Menschen und sogar Rassenmerkmalen als Angehörige dieser oder jener Menschenrasse. Xenophanes sagt auch, wer vor allem diese anthropomorphen Götterbilder in der griechischen Welt erfunden hat: die Dichter. »Alles haben den Göttern Homer und Hesiod angehängt, was nur 250 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik der Religion

bei Menschen Schimpf und Tadel ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen.« (Diels: Fragmente der Vorsokratiker, 19) Die griechischen Götter sind somit nicht nur eine Projektion unserer menschlichen Phantasie, sie sind auch eine besonders niederträchtige Projektion. Interessant nun ist, dass Xenophanes’ Mythoskritik noch nicht, wie man denken könnte, zur Auflösung von Religion schlechthin führt. Vielmehr führt sie diesen Denker zu einem monotheistischen Gottesbegriff, dessen Ausgestaltung durch die menschliche Vorstellung er aber ausdrücklich ablehnt: »Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen am größten, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.« (Diels: Fragmente der Vorsokratiker, 19) Dieser gedankliche Einheits-Gott des Xenophanes ist also eher eine Negativkonstruktion. Sie basiert auf der Vorstellung der Unvorstellbarkeit Gottes. Xenophanes hält alles von ihm fern, was menschlich sein könnte, »weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken«. Die antike Religionskritik führt so bereits zur Idee eines monotheistischen Gottes, welcher sich der Vorstellung des Menschen überhaupt entzieht, sie führt zu einer Art negativen Theologie, jedenfalls in Bezug auf die Vorstellbarkeit Gottes. Als solche sollte die antike Religionskritik auch Schule machen. Paulus wie auch die christlichen Kirchenväter kritisieren den älteren polytheistischen Gottesbegriff und setzen der archaischen Pluralität des Götterhimmels die Vorstellung des einen Gottes nach jüdischem Vorbild entgegen. Paulus tut dies sogar auf dem Marktplatz von Athen, wenn er dort die ›Götzenbilder‹ des alten Kultus anprangert (Bibel, Apostelgeschichte 17, 16). Schließlich hat auch die dritte der monotheistischen Religionen, der Islam, die Vorstellung einer Vielgötterei und auch die der Darstellbarkeit Allahs verabschiedet. Bereits in der Antike löst aber nun solche Religionskritik selbst auch einen Religionsstreit aus. Angeklagt sind nun die Philosophen als Gottesleugner. Im Stadtstaat Athen behandelte man dieses Problem unter dem Begriff der Asebie, das heißt: Unfrömmigkeit, Götterfrevel, und das stand im antiken Athen unter (Todes-)Strafe. Zumindest von zwei Gerichtsverfahren gegen Philosophen wissen wir, die unter dem Vorwurf der Asebie geführt wurden: die Klage gegen den ersten Philosophen in Athen, Anaxagoras, den Freund des Perikles, der sich dem Prozess durch Flucht entzog. Und die Anklage gegen Sokrates, den Lehrer Platons, der sich der Anklage wegen Gottlosigkeit und Jugendverführung nicht entzog, für sein ›Vergehen‹ 251 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik und Wert der Religionen

verurteilt wurde und dies mit dem Tode durch den Giftbecher bezahlen musste. In der ersten Welle der antiken Aufklärung konnte die rationale Religionskritik noch keine solche Breitenwirkung entfalten, weil ihr die Medien der Verbreitung dafür fehlten. Schriftliche Texte mussten mit der Hand verfasst werden, waren also teuer und somit ein Privileg der Reichen. Erst die Druckerpresse der Neuzeit hat für breite Rezeption auch der Religionskritik in Europa gesorgt. Die Verbreitung von Druckschriften in der frühen Neuzeit florierte sogar deshalb so stark, weil sie in der Kirchenkritik eines Martin Luther u. a. brisante Thesen zu verbreiten hatte. Wenn bereits die antike Philosophie die zentralen Argumente gegen die Vorstellung eines polytheistischen Götterhimmels gefunden hatte – nämlich das Argument der Selbstprojektion menschlicher Gestalt auf die Götter –, so dauerte es dann noch einmal ungefähr zweitausend Jahre, bis dieses Argument in der neuzeitlichen Aufklärung wieder aufgenommen und nun auch radikalisiert wurde. Die neuzeitliche Aufklärung war das Zeitalter der radikalen Religionskritik eines Voltaire, Diderot, Kant, Hegel, Feuerbach, Marx und Nietzsche. Dabei ist für die neuzeitliche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert nun auch eine Erfahrung ausschlaggebend, die die Antike in der Form noch nicht kannte: das Phänomen des Religionskrieges, wie er im »Dreißigjährigen Krieg« von 1618–48 in Mitteleuropa wütete. Die Antike kannte Bruderkriege zwischen den Griechen, kannte auch den imperialen Krieg der Römer gegen die Juden und ihre Religion, dies aber eher in der Peripherie des Reiches und nicht in dessen Zentrum. Die Antike kannte nicht eigentlich Religionskriege zwischen den hegemonialen Mächten selbst, weil Mächte der Antike wie Athen, Makedonien, Rom den mit den monotheistischen Religionen verbundenen Absolutheitsanspruch noch nicht kannten. Rom verlangte von den unterworfenen Völkern Anerkennung seiner Herrschermacht und auch Tributzahlungen, aber ließ ansonsten den Völkern ihren Glauben und ihre Kultur. Mit dem Christentum und ihrem Anspruch eines »allein wahren Gottes« aber kam das Ende des Zeitalters der religiösen Toleranz. Die Welt spaltete sich bereits im späten Imperium Romanum in Christen und Heiden. Keine Kriege sind so brutal wie Religionskriege. So wüteten die protestantischen wie katholischen Truppen in den deutschen Landen und bereiteten nicht das Himmelreich, sondern die Hölle auf Erden. 252 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik der Religion

Der derzeitige Krieg zwischen Sunniten und Schiiten in den arabischen Ländern liefert uns noch heute ein schreckliches Bild von solchen Religionskriegen. Die danach einsetzende Aufklärung wollte solchen Missbrauch der Religion ein für alle Mal beenden. Der arabischen Welt steht solche Aufklärung noch bevor. Dazu kam Mitte des 18. Jahrhunderts ein Ereignis, welches nicht nur den Glauben an das Gute im Menschen, sondern auch den christlichen Glauben an einen guten und gerechten Gott noch einmal tief erschütterte: das schwere Erdbeben von Lissabon. Es schien geradezu ein Hohn auf Glauben und Gläubige zu sein, denn dieses Erdbeben mit einer anschließend gewaltigen Tzunami-Welle ereignete sich am Allerheiligentag des Jahres 1755 um 9.40 Uhr, als die meisten christlichen Bürger Lissabons in den Kirchen waren. In die Wunde des Unglücks und Leidens auf Erden legt Voltaire seinen Finger. Die Empirie unserer realen Welt stellt den scheinbar rational begründeten Glauben an die »beste aller Welten« in Frage, wie sie nach Meinung des deutschen Philosophen Leibniz Gott als Inbegriff alles Guten allein hatte schaffen können. An dieser Diskussion nehmen nun auch – im Gegensatz zu Antike und Mittelalter – breite Schichten des interessierten Bürgertums mit Hilfe von Büchern, Pamphleten und anderen Druckerzeugnissen teil. Die Hauptkritik der neuzeitlichen Aufklärung an der Religion aber führt zurück zu jenem Vorwurf des Anthropomorphismus, den bereits Xenophanes gegen die religiösen Vorstellungen des Mythos vorgebracht hatte: Mythen und polytheistische Religionsvorstellungen sind – wie für die antiken Philosophen – auch für die neuzeitliche Aufklärung nichts anderes als Projektionen der menschlichen Einbildungskraft. Der Mensch der Aufklärung erkannte schon in der Antike und erkennt in der Neuzeit immer deutlicher, dass der Mensch selbst es ist, welcher die religiösen Vorstellungen und Vorstellungen der Religion produziert. Und das führt zum Kernargument aller Religionskritik der Neuzeit: Die religiösen Vorstellungen des Menschen sind eben letztlich nur menschliche Vorstellungen und Projektionen. Der Mensch betet, wenn er Götter und auch wenn er einen Gott anbetet, in Wahrheit seine eigenen Vorstellungsgebilde an. Denn die Religionskritik der Neuzeit spart nun auch den monotheistischen Begriff von Gott nicht mehr aus, den ja Xenophanes aus seiner Kritik ausgenommen hatte. Die Entwicklung der aufklärerischen Religionskritik erfolgt allerdings in langsamen und tastenden Schritten. Der englische Philo253 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik und Wert der Religionen

soph David Hume richtet seine Kritik in seinen »Dialogen über die natürliche Religion« von 1751 noch vor allem auf den Polytheismus, indem er nachweist, dass die Entstehung der Religionen im menschlichen Geiste erfolgt und dass dabei die Gefühle der Angst wie der Hoffnung eine zentrale Rolle spielen. Aus solchen Gefühlen heraus, so Hume, erzeugen wir Götterbilder, die uns vor dem Bösen bewahren sollen bzw. die wir um Wendung zum Besseren hin anflehen. In diesen Gefühlen und den Götterbildern, die sie schaffen, sieht Hume die Urform der Religion, den Polytheismus. Solche Götterbilder entspringen den menschlichen Gefühlen und weisen, wenn wir sie rational betrachten, auf jene als ihren eigentlichen Ursprung zurück. Diese Phase der Aufklärung war auch begleitet durch eine historische Bibelkritik, die ihrerseits die historischen Quellen des Alten wie Neuen Testamentes aufspürte und dadurch den Absolutheitsanspruch des Glaubens selbst relativierte. Bibelhistoriker wie Salomo Semler, Johann Gottfried Herder, auch Lessing haben mit ihrem historisch-kritischen Blick auf die Entstehung der religiösen Texte diese selbst von der Aura befreit, direkte Botschaften Gottes zu sein (Greschat: Die Aufklärung, 267 ff, 363 ff, 281 ff). Schon in der frühen Schrift »Über die Göttlichkeit der Bibel« vertritt Herder die Position, dass die Bibel eben nicht als unmittelbares Gotteswort gelesen werden kann und darf: »[…] denn Gott spricht nicht« (FHA 9/1, 25). Somit ist die Bibel wie jeder religiöse Text dieser Theorie der Aufklärung nach selbst ein Dokument des menschlichen, nicht des göttlichen Bewusstseins. Das menschliche Bewusstsein ist in seiner Endlichkeit und Zeitlichkeit nach Herder primär sinnlich angelegt. Die göttliche Bewusstheit dagegen ist in der Real- und Totalpräsenz allen Seins auf diese endlichen Krücken nicht angewiesen. Gott »weiß nichts von der Schwachheit, dass er zu Gedanken Worte nötig hätte: er denkt ohne Hüllen, ohne magere verwirrende Zeichen, ohne Reihen von Vorstellungen, ohne Klassen von Ideen: bei ihm ist alles ein einziger vollkommener Gedanke.« (FHA 9/1, 25) Wenn Gott sich den Menschen offenbart, muss er dies – seinem eigenen Geschöpf gemäß – in menschlicher Sprache tun. Das aber kann immer nur in der medialen Brechung eines historischen Volkes, seiner Menschen und seiner Epoche geschehen. »Wenn Gott sich also für den Menschen offenbarte: wie anders, als in der Sprache und Denkart des Volkes, des Erdstrichs, des Jahrhunderts, des Zeitalters, zu dem seine Stimme geschah.« (FHA 9/1, 29) Das ist ein rationaler Erkenntnisprozess, der dem Islam und der Lektüre des Korans noch in weiten Teilen bevor254 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik der Religion

steht, der aber essentiell ist, wenn der Islam eine tolerante und weltoffene Religion werden will. Das wichtigste Instrument zur Kritik jeglicher Gottesvorstellung aber liefert dann Hegel in seiner »Phänomenologie des Geistes« von 1806. Hegel führt in diesem philosophischen Hauptwerk den philosophischen Nachweis, dass alle Vorstellungen von ›an sich‹ seienden Wesenheiten letztlich nichts anderes sind als ›von uns‹ und ›für uns‹ gemachte Vorstellungen des Menschen selbst. In diesem Sinne ist auch die Vorstellung von Gott nichts anderes als eine menschliche Projektion, von der eben nicht mehr gewusst wird, dass sie von Menschen erfunden wurde. Die Religionsphilosophie Hegels erbringt so für die Religion die »Rückkehr der Vorstellung in das Selbstbewusstsein« und damit das Bewusstsein, »daß Gott gestorben ist« (Hegel: Phänomenologie des Geistes 553 und 523). Die Philosophie der Subjektivität zerstört hier den naiven Glauben an einen ›an sich‹ seienden Gott, indem sie das anthropologische Wesen jeder Religion aufdeckt und in eine Form des »Selbstbewusstseins« zurückführt, als deren Anwalt sich die Hegel’sche Philosophie versteht. Und diese weist nun auch der Religionskritik des 19. Jahrhunderts den Weg: Feuerbach, Marx, Nietzsche als ihre Hauptvertreter. Sie alle argumentieren nach diesem Muster: Das offenbare Wesen der Religion ist der Mensch selbst. Oder wie es der Religionskritiker Ludwig Feuerbach ausdrückt: Das offenbare »Geheimnis der Religion« sei die Anthropologie, also der Mensch selbst als der Erfinder seiner Religion (Feuerbach: Vorlesung über das Wesen der Religion, 24). Marx gibt dieser Religionskritik noch die Pointe, dass die Religion »das Opium des Volks« sei (Marx: Frühschriften, 208), also eine Illusion, die den Ausgebeuteten ihren Status vernebeln und damit erträglich machen soll. Nietzsches Wirkung ergibt sich daraus, dass er seine Religionskritik in die plakative Formel gießt: »Gott ist todt« (Nietzsche: Sämtliche Werke Bd. 3, 481), die aber bereits Hegel gefunden hatte. Die Literatur und das Denken des ausgehenden 19. sowie 20. und 21. Jahrhunderts ist dann bestimmt durch ein Krisenbewusstsein des »Nihilismus«, des Werteverlustes oder, wie es Nietzsche ausdrückt, der ›Entwertung‹ der »obersten Werte«: »was bedeutet Nihilism? – daß die obersten Werthe sich entwerthen« (Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 12, 350). Das führt nach Nietzsche zu einem Zustand der Orientierungslosigkeit: »es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ›Warum?‹« (Ebd.) Anfang des 21. Jahrhunderts nennt Richard Dawkins den Glauben an einen Gott »Gotteswahn«. 255 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik und Wert der Religionen

Solcher »Nihilismus« entsteht als Folge der rationalen Religions- und Metaphysikkritik und ist nach Nietzsche nichts anderes als »die zu Ende gedachte Logik unsrer großen Werthe und Ideale« (Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 13, 190). ›Zu Ende gedacht‹, weil die Einsicht in den Projektionscharakter dieser »großen Werthe und Ideale« diesen zugleich auch ihren Absolutheitscharakter nimmt. In diesem Sinne sind der Nihilismus und Atheismus der Moderne selbst Ergebnisse der neuzeitlichen Aufklärung und ihrer zunehmenden rationalen Einsicht in den Menschen selbst und die Produktionslogik seiner eigenen Werte- und Vorstellungswelt. Die Rationalität hat so im Verlauf der neuzeitlichen Aufklärung durch reflexive Selbstkritik eine entgötterte, entmythisierte Welt geschaffen, damit aber auch das Gefahrenpotential für den Umschlag von Rationalität in die ganz und gar irrationalen Auswüchse der »politischen Religionen« (Voegelin) der Moderne ungewollt mitgeliefert. Auf der anderen Seite hat gerade Nietzsche damit auch einen neuen Wert entdeckt: Das Leben selbst – ohne seinen metaphysischen Überbau. Streng genommen bedeutet der Nihilismus ja nicht die Entwertung des Lebens, sondern nur die Entwertung der traditionellen Sinnordnungen, die aber nach Nietzsche das Leben auch überfremdet haben. Das Leben nach der Religionskritik der Rationalität ist eines, das dem Individuum seine eigenen Sinnchancen einräumt, auch in religiösen Dingen, wie es Schleiermacher vorgedacht hat.

Wert der traditionellen Religionen Gerade in jüngster Zeit und im kritischen Umgang mit dem Islam ist der Streit um den Wert der traditionellen Religionen wieder entbrannt. Selbst eingefleischte rationale Philosophen und Soziologen wie Jürgen Habermas, John Rawls, Clifford Geerts, Niklas Luhmann, Norbert Bolz, Hans Joas und schon Émile Durkheim betonen die Bedeutung von Religion für den Zusammenhalt des sozialen Lebens der Menschen. Mit diesem Thema befassen sich vor allem die Wissenschaften der Ethnologie, Philosophie und Soziologie. Sie definieren den Wert der Religion vor allem in Funktionsbegriffen. Welche positive Funktion hat die Religion für das Leben des einzelnen Menschen und die Gesellschaft? Statt einer Auseinandersetzung mit den einzelnen Schriften dieser Wissenschaftler bündeln wir die Argumentationen in fünf Punkten: 256 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wert der traditionellen Religionen

(1) Reduktionsfunktion: Die These, dass Religion vor allem die Funktion habe, die Komplexität der Umwelt auf einfachere Systemstrukturen zu reduzieren, hat Niklas Luhmann vertreten. Die Religion ist für ihn ein System, das eine solche Reduktion vornimmt: »In der Religion geht es um die Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität.« (Luhmann: Funktion der Religion, 20) Religion transformiert also nach Luhmann Unbestimmbares in Bestimmbares. Demnach ist auch religiöser Sinn nichts anderes für Luhmann als »eine besondere Form der Reduktion von Komplexität« (ebd., 20). Im Grunde schließt sich hier der Systembegriff um das religiöse Gefühl wie ein Deckel oder schließt es ein wie in eine platonische Höhle, aber ohne Ausgang: »Religion hat demnach […] für das Gesellschaftssystem die Funktion, die unbestimmbare, weil nach außen (Umwelt) und nach innen (System) hin unabschließbare Welt in eine bestimmbare zu transformieren, in der System und Umwelt in Beziehungen stehen können, die auf beiden Seiten Beliebigkeit der Veränderung ausschließen.« (Ebd., 26) Religiöse Systeme sind in diesem Sinne »selbstreferentiell« (ebd., 27), die für Schleiermacher und auch die verschiedenen Formen der religiösen Erfahrung so wesentliche Beziehung des Religiösen auf eine Unendlichkeit hin ist bei Luhmann transformiert in eine Binnenrelation von Systemstrukturen, nach denen das religiöse System »chiffriert« ist. »Was als spezifische Sinnform des Religiösen, als Numinoses oder Heiliges beschrieben worden ist, lässt sich dann als Resultat eines Prozesses der Chiffrierung begreifen, der Unbestimmbares in Bestimmtes oder noch Bestimmbares transformiert.« (Ebd., 33) Luhmann stellt etwas Wichtiges an den bestimmten Religionen heraus: Sie nehmen Deutungen vor, interpretieren und modellieren jene Unendlichkeitserfahrung, von der Schleiermacher sprach, in bestimmte kulturelle Zeichen und Symbole. Darüber werden wir gleich im nächsten Punkt sprechen. Aber sein Systembegriff schottet zugleich auch die Religion gegen jene Unendlichkeitserfahrung ab, die nach Schleiermacher das Wesen der Religion ausmacht. Die Chiffren im religiösen System verlieren nämlich nach Luhmann im System ihren Verweisungs- und Relationscharakter auf ein Jenseits, denn sie sind – im religiösen System Luhmanns – dieses selbst: »Chiffren sind nicht einfach Symbole, geschweige denn Zeichen oder Allegorien oder Begriffe. […] Sie haben ihren Sinn überhaupt nicht in Relation zu etwas anderem, sondern sind es selbst.« (Ebd., 33) Damit aber ist, 257 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik und Wert der Religionen

so kann man pointiert sagen, das Religiöse auch systematisch ausradiert. Das System hat es geschluckt und die Religiosität selbst zu einer Stelle im System verhärtet. Es ist klar, dass es in einem solchen System auch keine eigene Erfahrung von Religiosität mehr geben kann, auch keine Freiheit der religiösen Subjektivität, keinen Ausblick aus dem Gefängnis des »selbstreferentiellen« Systems nach außen. Jeder Mensch, der einen nächtlichen Sternenhimmel über sich sieht, wird dafür auch religiöse Deutungen parat haben, aber diese Systemstellen löschen doch nicht einfach den Eindruck aus, den ein solcher Sternenhimmel hinterlässt. (2) Symbolfunktion, Enkulturation: Die neuere Symbol- und Kulturtheorie begreift Religion als ein »kulturelles System«, ohne dieses so scharf nach außen abzuschließen, wie es Luhmann tut. Der Ethnologe Clifford Geertz liefert mit seiner »Dichten Beschreibung« eine solche Theorie der Religion als »kulturelles System« (Geertz: Dichte Beschreibung, 44 ff). Sein Systembegriff bezeichnet »ein historisch überliefertes System von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, die sich in symbolischen Formen ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln.« (Ebd., 46) Das ist kein geschlossenes, sondern ein offenes System. Geertz hat solche religiösen kulturellen Systeme in verschiedenen Kulturen untersucht, so in Java und bei den Navaho-Indianern, und dabei eine Fülle von Ritualen und deren Funktion für das gesellschaftliche System solcher Indianerkulturen untersucht. Eine wichtige Funktion dabei ist es, das Leiden zu mindern und zu heilen. Und das geschieht bei den Navaho-Indianern durch Gesänge. »Ein Gesang – die Navaho haben an die sechzig verschiedene davon für ganz verschiedene Zwecke; fast alle jedoch dienen der Beseitigung irgendeiner körperlichen oder geistigen Krankheit […]« (ebd., 67). Der Sänger und Heiler hilft dem Patienten, indem er ihn in eine höhere Ordnung aufhebt: »Die Identifikation des Patienten mit dem heiligen Volk und also mit der kosmischen Ordnung überhaupt erfolgt mithilfe einer Sandzeichnung, die das heilige Volk in einem jeweils passenden mythischen Zusammenhang darstellt.« (Ebd., 67) Man kann sagen: Das religiöse System fängt hier die Dimension des Jenseits symbolisch in Gesängen und Zeichnungen ein und erhebt zugleich den Kranken durch diese in jenes. Das mag für den Gläubigen Heilungskräfte freisetzen. In jedem Falle bedeutet Religion 258 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wert der traditionellen Religionen

immer auch Symbolisierung der Dimension der Unendlichkeit und Jenseitigkeit und Ritualisierung des Umgangs damit. Religion braucht solche Symbolisierungen als Verweiszeichen auf das Jenseits und gerade nicht als Selbstabschirmung davon. In der russisch-orthodoxen Kirche und ursprünglich auch in der abendländisch-christlichen hat das Sakralbild auch eine solche Funktion. Wer das Bild der Maria in einer orthodoxen Kirche berührt, nimmt innerlich geistigen Kontakt zum Urbild selbst auf. Natürlich kann die Religionskritik solche mentale Verbindung mit dem Numinosen als eine Projektion entlarven. Aber das ist eine aufgeklärt-rationale Sicht der Dinge. Für den Gläubigen ist der Kontakt gegeben, wenn er an ihn glaubt. Halten wir fest: Religion braucht zumindest als gesellschaftliches System kulturelle symbolische Formen, um mitteilbar und gesellschaftlich handhabbar zu sein: Das sind Räume des Heiligen – im griechischen Wort »Tempel« steckt der Begriff »Temenos« für den abgegrenzten heiligen Bezirk –, Rituale des Umgangs mit der religiösen Dimension sowie in den Schriftreligionen: Texte, die die Botschaften der Religion transportieren, also in jedem Falle Symbolisierungen im Rahmen der gegebenen Kulturen und somit als solche Formen der Enkulturation des Religiösen in jene. (3) Integrationsfunktion: In seinem Aufsatz über Religion nennt Geertz auch bereits eine Vielzahl von integrativen Funktionen der Religion für die Gesellschaft, die schon von Ethnologen untersucht und beschrieben wurden: »[…] dass Ahnenverehrung die Rechtsautorität der Älteren stützt, Initiationsriten zur Ausbildung von Geschlechter- und Erwachsenenrollen beitragen, rituelle Vereinigung politische Gegensätze reflektieren oder Mythen soziale Institutionen legitimieren und gesellschaftliche Privilegien rechtfertigen […]« (a. a. O., 45), gehörte offenbar schon 1966 – dem Erscheinungsjahr des Aufsatzes – zum Standardforschungsprogramm der Ethnologie. In der Tat erfüllt auch heute noch Religion eine solche soziologische Integrations- und Ordnungsfunktion. Das indische Kastenwesen ist mit Sicherheit ein starker soziologischer Stabilisierungsfaktor der indischen Gesellschaft, aber in dieser Funktion auch ausdrücklich modernisierungsfeindlich. Religionen integrieren und stabilisieren Menschen auch und gerade in den unteren sozialen Schichten, wenn diese ihr Schicksal als gottgegeben hinnehmen. Eine zentrale Schrift des Hinduismus, die indische Bhagavadgita, warnt vor der Kastenvermischung als »Gesetzlosigkeit«: »Und wenn Gesetzlosigkeit überhandnimmt, befällt die Frauen der Familie Verderbnis, und wenn 259 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik und Wert der Religionen

die Frauen verderbt sind, o Krishna, entsteht Vermischung der Kasten«, lehrt die Bhagavadgita (Gesang I, Vers 41). Solcher »Vermischung aber wird schwere Strafe im Jenseits angedroht: »Vermischung führt die Zerstörer der Familie und die Familie selbst in die Hölle.« (I, Vers 42) Asiatische Religionen und die aus ihnen abgeleiteten Ethiken wie die hinduistische »Bhagavadgita« und der chinesische Taoismus nehmen ohnehin das Einzelwesen Mensch eher zurück in einen kosmischen Zusammenhang. Es sind keine Religionen der Subjektivität und Egoität. Die Bhagavadgita lehrt die Pflichterfüllung im Rahmen der göttlichen Ordnung, der sich der Mensch zu unterstellen hat. Der chinesische Taoismus nimmt sogar das Handeln und Eingreifen des Menschen in den Kosmos möglichst zurück: »Kannst du mit deiner inneren Klarheit und Reinheit / alles durchdringen, ohne des Handelns zu bedürfen?« (Laotse: Tao Te King, Nr. 10) Die »höchste Güte« im Kosmos ist wie das Wasser: »Des Wassers Güte ist es, / allen zu nützen ohne Streit. / Es weilt an Orten, die alle Menschen verachten, / Darum steht es nahe dem SINN.« (Ebd., Nr. 8) Die indische Bhagavadgita wie der Taoismus haben auch heute noch großen Einfluss auf die Gesellschaften Indiens bzw. Chinas mit ihrem Primat der Gemeinschaft und deren Ordnungsfunktionen vor dem einzelnen Menschen. Und der Islam? Der Islam verdankt geradezu seinen frühen Siegeszug der Tatsache, dass die von Mohammed gestiftete neue Religion half, die bis dahin eher zerstrittenen arabischen Clans zu einigen und damit allererst einen arabischen Staat zu begründen. »Nicht die Entstehung einer neuen Religion ist das historische bedeutsame Ereignis des frühen 7. Jahrhunderts […]. Das Bedeutsame ist vielmehr, daß ein Staat entsteht, wo zuvor keiner war.« (Halm: Der Islam, 21) Anders formuliert: »Mit dem Islam […] sollte der lange Kampf zwischen Stamm und Staat ein für alle Mal entschieden werden, und zwar zugunsten des arabischen Staates« (Donner: The Early Islamic Conquest, 49). Der Islam als Religion wirkte also als eine integrative Vereinigungskraft, die stark genug war, die alte tribalistische Tradition der arabischen Wüstenstämme zu überwinden und in ein neues Staatsgebilde einzubinden. Der Islam vereinte die Stämme zur »Umma«, der Gemeinde der Islam-Anhänger. Wo vorher rivalisierende Stämme und Clans auf engerem Raum um Vorherrschaft rangen, rang nun die Gemeinschaft der Muslime gegen die Nicht-Muslime: »entsprechend waren die (erlaubten) Gegner nicht mehr durch 260 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wert der traditionellen Religionen

die jeweiligen Konkurrenz-Stämme, sondern durch alle außerhalb der ›Umma‹ stehenden Nicht-Muslime definiert« (Noth: Von der ›Umma‹ zur Ökomene, 94). Dass es dann innerhalb des Islam von Anfang an blutigste Auseinandersetzungen und Kriege um die wahre Nachfolge des Propheten und die Vorherrschaft gab – insbesondere die zwischen Sunniten und Schiiten –, steht auf einem anderen Blatt. Aus Sicht der europäischen Aufklärung kann man die Integrationsfunktion von Religion auch kritisch sehen: Sie blockiert vielfach Modernisierungen, verhindert die Öffnung von religiösen Gruppen nach außen, dient vielfach auch der Machtsteigerung (siehe Punkt 5). Gleichwohl gilt: Religionen haben eine starke integrative Funktion und darin besteht einer ihrer Werte für die jeweilige von ihr verbundene Gesellschaft. (4) Sinnstiftung, Konsolation, Kompensation: Diese Funktionen von Religion sind auch für die gegenwärtige Diskussion um Religion zentral. Zur ersteren Funktion schreibt Norbert Bolz: »Das metaphysische Bedürfnis ist eine Reaktionsbildung auf die Sinnwidrigkeit der Welt. Jede Religion lebt ja von der Spannung zwischen ›eigentlichem‹ Leben (Sinn) und gesellschaftlichem Leben (Funktionieren).« (Bolz: Das Wissen der Religion, 85) Mit Schleiermacher würde man ergänzen, dass das »metaphysische Bedürfnis« nicht erst eine »Reaktionsbildung« ist, sondern dem Menschen selbst durch die Unendlichkeitsstelle seines Bewusstseins eingeschrieben. Bolz fährt nun fort: »Nur Religion bietet die absoluten Metaphern, die es vermögen, das Ganze zu imaginieren. Religion schließt also den Sinnhorizont; sie ist spezialisiert auf das Ganze. Und diese Leistung ist für jeden Einzelnen heute wichtiger denn je. Zwischen der komplexen Welt und der knappen Aufmerksamkeit des modernen Menschen vermittelt nämlich die Konstruktion von Sinn. Religion ist die rituelle Konstruktion von Sinn im Überraschungsfeld der Welt.« (Bolz: Das Wissen der Religion, 85) Ähnlich wie in den meisten traditionellen Religionen besteht dieser »Sinn« zumeist in konsolatorischen Trostfunktionen angesichts eigener Schmerz-, Leid-, Verlusterfahrungen, sozialer Enttäuschung und Perspektivlosigkeit. Religion schenkt oftmals Hoffnung, wo innerweltlich keine Hoffnungsperspektive mehr gegeben scheint. Das ist eine zentrale Funktion der indischen Bhagavadgita wie auch des Christentums. Das Christentum eröffnete bereits im Römischen Reich vielen Sklaven und sozial Unterprivilegierten zumindest eine Perspektive im Jenseits, in welchem die Letzten die Ersten sein soll261 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik und Wert der Religionen

ten. Paulus fordert in seinem Römerbrief zwar die Unterwerfung unter die »Obrigkeit« (Röm 13,1), im Galaterbrief allerdings die Einheit und soziale Gleichheit im Glauben: »Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus […] Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.« (Gal 3,26–28). Die Paulusbriefe sind auch voll vom Jubel über die Befreiung von irdischer »Traurigkeit« durch den Glauben an Jesus Christus (siehe das folgende Kap. 2.3). Die christliche Religion, wie sie sich ja auch erst später begründet, bietet somit ein hohes Maß an sozialem Trost und eine Hoffnungsperspektive auf ein glückliches Jenseits nach einem oftmals trostlosen Erdenleben. Diese konsolatorische Funktion ist noch heute ein starker Anziehungswert des Christentums in armen Ländern Afrikas, Asiens, Südamerikas. Die dortige »Befreiungstheologie« als »Stimme der Armen« will die biblische Botschaft auch als Gesellschaftskritik und Aufruf zur gesellschaftlichen Veränderung verstanden wissen, dies vielfach auch im Konflikt mit dem Katholizismus Roms. 5 Die kompensatorische Funktion von Religion ergibt sich gerade auch aus dem Prozess der Säkularisierung, welche die Aufklärung mit sich brachte bis hin zu jenem »Nihilismus«, den Nietzsche als Endstufe der metaphysischen Werte beschreibt (siehe oben: Religionskritik, 255). Wenn mit der Moderne ein genereller Sinnverlust einherzugehen und die industrialisierte Arbeit viele Bürger selbst zu bloßen Funktionsträgern zu degradieren scheint, klammern sich viele wieder an die Religionen und ihre Form der Sinnstiftung. In Deutschland hat der späte Jürgen Habermas diese kompensatorische Funktion von Religion hervorgehoben. Religion ist nach Habermas eine Sinn-Ressource, die in Zeiten der »›entgleisenden Säkularisierung‹« die Demokratien stärken sollte und könnte, dies allerdings unter der Bedingung einer Säkularisierung auch der Religion (Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, 127). Habermas verfolgt dabei das strategische Ziel, die Religion wieder an den säkularisierten Bürger heranzutragen wie umgekehrt an den religiösen Bürger die Möglichkeit der Übersetzung seiner Erfahrung in säkulare Terminologie. Das ist ein löbliches Unterfangen. Aber kann es auch

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Wert der traditionellen Religionen

gelingen? Habermas schreibt: »Unter den normativen Prämissen des Verfassungsstaates und eines demokratischen Staatsbürgerethos ist die Zulassung religiöser Äußerungen in der politischen Öffentlichkeit aber nur sinnvoll, wenn allen Bürgern zugemutet wird, einen möglichen kognitiven Gehalt dieser Beiträge – bei gleichzeitiger Beachtung des Vorrangs säkularer Gründe und des institutionellen Übersetzungsvorbehalts – nicht auszuschließen.« (Ebd., 145) Das ist nicht ganz einfach zu verstehen: Es geht aber wohl um Restriktionen auch der religiösen Äußerungen. Sie sollen in der öffentlichen demokratischen Diskussion auf ihren »kognitiven Gehalt« hin befragbar sein. Was aber wäre der »kognitive Gehalt« von zentralen Glaubenssätzen wie dem Glauben an den einen Gott, an die Auferstehung, an die Transsubstantiation von Brot und Wein in den Leib Christi? Habermas sucht ein religiöses Gegenrezept gegen die Säkularisierung unter der Bedingung der Säkularisierung, letztlich um moralische Werte aus der Religion für die Demokratie abzufiltern. Aber ehemals religiöse Werte wie das Gebot nicht zu töten, nicht zu lügen, nicht zu stehlen sind bereits juristisch aufgearbeitet in die bürgerlichen Gesetzestexte eingearbeitet. Das Problem, das Habermas mit seiner wohlgemeinten Kommunikationsstiftung zwischen religiösen und a-religiösen Bürgern hat, ist, dass das »normative Religiöse« – wenn säkularisiert – eben auch seinen religiösen Charakter verliert und zu säkularisierten Moralvorstellungen wird, die aber, wenn juristisch relevant, als solche schon im Gesetzestext kodiert sind. Im Übrigen merkt man es den religionssoziologischen Aufsätzen von Habermas auch an, dass sie noch vor der Hauptwelle der Migrantenströme nach Europa entstanden sind. Die große Zahl von Islam-Anhängern, die nach Europa kamen und kommen, transportieren eher vorrationale Auffassungen von Religion hierher, und es ist vielen Muslimen oft nicht leicht zu vermitteln, dass in Europa laizistische Grundwerte der Rationalitätskultur herrschen, dass hier das Grundgesetz zu befolgen ist und nicht die Scharia. Zu den meisten soziologischen Definitionen von Religion ist zu sagen, dass sie die Religionen selbst in gesellschaftliche Systemfunktionen übersetzen, damit aber ihren eigentlich religiösen Charakter als Bezug des Menschen zu einer Erfahrung außerhalb der Immanenz der Gesellschaft eher weginterpretieren. Das gilt nicht für den Soziologen Hans Joas, dem es ausdrücklich um die Geltung genuin religiöser Erfahrung geht. 263 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Kritik und Wert der Religionen

(5) Machtfunktion: Schließlich eine weitere Funktion des Religiösen und der Religionen: die Machtfunktion. Man kann sich fragen, inwieweit sie einen gesellschaftlichen Wert darstellt. In jedem Falle spielte und spielt sie eine zentrale Rolle in der Geschichte der Religion. Das Christentum nutzte sie über Jahrhunderte: Sowohl die Bekehrung des römischen Kaisers Konstantin wie auch des FrankenFürsten Chlodwig erfolgte unter der machtpolitischen Bedingung, dass Christus ihnen als Schwerthelfer zur Seite stünde in den Schlachten gegen Maxentius 312 bzw. gegen Syagrius 486. Die Kreuzzüge der Christen gegen die muslimischen »Heiden« und deren Invasion ins »Heilige Land« geschahen unter der Prämisse, dass Gott selbst dies befohlen habe (»deus vult«). Die gesamte neuzeitliche Kolonialgeschichte ist geprägt von dem Gedanken, dass den indigenen Völkern nicht nur die höhere Kultur, sondern auch der ›wahre Gott‹ gebracht werde, mithin Kolonisation auch ein religiöser Auftrag sei. Erst die Aufklärung hat ein großes Fragezeichen an diese politische Inanspruchnahme von Religion gesetzt, die diese selbst ja eigentlich zu einer Machtideologie herabsetzt. Gleichwohl steht sie in der Form des Nationalstaates noch einmal auf: Alle großen imperialen Mächte am Anfang des 20. Jahrhunderts berufen sich auch auf ›ihren‹ Gott. Der deutsche Kaiser spickte gerne seine Reden mit Phrasen wie: »Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird […]« und »Ein Mann mit Gott ist immer in der Majorität.« (Johann: Reden des Kaisers, 126 und 127) Auch und gerade der Islam als die letzte der monotheistischen Kulturen hat diesen religiösen Machtanspruch übernommen und über Jahrhunderte bis in unsere Gegenwart verfolgt. Mit der religiösen Legitimation begann überhaupt erst die Phase der Expansion des Islam. Zwar findet sich im Koran keine direkte Anweisung Mohammeds, den Glauben allein mit Feuer und Schwert zu verbreiten. Aber es gibt genug Suren, die zur Beseitigung der »Ungläubigen« aufrufen. Der Koran verspricht auch ähnlich wie der deutsche Kaiser, dass die Gläubigen bei starker Unterzahl mit Gottes bzw. Allahs Hilfe siegen werden (Koran 8, 65). Die erstaunliche Expansion des frühen Islam – der »Futūh« (»Öffnung nicht-islamischer Länder für die Muslime mit Gottes Hilfe«; Noth: Von der medinesischen ›Umma‹ zu einer muslimischen Ökumene, 81) –, die mit Mohammed begann, stieß in ein Machtvakuum vor, das letztlich durch den Zusammenbruch des Imperium Romanum entstanden war. Wahrscheinlich spielte die religiöse Motivation der kriegsgewohnten arabischen Stämme eine entscheidende 264 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Wert der traditionellen Religionen

Rolle für ihre Siegeszüge durch die Geschichte über die Jahrhunderte hinweg. Diese religiöse Motivation zur kriegerischen Expansion ist ja ein zentrales Motiv noch des heutigen IS, der dabei allerdings auf die überlegene Waffentechnik der westlichen Zivilisation trifft (siehe Kap. 1.10, 226 ff). Generell wird man sagen können: Der Wert der traditionellen Religionen – ihre Funktionen für den Menschen wie die Gesellschaft – ist ambivalent: einerseits Trost stiftend, Hilfe versprechend, Hoffnung schenkend, andererseits häufig Modernisierung blockierend, rationales Denken verweigernd, Machtansprüche ersatzreligiös drapierend. In jedem Falle steckt in den meisten Religionen auch ein nicht unerhebliches »Gewaltpotential«, zumal dann, wenn diese einen absoluten Wahrheitsanspruch vertreten (dazu auch Wunn / Schneider: Das Gewaltpotential der Religionen). Rational vertretbar ist jene Haltung der Religiosität, wie die eingangs im Rückgang auf Schleiermacher beschriebene, sie ist genuin religiös, aber ohne Machtansprüche und dogmatische Verhärtungen und harmoniert somit auch mit dem sonstigen Wertesystem der europäischen Kultur wie dem Appell an das eigene Denken, Kritikfähigkeit, Wahrheitsanspruch, Freiheit, Individualität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

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2.3 Werte des Christentums und des Naturrechts

Zusammenfassung (1) Die christlichen Werte ergeben sich in der Hauptsache aus dem karitativen Charakter vieler Botschaften Jesu Christi, seiner Fürsorge für die Armen, Kranken, gesellschaftlich Geächteten oder Abgehängten. (2) Das war auch ein wesentlicher Anziehungspunkt der christlichen Botschaft für Sklaven, Soldaten und andere soziale Unterschichten in der antiken römischen Gesellschaft. (3) Mit ihrer Ernennung zur römischen Staatsreligion im 4. Jahrhundert und zur fränkischen Religion Ende des 5. Jahrhunderts veränderte sich der Charakter des Christentums von einer Armutsreligion zu einer reichen Kirche, die im Mittelalter auch immer wieder Protest- und Armutsbewegungen provozierte. (4) Vielfach leisten im Mittelalter Klöster und Mönchsorden wie Dominikaner und Franziskaner Armen- und Krankenfürsorge, die dann auch von den Städten und ab dem späten 19. Jahrhundert vom Staat übernommen wird, der sich so zum Wohlfahrtsstaat entwickelt. (5) Zu den genuin christlichen Werten gehört auch die Nächsten- und sogar Feindesliebe, vor deren Überforderung aber Kritiker wie Sigmund Freud warnen. Dazu gehört auch (6) die Empathie und (7) die Gleichheit als Gebot der Schöpfungslehre, als soziales Gebot des Neuen Testamentes wie auch der antiken Demokratie. Gleichheit setzt aber immer innere Differenzen voraus. Kein Mensch ist mit dem anderen ganz gleich. Insofern bedeutet Gleichheit im modernen demokratischen Staat: Gleichheit vor dem Gesetz, möglichst auch Chancengleichheit, aber ist keine Einladung zur Gleichmacherei aller Menschen. (8) Ein weiterer Wert aus christlichem Gedankengut, aber neuzeitlicher Begriffsgeschichte ist Solidarität, der im 19. Jahrhundert auch ein Leitbegriff der Arbeiterbewegung wird und heute eine vielfach globale Verantwortung gegenüber den Armen der Erde begründen soll. (9) Solidarität im Verbund mit der Würde des Menschen wird zu einem Leitbegriff auch der Katholischen Soziallehre seit dem ausgehenden 266 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Soziale Fürsorge, Armutsbekämpfung

19. Jahrhundert. Die Katholische Soziallehre reagiert seitdem kontinuierlich und kritisch auf die veränderten gesellschaftlichen Entwicklungen. (10) Wie alle karitativen Begriffe ist auch Solidarität an rationale Maße und Grenzen gebunden. Schließlich (11) der singuläre christliche Wert der Friedfertigkeit, der im Zusammenhang mit Wehrfähigkeit (Kap. 1.8) gesehen werden muss, sowie (12) der Wert der Bewahrung der Schöpfung, Nachhaltigkeit als Grenzbegriff gegenüber dem Ressourcenverbrauch der Rationalitätskultur.

Soziale Fürsorge, Armutsbekämpfung Mit der christlichen Religion betritt ein radikal neues Wertesystem die Bühne der abendländischen Kulturgeschichte. Es geht um die Bewertung von Armut, Elend, Sklaventum, sozialem Notstand. Die Griechen wie Römer verachteten – von Ausnahmen wie Sokrates und dem in einem Fass lebenden Diogenes abgesehen – solche sozialen Rollen. Sie galten ihnen als verächtlich, Armut und soziales Elend war eine Schande. Umso heller musste für die Angehörigen solcher sozialen Gruppen die Verheißung eines Jesus von Nazareth klingen, der die Armen wegen ihrer Armut pries und in der Armut sogar einen Königsweg zum Paradies sah. Armut wurde in der christlichen Sicht zu einer Heilsverheißung umgewertet. Die im Diesseits sozial Untersten sollten die Ersten im Jenseits sein. Jesus von Nazareth lebte und lehrte in den Provinzen Judäa, Galileä, Samaria und der Dekapolis jenseits des Sees Genezaret. Von den jüdischen Schriftgelehrten, den Pharisäern und Sadduzäern, die ihn argwöhnisch beäugten und dann immer erbitterter verfolgten, hielt er sich eher fern und verachtete auch deren Oberflächlichkeit im Glauben. Seine Zielgruppe waren eben einfache, ungelehrte Leute: Fischer, Bauern, Frauen, darunter auch eine Frau wie die Dirne Maria Magdalena. Die Botschaft, die er diesen sozialen Gruppen brachte, ist einfach: Wer an ihn glaubt und ihm folgt, wird aus seiner sozialen Abstiegszone in eine neue geistige Gemeinschaft emporgehoben, die Ewigkeitswert hat. Die sozial Armen und Schwachen werden dort die Vornehmsten und Ersten sein. Sie werden getröstet sein, satt werden, Gott schauen und jenen Platz im Himmelreich besetzen, der den Reichen und Herzlosen versagt sein wird. Matthäus 5,3 ff fasst diese Lehre katalogartig in der Form von Seligpreisungen zusammen: »Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmel267 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte des Christentums und des Naturrechts

reich. / Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. / Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. / Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. […]« In Markus 10,21 rät Jesus dem reichen Jüngling: »Geh hin, verkaufe alles, was du hast und gib’s den Armen, so wirst du den Schatz im Himmel haben und komm und folge mir nach.« Bei dem Evangelisten Lukas heißt es: »Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.« (Lk 6,20) Zum neuen religiös-sozialen Kodex der christlichen Botschaft gehört sogar die Aufforderung zur Armut und somit eben die Umkehrung der irdischen sozialen Ordnung. Die Reichen hier werden nicht durch das »Nadelöhr« ins Gottesreich dort einrücken (Mt 19,24, Mk 10,25, Lk 18,25). Jesus predigt »Barmherzigkeit« mit den Armen, mit den sozial Gefallenen: Maria Magdalena nimmt er in seinen Jüngerkreis ebenso auf (Lk 8,11), wie er die reuige Ehebrecherin nicht verstößt. Nun sollte allerdings die römisch-katholische Kirche als Anwältin des Christentums mit der Armut ein dauerhaftes Problem haben. In dem Geschichtsmoment, in dem das Christentum im 4. Jahrhundert Staatsreligion wurde, wurde sie auch zum Auffangbecken großer Stiftungen und staatlicher Geldmengen. Der Bau großer Kirchen wurde in Angriff genommen wie die Laterankirche und der Petersdom in Rom und, nach der Verlagerung des Kaisersitzes nach Ostrom, die Hagia Sophia in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Die mittelalterlichen Klöster und Kirchen wurden vielfach mit Stiftungen belehnt, da sie aber keine Erben hatten und zumeist rational wirtschafteten, wurden selbst die reich, die dezidiert als Armenorden angetreten waren, so die Franziskaner, Dominikaner, Zisterzienser. Damit traten aber die Kirche und ihre Institutionen in Gegensatz zum Armutsgebot Jesu Christi. Insofern war es konsequent, wenn das ganze Mittelalter hindurch Armutsbewegungen entstanden, die an das ursprünglich christliche Armutsgebot anknüpften. Die Dominikaner und Franziskaner waren ursprünglich Bettelorden, dazu gehörten aber auch Bewegungen wie die Humilaten in Norditalien, Katharer und Waldenser in Südfrankreich, die exkommuniziert und als häretisch blutig ausgerottet wurden. Dabei verbanden sich kirchliche Interessen mit den sehr weltlichen Expansionsinteressen des aufsteigenden französischen Nationalstaates. Armutsprediger wie John Wyclif in England wurden verfolgt, Jan Hus unter Zusicherung freien Geleits auf das Konzil zu Konstanz gelockt und dort 1415 verbrannt. 268 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Soziale Fürsorge, Armutsbekämpfung

Dasselbe Schicksal auf dem Scheiterhaufen erlitt der Prediger Savonerola, der in Florenz für Armut und gegen den weltlichen Luxus der Stadteliten gewettert hatte. Martin Luther, der gegen den päpstlichen Ablasshandel und die Finanzgeschäfte in Rom zu Felde zog, hätte wahrscheinlich dasselbe Schicksal des Feuertodes erlitten, wenn nicht der Landesfürst von Sachsen ihn in Schutzhaft genommen hätte. Gleichwohl haben christlicher Glauben und Kirche auch eine Vielzahl sozialer Einrichtungen geschaffen, die der Fürsorge für Arme und Kranke dienten. Dabei sind vor allem zwei Institutionen charakteristisch für die Fürsorge im Mittelalter: das Hospital und die Bettel-, Armen- und Almosenordnungen. Dabei verlagert sich im Verlauf des Mittelalters die Armenfürsorge von den kirchlichen Institutionen wie den Klöstern auf städtische: »Während das Hospital aber eine bis weit in das hohe und frühe Mittelalter zurückreichende Geschichte in und außerhalb Europas hat, sind die Bettel-, Armenund Almosenordnungen Produkte der spezifischen sozialen Situationen der zentraleuropäischen Städte des späten Mittelalters und der beginnenden Neuzeit.« (Sachße/ Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. I, 23) Dabei waren es oft Hungersnöte, Krieg, Seuchen, Teuerungen, Naturkatastrophen, die Menschen in Armut trieben und zu Bettlern machten. Der versifizierte Bericht über die Teuerung in Augsburg im 16. Jahrhundert schildert das anschaulich: »Denn in den gerade vergangenen Jahren / hatte ich nach meinem Eindruck genug erfahren / von Elend, Kummer, Angst und Not, / Krieg, Teuerung und von jähem Tod, / von Aufruhr, Überschwemmungen, Feuersbrunst / und von Zauberei, des Teufels Kunst, / wodurch viele Menschen umgekommen sind, / oder sonst großen Schaden genommen haben.« (Zit. ebd., 42) Mittelalterliche Berichte warnen aber auch schon vor einem falschen Bettlerwesen wie auch einer ungerechten Verteilung von Almosen, so der mittelalterliche Domprediger Geiler von Kaysersberg: »Als eine notwendige Sache, nicht allein hier sondern in der ganzen Christenheit, wäre dafür Sorge zu tragen daß den Armen das Almosen gerecht zugeteilt würde und nicht an die Allerunwürdigsten gelange, die am allerwenigsten seiner bedürfen.« (Zit. ebd., 56) Derselbe Prediger mahnt aber auch zu Großzügigkeit angesichts der Ängste vor eigener Verarmung: »Ich antworte darauf zunächst, daß noch niemand je durch Almosengeben arm geworden ist, wohl sind aber schon viele durch Spiel, Unzucht, Hoffart und andere Laster in Armut gerathen.« (Zit. ebd., 57) 269 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte des Christentums und des Naturrechts

Im Zeitalter der absolutistischen Landesfürsten wurden streng bewachte Zucht- und Arbeitshäuser gegründet, in welche Bettler und Vaganten, aber auch Waisen und andere Bedürftige eingewiesen und zum Teil brutal umerzogen werden sollten und deren Arbeitskräfte im Rahmen der Durchökonomisierung der Länder als Arbeitskräfte genutzt wurden. »Die disziplinären Leistungen der Zwangsanstalten gehen aber über die unmittelbare ökonomische Verwertung der Anstaltsinsassen als Arbeitskräfte weit hinaus. Es wird immer wieder erwähnt, dass die Zucht- und Arbeitshäuser auch der Züchtigung übermütiger Gesellen und Dienstboten, ungehorsamer Kinder und liederlicher Frauenspersonen dienen. Der Umbruch der gesamten Gesellschaftsverfassung im Zeitalter des Absolutismus führt also auch zur partiellen Auflösung und Entmachtung der traditionellen Sozialisationsagenturen und Moralvorstellungen.« (Zit. ebd., 122) Man kann sagen, dass das ursprünglich karitative Moment in Disziplinierungmaßnahmen überführt wurde. Das ist ja auch ein Hauptmotiv von Michel Foucault und seiner Kritik in der »Geschichte des Regierens« und der »Gouvernementalität«. Foucault hat bei seinen Studien ja durchaus gesamteuropäische Entwicklungen der Neuzeit im Blick. Und so hat auch die weitere Entwicklung der sozialen Einrichtungen im Deutschland der beginnenden Industrialisierung durchaus Parallelen zu den Entwicklungen in England, Frankreich und anderen Ländern. Mit der Aufhebung der Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit vor und kurz nach 1800 in den meisten europäischen Ländern sowie der beginnenden Industrialisierung und Urbanisierung entstanden neue Armutsschichten: »Während der Adel und der Gutsbesitzer mit Hilfe eines gut funktionierenden ländlichen Kredits – trotz Absatz- und Liquidationskrise und häufigem Besitzwechsel – im Endeffekt ihre wirtschaftliche und politische Stellung bewahren und sogar ausbauen konnten, verlor der freigesetzte Bauer – oft hoch verschuldet – durch die Aufhebung der Verschuldungsbeschränkungen seine Existenzgrundlage. […] Eigentumslos, entwurzelt, heimatlos zwischen ›Staat und Stand‹ lebte nahezu die Hälfte der Einwohner in den deutschen Territorien in Armut und Elend.« (Böhme: Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 31) Viele dieser verarmten Bauern und ehemaligen Leibeigenen zog es in die Städte und bildeten dort ein neues Proletariat und Subproletariat. So nahm die Bevölkerung zwischen 1816 und 1910 in Preußen um 193 % zu, in der Stadt Berlin dagegen im selben Zeitraum um 946 %. Fast alle 270 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Soziale Fürsorge, Armutsbekämpfung

deutschen Länder verzeichneten einen Zuwachs zwischen 100 und 200 % für den genannten Zeitraum, einige Länder, wie Westfalen und das Rheinland, einen Zuwachs von über 250 % (Treue und Manegold: Quellen zur Geschichte der Industriellen Revolution, 140 f). Mit der Revolutionierung der Landwirtschaft sowie der Auflösung der alten ständischen Ordnung (die so genannte Bauernbefreiung durch Aufhebung der Erbuntertänigkeit in Preußen 1807) bildete sich auch eine neue herrenlose und verelendete städtische Massenbevölkerung (Böhme: Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 9 ff). Wie wird diese neue Form von Armut und Elend aufgefangen? In vielen Städten bestanden noch die Zucht- und Arbeitshäuser der Aufklärung, die aber in der »Phase der aktiven Proletarisierung« zunehmend eine »Abschreckungsfunktion übernahmen: »die der strafrechtlichen Bekämpfung von Bettel, Arbeitsscheu und Nährpflichtversäumnis« (Sachße/ Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. I, 248 f). Mit dem neuen Kaiserreich begann dann auch eine Epoche der staatlichen »socialen Fürsorge«, die dann insbesondere im Ersten Weltkrieg auch ausgebaut wurde. Der Krieg schuf ja neue Notstände durch den Einzug der wehrpflichtigen Soldaten, die damit ihren Familien als Ernährer entzogen wurden, sowie durch Kriegsbeschädigung und Todesfälle, die den Staat als Nothelfer auf den Plan riefen. Die Reichsämter für Kriegsernährung, für Reichswirtschaft sowie das Reichsarbeitsamt mit ihren je eigenen sozialen Abteilungen sollten diesem Notstand dienen, konnten aber nur die äußerste Not lindern und eine minimale Versorgung bereitstellen. Mit der Weimarer Republik begann dann eine neue Epoche des Wohlfahrtsstaates, der nun – auf der Grundlage der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz – auch das ganze deutsche Volk repräsentierte und somit eine Wohlfahrtspolitik für das ganze Volk unter dem Leitbegriff der Solidarität anstrebte (siehe die folgenden Kapitel). Mit der Demokratisierung ging eine Bürokratisierung des Staates und seiner Wohlfahrtseinrichtungen durch ein bezahltes Beamtentum einher, wie dies schon Max Weber beobachtet hat (Weber: Gesammelte politische Schriften, 410). »Der Wohlfahrtsstaat wurde zur Integrationsformel des neuen Gemeinwesens. Gegenüber den sozialpolitischen Ansätzen im Deutschen Kaiserreich gewann wohlfahrtsstaatliche Politik damit quantitativ und qualitativ neue Dimensionen.« (Sachße/ Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. II, 211) Dem Ausbau der öffentlichen Sozialausgaben, die sich zwischen 271 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte des Christentums und des Naturrechts

1913 und 1929 verfünffachten, entsprach aber zugleich auch eine Enttäuschung bei vielen Bürgern – auch des Mittelstandes – über die nicht ausreichende Höhe bei zunehmender Geldentwertung bis hin zur Hyperinflation des Jahres 1923. Bekanntlich hat das dem Aufstieg des Nationalsozialismus geholfen, der dann mit großen Kapitalmitteln zeitweilige Vollbeschäftigung schaffen konnte, die allerdings der Rüstung zu einem noch furchtbareren und zerstörerischeren Weltkrieg diente. Man kann schon bis hierher resümieren: Die entscheidende Entwicklungslinie läuft von der religiös motivierten über die private zur staatlichen Armenfürsorge. Darin mag immer noch eine christliche Motivation stecken, und mit der katholischen Caritas und evangelischen Fürsorgeeinrichtungen dienen auch weiterhin wichtige kirchliche Akteure der Bekämpfung der Armut. Aber in der Hauptsache wurde diese im 20. Jahrhundert säkularisiert und zu einer bürokratisch wahrgenommenen Staatsaufgabe umfunktionalisiert. Daran knüpft auch die Entwicklung der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg an. Das zerstörte Deutschland musste wieder aufgebaut, Kriegsflüchtlinge und Heimkehrer und Kriegsopfer versorgt und integriert werden. Der Marshallplan von 1948 leistete entscheidende Hilfe dabei. Mit dem neuen »Wirtschaftswunder« in der BRD ging auch der Wunsch nach Erneuerung des »Wohlfahrtsstaates« einher, wie er bereits in der Weimarer Republik aus der Taufe gehoben worden war und nun erneuert wurde. Der moderne und postmoderne Industriestaat hat die Sozialdienste und Armenfürsorge selbst zu einem seiner Hauptprogrammpunkte gemacht. Der deutsche Bundeshaushalt stellt dafür 2019 ca. 180 Milliarden Euro bereit, 56 % der Primärausgaben, bei weitem der größte Haushaltsposten, aber bei weitem nicht ausreichend, wie einige Politiker argumentieren. 6 Dabei wird der in vieler Hinsicht vorbildliche deutsche Sozialstaat auch mit Europa und der Globalisierung belastet: Zum einen durch die Migration aus den südeuropäischen Ländern in den deutschen Sozialstaat, zum anderen durch die Migration aus den außereuropäischen Armutsregionen – vor allem aus Afrika und Asien – in diesen. Es ist aber klar, dass einem vergleichsweise kleinen Land wie Deutschland auch bei hoher ethischer Motivation letztlich enge Grenzen der Hilfe gesetzt sind. Zwar verringerte sich nach Angaben https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Monatsberichte/2016/04/ Bilder/b01-abb02-Entwicklung-Sozialausgaben-Bundeshaushalt.html

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Nächstenliebe

der Weltbank die Zahl der Personen, die in extremer Armut leben (Haushalte mit einem Einkommen von unter 1,90 US-Dollar Kaufkraft pro Tag und Kopf), nämlich zwischen 1981 und 2012 weltweit um mehr als eine Milliarde – sie sank von 1,98 Milliarden auf 897 Millionen Personen (minus 54,7 %). »Der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, an der Gesamtbevölkerung reduzierte sich zwischen 1981 und 2012 von 44,0 auf 12,7 Prozent. Ende 2015 lag der Anteil der Menschen in extremer Armut nach Berechnungen der Weltbank zum ersten Male bei weniger als zehn Prozent.« 7 Die Armutsflüchtlinge – nicht Kriegsflüchtlinge – der Jahre 2015 ff sind auch nicht in erster Linie Menschen in extremer Armut, sondern vielmehr vielfach junge Männer aus Nordafrika, wo weder Hunger noch Krieg herrschen, die sich in Europa ein besseres Leben versprechen. Wie auch immer: Der Drang, der eigenen Armut zu entfliehen, ist in vielen Armutsregionen ungebrochen und wird mit der explosiven geschätzten zweimaligen Verdoppelung der Bevölkerung Afrikas in diesem Jahrhundert noch zunehmen. Rational gesehen kommt man nicht umhin, Obergrenzen der Aufnahme zu setzen, wenn wohlmeinende Hilfsbereitschaft nicht in aggressive Selbstzerstörung – des Sozialstaates Deutschland wie der kulturellen Identität Europas – umschlagen soll.

Nächstenliebe Der neutestamentarische Gebotskanon mündet geradezu in die zwei höchsten Gebote: (1) Gottesliebe und (2) Nächstenliebe. So lehrt es das älteste der Evangelien nach Markus: »Das höchste Gebot ist […] du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen […] Das andre ist dies: ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‹« (Mk 12,30–31) Ähnlich äußern sich Mt 19,19 und Lk 10,27. Dabei ist das Gebot der Gottes- wie Nächstenliebe bereits ein zentrales Gebot des Alten Testamentes und wird im Neuen Testament auch bereits so zitiert. Bereits das Alte Testament wiederholt vielfach den Befehl der Gottesliebe und betont auch im 3. Buch Moses 19,18 das Gebot der Nächstenliebe: »Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR.«

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Werte des Christentums und des Naturrechts

Wer aber ist mit dem »Nächsten« gemeint? Das hebräische Wort dafür lautet »reah«, das griechische in der Übersetzung der Septuaginta »plesios« (wörtlich: der Benachbarte, Nahestehende). Gemeint damit sind Menschen des eigenen Volkskreises, also hier der israelischen Volksgemeinschaft im näheren Umkreis. In diesem Sinne weist auch in Mt 5 Jesus Christus »das Volk« der Juden in die Seligpreisungen seiner Bergpredigt ein. Die Nächstenliebe ist in diesem Sinne ein zentrales Gebot der Tora (Buch Leviticus) für das Bundesvolk Israels, erneuert und besiegelt durch Jesus Christus. Es wird in der Tora gelehrt im Zusammenhang mit Grundregeln des Zusammenlebens des jüdischen Volkes, wie sie auch der Dekalog lehrt: Du sollst nicht lügen, nicht stehlen, nicht ehebrechen. Darüber hinaus auch Regeln wie das Zinsverbot unter Juden und die Fürsorge für Arme: »Wenn du dein Land aberntest, sollst du nicht alles bis an die Ecken deines Feldes abschneiden, auch nicht Nachlese halten. Auch sollst du in deinem Weinberg nicht Nachlese halten« (3. Mose 19, 9), also Früchte liegen und stehen lassen, die die Armen und Eigentumslosen des eigenen Volkes noch abernten können. Das zentrale Gebot der Nächstenliebe hat also im Alten wie Neuen Testament eine ähnliche Funktion, wie es der vorige Abschnitt anzeigte: die Armenfürsorge, darüber hinaus die Funktion, die Einheit in der jüdischen Volksgemeinschaft zu stiften und zu sichern. In diesem Sinne zitiert auch bereits Paulus im Galaterbrief dieses zentrale Gesetz aus dem Alten Testament: »Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem (3. Mose 19,18) ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹.« (Gal 5,19). Nun enthalten Altes wie Neues Testament darüber hinaus auch das Gebot der Fremdenliebe: »Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch; und du sollst ihn lieben wie dich selbst.« (3. Mose 19,33–34) Offensichtlich ist damit keineswegs gemeint, dass ein solcher »Fremdling« den jüdischen Glaubensbrüdern gleichgestellt sei. Gleichheit wird erst in und durch den Glauben hergestellt (siehe unten 280 ff). Aber ein Schutzstatus für den Fremdling wird damit doch gegeben, ähnlich wie Perikles dies auch in seiner Demokratierede für die Fremden in Athen fordert (Kap. 1.4, 100). Darüber hinaus lehrt Jesus Christus noch in Überbietung der Nächstenliebe, auch seine Feinde zu lieben (Mt 5,43): »Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ›du sollst deinen Nächsten lieben (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen‹. Ich aber sage euch: ›Liebt eure Feinde und 274 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Nächstenliebe

bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.‹« Die Frage für eine über die jüdische und christliche Theologie hinausgehende Sozialethik ist, wie verbindlich solche Gebote im Rahmen einer allgemeinen Wertethik für eine globalisierte Gesellschaft sind oder sein können? Es gibt Wertethiker, die eine möglichst breite Anwendung dieser Lehre von der Nächstenliebe oder gar Feindesliebe fordern, und andere, so Sigmund Freud, die darin eine Überforderung sehen. Freud sieht erhebliche Schwierigkeiten in diesem Gebot: »Dieser Fremde ist nicht nur im Allgemeinen nicht liebenswert, ich muss ehrlich bekennen, er hat mehr Anspruch auf meine Feindseligkeit, sogar auf meinen Hass. Er scheint nicht die mindeste Liebe für mich zu haben, bezeigt mir nicht die geringste Rücksicht. Wenn es ihm einen Nutzen bringt, hat er keinen Bedenken, mich zu schädigen […] Ja, er braucht nicht einmal einen Nutzen davon zu haben; wenn er nur irgendeine Lust damit befriedigen kann, macht sich nichts daraus, mich zu verspotten, zu beleidigen, zu verleumden, seine Macht an mir zu zeigen, und je sicherer er sich fühlt, je hilfloser ich bin, desto sicherer darf ich dieses Benehmen gegen mich von ihm erwarten.« (Freud: Unbehagen in der Kultur, V, 50) Das ist freilich ein sehr kritischer Befund. Aber zweifelsohne gibt es auch genau diese Erfahrung mit Fremden als Feinden. Denn in der Idealisierung des Feindes steckt nach Freud auch ein gehöriges Stück Wirklichkeitsverleugnung: »Das gern verleugnete Stücke Wirklichkeit hinter alledem ist, dass der Mensch nicht ein sanftes, liebesbedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigungen rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo hominis lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?« (Ebd., 51) Zu den besonderen Erfahrungen des deutschen Volkes gehört aber nun, dass hier ein besonders rücksichtsloser Aggressionstrieb auf grauenvolle Weise ausgelebt worden ist und viele in diesem Volk das nun immer noch durch extreme Hilfsbereitschaft gutmachen wollen, dabei aber eben jener 275 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte des Christentums und des Naturrechts

Realitätsverweigerung verfallen, die Freud kritisch sieht. Wir kommen auf dieses Thema gleich im nächsten Kapitel und auch im Kap. 3 zum Thema Patriotismus zurück. Im Zusammenhang der christlichen Werte mit der Rationalitätskultur ist klar, dass eine Interpretation des Gebotes der Nächstenliebe nicht den Forderungen einer kritischen Rationalität gänzlich zuwiderlaufen kann und darf. Das Gebot der Nächstenliebe kann nicht als Gebot der Selbstzerstörung interpretiert werden. So war es auch nie im Kontext der jüdischen Kultur gemeint. Wie bereits im vorigen Abschnitt angedeutet: Die Vorstellung, alle Armutsflüchtlinge der Welt nach Europa einströmen zu lassen, würde eine Form der Selbstzerstörung der kulturellen und auch sozialen Identität Europas bedeuten. Das wäre weder mit der Tora noch dem Neuen Testament zu begründen. Wohl aber kann das Gebot Hilfe für die Armen in ihren Ländern einfordern. Und das geschieht ja auch bereits, wie im vorigen Abschnitt angedeutet, wenn auch nicht im ausreichenden Maße. Wie schon oben mit Sigmund Freud angedeutet: Problematisch ist das christliche Gebot der Feindesliebe. Es ist auch in anderen Religionen, so dem Islam, in dieser Form nicht gegeben. Vielmehr liegt im Koran ein zentraler Akzent auf der Vernichtung der »Ungläubigen« als religiöse Feinde. Mohammed gibt eine Reihe von Anweisungen zur Vernichtung der Ungläubigen wie in Sure 2,191: »Und tötet sie (d. h. die heidnischen Gegner), wo (immer) ihr sie zu fassen bekommt […]«, aber dies doch in eher defensiver Funktion: »und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben!« Oder Sure 8,39: »Und kämpft gegen sie [die Ungläubigen], bis niemand (mehr) versucht, (Gläubige zum Abfall vom Islam) zu verführen, und bis nur noch Allah verehrt wird!« Nach Auffassung des Propheten gilt: »Gott liebt diejenigen, die um seinetwillen in Reih und Glied kämpfen (und) fest (stehen) wie eine Mauer.« (61,4) Sure 9,5 formuliert den Tötungsauftrag der Ungläubigen auch ohne Defensivfunktion: »dann tötet die Heiden, wo (immer) ihr sie findet«. »Prophet! Feure die Gläubigen zum Kampf an!« (8,65) Nach Auffassung einiger Islam-Forscher teilt der Islam die Welt in zwei Hälften: das »Territory of Islam and Territory of War« (Peters: Islam and Colonialism, 11 f) – eben bis auf der Welt »nur noch Allah verehrt wird«. Es stehen sich also mit dem Neuen Testament und dem Koran zwei Gottesbefehle konträr gegenüber: Das Liebesgebot auch für Feinde im christlichen Neuen Testament und deren Vernichtungsgebot im Koran. In jedem Falle gilt es also hier, zwischen zwei reli276 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Empathie

giös-ethischen Geboten zu entscheiden. Dabei wird man – rational gesehen – nicht einfach von der Höherwertigkeit der einen oder anderen Religion ausgehen können. Für den Christen ist natürlich das Neue Testament das wertvollere, für den Muslimen der Koran. Welche Schlussfolgerung für eine Allgemeine Wertethik können bzw. müssen wir daraus ziehen? Sicher ist wohl, dass man einer islamischen Bewegung wie dem IS in seinem Expansionsdrang durch liebevolle Umarmung des Feindes nicht erfolgreich begegnen kann. Ein solcher Versuch würde vermutlich selbst gewaltsam zunichte gemacht. Rational gesehen gibt es also gegen gewaltsame Aggression kein anderes Mittel, als sie selbst gewaltsam von ihrem Expansionismus abzuhalten. Diese Lektion mussten auch englische Pazifisten im Kampf mit Hitler lernen. Wertethisch gesprochen heißt das: einerseits Relativierung der religiösen Regel, wenn sie zum »heiligen Krieg« aufruft, andererseits aber auch eine solche zu relativieren, die Verteidigung gegen Aggression untersagt. Es ist rational, sich gegen übergriffige Aggression zu wehren und sich gegen solche Angriffe abzugrenzen. Rational gesehen kann weder ein religiöser Angriff auf meine Glaubensfreiheit geduldet noch meine Verteidigungsbereitschaft gegen solche Angriffe durch eine andere religiöse Regel konterkariert werden. Zur Wertethik der Freiheit und Selbstbestimmung, die zu den zentralen Werten der Rationalitätskultur zählen, gehört auch die Wehrhaftigkeit (Kap. 1.9) im Sinne der Selbstverteidigung von Freiheit sowohl gegen den aggressiven religiösen Übergriff als auch gegen die religiöse Untersagung der Verteidigung eigener Freiheitsrechte.

Empathie In der neueren Diskussion ist noch ein ganz anderes Argument zur Verteidigung der christlichen Nächstenliebe aufgetaucht: das Argument der Empathie. Es stützt sich nicht in erster Linie auf die Bibel oder ein anderes religiöses Dokument, sondern auf die moderne Gehirnforschung, insbesondere die Forschungen von Giacomo Rizzolatti und Corrado Sinigaglia zu den sogenannten »Spiegelneuronen« im Gehirn (Rizzolatti/ Sinigaglia: Empathie und Spiegelneuronen). Es ist, verkürzt gesagt, die Einsicht, dass menschliches Lernen und Verstehen über Prozesse der Nachahmung erfolgen, was übrigens Aristoteles bereits im vierten Kapitel seiner Poetik mit seinem Begriff 277 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte des Christentums und des Naturrechts

der Mimesis erkannt und zum Ausdruck gebracht hatte. Wenn ein Mensch, Kind oder Erwachsener, sieht, wie ein anderer aus einer Tasse trinkt, ›spiegeln‹ Neuronen in seinem Gehirn eben diesen Vorgang auch dort nach. Wir lernen Handlungen durch dieses stumme Nachahmen der Handlungen anderer, wenn wir sie wahrnehmen: Ein Kind beobachtet das Hämmern seines Vaters. Während es das sieht, imitiert sein Gehirn bereits den Handlungsablauf und befähigt es so, dieses Hämmern selbst auszuüben. Der Mensch hat auf diese Weise sein Verhältnis zu den Dingen wie den Mitmenschen bereits in seiner Gehirnstruktur angelegt, auch wenn dies noch keine Nächstenliebe im christlichen Sinne ist. Die Arbeit der Italiener hat eine ganze Flut von Publikationen ausgelöst, die aber diese ethischen Schlussfolgerungen aus der Theorie der Spiegelneuronen ziehen, so die Studie von Christian Kaysers zum »empathischen Gehirn« – »warum wir verstehen, was andere fühlen« – und zur empathischen Struktur unserer ganzen Zivilisation in der Arbeit von Jeremy Rifkin: »Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein«. Rifkin nimmt an, dass das menschliche Wesen primär empathisch angelegt sei und Aggression nur eine späte, sekundäre Eigenschaft darstelle (ebd., 20 ff). Die Grundform des Menschseins sei die des »homo empathicus«. Die ganze Evolutionsgeschichte laufe über Empathieprozesse (ebd., 69 ff), die neue globale Gesellschaft werde eine der Empathie sein (ebd., 313 ff). Aber das ist wohl bestenfalls eine schöne Utopie. Denn zum einen bedeutet Empathie nicht nur Lernen des harmonischen Zusammenseins, sondern auch aggressives Verteidigen von Eigenem und Eigenrechten – auch das lernt bereits jedes Baby. Zum anderen unterschätzt Rifkin die Größendimension der globalen Gesellschaft: Ein empathisch- harmonisches Miteinander ist bei der demographischen Größenordnung schon der heutigen Weltbevölkerung von 7,6 Milliarden und wohl auch der noch größeren zukünftigen Weltgesellschaft von geschätzten über 10 Milliarden Menschen bei schrumpfenden Ressourcen der Erde und großen Armutsregionen darauf eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich. Rifkin meint: Die »Kosmopolitisierung« führe zu einem harmonischen Miteinander: »Niemand ist mehr fremd.« (Ebd., 335) Aber weder stimmt das in der Theorie noch in der Praxis: Die Differenzen in den Kulturen und Religionen sind keine quantité négligeable, sondern führen zu erheblichen Spannungen allerorten. Die gegenwärtige Weltzivilisation lässt einerseits die Menschen kommunikationstechnisch zusammenrücken, befördert 278 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Gleichheit

anderseits aber gerade deshalb auch Abgrenzungsstrategien: so gegenwärtig in den USA, China, Japan, Australien, islamischen Ländern und auch Europa. Man braucht nicht die Hobbes’sche These vertreten, dass jeder Mensch jedes Menschen Wolf sei (»homo hominis lupus«), um einzusehen, dass der Zusammenprall der Menschenmassen und auch Kulturen einschließlich der religiösen Gegensätze auch Prozesse der Abgrenzung nötig macht gemäß dem Kap. 1.9: Wehrhaftigkeit, wenn man nicht von anderen überrollt werden will.

Gleichheit Herkunft der Idee Auf den Wert der Gleichheit kamen wir in unserer Wertetheorie schon mehrfach zu sprechen. Zunächst und formal ist ›Gleichheit‹ ein Relationsbegriff. Er stellt eine Übereinstimmung in Bezug auf zwei oder mehrere Dinge fest. Zwei oder mehrere Dinge können als ›gleich‹ gesetzt werden, wenn sie in Bezug auf bestimmte Qualitäten als gleichwertig angesehen werden. Gleichheit setzt also auch eine kritische Urteilsfähigkeit voraus, die solche Gleichheit in der Verschiedenheit der Dinge erkennt und setzt. Gleichheit meint nicht: vollständige Identität, totale Selbigkeit dieser Dinge. Gleichheit setzt somit immer auch die Differenz zwischen den als gleich gesetzten Dingen voraus. Gleichheit meint also eine Art von Vergleichbarkeit in Bezug auf eine oder mehrere bestimmte Qualitäten. In Bezug auf andere Qualitäten müssen Dinge, die in bestimmtem Bezug zueinander als ›gleich‹ bewertet werden, nicht unbedingt gleich sein. Zwei Menschen, die vor dem Gesetz gleich sind, brauchen nicht dasselbe Geschlecht zu haben, haben sogar immer unterschiedliche Lebensgeschichten und meistens auch differente Begabungen. Wie bereits in Kap. 1.8, 208 ff ausgeführt, sind es in der europäischen Kultur mindestens vier Quellen, aus denen der Gleichheitsgedanke als Kulturwert entwickelt und zumindest in Europa und in der westlichen Welt auch als Norm gesetzt wurde: (1). Das Alte Testament: Das erste Buch Moses lehrt, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe, »zum Bilde Gottes schuf er ihn; schuf sie als Mann und Frau« (1. Mose 1,27). Von weiteren Differenzierungen oder Hierarchisierungen ist in diesem 279 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte des Christentums und des Naturrechts

Schöpfungsbericht nicht die Rede. Wie bereits in 1.8 gesagt, gibt es allerdings ganz andere Religionen, die das nicht so sehen. Der Hinduismus unterteilt die Menschen von Geburt an in Kasten, die streng hierarchisch gegliedert sind und deren Karma über den Tod hinausreicht. Dieses persönliche Karma bestimmt Stand und Rang einer menschlichen Seele bei seiner Wiedergeburt. (2) Die zweite religiöse Wurzel des Gleichheitsgedankens findet sich im Neuen Testament. Im Galaterbrief verkündet er allerdings, wie schon zitiert, eine neue Einheit und soziale Gleichheit im Glauben: »Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus […] Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.« (Gal. 3.26–28). Die Paulusbriefe sind auch voll von Jubel über die Befreiung von irdischer »Traurigkeit« durch den Glauben an Jesus Christus. Und in der Tat eröffnet ja das Christentum durch seinen Glauben bereits im Römischen Reich vielen Sklaven und sozial Unterprivilegierte zumindest eine Perspektive im Jenseits, in dem sie nicht mehr nach ihrem sozialen Stand bewertet, vielmehr sogar umgekehrt die Letzten die Ersten sein sollten. (3) Die dritte Grundlage des abendländischen Gleichheitsgedankens liegt in der antiken Demokratie und ihrem Gedanken der Isonomie, also der Gleichheit der Rechte der waffenfähigen Männer im Stadtstaat Athen. Das war aber – wie bereits in Kap. 1.4 und 1.8 ausgeführt – ein sehr exklusives Recht, das beispielsweise Sklaven und auch Frauen vom öffentlichen Leben ausschloss, also nicht wirklich die Gleichheit aller Menschen begründete. (4) Die vierte und entscheidende Quelle für den politischen Gedanken der Gleichheit ist die neuzeitliche Aufklärung und ihr Grundgedanke, dass in allen Menschen eine gleiche Vernunft angelegt sei. So argumentiert Descartes in seinem »Discours« von 1637, dass die Vernunft »gleich ist bei allen Menschen« (»égale en tous les hommes«). Es käme nur darauf an, »sie gesund zu gebrauchen« (Discours de la Méthode/ Von der Methode, Erster Diskurs, 3 f). Aufklärung wird damit, wie bereits mehrfach ausgeführt, zur Denkschulung und Bildungslehre der gleichen Vernunftanlage in allen Menschen. Hier schließt auch die Naturrechtslehre der Aufklärung an, die im Ansatz ja bereits im Corpus Iuris Civilis des Kaisers Justinian enthalten war. Der neuzeitliche Naturrechtler Samuel Pufendorf beruft sich cartesianisch auf die Vernunft: »Im Naturrecht wird behauptet, daß etwas zu tun sei, weil der rechte Gebrauch der Vernunft zu der 280 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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Einsicht führt, daß es für den Fortbestand der menschlichen Gesellschaft notwendig ist.« (Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, 13). Pufendorf leitet auf diese Weise auch die »Anerkennung der natürlichen Gleichheit des Menschen« ab wie auch dessen »Würde«: »In dem Wort Mensch selbst scheint selbst sogar eine gewisse Würde zum Ausdruck zu kommen […]« (ebd., 78), so als sei diese Prädikation bereits im Subjekt Mensch enthalten. Die Naturrechtslehre führt auf die Frage nach dem Naturzustand des Menschen.

Ist der Mensch von Natur aus gleich? Naturrechtslehre Die Frage nach der Gleichheit des Menschen ist eine zentrale Frage der Aufklärung gewesen und ist es immer noch. Zur Beantwortung dieser Frage bildeten sich zwei konträre Lager: Die Vertreter des einen sagen: Der Mensch ist von Natur aus gut und gleich, erst die Kultur hat ihn schlecht und ungleich gemacht. Die Vertreter des anderen Lagers sehen im Menschen eine naturhaft wölfische Anlage, welche den Stärkeren über den Schwächeren siegen lässt und erst die Kulturleistung der Gründung des zivilen Staates sorgt für Sicherheit und zivile Verhältnisse seiner Bürger. Vertreter der ersteren Linie waren John Locke, Rousseau und viele Sozialisten und Kommunisten. Vertreter der zweiten Gruppe Thomas Hobbes, Montesquieu und andere Staatstheoretiker. So setzt der mit Pufendorf gleichaltrige englische Aufklärer John Locke (beide Geburtsjahr 1632) einen Naturzustand an, der wesentlich durch »Gleichheit« geprägt gewesen sei: »Es ist […] ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer: Nichts ist einleuchtender, als dass Geschöpfe von gleicher Gattung und von gleichem Rang, die ohne Unterschied zum Genuss derselben Vorteile der Natur und zum Gebrauch derselben Fähigkeiten geboren sind, ohne Unterordnung und Unterwerfung einander gleichgestellt leben sollen […]« (Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, 201 f). Wenn der Naturzustand so harmonisch gewesen wäre, wie Locke annahm, in welchem »das Gesetz der Natur« auch das des »Friedens« war (ebd., 203), ist eigentlich gar nicht einzusehen, warum aus einem solchen »Zustand der vollkommenen Gleichheit« überhaupt Formen von Ungleichheit sich haben herausbilden können, dass »ein Mensch 281 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte des Christentums und des Naturrechts

die Macht über einen anderen erlangen kann« (ebd., 204). Da muss ja auch schon im Zustand der »vollkommenen Gleichheit« auch die Ungleichheit und auch die Aggressivität des Menschen mit angelegt gewesen sein. Locke geht in seiner Zweiten Abhandlung direkt über vom friedlichen »Naturzustand« zum »Kriegszustand«, ohne erklären zu können, wie letzterer eigentlich aus ersterem entstehen kann. So friedlich kann der Mensch auch von Natur aus nicht gewesen sein. In der Tat lässt Locke den Staat mit einer auch schon von ihm angenommenen Gewaltenteilung aus dem Bedürfnis des Bürgers entstehen, dass diese Staatsgründung und die damit abgetretene Regierungsgewalt »zu seinem Wohl und zur Erhaltung seines Eigentums gebraucht werde« (ebd., 308), also auch: aus Skepsis gegenüber der friedlichen Natur des Menschen. Ähnlich harmonistisch wie Locke sieht auch Rousseau den Urzustand der Menschheit als einen der »Gleichheit«. Es sei ein Zustand der »Reinheit« gewesen, schreibt er in seiner zweiten Preisschrift über den »Ursprung und die Ungleichheit unter den Menschen« (Rousseau: Preisschriften, 109). Die Menschen in solchem Naturzustand hätten sich vereinigt »zu verschiedenen Gemeinschaften und bilden schließlich in jeder Gegend eine besondere Nation, die einig ist in Sitte und Charakter, nicht durch Ordnung und Gesetze, sondern durch dieselbe Lebens- und Ernährungsweise und durch den gemeinsamen Einfluss des Klimas.« (Ebd., 91) Nach Rousseau kommt – im Gegensatz zu Locke – alle Ungleichheit in die Gesellschaft durch die Eigentumsbildung und deren Missbrauch durch Machteliten wie auch durch die pauperisierten ›Elenden‹ : »Weil sich die Mächtigsten oder die Elendsten durch ihre Macht oder ihre Bedürfnisse eine Art Recht auf das Gut der anderen anmaßten, das ihrer Meinung nach dem des Eigentums gleichkam, folgte so der durchbrochenen Gleichheit die schrecklichste Unordnung.« (Ebd., 96) Ähnlich wie bei Locke ist auch bei Rousseau der Urzustand durch Gleichheit geprägt, anders aber als bei dem Engländer der Kulturzustand durch Ungleichheit des Eigentums und daraus folgendem Chaos. Marx und viele deutsche Idealisten haben an Rousseau geglaubt, wollten das Privateigentum aufheben und ›zurück zur Natur‹. In neuerer Zeit hat der amerikanische Philosoph John Rawls den Gedanken der Gleichheit und Gerechtigkeit wieder ins Zentrum der Staatstheorie gerückt. Er geht wie die frühe Aufklärung aus von der »Leitidee der Gesellschaft als einem fairen System der Kooperation zwischen freien und gleichen Personen« (Rawls: Gerechtigkeit als 282 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Gleichheit

Fairneß, 38). Dieses charakterisiert für ihn den »Urzustand« der Gesellschaft. Die Bürger sollen als »frei und gleichberechtigt sowie als vernünftig und rational gelten« (ebd., 28). Vorausgesetzt wird so ein ›moralisches Subjekt‹ in einer »wohlgeordneten Gesellschaft« (ebd., 52 und 58). Man kann sich schon hier fragen, was für solche engelhaften Wesen überhaupt noch zu regeln sein soll? Der Verfasser will zwar seine Idealsubjekte als Spezies des homo sapiens verstanden wissen und alles Biologische und Psychologische von ihnen fernhalten (ebd., 52). Was so mental konstruiert werden kann, ist bestenfalls eine schöne Utopie, aber doch weltfremd. Rawls hat seine Utopie noch zu einer »Idealtheorie« der Rechte der Völker ausgebaut, in welcher er »die Einheit einer vernünftigen Gesellschaft der Völker« im Sinne einer »realistischen Utopie« propagiert (Rawls: Das Recht der Völker, 21). Hier wird nun das »Volk« zum Träger der Utopie, weil Rawls diese dem Staat nicht mehr zutraut. Aber das ist nicht das reale Volk zum Beispiel von ›Völkerwanderungen‹, sondern das fantastische eines idealisierenden Professors: »Es gehört demnach zu Vernünftigkeit und Rationalität von Völkern, dass sie bereit sind, anderen Völkern faire Bedingungen der politischen und sozialen Kooperation anzubieten.« (Ebd., 39) Man muss leider konstatieren, dass es solche Völker in der Realität bis heute nie gegeben hat. Völker vertreten immer ihre eigenen Interessen, zu denen allerdings auch der partielle Ausgleich der Interessen mit anderen Völkern gehören kann (siehe auch Kap. 3.1). Den Gegenentwurf zur harmonistischen Gleichheitslehre hat der andere große englischer Aufklärer Thomas Hobbes formuliert. Nach Hobbes ist der Naturzustand des Menschen eher durch ein wölfisches Gegeneinander der Menschen charakterisiert. Hobbes sieht die Naturanlage des Menschen also keineswegs friedlich, sondern eher aggressiv und auf den eigenen Vorteil bedacht: »Erstens, die Menschen liegen der Ehre und Würde wegen in einem beständigen Wettstreit« […] Unter den Menschen entsteht hieraus sowie aus weiteren Ursachen häufig Neid, Haß und Krieg« (Hobbes: Leviathan, 153). Dementsprechend ist die »Eintracht« unter Menschen nach Hobbes nicht »ein Werk der Natur«, sondern »ein Werk der Kunst und eine Folge der Verträge« (ebd., 154). Und auf diese Weise erfolgt bei Hobbes, wie bereits erwähnt, die Gründung des Staates als eine vertragliche Abtretung der Gewalt der Bürger an diesen mit dem Ziel des Schutzes des eigenen Lebens und Eigentums durch jenen. Der 283 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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Staat als die nun einzige Quelle von Macht und Gewalt erhält damit eine fast gottgleiche Autorität, wie dies der biblische Name des »Leviathan« auch ausdrückt. Wer aber hat nun Recht: die Lehre von der Gleichheit und Harmonie im Naturzustand oder umgekehrt die Lehre vom geltungssüchtigen und auch aggressiven Wesen Mensch? Die zweite Lehre von Hobbes bekommt ausgerechnet durch die Bibel Rückendeckung. Denn es sind ja die Söhne Abrahams, Kain und Abel, die im Kampf um die göttliche Anerkennung ihrer Opfer in tödlichen Streit miteinander geraten. Kain erschlägt in diesem Kampf seinen Bruder Abel, der erste Mord unter vielen noch folgenden im Alten Testament der Heiligen Schrift (1. Mose, 4). In der Einschätzung der beiden Modelle von Gleichheit kann man sagen: Die kritische Einschätzung des Naturzustandes durch Hobbes hat erheblich weniger Schaden angerichtet als deren idealistische Überhöhung und die entsprechend negative Einschätzung der Kultur des Menschen wie bei Rousseau. Es war und ist einfach eine naive Annahme, dass der Mensch von Natur aus nur gut sei und erst die Kultur das Böse und Aggressive des Menschen hervorgebracht habe. Das waren und sind Anlagen des Menschen von Anfang an. Mit Sicherheit waren sich Neandertaler und der homo sapiens nicht so harmonisch »einig« in »Sitte und Charakter«, wie das bei Rousseau heißt. Vielmehr hat der Überlegene den Unterlegenen verdrängt und wahrscheinlich ausgerottet. Die Geschichte der Menschheit von ihrer vorgeschichtlichen Phase an bis in die jüngste Zeit ist immer auch eine Geschichte der Macht und Gewalt und damit auch Ungleichheit zwischen Menschen. Gewalt und Macht gehören zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen und verlangen daher nach sozialer Ordnung und Kontrolle, wie dies der Soziologe Heinrich Popitz beschreibt. Sein Fazit lautet: »Der Mensch muß nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muss nie, kann aber immer töten – einzeln oder kollektiv – gemeinsam oder arbeitsteilig in allen Situationen, kämpfend oder Feste feiernd – in verschiedenen Gemütszuständen, im Zorn, ohne Zorn, mit Lust, ohne Lust, schreiend oder schweigend (in Todesstille) – für alle denkbaren Zwecke – jedermann.« (Popitz: Phänomene der Macht, 76) Somit kann man resümieren: Rational ist nicht eine Theorie, die von einem engelgleichen Wesen Mensch ausgeht, sondern rational ist eine Theorie, welche die aggressive Anlage des Menschen, die sich 284 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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millionenfach in seiner Geschichte gezeigt hat, so umgehen kann, dass sie diese möglichst eindämmt. Und das ist nach Popitz nur durch eine zivile soziale Ordnung möglich – dies auch mit den Möglichkeiten der staatlichen Gewaltanwendung: »Soziale Ordnung ist eine notwendige Bedingung der Eindämmung von Gewalt – Gewalt ist eine notwendige Bedingung zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. […] Ohne ein Normensystem, das durch Sanktionsregelungen geschützt wird, kann eine dauerhafte und einigermaßen zuverlässige Gewaltbegrenzung nicht gelingen« (ebd., 89). Die Theorie vom naturhaft guten Menschen hat zu ziemlich schrecklichen Erscheinungen der Geschichte geführt wie dem Terreur der Französischen Revolution unter dem Rousseau’schen Moralisten Robespierre und auch den Massenmorden unter der an sich humanen Ideologie des Sozialismus-Kommunismus (siehe Kap. 1.4, 77). Man kann geradezu resümieren: Sowohl die Idee des bösen Menschen mit seiner Herrschaftsideologie des »Ariers« über alle anderen Menschen – der Rassismus – als auch die des guten Menschen – Marx’ Idee des Kommunismus als »vollendeter Naturalismus« (Marx: Die Frühschriften, 235) – haben in der brutalen Durchsetzung ihrer Ideologien jeweils vielen Millionen Menschen das Leben gekostet.

Das Problem der Gleichheit Es war also zweifellos ein erheblicher Fortschritt der Kultur der Menschheit, nicht mehr von einer natürlichen Gleichheit aller Menschen auszugehen, sondern von der Annahme der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz als einer verfassungsmäßigen Kulturleistung. In diesem Sinne entwickelte die Amerikanische Verfassung sowohl von den religiösen wie auch aufklärerischen Argumenten her ihre Unabhängigkeitserklärung mit der berühmten Formulierung: »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.« 8 »Self-evident« ist diese »Wahrheit« allerdings nicht. Sie ist in langen Debatten und gegen erhebliche Widerstände erkämpft worden. Beileibe galt auch das Gleichheitsgesetz noch nicht für alle Menschen. Indianer und Sklaven waren davon ausgeschlossen. Letztere 8

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galten in den Südstaaten als »property«. Dennoch hat auch die Unabhängigkeitserklärung zur Befreiung der Sklaven und Indianer in den USA mit beigetragen. Aber das war ein Prozess, der sich erneut jahrzehntelang hinzog und bis heute nicht abgeschlossen ist. Nach dem totalitären Terror des Dritten Reiches fand der Gleichheitsgedanke Eingang ins deutsche Grundgesetz, Artikel 3 GG (Kap. 1.8, 206): »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.« Damit verankert werden sollte insbesondere auch die »Gleichberechtigung von Männern und Frauen«. Die Gleichheit vor dem Gesetz rückte nicht in der Form ins Strafgesetzbuch der DDR, das stärker den Schutz des Sozialistischen Staates in den Vordergrund stellte. Gleichheit aber ist ein Problem. Das Problem der Gleichheit ist, wie bereits eingangs gesagt, die Differenz in ihr. Erst einmal sind alle Menschen ungleich. Keiner ist so wie der Andere. Gleichheit definiert also immer eine Hinsichtnahme, auf die hin ›Gleichheit‹ ausgesprochen oder angestrebt wird. Das ist zunächst, wie hier zitiert, die Gleichheit vor dem Gesetz. In Bezug auf alles andere: körperliche Ausstattung, Intelligenz und sonstige Anlagen, Bildung ist jeder Mensch individuell ausgestattet und keiner wie der Andere. Das heißt auch, dass kein Mensch die genannten Werte: Denkfähigkeit, Kritikfähigkeit, Freiheit, Personalität, Bildung, auch Religiosität genauso vertritt wie der andere. In dieser anthropologischen wie kulturellen Situation muss Politik natürlich darauf achten, dass möglichst wenige Benachteiligungen entstehen, und wo diese gegeben sind, diese möglichst ausgeglichen werden. Insbesondere sollten die kulturellen Differenzen zwischen den Bürgern aber nicht unterschätzt werden bei der Herstellung eines zivilen Staates. Dieses gelingt, wie schon Perikles wusste, am besten mit einer möglichst gebildeten Population, der Voraussetzung von Demokratie (Kap. 1.4, 101). Gleichheit meint ja auch – bei allen Differenzen – eine Form von Homogenität zwischen Menschen. Diese kann durch zu extreme kulturelle Differenzen in einem Staat so weit gestört sein, dass keine integrative Struktur mehr entstehen kann. Diese politische Problematik der Gleichheit hängt eng auch mit dem Patriotismus von Politik zusammen. Darauf kommen wir im Kap. 3.1 zurück.

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Solidarität

Solidarität Begriffsgeschichte Ein weiterer Zentralbegriff der sozialen Wertethik ist der Begriff der Solidarität. Christliche Nächstenliebe als Sorge für die Armen und Notleidenden impliziert eine Haltung der Empathie und Solidarität mit jenen. Der Begriff selbst ist allerdings nicht christlicher Abkunft. ›Solidarität‹ ist abgeleitet von lateinisch ›solidus‹ im Sinne von ›dicht‹, ›gediegen‹, ›fest‹ und kommt zunächst vor in der juristischen Bedeutung von ›gesamt‹, ›ganzheitlich‹, zum Beispiel im Begriff der ›Solidarobligation‹ als einer Form der Gesamtschuld (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Solidarität, Sp. 1004 ff). Solidarität, französisch solidarité, wird dann seit der französischen Revolution übertragen auch auf die Gesellschaft als eine Form der gemeinschaftlichen Verbundenheit und Verantwortung für andere. Der Begriff ersetzt in dieser Bedeutung bei den französischen Frühsozialisten den der christlichen Nächstenliebe. Der deutsche Journalist Karl Grün resümiert so die Theorie Karl Fouriers. Diese sei getragen von dem »große[n] Prinzip der Solidarität aller Menschen unter einander, der wahren, harmonischen Solidarität. Daß diese Solidarität, dieser Sozialisirung der Menschen unter einander kein äußerliches Gesetz bedarf, daß sie nicht durch Regierung, durch Befehl von Außen ins Werk gesetzt und erhalten werden kann, das wusste Fourier gleichfalls.« (Die Frühsozialisten II, 151) Der Mensch also ist auch nach dieser frühsozialistischen Auffassung von Natur aus gut und mit dem Nächsten solidarisch, wenn man ihn wieder in seinen ursprünglich sozialen Zustand versetzt. Er braucht dann zur Solidarität nicht mehr »von Außen« gedrängt werden. Der Begriff steht damit auch in der Nachbarschaft zu »fraternité« einem der drei Leitbegriffe der Französischen Revolution. 1842 veröffentlichte Hippolyte Renaud ein Buch mit dem Titel »Solidarité« als Synthese der Fourier’schen Theorie: »Solidarité. Vue synthetique sur la doctrine de Charles Fourier«. Durch die Schriften der Frühsozialisten wie Saint Simon, Fourier und auch des jungen Marx zieht sich die Hoffnung, dass das »goldene Zeitalter« der Menschheit ohne Ausbeutung und in gemeinschaftlicher Solidarität noch bevorstehe, ein, wie es der Geschichtsphilosoph Karl Löwith nannte, »Vollzug dieser letzten Befreiung des Menschen vom bloß politischen Staat der bürgerlichen Gesellschaft und zum kommunistischen Men287 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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schen« (Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, 338). Dieser erfüllt nach Marx die naturhaften Gattungsgesetze des Menschen. Daher ist nach Marx der Kommunismus mit der Aufhebung des Privateigentums zugleich die Rückkehr des Menschen in seinen ursprünglich naturhaften Humanismus und damit »die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen und der Natur […] Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte« (Marx: Die Frühschriften, 235). Solidarität wird dann zu einem Kampfbegriff der Arbeiterbewegung und dies häufig verbunden mit einer Naturlehre des Menschen als eines im Kern guten, mit dem Mitmenschen solidarischen Wesens. »Der Begriff der allgemeinen menschlichen Solidarität ist der höchste Kultur- und Moralbegriff; ihn voll zu verwirklichen, das ist die Aufgabe des Sozialismus«, schreibt Karl Liebknecht (Liebknecht: Kleine politische Schriften, 99). Liebknecht strebt eine »Harmonie« an, in der es nicht mehr Herren und Knechte geben solle, sondern nur »Genossen«. Eine solche Form von »Genossenschaft sei »kein Traum«, sondern »tausendjährig erprobt«, nämlich in der Form der »Ehe« zwischen Mann und Frau (ebd.). Für Liebknecht wird somit die intime Form einer innerfamiliären Beziehung zum Grundmodell von Arbeitersolidarität. Eduard Bernstein resümiert in seiner Geschichte der Arbeiterbewegung von 1910 »daß innerhalb der Arbeiterbewegung kein Prinzip, keine Idee stärkere Kraft ausübt, als die Erkenntnis von der Notwendigkeit der Solidaritätsübung.« (Bernstein: Die Arbeiterbewegung, 134) Die Karriere des Wortes Solidarität in der Arbeiterbewegung ist sicher einerseits von der Not und dem Elend dieser sozialen Klasse in der frühen Phase der Industrialisierung diktiert. Es gibt auch einen zweiten Grund dafür: Mit der modernen Industrialisierung und Urbanisierung, die von der Zeit vor und nach 1900 als eine starke Entfremdung des Menschen empfunden wurde, als eine Form der Atomisierung und Entwurzelung des Einzelnen, bot der Begriff der Solidarität und das mit ihm verbundene Lebensgefühl der Verbundenheit des Menschen mit anderen Menschen eine Art Gegengewicht zur modernen Vergesellschaftung. Der Soziologe Ferdinand Tönnies beklagt in seinem Buch »Gemeinschaft und Gesellschaft« von 1887 die Auflösung der gemeinschaftlichen Bande, wie sie durch Familie und lokale Lebensbedingungen der Tradition gegeben waren, durch die neuen Markt-, Tausch- und anonymen Wohnbedingungen des Menschen in der industrialisierten und urbanisierten »Gesellschaft«. Tönnies geht dabei auch davon aus, dass die vorindustriellen Lebens288 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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bedingung des Menschen seinem »ursprünglichen und natürlichen Zustande« entsprächen (Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, 9), mithin die Moderne eine Entfremdungsform von jenen idealisierten »ursprünglichen« Lebensbedingungen darstelle. Solidarität, wie insbesondere zwischen der Arbeiterschaft erzeugt, bietet also eine Art Rückkehr in gemeinschaftliche Lebensformen und Gefühlsverbundenheit, wenn auch nun aus der Not erzeugt. Der Soziologe Durkheim verband daher den Begriff mit dem der Moral. Wer solidarisch handelt, handelt nach Durkheim moralisch (Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung). Die Moral sichert so den Zusammenhalt der Gesellschaft. Solidarität und die ihr zugehörige Moral stellen nach Durkheim gesellschaftliche Tatsachen dar. Aber woher rührt die Moral, die Solidarität verbürgen soll? Das bleibt bei Durkheim unklar. In der jüngeren Zeit haben Niklas Luhmann und andere Soziologen der Solidarität eine ähnliche Kompensationsfunktion zugeschrieben. Die moderne Industrie- und Mediengesellschaft mit zunehmender Differenzierung, aber auch Dezentralisierung und Atomisierung der Menschen erzeugt ja das Problem der Integration des Ganzen und der Kooperation seiner Mitglieder, wie das Peter Fuchs formuliert: »Solidarität ist ein Begriff, der sich […] auf das Problem der Differenzierung unmittelbar bezieht, auf den Zusammenhalt des Differenten, auf die Kohäsion der Teile in einem Ganzen, das auseinander fallen könnte, auf Integration.« (Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 219) Die meisten Arbeiten erkennen allerdings an, dass es eine Rückkehr in den idealisierten und angeblich so solidarischen Gemeinschaftsverband der Urgesellschaft in der arbeitsteiligen modernen Gesellschaft nicht mehr geben kann.

Katholische Soziallehre Die katholische Kirche hat, wie gesehen, große Verdienste in der Praxis der Krankenpflege und Armenfürsorge. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in Auseinandersetzung mit der modernen Industriegesellschaft hat sich aber darüber hinaus auch eine katholische Soziallehre etabliert, in der der Begriff der Solidarität eine zentrale Rolle spielt. Ausgangspunkt ist dabei der Begriff der Person. Richtungweisend war hier die Sozialenzyklika von Papst Leo XIII. »Rerum novarum« von 1891. In ihr widmet sich der Papst der Arbeiterfrage mit einer massiven Kritik an den bestehenden Ver289 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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hältnissen. Dagegen wird die »Würde« des Menschen beschworen: »Was den Menschen adelt und zu der ihm eigenen Würde erhebt, ist der vernünftige Geist; dieser verleiht ihm seinen Charakter als Mensch und trennt ihn seiner ganzen Wesenheit nach vom Tier.« (Rauscher: Handbuch der Katholischen Soziallehre, 20) Interessant ist die Argumentation der Enzyklika. Wir haben in Kap. 1.6 gesehen, dass der Begriff der »Person« eine theatertechnische Herkunft hat, dann aber im Mittelalter die Einheit der Trinität beschreibt. Darauf greift aber die Enzyklika nicht zurück. Sie argumentiert vielmehr philosophisch bewusstseinstheoretisch: Was den Menschen als Wesen ausmacht und ihn adelt ist seine Vernunft. Das könnte auch Kant geschrieben haben. Man kann ergänzen, dass noch Pius XII. in einer Rundfunkansprache von 1941 – nun in Frontstellung gegen den Totalitarismus – verkündet: »Ursprung und Wesensziel des gesellschaftlichen Lebens ist die Wahrung, Entfaltung und Vervollkommnung der menschlichen Person« (ebd., 21). Das erste Kapitel im ersten Hauptteil des Zweiten Vatikanischen Konzils, das sich ja intensiv mit dem modernen Wirtschaftsleben befasste, trägt sogar die Überschrift: »Die Würde der menschlichen Person.« (Ebd., 21) Das II. Vatikanum verweist dabei auch auf die Bibel und Gottesebenbildlichkeit des Menschen. In der Grundlegung der katholischen Soziallehre und damit des katholisch-christlichen Menschenbildes vermengen sich einmal mehr – wie ja schon in der ganzen Scholastik – Theologie, biblische Botschaft und Philosophie, also christlicher Glauben und Rationalitätskultur. Von der Person aus den Begriff der Solidarität abzuleiten, ist nicht ganz einfach. Der Begriff der Person steht ja auch, wie in Kap. 1.6 gezeigt, dem des Individuums nahe, der eher die Singularität von Person-Sein betont. Wenn aber Person-Sein mit göttlicher und auch vernunfthafter Würde ausgestattet ist, gilt es diese auch im Anderen zu respektieren. Mit dieser Argumentation haben die Jesuiten und Nationalökonomen Heinrich Pesch, Oswald von Nell-Breuning und Gustav Grundlach das Solidaritätsprinzip in die katholische Soziallehre eingebracht. Letztere beiden wirkten auch als Berater von Pius XI., der – fußend auf »Rerum novarum« – mit seiner Enzyklika »Quadragesimo anno« von 1931 neben die Personalität auch die Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität stellte und damit in der Katholischen Soziallehre verankerte. Beide Prinzipien stehen in einem Ergänzungsverhältnis zueinander: Wo der Mensch Hilfe braucht in der Erfüllung seiner Grundbedürfnisse, soll ihm die Solidargemein290 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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schaft der Gesellschaft helfen, wo dies kleinere Einheiten wie z. B. die Familie leisten können, sollen eben diese es tun (dazu: Päpstlicher Rat. Kompendium der Soziallehre der Kirche, 152 ff und 146 ff). »Quadragesimo anno« kritisiert darüber hinaus die Ungleichheit der Verteilung der Güter, plädiert also für deren sozial gerechte Verteilung. Damit war eine Problematik in die katholische Lehre eingedrungen, die sie seitdem nicht mehr aus den Augen verloren hat. Die unter Papst Johannes XXIII. verfasste Enzyklika »Mater et magistra« betont darüber hinaus schon die globale »Verflochtenheit« und damit auch »wechselseitige Abhängigkeit« der Wirtschaft, verbunden mit der Forderung, dass auch darin »die wesentlichen Rechte jeder menschlichen Person gewahrt bleiben« müssen (Roos: Sozialenzykliken, 130). Wie schon Pius XII. tritt auch diese Enzyklika für Wahrung des Privateigentums ein. Unter dem ›Konzilspapst‹ Paul VI. wurde 1965 auch die noch im II. Vaticanum entstandene Enzyklika »Gaudium et spes« veröffentlicht, die ihrerseits auf die zunehmende »Herrschaft des Menschen« über die Natur hinweist wie auf die wachsende Ungleichheit in der Verteilung der Güter, die »sozialen Ungleichheiten« wie die »Verschlechterung der Lage der sozial Schwachen« (ebd., 130). Die zu Anlass des hundertsten Jahrestages von »Rerum novarum« von Papst Johannes Paul II. verfasste Enzyklika »Centesimus annus« kritisiert ausdrücklich die sozialistischen Gesellschaften als einen Irrweg. Sie schreibt, »daß der Grundirrtum des Sozialismus anthropologischer Natur ist. Er betrachtet den einzelnen Menschen lediglich als ein Instrument und Molekül des gesellschaftlichen Organismus, so daß das Wohl des einzelnen dem Ablauf des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Mechanismus völlig untergeordnet wird.« 9 Die Enzyklika kritisiert den Rüstungswettlauf und auch das neue »Phänomen des Konsumismus« in einer Welt, die nach wie vor große Gerechtigkeitslücken aufweist. Sie bekennt sich zum »freien Markt«, aber ohne »Vergötzung« des Marktes. Die Enzyklika »Centesimus annus« von 1991 warnt darüber hinaus vor einer »Demokratie ohne Wert«, in der die Massen zwar die Mehrheit, nicht aber notwendig die Wahrheit vertreten können (ebd.).

http://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_ 01051991_centesimus-annus.html

9

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Der gegenwärtige Papst Franziskus hat bekanntlich ein starkes Engagement für die Armen der Welt und vertritt die Idee einer globalen Solidargemeischaft. Seine »Enzyklika« »Evangelii gaudium« von 2013 stellt erneut die Forderung nach einer gerechten Welt auf und fordert eine Kirche im Dienste der Armen, einschließlich der daraus folgenden Kirchenreformen. Um diese zu realisieren, fordert er »neue Wege« und »kreative Methoden«. 10 Die Enzyklika »Laudato Si’« plädiert für eine »ökologische Umkehr«. Es sei unvertretbar, dass mehr und mehr konsumieren und zerstören, während andere noch nicht entsprechend ihrer »Menschenwürde« leben können. 11 Darin klingt nun neben der Solidarität mit den anderen auch das Prinzip der Solidarität mit der Natur an, welche die Enzyklika in der Sorge um den Planet Erde nun sogar ins Zentrum stellt. Blickt man auf die katholische Soziallehre von »Rerum novarum« an, so muss man konstatieren, dass sie sich fortlaufend den gesellschaftlichen Problemen der fortschreitenden Industriegesellschaft gestellt und Antworten darauf gesucht hat. Ein durchgehendes Problem ist dabei vielleicht, dass der Begriff der »Würde des Menschen« im Zeitalter des »rechnenden Denkens« (Heidegger) selbst unter die Räder zu kommen scheint bzw. der Mensch sich arbeitstechnisch auflöst in Rechnerprozesse und in berechenbare Funktionen. Das bedeutet ja »Rationalisierung« der Arbeit. Wiederum ist Wohlstand nur dort, wo dieser Prozess selbst abläuft, im Wesentlichen in der nördlichen Hemisphäre der Erde. Rationalität und Reichtum korrelieren, stehen aber oft nicht im Einklang mit der Natur (Vietta: Weltgesellschaft, 165 ff). Darauf machen die letzten Enzykliken von Papst Franziskus nachdrücklich aufmerksam. Ich möchte zum Schluss dieses Abschnitts auch noch auf einen Autor hinweisen, der stark sozialsolidarisch engagiert war und dabei zugleich die globale Entwicklung der neuzeitlichen Weltgeschichte kritisch untersucht hat, Joseph Höffner. Er hat die sozialethischen Themen der modernen Gesellschaft eingehend reflektiert (Höffner: Sozial- und Gesellschaftspolitik sowie: Perspektiven sozialer Gerechtigkeit). Höffner hat dabei auch die Geschichte des Christentums in der Phase der Welteroberung kritisch durchleuchtet (Höffner: Chrishttps://www.katholisch.de/aktuelles/dossiers/papst-franziskus/veroffentlichungenvon-papst-franziskus. Dort auch die folgenden Zitate. 11 http://w2.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_ 20150524_enciclica-laudato-si.html 10

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tentum und Menschenwürde, 41 ff). Der Kardinal schreckt dabei nicht zurück vor der Kritik an der »Intoleranz im Innern des mittelalterlichen Orbis christianus« und des frühneuzeitlichen Kolonialismus, erkennt aber auch zu Recht, dass es vielfach die katholische Kirche war, die Indianer vor der Versklavung retteten, wie dies der Dominikanermönch Bartholomé de Las Casas beispielhaft tat (ebd., 206 ff). Auch hier regte sich ja ein mit den unterdrückten indigenen Völkern solidarisches »christliches Gewissen« gegen den Missbrauch der Macht der Invasoren.

Solidarität in den Problemzonen der Politik der EU Heute ruft eine Fülle von neueren Publikationen zu Solidarität in den verschiedenen Problemzonen der Politik auf. So die Solidaritätsaufrufe im Bereich der EU, der Globalisierung mit ihren Migrationsströmen nach Europa und besonders nach Deutschland. Dadurch hat sich das Problem der Integration des Ganzen noch enorm verschärft. Die Literatur zum Thema Solidarität explodiert geradezu in der jüngsten Zeit mit Publikationen zur Solidarität innerhalb der EU (Hatje / Iliopoulos u. a.; Rebhahn; Knodt / Tews; Calliess u. a.), mit den außereuropäischen Notleidenden (Ziegler; Eppler u. a.), aber auch der Generationen innerhalb Deutschlands (Schuster / Reinhardt; Shimada / Tagsold u. a.). Einen Überblick über die Literatur bis 2009 bietet Ursula Dallinger mit ihrem Buch: Die Solidarität der menschlichen Gesellschaft, generell zum Problem siehe auch die Arbeit von Kurt Bayertz zum Begriff und Problem der Solidarität. Auf die differenzierten Argumentationen zum Thema kann in diesem Rahmen nicht genauer eingegangen werden. Generell wird im EU-Diskurs betont, dass Solidarität eine über die partikulare Gruppe und auch den Nationalstaat weit hinausgehende neue Dimension erreicht hat. Die Union »fördert« nach Art. 3 EUV »die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten« und »leistet einen Beitrag zu […] Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern«, dies auch in deren Beziehung zur außereuropäischen Welt. Solidarität soll die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik prägen, diese beruhe nach Art. 24 Abs. 3 EUV »auf einer Entwicklung der gegenseitigen politischen Solidarität der Mitgliedstaaten«. Es ist schon aus diesen Formulierungen zu ersehen, dass von der Solidarität in der EU viel erwartet wird, diese selbst aber nicht genauer definiert wird und so293 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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mit dieser Begriff im EU-Recht in einer gewissen Unbestimmtheit verbleibt. Von Solidarität wurde viel auch im Rahmen der Finanzkrise gesprochen und dabei insbesondere von den finanzstarken Ländern eine gemeinsame Haftung der Schulden und auch eine Umverteilung der Finanzmittel auf die finanzschwachen Länder der EU gefordert. Auch viele deutsche Politiker haben sich diese Position zu eigen gemacht. Die einschlägigen Arbeiten zum Thema betonen aber, dass Solidarität mit einer Leistungsbereitschaft auch des Empfängers verknüpft sein und sich die Einforderung wie Gewährung von solidarischer Hilfe im Rahmen des gegebenen Rechts bewegen müsse. »Die europäische Integration gründet von Beginn an auf dem Fundament des Rechts, wie es die europäischen Verträge definieren. Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft (Art. 2 EUV). Ohne die Bindung an das Recht geht der Zusammenhalt in der EU verloren. Das Recht ist damit zugleich Voraussetzung der Solidarität in der EU.« (Calliess: Europäische Solidarität, 17) Der Verfasser zitiert ein Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofes, welches aussagt, dass der Vertrag es den Mitgliedstaaten zwar erlaube, »die Vorteile der Gemeinschaft für sich zu nutzen«, ihnen aber auch »die Verpflichtung« auferlegt, »deren Rechtsvorschriften zu beachten«. Das Urteil warnt in diesem Sinne sogar ausdrücklich vor dem »Verstoß gegen die Pflicht der Solidarität« (EuGH, RS 39/ 72, Slg.1973, 101 Rn24). Daran anschließend betont Calliess, dass der Solidaritätsgedanke in der EU »keine Einbahnstraße« sein könne, und fügt an: »Vor dem Hintergrund des von allen Mitgliedstaaten und ihren Parlamenten als verbindlich vereinbarten und anerkannten europäischen Verfassungsrechts in Form der Verträge gilt, dass eine gemeinsame Haftung für Staatsschulden die Ausnahme bleibt und im Gegenzug eine Abgabe von Souveränität mit sich bringt.« (Calliess: Europäische Solidarität, 17 f) Ähnlich argumentiert Rebhahn, der mahnt, »Solidarität« nicht einfach »mit Umverteilung gleichzusetzen« (Solidarität in der Wirtschafts- und Währungsunion, 94). Die allzu große Bereitschaft einiger deutscher Politiker, das Prinzip der Solidarität in der EU so zu verstehen, dass aus ihr eine umstandslose Haftungs- und Transferunion wird, ist weder mit den Gesetzen der EU vereinbar, noch kann solche Haltung helfen, den Reformstau in den meisten der Schuldnerländer zu überwinden und die dort dringend benötigten Reformen in Gang und umzusetzen. Ähnliches gilt für das Ausländerrecht. Auch hier musste insbesondere Deutschland die Erfahrung machen, dass es nicht genügt, 294 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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Ausländern in Deutschland Vorteile zu gewähren, die sie meistenteils in ihren Ländern nicht genießen, sondern dass das Gastland auch im Gegenzug Leistungen der Migranten zur Integrationsbereitschaft abfordern muss, wenn Integration gelingen und sich nicht eine Vielzahl von Parallelgesellschaften innerhalb des deutschen Staats- und Kulturraumes bilden soll. Das Problem der Integration und der relativen Homogenität einer Gesellschaft – eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine gelingende Demokratie (Kap. 1.4) – ist ja nicht das Problem der Rasse, wie es in Deutschland oft diskutiert wird, sondern des kulturellen Standards, der Bildung und Rationalität der Neubürger in der deutschen und europäischen Kulturgemeinschaft. Die europäische Kultur ist durch diese Faktoren und Werte geprägt und muss solche Werte und Standards auch von denen einfordern, die hier leben wollen. Schließlich auch das Problem der Solidargemeinschaft innerhalb der Generationen, der sog. Generationenvertrag: Die Politik eines ausgeglichenen Haushalts, die der ehemalige Finanzminister Schäuble vertrat, ist sicher ein solidarischer Schutz auch für die späteren Generationen, die man nicht durch eine überzogene Schuldenpolitik über Gebühr belasten dürfe. Ohnehin verbinden sich mit dem sehr unterschiedlichen demographischen Wandel in Deutschland und in der übrigen Welt erhebliche Probleme. Die Lebenserwartung in Deutschland ist wie in vielen Industriestaaten seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts im Durchschnitt um mehr als 35 Jahre gestiegen. Gleichzeitig hat sich aber die Geburtenrate in Deutschland radikal reduziert, »in den vergangenen 50 Jahren halbiert, die Höhe der Schulden hat sich hingegen vervielfacht« (Schuster / Reinhardt: Generationenvertrag, 11). Es ist klar, dass diese umgedrehte demographische Pyramide mit anwachsendem Schuldenberg darauf in der Zukunft noch eine Vielzahl von Problemen mit sich bringen wird. Wie kann eine immer kleiner werdende Bevölkerung von Erwerbstätigen einen immer größeren Anteil von Rentnern gut versorgen? Wahrscheinlich wird dabei in Zukunft wohl auch die in Kapitel 1.10 angesprochene Technizität eine entscheidende Rolle spielen in der Automatisierung und Roboterisierung von immer mehr Dienstleistungsprozessen. Noch dramatischer wirken diese Zahlen, wenn sie mit der Entwicklung der Armutsregionen dieser Erde verglichen werden. Allein in Afrika erwartet man in diesem Jahrhundert eine zweimalige Verdopplung der Bevölkerung auf über 2, dann über 4 Milliarden Men295 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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schen. In den schlimmsten Armutsregionen ist der Bevölkerungszuwachs am größten. Es ist von vornherein klar, dass dem Prinzip der Solidarität damit auch enge Grenzen gesetzt sind. »Wir können nicht allen helfen« lautet der Titel eines Buches des grünen Tübinger Bürgermeisters Boris Palmer, der als einer der ersten auch offen über die Grenzen der Belastbarkeit von Solidarität in Bezug auf die Migration aus den Armutsregionen nach Europa und insbesondere nach Deutschland zu sprechen wagte. Diese kontroverse Diskussion ist in vollem Gange und hat auch bereits zu einer starken Veränderung der Parteienlandschaft in Deutschland geführt.

Weitere theologische und rationale Dimensionen von Solidarität Der Begriff der Solidarität ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und vermehrt in unserer Zeit zu einem Zentralbegriff der Soziologie geworden. Aber fast alle jüngeren Publikationen klagen darüber, wie unklar und unscharf der Begriff sei. In der Tat haftet ihm ein Problem an: Wie soll begründet werden, dass der Mensch mit dem Menschen solidarisch sein solle? Durkheim sah das einfach als eine gegebene Tatsache an, dass der Mensch als moralisches Wesen eben auch solidarisch handele. Aber woher rührt solche Moral? Das bleibt auch bei ihm unklar. Der Begriff der Solidarität ist ein moderner Begriff, aber führt in der Tat alte theologische Erblasten mit sich. Die sozialistischen, kommunistischen Manifeste durchzieht die Vorstellung, dass der Mensch in seinem ursprünglich naturhaften Zustand sich solidarisch mit dem Mitmenschen zeige und der Sozialismus-Kommunismus diesen solidarischen Urzustand des Menschen wiederaufleben lasse. Aber dahinter steht eine höchst idealisierte Zustandsbeschreibung des Naturzustandes des Menschen. In den Urhorden der Menschheit tobte vielmehr – wie noch heute an den Primaten zu beobachten – ein brutaler Machtkampf der von Testosteron gesättigten Männchen um die Vorherrschaft im Familienclan und die Zeugungsbereitschaft der Weibchen sowie der Clans gegeneinander um Reviere und Nahrungsquellen – das schiere Gegenteil von Solidarität. Die Vorstellung von der ursprünglichen Harmonie der Urmenschen ist eher biblisch-theologischer Abkunft: die Paradies-Vorstellung. Insofern lebt in dem Begriff auch ein Mythos fort, der aber in der Geschichte der Menschheit mit ihren endlosen Kriegen und Grausamkeiten von Menschen gegen 296 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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Menschen keine reale Entsprechung hatte und wohl auch nie haben wird. Eine zweite theologisch-biblische Quelle der Solidaritätsforderung ist die Lehre von der Ursünde. So fordert der Philosoph Max Scheler, dass der Mensch neben seinen individuell zu verantwortenden Taten auch eine »Gesamtschuld« wie auch ein »Gesamtverdienst« mit seiner Person verbinde (Scheler: Der Formalismus in der Ethik (…), 501). Aber woher soll diese »Gesamtschuld« rühren? Sie ist eher einer theologischen Erblast als einer rationalen Argumentation geschuldet und somit die daraus abgeleitete ›Mitverantwortlichkeit‹ und Solidarität nicht wirklich rational begründet. Neuere soziologische Arbeiten zum Thema Solidarität versuchen daher auch explizit, den Begriff von solchen theologischen Erblasten frei zu halten und rein rational zu argumentieren. So entwickelt Ulf Tranow das Konzept einer »rationalen Solidarnormbildung«, die über eine »Rational-Choice-Theorie« funktionieren soll und im Wesentlichen so, dass solidarisches Handeln selbst einen Eigennutzen abwirft, also Eigeninteresse und Solidarität nicht im Konflikt miteinander liegen (Tranow: Das Konzept der Solidarität, 138 ff). Das setzt aber voraus, dass solidarische Handlungsformen bereits in der Gesellschaft wirksam sind, durch Lernen erworben werden können und dann selbst handlungsmotivierend wirken, weil gesellschaftlich applaudiert. Vielfach mag Solidarität in der Gesellschaft auch so wirken. Aber woher rührt diese schon vorweg wirksame Solidarität in einer Gesellschaft? Richard Rorty will von seinem Begriff der Solidarität alle theologischen und metaphysischen Begründungen fernhalten, hofft dabei aber zugleich, dass »ein Sinn für Solidarität intakt bleibt« (Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, 306). Was dann aber übrig bleibt, ist ein rein historischer Begriff von Solidarität: Er lässt uns »Solidarität als etwas sehen, das gemacht, nicht vorgefunden wird, das im Laufe der Geschichte erst hergestellt, nicht als ahistorische Wahrheit erkannt wird.« (Ebd., 314) Mit anderen Worten: Kulturgeschichte als letzte Begründung von Solidarität. Sie wurzelt nicht in irgendeiner angeblich solidarischen Natur des Menschen, sondern wird in einer Gesellschaft so vorgefunden, wie sie sich in dieser Gesellschaft herausgebildet hat. Für die westlich-christlichen Gesellschaft ist dabei natürlich zum einen das Christentum wirksam gewesen, das mit seinem Begriff von Nächstenliebe Formen und Traditionen solidarischen Handelns in der Gesellschaft gesetzt hat, die bis heute wirksam sind. 297 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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Zum anderen die Tradition der Arbeiterklasse mit ihren zumeist gewerkschaftlichen Organisationsformen für Solidarität. Nun hat sich deren Lage in den letzten Jahren stark verändert, und Solidarität ist vielfach auch ein Begriff geworden, der eher Privilegien älterer Arbeiter- und Angestelltenschichten schützen soll als Solidarität zum Beispiel mit der nachrückenden Generation garantieren. Insofern ist Solidarität heute auch ein, wie Rorty es nennt, »Beispiel machtvoller Rhetorik« geworden (ebd., 310). Was die christliche Dimension anbelangt, so leben wir heute in einer globalen Gesellschaft, deren Kohärenzbedingungen vollkommen andere sind als die in der jesuanisch-jüdischen Lebenswelt und auch in der dörflichkleinstädtischen des Mittelalters und der frühen Neuzeit in Europa. Zwar hat sich die Armutssituation in der heutigen Weltgesellschaft gegenüber 1990 erheblich verbessert. Die Zahl der Hungernden ist seit 1990 um 216 Millionen zurückgegangen. Aber immer noch über 800 Millionen in der Welt haben nicht genug zu essen und sind somit auf die Solidarität der reichen Länder mit genug Nahrungsmitteln angewiesen. 12 Solidarität ist ein Begriff, der immer auch die Eigeninteressen von Menschen mitberücksichtigen muss, und zu denen kann es gehören, friedliche Zustände auf der Erde zu erhalten und somit ausreichende Versorgung auch denen zur Verfügung zu stellen, die sie nicht selbst erwirtschaften können. Solidarität sollte dabei aber – gemäß den Werten der Rationalität – immer auch Hilfe zur Eigenhilfe sein und nicht Menschen dauerhaft entmündigen. Solidarität steht – wie alle Wertbegriffe – in einem komplexen Verhältnis mit den anderen und kann nicht isoliert verabsolutiert werden.

Friedfertigkeit Wenn wir den christlichen Wert der Friedfertigkeit behandeln, ist es sinnvoll, sich vorab auch in anderen Religionen nach diesem Begriff umzutun. Man kann verkürzt sagen: Der Mensch ist von Natur aus nicht friedfertig, jedenfalls nicht im christlichen Sinne, und die meisten Religionen sehen ihn auch nicht so. Insbesondere die Männer in der Urhorde sind nicht darauf geeicht, sich immer friedlich zu verhalten, sondern stehen in einem ständigen Konkurrenzkampf um die 12

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Friedfertigkeit

Alphaposition und die Begattungsbereitschaft der Weibchen, ebenso wie Horden und Stämme um beste Jagdgründe gegeneinander kämpfen. Das kann man noch in vielen Primatenverbänden so studieren. Für die archaischen Religionen, so schreibt es der Theologe und Religionswissenschaftler Hans-Werner Gensichen, ist der Krieg etwas durchaus Normales: »Krieg, Kampf, Konfrontation sind im Umkreis dieser Anschauungen nichts Ungewöhnliches. […] Friedlosigkeit ist sogar der Normalfall.« (Gensichen: Weltreligionen und Weltfriede, 19 f) Im Schamanismus hat sich sogar eine »numinose Sanktionierung des Kampfes herausgebildet […]: Zwischen allen Dingen und Wesen herrscht ein elementarer Widerstreit, ein FreundFeind-Verhältnis.« (Ebd., 21) Das ist nicht so weit entfernt von der vorsokratischen Auffassung des Heraklit: »Der Krieg ist Vater aller Dinge.« (Diels: Die Vorsokratiker, 27) Der Krieg: ein über den Menschen hinaus wirksames kosmisches Prinzip. In vielen afrikanische Religionen, so berichtet Gensichen, wird der Gott als eine Art Kriegshäuptling angebetet, der im Krieg voranschreiten und zum Sieg führen solle: »Du (Gott) bist unser Häuptling. Darum treten wir vor dich mit dem Gebet, im Krieg uns voran zu marschieren und uns zu führen.« (Zit. in Gensichen: Weltreligionen und Weltfriede, 26) Man mag bedenken, dass noch im Ersten Weltkrieg der deutsche Kaiser zu einem bereits zitierten ähnlichen Gebet aufrief: »Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.« Und: »Ein Mann mit Gott ist immer in der Majorität.« (Johann: Reden des Kaisers, 126 und 127) Fast alle Religionen neigen dazu, ›ihren‹ Gott als den überlegenen Sieghelfer in Schlachten anzusehen und seinen Beistand im Krieg zu erflehen. In vielen Religionen gehört Grausamkeit zum religiösen Ritual. Die Azteken in Mexiko hatten – nach unseren Maßstäben – besonders grausame Praktiken der Menschenopfer und führten Kriege, um Massen von Gefangenen für ihre Menschenopfer zu erbeuten zu Ehren des Sonnen- und Kriegs-Gottes Huitzilopochtli. Immer wird es dabei wohl auch um Macht gegangen sein: Macht der Azteken über andere Völker, Macht des Königs und der Priester, die solche Massenopferungen durchführten. Auch die meisten der sogenannten Weltreligionen sehen im Krieg eine normale Form menschlichen Verhaltens. Im Hinduismus gibt es die Vorstellung, dass die kosmische Ordnung in immer erneutem Kampf erobert werden muss, so durch die Göttin Durga im Kampf mit dem Büffelmonster Mahishasura. Dieser hat die Götter299 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte des Christentums und des Naturrechts

herrschaft an sich gerissen und stört die kosmische Ordnung. Der Sieg Durgas über Mahishasura stellt diese wieder her. Und die menschliche Welt? In dem Lehrgedicht »Bhagavadgita« lehrt der Gott Krishna den Anführer eines Heeres Arjuna, der zögert, in den Krieg mit seinen eigenen Verwandten um die Vorherrschaft einzutreten, dass er genau diesen Krieg führten muss, um damit seine Pflicht auf Erden zu erfüllen. Im »Yoga der Werke« verkündet Krischna dem zaudernden Arjuna: »Vollziehe dein dir zustehendes Werk, denn Handeln ist besser als Nichthandeln.« (Bhagavadgita: Karmayoga Gesang III, Vers 9): »vollziehe dein Werk als Opfer«. Arjuna muss also auf des Gottes Krischna Geheiß hin auch gegen seine Verwandten Krieg führen. Der Islam ist, wie wir bereits mehrfach ausführten, schon von seiner Anlage her und seinen Anfängen an eine Kriegsreligion. Mohammed einigt damit die verfeindeten arabischen Stämme, unterwirft und tötet auch seine Gegner in Mekka und erobert weite Teile der arabischen Halbinsel. Im Koran wird dieser Krieg Mohammeds gegen die Mekkaner als ein Sieg Allahs über diese gefeiert: »Gott hat euch doch in Badr zum Sieg verholfen« (Sure 3,123, auch 8,30). Der Koran ist voll von Aufforderungen, die »Ungläubigen« und Feinde Allahs zu vernichten, so die bereits zitierten Suren 2,191: »Und tötet sie (d. h. die heidnischen Gegner), wo (immer) ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben!«, Sure 9,5: »Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo (immer) ihr sie findet, greift sie, umzingelte sie und lauert ihnen überall auf!« Dem Tod können diese dann nur entgehen, wenn sie sich »bekehren, das Gebet verrichten und die Almosensteuer geben«, also selbst gläubig und tributpflichtig werden. Denn: »Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben.« Im Koran finden sich auch vereinzelt Stellen, die auffordern, Frieden zu stiften, so Sure 49,9: »Und wenn zwei Gruppen von den Gläubigen einander bekämpfen, dann stiftet Frieden zwischen ihnen!« Aber der Vers bezieht sich nur auf die »Gläubigen«, also zum Beispiel Sunniten und Schiiten, und nicht auf den Frieden zwischen Islam und Andersgläubigen. In diesen Kontext gehört auch das Gebot: »Kein Gläubiger darf einen (anderen) Gläubigen töten« (4,92). Das Internet ist voll von Eintragungen zur Friedlichkeit des Islam. Aber das sind fake news für die, die nicht selbst den Koran lesen. Der Leser mag selbst entscheiden, wie friedvoll eine Religion ist, die sich selbst als die »einzig wahre Religion« feiert (30,30) und 300 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Friedfertigkeit

zwar vom »Herrn der Menschen in aller Welt (als Offenbarung) herabgesandt […] in deutlich arabischer Sprache« (26,192–195), als »wahre Religion« (9,33) und letztlich einzig gültige Offenbarung. Wie versöhnlich ist eine Religion, welche Christen zu Ungläubigen abstempelt: »Ungläubig sind diejenigen, die sagen, ›Gott ist Christus, der Sohn der Maria‹« (5,17), welche Juden Lügner nennt (»Und unter denen, die dem Judentum angehören, gibt es welche, die immer nur auf Lügen hören« 5,41) und den Juden wie allen Ungläubigen auch schon mal die Hölle androht: »Gottes Fluch komme über die Ungläubigen!« (2,89), eine Religion, die die eigenen Frauen zu schlagen befielt, wenn sie sich »auflehnen«: »Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat« und »wenn ihr fürchtet, dass (irgendwelche) Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie« (4,34), auch schon mal mit hundert Peitschenhieben bei sogenannter »Unzucht«, dies allerdings auch für Männer (24,2). Der Koran lehrt den Islam als eine Religion, welche die »Ungläubigen ausrotten« will, »um der Wahrheit zum Sieg« zu verhelfen (8,7), und die immer wieder verkündet und befielt: »Prophet! Führe Krieg gegen die Ungläubigen« (9,73), »Ihr Gläubigen! Kämpft gegen diejenigen von den Ungläubigen, die euch nahe sind«, also eure Nachbarn (9,123). »Und kämpft gegen sie, bis niemand (mehr) versucht (Gläubige zum Abfall vom Islam) zu verführen, und bis nur noch Gott verehrt wird!« (8,39) – also Allah. Wer eine solche Religion friedlich nennen will, versteht nicht die Sprache, die sie spricht. Allerdings weisen Islam-Forscher wie Bassam Tibi auch zu Recht darauf hin, dass der aggressive islamische Fundamentalismus ein Phänomen der Moderne ist: »Das Scheitern der islamischen Reform und die damit verbundene Unfähigkeit der Muslime, ›den sozialen Wandel kulturell zu bewältigen‹, resultierte letztendlich im Aufstieg des islamischen Fundamentalismus der Gegenwart.« (Tibi: Islamischer Fundamentalismus, 17) Es gab ja durchaus auch Phasen der friedlichen Kooperation des Islam mit dem Christentum und dem jüdischen Glauben, wie die Herrschaft der sunnitischen Almoraviden in Südspanien bis zu ihrer Vertreibung dort (Halm: Das Reich der Almoraviden, in Gehler/ Rollinger: Imperien I, 568 f). Gleichwohl bleibt der Befund: Mohammeds Koran lehrt nicht in erster Linie eine Religion des Friedens und der Nächstenliebe, sondern des Kampfes gegen die ›Ungläubigen‹. Dagegen Jesus von Nazareth: Er war zwar ein Revolutionär in 301 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte des Christentums und des Naturrechts

seiner Zeit, aber eben doch mit friedlichen Mitteln. Die Friedenspflicht ist eine seiner Hauptbotschaften: »Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.« (Mt 5,9) Im selben Evangelium lehrt Jesus bei einer Ohrfeige auch noch die andere Backe hinzuhalten. »wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.« (Mt 5,39) Von Jesus überliefert Matthäus allerdings auch den irritierenden Satz: »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.« (Mt 10,34), den er im Kontext seiner Gefolgschaftsbegründung ausspricht. Er mahnt allerdings im selben Evangelium auch einen seiner Gefolgsmänner ab, sein Schwert nicht gegen Judas und die Verfolger zu gebrauchen: »Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen.« (Mt 26,52) Aufs Ganze gesehen hat Jesus von Nazareth zweifellos eine Religion der Liebe und des Friedens gepredigt, die Parallelen mit dem Buddhismus aufweist. In diesem Sinne grüßt auch Paulus die Gemeinde in Rom: »Der Gott des Friedens aber sei mit euch allen.« (Röm 15,33) Dass beide Religionen im Verlauf der Geschichte als Ideologien gewaltsamer kriegerischer Expansion benutzt wurden, steht auf einem anderen Blatt. Wie aber kam es zu dieser Verkehrung der ursprünglich christlichen Botschaft? Wie war es möglich, eine so klare Liebesreligion in eine der Expansion und Unterwerfung, ja Auslöschung ganzer indigener Völker umzuformen? Der Schlüssel zu diesem Missbrauch liegt in der christlichen Theologie des Heidentums. Es ist die Lehre, dass die Heiden wegen ihres Götzendienstes von den Christen bestraft werden müssten, wie sie Theologen wie Aegidius Romanus und Juan Ginés de Sepúlveda formuliert haben und damit die spanischen Eroberer zur Verknechtung und Tötung der indigenen Völker Mittel- und Südamerikas einluden (Höffner: Christentum und Menschenwürde, 290 ff). Es waren dann auch christliche Theologen wie Bartolomé de las Casas, der sich mit großer Energie für den Schutz der Indianer einsetzte. Auch die Jesuiten versuchten, die Ausbeutung der Indianer wenn nicht zu verhindern, so doch abzumildern. Sie wurden von den Portugiesen aus diesem Grund mehrfach aus ihrer damaligen Kolonie Brasilien verwiesen. Die christliche Religion musste im Laufe der Geschichte für eine Vielzahl von Verbrechen als Deckmantel herhalten. Daraus hat sie sich nicht selbst befreit. Dass die ›christlichen‹ Religionskriege been302 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Friedfertigkeit

det wurden, dass seit dem späten 18. Jahrhundert keine ›Hexen‹ mehr verbrannt wurden, dass keine Wissenschaftler mehr gefoltert wurden, wenn sie behaupteten, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, war nicht der jesuanischen Botschaft der Friedfertigkeit zuzuschreiben, sondern der Aufklärung. Sie hat solchen Aberglauben abgeschafft. Der Humanismus und die Aufklärung haben auch eine Reihe von Theorien des ewigen Friedens entwickelt, denen allerdings kein dauerhafter Erfolg beschieden war. Erasmus von Rotterdam lässt in seinem Traktat aus dem Jahre 1517 den Frieden wie einen Engel selbst sprechen und sich beklagen, dass entgegen der Botschaft Christi gerade unter Christen der Krieg tobt. Er macht vor allem die Fürsten dafür verantwortlich und ermahnt sie: »Euch Fürsten rede ich an […] Erkennt die Stimme eures Königs, die euch zum Frieden ruft.« (Zit. in Raumer: Ewiger Friede, 246) Sebastian Franck hält den Krieg für »viehisch, wider die Natur und Vernunft« (ebd., 257). Der französische Mönch Émeric Crucé veröffentlichte schon 1623 einen Friedensplan unter dem Titel »Der Neue Kineas« (»Le Nouveau Cynée«), der vorsah, dass die Fürsten Europas eine ständige Botschafterversammlung einberufen, welche die Streitigkeiten auf friedlichem Wege und durch Schiedsspruch beilegen solle, eine Idee, wie sie im Völkerbund und in der UNO wiedergeboren wurde. Ähnliche Ideen hegten William Penn mit dem Plan von 1693, einen europäischen Reichstag zur Friedenssicherung zu gründen, und Jeremy Bentham mit seinen Grundsätzen für Völkerrecht und Frieden von 1786. Besondere Berühmtheit erlangte Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« von 1795, die über die Konstruktion einer republikanischen Staatsordnung und eines diesen transzendierenden Völkerbundes den »ewigen Frieden« herstellen wollte. Diesen zu fordern und zu bilden sei ein Gebot der Vernunft und der moralischen Gesinnung, so Kants im zweitem Anhang über die »Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts« (Raumer: Vom ewigen Frieden, 454 ff). Aber der Mensch – so muss man wohl leider sagen –, ist weder ein rein vernünftiges noch moralisches Wesen, sondern voll von Aggressionen und Selbstbehauptungsintentionen, die sich allererst im 19. und 20. Jahrhundert auf eine bis dahin in der Geschichte ungeahnt brutale Weise entluden. Erst im 19. Jahrhundert wurde ja der Kontinent Afrika von den europäischen Mächten unterworfen und unter ihnen verteilt, der sogenannte »scramble for (Balgerei um) 303 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

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Afrika«. Zwei Weltkriege und die Massenvernichtungen der totalitären »politischen Religionen« mit 6, 5 Millionen ermordeten Juden durch den Nationalsozialismus und über 20 Millionen Toten durch den Stalinismus markieren eine neue Dimension des Massenmordes, wie es die Menschheitsgeschichte zuvor nicht kannte. Sie sprechen den Theorien vom »ewigen Frieden« Hohn. Insgesamt sind im 20. Jahrhundert über 100 Millionen Menschen in Kriegen umgekommen, nach dem Zweiten Weltkrieg bis 2010 in mehr als 20 Kriegen mehr als 25 Millionen Tote. 13 Und unsere Gegenwart? Das von dem Konfliktforscher Frank Pfetsch gegründete »Konfliktbarometer« zählt allein zwischen 1992 und 2016 um die 290 kriegsähnliche Konflikte, viele davon aus religiös-machtpolitischen Gründen. Die meisten dieser kriegsähnlichen Konflikte gehören zur Klasse der »neuen Kriege«, wie sie Herfried Münkler beschrieben hat, ›wilde Kriege‹ vielfach enthemmter Milizen, die oft zu den Rationalitätsverlierern gehören, aber sich mit modernen Waffen und pseudoreligiös aufrüsten (Münkler: Die neuen Kriege). Unsere Gegenwart ist voll von Publikationen, die einerseits in den Religionen eine Verhinderung des Friedens der Völker sehen, wie Richard Dawkins, andererseits aber auch ein Mittel, diesen zu erreichen, so Hans Küng in einem Beitrag im Rahmen von »Religion als Friedensmacht« (in: Mokrosch / Held / Czada: Religionen und Weltfrieden, 23 ff). Nachdem Küng zunächst beklagt, in welchem Ausmaß Politik und auch Kirchen bei der bisherigen Friedenssicherung in Europa versagt hätten, wendet er sich der Zukunft zu und fordert hier einen »Paradigmenwechsel«, »eine Mentalitätsveränderung« in Richtung auf »regionale Verständigung, Annäherung und Versöhnung«, wie sie beispielhaft zwischen Deutschland und Frankreich stattgefunden habe (ebd., 29). »Religionen können die ethische Grundlage für eine gemeinsame Friedensvision zum Bewusstsein bringen«, da sie viele »Grundwerte« teilten wie »Menschlichkeit und Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit und Gewaltlosigkeit« (ebd., 30). Aber solche universalen »Grundwerte«, so sahen wir, teilen die Religionen gerade nicht. Im Gegenteil, sie haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon. Und somit erschweren die Religionen eher das friedliche Miteinander der verhttps://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Kriegen#Große_Kriege_seit_dem_Zwei ten_Weltkrieg_(mit_Opferzahl)

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Friedfertigkeit

schiedenen Religionsgemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft wie auch der Völker untereinander, als dass sie dieses förderten. Einen realistischen Blick auf die Religionen wirft Stephan Schlensog, wenn er schreibt, es sei nicht zu übersehen, »dass Religionen auf ganz unterschiedliche Weise auch Machtsysteme sind«, denen es auch darum ging und geht, »sich zu behaupten, und, sehr oft, gegen Konkurrenten und Widersacher durchzusetzen. Und dieser Prozess der Selbstdefinition und Selbstbehauptung lief je nach Religion und nach historischem Kontext mehr oder weniger friedlich, mehr oder weniger konfliktreich ab.« (Schlensog: Gewalt und Religion. Ein globales Problem, 163 f) Wir machen es uns also zu einfach, wenn wir in der religiös motivierten Gewalt nur ihren politisierten Missbrauch sehen. Noch einmal Schlensog: »Insofern waren und sind Religionen zu allen Zeiten auch politische Größen, die nicht nur zu bestimmten politischen Zwecken missbraucht wurden, sondern die nicht selten auch ihre eigenen Machtansprüche mit Gewalt durchgesetzt haben […].« (Ebd., 164) Diese Sicht der Dinge wird auch durch die Politikwissenschaft gestützt. Das »Handbuch internationaler Politik« verzeichnet unter dem Stichwort »Islamisch-westliche Konfrontation«: »Ohne Zweifel hat die ›Re-islamisierung‹ der letzten Jahre dazu geführt, dass der Konflikt in Teilen der islamischen Welt wieder stärker in der islamischen Dimension gesehen wird. Damit sind – zumindest verbaler – Radikalismus, Unversöhnlichkeit und Militanz in dem Konflikt verschärft worden. Die Dimension der Unlösbarkeit schwingt darin ebenso mit wie die Aufforderung zu Gewalt und ›Endlösung‹.« (Woyke: Handbuch internationaler Politik, 227). Das wurde vor 1993 geschrieben, als es die islamistischen Terroranschläge von New York, Paris, Brüssel, London, Berlin u. a. noch gar nicht gab. Neuerdings hat Aleida Assmann in einem lesenswerten Buch über »Menschenrechte und Menschenpflichten« dafür geworben, Qualitäten der Friedenssicherung und humanen Gesellschaft neu zu beleben. Leitbegriffe für sie sind dabei wie in der Katholischen Soziallehre die »Anerkennung« des Anderen in seiner »Würde«, der »Respekt« vor dem Anderen, aber auch traditionelle Tugenden wie »Höflichkeit«, »Nächstenliebe«, kurz: Erziehung zur »Zivilität« einer Person zum friedlichen Miteinander in der Gesellschaft. Aleida Assmann greift dabei ebenso auf die altägyptischen Weisheitslehren wie auf die christliche Religion und auf die höfische Tradition zurück. Ein guter Garant für Friedfertigkeit ist eine zwar friedfertige, 305 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte des Christentums und des Naturrechts

aber wehrhafte Gesellschaft, die ihre eigene zivile Rechtsordnung auch gegen religiöse Übergriffe zu verteidigen weiß und auch nach außen für diese einsteht, wenn sie angegriffen wird. Sicher ist es nicht falsch, gerade auch an die Bereitschaft im Islam und anderen Weltreligionen zu appellieren, Konflikte friedlich zu lösen. Hans Küngs Initiative einer »Stiftung Weltethos« kann dem dienen und verdient Respekt. Aber man muss auch die Realitäten erkennen und sich nicht die Welt theologisch schönreden. Eine naive Form der Harmonisierung oder falsche Form von Toleranz schürt nur die Bereitschaft, diese zu missbrauchen. Eine zivile Gesellschaft, die die Rechte der Religionen und ihrer Angehörigen achtet, ist in erster Linie keine religiöse Institution, sondern eine des rationalen Staates und seiner Rechtsordnung und Polizeigewalt sowie der Politiker, diese auch durchzusetzen (siehe Kap. 1.8, 206 ff). Alle Bürger eines demokratischen Staates haben die zugrunde liegende Rechtsordnung zu achten und ihren Regeln zu folgen. Nichts, auch nicht die Scharia, steht über dem zivilen Staat. Ein starker ziviler Staat ist der beste Garant für eine friedliche Gesellschaft auch mit heterogenen Kulturen und Religionen in ihm.

Schutz der Schöpfung, Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit – englisch: sustainability – ist kein ursprünglich religiöser Begriff. Er wurde bereits Anfang des 18. Jahrhunderts von Hans Carl von Carlowitz für die Forstwirtschaft geprägt mit der Idee, Abholzung und Nachpflanzung von Bäumen im Gleichgewicht zu halten (Grober: Entdeckung der Nachhaltigkeit, 13 ff). Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff dann zu einem Leitbegriff der Ökologie und verband sich hier auch 1983 mit dem religiösen Motiv einer »Bewahrung der Schöpfung«. 14 Zwischen Nachhaltigkeit und Rationalitätskultur besteht von Anfang an ein Wertekonflikt: Im Gegensatz zu den meisten sog. ›primitiven‹ endogenen Kulturen hat die Rationalitätskultur in ihrer Expansionspolitik nie auf Nachhaltigkeit geachtet. Die antike wie neuzeitliche Rationalitätskultur hat ohne Rücksicht Minen ausgebeutet, Wälder abgeholzt für den Schiff- wie Städtebau und zur Wärmeerzeugung und damit schon in der Antike ganze Landstriche wie die 14

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Schutz der Schöpfung, Nachhaltigkeit

östliche Adriaküste verkarstet. Zur eigentlichen Großoffensive gegenüber der Natur kam es aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Abholzung riesiger Territorien in den Regenwäldern Südamerikas und Asiens, der Überfischung der Meere und der Ausplünderung der Bodenschätze Afrikas, letzteres insbesondere auch durch asiatische Großmächte wie Indien und China. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts entstand dagegen eine massive ökologische Bewegung, die nachdrücklich auf die »Grenzen des Wachstums« hinwies – so der Titel einer Studie des sog. Club of Rome aus dem Jahre 1972 – und die auch konkrete Berechnungen vornahm, wie lange die Vorräte der Erde bei dem gegenwärtigen Rohstoffverbrauch halten würden. Einer der großen ökologischen Kritiker von einst und Mitautor von »The Limits to Growth«, Jorgen Randers, gibt heute eine deutlich abgemilderte Zukunftsprognose ab für die Weltgesellschaft in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Nach Randers wächst die Weltbevölkerung bis ungefähr 2040, erreicht dann einen Höhepunkt von über 8 Milliarden, um dann kontinuierlich abzunehmen. Randers prognostiziert einen Höchststand der Erwerbstätigen, darunter nun auch viele Frauen, zwischen 2020 und 2030, geht davon aus, dass das weltweite BIP langsamer wachsen, weniger ökologische Schäden anrichten wird, viele Mittel aber dann auch in die Reparation ökologischer Schäden fließen werden (Randers: 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome, 87 ff). Einen direkten Kollaps der Weltgesellschaft und Zusammenbruch ihres Wirtschaftssystems sieht Randers nicht heraufziehen. Gleichwohl sind insbesondere die Daten der Klimaerwärmung dramatisch und deren Folgelasten werden die Menschheit wohl in eine bis dahin nicht gekannte Situation des Krisenmanagements stürzen. Was kann man dagegen tun? Die fundierteste Studie zum Thema im deutschen Sprachraum ist das Buch von Felix Ekardt: »Theorie der Nachhaltigkeit«. Ekardt diskutiert über Hunderte von Seiten sowohl die philosophischen wie auch juristischen Aspekte einer Nachhaltigkeitstheorie. »Die vordergründige Hauptursache für fehlende Nachhaltigkeit in puncto Klima und Ressourcen, etwa in Gestalt des übermäßigen Gebrauchs fossiler Brennstoffe, ist also nicht mangelndes Wissen. Sie ist im Grunde erschreckend einfach, und zwar weltweit: Jene Hauptursache ist der im Okzident hohe und auch in den Schwellenländern steigende, ressourcenintensive Wohlstand.« (Ekardt: Theorie der Nachhaltigkeit, 131) Es ist also der Faktor »Eigennutz« im Verbund mit dem durch die 307 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Werte des Christentums und des Naturrechts

Rationalitätskultur gesteigerten Wohlstand, der das Problem der Nachhaltigkeit allererst erzeugt hat und gegen den es so leicht kein Gegenmittel gibt. Der Verfasser führt denn auch eine Vielzahl von psychologischen Motiven auf, die das Abweichen vom Wachstumsund Verbrauchspfad eher verhindern als erleichtern, darunter die »Neigung zu Gewohnheit, Bequemlichkeit, Verdrängung, Geltungsdrang, Selbsterhaltung« u. a. (ebd., 135). Ekardt macht auch klar, dass eine einfache »Kapitalismuskritik« alten Schlages hier nicht weiterführt. Es handelt sich um ein »Kollektivproblem«, an dem wir alle mehr oder weniger durch jeden Auto-, Bahn- oder Flugzeugtransport teilhaben. Wir alle bewegen uns im gängigen Zivilisationsmuster einer technisch industriellen Gesellschaft, und die ist verbrauchsintensiv, auch bei reduziertem Stromverbrauch oder sonstiger Ressourceneinsparung. Ekardt bemüht sich über viele Seiten, eine »Gerechtigkeitstheorie« herauszuarbeiten, die eine gerechte Verteilung der Ressourcen begründen könne, und kritisiert dabei Autoren wie Rorty, Rawls, Habermas mit ihren Versuchen, universal gültige Standards der Gerechtigkeit einführen zu wollen. Selbst wenn man Prinzipien der normativen Vernunft nicht als etwas Substanzhaftes, sondern »schlicht als Befähigung Wertungsfragen mit Gründen zu entscheiden« auffasst (ebd., 206), kommt man aber aus der abendländischen Bindung solcher Normen und Werte nicht heraus. Letztlich landet unser Autor selbst bei dem Argument, dass »Wertungsfragen mit Gründen entschieden« würden, mithin alle Kulturen auf solche Begründbarkeit von Wertungen festgelegt und festzulegen seien. Also, so folgert Ekardt, seien »Objektivität, Rationalität und Universalität in normativen Fragen und damit auch eine normative Theorie der Nachhaltigkeit möglich« (ebd., 220). Aber im Grunde hat er sich hier selbst in einer logischen Falle verfangen: Wenn zwar alle Sprachen und Kulturen irgendeine Form von kausaler Begründung kennen, so noch lange nicht im Maßstab unserer ›Objektivitäts‹- und ›Rationalitäts‹kriterien. Die sind daher auch nicht in ihrer ›universalen‹ Gültigkeit bestätigt. Das wäre das logische Gegenargument gegen eine universale Nachhaltigkeitstheorie, wie sie Ekardt gefunden zu haben glaubt. Das empirisch-psychologische Gegenargument gegen eine universale Nachhaltigkeitspraxis sind eben jene psychologischen Barrieren, die der Verfasser selbst so anschaulich beschreibt. Gleichwohl ist es natürlich nötig und nützlich, im Sinne der Nachhaltigkeitstheorie zu argumentieren, für sie zu werben und auf 308 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Schutz der Schöpfung, Nachhaltigkeit

sie hin auch seinen Lebensstil umzustellen. Das ist beim Stand der technisch-industriellen Gesellschaft selbst ein Gebot der Rationalität. Dies ist kein Argument gegen die Technizität, wie in Kap. 1.10 ausgeführt, sondern eines für sie. Ohne eine hoch entwickelte und intelligente, aber nachhaltig programmierte Technizität werden die Probleme einer fortgeschrittenen technischen Industriegesellschaft nicht zu lösen sein. Auf einem solchen Wege befinden sich ja auch einige Gesellschaften. Es ist für das Überleben dieser Zivilisation lebenswichtig, Ressourcen sparsam zu nutzen, Dinge nicht auf Verschleiß, sondern auf Haltbarkeit hin zu produzieren, recyclebares Material in der Produktion wiederzuverwenden und den Plastikkonsum durch abbaubare Materialien zu ersetzen, zum Beispiel Plastikteller durch Teller aus gepressten Palmblättern, die jede Kuh verdauen und die Natur kompostieren kann. Dazu gibt es auch bereits eine Fülle von Literatur u. a. von der Bundesregierung selbst. 15 Vermutlich werden diejenigen Gesellschaften die Folgelasten der Zivilisation um so besser schultern und bewältigen können, deren innere zivile Ordnung möglichst intakt und nicht durch kulturelle Konflikte anderer Art überlagert und gestört ist. Das bringt uns auf die letzte der drei großen Wertefamilien, den Patriotismus und den Nationalstaat.

https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Infodienst/2017/01/2017-01-11Nachhaltigkeitsstrategie/2017-01-10-Nachhaltigkeitsstrategie_2016.html

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Kapitel 3 Patriotische Werte

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3.1 Patriotismus

Zusammenfassung (1) Patriotismus ist ein Grundwert und meint die emotionale Verbundenheit eines Bürgers mit seinem Land. (2) Patriotismus spielt bereits eine wichtige Rolle in der Antike: Bei der Verteidigung der griechischen Freiheit gegen die Perser und beim Aufstieg Roms zu einer Weltmacht. (3) Im deutschsprachigen Kulturraum taucht der »amor patriae«, also der ›Patriotismus‹, im 16. Jahrhundert auf in der ambivalenten Bedeutung von: Opferbereitschaft für das Vaterland, aber auch Warnung gegenüber einem aggressiven Nationalismus. (4) Ein »Patriot« in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist ein generell am Fortschritt des Staates und der Menschheit Interessierter. (5) Patriotismus wird Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Reaktion auf die Napoleonische Invasionspolitik umkodiert zu einem Programm des Nationalismus, zum Teil verbunden mit dem Hass auf den Eroberer und die Franzosen. Dieser aggressive Patriotismus bestimmt weitgehend die europäische Politik im 19. und auch 20. Jahrhundert mit seinen zwei Weltkriegen. Zum Patriotismus gehört aber solcher Fremdenhass nicht zwangsläufig. (6) Die deutsche Nachkriegszeit ist besonders schwer belastet einerseits von der Teilung Deutschlands, andererseits von der Kriegsschuld und dem Erbe des Holocaust. Dolf Sternberger und Jürgen Habermas versuchen dieser Situation mit einem deutschen »Verfassungspatriotismus« Rechnung zu tragen, allerdings in ganz unterschiedlicher Bedeutung. (7) Ein deutscher Patriot anderer Art ist Martin Walser, der noch in der Teilung und vor der »Wende« für ein friedliches vereinigtes Deutschland plädiert.

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Patriotismus

Warum ist Patriotismus ein Grundwert? Alle Menschen werden – und wenn auch heute vielfach mit technischer Hilfe – geboren, haben also bestimmte Eltern, kommen an einem bestimmten Ort der Erde zur Welt, den sie als ihre erste Heimat empfinden, lernen dort ihre erste Sprache, die Muttersprache, wachsen möglichst unter guten Lebensbedingungen dort auf, gehen in den Kindergarten, zur Schule und genießen so schon in der Jugend eine Vielzahl von Annehmlichkeiten und Sicherheiten, die ihnen der Staat bietet, in dem sie geboren wurden und aufwuchsen. Der Nationalstaat als Vaterland ist in Europa auch ein Ort der Demokratie und Selbstbestimmung, der die Gleichheit vor dem Gesetz und die Sicherheit des Bürgers garantiert und die Kranken- und Altersversorgung regelt –, das alles sind Gründe, sich dem Vaterland, in dem sich solches ereignet, emotional verbunden zu fühlen: Das Vaterland als ein patriotischer Grundwert des menschlichen Lebens. Natürlich sind das auch ideale Lebensbedingungen in einem geordneten zivilen Staat. Viele Menschen wohnen in Armutsregionen der Erde, in Kriegsgebieten oder sind auf der Flucht. Solche Mangelsituationen bedeuten aber, dass gerade für diese Menschen Heimat und Geborgenheit in einem sicheren Staatsgebilde einen Wunschwert darstellen. Viele machen sich ja auf den Weg, um eine geborgene Lebenssituation zu suchen und für sich und die eigene Familie zu finden. Patriotismus meint die emotionale Verbundenheit mit einem Land, in dem man Heimat gefunden hat, dem man viel verdankt und in dem man sich auch historisch aufgehoben fühlt. Das Land, für das man Patriotismus fühlt, ist in Europa immer ein Nationalstaat: Deutschland, Österreich, die Schweiz, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Niederlande, Belgien, England, Polen, Russland oder welcher Staat auch immer. Dass in einigen dieser Nationen – in Deutschland insbesondere –, die emotionale Verbundenheit mit dem Staat auch gestört ist, mithin der Patriotismus gebrochen, ist ein besonderes Thema in diesem Zusammenhang, das aber die grundsätzliche Bindung von Menschen an ihr Vaterland nicht im Allgemeinen in Frage stellt und in den meisten Ländern ja auch – bei aller nationalen Selbstkritik – nicht in Frage gestellt wird. Auf die besondere deutsche Situation kommen wir eingehend zurück.

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Begriff und Geschichte des Patriotismus

Begriff und Geschichte des Patriotismus Der Begriff ›Patriotismus‹ ist abgeleitet von griechisch »patriotes« und dies von griechisch »patrios«, ›zu den Vätern gehörig‹. Das Wort bezeichnet im Griechischen einen ›Landsmann‹ und ›Einheimischen‹ auch über die eigene Polis hinaus, also einen Griechen, aus welcher Herkunftsstadt auch immer (Hist. Wb. Phil., Patriot, Sp. 207). Schon die Griechen waren stolz auf ihre Poleis und das griechische Vaterland insgesamt, dies vor allem in der Selbstbehauptung der griechischen Freiheit gegen die Perser. Perikles preist Athen als die »Bildungs- und Erziehungsstätte« für ganz Hellas (Kap. 1.4, 101). In der Frühzeit Roms spielte die Liebe zum Vaterland – »amor patriae« – eine zentrale Rolle für die Selbstbehauptung und den Aufstieg Roms, wie sie der römische Historiograph Livius in einer Vielzahl von Heldengeschichten berichtet: So die Legende des Mucius Scaevola, der die Belagerung Roms durch den Etruskerkönig Porsenna dadurch unterbrach, dass er in dessen Lager eindrang und dort eine Probe der Kampfentschlossenheit der Römer abgab, indem er seine Hand in eine lodernde Flamme hielt, um so die Furchtlosigkeit und Belastbarkeit eines römischen Kriegers zu demonstrieren. Der erschrockene Etruskerkönig sei daraufhin friedlich abgezogen (Livius 2, 12–15). Patriotismus wird so schon in der Antike auch als eine Art Opferbereitschaft für den Staat gedeutet. Als solche konnte sie in der Geschichte auch missbraucht werden. Das gehört zum problematischen Erbe des Begriffs. Im deutschsprachigen Kulturraum taucht der »amor patriae«, also der ›Patriotismus‹, im 16. Jahrhundert auf und dies in durchaus ambivalenter Bedeutung: Zum einen warnt bereits Erasmus von Rotterdam im 16. Jahrhundert vor einem aggressiven Nationalismus als Quelle von Kriegen in Europa. Für ihn stand fest, »daß das Wort ›Vaterland‹ (patriae vocabulum) ein gewichtiger Grund dafür sei, daß ein Volk ein anderes zu vernichten trachtet.« (Erasmus von Rotterdam: Ausgewählt Schriften, Bd. V, 431) So würden die »Namen von Ländern mißbraucht, um den Haß zu schüren […] Der Engländer ist der Feind des Franzosen aus keinem anderen Grunde, als weil er Franzose ist. Der Schotte ist dem Briten feind, aus keinem anderen Grund, als weil er Schotte ist. Der Deutsche ist dem Franzosen feind, der Spanier beiden. Oh Verkehrtheit!« (Ebd., 429) Eine hellsichtige Warnung also im Prozess der Nationenbildung vor dem darin enthaltenen Aggressionspotential. 315 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Patriotismus

Zum anderen verbindet sich aber mit der Liebe zum Vaterland die Bereitschaft, dieses zu verteidigen und für es zu kämpfen, auch bis zum eigenen Tode. So schreibt der Mansfelder Kanzler Georg Lauterbeck in seinem »Regentenbuch« mit Rückgriff auf Homer: »So kan auch nichts ehrlichers geschrieben werden / denn da er [Homer] saget / es könne einem nichts auff erden glückseligers widerfaren / denn so er für sein Vaterland streittet / und in solchem streit ehrlich vor den feinden umbkommet« (zit. in Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, 35). Nach Lauterbeck ist ein Bürger seinem Vaterland schuldig, »sein Vaterland trewlich […] schützen« zu helfen und dafür auch »sein leib und gut« einzusetzen (ebd., 30). In der Literatur der Zeit wird das zu einem gängigen Topos: »Häufig illustriert mit klassischen Exempeln aus der antiken, insbesondere römischen Geschichte galt der patriotische Tod für das Vaterland als die höchste Tugend des Bürgers.« (Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, 66) Auch die Abwehr der muslimischen Türken von Europa 1566 und 1606 wurde in diesem Sinne als ein Akt der patriotischen Vaterlandsverteidigung gesehen (ebd., 240 ff). Die Vaterlandsliebe wird darüber hinaus auch gepriesen als ein Fundament guter Herrschaft, hatte also auch die Funktion einer »Macht- und Verhaltenskontrolle der Fürsten« (ebd. 53). Man sieht bereits aus dieser Frühzeit der deutschen Geschichte des Wertes ›Patriotismus‹ dessen Ambivalenz: einerseits positive Bindung an den eigenen Staat und darüber hinaus: an das christliche Europa verbunden mit Hilfs- und Opferbereitschaft, andererseits – im Sinne eines aggressiven Nationalismus – auch Gefahrenquelle für den Frieden. Im 18. Jahrhundert erlebt der Begriff des Patriotismus dann eine Blütezeit in Deutschland und ganz Europa. Es ist ein »Aufklärungspatriotismus« der bürgerlichen Gesellschaft, die sich sozialen und kulturellen Aufgaben widmet, insbesondere auch der Verbesserung ökonomischer Bedingungen der Landwirtschaft, und somit im Kontext einer Rationalitäts- und Fortschrittskultur gesehen werden muss (Kronenberg: Patriotismus in Deutschland, 75 ff). »Der ›Bürger‹ und der ›Patriot‹ waren im Bewusstsein der deutschen ›Modernisierungselite‹ des späteren 18. Jahrhunderts keine nationalen Charaktere, sondern allgemeingültige Ausprägungen des aufgeklärten, mündigen, gemeinnützig denkenden und, wo immer es ihm möglich war, tugendhaft handelnden Menschen.« (Ebd., 86) Das ist auch in der Schweiz ähnlich. Auch dort entsteht Mitte des 18. Jahrhunderts ein »ökonomischer Patriotismus als gesamtschweizerische Bewegung«, 316 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Begriff und Geschichte des Patriotismus

zugleich Grundlage der Nationenbildung der »Helvetischen Republik« 1798 (Böning: Patriotismus … in der Schweiz, 319 und 326). Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren in England »moralische Wochenschriften« wie »The Tatler«, »The Spectator« und in Hamburg das Magazin »Der Patriot« erschienen, in denen christliche Werte und Tugenden wie auch Themen des ökonomischen Fortschritts einem reflektierenden Bildungsbürgertum wie auch dem aufgeklärten Adel dargeboten wurden und in denen der aufgeklärte Patriotismus noch als eine universale Menschheitsaufgabe gesehen wurde. »Der ›aufgeklärte‹ Mann war der wahre Bürger und der wahre Patriot; er handelte aus Vernunft und Gemeinsinn, zeigte sich engagiert für das Nützliche und der Menschheit Dienende und war überzeugt von der Identität des wohlverstandenen individuellen Interesses mit dem Gesamtinteresse.« (Kronenberg: Patriotismus in Deutschland, 84 f) Darüber hinaus entwickelte hier das patriotische Bürgertum einen Begriff von Freiheit und bürgerlicher Gleichheit, der die ständische Gesellschaftsordnung relativierte und auf eine moderne gesetzliche Gleichstellung hinarbeitete, aber – wie Immanuel Kant – die Untertanenrolle im absolutistischen Staat selbst noch nicht in Frage stellte. Im Kreise dieser Patrioten wurde auch die Französische Revolution zunächst begeistert begrüßt und auch Napoleon als Befreier gepriesen. Der ließ sich ja auch selbst zunächst als Friedensfürst feiern. Auf dem am 14. Juli 1801 in Paris gefeierten Friedensfest ließ er verkünden: »Die Zwietracht schweigt, die Parteiungen sind zusammengeführt […] Der kontinentale Frieden ist durch Mäßigung geschlossen worden.« Das Manifest wurde bereits am 13. Juli 1801 im »Moniteur« veröffentlicht (Vietta: Nationalisierung und Europäisierung, 10). Hölderlin kannte es wahrscheinlich aus dieser Quelle. Er pries Napoleon in seiner Hymne »Brod und Wein« als einen Friedensbringer und »Fürsten des Festes« wie auch in seiner Ode an »Buonaparte« als ein Genie, welches das Gefäß des Gedichts gar nicht zu fassen vermöge. Und wie er sah die Mehrzahl der Intellektuellen Europas Napoleon zunächst als einen Friedensfürsten und Freiheitsbringer für Europa. In dem Maße allerdings, wie Napoleon das Freiheitsprojekt der Französischen Revolution zu einem imperialistischen Projekt französischer Vorherrschaft umwidmete, kam es auch zum Umschwung von der Franzosenbegeisterung zu einem antifranzösischen nationalistischen Patriotismus bei vielen dieser Intellektuellen. In Deutschland 317 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Patriotismus

war das Datum post quem der Einmarsch Napoleons in Preußen 1806. Überall, wo er einmarschierte, blühte der Nationalismus auf: 1796 mit dem Einmarsch nach Italien, 1806 nach Preußen, 1807 Polen, 1808 nach Spanien und Portugal, bis 1812 der Feldzug nach Russland dem französischen Expansionismus Grenzen setzte – paradoxerweise durch die Grenzenlosigkeit und auch dünne Besiedlung der russischen Weiten. Der bekannteste Fall eines Mentalitätsumschwungs in Deutschland ist der Philosoph Fichte. 1805/06 in »Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« sah der Philosoph den »Zweck des Erdenlebens der Menschheit« noch darin, »daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft« einrichte (Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 11). Nach 1806 aber, in den »Reden an die deutsche Nation« von 1807/08, macht er den Begriff der Nation zum uneingeschränkten Leitbegriff seines Denkens. Ein fundamentaler Wandel also vom Konzept des freien und vernünftigen Bürgers zur deutschen Nationalität als neuer patriotischer Identität, mit der der deutsche Philosoph auf den Wandel Napoleons »vom Revolutionsbändiger zum Nationalfeind« (Beßlich: Der deutsche Napoleon-Mythos, 61 ff) reagierte. Noch viel aggressiver als Fichte vertritt Ernst Moritz Arndt – ehemals auch ein Bewunderer Napoleons – nun eine Positionen, in welcher sich der ›innerliche Hass‹ auf Napoleon und Frankreich als der neuen Besatzermacht entlädt: Hass, »der aus angebornen Verschiedenheiten der Völker entspringt, mögte ich einen äußerlichen Haß nennen; innerlich wird er, wenn ein Volk sich einmal des Frevels unterstanden hat, seine Nachbarn unterjochen zu wollen: dann brennt er bei edlen Völkern unauslöschlich.« (Arndt: Ueber Volkshaß,14) Auch Theodor Körner wie auch Heinrich von Kleist vertreten nun einen Nationalhass gegen Napoleon und Frankreich. In Teilen der deutschen Romantik, so in der Berliner »Christlich-Deutschen Tischgesellschaft« um Achim von Arnim, Kleist, Clemens Brentano grenzt man sich nun auch nicht mehr nur scharf gegen die Franzosen ab, sondern auch gegen die Juden (Vietta: Nationalisierung und Europäisierung, 12). In Italien vollzieht sich mit dem Dichter Ugo Foscolo eine ähnliche Wendung gegen Napoleon. In seinem Goethes »Werther« nachgebildeten Briefroman »Lettere di Jacopo Ortis« beklagt der Protagonist, dass das Haus Petrarcas – das »heilige Haus« der italienische Kultur – zerfallen sei, und kritisiert diejenigen Italiener, die sich dem 318 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Begriff und Geschichte des Patriotismus

»Tiranno« andienen, der selbst gerade kein Vaterland habe: »Ein Tyrann kümmert sich nicht um das Vaterland, er hat kein Vaterland« (Foscolo: Letzte Briefe des Jacopo Ortis, 44). Napoleon als ein ›vaterlandsloser Geselle‹ und Eindringling. Hellsichtig sieht Foscolo auch einen Zustand Europas heraufdämmern, in dem sich die Nationen gegenseitig zerfleischen werden: »Die Nationen verschlingen einander, weil die eine nicht ohne die Leichen der anderen bestehen könnte […] Die Erde ist ein Wald voll wilder Tiere.« (Ebd., 134 f) Tatsächlich hat Napoleons Hegemonialpolitik massive Mentalitätsfolgen mit Langzeitwirkung. Die europäische Geschichte des Patriotismus wird durch ihn semantisch neu kodiert: Aus dem freundschaftlichen Verhältnis Frankreichs und Deutschlands, wie es sich noch in Germaine de Staëls »De l’Allemagne« von 1800 darstellte, die für ihr Buch und ihre Kritik an Napoleon auch bald von ihm aus Paris verbannt wurde, entstand eine Langzeitfeindschaft mit schrecklichen Folgen. Zunächst ist es der »Haß«, mit dem viele enttäuschte Deutsche im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auf den Korsen, Emporkömmling, »Banditen«, »neuen Mongolen«, »Barbaren« – Napoleon – reagieren. Die Hardenberg- Stein’schen Reformen setzen indes eine »defensive Modernisierung« in Gang (Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte I, 493), die das durch Napoleon gedemütigte Preußen-Deutschland zu einer Großmacht werden lässt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich, ist es dann ein Franzose wie Paul de Saint-Victor, der 1871 ein Buch mit dem Titel »Barbares et Bandits« veröffentlicht. Die »Barbaren und Banditen«: das sind nun die Preußen-Deutschen. Die beiden Nationen haben sich im 19. Jahrhundert gründlich auseinandergelebt, wie dies Sanne Ziethen in ihrer Geschichte der wechselseitigen Feindbilder der Völker zwischen 1807–1930 nachweist (Ziethen: »… im Gegensatz erst fühlt er sich nothwendig«. Deutsch-französische Feindbilder). Der Patriotismus hier wie dort implizierte nun den Fremdenhass, der sich dann auch im 20. Jahrhundert in zwei schrecklichen Weltkriegen entlud. Zum Patriotismus gehört aber solcher Fremdenhass nicht zwangsläufig. Dieser war, wie gezeigt, auch eine Folge einer übergriffigen Hegemonialpolitik hier wie dort. Gleichwohl hat der nationale Patriotismus des 19. Jahrhunderts auch große Leistungen erbracht, so die Einigung Deutschlands und Italiens sowie große nationale Literatur- und Kulturgeschichten mit ihren allerdings einseitigen nationalen Tendenzen (Vietta: Nationalisierung und Europäisierung, 21 ff, 319 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Patriotismus

»Nationalisierung der Geistesgeschichte«). Zur Mentalitätsgeschichte des Patriotismus gehört allerdings auch eine Form der heilsgeschichtlichen Stilisierung der eigenen Nation. Darauf kommen wir im Kap. 3.4 zurück.

Verfassungspatriotismus Zunächst aber müssen wir noch einmal auf die Sonderrolle Deutschlands im Zusammenhang mit dem Patriotismus zu sprechen kommen: Man kann sagen, dass alle Völker Europas – bei aller Selbstkritik – doch einen gewissen Nationalstolz haben. Die Griechen, die Spanier, die Portugiesen, Franzosen, Niederländer, Belgier, Engländer, Dänen, Norweger, Schweden, Polen, Tschechen, Slowaken und welche Völker auch immer sind durchaus stolz auf ihre nationale Geschichte, ihre Kulturleistungen und nationalen Eigenheiten. Nur viele Deutschen sind es nicht. Der Grund dafür ist natürlich die kurze, aber schreckliche Geschichte des Dritten Reiches mit seinem Massenmord an den Juden. So richtig und wichtig es ist, diese Geschichte immer in Erinnerung zu behalten, so einseitig und fatal ist es aber auch, die deutsche Geschichte auf nur diese Schreckensjahre des Dritten Reiches und seine Untaten zu reduzieren. Zum Patriotismus eines Volkes gehört seine ganze Geschichte, und die umfasst die Schrecknisse sowohl wie auch die positiven Leistungen, und das sind in der deutschen Geschichte nicht wenige. Über diese Frage eines deutschen Patriotismus nach Hitler wurde in der BRD der 70er Jahre heftig gestritten. Es war der Heidelberger Politologe Dolf Sternberger, der 1979 in der Situation des gespaltenen Deutschlands, in der gleichwohl die Hoffnung auf die Wiedervereinigung fortlebte – »noch immer hoffen wir« –, für einen »Verfassungspatriotismus« warb: »Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.« (Sternberger: Verfassungspatriotismus, 13) Für Sternberger hat das Leben in der freiheitlich demokratischen Grundordnung in Deutschland ein neues Licht angezündet: Den »nationalen Gefühlen« sei »ein helles Bewusstsein von der Wohltat dieses Grundgesetzes« zugewachsen (ebd., 13). Aber dieses neue Licht einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung kann für Sternberger nicht das Gefühl ersetzen, in einem ganzen, in einem 320 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Verfassungspatriotismus

wiedervereinigten Deutschland leben zu wollen: »Das Nationalgefühl bleibt verwundet […]«. Gleichwohl kann es uns trösten, dass wir nun einen deutschen Teilstaat haben, in dem eine Verfassung gilt, mit der wir uns identifizieren können, eine »gute Verfassung« (ebd., 13). Insofern können wir uns zumindest mit einem »ganzen Verfassungsstaat« und einem darauf gegründeten »Verfassungspatriotismus« identifizieren, so Sternberger. In einer Rede aus dem Jahre 1982 führt Dolf Sternberger seinen Begriff noch aus: »Das eine Wort hat zwei Bestandteile: die Verbindung von Patriotismus und Verfassung mag manchem ungewöhnlich vorkommen, ungewohnt ist es sicherlich.« (Ebd., 17) Und er erklärt, dass Patriotismus ursprünglich mehr meinte: die Verbundenheit »mit dem heimatlichen Land und Volk oder den heimatlichen Ländern und Völkern insgesamt« (ebd., 17). Diesem patriotischen Gefühl mit seinem Streben nach nationaler Einheit verdanke sich die Gründung eines neuen deutschen Reiches 1871. Der Stolz darauf zerbrach allerdings in der Niederlage von 1918. Die Weimarer Republik »war nicht eigentlich von Patriotismus erfüllt« (ebd., 18) und fand darum ja auch nicht Politiker, die herzhaft für sie gestritten hätten. Interessanterweise spielte der Begriff des Patriotismus im Dritten Reich keine zentrale Rolle. »Patriotismus war es nicht, was diese marschierenden Kollektive, die braunen, schwarzen und am Ende feldgrauen Kolonnen erfüllte; das Wort selbst war übrigens aus dem offiziellen Vokabular so gut wie verschwunden […].« (Ebd., 18) »Patrioten im eigentlichen Sinne« waren dagegen nach Sternberger die Widerstandskämpfer vom 20. Juli. Und er hatte recht mit dieser Einschätzung: Das Wort ›Patriotismus‹ enthält immer auch ein Potenzial des Widerstandes gegen falsche Herrschaft, gegen Unfreiheit. Sternberger zitiert in diesem Zusammenhang auch die historischen Stimmen von Thomas Abbt und Jean de La Bruyère. Letzterem wird das Wort zugeschrieben: »Es gibt kein Vaterland in der Despotie.« (Zit. ebd., 21) Patriotismus ist also ein Wort, das durch den Despotismus des Dritten Reichs selbst nicht in seiner Bedeutung zerstört wurde. Es ist selbst ein Begriff mit Widerstandspotenzial gegen Despotie. In diesem Sinne ist es auch für Sternberger kein Problem, »ohne Gewissensbelastungen zu dem Vaterlandsbegriff und Vaterlandsbewußtsein, zum Patriotismus zurückzukehren« (ebd., 19). Wohlgemerkt: Patriotismus als »Vaterlandsbewußtsein« und nicht gegen oder ohne dieses. Und mit einem Wort von Ralf Dahrendorf, den Sternberger in diesem Zusammenhang zitiert, ergänzt er diesen geerdeten Patriotis321 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Patriotismus

mus: »›Patriotismus ist Voraussetzung des Weltbürgertums‹, las ich kürzlich bei einem namhaften Soziologen unserer Tage, und weiter: ›Jedenfalls gilt, daß Menschen irgendwo hingehören müssen, bevor sie sich für weitere Horizonte eröffnen können.‹ (Die Bemerkung hat Ralf Dahrendorf gemacht.)« (ebd., 19). Sternberger kritisiert in diesem Vortrag dann auch einen linken Internationalismus, der glaubt, mit einem Begriff von »Basisdemokratie« dem Staat und seiner verfassungsmäßigen Regelungen sowie dem parlamentarische Repräsentationsprinzip des modernen Staates entkommen zu können. Sternbergers kritische Bemerkungen zur »Demonstrationsdemokratie« im Jahre 1982 haben bis heute nichts an Aktualität verloren: »Heute ist es zumal die Demonstrationsdemokratie, weithin von einer besonderen Demonstrantenklasse ausgeübt oder doch betrieben, welche unter dem Schutz der Verfassung ihr Wesen treibt. Sie lebt von der Geltung und von der großzügigen Auslegung des althergebrachten Grundrechtes auf friedliche und waffenlose Versammlung auch unter freiem Himmel. Es […] schließt gewiß nicht die Freiheit ein, durch die Stadt zu rennen, Scheiben einzuwerfen, Autos anzuzünden und Pflastersteine zu schleudern.« (Ebd., 25 f). Aufs Ganze gesehen gehören die kurzen Texte von Dolf Sternberger aus den Jahren 1979 und 1982 mit ihrem Plädoyer für einen »verfassungpolitischen Vaterlandsbegriff«, also einem Vaterlandsbegriff, bereichert durch das Engagement für den freiheitlich-bürgerlichen Rechtsstaat mit all seinen Rechten und Pflichten, wie sie in Ansätzen ja bereits Perikles im alten Athen formuliert hat (Kap. 1.4, 99 ff), zu den hellsichtigsten politischen Äußerungen in der Bundesrepublik Deutschland. Der Begriff ›Verfassungspatriotismus‹ hat dann im Verlauf der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in einer erregten Debatte noch eine ganz andere Bedeutung erfahren. Es war Jürgen Habermas, der im sogenannten Historikerstreit den Begriff umkodierte. Habermas polemisiert in diesem Streit gegen Ernst Nolte und andere Historiker, die den Holocaust in den Zusammenhang mit dem russischen Gulag und anderen Formen der Massenvernichtung gestellt hatten. Habermas sieht darin den Versuch, »die Hypothek einer glücklich entmoralisierten Vergangenheit abzuschütteln« (Habermas: Eine Art Schadensabwicklung, 73), also eine Art Verdrängung der furchtbaren Vergangenheit durch die Kontextualisierung mit anderen europäischen und außereuropäischen Kollektivverbrechen, wie Habermas meinte. 322 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Verfassungspatriotismus

In diesem Kontext nun kommt Habermas zur Umwidmung seines Begriffs von Verfassungspatriotismus: »Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus. Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach – und durch – Auschwitz bilden können.« (Ebd., 75) Der Begriff der »Kulturnation« wird von Habermas hier in erster Linie nur noch ironisch abwertend verwendet. Sie ist für ihn untergegangen in den Schrecknissen von Auschwitz, die eben diese Nation zu verantworten hat. Habermas entkoppelt so den Verfassungspatriotismus von aller Rückbindung an die deutsche Kulturgeschichte beziehungsweise lässt von dieser nur noch die Erinnerung an Auschwitz übrig. Es gibt gute Argumente, so zu denken. Die Verbrechen des deutschen Holocaust haben in ihrer fabrikmäßigen Art eine Form von Massenmord in die Welt gesetzt, den es so bisher in der Menschheitsgeschichte noch nicht gab. Auf der anderen Seite hat aber Habermas mit der moralischen Verabsolutierung des deutschen Holocaust sowohl der Geschichtsschreibung wie auch der modernen Demokratie in Deutschland einen Bärendienst erwiesen. Zum einen steht der deutsche Holocaust bei aller fabrikmäßigen Furchtbarkeit nicht so isoliert in der Weltgeschichte, wie er glaubt. Die ganze neuzeitliche europäische Kolonialgeschichte wird von einem langanhaltenden Holocaust begleitet mit der Vernichtung von Millionen von Indianern in Nord- und Südamerika. Der amerikanische Soziologe David Stannard spricht hier, wie bereits zitiert, vom »American Holocaust« und beschreibt das kulturelle Milieu, in dem er sich vollzog: »Die offene Verteidigung des Genozid unter den US-Spitzenpolitikern vollzog sich in einem kulturellen Milieu, das die Indianer im Land hässlich, dreckig, als unmenschliche ›Tiere‹, ›Schweine‹, ›Hunde‹, ›Wölfe‹, ›Schlangen‹, ›Affen‹ bezeichnete« und sie auch wie wilde Tiere niederschoss: »wie Wölfe, Männer, Frauen, Kinder, wo immer sie Indianer vorfanden« (Stannard: American Holocaust, 145, Übersetzung, V). Der amerikanische Historiker Michael Mann nennt diesen Vernichtungsfeldzug des weißen Mannes gegen die Indigenen Nordamerikas die »dunkle Seite« der amerikanischen Demokratie und weist sogar darauf hin, dass Hitler sich nicht so offen zur Ausrottung der Juden bekannt hat, wie jene Gouverneure Nordamerikas und andere amerikanische Siedler zur Ausrottung der Indianer. »Ausrotten oder vertreiben« war der gängige 323 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Patriotismus

Slogan vieler Siedler in Nordamerika in dieser Zeit (Mann: Die dunkle Seite der Demokratie, 140). Die deutsche Schuld – das übersieht Habermas und das wird gegenwärtig auch zu wenig in Brüssel reflektiert – steht durchaus in einem europäischen Schuldzusammenhang der Kolonialgeschichte, ohne dass man in falscher Schlussfolgerung nun die ganze europäische Geschichte nur auf diese Schreckensgeschichte des europäischen Holocaust einzuschmelzen hätte. Auch der Massenmord des Klassozids – 20 Millionen Opfer allein unter Stalin – gehört in diesen europäischen Schuldzusammenhang. Dieser europäische Kontext der deutschen Schuld relativiert diese aber nicht oder ›schüttelt‹ sie gar ›ab‹, wie Habermas meint, sondern vergrößert sie eher noch, weil es diese neuzeitlichen Formen von Massenmord einordnet in einen europäischen Schuldzusammenhang, der mit der europäischen Expansionspolitik der rationalen Kultur und deren Überlegenheit über alle anderen Weltkulturen bzw. mit der modernen Ideologie eines Weltsozialismus und der Beseitigung seiner ›Klassenfeinde‹ einhergeht (dazu auch Vietta: Rationalität. Eine Weltgeschichte, 281 ff). Einen Bärendienst für die Demokratie in Deutschland hat Habermas mit seiner Abkoppelung des Verfassungspatriotismus von der »Kulturnation« erwiesen, weil diese durchaus gerade in ihrer neugeborenen Form nach dem Weltkrieg trotz der Schuld des Holocausts eine emotionale Identifikation seiner Bürger braucht und auch verdient hat. Habermas’ »Verfassungspatriotismus« ohne Vaterland ist, wie Dahrendorf und viele seiner Kritiker anmerkten, eine »Kopfgeburt« (Korte: Der Standort der Deutschen, 79). Er lädt nicht ein zum Engagement für diesen Staat, auch nicht nach der Wiedervereinigung. Und so leben tatsächlich heute viele Deutsche in Deutschland und genießen die Früchte der BRD und ihres Wertesystems ohne positives Engagement für Deutschland, ja sogar mit einer ablehnenden Haltung gegen die Nation, in der sie leben – ein »negativer Nationalismus«, wie das Heinrich August Winkler nannte (zit. in Kronenberg: Patriotismus, 204). Habermas beruft sich in seinem Beitrag zur Historikerdebatte auf »universalistische Verfassungsprinzipien«. Aber die gibt es in dieser Form gar nicht. Was er so nennt, sind europäische Werte, die er als solche hochrechnet, wie wir mehrfach ausgeführt haben. Und so hängt sein »Verfassungspatriotismus« letztlich ohne jegliche Erdung in der Luft. Er ist weder genuin deutsch noch universalistisch. Sein entwurzelter Patriotismus ist das Gegenstück zu jener »vollständig 324 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Ein deutscher Patriot unserer Tage

dezentrierten Weltgesellschaft«, die Habermas anderswo richtig skizziert und in welcher er glaubt den Nationalstaat ›aufheben‹ zu können (Habermas: Die Einbeziehung des Anderen, 150). Aber der kommt darin positiv gar nicht mehr vor. Nein, die Weltgesellschaft, auch Europa, brauchen noch den Nationalstaat und seinen Patriotismus als europäische Werte, somit auch den deutschen Nationalstaat und deutschen Patriotismus. Auf die Frage nach der deutschen Identität kommen wir im Kap. 3.4 zurück. Sie besteht sicher auch aus der schmerzlichen Erinnerung an den Holocaust, aber zum Glück nicht nur.

Ein deutscher Patriot unserer Tage Im Spätherbst 1988, ziemlich genau ein Jahr vor der sog. »Wende«, hat Martin Walser eine Rede gehalten in den Münchener Kammerspielen, für die er damals ziemlich viel Prügel bezog. Er beklagte damals das »Un-Verhältnis zwischen beiden Deutschländern«, dass er aber auch keinen praktischen Schritt wisse, dieses zu verändern. »Aber ich spüre«, fuhr Walser damals fort, »ein elementares Bedürfnis, nach Sachsen und Thüringen reisen zu dürfen unter ganz anderen Umständen als denen, die jetzt herrschen. Sachsen und Thüringen sind für mich weit zurück und tief hinunter hallende Namen, die ich unter ›Verlust‹ buchen kann. Nietzsche ist kein Ausländer. Leipzig ist vielleicht momentan nicht unser. Aber Leipzig ist mein. […] Ich weigere mich, an der Liquidierung von Geschichte teilzunehmen. In mir hat ein anderes Deutschland immer noch eine Chance. Die Welt müßte vor einem solchen Deutschland nicht mehr zusammenzucken.« Walser weiß, dass das »im Augenblick reine Utopie« ist, »Wunschdenken«. (Walser: Über Deutschland reden, 88 f) In der patriotischen Rede, die Walser damals hielt, antizipiert er selbst bereits die ›schlagenden Argumente‹ gegen seinen Wunsch: dass Deutschland immer noch faschistisch sei, es immer bleiben werde – »Die Deutschen sind alle Nazis« (zit. ebd., 85) –, mithin von einem wiedervereinigten Deutschland nur Schrecken ausgehen könne. »Linke Intellektuelle und rechte sind sich bei uns im Augenblick wahrscheinlich über wenig so einig wie darüber: die Teilung ist annehmbar.« (Ebd., 92) Walser dagegen: »Es gibt, zum Beispiel eine deutsche Sprache, eine literarische Tradition« (ebd., 94) – es gibt deutsche Gemeinsamkeit auch über die aktuelle politische Teilung hin325 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Patriotismus

weg. Die gemeinsame deutsche Sprache war für Walser ein Hoffnungsband, das die getrennten Teile doch noch zusammenhielt. Ein Jahr später gab die Geschichte dem Patrioten recht, wenn sicher auch aus vielen anderen Gründen als der sprachlichen und kulturellen Identität Deutschlands. Es ist interessant, sich in diesem Zusammenhang auch die Reaktion eines anderen großen deutschen Literaten anzusehen, Günter Grass. Grass bekannte kurz nach der Wende in seinem autobiographischen Buch »Beim Häuten der Zwiebel«, dass er als Freiwilliger der Waffen-SS beigetreten sei, für einen damals jungen Mann ein vielleicht verständlicher und auch verzeihlicher Irrtum. Weniger verzeihlich mag gewesen sein, dass Grass fünfzig Jahre so getan hat, als hätte er nichts mit dem Nazi-Staat zu tun gehabt, und auch von allen Politikern seiner Zeit dasselbe forderte. Darüber hinaus schrieb und druckte Grass noch 1990, schon nach dem Fall der Mauer also: »Der deutsche Einheitsstaat verhalf der nationalsozialistischen Ideologie zu einer entsetzlich tauglichen Grundlage. An dieser Erkenntnis führt nichts vorbei. Wer gegenwärtig über Deutschland nachdenkt und Antworten auf die deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken. Der Ort des Schreckens, als Beispiel genannt für das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen deutschen Einheitsstaat aus. Sollte er, was zu befürchten bleibt, dennoch ertrotzt werden, wird ihm das Scheitern vorgeschrieben sein.« (Grass: Ein Schnäppchen namens DDR, 13) Auch noch 1990 konnte Grass den »deutschen Einheitsstaat« nur als Hort der schrecklichen Nazi-Ideologie denken. Wo Auschwitz erfunden wurde, durfte seiner Meinung nach nie wieder deutsche Einheit sein. Wenn wieder Einheit, was Grass damals schon befürchtete, dann sei die erneute Katastrophe vorprogrammiert. Wir können heute annehmen, dass Grass’ radikales Plädoyer für die Ewigkeit der deutschen Spaltung eben auch jene innere Spaltung reflektierte, mit der er seine verdrängte Vergangenheit jahrzehntelang unter Kontrolle hielt. Der inneren Mauer gegen das eigene verdrängte faschistische Erbe musste eine ewige äußere entsprechen, der äußeren die innere, damit nur nichts von dem verdrängten Erbe hochkam. Wahrscheinlich begann der Aufstieg des Verdrängten in Grass bereits mit dem Fall der Mauer, beziehungsweise bröckelte die Abschottung gegen jenes auch in dem Moment, als die äußere Mauer als Trennlinie der Geschichte zerbrach. Die antizipierte visionäre Einschätzung von Walser und die falsche von Grass sind heute selbst deutsche Geschichte. Sie dokumen326 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Ein deutscher Patriot unserer Tage

tieren damit auch die unterschiedlichen Sichtweisen eines positiven Patriotismus und eines erstarrten Moralismus, der im NachkriegsDeutschland immer nur den Nazi-Staat sehen konnte. Es wäre zu wünschen, dass bei aller Erinnerungskultur die falsche Identifikation des neuen Deutschland mit dem alten faschistischen doch aus den Köpfen verschwinden möge.

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3.2 Muttersprache

Zusammenfassung (1) Die abendländische Kulturgeschichte stand ganz im Bann der Vernunftphilosophie. Sie hat die Bedeutung der Sprache für die Menschwerdung und die menschliche Kultur erst spät, im späten 18. Jahrhundert, zu entdecken begonnen. (2) Mit Herder und Wilhelm von Humboldt begann diese Entdeckungsgeschichte der Sprache als »Weltansicht« und »bildendem Organ des Gedanken« sowie Voraussetzung für die menschliche Gemeinschaftsbildung. (3) Mit Herder sieht auch Heidegger die Sprache als eine Naturanlage und erkennt die Bedeutung der ›ersten Sprache‹, der »Muttersprache« als »Mutter aller Sprachen« (Heidegger), für den Menschen. (4) Die Alemannen Heidegger wie Walser verteidigen die Bedeutung des Dialekts für die Spracherlernung und damit verbundene Bildung von »Weltansicht«. Walser unternimmt ein Experiment mit dem Dialekt durch Rückübersetzung politischer Rede der abstrakten Hochsprache in ihn als eine Probe auf die Konkretheit und auch Wahrheit von Sätzen. Er unterstreicht die Bedeutung des Dialekts für sein eigenes Sprachbewusstsein.

Bedeutung der Sprache für das Menschengeschlecht Die Bedeutung der Sprache für die Herausbildung des Menschen und seine Kultur ist erst relativ spät erkannt worden. Die abendländische Kulturgeschichte stand ganz im Bann der Vernunftphilosophie, der Rationalität. Erst im späten 18. Jahrhundert ändert sich dies. 1769 stellte die preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin die Frage nach dem Ursprung der Sprache (Herder: Sprachphilosophische Schriften, XIX). Der Theologe Johann Gottfried Herder unternimmt es, sie beantworten zu wollen mit seiner Schrift »Abhandlung über 328 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Bedeutung der Sprache für das Menschengeschlecht

den Ursprung der Sprache« von 1770, erweitert und verbessert 1772 veröffentlicht. Der Autor kämpft darin gegen die überholte Vorstellung vom göttlichen Ursprung der Sprache, wie sie der Theologe Johann Peter Süßmilch vertreten hatte. Für Herder ist die Sprache natürlichen Ursprungs, ein Geschenk der Natur an den Menschen, durch das er allererst zum Menschen geworden sei. »Schon als Tier hat der Mensch Sprache«, beginnt Herder seine Abhandlung (ebd., 3), nämlich im Sinne einer elementaren Ausdrucksfunktion von Schmerz u. a. Empfindungen. »In allen Sprachen des Ursprungs tönen noch Reste dieser Naturtöne; nur freilich sind sie nicht die Hauptfäden der menschlichen Sprache.« (Ebd., 6) Damit sind wir aber noch nicht im Kernbereich der menschlichen Sprache. Aber was sind die »Hauptfäden der menschlichen Sprache«? Herder erkennt, dass der gesamte Kognitionsapparat des Menschen sprachlich gesteuert ist, mithin »Sprache dem Menschen wesentlich« ist, »als – er ein Mensch ist« (ebd., 19). Erst wenn der Gesamthaushalt des menschlichen Geistes von einer neuen Form sprachlicher »Besonnenheit« durchdrungen wird, entwickelt sich menschliche Sprache im vollen Wortsinne und prägt nun den Gesamthaushalt des menschlichen Erkenntnis- und Wahrnehmungsapparates: »Man nenne diese ganze Disposition seiner Kräfte wie man wolle, Verstand, Vernunft, Besinnung, Reflexion usw. […] Es ist die ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte, die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur […] die bei ihm Freiheit heißt und bei den Tieren Instinkt wird.« (Ebd., 20). Was Herder hier entwickelt, ist eine Revolution in der Denkgeschichte des Abendlandes. Bis Kant hat man den menschlichen Verstand weitgehend ohne seine sprachliche Vermittlung beschrieben, Herder erkennt, dass die Sprache darin eine Schlüsselstellung einnimmt, mithin auch die menschliche »Freiheit« und seine Willensaktivitäten durch sie allererst ermöglicht werden. Herder verfolgt den Spracherlernungsprozess an einem einfachen Beispiel: ein blökendes Lamm. Indem die Sprache es ermöglicht, diesen Tierlaut als »Merkmal« abzusondern und abzuspeichern, kann das Tier als solches identifiziert werden: Was so blökt, ist – ein Schaf. »Dies erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden!« (ebd., 24) – nämlich als die reflexive Fähigkeit (»Besinnung«), Merkmale der Umwelt zu er329 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Muttersprache

kennen, darunter auch emotionale ›Dinge‹ wie die eigenen Gefühle, sprachlich zu benennen. Damit kann aber der Mensch Dinge als bestimmte Dinge erkennen und mit diesen, im Denkapparat als Worte gespeichert, umgehen. Sprache eröffnet so eine nach Gegenständen unterschiedene und in Worten gefasste differenzierte Weltsicht. Damit aber eröffnet Sprache auch eine neue Dimension der Freiheit für den Menschen, nach seinem Willen mit der Welt der Dinge umzugehen. Der »himmlische Funke«, das Feuer des Prometheus – aber aus der Naturgeschichte der Menschheit entsprungen –, ist die Sprache (ebd., 31). Mit ihr kann der Mensch nun auch eine neue Form von Sprachgemeinschaft bilden. Herder erläutert im Folgenden auch, dass sich mit der Ausdifferenzierung des »Menschengeschlechts« auch die Sprachen ausdifferenziert hätten, wobei Klima und Lebensgewohnheiten zur Ausbildung der Nationalsprachen eine gewichtige Rolle spielten (ebd., 74 ff). Es war dann Wilhelm von Humboldt, der Herders Theorie weiterentwickelte zu einer Theorie der Sprache als »Weltansicht«: »Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt.« (Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, § 9, 58 f). Die Sprache, in der wir aufwachsen, prägt und bildet also unsere erste Weltansicht. Für Humboldt ist dies immer auch die Sprache einer Volksgemeinschaft (§ 7, 37), die die »Geisteseigenthümlichkeit« eben dieses Volkes mitprägt. Denn: Die Sprache ist nach Humboldt »das bildende Organ des Gedanken« (ebd., § 9, 50), in dem immer auch die »nationelle Eigenthümlichkeit« hervorleuchte (ebd., § 11, 97). Humboldt nennt das deren »innere Form«. Sie prägt die Anschauungsweise, Intellektualität und auch den Charakter eines Volkes mit und damit eben auch der Menschen, die in ihren jeweils eigenen Muttersprachen aufwachsen. Gilt das auch noch im Zeitalter der EU und der Globalisierung?

Spracherlernung, Muttersprache, Dialekt Es ist immer eine bestimmte Nationalsprache oder auch zwei, maximal drei Sprachen, in der auch heute für jedes Kind die Spracherlernung und damit Sozialisierung und Prägung seiner Weltansicht erfolgt. Das aber ist die sog. »Muttersprache«. In seinem Vortrag 330 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Spracherlernung, Muttersprache, Dialekt

»Sprache und Heimat« von 1960 betont Martin Heidegger, dass es die Sprache als Universalsprache nicht gäbe (Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, GA 13, 155). Wir erlernen und sprechen Sprache immer zunächst als »jeweilige Sprache« einer Region (ebd., 156). »Sprache ist jeweils Sprache einer Heimat, Sprache, die einheimisch erwacht und im Zuhaus des Elternhauses spricht. Sprache ist Sprache als Muttersprache.« (Ebd., 156) Eigentümlich ist der grammatikalische Status von Sprache in diesen Sätzen: Die »Sprache […] spricht«. Sprache ist, grammatikalisch gesprochen, das Subjekt der Rede, nicht der Mensch. Heidegger betont in seiner Aufsatzsammlung »Unterwegs zur Sprache« mit Herder, dass der Mensch nur zu sprechen vermöge, weil die Sprache als seine Naturanlage ihn sprechen lässt. »Wir sprechen, weil Sprechen uns natürlich ist.« (Unterwegs zur Sprache, 11) Dabei ist es nach Heidegger die Sprache, die den Menschen allererst zum Menschen werden lässt: »Die Sprache spricht.« (Ebd., 19) Und diese Sprachfähigkeit artikuliert sich, wie der Vortrag »Sprache und Heimat« herausarbeitet, zunächst als regionaler Dialekt, als Mundart: »Die Mundart ist nicht nur die Sprache der Mutter, sondern zugleich und zuvor die Mutter der Sprache.« (GA 13, 156) Damit einher geht Heideggers Globalisierungskritik als Kritik an der regionalen Entwurzelung des Menschen und damit verbunden auch an der Auflösung seiner Sprachfähigkeit und ihrer muttersprachlichen Bezüge. »Der Mensch scheint die ihm jeweils geschickhaft zugewiesene Sprache zu verlieren und in diesem Sinne sprachlos zu werden, obgleich seit Menschengedenken niemals so unausgesetzt Vielerlei rund um den Erdball geredet wurde.« (Ebd., 156 f) Nach Heidegger sind das Kommunikationsströme, die auf eine bestimmte Weise ›sprachlos‹ geworden sind. Damit verbunden sind tatsächlich eine Vielzahl von Problemen der globalen Gesellschaft: das Sprachproblem von Migranten, die Zunahme medialer Sprache, die Internationalisierung von technischen Sprachcodes als Ausdruck des Verlustes individueller Sprechformen. Mit dem Fortschreiten der Globalisierung scheinen immer mehr Menschen aus ihrer Verwurzelung in einer gut gelernten Muttersprache herausgerissen und in eine diffuse globale Kommunikationswelt entlassen zu sein. Eine ähnliche Position wie Heidegger, wenn auch in einer ganz anderen Sprache artikuliert, vertritt Heideggers Landsmann Martin Walser, wie er ein Alemanne, jener beheimatet im Schwarzwald, dieser am Bodensee. Walser hat in einem Beitrag aus dem Jahre 1967, 331 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Muttersprache

»Bemerkungen über unseren Dialekt«, in wenigen Worten Wichtiges zum Thema gesagt. Zunächst, so Walser, verbände sich mit einem Dialekt eher eine Form der Zurückgebliebenheit. »Das Alemannische der Eingeborenen wurde zu einem Ausweis für mangelnde Erzogenheit und Bildung.« (Walser: Heimatkunde, 51) – nämlich gegenüber den zugereisten Beamten aus München wie Stuttgart mit ihrem »Münchener Bairisch und Stuttgarter Schwäbisch« (ebd.). Er, Walser, ist in seiner frühen Kindheit vom Alemannischen geprägt worden: »Dieser Dialekt, als die erste Sprache, hat sich offenbar auf alle Sinne ausgewirkt, er ist, selbst wenn man ihn nie mehr sprechen kann, das äußerste Gegenteil einer toten Sprache.« (Ebd., 51) Der Dialekt als die »erste Sprache« prägt die Aufnahmeform der Sinne und des eigenen Hörens und Sprechens, auch dann, wenn der so Geprägte längst zu einem Hochdeutsch-Sprechenden geworden ist: »Da man diese Muttersprache also keinesfalls los wird, beginnt man sich zu fragen, ob sie eine Hemmung sei, eine ausdauernde Ausdrucksbeschwernis und Langsamkeit oder ob man ihr auch etwas zu verdanken habe.« (Ebd., 52) Walser unternimmt dann ein gewitztes Sprachexperiment. Er versucht, die Kommuniquésprache der damaligen Bonner Regierung ins Alemannische zu übersetzen: »Das deutsche Volk ist gegen seinen Willen heute noch geteilt.« (Ebd., 52) Der Versuch offenbart, dass der Dialekt personenbezogener, konkreter denkt und spricht – »Der Dialekt ist immer gern konkret« – als das abstrakte Hochdeutsch: »iser Volk, oder am ehesten: mir.« (Ebd., 52) Also: »Mir sind dagega, daß mir all no doald sin«. Im Dialekt kann man das nach Walser nur sagen, »wenn man wirklich dagegen ist, andernfalls lügt man« (ebd., 53). Und den hochdeutschen Satz? Ihn kann man nach Walser »unter fast allen Umständen sagen« (ebd., 53). Mithin wäre Hochsprache geeigneter für eine politische Phraseologie auch von Sonntagsreden, welche der Dialekt so nicht zulassen würde (ebd.). Das heißt: Der Dialekt ist abhängiger vom Wahrheitsgehalt der mitgeteilten Sachverhalte als die hochdeutsche Sprache. Das kleine Experiment zeigt: Das Hochdeutsch lässt mehr, der Dialekt viel weniger zu, »daß hier etwas gesagt wird, was nicht stimmt« (ebd., 54) – eben weil es bei vielen, die den Satz 1967 im Munde führten, nur noch Lippenbekenntnis war, nicht mehr aufrichtige Meinung. Der Dialekt hat dann offenbar auch aufgehört, sich diese Sprache der politischen Phraseologie einzuverleiben. »Unser Dialekt hat offenbar schon vor längerer Zeit aufgehört, sich Wörter 332 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Spracherlernung, Muttersprache, Dialekt

einzuverleiben, die seitdem eine immer größere Rolle spielen im gesellschaftlichen Verkehr« (ebd., 54 f), also eben das ganze Vokabular der politischen Phraseologie und Ideologien seiner Zeit. Das Ohr des dialektgeprägten Martin Walser selbst ist immer empfindlicher dagegen geworden. Wer aber so geprägt wird, »der wird für immer eine Distanz spüren zwischen diesen beiden Sprachen. Eine wird ihm zu einer primären, die andere zu einer sekundären Sprache werden. Und das nicht nur in den Wörtern für Politisches.« (Ebd., 55) Wenn Martin Walser heute – ich spreche im Jahre 2018 – zu einem der wichtigsten deutschen Intellektuellen geworden ist, dann ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch diese seine Dialektprägung ein zentraler Grund dafür. Walser war immer ein Intellektueller, der seinem dialektgeschulten Ohr mehr vertraut hat als den linken wie rechten Ideologien. Das hat ihn befähigt, auch vor dominant linkem Publikum vor der »Wende« der Wiedervereinigung eben diese schon zu fordern und sich nicht mit der Phraseologie des ewig ›faschistischen Deutschlands‹, das ewig und zu Recht geteilt bleiben würde und müsse, abzufinden, wie wir dies oben im Abschnitt über den »deutschen Patrioten unserer Tage« von Günter Grass gehört haben. Aber damit sind wir auch beim nächsten Werte-Thema, Heimat.

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3.3 Heimat

Zusammenfassung (1) Heimat ist weder ein Grundwert der Rationalitätskultur noch des Christentums. (2) Aber Heimat ist ein Grundwert der menschlichen Entwicklung, mithin eine anthropologische Kategorie. Alle Menschen werden von bestimmten Eltern erzeugt, von einer bestimmten Mutter, in einem bestimmten Raum geboren. Der engere KulturRaum, in dem Menschen ihre ersten, prägenden Lebensjahre verbringen, erzeugen im Allgemeinen ein Gefühl von Heimat. (3) Die Literatur ist ein Medium, in welchem Heimaterfahrung eine zentrale Rolle spielt, so in den Gattungen der Autobiographie und im modernen Roman. (4) Häufig aber werden hier Szenen geschildert, in denen Heimat auch zerstört wird wie in Szenen des »Simplicius Simplicissimus« aus dem Dreißigjährigen Krieg bis hin zu den in den »neuen Kriegen« (Münkler) unserer Gegenwart. Der moderne Roman schildert vielfach Szenen der Entfremdung des modernen Menschen von Heimat im Zusammenhang mit der Industrialisierung, Entwurzelung von Menschen und Migrationsströmen. (5) Trotz dieser Phänomene bleibt Heimat im Sinne einer geborgenen und beheimateten Lebenssituation Ziel der meisten Menschen.

Heimat kein Grundwert der Rationalitätskultur und des Christentums Der marxistische Philosoph Ernst Bloch beendete sein großes Werk über das »Prinzip Hoffnung« mit dem Wort »Heimat«. Heimat ist hier nicht der Ort der Herkunft, sondern ein zukünftiges Ziel der Ankunft: »Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen 334 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Heimat kein Grundwert der Rationalitätskultur und des Christentums

in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Kap. 55, 1628) Heimat ist hier der utopische Zukunftstraum einer von aller Entfremdung bereinigten Welt, vom ›arbeitenden, schaffenden‹ Menschen allererst herzustellen, wahrscheinlich im Diesseits der Menschheitsgeschichte nie zu realisieren. Bloch entwirft diese Zukunftsutopie auch unter dem Titel »Wunschbilder des erfüllten Augenblicks«. Der Mensch aber würde mit Blochs Heimatbegriff im Rahmen eines utopischen SozialismusKommunismus auf dieser Welt wohl ewig ohne Heimat bleiben. Blochs Wunschtraum in Walsers Dialektsprache zu übersetzen, würde auch nicht gelingen. Heimat meint ursprünglich etwas anderes: Das Wort stammt ab vom althochdeutschen Wort heimōdil in der Bedeutung von ›Gut‹, ›Anwesen‹ (Kluge: Etymologisches Wörterbuch), also dem Grundbesitz, auf dem ein Mensch wohnt, der ihm nach dieser germanischen Lesart selbst gehört. Heimat ist in der weiteren Bedeutung dann das Land oder die Gegend, in der man geboren wurde und aufgewachsen ist, wo also die frühen und einprägsamen Sozialisierungen erfolgt sind – auch und gerade in der Sprache – oder wo man sich zu Hause fühlt, weil man schon lange dort wohnt oder sich immer noch – bei verlassener oder gar verlorener Heimat – dort zu Hause fühlt. Heimat ist kein Begriff der Rationalitätskultur und auch keiner der christlichen Religiosität. Die Rationalitätsphilosophie koppelt vielmehr das Denken von allen emotionalen und auch sinnlichen Grundlagen ab (Kap. 1.1, 63). Das rationale Denken ist in diesem Sinne abstrakt: Es will die allgemeinen Bedingungen von Materie und Kosmos erkunden und abstrahiert dabei von den konkreten RaumZeit-Bedingungen. Heimat hätte hier keinen Platz. Der Begriff spielt in der abendländischen Vernunftphilosophie praktisch keine Rolle. Und Jesus von Nazareth, der Wanderprediger? Als seine Mutter, Brüder und Schwestern ihn nach Hause zurückholen wollen, antwortet er: »Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder. Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.« (Mk 3,33– 35) Da hat Jesus seine Familie mit einem Satz durch eine von ihm neu gestiftete Familie der Gläubigen ersetzt. Den Jüngern, die ihm folgen und ihrerseits ihre Familien verlassen haben, verspricht er im ältesten der Evangelien, dies im Himmel zu entlohnen: »Da fing Petrus an und sagte zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nach335 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Heimat

gefolgt. Jesus sprach: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker verlässt um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfach empfange: jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker mitten unter Verfolgungen – und in der zukünftigen Welt das ewige Leben.« (Mk 10,28–30): Und Jesus krönt sein Versprechen noch mit der Hoffnungsbotschaft für die sozial Schwachen: »Viele aber werden die letzten sein, die die Ersten sind und die Ersten sein, die letzten sind.« (Ebd., 31) Auch Lukas 18,28–30 verspricht himmlischen Lohn denen, die ihre Heimat und ihre Familie verlassen und ihm folgen. Ein positiver Begriff von Heimat in dieser Welt findet sich also auch nicht im Christentum.

Heimaterfahrung und -zerstörung Das ist insofern bemerkenswert, weil Heimaterfahrung doch zu den anthropologisch prägenden Erfahrungen des Menschseins zählt. Wir sind nun einmal als Menschen auch biologische Wesen, die von bestimmten Eltern erzeugt, von einer bestimmten Mutter, in einem bestimmten Raum geboren werden und unter bestimmten Kulturbedingungen – darunter auch die Muttersprache – erste, prägende Lebensjahre verbringen, die ein Gefühl von Heimat erzeugen. Das alles kann heute auch technisch manipuliert und verändert werden, aber ist dann eben auch ein Eingriff in die anthropologische Struktur des Menschseins. In der Geschichte Europas und heute der Erde gibt es buchstäblich unzählbare Erfahrungen von Entwurzelung von Menschen, Zerstörung von Heimat, Eroberungs- und Religionskriegen, Fluchten von Menschen aus den eroberten Gebieten, Migration u. a. Ein unheimlich bedrohliches und anschauliches Beispiel einer solchen Heimatzerstörung hat Christoffel von Grimmelshausen in seinem Roman aus dem Dreißigjährigen Kriege überliefert: »Die Abenteuer des Simplicius Simplicissimus Teutsch«. Hier beschreibt Grimmelshausen die »Grausamkeiten in diesem unserem teutschen Krieg«, dessen Brutalität, Zynismus, Sadismus in der Zerstörung von Heimat, Lebensraum und Menschen keine Grenzen mehr zu kennen schien. So beschreibt Grimmelshausen, wie marodierende kaiserliche Truppen das Elternhaus des Protagonisten in Hessen stürmen und 336 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Heimat in der literarischen Kultur

plündern. Grimmelshausen beschreibt, wie sich hier ein entfesselter und Menschen vernichtender Vandalismus austobt, der die Frauen vergewaltigt, den Knechten Urin einflößt, den gefangenen Bauern in den geheizten Backofen steckt oder einem anderen den Kopf mit einem Bengel einzwängt, »daß ihm das Blut zu Mund, Nas und Ohren heraus sprang« (Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, 17). Im Prinzip sind alle kriegerischen Eroberungen immer auch mit solchen Zerstörungen von Heimat, Lebensraum und dem Leben der dort Wohnenden verbunden. Und meist sind die Zerstörer selbst heimatlos gewordene marodierende Soldaten, wie sie im 20. und 21. Jahrhundert auch Herfried Münkler in »Die neuen Kriege« beschreibt, in Anlehnung übrigens an den Dreißigjährigen Krieg: »Insbesondere die Konstellationen des Dreißigjährigen Krieges weisen viele Parallelen mit den neuen Kriegen auf.« (Münkler: Die neuen Kriege, 9) Heute sind es vielfach fundamentalistische Islamkrieger, die so durch Länder in Afrika, im Vorderen Orient und in Asien ziehen und auch noch glauben, sich mit Morden, Plündern, Vergewaltigen als »Gotteskrieger« profilieren zu können.

Heimat in der literarischen Kultur Um auch hier noch einmal Martin Walser zu zitieren: Heimat ist, wie der Dialekt, ein Wert, der häufig mit »Zurückgebliebenheit« assoziiert wird: »Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit.« (Walser: Heimatkunde, 40) Wenn Heimat auch kein großer Wert in der heutigen, durch die abstrakte Technizität geprägten globalen Welt mehr darstellt und auch nicht im vielfach entwurzelten politischen Diskurs unserer Tage, so war und ist Heimat doch ein zentraler Wert in der literarischen Kultur. Die große Literatur der Moderne erzählt immer wieder von den prägenden Lebensräumen der Kindheit eines Autors in der fiktiven Form seiner Helden oder Heldinnen. Das hat eine ganze Gattung ins Leben gerufen, die »Autobiographie«. Von den großen Romanen der Moderne erwähne ich im deutschen Sprachraum Thomas Manns »Die Buddenbrooks« mit ihrer Beschreibung des heimatlichen Lübeck wie auch Günter Grass’ »Die Blechtrommel« in der Beschreibung des einmal heimatlichen Danzig. Beide Romane waren die Grundlagen für die Nobelpreisverleihung an ihre Autoren. Im österreichisch-deutschen Sprachraum 337 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Heimat

sind die Romane von Adalbert Stifter mit ihrer Beschreibung der Alpenlandschaft Zeugnisse der Heimatverbundenheit, im schweizerisch-deutschen Sprachraum die Romane und Erzählungen von Gottfried Keller, im französischen Sprachraum das Erzählwerk von Marcel Proust »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« mit der Beschreibung der Kindheitswelt des fiktiven Combray, mit Lebensräumen um Chartres und anderen Orten im Norden Frankreichs. Im englischen Sprachraum sind es die Romane von Walter Scott, Jane Austen, den Schwestern Charlotte, Emily und Anne Brontë, Charles Dickens mit ihren Beschreibungen englischer Landschaften und Städte, aber auch Romane von Joseph Conrad und E. M. Forster mit ihren Beschreibungen britischer Kolonien, in denen heimatliche Lebensräume, auch im Konflikt mit Fremdkulturen, eine zentrale Rolle spielen. Konkrete Lebensräume, das Land wie auch die Städte St. Petersburg und Moskau, spielen auch in den vorrevolutionären Romanen und Erzählungen Russlands eine zentrale Rolle, so bei Puschkin, Turgenev, Tolstoi, Dostojewski, Gogol, Tschechow sowie in »Andrej Belyjs Meisterwerk ›Petersburg‹« (Gerigk: Vom Igor-Lied bis Doktor Schiwago, 82 ff). Im Gegenzug schildern schon die literarischen Utopien der Renaissance wie Thomas Morus’ »Utopia« von 1519, Campanellas »Sonnenstaat« von 1623 gleichgeschaltete kalte Lebensräume, in denen sich ein Gefühl von Heimat nicht bilden kann. Erst recht spielen die Negativ-Utopien des 20. Jahrhunderts wie Samjatins »Wir«, Huxleys »Brave New World«, Orwells »1984« zwar auf unserem Planeten, aber in einer komplett entfremdeten und beherrschten Welt, die unsere heimatliche Erde zur Unwelt gemacht hat. Heimat als Bindung von Menschen an konkrete Lebensräume mit ihrer Sprache und Kultur – auch in der Stadt: an einen bestimmten Stadtteil oder »Kiez« –, das sind prägende Strukturen für das menschliche Leben noch heute im Zeitalter der Globalisierung. Heimat ist und bleibt ein lebenswichtiger Wert auch in unserer Zeit. Es ist ein Irrtum von Politikern, wenn sie glauben, das ignorieren zu können. Dass heute viele Menschen auf der Flucht sind, in Lagern leben und somit keine wirkliche Heimat haben, kann daher nur als Impuls gelten, ihnen zu helfen, ihre eigene Heimat als lebenswerte Räume wiederherzustellen. Heimat als Bindung von Menschen an konkrete Lebensräume mit ihrer Sprache und Kultur, dies auch in der Stadt: an einen bestimmten Stadtteil oder »Kiez« – das sind prägende Strukturen für das menschliche Leben noch heute im Zeitalter der Globalisierung. 338 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Heimat in der literarischen Kultur

Es gibt ja auch eine Vielzahl lokaler Helden und Mythen, die mit heimatlichen Lebensräumen verbunden sind und die man hier natürlich nicht im Detail aufzählen kann, die aber für das positive Lebensgefühl in einer Region oder eines Landes wichtig sind wie die Freiheitskämpfer Wilhelm Tell für die Schweiz, Andreas Hofer für Tirol, Adam Mickiewicz für Polen, Garibaldi für Italien. Wie gesagt, Heimat ist und bleibt ein lebenswichtiger Wert auch in unserer Zeit. Immerhin scheint es in jüngster Zeit auch ein Umdenken in der Politik zu geben. Es ist sinnvoll, die Erfahrung sowie die Lebensform ›Heimat‹ auch politisch aufzuwerten und sich für deren Erhalt einzusetzen.

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3.4 Vaterland, Nation

Zusammenfassung (1) Das »Europa der Vaterländer« (de Gaulle) wird geprägt von Ländern mit eigener reicher Kulturgeschichte und einem darauf fußenden Nationalbewusstsein. Deutschland mit seiner problematischen Geschichte des Nationalsozialismus macht da eine Ausnahme. (2) Nation, von lat. »natus« = ›geboren‹, bezeichnet ursprünglich Gemeinschaftsverbände eines Volkes oder verwandter Völker (Ethnien), die durch regionale Herkunft (Heimat), Sprache (Muttersprache), Kultur und gemeinsame Geschichte verbunden sind und somit eine »Nation« bilden. Nationalbewusstsein meint ein positives Identitätsbewusstsein einer Nation, Nationalismus dagegen ist oft mit einem übertriebenen nationalen Selbstbewusstsein verbunden, oft auch mit überheblichen Hegemonialansprüchen gegenüber anderen Nationen. (3) Die Geschichte der Bildung eines deutschen Nationalstaates war belastet durch die Überfrachtung eines »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« mit seiner ethnischen Vielfalt, religiösen Überhöhung und ohne klare Landesgrenzen einerseits, die neuzeitliche Regionalisierung Deutschlands in Fürstenstaaten andererseits. (4) Die Idee und Realität eines modernen bürgerlichen Nationalstaates wird in der Französischen Revolution geboren, führt durch die Kriege gegen Napoleon auch vor allem in Italien und Deutschland zu Nationalbewegungen, die aber durch den Wiener Kongress wieder in fürstenstaatliche Traditionen gelenkt wurde. Die Staatsgründungen des »Königreiches Italien« 1861 wie des »Deutschen Kaiserreiches« 1870/71 waren in diesem Sinne Adelsprojekte unter weitgehendem Ausschluss des bürgerlichen Standes und einer demokratischen Verfassung. (5) Weitere Geschichte der Nationenbildung anderer Staaten Europas. (6) Auch die totalitären Projekte eines faschistischen Staates in Italien und eines nationalsozialistischen in Deutschland waren undemokratisch ausgerichtet. (7) Von den zwei Teilstaaten in Deutschland nach dem Kriege beanspruchten zwar bei340 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Das Europa der Vaterländer

de Teil-Staaten »demokratisch« zu sein, aber nur im westlichen wurde die Regierung freiheitlich demokratisch gewählt, seit der Wiedervereinigung 1990 in ganz Deutschland. (8) Die Akzeptanz eines freien und demokratischen deutschen Nationalstaates fällt aufgrund des politischen Erbes des Nationalsozialismus vielen Deutschen nach wie vor schwer. Das führt zu Problemen und Verwerfungen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. (9) Ein Gelingen des integrierten Europa-Projektes der EU setzt ein positives Nationenbewusstsein in den Nationalstaaten, die das »Europa der Vaterländer« bilden, darunter auch und gerade Deutschland, voraus.

Das Europa der Vaterländer Wir haben bereits im Kap. 3.1 über Vaterland und Nation gesprochen. Denn diese sind die Bezugsbegriffe für Patriotismus. Patriotismus bezieht sich im Allgemeinen auf ein Vaterland und eine Nation. Die Nation ist in Europa der konkrete demokratische Lebensraum, der für die Sicherheit des Bürgers zu sorgen hat, weitgehend die Infrastruktur dieses Lebensraumes organisiert, Grundbedürfnisse wie die Ausbildung, Kranken- und Altersversorgung regelt, und das alles sind, wie wir schon in Kap. 3.1 sagten, Gründe, sich dem Vaterland emotional verbunden zu fühlen: Das Vaterland, die Nation ist ein patriotischer Grundwert des menschlichen Lebens. Dabei haben wir auch schon gesehen, wie stark das Verhältnis zu Vaterland und Nation besonders in Deutschland nach der Herrschaft des Nationalsozialismus durch den von ihm angezettelten Zweiten Weltkrieg und das Vernichtungswerk des Holocaust gestört ist. Deutschland nimmt mit diesem gestörten Nationalbewusstsein eine Sonderrolle in Europa ein, die aber problematisch ist für Deutschland selbst wie auch für Europa. Die meisten größeren Länder in Europa sind doch geprägt von einem stolzen Nationalbewusstsein. Sie hatten eigene Hoch-Zeiten ihrer nationalen Kultur und Geschichte, auf denen ihr nationales Selbstbewusstsein immer noch ruht. So war Italien der Boden, auf dem die römische Kultur erwuchs und in der frühen Neuzeit die Renaissance, beides zentrale und prägende Kulturepochen für ganz Europa. In Spanien und Portugal dominierte das »siglo d’oro« eine ganze Kulturepoche, in Frankreich war die Zeit des Absolutismus die große Zeit auch der französischen Literatur und Kultur, aber dann 341 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Vaterland, Nation

eben auch der Aufstand dagegen in der Französischen Revolution, in dem allererst der Begriff des modernen Nationalstaates geprägt wurde. Die Niederlande hatten ihre große Kulturepoche in der Zeit ihrer weltweiten Herrschaft auch als Handelsvolk im 16. und 17. Jahrhundert, England seine Hoch-Zeit im Elisabethanischen und Viktorianischen Zeitalter, Polen entfaltete seine große Musikkultur im 19. und 20. Jahrhundert, Russland wurde zu einer großen Kulturnation mit seiner Anbindung an Westeuropa seit Peter dem Großen und hatte mit Autoren wie Turgenev, Tolstoi, Dostojewski seine große Literaturepoche im 19. Jahrhundert. Dabei war für ganz Europa die Antike und das Christentum ein gemeinsames Band für ganz Mitteleuropa auch die Aufklärung vom 16. bis 18. Jahrhundert prägend. Diese Vielfalt der verschiedenen nationalen Kulturen auf dem gemeinsamen Boden europäischer Wurzeln macht den Reichtum des kulturellen Europa aus. Es ist ein »Europa der Vaterländer«, wie das Charles de Gaulle einmal nannte, insofern haben die Nationen zugleich auch der politischen wie kulturellen Geschichte Europas jene Form gegeben, die Europa heute hat und die wir bei Reisen durch Europa heute so vorfinden und bewundern können. Zur Wertegeschichte Europas gehören wesentlich die Nation und ihre Nationalkulturen. Deren Bildung aber erfolgte auf sehr unterschiedlichen Wegen. Während Länder wie Frankreich und England schon im späten Mittelalter anfingen, sich als Nationen zu konstituieren mit gesicherten Territorien und zentraler Regierung und Verwaltung, haben Länder wie Deutschland, Italien, Polen, Ungarn, die slawischen Länder u. a. diesen Prozess erst viel später durchlaufen.

Begriff der Nation Was überhaupt ist eine Nation? Der Begriff stammt ab vom lat. Wort ›natus‹ = geboren, das Wort hat also ursprünglich eine stark ethnische Bedeutung. 1571 wird ›Nation‹ definiert als »ein Volck das in einem Land erborn ist« (Kluge: Etymologisches Wörterbuch, 504), also die Nation durch das Volk, das sie bildet. Damit ist das Wort auch mit der Sprache, die das Volk spricht, deren Kultur und Lebensraum, eng verbunden. ›Natio‹ steht auch schon in der römischen Klassik in engem Zusammenhang mit »gens« und »populus« (Phil. Wb. der Phil, Bd. 6, 406). Das Wort bezeichnet also relativ einheitliche ethno342 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Begriff der Nation

graphisch-geographische Gruppen wie Landsmannschaften, Stämme, auch verwandte Völker, und nach solchen Kriterien werden schon an den spätmittelalterlichen Universitäten die Studierenden nach »nationes« eingeteilt (ebd., 407). Zum politischen Begriff wird Nation in deutschen Landen vor allem durch die Formel »Heilig Reich und Teutsch Nation« in der Wahlkapitulation Karls V. 1519, der ersten allein durch Geldmittel entschiedenen deutschen Kaiserwahl (ebd.). An den »christlichen Adel deutscher Nation« wendet sich dann auch Luther 1520 in Abgrenzung von der römischen Kurie und deren Geldgeschäften. Nationen, so kann man definieren, sind ursprünglich Gemeinschaftsverbände eines Volkes oder verwandter Völker (Ethnien), die durch regionale Herkunft, Sprache, Kultur und gemeinsame Geschichte verbunden sind und somit eine »Nation« bilden. Nationalbewusstsein meint in diesem Sinne ein positives Identitätsbewusstsein eines Volkes oder Verbundes von Völkern, die eine Nation bilden. Nationalismus dagegen ist oft mit einem übertriebenen nationalen Selbstbewusstsein verbunden, oft auch mit überheblichem Hegemonialbewusstsein. Der neuere moderne Begriff von Nation ist allerdings schwerer zu fassen, weil er nicht mehr durch einheitliche Ethnien und auch nicht durch eine einheitliche Sprachgemeinschaft zu definieren ist. Die USA, die Schweiz, Belgien, auch Frankreich u. a. sind Nationen ohne einheitliche Ethnien und die drei letzteren Länder auch mit unterschiedlichen Sprachgemeinschaften. Dazu schreibt Eric J. Hobsbawm in einer Vorlesung zum Thema ›Nation‹ : »Daß ›Nationalstaaten‹ in dieser Weise heterogen sein würden, wurde um so bereitwilliger hingenommen, als es viele Regionen in Europa und einem Großteil der übrigen Welt gab, wo ganz offensichtlich auf demselben Territorium ein solches Nationalitätengemisch existierte, daß eine räumliche Entmischung völlig unrealistisch erschien.« (Hobsbawm: Nationen und Nationalismus, 46) Gleichwohl kann eine ethnische und kulturelle Heterogenität auch Sprengstoff bedeuten, wie die Auflösung des Habsburger »Vielvölkerstaates« zeigt und auch die heutigen Spannungen in Ländern wie Belgien und Spanien. Hobsbawm, resümiert: »Die Debatten darüber, was eine Nationalität eigentlich ausmachte, Territorium, Sprache usw. –, führten nicht viel weiter.« (Ebd., 49) Wir verfolgen daher auch hier diese Diskussion nicht weiter, sondern wenden uns konkret der deutschen und danach auch anderen europäischen Nationen zu. 343 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Vaterland, Nation

Geschichte der deutschen Nation Was aber hat es nun mit der deutschen Nation auf sich? Das Wort ›deutsch‹, altsächsisch ›thiudisk‹ erscheint bereits im 8. Jahrhundert im Raum der fränkischen Könige, hier vielfach im Gegensatz zu ›welsch‹, also einer romanischen Sprache wie Italienisch oder Französisch, die sich ja ihrerseits in dieser Zeit als Nationalsprachen formieren oder formiert haben (Kluge: Etymologisches Wörterbuch, 129). Das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« war allerdings, wie bereits im Kap. 1.8 angedeutet, eine besonders problematische Konstruktion. Zum einen belastete die Wiedergeburt des Imperium Romanum in deutscher Gestalt dieses deutsche Kaiserreich sehr, weil es einen Hegemonialanspruch über das ganze Abendland mit sich führte, der gerade in den Zeiten der Nationenbildung anderer Länder wie Frankreich als Herausforderung verstanden werden konnte. Vor dem Aggressionspotential eines nationalistischen Patriotismus warnte ja schon Erasmus von Rotterdam (315). Zudem führte der auch geistliche Führungsanspruch des deutschen Kaisers zwangsläufig zu Konflikten zwischen geistlicher und weltlicher Herrschaft, Kaiser und Papst, wie er sich im sog. Investiturstreit entlud. Schließlich bildete das Reich eben auch keine regionale wie nationale Einheit im Sinne einer Ethnie mit ihrer Sprache und Kultur. Ohnehin zeigt eine neuere Studie zum Thema »Was ist Deutsch?« von Dieter Borchmeyer, wie schwer es ist, die ›deutsche Identität‹ zu definieren: »Die Frage nach der eigenen Identität hat sich kaum eine andere Nation so oft gestellt wie die deutsche.« (Borchmeyer: Was ist Deutsch?, 34) Das hängt eben auch mit der deutschen Geschichte zusammen, der unüberschaubaren Größe des mittelalterlichen deutschen Kaiserreiches und der Überlast von Ansprüchen, die damit verbunden waren. Das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« ist zwar erst eine spätmittelalterliche Prägung, aber bereits mit dem Kaisertum Karls des Großen verband sich die Idee einer »renovatio imperii Romanorum« (Fried: Das Mittelalter, 58 ff). Auch Otto der Große knüpfte an diese Tradition an. Das deutsche Kaiserreich reichte zeitweilig von der Ostsee bis Sizilien, war multiethnisch, regional ausufernd und somit gerade nicht ›national‹ organisiert. Die Zentralmacht des Reiches verlagerte sich im späten Mittelalter dann zunehmend auf die Städte und die Landesfürsten (Kap. 1.8, 202).

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Geschichte der deutschen Nation

Endgültig aufgelöst wurde das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« erst 1806 durch Napoleon. Das Erbe der Reichsidee aber belastete auch die Reichsgründung von 1871, wie Otto Dann und andere Historiker aufgewiesen haben. Die Idee eines Nationalstaates auf Basis der demokratischen Bürgerbeteiligung war ein neues Konzept der Französischen Revolution. »Die Nationalversammlung schuf als Konstituante (Assemblée constituante) einen neuen Staat, den ersten konstitutionellen Nationalstaat in Europa.« (Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland, 59) Die französischen Armeen, die diesen Gedanken dann aus Frankreich heraus in andere Länder trugen, wurden dort zuerst begeistert begrüßt. Napoleon war mit dem »Code Civil« ja auch ein Modernisierer des Rechts und der Staatsorganisation. Erst als immer deutlicher wurde, dass Napoleon seine Feldzüge auch mit einem französischen Hegemonialanspruch verband, drehte sich in den besetzten Ländern die Begeisterung um in Feindschaft und sogar Hass gegen Napoleon und Frankreich, wie wir bereits in Abschnitt 3.1 dieses Kapitels gesehen haben. Gleichwohl, das Modell einer modernen Nation mit Beteiligung des Volkes war nun in der Welt. Die antinapoleonischen Nationalbewegungen hatten insbesondere in den Ländern wie Deutschland und Italien, die noch keine Nationalstaaten waren, große Teile der Bevölkerung mobilisiert. Die Freiheitskriege gegen Napoleon waren ein Ausdruck dieses neuen patriotischen Nationalbewusstseins auch in breiten Schichten des Volkes. Bekanntlich hat der Wiener Kongress von 1815 unter der Leitung des Fürsten von Metternich dieses neu erwachte Nationalbewusstsein wieder umgewidmet in ein Projekt der Wiederherstellung der Fürstenherrschaft. Auch die Gründung des »Königreichs Italien« 1861 unter dem Grafen Cavour und des »Deutschen Kaiserreiches« von 1870/71 unter Fürst Bismarck waren in erster Linie Projekte des Hochadels und nicht der Bürger. »Das Deutsche Reich entsprach in seiner Struktur nur wenig dem vorherrschenden Modell das Nationalstaates […] Die Reichsverfassung von 1871 definierte den deutschen Nationalstaat als einen ›ewigen Bund‹ deutscher Fürsten; das Reich war ein nationaler Bundesstaat.« (Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland, 169 f, dazu auch: Schieder: Nationalismus und Nationalstaat, 197 ff). Dieses neue deutsche Kaiserreich schlidderte dann in den Ersten Weltkrieg auch auf Grund der Unreife und des Großmachtgehabes des deutschen Kaisers Wilhelm II. 345 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Vaterland, Nation

Die Idee eines bürgerlich-demokratischen Nationalstaates wurde dann – nach der kurzen und ungeliebten Episode der Weimarer Republik – wieder nicht realisiert, sondern durch das totalitäre, rassistisch ausgerichtete Staatsgebilde des so genannten »Dritten Reichs« ersetzt, das Deutschland mit seinem schrecklichen Zerstörungswerk die Schuld eines Weltkriegs und des Holocaust hinterließ. Nach 1945, der Niederlage im Zweiten Weltkrieg, entstanden auf deutschem Boden zwei deutsche Staaten, die sich beide ›demokratisch‹ nannten, aber von denen nur einer seine Regierung in fairen und offenen Wahlen bildete. Erst 1989, nach der sog. »Wende«, kam es dann im Jahre 1990 in Absprache mit den ehemaligen Siegermächten und im Kontext eines friedlichen Europa zum zweiten Male in der deutschen Geschichte zu einer nationalen Staatsbildung, nun als demokratische »Bundesrepublik Deutschland«. Dieser Riss zwischen Akzeptanz und Ablehnung Deutschlands als Nation und Vaterland verläuft bis in unsere Tage. Das aber ist eine Gefahr nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa. Der Grund für die Ablehnung auch der BRD als jüngste Ausprägung des deutschen Nationalstaates ist das deutsche Schuldbewusstsein und die mentale Voraussetzung für diese Ablehnung die implizite oder explizite Annahme, dass der Deutsche immer noch »faschistisch« oder »faschistoid« sei, mithin von Deutschland nach wie vor nur Unheil ausgehen könne. Das war die Begründung schon des ersten Terrorismus in der BRD, wie ihn die RAF in den Siebzigerjahren ausübte und damit die Republik tatsächlich in eine Krise stürzte. Günter Grass und viele linke Genossen teilten diese Befürchtung auch noch nach der Wende in ihrer Haltung gegen die Wiedervereinigung. Der deutsche Nationalstaat ist aber kein ›faschistischer‹ oder ›faschistoider‹ Staat mehr, sondern ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat, wie er so freiheitlich und demokratisch bisher nie auf deutschem Boden bestanden hatte und wie er auch heute beispielhaft in der Welt dasteht. Die Störung oder Zerstörung eines vernünftigen Diskurses über den ungeregelten und massenhaften Zustrom von Asylanten und vor allem Wirtschaftsflüchtlingen durch das Argument, eine Kritik daran sei »rassistisch« oder »fremdenfeindlich«, ist gefährlich, weil es mit seinem Rückgriff auf alte, wenn auch umgekehrte Nazikategorien einen vernünftigen aktuellen Diskurs über das Thema geradezu blockiert. Das Hauptproblem bei dem massenhaften Zustrom vor allem männlicher Wirtschaftsflüchtlinge ist ja nicht deren Rasse. Es ist kein 346 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Geschichte der deutschen Nation

Problem, einen gut ausgebildeten Arzt aus Syrien oder Schwarzafrika in Deutschland zu integrieren, der könnte sofort in einem deutschen oder jedem europäischen Krankenhaus anfangen zu arbeiten. Es ist aber ein erhebliches Problem, schlecht bis gar nicht ausgebildete männliche junge Männer mit islamischer Religion und einer daraus abgeleiteten Überheblichkeit gegenüber westlicher Kultur in Deutschland und Europa zu integrieren. Mit Rassismus hat das gar nichts zu tun, mit Kultur, Religion und Bildung dagegen sehr viel. Und genau das könnte zu einer Hauptgefahrenquelle für das demokratische Deutschland und Europa werden, ist es auch schon geworden, weil eine funktionsfähige Demokratie wesentlich auf Rationalität, Bildung, Toleranz, Akzeptanz von Rechtsnormen, auch Wehrbereitschaft für die Demokratie beruht, wie in Ansätzen schon Perikles im alten Athen verkündete (Kap. 1.4, 99 ff). Diese europäischen Werte werden aber von vielen der nach Europa und vor allem Deutschland Strömenden gar nicht geteilt, mithin die Homogenität der deutschen Demokratie unterlaufen und somit auch gefährdet. Die Sonderrolle eines Negativnationalismus Deutschlands bei dieser Frage hat auch einen negativen Effekt für Europa: Alle Länder Europas haben – bei aller Selbstkritik – ein positives Verhältnis zum eigenen Nationalstaat. Allein viele Deutsche und auch deutsche Politiker leben zwar gut im heutigen demokratischen und wirtschaftlich erfolgreichen Deutschland, teilen aber nicht das positive Verhältnis gegenüber dem eigenen Nationalstaat. Vielen von ihnen ist es vielleicht sogar gleichgültig, wer in Deutschland wohnt und ob die deutsche Sprache, Kultur und Geschichte in Deutschland gepflegt oder verdrängt wird. Die Politikerin Aydan Özuguz, derzeit Integrationsbeauftrage der SPD, behauptete im Frühjahr 2017, dass eine deutsche Kultur »jenseits der Sprache schlicht nicht identifizierbar« sei, als hätte es eine deutsche Musikkultur von Bach über Beethoven, der Romantik bis zu Wagner und darüber hinaus nie gegeben, als gäbe es keine deutsche Literatur mit einer Reihe von Literaturnobelpreisträgern auch noch in jüngerer Zeit, keine deutsche Philosophie, keine deutsche Kulturgeschichte. 1 Nicht, dass all diese Kulturwerte bei der Integration von Flüchtlingen diesen eingetrichtert werden sollten, aber dass eine Integrationsbeauftrage einer großen Partei mit einem http://www.epochtimes.de/politik/deutschland/aydan-oezoguz-zu-deutschlandeine-spezifisch-deutsche-kultur-ist-jenseits-der-sprache-schlicht-nicht-identifizier bar-a2120482.htm

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Vaterland, Nation

»D« im Namen gar nichts davon zu wissen schien, ist schon bemerkenswert. Mit seinem negativen Nationalbewusstsein ist Deutschland auch eine Gefahr für Europa geworden, da alle Länder Europas eine andere Politik verfolgen als Deutschland. Kein Land Europas befürwortet jene Entgrenzung der Zuwanderung, wie das Deutschland 2018 immer noch als offizielle Politik verfolgt und diese Politik als Willkommenshaltung auch allen anderen Ländern Europas aufdrängen will. Diese Länder wenden sich dann von Europa ab, wie das England schon durch den Brexit getan hat und andere Länder in Ablehnung der deutschen Politik und Abwendung von Europa tun. Ein gutes und vereintes Europa ist ein »Europa der Vaterländer« und braucht dazu auch starke und selbstbewusste Nationen, unter ihnen eine starke und selbstbewusste deutsche Nation. Die Nationen und ihre Ordnungsfunktionen gehören auch zum kulturellen Kapital Europas und seiner Werte. Eine selbstbewusste deutsche Nation ist in diesem Sinne kein Hemmnis für ein gelingendes Europa, sondern sogar dessen Voraussetzung.

Nationenbildung in anderen Ländern Europas Auch andere Länder Europas können auf eine lange Tradition der Nationenbildung mit wechselvoller Geschichte zurückblicken, in der sie immer wieder auch ihre Unabhängigkeit allererst erkämpfen und gegenüber mächtigen Nachbarstaaten behaupten mussten. Dazu gehört Italien, das ein ähnliches Schicksal hatte wie Deutschland: Der Begriff der Nation wurde hier in der Kulturgeschichte des Landes schon lange vor der politischen Einigung Italiens vorbereitet. Es waren italienische Humanisten und insbesondere die Dichter Petrarca und Dante, die mit ihren in italienischer Sprache verfassten Werken das Bewusstsein einer eigenen italienischen Kulturnation schufen, die natürlich an das große Erbe des Römischen Reiches anknüpfen konnte. So war Italien »für Dante eine geographische und wahrscheinlich auch eine kulturelle Einheit, aber keine autonome politische Größe, denn es war das Zentrum einer größeren politischen Einheit, des Imperiums.« (Münkler / Grünberger / Mayer: Nationenbildung, 91) Dieses Imperium war natürlich nicht mehr das Imperium Romanum, sondern das der katholischen Kirche als dessen kulturelles Erbe. Die eigentlich politische Einigung Italiens vollzog sich 348 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Nationenbildung in anderen Ländern Europas

in Italien wie in Deutschland erst im 19. Jahrhundert, auch hier als Reaktion auf die Invasion Napoleons, auch hier durch Freiheitskämpfer (des Risorgimento gegen Frankreich und gegen Österreich) vorbereitet und dann durch konservative Politiker in monarchisches Fahrwasser gelenkt. Im Jahre 1861 wurde Viktor Emanuel II. als König von Italien gewählt, zehn Jahre vor der Proklamation von Wilhelm I. als Deutschem Kaiser. Ältere Nationen in Europa wie England und Frankreich formierten sich bereits im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. Das Habsburger Imperium mit seinem Anspruch einer »monarchia universalis« und riesigen Kolonialbesitzungen dagegen zerfiel gerade auch durch die nationalstaatlichen Entwicklungen seit der frühen Neuzeit in immer kleinere Teile, dies übrigens nicht nur in Europa, sondern seit dem 18. und verstärkt im 19. Jahrhundert auch in den Kolonien selbst (Kohler: Das Universalreich Karls V. In: Gehler / Rollinger: Imperien, II, 865 ff). Aus diesem Abspaltungsprozess gingen die Niederlande als eigene Nation hervor, die sich in einem mutigen Freiheitskampf über achtzig Jahre (1568–1648) gegen Spanien behaupteten und dann selbst zu einer europäischen Groß- und Handelsmacht aufstiegen, dies auch in Konkurrenz zu England. England war begünstigt von seiner insularen Lage. Es waren angelsächsische Könige wie Alfred der Große, der nach dem Vorbild Karls des Großen durch Klostergründungen lateinische Kultur nach England brachte und so auch ein englisches Nationalbewusstsein mitbegründete. 1066 besiegte Wilhelm der Eroberer den angelsächsischen König, Beginn einer anglo-normannische Herrschaft dort. Durch das ganze Mittelalter hindurch zogen sich englisch-französische Vorherrschaftskriege, bei denen letztlich England unterlag und sich auf die Insel zurückziehen musste. Die Engländer behielten nur Calais. Dagegen hatte England ab dem späten 12. Jahrhundert Irland und Wales erobert und regierte in Personalunion auch Schottland ab 1603. Da hatte Heinrich der VIII. die Anglikanische Kirche schon vom Heiligen Stuhl in Rom abgekoppelt und so auch ein Bewusstsein der nationalen religiösen Besonderheit Englands geschaffen. Bereits im Mittelalter formierte sich ein parlamentarisches Bewusstsein in England, das in der »Magna Charta Libertatum« von 1215 dem König Rechte abrang und in der »Bill of Rights« 1689 auch als Parlamentsreform festgeschrieben wurde (siehe Kap. 1.4, 107). Das Königreich England stieg nach dem Sieg über Spanien und seine Armada im 17. Jahrhundert auf zur mächtigsten Seefahrernation der 349 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Vaterland, Nation

Welt mit weltweiten Kolonien, die dann auch im britischen Mutterland ein stolzes Nationalbewusstsein erzeugte, das allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Verlust der meisten Kolonien auch starke Einschränkungen hinzunehmen hatte. Die parlamentarische Monarchie England gehörte seit 1973 der EG und später der EU an, votierte aber bekanntlich 2016 für den Brexit. Auch das war Ergebnis eines eher von Europa abgespaltenen Nationalbewusstseins vieler Engländer und förderte dieses weiter. Aufs Ganze gesehen hat sich der Nationalstaat des Königreiches England nicht durch gezielte Nationalpolitik gebildet, sondern war eher ein Produkt eines eigenständig insularen Sonderweges, in den Hochzeiten der Macht des britischen Empire enorm gesteigert zum britischen Nationalbewusstsein. Auch Frankreich gehört zu den frühen Großmächten Europas, dessen Nationalbewusstsein sich auch und gerade im Kampf mit der englischen Krone und deren Ansprüchen auf französisches Territorium und Herrschaft dort herausbildete. Die Bildung und Einung Frankreichs vollzog sich schon in der frühen Neuzeit durch die expansive Politik der französischen Könige, die von der Isle de France aus die Engländer aus dem Lande drängten und konsequent eigene Expansionspolitik betrieben mit der Eingliederung der Normandie, Bretagne, Burgunds. Schon unter König Philipp IV. (dem Schönen), der es wagte, 1309 den Papst in Avignon festzusetzen, und mit Hilfe der Kirche und ihrer mittlerweile verstärkten Ketzerpolitik den Süden Frankreichs eroberte, hatte Frankreich den Status einer Hauptmacht Europas und einer Hauptquelle der europäischen Kultur gewonnen. Die Geburt der Gotik wie der europäischen Universität in und um Paris beförderte dieses nationale Bewusstsein. Der französische Absolutismus unter Ludwig dem XIV. steigerte dieses noch, u. a. auch durch brutale Eroberungskriege in den Niederlanden und in der Pfalz. Bekanntlich hat die Französische Revolution von 1789 den Absolutismus in Frankreich beendet und den modernen Nationalstaat geschaffen, der aber durch den Revolutionär Napoleon selbst wieder in monarchische und expansiv-nationalistisches Fahrwasser umgeleitet wurde. Das 19. und 20. Jahrhundert steht dann unter den erwähnten Freiheitskriegen der von Napoleon eroberten Länder gegen Frankreich und für die Bildung der eigenen Nation. Die Bildung der Nationen verband sich daher eng mit dem Freiheitsbegriff. Die Bewegungen der Nationalstaatenbildungen im 19. und 20. Jahrhundert waren zugleich Freiheitsbewegungen, also eine Verbindung der Werte 1.5 und 3.1. 350 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Nationenbildung in anderen Ländern Europas

Dabei war der Kampf der Griechen um ihre Befreiung von den Osmanen ein Fanal für ganz Europa. Der griechische Freiheitskrieg von 1821–1829 wurde von den europäischen Großmächten Frankreich, England, auch Russland unterstützt, zugleich allerdings wurden die revolutionären Elemente darin auch argwöhnisch beäugt. Der deutsche Dichter Hölderlin wie auch der englische Lord Byron begeisterten sich für die griechische Revolution und ihren Freiheitskampf. Dessen konfuse Kriegssituation schleppte sich über Jahre hin, bis 1827 die Flotte der europäischen Großmächte bei Navarino die Flotte des Sultans vernichtend schlug. Der zog sich daraufhin aus Griechenland zurück. Nach dem russisch-türkischen Krieg von 1828–1829 wurde im Londoner Protokoll von 1830 die Bildung eines griechischen Staates mit einem König an der Spitze beschlossen. Der erste Herrscher des allerdings noch kleinen Staatsgebietes war Otto I. von Bayern, also kein Grieche und kein Bürgerlicher. Wie auch in Deutschland wurde der griechische Freiheitskampf von den wieder erstarkten monarchischen Kräften in konservatives Fahrwasser umgelenkt. Der unglücklich agierende König musste nach einem unblutigen Aufstand 1862 abdanken. Der von der griechischen Nationalversammlung neu gewählte König hieß Georg I., der eine gewisse Popularität erlangte und demokratische Elemente in die Verfassung einführte. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts erweiterte Griechenland sein Staatsgebiet, hegte nach der Abschaffung der Monarchie unter Premierminister Eleftherios Venizeleos auch Pläne eines Großgriechenlands, die aber durch die Niederlage im Krieg mit der Türkei 1922 begraben wurden. Im Zweiten Weltkrieg leistete Griechenland den einmarschierenden Italienern Widerstand, was zum Eingreifen und zur Invasion der deutschen Wehrmacht führte mit katastrophalen Folgen für das Land. Der Partisanenkrieg ging dann nach Ende des Zweiten Weltkrieges über in einen Krieg zwischen Royalisten und Kommunisten, die allerdings wenig Unterstützung von den sozialistischen Staaten erhielten. 1952 trat Griechenland der Nato bei, wurde 1967 nach einem Obristenputsch eine Militärdiktatur und konnte erst 1974 zur Demokratie zurückkehren. 1981 trat Griechenland der EG bei, schon damals heftig diskutiert, und gehörte auch zu den Gründungsmitgliedern der Eurozone, deren Kriterien das Land eigentlich nicht erfüllte, was zu den bis heute andauernden Verwerfungen des Euroraumes und einer andauernden Krise der politischen Situation in Griechenland selbst führte. Aber Griechenland als Wiege der europäischen 351 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Vaterland, Nation

Geschichte hatte bei Einführung des Euro nicht fehlen sollen, die damit eingehandelten Schwierigkeiten waren allerdings unterschätzt worden. Wenn wir einen Blick auf die Hauptstadt der EU, Brüssel, und das Land Belgien werfen, so stoßen wir auch hier auf eine wechselvolle Geschichte. Die Römische Provinz »Belgica« stand in der Neuzeit unter spanischer, französischer, niederländischer Herrschaft bis zur Unabhängigkeitserklärung von 1830 und Verfassung von 1831, die die Nation als eine konstitutionelle Monarchie begründete, welche allerdings die beiden unterschiedlichen Landesteile – den niederländisch flämisch geprägten Norden und das französisch geprägte südliche Wallonengebiet – nur mühsam zusammenhält. Sowohl im Ersten wie Zweiten Weltkrieg wurde das Land von den deutschen Truppen überfallen und besetzt. Belgien bildete 1958 zusammen mit Holland und Luxemburg – den Benelux Ländern – eine Zoll- und Wirtschaftseinheit, der Kernraum der EWG. Nach der späteren europäischen Einigung zur EU wurde Brüssel deren Hauptstadt, das Hauptquartier der NATO lag bereits in Brüssel seit 1967. Die Wurzeln der Nationenbildungen und des Nationalgefühls der Völker reichen vielfach tief in die Geschichte zurück. Dabei gilt generell für die slawischen Länder wie auch die Länder Nordeuropas, dass sie vor allem durch die Christianisierung an die Kulturgeschichte Europas herangeführt wurden, ein Prozess, der sich über Jahrhunderte hinzog und zumeist durch die Konversion der Herrscher auch für das Volk vollzogen wurde (Padberg: Die Christianisierung Europas im Mittelalter, 94 ff). Diese Christianisierung erfolgte in der Einheitssprache der europäischen Gelehrtenkultur des Lateinischen, bis in der Neuzeit die nationalen Sprachen selbst zur Nationen-bildenden Kraft wurden. Wie bereits erwähnt, die Gelehrtenkultur des italienischen und auch deutschen Humanismus bereitete den Nationenbegriff dieser Länder vor. Auch in den slawischen Ländern kam es zu einer Europäisierung durch Christianisierung. So nahm der polnische König Mieszko nach seiner Niederlage gegen Otto I. das Christentum an und leitete so die »allmähliche Christianisierung Polens« ein (Ebd., 163). Das Königreich Polen unterhielt seit seiner Gründung bis heute eine enge Bindung an den Heiligen Stuhl in Rom. Nach wechselvoller Geschichte vereinigte sich Polen 1569 mit dem Großherzogtum Litauen, wurde dann aber Ende des 18. Jahrhunderts in drei Teilungen durch die Nachbarmächte Russland, Preußen und Österreich seiner Souveräni352 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Nationenbildung in anderen Ländern Europas

tät beraubt. Bis 1915 existierte Polen faktisch unter Fremdherrschaft, gezeichnet durch viele blutige, letztlich erfolglose Aufstände. Gleichwohl sorgte die polnische Nationalbewegung im 19. und frühen 20. Jahrhundert dafür, dass das Nationalbewusstsein wach blieb und das Recht Polens auf Selbstbestimmung von den Weltmächten anerkannt wurde. Insbesondere der amerikanische Präsident Woodrow Wilson setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein. Zu den Ergebnissen von Versailles gehörte daher auch die Gründung der Republik Polen im Jahre 1918, bis das Land 1939 durch den Überfall Hitlers erneut fremdbesetzt wurde. Von 1945 bis 1989 existierte dann die Volksrepublik Polen unter russischem Diktat mit der Westverschiebung der Staatsgrenze und der bekannten Zwangsumsiedlung von Deutschen aus den von Russland annektierten polnischen Gebieten. Erst seit 1989 mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes entstand ein freiheitlicher Staat – die Dritte Republik Polen – mit Parlamentswahlen und der Anerkennung der neuen Grenzen auch durch die Bundesrepublik Deutschland. 1999 wurde Polen in die NATO aufgenommen, 2004 in die EU. Ähnlich lang und kompliziert ist die Geschichte des Königreichs Ungarn. Die Magyaren führten gefürchtete Raubzüge durch ganz Europa, bis sie Otto I. 955 vernichtend auf dem Lechfeld schlug und damit in ihre Grenzen verwies. Im Jahre 1000 n. Chr. bildete Ungarn unter Stephan I. ein Königreich, das 1102 um Kroatien erweitert wurde. Ende des 15. Jahrhunderts war Ungarn eine Großmacht unter dem gebildeten Matthias Corvinus, der das Land an die europäische Renaissance anschloss bzw. diese in das Land holte und dieses auch gegen die Türken verteidigte. Das Ende der Großmacht kam über Ungarn dann aber durch die osmanische Invasion unter Süleyman I. 1526. Endgültig vertrieben wurden die Türken aus Ungarn erst 1699 durch die Habsburger. Die aber begründeten ihrerseits eine Fremdherrschaft mit harter Hand. Jahrzehntelang kämpfte der ungarische Adel und das Bürgertum gegen diese Fremdherrschaft, bis 1867 Österreich und Ungarn als formell gleichberechtigte Partner in der Form einer Doppelmonarchie sich vereinten. Diese Einung hielt bis zum Ersten Weltkrieg, der zur Auflösung des habsburgischen »Vielvölkerstaates« führte. Am 31. Oktober 1918 erklärte Ungarn seinen Austritt. Bereits am 16. November rief Mihály Károlyi die demokratische Republik Ungarn aus. 1919 nahmen die Kommunisten unter Béla Kun die Macht und grün353 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Vaterland, Nation

dete dort eine Räterepublik. Nach wenigen Monaten musste er fliehen, der konservative Miklós Horthy eroberte Budapest. Formal wurde die Monarchie eingeführt, faktisch regierte Horthy das Land bis 1944. Danach wurde das Land wie ganz Osteuropa dem kommunistischen Ostblock eingegliedert mit der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956, bis der Kollaps des Kommunismus auch in Ungarn 1989 die Gründung einer freien parlamentarischen Republik ermöglichte. Ebenfalls 1999 wurde Ungarn Mitglied der Nato, 2004 Mitglied der EU. Zwei weitere Landeskomplexe lösten sich nach dem Ersten Weltkrieg von der Habsburger Monarchie und bildeten neue Staatsgebilde: die Tschechoslowakei und Jugoslawien. Beide Staatsgebilde lösten sich mit dem Zerfall des Ostblocks auch wieder auf: Die Tschechoslowakei mit dem Staatsgebiet des alten Königreiches von Böhmen und Mähren, dem Sudetenland und der Slowakei entstand 1918 als unabhängiger Staat – die Tschechische Republik –, der dann von Hitler teilannektiert und zerschlagen, nach dem Krieg wieder vereint wurde. Die Tschechoslowakei wurde 1948 durch Staatsstreich kommunistisch und auch erst 1989 von der kommunistischen Herrschaft befreit. 1993 trennten sich die beiden Teilstaaten Tschechien mit der Hauptstadt Prag und Slowakei mit der Hauptstadt Bratislava. Beide Länder sind Mitglieder der NATO und seit 2004 der EU. Das andere Land ist Jugoslawien, ein Staatsgebilde, das wie die Tschechoslowakei und auch Rumänien in dem Vertrag von Trianon von 1920 bestätigt wurde, von 1918–2003 existierte, von 1945–63 als Sozialistische Föderative Republik, 1963–1992 in Sozialistische Föderative Volkspublik umbenannt, nach der Auflösung des kommunistischen Ostblocks in die Teilstaaten Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzogowina, Mazedonien und die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) zerfiel, die alle ihre eigene Geschichte und Freiheitsbewegungen hatten. Von diesen Staaten gehören mittlerweile Kroatien und Slowenien im Rahmen der Osterweiterung von 2004 zur NATO und EU, die anderen Länder sind diesbezüglich im »Wartestand«. Wie erwähnt wurden die Länder Nordeuropas vor allem durch die Christianisierung an den Stand der europäischen Kultur und ihrer Werte herangeführt. So erfolgte die Christianisierung der Dänen unter der Schwertweihe der Karolinger. Insbesondere König Ludwig der Fromme (Regierungszeit 814–840) erzwang hier die Christianisierung. In Norwegen waren es die Könige Olaf I. (Regierungszeit 995– 354 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Nationenbildung in anderen Ländern Europas

1000) und Olaf II. (Regierungszeit 1015–1030), die, in England bzw. in Rouen getauft, die Christianisierung in ihrem Land durchsetzten. Im 11. und 12. Jahrhundert war die Christianisierung Mittel- und Nordeuropas einschließlich Islands weitgehend abgeschlossen. Das heißt nicht, dass nicht heidnische Vorstellungen und Praktiken noch lange Zeit in Europa weiter existierten, insbesondere in den Randzonen und in den ländlichen Gebieten. Die Länder Nordeuropas mit ihrer tief in der germanischen Tradition wurzelnden eigenen Geschichte, spielen in der heutigen EU eine Sonderrolle, insofern Dänemark wie Schweden zwar der EU betraten, nicht aber den Euro als Währung annahmen, Norwegen sogar 1994 in einer Volksabstimmung den Beitritt zur EU verweigerte. Das Land gehört aber zum Europäischen Binnenmarkt, ein Status, den ja auch England nach dem Brexit anstrebt. Die kleinen Ostseeländer Lettland und Litauen sind seit 2004 Mitglieder der EU und gehören auch der Eurozone an. Abschließend noch ein Wort zur bereits in diesem Zusammenhang erwähnten Schweiz, deren ehemals lockerer Staatenbund sich ja zum »Schutz der alten Freiheiten« in der Schlacht bei Sempach 1386 tapfer gegen die Habsburger behauptete sowie auch in späteren Schlachten gegen den deutschen Kaiser und andere Feinde. Die kluge Neutralitäts- und Friedenspolitik der Schweiz im Verbund mit einer reformierten Handelspolitik, die 1798 zur Gründung der Helvetischen Republik führte und 1848 in einen modernen Bundesstaat, hat dieses Land zu einem der reichsten Länder der Erde werden lassen. Die Schweiz wurde 1960 Mitglied der europäischen Freihandelszone, trat auch 1963 dem Europarat bei, aber nicht der EU, teilte aber deren Schengen- und Dublinabkommen. Wenn man die Geschichte der europäischen Völker und Länder auch nur im groben Überblick überschaut, wird noch einmal deutlich, wie bedeutsam für diese Völker die nationalen Freiheitsbewegungen waren und immer noch sind. Gewiss, der Nationenbegriff ist vor allem Ende des 19., in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch einen imperialen Chauvinismus wie auch Rassismus schwer belastet worden. Aber dennoch ist Europa, wie de Gaulle sagte, ein Europa der Vaterländer, das – im Rahmen der europäischen Wertegemeinschaft – auch durch seine nationale kulturelle und sprachliche Vielfalt besticht, durch seinen Reichtum an regionalen Differenzen und Kulturen. Europa teilt die zentralen Werte (1) der im antiken Griechentum wurzelnden Rationalitätskultur, (2) des Christentums einschließlich 355 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Vaterland, Nation

seiner religiösen Konflikte und konfessionellen Unterschiede, aber eben auch (3) der patriotischen Werte von Vaterland und Nation, die ja – paradoxerweise –gesamteuropäische Werte sind, insofern sie mehr oder weniger alle Länder Europas teilen. Es ist ja die Wertegruppe des Patriotismus und der Nation, die die Landkarte Europas, wie sie sich heute zeigt, geprägt hat. Ohne diese Werte wäre es auch nicht zur deutschen Einigung gekommen. Die Formel »Deutschland, einig Vaterland« aus der von Johannes R. Becher gedichteten Hymne der DDR war für viele Bürger des Landes auch der Impuls, eben dieses wiederherzustellen.

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Kapitel 4 Ausblick: Europäischer Werte-Partriotismus und Werte-Balance

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Zusammenfassung

(1) Werte prägten und prägen Kulturepochen, diese können somit nach den in ihnen dominierenden Werten unterschieden werden. Das gilt insbesondere für die drei Makroepochen der abendländischen Kulturgeschichte: Antike, Mittelalter und Neuzeit einschließlich ihrer Mikroepochen. (2) Einseitige Dominanzen von Werten erzeugen instabile und vielfach auch inhumane politische Realitäten. Dauerhaft und zuträglicher ist eine Werte-Balance der europäischen Leitwerte. (3) Abschließendes Plädoyer für einen Patriotismus der europäischen Werte in einer klugen Balance der Werte, in Vermeidung der fünf Wertefallen und als Leitfaden für das politische Denken und Handeln.

Dominanz von Werten als Merkmal von Kultur-Epochen In der europäischen Kulturgeschichte dominierten und dominieren jeweils einzelne Werte oder Wertegruppen. Sie prägen somit ganze Epochen. Dementsprechend kann man – nach solcher Werte-Dominanz in den Epochen – diese auch danach unterscheiden. Darauf haben wir bereits in der Einleitung hingewiesen. Im Wesentlichen sind es in der europäischen Geschichte drei Makroepochen, die wir so unterscheiden können, noch einmal unterteilt in mehrere Mikroepochen: (I) Die Antike mit ihrer Dominanz der Wertegruppe (1) der Rationalitätskultur, noch einmal unterschieden in (I. 1) Griechische Antike mit der Dominanz von Rationalität im Sinne von philosophisch-wissenschaftlichem Denken, Demokratie, Freiheit, Individualität. (I. 2) Römische Antike mit ihrer Dominanz des Wertes der Wehrhaftigkeit (1.10), also der militärischen Kultur Roms einschließlich einer rationalen Strukturierung des Raumes durch geometrisierte Anlagen von Lagern und Städten, Straßenbau und Ackerparzellie359 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Zusammenfassung

rung, entsprechende Bautechniken sowie einer hoch entwickelte Rechtskultur, wie in 1.8 ausgeführt. Bereits in der römischen Antike entsteht (2) ein neues religiöses Bewusstsein, das dem »Kaiser gibt, was des Kaisers ist«, gleichwohl aber ein neues Transzendenzbewusstsein schafft und damit auch eine neue Form religiös-sozialen Zusammenhalts. Daraus geht die Makroepoche II hervor: (II) Christliches Mittelalter: Das neue religiöse Bewusstsein wird in der Form des Christentums im 4. Jahrhundert römische Staatsreligion und formiert die Epoche des christlichen Mittelalters. Dieses kann selbst in mehrere Phasen unterteilt werden, mindestens aber vier: (II. 1) Die Spätantike/Frühes Mittelalter mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches und seiner Rechtssicherheit – also einem Zusammenbruch und auch Verfall abendländischer Werte. Die Kirche, also die zentrale Religionsinstanz, wird nicht nur zum Träger religiöser Werte, sondern auch der rationalen Werte durch Aufnahme und Fortsetzung der antiken Schriftkultur, Baukultur, Rechtskultur, auch Wehrhaftigkeit und Technizität. Es kommt so zu einer Durchmischung von antik-hellenistischen Werten der Wertegruppe (1) mit christlichen der Wertegruppe (2), (II. 2) die fränkisch-karolingische Epoche als Aufbau eines König- und Kaisertums mit erneuertem römisch-imperialem Anspruch unter der Dominanz der christlichen Religion. Der Kaiser wird zum Schutzherrn des Glaubens und der Kirche, die weiterhin eine zentrale Funktion innehat als Trägerin auch der rationalen Kultur des eigenen Denkens und der Rechtskultur, nicht aber der Freiheit, Demokratie, Individualität. (II. 3) das hohe Mittelalter mit der Entwicklung einer komplexen Theologie als einer Form der rationalen Durchgestaltung christlicher Glaubensinhalte, also einer weiteren Verbindung von Rationalität und religiösem Glauben unter der Dominanz der christlichen Glaubensgehalte, aber als deren rationale Systematisierung. Hauptträgerinstanzen dieser Werteverbindung sind zunächst die Klöster, ab dem 12. Jahrhundert auch die neu gegründete Bildungsanstalt der Universität als Institution der Rationalität, aber unter der Dominanz des christlichen Glaubens. Insofern ist und bleibt die Rationalitätskultur auch der Subtext des christlichen Mittelalters, wie sie sich beispielhaft in der christianisierten Platon- und Aristoteles-Rezeption vollzieht. Es kommt zu vielen Konflikten zwischen beiden Werte360 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Dominanz von Werten als Merkmal von Kultur-Epochen

kategorien. Politisch ist diese Zeit geprägt vom Kampf zwischen Kaiser und Papst, dem Machtzuwachs der Kirche und ihrer Institutionen bei gleichzeitiger Schwächung des Kaisers und seines überhöhten Machtanspruchs. (II. 4) Das späte Mittelalter als Übergangsphase zur Neuzeit ist geprägt durch die Machtverlagerung vom Kaisertum auf lokale Fürsten und Städte, damit eine Entsakralisierung der Macht, mithin Zunahme von rational-säkularen Denkformen und Institutionen in dieser Epoche unter Abkoppelung von der Dominanz der christlichen Religion. (III) Die Neuzeit ist eine Epoche der bereits im Spätmittelalter sich abzeichnenden zunehmenden Dominanz der Rationalitätskultur (1) und ihrer Werte gegenüber den religiösen Werten (2) sowie der Bildung von Nationalstaaten, also der Wertegruppe (3). (III. 1) In der frühen Neuzeit vollzieht sich die Spaltung der christlichen Religion in Katholizismus und Protestantismus, zerbricht also die Einheit des christlichen Glaubens, der sich bereits im 11. Jahrhundert in Ost- und Westkirche aufgespalten hatte. Weiterhin vollzieht sich ein Paradigmenwechsel von der religiösen zur wissenschaftlichen Weltsicht, der in Wahrheit in Rückgriff ist auf die antike Rationalitätskultur und ihre philosophischen wie naturwissenschaftlichen Einsichten. Diese Rückkehr zur Rationalitätskultur (»Renaissance«) wird befördert durch die Eroberung von Konstantinopel seitens des osmanischen Islam und die von dort nach Italien fliehenden griechischen Gelehrten mit ihren Manuskripten. Sie wird allerdings zunehmend begleitet auch von einer Fülle von Inquisitionsprozessen gegen die Vertreter der Wissenschaft und sogenannte »Hexen« sowie eine Machtverlagerung weg vom »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« hin zu lokalen Fürstentümern und Städten. In einigen Ländern, so in England und Frankreich, kommt es zu einer frühen Nationenbildung. (III. 2) Die Phase der Aufklärung ist geprägt von der Dominanz der philosophischen Rationalität (1.1) mit ihren Erfindungen neuer Formen politischer Vergesellschaftung durch Vertragsbindung, Emanzipation des Bürgertums als Träger der Rationalitätskultur, Frühformen technischer Manufakturen und neuer Kriegstechniken, also Zunahme der Technizität. (III. 3) Ende des 18. Jahrhunderts, 19. Jahrhundert: Die Französische Revolution leitet einen Prozess der Demokratisierung ein und führt zur Bildung des ersten modernen Nationalstaates und Entwick361 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Zusammenfassung

lung eines nationalen Patriotismus in vielen Ländern Europas nach Wertegruppe (3). Frühphase der Industrialisierung nach der Wertekategorie Technizität (1.10) und Bildung auch von säkularen Formen der Religiosität nach Wertekategorie (2.2). (III. 4) Phase eines extremen Nationalismus bei militärischer Hochrüstung, demokratisch nicht legitimiert und nicht kontrolliert – also unter Ersetzung der zentralen Werte der Rationalitätskultur wie Demokratie, Freiheit, Individualität (1.4–1.6) durch ein »Untertanenbewusstsein« –, führt zum Ersten Weltkrieg und, verbunden mit einem pseudowissenschaftlichen Rassismus und auch unter massiven Brüchen mit der Rechtsstaatlichkeit (1.8), zum Nationalsozialismus und Faschismus und zu dem von ihm ausgelösten Zweiten Weltkrieg. (III. 5) Nachkriegsphase mit der erstmalig im deutschen Kulturraum installierten rationalen Grundwerten des freien Denkens, der Demokratie, Freiheit, Individualität, Rechtsstaatlichkeit (1), dies allerdings zunächst nur in westlichen Teilen Europas, nach 1989 auch in den östlichen Ländern. Neubildung des deutschen Nationalstaates nach Wertegruppe (3), aber vielfach Ausbleiben eines deutschen Patriotismus auch im vereinigten freien deutschen Nationalstaat mit einem hohen Maß auch an Solidaritätskultur sowie der Wertekategorie Friedfertigkeit nach (2.3). (III. 6) Mit der wirtschaftlichen Prosperität einhergehende zunehmende Problematik der Ausbeutung der Natur und entsprechende Zunahme der Bedeutung des Wertes der Nachhaltigkeit nach (2.3). Zunehmende Hochphase einer Technizitätskultur mit der Expansion technischer Formen von Kommunikation, technischer Medien, technischer Formen der (Selbst-)Organisation von Arbeit, von Wohnen und Leben, also einer expansiven Dominanz der Kategorie der Technizität nach (1.10) in Europa und weltweit.

Zerstörung und Balance der Werte Blickt man auf diese knappe Skizze der Wertedominanzen in der europäischen Kulturgeschichte sowie auf unsere Studie zu Europas Werten insgesamt, so kann man konstatieren, dass deren gefährlichste und zerstörerischste Phasen immer mit einer Defizienz an politischer Rationalität bei gleichzeitiger hoher Technizität zu tun haben: Dies gilt vor allem für den politischen Totalitarismus, wie er 362 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Zerstörung und Balance der Werte

sich bereits im 19. Jahrhundert in einem überspannten Nationalismus anbahnte und in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts – dem von aller Rationalität verlassenen rassistischen Nationalsozialismus einerseits, dem real existierenden Sozialismus-Kommunismus andererseits – in Europa und weltweit ausbreitete. Beide Systeme ignorierten rationale Werte wie das eigene Denken, den Wert der Wahrheit, Kritik und Kritikfähigkeit, Demokratie, Freiheit, Individualität, Bildung, Rechtsstaatlichkeit (1.1–1.8) beinahe vollständig und ersetzten sie durch Ideologie im Sinne von – je nach politischem System – gängigen politischen Formeln und Stereotypen mit dem alleinigen Ziel des Machterhaltes und der Machtexpansion. Diesem Ziel wurden alle anderen Werte untergeordnet bzw. durch dieses vernichtet. Es war die »Zeit der Ideologien« (Bracher), deren Gefahrenpotential auch darin lag, dass sie sich extrem nationalistisch wie auch wissenschaftlich gebärdeten. Das gilt sowohl für den pseudowissenschaftlichen Rassismus wie auch den ›wissenschaftlichen‹ Materialismus, wie wir das in Kap. 1.3 ausgeführt haben. Diese Formen des politischen Totalitarismus saugten im Übrigen auch religiöse Energien in sich auf, wie das Eric Voegelin mit seinem Begriff der »Politischen Religionen« von 1938 ausdrückte. Diese politischen Totalitarismen ohne demokratische Legitimation und ohne Achtung für den Einzelmenschen sind zwar überwunden, aber es ist nicht sicher, ob nicht in Zukunft wieder Formen des Totalitarismus auftauchen, die totalitär-technisch organisiert sind, aber ebenfalls auch undemokratisch oder pseudodemokratisch verbrämt. Es gibt gerade in unserer Gegenwart auch Anzeichen für die Anziehung neuer politischer Totalitarismen mit stark nationalistischem Einschlag. Eine Gefahr für die politische Rationalitätskultur war und ist immer auch eine Überdominanz der religiösen Werte. Die katholische Kirche hat in diesem Sinne sogenannte »Ketzer«, deren eigenständiges Denken nicht mit ihren Dogmen übereinstimmte, gefoltert und/oder verbrannt. Die frühe Neuzeit ist voll solcher Prozesse und Hinrichtungen. Die Auseinandersetzung der christlichen Konfessionen hat auch verheerende Religionskriege in Europa angezettelt. Das u. a. hat das rationale Denken der Aufklärung auf den Plan gerufen, um dieser Form von entfesselter falscher Religiosität Einhalt zu gebieten. In der heutigen Weltkultur ist ein fundamentalistischer Islam die größte Gefahr für eine rationale Form von Denken, Politik und

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Zusammenfassung

Rechtsstaatlichkeit, zumal dann, wenn sie diese durch die »Scharia« ersetzen will. Und wie bereits erwähnt, ist immer auch eine Überdominanz des Nationalismus ein Gefahrenherd für den Weltfrieden, weil zumeist mit Hegemonialansprüchen verbunden. Ein solcher schlechter und gefährlicher Nationalismus ist aber zu unterscheiden von einem positiven Nationalbewusstsein im Sinne einer rational gesteuerten und emotionalen Verbundenheit mit seinem Vaterland. Eine Gefahr ist paradoxerweise auch eine überzogene Form von Friedfertigkeit, dies immer dann, wenn große Aggressoren auf der Weltbühne auftreten. Hätten sich die englischen Pazifisten durchgesetzt und England keinen politischen und militärischen Widerstand gegen Hitler geleistet, wäre England womöglich faschistisch geworden – viele Sympathisanten mit Hitler gab es auch dort; damit hätte England keine Basis bilden können für die amerikanische Landung in Europa und somit – bei der offenen Sympathie vieler südamerikanischen und auch asiatischen Länder mit dem deutschen Nationalsozialismus –, hätte ein solcher Pazifismus eine erhöhte Gefahr dargestellt und womöglich der globalen Verbreitung des totalitären Faschismus Vorschub geleistet. Überzogene Aggressivität ist eine Gefahr für die Menschheit, das ist bekannt. Aber – und das ist weniger bekannt – überzogene Friedfertigkeit kann es auch sein. Generell kann man sagen: Die beste und wohl auch klügste Verbindung der europäischen Werte ist deren ausgeglichene Balance: eine hohe Form von Rationalität nach der Werteskala (1.1–1.10), verbunden mit einer durchaus sich bescheidenden menschlichen Religiosität (3.1), einem hohen Maß an säkular-christlicher Empathie, Solidarität, Friedfertigkeit, Nachhaltigkeit (2.1–2.3), aber eben auch mit rationalem Augenmaß für deren Grenzen und Überlastung, sowie einem gesunden nationalen – nicht nationalistischen! – Selbstbewusstsein nach den Werten von (3). Diese Wertethik einer vernünftigen Balance der Werte knüpft auch an eine zentrale antike Wertlehre an: Die der Mesotes und der Sophrosyne. Die Begriffe warnen vor dem Übermaß und der Einseitigkeit von einzelnen Werten und plädieren für die Mäßigung, Besonnenheit, das Einhalten des Maßes. Gerade die übertriebene Einseitigkeit eines Wertes kann ja auch zerstörerisch wirken, wie schon die antike Tragödie zeigt und auch die Philosophie des Platon und Aristoteles in ihren Tugendlehren ausführen (siehe Historisches Wörterbuch der Philosophie: »Besonnenheit« und »Mesotes« mit Li364 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Europäischer Werte-Patriotismus

teraturhinweisen). Besonnenheit und eine vernünftige Balance der Werte sind selbst ein Garant einer vernünftigen Politik, die Einseitigkeiten meidet.

Europäischer Werte-Patriotismus Denn Politiker und Parteien, die sich zu sehr der wirtschaftlichen Rationalität verschreiben, sind in Gefahr, die soziale Verantwortung aus den Augen zu verlieren. Politiker und Parteien, die sich aber zu sehr dieser widmen, neigen dazu, das Augenmaß für das Machbare zu verlieren, und dies zumal wenn sie internationalistisch aufgestellt sind und den Bodenhalt an die eigene Nation verloren haben. Das hat auch in ganz Europa zum Niedergang solcher Parteien geführt, bzw. zum Aufstieg von Parteien, die als einzigen Programmpunkt das nationale Interesse vertreten, dabei aber in Gefahr sind, ohne kluge Rationalität auf die politischen Probleme Europas und der Welt zu reagieren. Generell stellen alle Einseitigkeiten Wertefallen dar, wie bereits in der Einleitung ausgeführt: (1) die Wertefalle der Diktatur und des Totalitarismus, (2) die Wertefalle der fundamentalistischen Religionen, (3) die Wertefalle des überzogenen Nationalismus, (4) die Wertefalle eines entgrenzten Sozialismus, (5) die Wertefalle auch eines entfesselten und rational nicht mehr kontrollierten Kapitalismus. Im Grund sind alle diese Wertefallen Formen des Totalitarismus, die nicht mehr in einem rational ausgewogenen Verhältnis zu anderen Werten stehen. Das Europa der Werte war ein Geschenk der Geschichte an unsere eigene Gegenwart, auch das Leben im »Europa der Vaterländer« mit ihren unterschiedlichen reichen Kulturgeschichten, ihrem hohen Maß an rationaler Organisation, Rechtssicherheit, sozialer Verantwortung und Spielräumen für das Individuum. Ein solches Geschenk der Geschichte ist das Europa der Werte auch heute noch, bei allen internen Problemen, die die einzelnen Staaten haben und die EU als Staatenverbund hat. Es ist durchaus sinnvoll, sich für einen Patriotismus der europäischen Werte einzusetzen, diese Werte in einer klugen Balance zu achten und ihnen im politischen Denken und Handeln Geltung zu verschaffen und ihnen zu folgen. Werte sind ja, wie wir eingangs sagten, kollektive Leitvorstellungen für das Denken und Handeln. Den europäischen Werten als leitenden Vorstellungen wieder mehr Geltung zu verschaffen und ihnen in einer klugen Balance 365 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Zusammenfassung

zu folgen, könnte helfen, Europa, das ja gegenwärtig auch in vieler Hinsicht gespalten ist und auseinanderdriftet, in einem gemeinsamen Werte-Patriotismus zu einen und ihm Zusammenhalt zu gewähren. Ein solches Europa wäre auch ein Modell für die Weltgemeinschaft.

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Namenregister

Abaelard, Astralabius 139–141 Abaelard, Peter 139–141 Abbt, Thomas 321 Abdalmalik 155 Achilles 217 Adams, Angela & Willi P. 119–120 Adenauer, Konrad 24, 206 Adorno, Theodor W. 89–91 Aischylos 30, 134 Albertus Magnus 137 Alexander der Große 53, 213–214 Alfred der Große 349 Alkibiades 75, 102, 189 Alkuin 54 Anaxagoras 47, 102, 189, 251 Anaximenes 47 Anhalt, Elmar 154, 179–180 Arendt, Hannah 31, 40, 73 Aristogeiton 97 Aristoteles 32, 46, 54, 56, 71, 75–76, 82–83, 103, 108, 130, 134–135, 137, 144, 189, 277, 360, 364 Arndt, Ernst Moritz 318 Arnim, Achim von 318 Aspasia 102 Assmann, Aleida 305 Augustulus, Romulus 196 Aurelian (eigentlich Aurelianus) 216 Austen, Jane 338 Baader, Andreas 219 Bach, Johann Sebastian 347 Bacon, Roger 137 Barrett, Ward 229 Baudelaire, Charles-Pierre 58, 154, 159, 165, 173 Bauer, Joachim 149 Bauman, Zygmunt 165–167

Bayertz, Kurt 293 Bayle, Pierre 105 Becher, Johannes R. 356 Beethoven, Ludwig van 347 Belyj, Andrej 338 Benner, Dietrich 181 Bentham, Jeremy 303 Berkeley, George 51 Bernstein, Eduard 288 Beßlich, Barbara 318 Bismarck, Otto von 345 Bloch, Ernst 334–335 Blumenberg, Hans 67, 146 Bobzin, Hartmut 155 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 102, 127–128 Boethius, Anicius Manlius Severinus 155–156 Böhme, Helmut 270–271 Bolz, Norbert 256, 261 Bon, Gustave le 123, 164 Bonaventura (eigentlich: Fidanza, Giovanni) 156 Böning, Holger 317 Borchmeyer, Dieter 344 Borgolte, Michael 25–26 Born, Jürgen 76 Borner, Marc 163 Bracher, Karl Dietrich 85, 363 Brecht, Eugen Berthold Friedrich 67– 69 Brentano, Clemens 318 Broch, Hermann 31 Brod, Max 76 Brontë, Anne 338 Brontë, Charlotte 338 Brontë, Emily 338 Bruno, Giordano 48, 66–67, 146

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Namenregister Bubner, Rüdiger 106 Büchner, Georg 113 Buchstab, Günter 24–25 Buhr, Manfred 65 Burckhardt, Jakob 61–62, 75–76, 102 Burckhardt, Leonhard 216 Burnett, Peter 122 Buschmann, Arno 198, 200 Byron, George Gordon Noel 351 Caesar, Gaius Iulius 53, 191–192, 195, 218, 227 Cajetan, Thomas 143 Caligula (eigentlich: Caesar Augustus Germanicus, Gaius) 193 Calixtus II. 197 Calliess, Christian 293–294 Campanella, Tommaso 338 Canetti, Elias 76 Canterbury, Anselm von 137 Carlowitz, Hans Carl von 306 Casas, Bartolomé de las 293, 302 Cavour, Camillo Benso Graf von 345 Celan, Paul 174 Chilon von Sparta 46 Cicero, Marcus Tullius 151, 155 Clausewitz, Carl von 218 Coleridge, Samuel Taylor 58, 173 Conrad, Joseph 338 Cortés, Hernán 53 Corvinus, Matthias 353 Crucé, Émeric 303 Csáky, Moritz 25 Czada, Roland 304 Dahlheim, Werner 187 Dahrendorf, Ralf 321–322, 324 Dallinger, Ursula 293 Dann, Otto 345 Dawkins, Richard 255, 304 Demokrit von Abdera 47, 66, 151 Denifle, Friedrich Heinrich Suso 136 Derrida, Jacques 163 Descartes, René 49, 51, 55, 84, 146– 147, 157–161, 163, 203, 209–210, 280

Dickens, Charles 338 Diderot, Denis 252 Diels, Hermann 46, 66, 133, 151, 231, 245, 250–251, 299 Dijkhoff, Klaas 221 Diogenes von Sinope 154, 267 Donner, Fred 260 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 338, 342 Drakon der Athener 184, 188 Durkheim, Émile 164–165, 210, 256, 289, 296 Ebert, Friedrich 205 Eck, Johannes 143 Eckert, Andreas 121 Eisenstadt, Shmuel 26 Ekardt, Felix 307–308 Ellwein, Thomas 136 Eppler, Annegret 293 Erasmus von Rotterdam 303, 315, 344 Ertel, Wolfgang 233–234 Euripides 187 Eutyches 155 Feichtinger, Johannes 25 Feuerbach, Anselm von 194 Feuerbach, Ludwig 249, 252, 255 Fichte, Johann Gottlieb 51–52, 57, 123, 161–162, 318 Finley, Moses 188 Flasch, Kurt 26 Flaubert, Gustave 154 Forster, Edward Morgan 338 Foscolo, Ugo 318–319 Foucault, Paul-Michel 91–93, 270 Fourier, Karl 287 Franck, Sebastian 303 Frank, Manfred 162–163 Franklin, Benjamin 121 Franziskus (Papst) 292 Freud, Sigmund 159, 266, 275–276 Fried, Johannes 136, 344 Frundsberg, Jörg von 201 Fuchs, Peter 289 Fulbert (Kanonikus) 141

390 https://doi.org/10.5771/9783495820810 .

Namenregister Gaddafi, Muammar al- 129 Galilei, Galileo 48, 55, 67–69, 146, 203, 232 Garibaldi, Giuseppe 339 Gaulle, Charles de 340, 342, 355 Geerts, Clifford 256 Gehler, Michael 21, 26, 301, 349 Geiserich 196 Gensfleisch zum Gutenberg, Johann 203 Gensichen, Hans-Werner 299 Gerigk, Horst-Jürgen 338 Gilgamesch 215 Gmür, Rudolf 191 Gneisenau, August Neidhardt von 205 Goethe, Johann Wolfgang von 30, 150, 152–154, 158, 171, 318 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch 338 Goody, Jack 25 Gottsched, Johann Christoph 83 Gracchus, Gaius 192 Gracchus, Tiberius 192 Grass, Günter 326, 333, 337, 346 Green, Thomas Hill 114 Gregor VII. 197 Greschat, Martin 83, 254 Grimmelshausen, Christoffel von 336–337 Grober, Ulrich 306 Grün, Karl 287 Grünberger, Hans 348 Gründer, Horst 121 Haarmann, Harald 21 Habermas, Jürgen 38, 72–73, 126– 127, 256, 262–263, 308, 313, 322– 325 Halm, Heinz 260, 301 Hamm, Berndt 142 Hansen, Mogens Herman 188 Hardenberg, Georg Philipp Friedrich von 205, 319 Harmodios 97 Härtel, Gottfried 191 Hartmann, Nicolai 15 Hatje, Armin 293

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 51, 85–86, 114–115, 161, 170, 249, 252, 255, 288 Heidegger, Martin 40, 48–49, 52, 69– 70, 89–91, 148, 153, 162, 224, 244, 292, 328, 331 Heimsoeth, Heinz 14 Heinrich IV. (HRR) 105 Heinrich V. (HRR) 197 Heinrich von Halle 246 Heinz, Werner 216 Heit, Helmut 23–24 Hektor 97, 217 Held, Thomas 304 Heloise 139 Henrich, Dieter 162 Heraklit von Ephesos 46–47, 245, 299 Herder, Johann Gottfried 152, 182– 183, 254, 328–331 Herodot von Halikarnass 17, 53, 98– 99, 115, 131 Hesiod 250 Hipparchos 97 Hippias 97, 189 Hitler, Adolf 73, 76–77, 89, 122, 124, 175, 185, 206, 215, 218, 220, 277, 320, 323, 353–354, 364 Hobbes, Thomas 95, 108–109, 114– 115, 167, 232, 279, 281, 283–284 Hobsbawm, Eric John Ernest 343 Hofer, Andreas 339 Hoffmann, E. T. A. 158 Höffner, Joseph 292, 302 Hölderlin, Friedrich 247, 317, 351 Homer 250, 316 Horkheimer, Max 89–91 Horthy, Miklós 354 Huber, Wolfgang 26 Humboldt, Wilhelm von 52, 56, 153, 162, 175–178, 180, 220, 328, 330 Hume, David 51, 161, 249, 254 Hus, Jan 129, 246, 268 Husain 246 Hussein, Saddam 129 Huxley, Aldous 77, 338 Iliopoulos, Constantinos 293

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Namenregister Jacobs, Jürgen 153 Jakob II. (England) 105 Jefferson, Thomas 118, 120 Jesus von Nazareth 141, 155, 198, 246, 262, 267–268, 274, 280, 301– 302, 335–336 Joas, Hans 26, 38, 165, 210–211, 244– 245, 256, 263 Johann, Ernst 264 Johannes Paul II. (Papst) 291 Kafka, Franz 74, 76–77, 247 Kant, Immanuel 13–15, 45–46, 51, 57, 70–71, 84, 92, 114, 130, 145– 146, 157, 161, 163–164, 167, 171, 203, 210, 252, 290, 303, 317, 329 Karl der Große 197 Károlyi, Mihály 353 Kayser, Christian 269, 278 Kaysersberg, Geiler von 269 Keller, Gottfried 338 Kemper, Dirk 154, 159 Kepler, Johannes 67, 146, 203 Kierkegaard, Søren 244 Kiesewetter, Hubert 205 Klaus, Georg 65 Kleist, Heinrich von 98, 189, 318 Kleisthenes von Athen 98, 189 Kluge, Friedrich 12, 32, 64, 335, 342, 344 Knodt, Michèle 293 Koller, Hans-Christian 180–181 Kolumbus, Christoph 161, 200 Kondylis, Panajotis 116 Koenig, Matthias 208 Kopernikus, Nikolaus 66–67, 146, 161, 203 Körner, Theodor 318 Korte, Karl-Rudolf 324 Kramer, Heinrich 199 Kron, Thomas 167 Kronenberg, Volker 316–317, 324 Kühn, Sophie von 247 Kun, Béla 353 Küng, Hans 304, 306 Kunkel, Wolfgang 191, 193

La Mettrie, Julien Offray de 148 Laertius / Laertios, Diogenes 154 Lameyer, Johannes 221 Lauterbeck, Georg 316 Lawrence, David Herbert 165 Le Goff, Jacques 137, 140 Leibniz, Gottfried Wilhelm 51, 151– 152, 161, 171–172, 210, 232–233, 253 Lenin, Wladimir Iljitsch 113, 124 Leo III. 197 Lesch, Walter 127 Lessing, Gotthold Ephraim 83, 254 Lévy-Bruhl, Lucien 228 Lieberich, Heinz 195 Liebknecht, Karl 288 Liebsch, Dimitri 173 Livius, Titus 190, 315 Locke, John 50–51, 95, 103–105, 108, 115–116, 118–119, 130, 144–145, 157–158, 161, 163, 210, 281–282 Lotze, Heinrich 14 Löwith, Karl 153, 287–288 Ludwig XIV. (Frankreich) 214 Luhmann, Niklas 256–258, 289 Lukas (Evangelium) 268, 336 Luther, Martin 55, 104, 130, 142–144, 198, 202, 252, 269, 343 Maier, Hans 25 Manegold, Karl H. 271 Mann, Michael 122, 217, 323–324 Mann, Thomas 337 Mao, Zedong 124 Martell, Karl 213 Marx, Karl 59–60, 62, 76, 81, 84–88, 95, 113–114, 124, 126, 230, 249, 252, 255, 282, 285, 287–288 Maxentius, Marcus Aurelius Valerius 264 Mayer, Kathrin 348 McCarthy, John 233 McDougall, John 122 McNeill, William H. 218, 227 Mechthild von Magdeburg 246 Megabyzos (der Jüngere) 98 Meier, Christian 26, 189

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Namenregister Meinhof, Ulrike 219 Menze, Clemens 177 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 345 Mickiewicz, Adam 339 Mohammed 155, 246, 260, 264, 276, 300–301 Mokrosch, Reinhold 304 Moltke, Helmuth von 218 Montefiore, Simon Sebag 77 Montesquieu, Charles-Louis des Secondat 95, 115–118, 281 Moritz, Karl Philipp 153, 172 Morus, Thomas 338 Mose (Pentateuch) 209, 273–274, 279, 284 Münkler, Herfried 220, 304, 334, 337, 348 Musil, Robert 247 Musk, Elon 62 Nassau, Moritz von 218 Nell-Breuning, Oswald von 290 Nestle, Dieter 131 Nida-Rümelin, Julian 178 Nietzsche, Friedrich 12, 14, 20, 26, 31, 74, 89, 124, 164, 249, 252, 255–256, 262, 288, 325 Nikias 75, 102 Nippel, Wilfried 24 Nolte, Ernst 322 Noth, Albrecht 261, 264 Novalis (eigentlich: Hardenberg, Georg Philipp Friedrich von) 42, 57, 153, 173, 247 Ober, Josiah 215 Ockham, Wilhelm von 137 Odoaker 196 Oevermann, Ulrich 181 Olaf I. Tryggvason (Norwegen) 354 Olaf II. Haraldsson (Norwegen) 355 Orwell, George 77–78, 235, 338 Osiander, Andreas 67 Osiander, Johannes 146 Osterhammel, Jürgen 229

Otanes 99, 131 Otto I. (Bayern) 351 Otto I. (HRR) 197, 352–353 Ovid 141 Özuguz, Aydan 347 Padberg, Lutz E. von 197, 352 Palmer, Boris 296 Parker, Geoffrey 226 Parmenides 47, 133, 147 Pascal, Blaise 158 Paul VI. (Papst) 291 Paulsen, Friedrich 55, 178 Paulus von Tarsus 130, 136, 143, 191, 251, 262, 274, 280, 302 Peirce, Charles Sanders 72 Penn, William 303 Perikles 95, 99–103, 125, 127, 130, 132, 149, 188, 251, 274, 286, 315, 322, 347 Pesch, Heinrich 290 Peters, Rudolph 268, 276, 338 Petrarca, Francesco 318, 348 Pfetsch, Frank 108, 116, 304 Philipp IV. (Frankreich) 350 Philolaos 231–232 Pius XII. (Papst) 290–291 Platon 13–14, 32, 48, 50, 54, 70, 82, 102, 134, 154, 178, 244, 251, 360, 364 Pohlenz, Max 131 Pólay, Elemer 191 Polybios 189–190 Pompeius Magnus, Gnaeus 218 Popitz, Heinrich 284–285 Popper, Karl 75 Porsenna, Lars 315 Proust, Marcel 338 Ptolemäus, Claudius 161 Pufendorf, Samuel 210, 280–281 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 338 Quincey, Thomas de 159 Raaflaub, Kurt 132 Rainer, Michael 190–191, 193

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Namenregister Randers, Jorgen 307 Raumer, Kurt von 303 Rauscher, Anton 290 Rawls, John 38, 211, 256, 282–283, 308 Rebhahn, Robert 293–294 Reimarus, Hermann 83 Reinhard, Wolfgang 26 Reinhardt, Ulrich 293, 295 Renaud, Claude Hélène Hippolyte 287 Ricardo, David 59 Rickert, Heinrich 16–17, 70–71 Riehl, Alois 16 Rifkin, Jeremy 278 Riley, Patrick 114 Rilke, Rainer Maria 247 Rizzolatti, Giacomo 277 Robespierre, Maximilien de 95, 113, 285 Rollinger, Robert 301, 349 Romanus, Aegidius 302 Roos, Lothar 291 Rorty, Richard 38, 297–298, 308 Rosemont, Henry 151 Roth, Andreas 191 Roth, Gerhard 148, 163 Rousseau, Jean-Jacques 95, 108–117, 126, 167, 281–282, 284–285 Rucker, Thomas 179–180 Saint-Just, Louis Antoine de 220 Saint-Victor, Paul de 319 Samjatin, Jewgenij 77, 338 Sappho 40 Sartre, Jean-Paul 130, 147–148, 163, 244 Scaevola, Gaius Mucius 315 Scharnhorst, Gerhard von 205 Schäuble, Wolfgang 295 Scheler, Max 15, 297 Schermeier, Martin 191, 193 Schieder, Theodor 345 Schiller, Friedrich von 33, 91, 173, 175 Schlegel, Friedrich 154, 165

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 19, 239–241, 243, 245, 256– 257, 261, 265 Schlensog, Stephan 305 Schlieter, Kai 233–234 Schluchter, Wolfgang 26 Schmale, Wolfgang 21 Schmid, Carlo 206, 316 Schmidt, Alexander 316 Schmitt, Carl 161 Schneider, Beate 265 Schneider, Olaf 197 Schuster, Wolfgang 293, 295 Scott, Walter 338 Scotus, Duns 137 Selbmann, Rolf 50, 153 Semler, Johann Salomo 83, 254 Seneca, Lucius Annaeus 193 Sepúlveda, Juan Ginés de 302 Shaftesbury, Anthony AshleyCooper, 3. Earl of 173 Shimada, Shingo 293 Simmel, Georg 164 Singer, Wolf 148 Sinigaglia, Corrado 277 Smith, Adam 59, 230 Sokrates 13, 47–48, 70, 76, 82, 102, 189, 231, 251, 267 Söllner, Alfred 190–192 Solon 97–98, 184, 188, 190 Spengler, Oswald 89 Sprenger, Jakob 199 Staël, Germaine de 319 Stalin, Josef 76–78, 113, 124, 185, 324 Stannard, David 121, 201, 323 Stein, Hannes 78 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 205 Stephan I. (Ungarn) 353 Sternberger, Dolf 313, 320–322 Stifter, Adalbert 338 Störtebeker, Klaus 200 Strawson, Peter 163 Süleyman I. 353 Süßmilch, Johann Peter 329 Syagrius 264

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Namenregister Tacitus, Publius Cornelius 195–196 Tagsold, Christian 293 Tarski, Alfred 72 Taylor, Charles 153 Tell, Wilhelm 309, 339 Tennstedt, Florian 269, 271 Tews, Anne 293 Thales von Milet 47 Thomä, Dieter 119–120 Thomas von Aquin 71, 137, 156, 162 Thukydides 99–100, 103, 130, 132– 133 Tibi, Bassam 301 Tieck, Ludwig 57, 158 Tocqueville, Alexis de 122 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 338, 342 Tönnies, Ferdinand 164, 288–289 Tranow, Ulf 297 Treue, Wilhelm 271 Trump, Donald 73, 78, 212, 221 Tschechow, Anton Pawlowitsch 338 Venizeleos, Eleftherios 351 Vico, Giambattista 84 Vietta, Silvio 18, 21, 30, 40, 53, 57– 58, 90, 124, 154, 159, 161, 165, 173, 180, 201, 214, 232, 247, 292, 317– 319, 324 Viktor Emanuel II. 349 Voegelin, Eric 124, 256, 363 Voltaire (eigentlich Arouet, FrançoisMarie) 249, 252–253

Wackenroder, Wilhelm Heinrich 57– 58 Wagner, Richard 347 Waldstein, Wolfgang 190–191, 193 Weatherford, Jack McIver 229 Weber, Max 12–13, 217–218, 271 Wehler, Hans -Ulrich 205, 319 Wellenreuther, Hermann 120 Wendorff, Rudolf 217 Wiegandt, Klaus 26 Wilde, Oscar 165 Wilhelm I. (Deutsches Reich) 349 Wilhelm II. (Deutsches Reich) 345 Wilson, Woodrow 353 Winckelmann, Johann Joachim 172, 176 Windelband, Wilhelm 14, 16, 70–71 Winkler, Heinrich August 324 Witt, Jann Markus 53 Wolff, Christian 172 Wordsworth, William 58, 173 Woyke, Wichard 305 Wunn, Ina 265 Wyclif, John 268 Zehnpfennig, Barbara 113–114 Zelle, Carsten 154 Ziegler, Jean 293 Ziethen, Sanne 319 Zuckerberg, Mark 63

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